Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zurheutigen Plenarsitzung des Deutschen Bundestages.Ich habe einige Mitteilungen zu machen. Ich beginnemit dem rundum erfreulichen Umstand, dass die Kolle-gin Sibylle Pfeiffer und der Kollege Willi Brase in denvergangenen Tagen ihre 60. Geburtstage gefeiert haben,wozu ich ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlichgratulieren möchte.
Nicht ganz so erfreulich ist, dass die KollegenNorbert Brackmann und Michael Brand aus jeweils un-terschiedlichen, hier aber nicht erläuterungsbedürftigenGründen ihre Schriftführerämter niedergelegt haben. DieFraktion der CDU/CSU schlägt die Kollegen Dr. PeterTauber und Dr. Johann Wadephul als Nachfolger vor.Können Sie sich damit einverstanden erklären? – Das istoffensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegenhiermit gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:RedeZP 1 Aktuelle StundeBefugnisse und Instrumentarien von Ermitt-lungs- und Sicherheitsbehörden im Internet
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungZehnter Bericht der Bundesregierung über dieAktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Roh-stoffe und der einzelnen Rohstoffa– Drucksache 17/3817 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschusstzungen 20. Oktober 2011.01 UhrAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglichvorlegen und künftig ausführlicher gestalten– Drucksache 17/7355 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 31a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MemetKilic, Beate Müller-Gemmeke, Ulrike Höfken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENtextzu den Vorschlägen der Europäischen Kom-mission für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über die Bedingun-gen für die Einreise und den Aufenthalt vonDrittstaatsangehörigen im Rahmen einer kon-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Geset-zes über die Zusammenarbeit von Bundes-regierung und Deutschem Bundestag in Ange-eiten der Europäischen Unioninie zur konzerninternen Entsendungsätzlich überarbeitenbkommen legenhRichtlgrund– Drucksache 17/4885 –
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15642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Memet Kilic, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag der Europäischen Kommis-sion für eine Richtlinie des Europäischen Par-laments und des Rates über die Bedingungenfür die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-staatsangehörigen zwecks Ausübung einer sai-sonalen Beschäftigung
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 desGesetzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bun-destag in Angelegenheiten der Europäi-schen UnionRechte der Saisonarbeitskräfte stärken– Drucksache 17/5234 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Brandanschlagserie auf Bahnanlagen undlinksextremistisch motivierte GewaltZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat und zum Eurogipfelam 23. Oktober 2011ZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Dr. ThomasGambke, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung einer Kommission des DeutschenBundestages zur Regulierung der Großbanken– Drucksache 17/7359 –Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 3 wird abgesetzt. Stattdes-sen soll jetzt gleich der Tagesordnungspunkt 26 beratenwerden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungs-punkt 5 morgen zusammen mit der Regierungserklärungder Bundeskanzlerin aufzurufen, um den Sachzusam-menhang herzustellen. Die Tagesordnungspunkte derKoalitionsfraktionen rücken entsprechend vor.Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der am 21. September 2011 überwiesene nachfol-gende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Vierten Buches Sozialgesetz-buch und anderer Gesetze– Drucksache 17/6764 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOIch frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-verstanden sind. – Dazu erhebt sich kein Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 a und b sowie denZusatzpunkt 2 auf:26 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPWirtschafts- und Außenpolitik für eine sichereRohstoffversorgung – Wachstum und Arbeits-plätze in Deutschland, Europa und den Part-nerländern– Drucksache 17/7353 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEFür eine gerechte und entwicklungsförderlicheinternationale Rohstoffpolitik– Drucksachen 17/6153, 17/7151 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeDr. Sascha RaabeJoachim Günther
Heike HänselZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungZehnter Bericht der Bundesregierung über dieAktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Roh-stoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen– Drucksache 17/3817 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15643
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazubesteht offensichtlich Einvernehmen. Dann können wirso verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär ErnstBurgbacher.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Deutschland zählt zu den größten Rohstoffkon-sumenten der Welt. Allein im Jahr 2010 haben wir fürfast 110 Milliarden Euro Rohstoffe importiert. Die Ent-wicklung auf den Rohstoffmärkten ist für uns deshalbvon allergrößtem Interesse. Hier ist in den letzten Jahrensehr viel in Bewegung gekommen. Die SchwellenländerChina und Indien, aber auch viele andere Länder inte-grieren sich zunehmend in die Weltmärkte. Dies schlägtsich in den Rohstoffpreisen und in Angebotsengpässennieder. Zwar hatten wir infolge der Weltfinanz- undWeltwirtschaftskrise eine vorübergehende Verschnauf-pause, aber jetzt ziehen die Preise wieder an. Die Situa-tion ist durchaus kritisch. Die deutsche Wirtschaftbraucht Rohstoffe, um Arbeitsplätze zu sichern, umWachstum zu sichern, um als Exporteur erfolgreich zusein.
Dass wir nach wie vor einer der wichtigsten Industrie-standorte in der Welt sind – darauf sind wir stolz –, hängtganz wesentlich davon ab, dass wir Rohstoffsicherheithaben; sonst sind wir nicht wettbewerbsfähig. In dieserFrage ist zuerst die Wirtschaft selbst gefordert. Sie hatdiese Herausforderung angenommen. Durch Koopera-tionen und Allianzen will sie ihre Rohstoffversorgungauf eine breitere Basis stellen. Die Wirtschaft brauchtaber politische Schützenhilfe. Diese leisten wir mit Ent-schlossenheit und mit einer stimmigen Strategie.Mit der Rohstoffstrategie setzt die Bundesregierungwichtige rohstoffpolitische Akzente, und das unter strik-ter Beachtung unserer ordnungspolitischen Grundsätze.Das ist für uns ganz entscheidend.
Wir können heute sagen: Die Rohstoffstrategie der Bun-desregierung zeigt erste Erfolge. Wir kommen an wichti-gen Stellen mit der Umsetzung voran. Ich will dies ansechs Punkten verdeutlichen.Erstens. Wir schließen Partnerschaften mit rohstoff-reichen Ländern. Das Regierungsabkommen mit derMongolei wurde am 13. Oktober 2011 in Anwesenheitder Bundeskanzlerin unterzeichnet. Die Verhandlungenmit Kasachstan sind in einem fortgeschrittenen Stadium.Noch in diesem Jahr könnte es zur Unterzeichnung einesAbkommens kommen. Weitere Rohstoffpartnerschaftenplanen wir derzeit. Eines möchte ich dabei klarstellen:Rohstoffpartnerschaften sind immer im Interesse beiderPartner. Wir profitieren von den Rohstoffen, und in denPartnerländern tragen sie zu einer nachhaltigen wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung bei. In-sofern garantieren solche Partnerschaften die Zukunfts-fähigkeit beider Seiten; das ist ganz entscheidend.
Zweitens. Wir versorgen gerade kleine und mittel-ständische Unternehmerinnen und Unternehmer mit In-formationen und Analysen. Die neue Servicestelle fürdie Wirtschaft, die Deutsche Rohstoffagentur, ist hier zu-nehmend aktiv. Mit ihrem Rohstoffinformationssystemverbessert sie die Transparenz auf den Rohstoffmärkten.Dies ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen, dieselbst oft nicht dazu in der Lage sind, sich diese Infor-mationen zu beschaffen, von ganz entscheidender Be-deutung für die künftige Entwicklung.Drittens. Wir setzen uns energisch für offene Roh-stoffmärkte ein. Die Anfang Juli veröffentlichte WTO-Entscheidung gegen chinesische Exportbeschränkungenfür so wichtige Rohstoffe wie Zink und Magnesium istein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung. Dieses Ver-fahren haben wir, die EU, gemeinsam mit den USA undMexiko angestrengt. Es ist ein wichtiges Signal an alleLänder, die den freien Handel mit unfairen Praktiken er-schweren. Wir müssen jetzt am Ball bleiben. Wir drän-gen auf EU-Ebene darauf, Verzerrungen im internationa-len Rohstoffhandel weiterhin konsequent zu begegnen.In Verhandlungen zu EU-Freihandelsabkommen wirddas Thema Rohstoffe konsequent aufgegriffen und ist je-weils ein ganz wichtiger Faktor bei diesen Abkommen.Viertens. Wir unterstützen die Wirtschaft, wenn es da-rum geht, neue Rohstoffvorkommen zu erschließen. Seit50 Jahren gibt es die Garantien für UngebundeneFinanzkredite. Damit sichern wir vertraglich die lang-fristige Lieferung strategischer Rohstoffe. Auch das istfür viele ganz entscheidend. Zudem lassen wir im Au-genblick bei der EU prüfen, ob wir für rohstoffpolitischgeeignete Projekte bereits bei der Erkundung Zuschüssegeben können; die Nachfrage danach ist groß.Fünftens. Wir beschreiten neue Wege bei der Roh-stoffforschung, insbesondere mit dem Ziel der Rohstoff-effizienz. Meine Damen und Herren, die Forschung istein entscheidender Schlüssel für ein nachhaltiges Wirt-schaften entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wirsetzen deshalb Impulse, zum Beispiel durch Innova-tionsberatung und durch technologieoffene Mittelstands-förderung. Allein im Zentralen InnovationsprogrammMittelstand, besser unter der Abkürzung „ZIM“ bekannt,befassen sich circa 1 500 Projekte, für die 180 MillionenEuro an Fördermitteln bereitgestellt worden sind, mitFragen der Material- und Rohstoffeffizienz sowie derEntwicklung und Anwendung neuer Werkstoffe.Sechstens: Recycling. Bei diesem Thema müssen wirnoch viel weiter vorankommen. Wir können es unsschlichtweg nicht leisten, wertvolle Rohstoffe auf denMüll zu kippen. Wir müssen so viel wie möglich wieder-gewinnen.
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15644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Parl. Staatssekretär Ernst Burgbacher
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Um dazu zwei Zahlen zu nennen: Wir verbrauchen imJahr Rohstoffe im Wert von circa 140 Milliarden Euro;Rohstoffe im Wert von 10 Milliarden Euro gewinnen wirdurch Recycling. Das zeigt, wie wichtig dieses Themaist. Hier sind unsere Anstrengungen noch sehr stark aus-baubar.Rohstoffpartnerschaften, Transparenz für kleine undmittlere Unternehmen, offene Rohstoffmärkte, Finanzie-rungsinstrumente, Rohstoffeffizienz und Recycling sinddie Eckpfeiler der Rohstoffstrategie der Bundesregie-rung. Diese Rohstoffstrategie greift; das können wirheute ganz eindeutig feststellen. Diese Bundesregierungsorgt für gute Rahmenbedingungen. Wir öffnen Türen inrohstoffreichen Ländern. Durch diese Türen muss dieWirtschaft dann allerdings selbst gehen. Das wollen undkönnen wir der Wirtschaft nicht abnehmen. Das würdeunseren ordnungspolitischen Grundsätzen völlig wider-sprechen. Deshalb tun wir das auch nicht.Ich bin überzeugt: Wenn wir, Wirtschaft und Politik,gemeinsam den eingeschlagenen Weg weitergehen, dannwerden wir diese Probleme lösen. Eine sichere und auchbezahlbare Rohstoffversorgung unserer Wirtschaft istabsolute Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unse-rer Wirtschaft und für die Wettbewerbsfähigkeit unseresLandes. Deshalb sorgen wir hier für eine klare Linie undfür klare Rahmenbedingungen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Die Kanzlerin war letzte Woche unter-wegs, auf Reisen, und siehe da: Mit Erleichterung konn-ten die Koalitionsfraktionen feststellen, dass es diesmalkeine Meldung in Sachen Panzerexport oder Kriegs-schiffexport gab, sondern dass es diesmal ein Abkom-men in Sachen Rohstoffe zu vermelden gab. Das hat dieKoalitionsfraktionen natürlich sofort beflügelt, einenentsprechenden Antrag, mit heißer Nadel gestrickt, inden Bundestag einzubringen, über den heute auch gleichabgestimmt werden soll. Ich sage Ihnen vorab: So wirddas nicht gehen. Sie müssen schon mit uns gemeinsam,auch in den Ausschüssen, differenziert beraten. Dannwerden wir sicherlich zu differenzierten Ergebnissenkommen. Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, springtjedenfalls zu kurz.
Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Die Be-deutung dieses Themas für ein Land wie Deutschlandund eine Region wie Europa, die von Rohstoffen abhän-gig ist, kann überhaupt nicht überschätzt werden; derStaatssekretär hat es gerade hervorgehoben. Es ist rich-tig, dass hier natürlich auch die Unternehmen eine großeVerantwortung haben. In den vergangenen Jahren undJahrzehnten sind Fehler gemacht worden. Wenn ich be-denke, an welchen Rohstoffen bzw. Rohstoffvorkommendeutsche Unternehmen Beteiligungen hatten, die mittler-weile aufgegeben worden sind, muss ich sagen: Das isterschreckend. Zu nennen sind da beispielsweiseDegussa, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis, inden Bereichen Kupfer und Gold oder ThyssenKruppbeim Eisenerz. Deutschland als Hightechland undEuropa als Hightechregion benötigen unter anderemColtan zur Herstellung von Handys, Neodym zur Her-stellung von Festplatten oder Kernspintomografen,Kobalt zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe undGallium zur Herstellung von Sonnenkollektoren. An derGewinnung dieser und vieler anderer Rohstoffe hattendeutsche Unternehmen Beteiligungen, die mittlerweile,wie gesagt, aufgegeben worden sind. Ich glaube, es istdeutlich geworden, dass dies der falsche Weg war.Insofern unterstützen wir alles – ich denke, das ist einrichtiger Ansatz dieser Bundesregierung –, wodurch dieRückwärtsintegration – so heißt das heute – der Unter-nehmen gestärkt wird, also die Versuche, sich wieder anden entsprechenden Rohstoffvorkommen zu beteiligen.Beispielsweise versuchen dies ThyssenKrupp imBereich der Seltenen Erden, Siemens im Bereich vonNeodym, was auch zur Herstellung von Dauermagnetenbenötigt wird, usw. Wir unterstützen hier sicherlich denrichtigen Weg.Anders sieht es mit Ihrer Politik auf den Rohstoff-märkten selbst aus, mit der Sie versuchen, deutsche Un-ternehmen auf fremden Märkten zu unterstützen. DasSignal der Kanzlerin, das sie auf ihrer Reise nach An-gola abgab, war absolut fatal. Angola liegt in einer Re-gion am Golf von Guinea, die durch reiche energetischeund nichtenergetische Rohstoffvorkommen und gleich-zeitig durch eine extreme Armutsentwicklung gekenn-zeichnet ist. Die rohstoffreichsten Länder sind zugleichdie ärmsten. Es kann nicht sein, dass das erste Signal,das man ihnen dort sendet, ist: Wir stärken die Potenta-ten; wir machen sie stark gegen ihr eigenes Volk, indemwir ihnen Waffen aus Deutschland schicken.
Nein, in Ländern wie Angola kommt es darauf an,Transparenz hinsichtlich der Material- und Geldflüsseeinzufordern. Das ist eine Vorbedingung dafür, dass sichdeutsche Unternehmen dort überhaupt beteiligen kön-nen; denn deutsche Unternehmen – das haben wir nichtzuletzt beim Unternehmen Ferrostaal sehen müssen –unterliegen Compliance- und Corporate-Governance-Regeln, durch die es absolut verboten ist, auf Märktentätig zu werden, auf denen Transparenz nicht gegebenist. Hier haben Sie bisher wenig geleistet, und hier gilt esnachzusetzen.Wir können nicht die Methode Chinas verwenden,das die Rohstoffe zum Beispiel in den Ländern Afrikasoder auch in Brasilien ausbeutet, die dortigen Märkte alsSpin-off für ihr Geschäft gleichzeitig mit ihren billigenIndustrieprodukten überschwemmt und damit verhin-dert, dass dort eine eigene Wertschöpfung entsteht, unddafür sorgt, dass die Abhängigkeiten noch stärker wer-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15645
Rolf Hempelmann
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den, als sie es bisher schon waren. Wir werden in dennächsten Jahren erleben – insbesondere dann, wenn dieWeltwirtschaft wieder rückläufig sein wird –, dass sichgerade bei den Schwellenländern enorme Auswirkungenzeigen werden, weil sie diese guten Jahre nicht genutzthaben, um auf der Basis ihres Ressourcenreichtums eineindustrielle Wertschöpfung aufzubauen.Meine Damen und Herren, die Kanzlerin war in derMongolei. Das Wirtschaftsministerium hat Abkommenverhandelt, wie auch in Kasachstan. Das ist sicherlichein richtiger Ansatz. Das, was wir in den Texten dazu le-sen können, ist für uns allerdings nicht ergiebig genug,um wirklich erkennen zu können, welche Philosophiedahintersteht. Wenn man die Kanzlerin hört – im Fernse-hen beispielsweise –, dann überkommt einen schon derEindruck, dass das sozusagen die dritte Welle der Kolo-nialisierung ist
und dass es uns im Grunde genommen nur darum geht,an die dortigen Rohstoffe heranzukommen und dafür einpaar Glasperlen mitzubringen. Das darf nicht sein.
Wenn ich an das Abkommen mit einem Land wie derMongolei denke, dann vermisse ich die klare und kon-krete Ausverhandlung genau der Dinge, die – jedenfallsnach den Gesprächen, die ich dort geführt habe – amdringendsten sind. Besonders dringend sind dort Investi-tionen in die Energieeffizienz, und zwar entlang der ge-samten Kette.
Ulan-Bator, die Hauptstadt, ist die kälteste und zu-gleich auch schmutzigste Stadt der Welt. Es ist völligklar, wo dort die Aufgaben liegen. Die Heizperiode dau-ert dort acht bis neun Monate. In dieser Heizperiodekönnen Sie die Stadt von oben überhaupt nicht sehen; sieliegt unter einer Smogglocke. Das hängt damit zusam-men, dass die wenigen Kraftwerke dort uralte Braunkoh-lekraftwerke sind und mit einer Braunkohle geheizt bzw.betrieben werden, die noch weniger effizient ist als diedeutsche, dass sie natürlich entsprechend emittieren unddass das Nahwärmesystem nicht ausgebaut ist, sodassdie meisten mit Individualöfen heizen, wobei der Begriff„Öfen“ völlig unsachgemäß ist, da das offene Feuerstel-len sind.Daraus lässt sich im Grunde ableiten, welches Effi-zienzprogramm für dieses Land angemessen wäre, näm-lich ein Retrofit für die Kraftwerke, der Ausbau desNahwärmesystems und dort, wo Individualheizungenunumgänglich sind, die Unterstützung bei der Anschaf-fung von dem, was man Ofen nennen könnte. Das wer-den keine Hightechöfen sein, sondern lediglich solche,durch die eine geschlossene Beheizung möglich ist. Dasalles findet man in Ihrem Abkommen, jedenfalls in die-ser Konkretheit, nicht wieder. Deswegen haben wir zudiesem Abkommen eine ganze Menge Fragen.
Sie haben das Thema Ressourcen im eigenen Landangesprochen. In der Tat ist das, was wir im eigenenLand an Ressourcen haben, überhaupt nicht zu unter-schätzen. Wenn wir ein sauberes Recycling und Down-cycling aufbauen, durchaus auch eine Substitution vonStoffen, die nicht ausreichend verfügbar sind, dann kön-nen wir hier im Lande sehr viel mehr an Rohstoffen he-ben, als wir über Importe hereinbekommen können. An-ders ausgedrückt: Wenn wir dieses Feld vernachlässigen,wenn wir es zulassen, dass Stoffe, die bei uns in techni-schen Geräten wie Handys und Computern vorhandensind, wieder aus dem Lande verschwinden, weil wir keinvernünftiges Recyclingsystem haben, dann haben wirunsere Hausaufgaben nicht gemacht.Die entsprechenden Stichworte finden sich bei Ihnenwieder, auch in Ihrem Antrag. Allerdings werden sienicht wirklich mit Inhalt gefüllt. Es geht letztlich darum,die politischen Rahmenbedingungen dafür bereitzustel-len, dass ein vernünftiges Kreislaufwirtschaftssystemtatsächlich auch in diesem Bereich entstehen kann.Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist und eineMenge mit dem zu tun hat, was wir im Parlament in die-sen Wochen ganz besonders häufig besprechen, betrifftdie internationalen Finanzmärkte. Auch die Rohstoff-märkte sind von Spekulationen nicht unberührt. EinLand, die USA, hat mit diesem Thema schon lange Er-fahrungen gemacht und hat schon relativ früh reagiert.Angefangen hat das dort im Agrarsektor. Vor kurzem hatein amerikanischer Abgeordneter festgestellt – den Satzwill ich gerne zitieren –:Zwischen den Getreidebauern und den Brotessernhat sich ein Parasit geschoben, der beide beraubt.Gemeint sind die Rohstoffspekulanten.Die Amerikaner haben in Form des Dodd-Frank Actreagiert. Auch früher haben sie schon ähnliche Instru-mente aufgelegt. Der EU-Kommissar für den Binnen-markt, Barnier, hat offenbar sehr genau hingeschaut undmacht jetzt Vorschläge, wie wir in Europa die Spekula-tionen auf den Rohstoffmärkten eindämmen können. Esgeht um Regeln für Händler, insbesondere zur Transpa-renz und zu den Berichtspflichten der Händler. Aber esgeht schlicht auch darum, Mengen von Transaktionenauf den Rohstoffmärkten zu begrenzen, die letztlichdazu führen, dass es Preisschwankungen und Verfügbar-keitsprobleme gibt, wie wir sie in den letzten Monatenkennengelernt haben.Ich kann Sie – damit richte ich mich an die Bundesre-gierung, aber auch an die Koalitionsfraktionen – nur auf-fordern, diese Anstrengungen der Europäischen Kom-mission aktiv zu unterstützen. Es ist so, dass vieleMitgliedstaaten durchaus auf der Linie von Barnier sindund solche Regelungen einführen wollen. Aber es gibtnatürlich auch einige, zum Beispiel Großbritannien, diedem Ganzen sehr skeptisch gegenüberstehen. Ich bitteSie, Ihre Möglichkeiten auszunutzen, um dieses Thema
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mit den Partnern in Europa voranzutreiben und dafür zusorgen, dass wir hier zu Lösungen kommen. Es kann je-denfalls nicht sein, dass wir dieses Thema vernachlässi-gen, dass wir letztlich zulassen, dass es, obwohl auf denWeltmärkten ausreichend Rohstoffe vorhanden sind, zuVerknappungen oder Verteuerungen und Preisschwan-kungen kommt, die unsere gesamte Wirtschaft betreffenund ein Land wie Deutschland, das auf Hightechent-wicklungen und Exporte angewiesen ist, in besonderemMaße benachteiligen.Ich habe am Anfang gesagt: Sie wollen Ihren Antragheute im Parlament durchpeitschen. Das sind wir ge-wohnt. Gestern haben wir ihn bekommen, vorgestern ha-ben Sie ihn offenbar geschrieben, nachdem Sie sich dasAbkommen der Bundesregierung zu Gemüte geführthatten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden diesemAntrag heute nicht zustimmen, einmal wegen des Ver-fahrens, aber auch, weil einige der Punkte einer Konkre-tisierung bedürfen, wie ich das gerade versucht habe an-klingen zu lassen, und insbesondere weil das Thema derBekämpfung der Rohstoffspekulationen bei Ihnen völligunterbelichtet ist. Das ist offenbar ein Thema, mit demSie sich auch an anderer Stelle ausgesprochen ungernbefassen. Aber um die Bekämpfung der Spekulationenwerden Sie nicht herumkommen, weder wenn es umWährungsspekulationen noch wenn es um Rohstoffspe-kulationen geht.Vielen Dank.
Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Rohstoffaußenpolitik und die Rohstoff-sicherheit sind zentrale Fragen im Hinblick auf die Zu-kunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Deshalb habendie Koalitionsfraktionen dieses Thema nicht nur heute,sondern schon zu Beginn dieser Legislaturperiode aufdie Tagesordnung gesetzt. Wir versuchen, die bishernicht gebündelten Aktivitäten von Auswärtigem Amt,BMZ und Bundeswirtschaftsministerium – hinzu kom-men zahlreiche Einzelreisen von Abgeordneten – so zu-sammenzufassen, dass wir tatsächlich von einer Roh-stoffaußenpolitik sprechen können. Wir wollen damitunser wirtschaftliches Engagement im Außenwirt-schaftsbereich unterstreichen.
Dass die Zukunftsfähigkeit massiv beeinflusst wird,liegt auf der Hand; denn Rohstoffe sind nichts Abstrak-tes. Wenn wir über die mineralischen und nichtenergeti-schen Rohstoffe sprechen, muss jeder Verbraucher wis-sen, dass sein eigenes Handy, dass das, was wir jedenTag zum Arbeiten brauchen, dass jede technische Neue-rung der letzten 20 Jahre darauf basiert, dass wir Roh-stoffe brauchen, und zwar leider meistens solche ausLändern, die politisch sehr schwierig sind. Die Rohstoff-abhängigkeit gilt nicht nur für Handys, für Windturbinenund für Solaranlagen; es ist kaum ein großes, speziali-siertes Unternehmen in Deutschland ohne wichtige Roh-stoffe, ohne wichtige Ressourcen denkbar; denn daraufbasieren ihre Produkte.Als wichtige Industrienation zählt Deutschland daherzu den größten Rohstoffkonsumenten der Welt. Das be-trifft nicht nur die Metallrohstoffe, sondern vor allem In-dustriemineralien. Darauf gehen unser Antrag und auchder Rohstoffkongress der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion in der kommenden Woche ausführlich ein.Das Ganze ist ein Thema, das die Bürger und ihre Ar-beitsplätze sehr stark angeht. Ohne Rohstoffe kann dieBASF in Ludwigshafen nicht arbeiten. Mit dem Einkaufvon Rohstoffen beginnt die Arbeit von weltweit über100 000 BASF-Mitarbeitern. Volkswagen wäre ohneRohstoffe überhaupt nicht denkbar. Auch die erneuerba-ren Energien und Unternehmen wie Solarworld gäbe esohne eine Ressourcen- und Versorgungssicherheit in die-sem Bereich nicht. Wir brauchen also eine Rohstoffpoli-tik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter Führungvon Volker Kauder hat im vergangenen Jahr mit ihremRohstoffkongress ein deutliches Signal an die Fachweltgesendet. Wir bauen darauf auf, wenn die Bundeskanzle-rin auf unserem Fraktionskongress in der kommendenWoche dazu vorträgt.Bereits in der Zeit des BundeswirtschaftsministersBrüderle,
am 20. Oktober 2010, hat das Bundeskabinett eine Roh-stoffstrategie gebilligt. Es ist gerade schon gesagt wor-den: Es wäre wünschenswert, wenn man auch auf euro-päischer Ebene weiterkäme. Dies gestaltet sich aber– das ist zum Teil ein Vorwurf an unsere Freunde undPartner in Europa – schwierig, da manche Länder, auchengste Freunde von uns, der Meinung sind, dass zumBeispiel in Afrika ihre Außenpolitik eher der eigenen In-nenpolitik entspreche als einem gemeinsamen europäi-schen Ansatz. Das macht die Sache natürlich schwierig.Wenn man eine gemeinsame europäische Rohstoffstrate-gie will, dann muss man an dieser Stelle Außenpolitikaus einem Guss machen. Das gestaltet sich in Europasehr schwierig.Die Opposition hat erkannt, dass dies ein wichtigesThema ist, und versucht, hier nachzuziehen.
Herr Hempelmann hat es gerade deutlich gemacht. Ichbegrüße das auch ausdrücklich. Es gab einen Antrag derSPD zum Thema Rohstoffpolitik. Vieles darin finde ichrichtig und unterstütze ich. Sie könnten unserem Antrageigentlich getrost zustimmen, weil wir gar nicht so weitauseinander sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15647
Philipp Mißfelder
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Die Grünen haben am 1. September 2011 ihre „GrüneRohstoffstrategie“ präsentiert. Auch darin findet sichvieles, dem wir zustimmen, zum Beispiel dem PunktRecycling. Unsere Zustimmung findet auch die Behand-lung der Frage „Wie stellen wir uns im Hinblick aufRohstoff- und Ressourcensicherheit auf?“. Insofern ladeich Sie ein, unseren Antrag zu unterstützen. Ich glaube,wir sind gar nicht so weit auseinander.Leider ist es so, dass sich die Linke sehr ideologischmit dem Thema Rohstoffe beschäftigt hat, Herr Gehrcke.
– Nein. Ich möchte Ihnen nicht den Tag verderben, in-dem ich Ihrem Antrag zustimme.Bei Ihnen hat man den Eindruck, Sie hätten einenPawlow’schen Ideologiereflex: Sobald Sie das Thema„Ressourcen, Industrie, Wirtschaft, Rohstoffe“ hören,sagen Sie: Kein Krieg für Rohstoffe!
Darum geht es bei unserer Rohstoffstrategie nicht.Bitte betrachten Sie das Thema etwas sachlicher! Be-schäftigen Sie sich mit der Frage, und stellen Sie sichvor, was wir ohne eine engagierte Rohstoffaußenpolitikmachen würden! Wenn wir Ihnen folgen würden und IhrAntrag umgesetzt würde, dann würden in Zukunft alleHightechprodukte teurer werden, und die Industrie inDeutschland würde sterben. Deshalb lehne ich das ab.
Wir befinden uns in der Rohstoffpolitik grundsätzlichin einem Zwiespalt zwischen wertegebundener und inte-ressengeleiteter Außenpolitik. Das ist im Übrigen nichtnur für diese Bundesregierung, insbesondere den Bun-desaußenminister und die Bundeskanzlerin, eine Heraus-forderung, sondern es war auch für die vorherigen Re-gierungen eine ständige Herausforderung. Wenn Sie inrohstoffreiche Länder reisen, dann treffen Sie – das istbereits angesprochen worden – häufig auf große Armutund sehr schwierige politische Verhältnisse, meistens inVerbindung mit der Missachtung von Menschenrechten.Nichtsdestotrotz ist in dieser Frage realpolitischesHandeln notwendig, weil dies unseren Interessen ent-spricht. Das heißt nicht, dass man alles andere über Bordwerfen darf. Sie können uns zwar Einzelbeispiele vonReisen vorwerfen, über denen eher ein Grauschleier lag,als dass sie ein leuchtendes Beispiel für die Menschen-rechtspolitik gewesen wären. Ich könnte aber den Spießauch umdrehen und Ihnen aufzählen, wohin überallGerhard Schröder oder auch Politiker Ihrer vorherigenRegierung gereist sind und was sie dort alles gemachthaben. Das ist der Zwiespalt einer interessengeleitetenund gleichzeitig wertegebundenen Außenpolitik. DiesesHin und Her gegenseitiger Schuldzuweisungen wird unsnichts bringen, wenn es um die großen Fragen geht, diewir in der Rohstoffpolitik zu bewältigen haben.
Eine zentrale Frage, in der man, glaube ich, ernsthaftversuchen sollte, einen europäischen Konsens herzustel-len, ist die Rohstoffgerechtigkeit. Im Frühjahr diesesJahres hat es durch Spekulationen sehr starke Verwer-fungen auf den Märkten gegeben. Ich glaube, wenn wirmit geballter Marktmacht und einer einheitlichen Strate-gie, die politisch entsprechend unterfüttert wird, in Eu-ropa auftreten würden, dann hätten wir die Chance, zu-mindest durch langfristige Partnerschaften mit einzelnenRohstofflieferanten der Spekulation etwas entgegenzu-setzen. Wenn aber jeder Staat einzeln versucht, diesegroße Herausforderung zu bewältigen, wird er scheitern.Wenn wir einen Beitrag zur Rohstoffgerechtigkeit leis-ten wollen, dann muss Europa versuchen, von einzel-staatlichen Lösungen abzusehen, und sich darum bemü-hen, die gemeinsamen Themen auf einen Nenner zubringen.Rohstoffpolitik hat aus unserer Sicht drei Handlungs-felder, die wir in unserem Antrag aufgeführt haben. Not-wendig ist, erstens Wettbewerbsverzerrungen zu be-kämpfen und zweitens zu einer Diversifizierung bei denRohstofflieferanten zu kommen, um sich nicht von ei-nem Land abhängig zu machen. Dies ist ein großes Pro-blem; ich erinnere nur an das Beispiel der Seltenen Er-den aus China. Recycling und Rohstoffeffizienz sindschon von Staatssekretär Burgbacher angesprochen wor-den. Diesen Themen müssen wir uns in Deutschlandstellen. Dafür sind die Außenpolitiker allerdings nichtzuständig.Das dritte Handlungsfeld ist die Rohstoffpolitik. Einekluge Rohstoffaußenpolitik muss Rahmenbedingungenfür Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland set-zen. Sie verlangt deshalb auch ein größeres Engagementder deutschen Industrie, was aus meiner Sicht auf einemguten Weg ist, aber trotzdem noch einer gewissen finan-ziellen Untermauerung bedarf. Denn es kann nicht sein,dass letztlich der Staat alles regeln muss. Wir helfen derIndustrie gerne und stellen uns auch nicht dagegen, siemit Geld des Steuerzahlers zu unterstützen, aber diegrößte Leistung muss aus der Industrie selbst kommen.Wenn es beispielsweise um eine Rohstoffholding odereine Investmentgesellschaft in diesem Bereich geht,muss das die Wirtschaft vor allem selber stemmen.Wir sehen verschiedene Handlungsfelder in der Roh-stoffaußenpolitik. Es geht um den Zugang zu Rohstof-fen, damit wir nicht in technologische Abhängigkeitkommen. Es geht um die Balance zwischen wirtschaftli-chen und politischen Rahmenbedingungen und um dieFrage, wie wir uns in einem Wettbewerbsumfeld so plat-zieren können, dass deutsche und europäische Firmen inder Lage sind, wettbewerbsfähig zu wirtschaften.In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte wichtig,die auch die Rahmenbedingungen setzen: Der Bedarf anRohstoffen nimmt weltweit zu, und es gibt stärkerePreisschwankungen als früher. Ein dritter Punkt, denman nicht unterschlagen darf, ist, dass es einige Ländergibt, die konzentriert Rohstoffe für ihre Industrie brau-chen. Dies kann dazu führen, dass außenpolitische Über-
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Philipp Mißfelder
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legungen zum Spielball von strategischer Rohstoffpoli-tik werden. Das ist eine sehr große Herausforderung, derwir uns stellen müssen. China wird immer als Hauptbei-spiel genannt. Es ist aber nicht nur China; es sind nochviele andere Länder. Ich möchte an dieser Stelle nichtnur China kritisieren.Abschließend – Herr Burgbacher hat es richtigerweisegesagt –: Wir brauchen Rohstoffpartnerschaften. Des-halb war die Reise der Kanzlerin in die Mongolei einvoller Erfolg. Was wir mit Kasachstan auf den Weg zubringen versuchen, geht in dieselbe Richtung. Ich hoffe,dass wir in diesem Jahr zu einem positiven Ergebniskommen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke
für die Fraktion Die Linke.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Werte Kollegin-nen und Kollegen! Es liegen heute zwei Anträge vor, diejeweils in eine völlig andere Richtung weisen, der An-trag der CDU/CSU und FDP und der Antrag der Linken.Der Kollege Mißfelder hat völlig recht, und ich möchteihm gar nicht widersprechen: Wenn man unseren Antragund Ihren Antrag liest, dann stellt man fest, dass die bei-den nicht zusammengehen. Ich finde es völlig normalund richtig, das auszusprechen. Ich lege sogar großenWert darauf, dass wir in unterschiedliche Richtungendenken und unterschiedliche Vorschläge machen. Das istmir wichtig. Es wäre schlimm, wenn unsere Anträgegleich wären.
Schauen wir uns im Einzelnen an, welche Grundlagenin den Anträgen betont werden. CDU/CSU und FDP for-mulieren in ihrem Antrag die philosophische und strate-gische Grundlage, den Prinzipien von Markt und Wett-bewerb entsprechen zu wollen. Die Grundlage ist, dassder Markt alles regelt, und im Wettbewerb wird sich be-kanntermaßen der Stärkere durchsetzen. Die Vorschläge,die Sie praktisch machen, weisen in diese Richtung. DiePrinzipien von Wettbewerb und Markt decken sich mitden Aussagen im Koalitionsvertrag. Es ist schon alsGrundprinzip der Außenpolitik formuliert worden, denfreien Welthandel durchzusetzen. Was Sie unter freiemWelthandel verstehen, ist bekannt.Wir betonen in unserem Antrag völlig andere Dinge.Wir betonen in unserem Antrag die Solidarität als Hand-lungsprinzip zwischen Produzenten und Konsumentenvon Rohstoffen. Das ist außerordentlich wichtig. Wirwollen Ausgleich und nicht Dominanz.
Wir legen Wert darauf, dass Menschenrechte nicht dasBeiwerk sind, mit dem man sich schmücken kann, wennes passt, sondern das Grundprinzip der Kooperation wer-den. Ich sage Ihnen sehr zugespitzt: Sie scheren sich ei-nen Dreck um die Menschenrechte, wenn es um Profitgeht.
Wer Panzergeschäfte mit Saudi-Arabien abwickelt, sollmir nicht mit Menschenrechten kommen. Sie haben sichselbst entlarvt und haben offenbart, in welche Richtunges geht.
Davon kommen Sie nicht weg. Ändern Sie Ihre Politik!Dann brauche ich diesen Vorwurf nicht zu erheben.Für uns ist wichtig, dass man sich den Kopf zerbrichtüber die Arbeitsbedingungen der Menschen, die Roh-stoffe fördern oder an der Verteilung von Rohstoffen be-teiligt sind. Für uns ist wichtig, über Kinderarbeit undüber ökologische Verantwortung zu sprechen. Das allesfinden Sie in unserem Antrag, aber davon finden wirnichts in Ihrem Antrag. Den Vorwurf, dass Sie sich in Ih-rem Antrag überhaupt nicht mit der Spekulation mitRohstoffen und dem, was damit in der weltweiten Aus-einandersetzung angerichtet wird, befassen, können Sienicht entkräften. Lesen Sie Ihre eigenen Papiere! Dannwerden Sie das begreifen.Jetzt haben Sie als großen Knüller entdeckt – auchdas ist nichts Neues –, dass wir immer mit der Kriegs-frage kommen, wenn es um Rohstoffe geht. Das stimmt.Ich bin fest davon überzeugt, dass mindestens ein Grund– für mich ist das der dominierende Grund – für die Mi-litäreinsätze die Rohstoffsicherung ist. Das will ich garnicht mit meiner Ideologie beweisen, auch wenn ich eskönnte. Ich lasse es aber sein, weil es keinen Zweck hat,darüber mit Ihnen zu diskutieren. Schauen Sie in diePläne der Bundesregierung zum Umbau der Bundes-wehr! Die Rohstoffsicherheit und die Sicherheit vonHandelswegen bilden ausdrücklich einen Schwerpunktder neuen Bundeswehrstrategie. Das ist Ihre Politik.Also gibt es einen Zusammenhang.Denken Sie an die Worte des ExbundespräsidentenKöhler zu Afghanistan. Zu Guttenberg hat das Gleicheformuliert, nur etwas eleganter. Es tut mir leid, wie manmit Herrn Köhler umgesprungen ist. Er hat ausgespro-chen, dass auch der Afghanistan-Krieg vor dem Hinter-grund des Kampfes um Rohstoffe geführt wird.
– Das ist nicht mein Unsinn. Das war Herrn Köhlers Un-sinn.
– Setzen Sie sich damit auseinander! Das können Sie inzig Varianten lesen, übrigens auch in Anträgen der FDP.Sie enthalten immer diesen Akzent, Rohstoffsicherheitauch militärisch zu garantieren. Das entspricht ja auchIhrer praktischen Politik.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15649
Wolfgang Gehrcke
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– Dass Sie ärgerlich sind, wenn das angesprochen wird,verstehe ich, aber es ist ja nun einmal so.
Ich möchte Sie auch darauf aufmerksam machen, dassman den verengten Blick, was Rohstoffe angeht – manbetrachte nur Öl und Gas –, aufgeben und die gesamtenFragen der Auseinandersetzung auch um Wasser und umSeltene Erden sehen muss. Was mich vor allem berührt,ist die Auseinandersetzung um Wasser. Wenn ich sehe,was dort an Konzentration, an Privatisierung, an Kampfum die Preise läuft, dann komme ich zu dem Schluss,dass wir von wenigen Wasserproduzenten abhängig wer-den. Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganze Fragedes Kampfes um Wasser einmal eine der zentralen Fra-gen der Auseinandersetzung werden wird.Schauen Sie dann doch auch einmal darauf, wie vielGeld Sie im Rüstungsbereich verschwenden! Der Afgha-nistan-Krieg hat Deutschland bisher 17 Milliarden Eurogekostet. Was hätte man damit an vernünftigem Aus-gleich leisten können!Zusammengenommen: Wir brauchen hier eine Poli-tik, die einen fairen Ausgleich beinhaltet, bei der nichtdas Strategiepapier des BDI maßgeblich ist, sondern das,was die Produzenten und die Konsumenten brauchen.
Wir brauchen eine Politik, nach der bestimmte Dingenicht mehr als Ware gehandelt werden dürfen – ichnenne Gene von Pflanzen und von Menschen –, und wirbrauchen eine Entscheidung gegen Spekulation mit Nah-rungsmitteln. Das wäre einem deutschen Parlament an-gemessen. Das erwarte ich bei den Mehrheitsverhältnis-sen hier nicht. Mit Ihrer Rohstoffpolitik werden Sie nurdem alten Satz, der Truman zugeschrieben worden ist,neue Nahrung geben: Wie kommt unser amerikanischesÖl unter den arabischen Sand?Was Sie hier anbieten, ist einfach zu wenig.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasThema Rohstoffe ist Gegenstand von Wirtschaftspolitik,Technikpolitik, Außenpolitik und Entwicklungspolitik.Ich will gern mit einer eher moralischen Fragestellungbeginnen: Was folgt aus der Tatsache, dass wir aufgrundunserer Wirtschaftskraft so viele Rohstoffe brauchen?Folgt daraus, dass wir ein besonderes Recht haben aufeinen besonderen Zugang zu vielen Rohstoffen in derWelt – das ist die Hauptrichtung Ihres Antrags –, oderfolgt aus der Tatsache, dass wir besonders viele Roh-stoffe verbrauchen, eine besondere Verpflichtung, effi-zient mit knappen Rohstoffen umzugehen? Ich finde,Letzteres ist richtig
Das ist die zentrale Kritik an dem Konzept vonBrüderle aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister und anIhrem Antrag: Sie legen den Schwerpunkt zu sehr aufRohstoffsicherung – Klammer auf: nicht unwichtig –und zu wenig auf Effizienz und Recycling und effekti-ven Umgang mit knappen Gütern, darunter – schonsprachlich interessant – Seltene Erden.
Wir sagen: Sie müssen es anders machen. Im Schwer-punkt einer deutschen Rohstoffstrategie muss der effi-ziente Umgang mit Rohstoffen liegen, die Rohstoff-produktivitätssteigerung, wie man ökonomisch sagenwürde, damit wir unseren Wohlstand mit weniger Roh-stoffen sichern können.Ich sage in Ihre Richtung: Ich finde, das ist auch diebeste Sicherheitspolitik – darüber brauchen wir gar nichtlange zu streiten –,
und das ist auch ein außenpolitisches und entwicklungs-politisches Thema, weil ein Fluch auf Rohstoffen liegenkann, selbst wenn man sie besitzt.
Das wird entschärft, wenn die reichen Länder effektivmit Rohstoffen umgehen.Deswegen ist Rohstoffpolitik Innovationspolitik. Esgilt, unser Wissen, unser technisches Wissen so einzuset-zen, dass wir unseren Wohlstand mit weniger Rohstoffenerzeugen können. Da ist die Bundesregierung bishernicht besonders gut.Ich will einmal ein Beispiel nennen. Es gibt ja einEU-Konzept, das gelegentlich auch zitiert wird. DieBundesregierung hat hier in Brüssel blockiert und tut esnoch immer. Die EU sagt: Wir wollen eine Innovations-partnerschaft für Rohstoffe und Ressourceneffizienz.Lasst uns das in Europa gemeinsam machen und nichtLand für Land! Wir brauchen eine gemeinsame Strate-gie. Da tritt die Bundesregierung auf die Bremse.Ein interessanter Punkt ist übrigens: Auf EU-Ebeneseid ihr bei diesem Thema gar nicht gut aufgestellt. Inden EU-Debatten heißt es immer, man müsse zum Bei-spiel in der Wirtschaftspolitik gemeinsam handeln. HerrMißfelder, hat die Kanzlerin die EU vorher über ihr Vor-haben in der Mongolei informiert? Hat man die Fragegestellt, ob man das nicht auf europäischer Ebene regelnkann? Oder hat man beim Thema Rohstoffe wieder denBlick auf die nationale Wirtschaft? Das würde ich fürextrem falsch halten.
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Fritz Kuhn
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Übrigens – weil Sie gesagt haben, die Reise in dieMongolei sei so toll gewesen –: Wenn man dort eineRohstoffpartnerschaft schließen will, kommt es auf dasWie an. Das Erste, auf das man gekommen ist, ist dieKohleförderung. Sie können mir viel erzählen, aber einrichtiger Innovationsbrummer war diese Reise nicht; dieErgebnisse sind eher ziemlich schwach.
Herr Kollege Kuhn, darf Herr Mißfelder Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, wenn es hilft, bitte.
Bitte sehr.
Meine Frage an Sie lautet: Sind Sie sich darüber im
Klaren, dass es eventuell notwendig sein könnte, jetzt zu
versuchen, eigene Partnerschaften zu etablieren, um eu-
ropäische Partner auf einen gemeinsamen Weg zu zwin-
gen?
Denn Nichtaktivität kann auch dazu führen, dass wir am
Wettbewerb gar nicht mehr teilnehmen. Sind Sie sich au-
ßerdem darüber im Klaren, dass eine Hilfe bei der Koh-
leförderung vielleicht zu mehr Effizienz in der Mongolei
selbst führen könnte? Es würde mich interessieren, ob
Sie, der Sie gerade von Effizienz gesprochen haben, be-
reit sind, unsere technologische Unterstützung der Mon-
golei, die auch zu mehr Effizienz führen soll, zur Kennt-
nis zu nehmen.
Zu Ihrer ersten Frage: Wenn man grundsätzlich derÜberzeugung ist, dass es gut ist, solche Innovationsstra-tegien auf europäischer Ebene abzustimmen – Klammerauf: weil der alte Wettlauf zum Beispiel zwischen denFranzosen, den Engländern und uns nicht besonders effi-zient und klug ist, da alle getrennt agieren –, dann wirdman das in Europa tatsächlich koordinieren müssen. Daswar der Sinn meiner Frage, ob auf europäischer Ebeneabgesprochen ist, dass man jetzt eine deutsche Rohstoff-partnerschaft initiiert. Die Frage ist, ob es nicht klügerwäre, sich um europäische Rohstoffpartnerschaften zubemühen.Sie haben gesagt, um auf europäischer Ebene etwas inGang zu bringen, müsse man erst einmal alleine handeln.Das scheint mir etwas konstruiert. Das ist ein seltsamesVerständnis von europäischer Koordination, und ichkann es überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man inEuropa etwas machen will, dann spricht man in Europaauch gemeinsam die Schwerpunkte ab.
Man entwickelt eine gemeinsame Strategie, und daraufgründen sich dann Rohstoffpartnerschaften. So würdeich das jedenfalls sehen.
Der große technologische Effizienzschub für dieMongolei kommt nicht aus der Kohleförderung. Das istvöllig absurd. Die Mongolei hat viele Möglichkeiten, ge-rade mit erneuerbaren Energien, die Energieversorgungsicherzustellen. Dass man sich da noch einmal auf denKohletrip begibt, den wir uns gerade langsam abgewöh-nen, halte ich für unnötig.
Jetzt würde ich gerne in meiner Rede fortfahren. – Sieversäumen es, den Effizienzgedanken mit Instrumentenzu versehen. Die Ökodesign-Richtlinie muss jetzt bear-beitet werden. Zum Beispiel muss in diese Richtlinieauch die Recyclingfähigkeit von Produkten aufgenom-men werden. Das blockieren Sie gerade. Wir müssenbeim Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz die Fragenach dem Recycling stellen. Das wird ja gerade disku-tiert. Sie allerdings bremsen da nur. Sie haben eine Wie-derverwertungsquote von 65 Prozent hineingeschrieben,die aber in vielen Bereichen schon erreicht wird. Es isteine völlig unambitionierte Politik, die Sie betreiben,wenn es darum geht, Effizienz, Verwertung und auchSubstitution zu verbessern.Ich komme zu einem Punkt, bei dem Sie sehrschwach aussehen: Es geht um die Regulierung der Roh-stoffmärkte. Das ist ein internationales Thema. Ich willvorweg sagen: Die Rohstoffmärkte müssen stark regu-liert werden. Was in den USA unter dem Begriff Dodd-Frank Act jetzt diskutiert wird, müssen wir auch inEuropa aufnehmen. Es bedeutet zum Beispiel, dass derOver-the-Counter-Handel bei Rohstoffderivaten verbo-ten werden muss. Es muss klar sein, wo Rohstoffe ge-handelt werden, damit die Spekulation mit Rohstoffen,die Sie angesprochen haben, zurückgeht.Die Amerikaner haben auch formuliert, dass es einPositionslimit für einzelne Händler geben muss, um un-kontrollierte Spekulation zu verhindern. Das wollen wireinführen.
Sie aber reden nicht davon. Der Grund dafür ist bei derFDP zu finden: Sie haben Angst, einen Bereich zu regu-lieren, der vernünftigerweise reguliert werden müsste.Sie scheuen das Wort Regulierung wie der Teufel dasWeihwasser.Rohstoffspekulationen sind sowohl für die deutscheWirtschaft als auch für Entwicklungsländer, die überRohstoffe verfügen, extrem schädlich und gefährlich.Deswegen muss der Rohstoffmarkt jetzt vernünftig regu-liert werden. Daran führt kein Weg vorbei. DiesesThema haben Sie in Ihrem Antrag allerdings nur amRande gestreift; denn Sie machen keine operativen Vor-schläge dafür, wie das funktionieren soll.
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Fritz Kuhn
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Sie machen auch keine Vorschläge zum Thema Zerti-fizierung von Handelsketten. Dieses Thema haben wir indem von Ihnen zu Recht genannten grünen Konzept auf-genommen. Ich habe, nebenbei bemerkt, einigeExemplare dabei. Sie können gegen eine geringe Schutz-gebühr nachher ein Exemplar bekommen.
Die Zertifizierung von Handelsketten ist ein zentralesElement, das wir brauchen. Auch darüber haben Sienichts gesagt.Ich will zum Schluss feststellen: Es ist wichtig, dasswir über dieses Thema diskutieren. Die Vermeidungs-und Effizienzseite kommt bei Ihnen zu kurz. Deswegenmüssen Sie Ihren Antrag nachbessern.
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege Klaus
Breil das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Deutschland hatte bis in die 90er-Jahre einen welt-weit erfolgreichen Rohstoffkonzern von beachtlicherBedeutung. Der Einfluss einer staatlich kontrolliertenBank aus Nordrhein-Westfalen wirkte sich hier aber sofatal aus, dass das gesamte Rohstoffgeschäft aufgegebenwurde. Der Konzern entwickelte sich in eine völlig neueRichtung. Seitdem ist unsere Wirtschaft an der Rohstoff-flanke offen.Heute hängt unsere Wirtschaft mehr denn je von Me-tallrohstoffen und Industriemetallen ab. Sie ist auf dieImporte dieser Rohstoffe nahezu vollständig angewie-sen. Selbst wenn ein europaweit agierender Kupferher-steller schon fast 40 Prozent seiner Produktion aus Recy-clingmaterial schöpft: Wir wollen und müssen dasRecycling noch in vielerlei Hinsicht steigern und die Ef-fizienz beim Einsatz von Rohstoffen deutlich verbessern.
Herr Kuhn, wir haben das voll auf dem Radarschirm.Rohstoffabhängigkeit ist und bleibt ein wirtschaftli-ches Urphänomen. Rohstoffhandel ist Prototyp wirt-schaftlicher Interaktion – in Deutschland ganz beson-ders. Denn von der Sicherheit der Versorgung mitRohstoffen hängen hier in hohem Maße Arbeitsplätzeund Wirtschaftswachstum ab. Sie alle wissen: Im Jahr2010 hatte das produzierende Gewerbe mit rund720 Milliarden Euro einen Anteil von knapp 30 Prozentam deutschen Bruttoinlandsprodukt. Diese Tatsache hatuns einen florierenden Arbeitsmarkt und volle Sozial-kassen beschert.Die Vorstellung der Linken von einer Rohstoffstrate-gie, die nicht die Interessen der deutschen und europäi-schen Industrie zum Ziel hat, kommt einer Deindustriali-sierung gleich. Daher ist ihr Antrag abzulehnen.
Die Rohstoffsicherung ist eine primäre Aufgabe derWirtschaft. Es ist erfreulich, dass dies die Wirtschafts-verbände genauso sehen. Die Politik muss sich aller-dings um die erforderlichen Rahmenbedingungen küm-mern. Sie kann Lieferabkommen schließen undVorhaben begleiten; sie kann Investitionsgarantien ge-ben und Ungebundene Finanzkredite anbieten. Das wirdsie auch tun. Daneben wird sie noch zusätzliche Instru-mente prüfen.Die Politik muss darauf hinwirken, bestehende Han-dels- und Wettbewerbsverzerrungen gegenüber anderenStaaten abzubauen. Das gilt ganz besonders für die Sel-tenen Erden. Dazu ist eine Partnerschaft zur industriellenEntwicklung hilfreich, die von mehreren rohstoffreichenLändern seit einiger Zeit verstärkt gefördert wird. DieZusammenarbeit mit Kasachstan ist für den neuen Geistder Partnerschaft ein gutes Beispiel.
Der „Interministerielle Ausschuss Rohstoffe“ arbeitethier im Übrigen eng mit der Wirtschaft zusammen.
Wir erleben einen echten Neubeginn, und der ist auchnotwendig. Denn heutzutage ist der Aufbau eines welt-weit agierenden Rohstoffkonzerns im Alleingang finan-ziell nicht mehr zu schultern. Bei dem Bestreben derdeutschen Industrie, ihre Rohstoffversorgung wieder indie eigene Hand zu nehmen, werden direkte Beteiligun-gen der Unternehmen an Rohstoffprojekten im Auslanddie Versorgungssicherheit erhöhen, selbst wenn dies keinsofortiges Allheilmittel ist. Die Bundesregierung wirddurch den weiteren Aufbau von staatlich untermauertenRohstoffpartnerschaften diesen Weg flankieren.Bemerkenswert finde ich die zunehmenden Klagenvon Schwellen- und Entwicklungsländern, denen sichdie Chinesen in unmissverständlicher Absicht aufdrän-gen. Unser Weg der umfassenden wirtschaftlichen Part-nerschaften hingegen wird uns viele Chancen eröffnen.Mit ihrer sprichwörtlichen Zuverlässigkeit und Korrekt-heit kann die deutsche Wirtschaft hier gegenüber Wett-bewerbern überzeugend punkten.
Wir wollen die Interessen der Partnerländer wahren undihre eigene Ertragskraft durch den Rohstoffexport stär-ken. Damit gewährleisten wir unsere eigene Versor-gungssicherheit zu dauerhaftem Nutzen.
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Klaus Breil
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Zu Herrn Hempelmann sei noch gesagt – er sprachSpekulationen bei Rohstoffen an –: Die kräftigenPreisanstiege bei metallischen Rohstoffen, die im Jahre2002 begannen, waren eine Folge der Urbanisierung undder Infrastrukturaufbaumaßnahmen in China, das damalszum Nettoimporteur wurde. Die Nachfrage auf demweltweiten Kupfermarkt kommt zu 40 Prozent ausChina, bei nur 5 Prozent eigener Produktion. HerrHempelmann, nach meiner Beobachtung sind es die La-gerbestände und die Explorationskosten sowie die Pro-duktionskosten, die die Preise beeinflussen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Wenn wir in Deutschland an den Tank-stellen unser Benzin zapfen und uns an Fernsehserienwie Dallas erinnern, glauben wir, dass derjenige, derüber Öl verfügt, reich ist und in Saus und Braus lebenkann. Still und heimlich beneiden wir diejenigen, die aufLand sitzen, unter dem solche Rohstoffe liegen.Leider trifft das für Afrika und viele Entwicklungs-länder aber nicht zu. Dort liegen zwar ganz viele Roh-stoffe, und trotzdem leben Menschen in bitterster Armut.Für viele Länder Afrikas haben sich die Rohstoffe nichtals Segen, sondern als Fluch erwiesen. Obwohl pro Jahraus Rohstoffexporten fast zehnmal soviel Geld wie ausder Entwicklungszusammenarbeit nach Afrika fließt,gibt es dort Millionen Menschen, die von unter 1 Dollaram Tag leben müssen oder – wie gerade jetzt in Ost-afrika – vom Hungertod bedroht sind.Da fragt man sich natürlich: Woran liegt das? Dasliegt sicherlich daran, dass es oft schlechte Regierungs-führung gibt, die verhindert, dass die Gewinne, die beimAbbau von Rohstoffen erzielt werden, den ärmsten Men-schen oder zumindest den Menschen aus der Region, inder diese Rohstoffe gefördert werden, zugutekommen.Oft wird dann von uns mit erhobenem Zeigefinger dieKorruption benannt. Nur, zur Korruption gehören immerzwei: derjenige, der die Bestechung annimmt, und derje-nige, der besticht. Zu denjenigen, die bestechen, gehörenleider auch viele europäische und deutsche Firmen.
Deswegen können wir in Deutschland nicht so tun, alsgehe uns das Problem nichts an. Wir können den morali-schen Zeigefinger nicht nur auf die Regierungen inAfrika richten.Ich glaube, dass es nicht reicht, wenn wir unseren Un-ternehmen sagen: Bitte seid doch freiwillig so nett, faireAbkommen zu schließen und eure Zahlungsströme of-fenzulegen. – Ich glaube vielmehr, dass wir verbindlicheRegeln brauchen.Herr Kollege Mißfelder, der Antrag von Union undFDP unterscheidet sich sehr wohl von dem Antrag, dendie SPD-Fraktion bereits im Januar dieses Jahres vorge-legt hat und der im März hier diskutiert wurde. Wirsagen nämlich, dass die Einhaltung der Transparenzrege-lungen der EITI, der – in Englisch – Extractive Indus-tries Transparency Initiative,
verbindlich sein muss, damit es Außenwirtschaftsförde-rungen wie die Hermesbürgschaften geben kann. Es istein großer Unterschied, ob man dies auch für die deut-sche Außenwirtschaftsförderung zur Bedingung machtoder ob man sagt: Wir glauben, dass ihr das schon ein-haltet. – Wir brauchen strenge Regeln für Unternehmen,damit in diesem Sektor Transparenz und Ehrlichkeitherrschen.
Der sogenannte Dodd-Frank Act ist eine Maßnahme,die in den USA getroffen wurde. Demnach müssen Roh-stoffunternehmen, die an der Börse handeln, ihre Zah-lungsströme offenlegen. Das ist eine ganz wichtige Vo-raussetzung für mehr Transparenz und Gerechtigkeit indiesem Sektor. Ein solcher Ansatz muss auch von derBundesregierung verfolgt werden.
Die Bundesregierung sagt zwar, dass sie solche Maß-nahmen unterstützen will. Sie hat sich bisher aber leidernicht für die projektbezogene Offenlegung dieser Zah-lungsströme eingesetzt, die in den USA bereits prak-tiziert und die von Frankreich und Großbritannien an-gestrebt wird. Nur durch eine projektbezogeneOffenlegung kann man den lokalen Gemeinschaften, diein diese Maßnahmen eingebunden werden müssen, sa-gen: So viel Geld verdient eine Firma, die Kupfer bzw.Erz abbaut. Ihr habt Anspruch auf dieses Geld. – Wennallerdings nur auf das Land bezogen eine Gesamtsummegenannt wird, vertut man eine große Chance, da man denlokal betroffenen Menschen kein scharfes Schwert in dieHand gibt. Wir fordern deshalb die projektbezogene Of-fenlegung aller Zahlungsströme, für die die Rohstoff-unternehmen in Entwicklungsländern verantwortlichsind.Ich komme zu meinem nächsten Punkt. Transparenzist zwar wichtig. Es geht aber auch um die gerechte Ver-teilung der Gewinne. Voraussetzung dafür ist, dass dieMenschen und die Regierungen in den Entwicklungslän-dern gemeinsam für Transparenz sorgen. Die Menschenmüssen wissen, wie viel für Lizenzgebühren, für Kon-zessionsgebühren, für Steuern und für Gewinne gezahltwerden muss. Wir müssen im Rahmen der Entwick-
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Dr. Sascha Raabe
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lungszusammenarbeit mithilfe von Partnerschaftsab-kommen darauf drängen, dass die Gewinne gerecht, alsoauch an die ärmsten Menschen, verteilt werden. Dafürsetzen wir uns ein. Das haben wir in unserem Antragvom Januar bereits deutlich gemacht.Wir dürfen aber nicht nur auf die Verteilung der Ge-winne achten. Wir müssen auch die Arbeitsbedingungenin den Entwicklungsländern betrachten. In einem Landwie dem Kongo werden schon achtjährige Kinder ge-zwungen, in Minen zu arbeiten. Sie werden dort tagelangunter der Erde gehalten und somit ihrer Kindheit be-raubt. Oft wird ihnen auch noch ein großer Teil ihreskläglichen Gewinnes von Milizen abgenommen. Wiralle sollten uns schämen; denn auch wir Verbraucher hierin Deutschland tragen zu dieser Situation bei, indem wirHandys, zum Beispiel iPhones, und Flachbildschirmekaufen, für deren Produktion sogenannte Blutmineralienverwendet werden. Wir haben bis jetzt noch keine Rege-lungen getroffen, die es verhindern, dass Kinder imKongo in Bergminen arbeiten und verschüttet werdenund unzählige Menschenleben zerstört werden. All dieskommt im wahrsten Sinne des Wortes nie ans Tageslicht.Wir sind es den betroffenen Menschen schuldig, ver-bindliche Regelungen zu schaffen.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechteund die sozialen Mindeststandards wie die Kernarbeits-normen der Internationalen Arbeitsorganisation – Verbotvon Kinderarbeit und Zwangsarbeit, Gewerkschaftsfrei-heit – eingehalten werden. Wir müssen dafür sorgen,dass durch Kontrollen bessere Arbeitsbedingungen inden Abbaugebieten und den Minen geschaffen werden.Das muss zur Voraussetzung für künftige Freihandelsab-kommen werden, die die Europäische Union abschließt.Dies sollte auch für die Welthandelsorganisation gelten.Es nützt auch nichts, zu verhindern, dass deutscheUnternehmen diese Erze verarbeiten. Denn wir wissen,dass momentan 90 Prozent der Erze in Asien verarbeitetwerden. Mittlerweile haben die meisten Kollegen einiPhone. Schauen Sie einmal auf die Rückseite und lesenSie, wo es hergestellt wurde. Es steht „China“ darauf. Esnützt nichts, zu glauben, dass deutsche Firmen damitnichts zu tun haben. Denn das Eisenerz aus diesen „blu-tigen Minen“ wird in China verarbeitet. Wir kaufen esdann und heizen die Nachfrage an. Damit verheizen wirim wahrsten Sinne des Wortes die Kinder- und Men-schenleben mit. Das müssen wir stoppen.
Deswegen darf international im Rahmen von Freihan-delsabkommen nur dann gehandelt werden, wenn sicher-gestellt ist, dass die sozialen Bedingungen und die Men-schenrechte eingehalten werden.Weitere wichtige Aspekte, die wir entwicklungspoli-tisch unterstützen können, sind zum einen die Zertifizie-rung und zum anderen die Beratung von Regierungen,sodass sie beim Abschluss von Verträgen mit Unterneh-men mehr Know-how und Expertise haben und die Ver-träge so aushandeln, dass die Gewinne den Menschennützen. Das sind Dinge, die wir im Rahmen der Ent-wicklungszusammenarbeit leisten können.Ich sagte aber schon: Unser Handeln wird nur dannkohärent, wenn wir in der Handelspolitik entsprechendagieren. Deswegen setzen wir, die SPD, uns dafür ein,nicht nur die Entwicklungsprojekte, sondern auch dieHandelspolitik in den Blick zu nehmen, damit wir faire,gerechte Handelsbedingungen erreichen.Der Agrarrohstoffsektor, den mein KollegeHempelmann schon angesprochen hat, ist das himmel-schreiendste Beispiel für die Ungerechtigkeit, die es imAugenblick beim Handel mit Rohstoffen gibt. Viele den-ken bei Rohstoffen nur an Öl, Seltene Erden, Erze undanderes. Nahrungsmittel sind mittlerweile zu Rohstoffengeworden, die an den Börsen spekulativ gehandelt wer-den. Früher betrug das Handelsvolumen der Marktteil-nehmer, die nicht wirklich ein Interesse an Preisstabilitäthatten und den Handel mit Nahrungsmitteln spekulativbetrieben haben, 20 bis 30 Prozent. Heute werden80 Prozent der Nahrungsmittel als Spekulation gehan-delt, von Menschen, die gar kein Interesse an sicherenPreisen haben, sondern nur einen Reibach machen wol-len. Dazu gehört leider auch die Deutsche Bank; dasmuss man Herrn Ackermann einmal sagen.
Es gibt die Kampagne: „Hände weg vom Acker, Mann!“Wir tragen über die Deutsche Bank auf gewisse Art undWeise eine Mitschuld daran, dass Menschen hungern;das müssen wir verhindern.In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam verbind-liche Regeln finden, anstatt nur unverbindliche Ab-sichtserklärungen abzugeben, wie sie im Antrag derUnion enthalten sind, dem wir deshalb nicht zustimmenkönnen. Lassen Sie uns gemeinsam unsere sozialdemo-kratischen Vorschläge umsetzen: verbindliche Regelnfür eine gerechte Welt und eine gerechte Verteilung derRohstoffe, damit auch die Menschen, die in den Minenarbeiten, endlich zu ihrem Recht kommen, fair behandeltwerden und gut leben können.Danke schön.
Das Wort erhält nun der Kollege Christian Ruck für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er-folgreiche Rohstoffpolitik umfasst in der Tat viele Poli-tikbereiche. Dazu gehört, lieber Herr Kuhn, sicherlich
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Dr. Christian Ruck
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auch die Frage der Effizienz. Auch ich bin für mehr Effi-zienz. Wir reden gerade über das Kreislaufwirtschaftsge-setz und die anschließenden Gesetze. Da können wir dieEffizienzgewinne, die wir erreichen wollen, in die Tatumsetzen. Das kann in meinen Augen allerdings nicht soweit gehen, dass man sagt: Wir werden so effizient, dasswir die Rohstoffe aus Entwicklungsländern nicht mehrbrauchen. Das ist nicht das, was wir als Entwicklungs-politiker wollen.Auf dem ersten Rohstoffkongress der CDU/CSU-Fraktion vor drei Jahren hat einer der führenden Exper-ten auf dem Gebiet, Herr Professor Reller, eine Welt-karte mit der Lage der für die deutsche Wirtschaft wich-tigen Rohstoffe, auch der Seltenen Erden, an die Wandprojiziert. Der Befund ist eindeutig: Die Entwicklungs-und Schwellenländer haben hier eine überragende Be-deutung für die deutsche Wirtschaft, und zwar nicht nurChina und Indien, sondern auch viele arme Entwick-lungsländer. Insofern ist es für uns eine strategische He-rausforderung, in diesem Bereich eine erfolgreiche Ent-wicklungspolitik zu betreiben, zum Wohle unserereigenen Wirtschaft, aber vor allem auch zum Wohle die-ser Entwicklungsländer.Wir haben dabei in der Tat mit vielen Problemen zukämpfen. Lieber Kollege Raabe, ich gebe dir vollkom-men recht: Der Rohstoffreichtum war in der Vergangen-heit für viele Länder ein Fluch und kein Segen und ist eszurzeit noch immer. Er war und ist in der Tat die Ursacheeiner zum Teil überbordenden Korruption – Gesellschaf-ten in der Hand von kriminellen Vereinigungen –, einerUntergrabung der Rechtsstaatlichkeit, einer völlig un-ausgewogenen Verteilung der Einnahmen, die der brei-ten Bevölkerung kaum Entwicklungsimpulse bietet, so-wie von Kriegen und Bürgerkriegen, zum Beispiel inWest- und Zentralafrika.Für uns sind diese Entwicklungen doppelt schlecht;denn sie sorgen für eine unsichere Rohstoffversorgungund machen uns von wenigen Staaten abhängig. In Zei-ten des internationalen Terrorismus schaffen Gewalt undrechtsfreie Räume immer mehr Probleme für unsere ei-gene Sicherheit. Deswegen ist eine erfolgreiche Roh-stoffpolitik ein Gebot der Stunde. Wir müssen unsereMöglichkeiten für eine bessere Entwicklung und für eineStabilisierung dieser Länder im positiven Sinne konzen-triert einsetzen.Es gibt viele Möglichkeiten, zum Beispiel in den Be-reichen der Verbesserung der Regierungsführung undder Transparenz – Herr Kollege Raabe, man kann sichsicherlich über die eine oder andere Verbesserung unter-halten; damit haben wir überhaupt kein Problem –, beimAufbau demokratischer Strukturen, eines vernünftigenJustizsystems, von Rechnungshöfen, einer funktionie-renden Polizei und eines funktionierenden Zollsystems.Ich darf darauf hinweisen, dass es bereits eine Füllevon derartigen Programmen gibt. Das Beispiel Ostkongowurde bereits angesprochen. Dort sorgt ein deutschesEntwicklungsprojekt für die Zertifizierung von wichti-gen Mineralien, sozusagen von der Quelle bis zur Mün-dung. Das Wichtige ist, dass wir einen vernetzten Ansatzverfolgen, der auch den Aspekt der Sicherheit in einemLand beinhaltet. Das stellt uns jedoch vor gewaltige au-ßenpolitische Aufgaben; denn in der Tat funktioniert vie-les – auch das ist schon angesprochen worden – nachWildwestmanier. Die Geber spielen sich gegenseitig aus,dazu gehören auch die neuen Geber, zum Beispiel Chinaund Indien.Leider ist der Abbau von Rohstoffen oft mit gewalti-gen Umweltsauereien verbunden, mit der Zerstörung derLeistungsfähigkeit von Ökosystemen, zum Beispiel derWasserversorgung, mit gewaltigen volkswirtschaftlichenVerlusten wie in Nigeria, mit Summen, die sich zurzeiteiner Größenordnung von 50 Milliarden Euro nähern,Tendenz steigend. Auch das ist eine Herausforderung füreine verantwortungsvolle Rohstoffpolitik. Die Gefahr istgroß, dass sich die unterschiedlichen Interessenten beimUnterlaufen von Umweltstandards gegenseitig unterbie-ten. Deswegen ist es vollkommen richtig, dass sich diedeutsche Wirtschaft selbst strengen Regeln unterwirft.Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass dies internatio-nal gilt, weil sonst nichts gewonnen ist und nur die deut-sche Industrie und die Umwelt verlieren werden.Die CDU/CSU-Fraktion wird am nächsten Montageinen Kongress für neue Impulse zum Schutz der Meereveranstalten; denn nachhaltige Lösungen für die interna-tionalen Nutzungskonflikte sind auch für unsere Meerevon entscheidender Bedeutung. In diesem Bereich gibtes noch viele rechtsfreie Räume. Wir wollen versuchen,Anstöße zu geben, weil wir die Gefahr sehen, dass einegewaltige Menge an Ressourcen zum Nachteil der kom-menden Generationen verschwendet wird.Insgesamt muss der in unserem Antrag angespro-chene Beitrag zum Interessenausgleich zwischen roh-stofffördernden und rohstoffimportierenden LändernTeil einer verantwortungsbewussten Rohstoffpolitiksein, die zu einer Win-win-Situation führt, die den Men-schen in den Entwicklungsländern durch den ordnungs-gemäßen Verkauf der Rohstoffe etwas bringt, und zwarmit Entwicklungsperspektiven für die allgemeine Bevöl-kerung und nicht nur für wenige. Auf der einen Seitemuss zudem dafür gesorgt werden, dass auch beim Ab-bau von Rohstoffen auf den Umweltschutz geachtet wirdund dass die rohstoffreichen Länder durch den Abbaustabilisiert und nicht destabilisiert werden, sowie auf deranderen Seite, dass für unsere Industrie auch in Zukunftausreichend Rohstoffe vorhanden sind, damit die Ar-beitsplätze erhalten werden können.Vor diesem Hintergrund halte ich die Ergebnisse derReise von Bundeskanzlerin Merkel nach Ulan-Bator inder Tat für einen großen Erfolg. Man muss wissen, dasswir seit langer Zeit eine sehr fruchtbare und erfolgreicheEntwicklungszusammenarbeit mit der Mongolei haben.Wir haben der Mongolei beim Aufbau demokratischerStrukturen wesentlich geholfen, auch nach der Wendedort. Es gibt sehr erfolgreiche Projekte in den Bereichendes natürlichen Ressourcenschutzes, der Bioenergie, dererneuerbaren Energien und einer nutzungsverträglichenLandwirtschaft. Zu dem sehr erfolgreichen Gesamtpaketgehört, dass wir jetzt auch im Bereich der Rohstoffe einebahnbrechende Zusammenarbeit suchen.
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Dr. Christian Ruck
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Mein Wunsch bzw. meine Hoffnung ist, dass wir nungenügend deutsche Unternehmen finden – auch genü-gend mittelständische Unternehmen –, die in den Fragendes Bergbaus, des Abbaus und der Prospektion von Sel-tenen Erden die erforderliche Arbeit leisten können;denn hier hat sich in den letzten Monaten und Jahren einEngpass erwiesen. Es wäre schade, wenn sich gerade un-sere mittelständische Wirtschaft völlig aus dem Berg-baubereich ausklinken würde. Das wäre dann ein Schussnach hinten, und das wollen wir natürlich nicht.Insofern sind gerade der Besuch der Bundeskanzlerinund die Abkommen mit der Mongolei ein positives Bei-spiel einer gelungenen Entwicklungspolitik, die auch inanderen Ländern dieser Welt Schule machen sollte.
Das Wort erhält nun die Kollegin Heike Hänsel für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Der dominierende Konflikt der Weltpolitik im21. Jahrhundert wird– so wörtlich –der Kampf um Energie, Rohstoffe und Wasser sein.Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismusdes 19. Jahrhunderts kehren zurück …
Ich zitiere hier niemanden von der Linken, sonderninteressanterweise den ehemaligen außenpolitischenSprecher der CDU/CSU-Fraktion Friedbert Pflüger. Erschreibt weiter, der Basiskonflikt sei der mit allen Mit-teln ausgetragene Kampf um die knappen Ressourcenunserer Erde. Er warnt – ich bitte darum, dass die FDPgut zuhört – vor Energiekrisen und auch Energiekriegenin der Zukunft. Das hat er – wer dies nachlesen möchte –bereits im Jahr 2010 in der Zeitschrift InternationalePolitik geschrieben.Ich kann nur feststellen: Die RohstoffstrategienDeutschlands und Europas tragen zu diesem Kampf umdie Rohstoffe bei. Deshalb fordern wir ganz zentral, dassdiese Strategien zurückgezogen werden.
Auch sie wurden, ähnlich wie sämtliche Rettungspaketefür die Banken von der Finanzwirtschaft verfasst wur-den, nicht im Kanzleramt geschrieben, sondern vomBundesverband der Deutschen Industrie. Das alles istnachzulesen. Es hat ja etliche Rohstoffkonferenzen ge-geben.Ich erinnere mich daran, wie eine 20-köpfige Delega-tion des BDI, Arbeitsgruppe Entwicklung, in der letztenLegislaturperiode plötzlich bei uns im Entwicklungsaus-schuss aufgetaucht ist und uns erzählt hat, wie die Ent-wicklungspolitik aktiv zum Rohstoffzugang und zurRohstoffsicherung für die deutsche Industrie beitragensolle.
Leider finden wir diese Konzepte jetzt auch sehr deutlichim neuen unternehmerischen entwicklungspolitischenAnsatz des Bundesministers Dirk Niebel wieder. Wir ha-ben ganz klar gesagt: Wir lehnen es ab, die Entwick-lungspolitik in den Dienst der deutschen Industrie zustellen.
Dieser Rohstoffhunger der Industriestaaten führt – daswurde hier bereits mehrfach beschrieben – in vielen Län-dern zu sozialen Verwerfungen und enormen Umwelt-problemen. Viele Länder, die Rohstoffe besitzen, sindgestraft – hier war von einem Fluch die Rede – ob ihressogenannten Reichtums.Ich möchte ein Land nennen, zu dem Deutschlandsehr gute Beziehungen pflegt: Kolumbien. Deutschlandist der zweitgrößte Importeur von Kohle aus Kolumbien.Zu den Importeuren zählen auch die Konzerne Eon undEnBW. Welche Auswirkungen der Kohleabbau in Ko-lumbien hat, interessiert die deutschen Energiekonzernewenig. Im Nordosten Kolumbiens gibt es eine großeBiodiversität, aber leider gibt es dort auch sehr vielKohle. Dort befindet sich die größte Kohlemine Latein-amerikas, Cerrejón. Sie wird betrieben von multinationa-len Konzernen. Viele Kleinbauern wurden aus dieser Re-gion vertrieben. Sie haben alles verloren: ihr Land undihr Vieh. Nur noch wenige leben dort. Sie leiden mittler-weile unter enormen Gesundheitsproblemen. Der Kohle-staub legt sich über die gesamte Region. Riesige Kraterentstehen. Ein Wasser-Methan-Gemisch bildet sich. Dassind lebensbedrohliche Lebensbedingungen. Hinzukommt die Bedrohung durch Paramilitärs, wenn sich dieMenschen gegen diese Bedingungen wehren, wenn zumBeispiel Gewerkschafter gegen die schlechten Arbeits-bedingungen in den Minen protestieren. Wenn man esmit Menschenrechtspolitik ernst meint, wäre es ange-sagt, dass die Kanzlerin bei Gesprächen mit PräsidentSantos solche unakzeptablen Zustände anspricht.
– Genau, das interessiert nicht.Natürlich gibt es viele andere Themen, über die hierauch zu debattieren wäre. Es ist jedoch aberwitzig, wennhier geleugnet wird, dass bereits seit Jahrzehnten Kriegeum Rohstoffe geführt werden; denn das liegt auf derHand. Ich brauche nur das Beispiel Irak zu nennen. Dortwurde – das ist ganz klar – ein Rohstoffkrieg geführt.Das gilt auch für Afghanistan, und wir erleben das jetztwieder in Nordafrika, in Libyen. Auch das ist ein ganzklassischer Rohstoffkrieg. Wir erleben, dass Frankreichund Großbritannien schon jetzt Verträge mit Libyen ab-schließen.Genau deswegen sollte die Forderung – das ist derzentrale Punkt – nach einer massiven Verringerung des
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Heike Hänsel
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gesamten Stoffumsatzes, des Ressourcen-, des Rohstoff-umsatzes in den entwickelten, in den Industriestaaten anerster Stelle stehen. Nur wenn wir massiv umstellen undein anderes Wachstumsmodell entwickeln, können wireine verantwortungsvolle Rohstoffpolitik machen.
Dazu gehört übrigens auch, dass wir neue Ansätze un-terstützen, zum Beispiel den, dass die Rohstoffe in derErde verbleiben und dafür Kompensationszahlungen sei-tens der Industriestaaten geleistet werden. In Ecuadorgibt es zum Beispiel ein wunderbares Projekt – das kannich nur noch einmal betonen –, das helfen soll, denYasuní-Park zu erhalten, indem Kompensationszahlun-gen für die Nichtförderung von Erdöl geleistet werden.Das ist zukunftsweisend. Ich kann nicht verstehen, dasssich die Bundesregierung, namentlich Dirk Niebel, nachwie vor weigert, dieses Projekt zu unterstützen. Das istein Zukunftsprojekt.
Wir setzen uns dafür ein. Eine Delegation war vor kur-zem in Ecuador. Dieses Projekt braucht Unterstützung.Das wäre eine neue Weichenstellung in der internationa-len Rohstoffpolitik.
Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Krischer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions-fraktionen, ich habe Ihren Antrag sehr aufmerksam gele-sen.
Offensichtlich ist Ihnen selbst aufgefallen, dass das, wasSie da abliefern, äußerst dünn ist.
Anders ist es nicht zu erklären, dass Sie heute hier direktabstimmen lassen und das Ganze nicht in die Ausschüssegeben, dass Sie keine Anhörung durchführen lassen wol-len, in der das, was Sie da vorgelegt haben, von den Ex-perten im Detail bewertet werden könnte.
Das ist wirklich sehr dürftig. Ich finde das schade; denndas wäre notwendig, um hier qualifiziert debattieren zukönnen.
Schauen wir uns einmal an, was Sie in Ihrem Antragschreiben. Sie kritisieren China in langen Ausführungen,schreiben dann aber – wenn auch mit wohlgesetzten,schönen Worten –: Wir müssen es so machen wie dieChinesen, nur ein bisschen besser angestrichen. Das istder Kern Ihrer Rohstoffpolitik. Alles andere, was sich indem Antrag findet, ist letztendlich Lyrik.Es findet sich nichts zu dem, was Kollegin Hänseleben angesprochen hat, zum Beispiel zu Kolumbien.Auch ich habe mir das angesehen. Dort findet Kohleför-derung unter fragwürdigen Bedingungen statt. Sie ma-chen keine Ausführungen dazu. Sie erklären nicht, wieSie mit dem Projekt betreffend den Yasuní-Nationalparkumgehen wollen. Hier blockieren Sie. All das taucht inIhrem Antrag überhaupt nicht auf. Vor allen Dingen fehltdas alles Entscheidende. Sie gehen nicht darauf ein, wiewir hier im Land mit den Rohstoffen umgehen. Ich findein Ihrem Antrag – er umfasst acht Seiten – gerade einmaleine gute halbe Seite zu den drei Kernpunkten Substitu-tion, Effizienz und Recycling. Das ist viel zu dünn für ei-nen solchen Antrag.
In Ihrem Antrag taucht überhaupt nichts dazu auf,dass Ressourceneffizienz bzw. Rohstoffeffizienz eineChance für eine Innovationsstrategie ist. Die EU hat voreinem Monat eine Roadmap dazu vorgelegt; darin sindgute Ansätze enthalten. Auch das findet sich in IhremAntrag überhaupt nicht; das erwähnen Sie nicht. Da istuns die Europäische Union ein ganzes Stück voraus.
Ressourceneffizienz hat eine mehrfache Dividende:Wir reduzieren unsere Importabhängigkeit, wir schaffenWettbewerbsvorteile für die Industrie, wir schützenKlima und Umwelt, und vor allen Dingen helfen wir da-mit, den Fluch der Rohstoffe loszuwerden. Das fehlt inIhrem Antrag völlig. Da, wo Sie das eine oder anderesinnvoll andeuten, bleiben Sie unkonkret.Sie liefern keine Antwort darauf, wie man mit demProblem umgehen sollte, dass wir alle zwei Jahre einneues Handy kaufen müssen, weil das alte zufällig nachzwei Jahren, wenn der Vertrag ausläuft, kaputtgeht, undwie wir dafür sorgen können, diese Handys in Deutsch-land, wenn möglich, zu 100 Prozent einzusammeln.Dazu taucht in Ihrem Antrag nichts auf. Dazu finde ichauch in den Papieren der Bundesregierung keine sinn-vollen Vorschläge. Das wäre ein wichtiger Teil einerRohstoffstrategie; denn in Handys, in Elektronikschrottfinden sich teilweise höhere Metallgehalte als in den Er-zen, die wir fördern. Das wäre eine richtige Effizienz-strategie.
Ich finde nichts dazu, wie Sie solche Recyclingquotenwie beispielsweise in Norwegen beim Elektronikschrotterreichen wollen, wo es eine Quote von 80 Prozent gibt.Wir beraten in der nächsten Woche eine Novelle zumKreislaufwirtschaftsgesetz. Sie geben dort eine Recy-clingquote von 65 Prozent vor.
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Oliver Krischer
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Wir haben schon jetzt eine Quote von 63 Prozent. Siewollen in zehn Jahren 2 Prozentpunkte mehr erreichen.Das sind 0,2 Prozent pro Jahr mehr. Ist das ein angemes-senes Ziel für den Ressourcen- und EffizienzweltmeisterDeutschland?
Ich möchte nicht noch über andere Dinge reden.
Das wäre jetzt auch schwierig.
In der EU-Roadmap wird zum Beispiel die Einfüh-
rung von Ressourcensteuern angedeutet. Es finden sich
Punkte wie das Top-Runner-Programm. Japan hat uns da
vieles voraus. Auch das ist in Ihrem Antrag nicht zu fin-
den. Wir hören nur aus Brüssel: Die Bundesregierung
steht auf der Bremse und verhindert jede Innovation.
Wirtschaftsminister Rösler, der heute bezeichnender-
weise wieder nicht anwesend ist,
hat gestern in der Fragestunde offen eingestanden, dass
die Bundesregierung bei der Energieeffizienzrichtlinie
nur verhindert.
Diesen Antrag und Ihre gesamte Rohstoff- und Res-
sourcenpolitik kann ich nur mit den Worten eines italie-
nischen Fußballtrainers, der lange in Deutschland gear-
beitet hat, kommentieren: Koalition – wie eine Flasche
leer.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Das war ja ein ziemlich dünner Beitrag.
Dies zeigt, dass Sie an dem Antrag, den wir vorgelegthaben, relativ wenig zu kritisieren haben. Er ist sehr um-fassend.
Dass für Deutschland als Exportweltmeister der kon-tinuierliche Nachschub von Rohstoffen existenziellwichtig ist, kann, glaube ich, niemand hier im Hause be-streiten. Dies ist in den letzten Jahren ein Topthema ge-worden, das nur durch Griechenland oder die Euro-Kriseübertroffen wird. Das ist einfach ein Fakt. Die Koalition– das hat noch keiner erwähnt – hat schon in ihremKoalitionsvertrag die nachhaltige RohstoffversorgungDeutschlands als eines der wichtigsten Ziele formuliert.Die CDU/CSU-Fraktion hat schon im Juli 2010 einenersten Rohstoffkongress durchgeführt. In der nächstenWoche wird sie den zweiten Rohstoffkongress durchfüh-ren. Ich möchte eine Partei in diesem Hohen Hause se-hen, die sich diesem Thema so intensiv gewidmet hat.
Ich möchte kurz auf das Thema Rohstoffpartnerschaf-ten zu sprechen kommen. Herr Hempelmann hat in einemNebensatz gesagt: Das ist moderner Kolonialismus. – Ichglaube, Herr Hempelmann, Sie sollten wirklich einmaleinen Blick in das Abkommen über die Rohstoffpartner-schaft mit der Mongolei werfen.
Ich will zwei Passagen zitieren. In Art. 2 – „Ziele undSchwerpunkte der Zusammenarbeit“ – steht ganz klar:Die Vertragsparteien fördern die wirtschaftliche Zu-sammenarbeit beider Staaten, insbesondere mit demZiel, die Rohstoffe der Mongolei durch Investitio-nen, Innovationen und Lieferbeziehungen sowieTechnologietransfer … einer umfassenden Nutzungzuzuführen.
„Technologietransfer“ heißt ganz einfach, moderneTechnologien dorthin zu transportieren, wo die Roh-stoffe gewonnen werden.Das zweite Zitat, das ich anführen möchte, finden Siein Art. 6 Abs. 7:Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland un-terstützt die Regierung der Mongolei bei der Erar-beitung von Maßnahmen für die Verbesserung derRessourcen- und Energieeffizienz– das ist genau das, was Sie wollen –sowie für die Einhaltung von Umwelt- und Sozial-standards.
Genau das, worüber hier die ganze Zeit diskutiert wurdeund was wir Ihrer Meinung nach tun sollten, steht in derersten abgeschlossenen Rohstoffpartnerschaft mit derMongolei. Ich kann Ihre Kritik daran überhaupt nichtnachvollziehen. Rohstoffpartnerschaften sind ein neuesInstrument. Sie müssen mit Leben gefüllt werden.
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Andreas G. Lämmel
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Vor allen Dingen muss die Wirtschaft jetzt dazu beitra-gen, diese Rohstoffpartnerschaft mit Leben zu füllen.
Meine Damen und Herren, ganz wichtig scheint mirzu sein, dass es in Rohstoffpartnerschaften viel Raum fürden deutschen Mittelstand gibt. Während weltweit über-all globale Konzerne agieren, versuchen wir im Rahmenvon Rohstoffpartnerschaften, auch den deutschen Mittel-stand in dieses Geschäft zu bringen. Da passt es ganzgut, dass die Commerzbank in den letzten Tagen die Er-gebnisse einer interessanten Studie vorgestellt hat.
– Das ist klar. Für die Linken ist alles bestellt.
Wenn Sie die Ergebnisse dieser Studie nicht zur Kennt-nis nehmen wollen, müssen wir nicht darüber diskutie-ren. – In dieser Untersuchung wurden 4 000 mittelstän-dische Unternehmen in Deutschland zum ThemaRohstoffe befragt. Es ist interessant, welche Ergebnissedabei herauskamen. Es verwundert natürlich nicht, dassim Mittelstand ein großes Problembewusstsein vorhan-den ist. 52 Prozent der Unternehmer glauben allerdings,dass Deutschland die Herausforderung knapper Ressour-cen und weltweit steigender Nachfrage gut bewältigenkann. Man kann also erkennen, dass zumindest ein ge-wisser Optimismus da ist.Natürlich werden auch die Risiken zur Kenntnis ge-nommen. Dazu gehören die global steigende Nachfrage,die politischen Unsicherheiten in den verschiedenen För-derländern – darüber wurde in diesem Hohen Hauseheute schon diskutiert – und die Spekulationsgeschäfte;auch darüber ist schon gesprochen worden.
Meine Damen und Herren, vonseiten der Fraktion derGrünen wurde gerade der Vorwurf geäußert, im Hinblickauf Rohstoffeffizienz, Recycling und Ähnliches werdenichts getan. Wissen Sie: Der deutsche Mittelstandbraucht keine Aufforderung der Politik. Weil der Druck,wettbewerbsfähig zu bleiben, sehr groß ist, entwickeltder deutsche Mittelstand von sich aus einen unheimlichhohen Innovationsgrad, um Energieeffizienz und Res-sourceneffizienz zu erreichen. Die Wirtschaft brauchtkeine Aufforderung der Politik. Sie ist in der Lage, selbstsehr offensiv auf die vorhandenen Herausforderungen zureagieren. Ich kann Ihnen nur empfehlen, unseren An-trag zu unterstützen.Vielen Dank.
Jürgen Klimke ist der nächste Redner, ebenfalls für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine Damen und Herren! Gerade als Entwicklungs-politiker bin ich von der Notwendigkeit einer sicheren,verlässlichen und bezahlbaren RohstoffversorgungDeutschlands überzeugt. Wir sind eben ein Industrie-land, in dem Rohstoffe in großem Umfang in Fertigpro-dukte umgewandelt werden. Wir haben also ein berech-tigtes Interesse an einer sicheren und kostengünstigenVersorgung mit Rohstoffen.Insofern ist es gut, dass wir uns dieses Themas durchden Antrag, durch den Kongress und durch die Debattehier heute angenommen haben; denn es geht auch um dieGrundlagen unseres Wohlstandes, um Millionen von Ar-beitsplätzen, die von der Belieferung mit Rohstoffen ab-hängig sind. Deshalb haben wir Forderungen formuliert,mit denen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In-dustrie und auch Deutschlands gesichert und gestärktwerden soll.Es gibt aber auch – und das ist wichtig – einen ent-wicklungspolitischen Aspekt der Rohstoffversorgung.Uns Entwicklungspolitikern der Union geht es darum,den Rohstoffreichtum von Entwicklungsländern auch fürdie Menschen vor Ort stärker nutzbar zu machen. Über50 Prozent der wichtigen Rohstoffvorkommen liegen inLändern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter10 Dollar pro Tag. Dieses zunächst erstaunliche Parado-xon der Armut trotz reicher Rohstoffvorkommen lässtsich durch makroökonomische und politisch-institutio-nelle Defizite erklären.Was meine ich damit? Im politischen Bereich gilt dasStichwort „Bad Governance“, also schlechte Regie-rungsführung, das Versagen der politischen Institutionenund das Fehlen von sozialen und ökologischen Stan-dards. Ökonomisch wird die Situation durch den Begriff„Dutch Disease“, Holländische Krankheit, beschrieben,die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wirtschaft einesreichen Landes trotz Handelsüberschüssen aus dem Roh-stoffbereich verunsichert wird. Wir haben die Holländi-sche Krankheit in den 60er-Jahren erlebt, als die Hollän-der aufgrund eines riesigen Erdgasaufkommens Erdgasexportierten, während die anderen Teile der Wirtschaftvernachlässigt wurden.Ein weiteres Problem besteht in der Unsicherheit derEntwicklungsländer. Mehr als die Hälfte der weltweitenRohstoffproduktion erfolgt in Ländern, die nach Auffas-sung der Weltbank instabil sind. Deshalb müssen wir dieFörderländer vor allen Dingen entwicklungspolitisch un-terstützen. Es geht darum, Good Governance, also guteRegierungsführung, zu stärken, Korruption zu bekämp-fen und den illegalen Abbau von Rohstoffen zu verhin-dern. Deshalb fordern wir in unserem Antrag auch, mitden entwicklungspolitischen Instrumenten verstärkt einetransparente und nachhaltige Rohstoffwirtschaft in denEntwicklungsländern zu fördern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15659
Jürgen Klimke
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Es ist nicht so, dass bisher nichts unternommenwurde, wie das hier teilweise gesagt wurde. Ich möchtehier an die Extractive Industries Transparency Initiativeerinnern. Das ist eine beispielhafte Transparenzinitia-tive, mit der Zahlungsströme von rohstoffförderndenUnternehmen als Abgaben an den Staat und deren Ver-wendung transparent gemacht und veröffentlicht wer-den. Dadurch wird der Korruption entgegengewirkt undeine gute Regierungsführung in den Entwicklungslän-dern gestärkt.Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit in der RegionGroße Seen in Afrika. Hier sind wir unter anderem imBereich der Zertifizierung von Handelsketten im Bereichmineralischer Rohstoffe in Ruanda und bei der Entwick-lung und Anwendung eines staatlichen Finanzierungs-systems für mineralische Rohstoffe in der RepublikKongo tätig; darauf ist hingewiesen worden. Wir unter-stützen hier die transparente, effiziente und entwick-lungsorientierte Verwendung von Rohstoffeinnahmen.Gerade diese beiden Projekte sind vorbildlich, weil anmehreren neuralgischen Punkten angesetzt und insbe-sondere auch der Aspekt der guten Regierungsführungmit einbezogen wird.Auch die Wirtschaft, die Unternehmen, können durcheine stärkere Corporate Social Responsibility, also durcheine stärkere soziale Verantwortung in Bezug auf ihrHandeln, einen Beitrag leisten. Immer mehr Unterneh-men beziehen ihre Lieferkette in ihre Überlegungen mitein und sichern damit soziale und ökonomische Mindest-standards bei der Rohstoffgewinnung für die Entwick-lungsländer, und das ist sehr wichtig.Es gibt auch indirekte Maßnahmen, die die Rohstoff-sicherung in den Entwicklungsländern unterstreichen.Ich begrüße die Ankündigung des BMZ, Investitionenim Bildungsbereich zu verstärken. Hier ist ein Anstiegvon 68 Millionen Euro im Jahre 2009 auf 137 MillionenEuro im Jahr 2013 zu verzeichnen. Das muss man sichnoch einmal vergegenwärtigen. Hier wird heftig inves-tiert.Wir unternehmen Anstrengungen, um für die Ent-wicklungsländer im Rohstoffbereich auch den entwick-lungspolitischen Teil zu stärken. Wir versuchen, wirt-schaftliche und entwicklungspolitische Interessen Handin Hand gehen zu lassen. Das kann man von dem Antragder Linken überhaupt nicht behaupten. Hier geht es umplatteste Polemik. Wenn Sie eine Rohstoffstrategie for-dern, die „nicht den Zugriff der deutschen und europäi-schen Industrie auf noch mehr Rohstoffe … zum Zielhat“, dann ist das glatter Unsinn. Das ist vielleicht IhreStrategie, die Strategie der Linken.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Sie wollen hier eine von oben verordnete Rohstoff-
mangelwirtschaft. Ich würde mich freuen, wenn Sie den
Mitarbeitern der Metall-, Chemie- und Elektroindustrie
einmal erklären, wie damit ihre Arbeitsplätze in
Deutschland gesichert werden sollen. Ihre Strategie ge-
fährdet nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch unseren
Wirtschaftsstandort insgesamt. Das sollten Sie sich wirk-
lich einmal vergegenwärtigen.
Herzlichen Dank.
Thomas Gebhart ist der letzte Redner zu diesem Ta-
gesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Deutschland ist eine starke Industrienation. Wirwollen selbstverständlich, dass Deutschland eine starkeIndustrienation bleibt. Aber wir müssen sehen: Wir sindals Industrienation in hohem Maße von Rohstoffimpor-ten abhängig. Deswegen ist sehr schnell klar, wie wich-tig es ist, unsere Rohstoffversorgung zu sichern. Dabeigeht es um ganz verschiedene Maßnahmen, die hier er-wähnt wurden: Handelshemmnisse abbauen, Rohstoff-partnerschaften eingehen und vieles mehr. All das sindwichtige Wege, die wir gehen.Ein Punkt, der natürlich auch in diese Diskussionhineingehört – er ist mindestens genauso wichtig wie dieanderen Punkte – und in Zukunft eher noch an Bedeu-tung gewinnen wird, ist die Steigerung der Ressour-ceneffizienz. Das heißt, die Ressourcen so effizient wieirgendwie möglich einsetzen.Warum wird dieser Punkt an Bedeutung gewinnen?Der Umfang und die Nutzung verschiedener Ressourcenhaben weltweit stark zugenommen. Bestimmte Ressour-cen werden knapper, und sie werden in der Folge teurer.Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass die Weltbe-völkerung nach wie vor wächst. Wir sind heute knapp7 Milliarden Menschen, und wir werden in einigen Jah-ren 9 Milliarden Menschen auf dieser Welt sein. DieserTrend wird dadurch verstärkt, dass auch jene, die heutenicht so leben, mit Blick auf unser Wohlstandsniveau da-nach streben, Wachstum und Wohlstand zu generieren.
– Zu Recht. – Das heißt, die Nachfrage nach Rohstoffenwird weiter wachsen und damit natürlich auch unter denGesichtspunkten des Umweltschutzes erhebliche Pro-bleme verursachen.In der Konsequenz ergibt sich daraus, dass die großeHerausforderung für uns sein muss, Wohlstand undWachstum auf der einen Seite mit dem schonenden Um-gang mit knappen Ressourcen auf der anderen Seite inEinklang zu bringen. Hierin liegt aber zugleich eine
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15660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Dr. Thomas Gebhart
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große ökologische wie auch ökonomische Chance. InDeutschland haben viele Unternehmen erhebliche An-strengungen unternommen, die Ressourceneffizienz zusteigern. Dieser Punkt wird weiter an Bedeutung gewin-nen. Der effiziente Umgang mit knappen Ressourcenwird künftig noch mehr über unsere Wettbewerbsfähig-keit entscheiden, und Effizienztechnologien werden si-cherlich zu den Wachstumstechnologien von morgenzählen.Gerade weil wir darin diese Chancen sehen, begrüßenwir ausdrücklich, dass die Bundesregierung ein nationa-les Ressourceneffizienzprogramm, ProgRess, vorlegt.Damit gehen wir ganz konkrete Schritte. Ich will aus-drücklich darauf hinweisen, dass es nicht darum geht,die Wirtschaft in irgendeiner Weise zu bevormunden,sondern es geht darum, Win-win-Situationen zu erken-nen und diese auch tatsächlich zu nutzen.
Ich nenne drei Punkte, die in diesem Zusammenhangwichtig sind und die wir auch in unserem Antrag, derheute vorliegt, aufgreifen.Der erste Punkt: Forschung und Entwicklung. Tech-nologische Innovationen sind ein wesentlicher Schlüsselzu mehr Ressourceneffizienz. Deshalb fordern und wol-len wir, dass in den Forschungsprogrammen noch stärkerals bisher auf diesen Aspekt Rücksicht genommen wird.Der zweite Punkt: Wir wollen darauf hinwirken undunterstützen, dass die Ressourceneffizienz in der Nor-mung stärker berücksichtigt wird. Dabei müssen wir dengesamten Produktlebenszyklus im Auge behalten, nichtnur den Ressourceneinsatz in der Herstellungsphase,sondern auch die Nutzungsphase und die Entsorgungs-phase.Der dritte Punkt: Wir stärken die Kreislaufwirtschaft,und wir stärken das Recycling. Mit dem neuen Kreis-laufwirtschafts- und Abfallgesetz werden wir weiter indiese Richtung gehen. Wir werden künftig mehr Roh-stoffe aus dem Abfall in den Wirtschaftskreislauf zu-rückführen. Insgesamt werden wir damit weiter zurSchonung unserer Ressourcen beitragen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn mandies zusammennimmt, ist klar: Wir steigern die Ressour-ceneffizienz. Das ist für uns ein elementarer Baustein.Wir nehmen diese Herausforderung konsequent an undnutzen damit die Chancen, die in diesem Bereich liegen.Auch deswegen bitte ich Sie, heute dem vorliegendenAntrag zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächstunter Tagesordnungspunkt 26 a zur Abstimmung überden Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufder Drucksache 17/7353 mit dem Titel „Wirtschafts- undAußenpolitik für eine sichere Rohstoffversorgung –Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland, Europa undden Partnerländern“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –Das Erstere war die Mehrheit. Damit ist der Antrag an-genommen.Wir kommen zur Abstimmung unter Tagesordnungs-punkt 26 b über die Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit demTitel „Für eine gerechte und entwicklungsförderlicheinternationale Rohstoffpolitik“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache17/7151, den Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Be-schlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.Ich komme zu Zusatzpunkt 2. Hier wird interfraktio-nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache17/3817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Ich vermute, dazu besteht Ein-vernehmen. – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nun auf Tagesordnungspunkt 4 a bis c sowieden Zusatzpunkt 3:4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Ägypten endgültigstoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Libyen endgültig stop-pen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Syrien endgültig stop-pen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15661
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Exporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Tunesien endgültigstoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Oman stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern in den Jemen stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern in die Vereinigten Arabi-schen Emirate stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Saudi-Arabien stop-pen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Israel stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Marokko stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern in den Libanon stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Kuwait stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Jordanien stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Bahrain stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Katar stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExporte von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern nach Algerien stoppen– Drucksachen 17/5935, 17/5936, 17/5937, 17/5938,17/5939, 17/5940, 17/5941, 17/5942, 17/5943,17/5944, 17/5945, 17/5946, 17/5947, 17/5948,17/5949, 17/5950, 17/6335 –Berichterstattung:Abgeordnete Ulla Lötzerb) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDKeine Liberalisierung von Rüstungsexporten –Für die Einhaltung und Stärkung einer re-striktiven Rüstungsexportpolitik– Drucksache 17/7336 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENRüstungsexporte nicht zu Lasten von Men-schenrechten genehmigen– Drucksache 17/6931 –ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen Rüstungsexportbericht 2010 unverzüglichvorlegen und künftig ausführlicher gestalten– Drucksache 17/7355 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
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15662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich weise schon jetzt darauf hin, dass wir über die16 Anträge der Fraktion Die Linke, den Antrag der Frak-tion der SPD sowie den ersten der Anträge der FraktionBündnis 90/Die Grünen zu diesen Tagesordnungspunk-ten namentlich auf einem gemeinsamen Stimmzettel ab-stimmen werden. Nach diesen Abstimmungen wird dasPlenum für voraussichtlich eine Stunde unterbrochen,um der Fraktion Die Linke Gelegenheit zu geben, in ei-ner Fraktionssitzung Themen zu beraten, die mit Blickauf ihren morgigen Parteitag nicht zu einem späterenZeitpunkt behandelt werden können. – Dazu gibt es of-fenkundig Einvernehmen, sodass Sie sich darauf bitteschon einstellen können. Danach wird die Tagesordnungin der vereinbarten Weise fortgesetzt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zu den gerade aufgeführten Tagesord-nungspunkten eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen,und wir können so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Kollege Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Wirhaben uns schon daran gewöhnt, dass wir uns ungefährjedes Vierteljahr erneut mit diesem Thema beschäftigen.Immer wieder erstaunt dabei die Teilamnesie bei zumin-dest erheblichen Teilen der Opposition, wenn sie sugge-riert: Seitdem Schwarz-Gelb regiert, seien Rüstungs-exporte insbesondere in die heute hauptsächlichinteressierende Region dramatisch gestiegen.In der Diskussion vor der Sommerpause hatte ich denEindruck, Sie wären satt. Aber Sie sind es immer nochnicht. Deswegen will ich Ihnen neuerlich vorhalten, wel-che Exporte zu Ihren jeweils wechselnden Regierungs-zeiten erfolgten. Deutsche Rüstungsexporte nach Tune-sien zum Beispiel erreichten im Jahr 2005 mit einemWert von über 33 Millionen Euro einen Spitzenwert. Soviele Exporte von Rüstungsgütern nach Tunesien gab esweder davor noch danach.
Libyen 2007 – damals regierte auch die SPD, HerrBarthel –: 23 Millionen Euro. Das war damals einsameSpitze. Ich gehe davon aus, dass das noch zu rot-grünerRegierungszeit genehmigt wurde.Ägypten ragt mit über 22 Millionen Euro im Jahr2004 besonders heraus. Was den Jemen angeht, war2006 mit 4 Millionen Euro einsame Spitze.Ich bitte Sie angesichts dieser Zahlen, ein wenig maß-voller und demütiger mit dem Thema umzugehen, als esin den vorliegenden Anträgen der Fall ist.
Exportiert wurde die komplette Palette. Bahrain er-hielt 1999 Kriegsschiffe und Patrouillenboote. Das hatdie CSU-Landesgruppe alles wunderbar zusammenge-stellt; Sie können sich das anschauen. Vielleicht zeigenSie dann in Ihrem nächsten Antrag, den ich um dieWeihnachtszeit herum oder im Januar erwarte, ein wenigmehr Realismus und halten Rückschau auf die eigeneRegierungszeit.
Wenn Sie dieses schwierige Thema seriös behandelnwollten, dann müssten Sie sich zu dem immer wieder re-petierten Vorhalt, das Parlament sei zu wenig einbezo-gen und müsste sogar darüber hinaus über einenbestimmten Ausschuss in Einzelentscheidungen einge-bunden werden, fragen, ob Sie das wirklich sinnvoll fin-den können und was Sie zu Ihren jeweiligen Regierungs-zeiten daran gehindert hat, genau dies zu tun.Es ist völlig ausgeschlossen, in einem so schwierigenUmfeld, in dem es um Diskretion geht, die Nachrichten-lage von Geheimdiensten auszuwerten ist und bilateraleAbsprachen zu treffen sind, klares exekutives Handelnins Parlament zu bringen. Das werden wir nicht mitma-chen. Wir haben seit der Aufklärung eine sich entwi-ckelnde und seit über 150 Jahren in demokratischenStaaten festgelegte klare Trennung zwischen exekutivemund legislativem Handeln. Hier geht es um exekutivesHandeln, und dabei wird es auch bleiben.
Der nächste Punkt: Selbstverständlich sind auch dieseRegierung und die Koalition nicht für einen restriktions-freien Handel mit Rüstungsgütern. Natürlich ist auch indieser Regierung das Thema Menschenrechte ein we-sentliches Kriterium bei der Ausfuhr von Waffen. Ichsage Ihnen aber auch ganz klar: Es ist nach den damalsvon Rot-Grün festgelegten Regularien nicht das aus-schließliche Kriterium, sondern ein wesentliches. AlsAllererstes geht es um die sicherheitspolitischen Belangeder Bundesrepublik Deutschland und unserer Verbünde-ten.
– Ja, Saudi-Arabien, Herr Heil. Das ist eine schwierigeSituation.
– Ja, aber seit Genscher haben sich die Zeiten gewandelt.
Vergessen Sie nicht, lieber Herr Heil, dass auch HelmutSchmidt schon Anfang der 80er-Jahre liefern wollte undnur durch die Intervention Israels daran gehindert wurde.Sie müssen wenigstens Ihre eigene Parteigeschichte zurKenntnis nehmen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15663
Dr. Martin Lindner
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Es ist richtig gewesen, in dieser Frage die heutige Si-tuation zu beachten. Die heutige Situation ist eine an-dere. Der Iran zeichnet sich als Hegemon in der Regionab. Es gibt eine Verschiebung der Achsen im MittlerenOsten. Dies zu verkennen, zeugt von ideologischerBlindheit.
Herr Kollege Lindner, darf Ihnen der Kollege
Ströbele eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemer-
kung machen?
Selbstverständlich. Gerne.
– Wir können hier Kindergarten spielen, aber das bringt
nichts.
Danke, Herr Kollege. – Wenn wir schon in die Ge-
schichte abschweifen, was auch gut ist – man kann
manchmal aus alten Fehlern lernen –, möchte ich Ihnen
vorhalten, dass es die FDP war, wenn ich mich richtig
erinnere, die, als sie an der Regierung beteiligt war, die
Entscheidung von Helmut Kohl, an Saudi-Arabien
36 Fuchspanzer zu liefern, mitgetragen hat.
Können Sie sich daran noch erinnern?
Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich würde das
aber gar nicht abstreiten, Herr Kollege Ströbele. Die
Kontinuität aller Regierungen bestand darin, restriktiv
und maßvoll, aber auch unter Wahrung unserer sicher-
heitspolitischen und industriellen Belange Rüstungsgü-
ter zu exportieren. Ihre Partei steht in dieser Kontinuität
genauso wie die SPD, die CDU/CSU und die FDP.
Alle haben sich aus Verantwortung vernünftig verhal-
ten und vernünftige Abwägungen vorgenommen. Wir,
Herr Kollege Ströbele, drücken uns gar nicht vor dieser
Verantwortung. Sie drücken sich. Sie waren damals im
Fraktionsvorstand, Sie haben den Fraktionsvorstand da-
mals nicht verlassen, und Sie haben die Fraktion nicht
verlassen. Sie haben letztlich alle Rüstungsexporte der
rot-grünen Bundesregierung mitgetragen.
Dann haben Sie sich hingestellt und gesagt: „Ich bin
Ströbele!“, und nach außen den Eindruck erweckt, als
hätten Sie mit den Grünen überhaupt nichts zu tun. Das
kann man so machen, aber seriös ist etwas anderes.
Die CDU/CSU hat sich in diesen Fragen der Realität
gestellt, wie es auch alle anderen Fraktionen, die seit
1949 an der Regierung waren, getan haben.
Das Entscheidende für mich ist, dass man bei den
Ausfuhren darauf achten muss, dass man instabilen Län-
dern nicht eine Technologie verschafft, die sie mögli-
cherweise in die Lage versetzt, zu einer Bedrohung in
der Region zu werden. Auch diese Maßgabe wurde und
wird nach meiner Kenntnis und nach allem, was ich in
den Rüstungsexportberichten gelesen habe, immer ein-
gehalten. Diese Regierung verhält sich verantwortungs-
bewusst. Auch alle bisherigen Regierungen haben sich
verantwortungsbewusst verhalten. Die Opposition be-
treibt Populismus. Das ist der Unterschied.
Zum Schluss ein Blick auf die Rüstungsindustrie in
Deutschland. Diese ist natürlich ein wesentlicher Faktor.
Ich verweise jetzt nicht auf Arbeitsplätze oder Ähnli-
ches.
Es geht auch darum, uns ein Stück Unabhängigkeit im
Wehrbereich zu erhalten. Es geht auch um die technolo-
gischen Neuerungen wie beispielsweise bei der Droh-
nentechnologie. Diese militärische Technologie wird na-
türlich einmal im zivilen Flugverkehr, zum Beispiel im
Luftfrachtverkehr, eine Rolle spielen. Deswegen wäre es
sträflich, eine Politik zu gestalten, die sich gegen unsere
eigene Wehrindustrie richtet.
Gefragt ist etwas anderes. Entscheidend ist, dass wir
zu mehr Rüstungskooperationen in Europa kommen.
Nach wie vor sehr unbefriedigend ist die national orien-
tierte Wehrpolitik, insbesondere von Ländern wie Frank-
reich und Großbritannien. Diese zeigen in den Gemein-
schaftsunternehmen, die wir ja haben, zu wenig
Engagement und kümmern sich primär um ihre eigenen
nationalen Rüstungsschmieden. Das hat zur Folge, dass
die Stückkosten bei gesunkenen Wehretats exorbitant
steigen.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Dadurch ist der Druck aufdiese Unternehmen zum Export überproportional hoch.Da ist eine sinnvolle Kooperation gefragt, die im Inte-resse dieses Landes ist. Das alles ist nichts für Populis-mus und Feldgeschrei, sondern etwas für seriöse Politik.Diese werden wir auch weiterhin machen.Herzlichen Dank.
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15664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
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Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rüstungs-exporte in Staaten außerhalb der EU und der NATO so-wie diesen gleichgestellte Staaten sollen nach dem Geistund vor allen Dingen den Buchstaben unserer Gesetzenicht die Regel, sondern die Ausnahme sein. Wenn manallerdings die Rüstungsexportpolitik der jetzigen Bun-desregierung betrachtet, dann kann man nur zu dem Er-gebnis kommen, dass Schwarz-Gelb diese restriktiveRüstungsexportpolitik früherer Jahre endgültig überBord werfen will. Das ist es doch, worum es heute geht.
Sie tut das offensichtlich in vorauseilendem Gehor-sam gegenüber der Rüstungsindustrie. Wir haben gesternerlebt, dass die Unternehmen der Rüstungswirtschaftdem Verteidigungsminister eine klare Ansage gemachthaben: Wenn die Bundeswehr wegen der Reform undder knappen Mittel
weniger kauft, dann erwartet man dafür Erleichterungenbeim Export. Das kann es doch gerade nicht sein. Dannwürden gerade die Kriterien, die unsere Gesetze aus-drücklich als nachrangig festschreiben, nämlich die wirt-schaftlichen Interessen, zum Leitmotiv für Genehmi-gungsentscheidungen von Waffenexporten.
Wir befürchten, dass uns gerade angesichts dieser Si-tuation das Thema Rüstungsexport in nächster Zeit nochhäufiger beschäftigen wird – Herr Lindner, da könnenSie ganz beruhigt sein –, gerade wenn wir sehen, wiesich diese Bundesregierung hier wieder zum Büttel vonkurzatmigen Lobbyinteressen zu machen scheint.
– Ja, ja, schauen wir doch, was passieren wird.Wir wollen aber auch mit einer Unterstellung, diedann kommt, gleich aufräumen: Es ist keineswegs so,dass uns Sozialdemokraten die betroffenen Unterneh-men und die Beschäftigten egal sind. Ganz im Gegenteil,wir wollen die Betriebe, wir wollen das Know-how, wirwollen die technologische Leistungsfähigkeit und dieArbeitsplätze im Land halten.
Wir wollen aber aus leidvoller historischer Erfahrungdie Exporte nur im Rahmen restriktiver Exportgenehmi-gungspolitik, vor allem im Rahmen unserer außenpoliti-schen, menschenrechtlichen und entwicklungspoliti-schen Ziele, also ausdrücklich im Rahmen von striktenpolitischen Vorgaben, zulassen.
Wir wollen den Staat gegenüber den Rüstungsproduzen-ten nicht in einer Lage wie gegenüber den Banken sehen,nämlich in einer Situation von Erpressbarkeit und Ab-hängigkeit.
Gerade die jüngsten Erfahrungen mit deutschen Rüs-tungsexporten müssen uns – nicht nur uns; das wundertmich eigentlich – und auch den letzten schwarz-gelbenHardliner doch zum Nachdenken bringen. Was ist dasdenn für eine Politik, die dazu führt, dass sich in Nord-afrika, in Ländern der arabischen Halbinsel, aber zumBeispiel auch in Mexiko deutsche Waffen gegen die je-weilige Bevölkerung dieser Länder, gegen soziale undpolitische Opposition richten?
Was sind denn Ihre Reden am Tag der Menschen-rechte wert, wenn sich heute noch Koalitionspolitikerhinstellen und zum Beispiel Panzerlieferungen nachSaudi-Arabien verteidigen?
Was heißt es denn für die Glaubwürdigkeit deutscherAußenpolitik, wenn der Bundesaußenminister und derBundeswirtschaftsminister jetzt hektische Reisen nachÄgypten und Libyen unternehmen und sich nach demSieg der dortigen Oppositionsbewegungen selber zumSieger erklären, aber offensichtlich überhaupt kein Pro-blembewusstsein dabei besitzen, dass es auch deutscheWaffen waren und vielleicht wieder sein werden, die zurUnterdrückung ebendieser Völker beigetragen haben?
Was ist es für eine Politik, die es zulässt, dass von den25 Hauptabnehmerländern deutscher Waffen diejenigensogar mehr abnehmen, die als Repressionsstaaten gel-ten? Diese Repressionsstaaten nehmen momentan ge-nauso viele Waffen wie unsere Partnerländer in derNATO – USA, Frankreich, Großbritannien und Däne-mark – ab. Das muss man sich einmal vorstellen.
Es kann schon sein, dass es auch in der VergangenheitFehler gegeben hat,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15665
Klaus Barthel
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die von früheren Regierungen, auch mit sozialdemokra-tischer Beteiligung, gemacht wurden. Der Amnesty-Be-richt über frühere Waffenlieferungen – er ist gerade fürden Zeitraum 2005 bis 2009 erschienen – nach Nord-afrika belegt das ja leider. Aber die Frage ist doch: Wol-len wir diese Fehler fortsetzen und wiederholen, oderwollen wir daraus lernen?
Das ist die Frage, die sich an die Koalition richtet.Nach dem, was ich hier gehört habe, ist Schwarz-Gelb entschlossen, diese Fehler fortzusetzen. Zu den au-ßenpolitischen Implikationen einer solchen Entwicklungwird nachher sicherlich mein Kollege Mützenich nochetwas sagen.
Ich möchte mich jetzt dem wirtschaftspolitischen As-pekt der Rüstungsexporte zuwenden. Die SPD kümmertsich sehr wohl um die Betriebe und die Arbeitsplätze.Aber wir wissen, dass es weder wünschenswert noch be-zahlbar, noch sinnvoll ist, auf eine Beibehaltung allerRüstungskapazitäten im derzeitigen Umfang oder garihre Ausweitung zu setzen. Das sollten auch die Vertre-terinnen und Vertreter der Koalition heute ganz klar zu-geben. Wer es ernst meint mit den Arbeitsplätzen, dermuss sich Gedanken über andere Produkte und Markt-segmente machen. Viele Betriebe der Branche – auch inder Region, aus der ich komme – haben mehrfach bewie-sen, wie intelligent und flexibel man in Märkte außer-halb des Rüstungsbereichs umsteigen kann. Mit dem Zi-vilgeschäft ist man, zum Beispiel in der Luftfahrt,oftmals viel besser gefahren als mit der Rüstungsproduk-tion.Hier liegt die Verantwortung der Bundesregierungund der Koalition: Anstatt irgendjemanden an Panzer fürSaudi-Arabien oder an U-Boote und Eurofighter fürGriechenland glauben zu lassen, sollten sie klare undwahrhaftige Botschaften senden und den Strukturwandelunterstützen.Wir reden derzeit – auch morgen werden wir wiederviel über dieses Thema hören – häufig über Staatsschul-den und Finanzkrise. Am Beispiel der USA hat der No-belpreisträger Joseph Stiglitz den Zusammenhang vonRüstungs- und Kriegskosten mit der US-Staatsverschul-dung aufgezeigt. Die Kosten des Irak- und Afghanistan-Krieges berechnete er 2008 mit rund 3 000 MilliardenUS-Dollar. Er wies schon damals auf die Schuldensitua-tion und ihre Folgen hin.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brandl zulassen?
Aber sicher.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, vor wenigen Monaten hat
die SPD hier beantragt, dass wir im Parlament grund-
sätzlich über Voranfragen und Anfragen von Ländern in
Bezug auf Rüstungsexporte beraten und auch im ent-
sprechenden Ausschuss darüber abstimmen. Vonseiten
der Industrie, aber auch von unserer Seite bestehen die
Bedenken, dass, wenn wir die Beratung über derartige
Voranfragen und Anfragen zum Gegenstand öffentlicher
Debatten machen, überhaupt kein Rüstungsexport mehr
stattfinden kann, weil die Länder nicht wollen, dass das
Thema in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Wie se-
hen Sie das im Zusammenhang mit Ihrer Unterstützung
der Industrie?
Ich wollte später noch darauf zu sprechen kommen,dass wir uns gerade mit der Frage der Transparenz undder Parlamentsbeteiligung in den nächsten Wochen be-fassen wollen. Dazu liegt heute auch ein Antrag der Grü-nen vor. Wir müssen gemeinsam darüber sprechen, wiedas Parlament an solchen Entscheidungsprozessen betei-ligt werden kann. Es gibt ja auch andere geheimhal-tungspflichtige Dinge, die unter parlamentarischer Be-teiligung stattfinden. Wir müssen sehen, wie in diesemBereich mehr Transparenz geschaffen werden kann. Wirerleben ja gerade, wie notwendig das ist, um die restrik-tive Rüstungsexportpolitik aufrechterhalten zu können.Wir werden Ihnen mit Sicherheit Vorschläge dazu ma-chen; da brauchen Sie keine Sorge zu haben. In dennächsten Wochen wird darüber zu reden sein. Gerade vordem Hintergrund der aktuellen Fälle können wir dochfeststellen, dass die Rüstungsexporte irgendwann immeröffentlich werden,
spätestens wenn der Bericht vorgelegt werden muss.Spätestens dann muss die Bundesregierung dem Parla-ment Begründungen liefern.
Dann werden die Rüstungsexporte ohnehin diskutiert.Der Unterschied ist nur: In diesem Fall wird die Trans-parenz erst hergestellt, wenn es schon zu spät ist undwenn man keinen Einfluss mehr nehmen kann.
Uns geht es darum, den Prozess rechtzeitig beeinflussenund rechtzeitig Druck auf die Regierung, welcher Koali-tion auch immer, ausüben zu können, damit die restrik-tive Politik in diesem Bereich aufrechterhalten bleibt.
Ich komme zu den ökonomischen Zusammenhängenzurück. Mit Genehmigung der Präsidentin möchte ichden amerikanischen Nobelpreisträger Stiglitz zitieren. Ersagte in einem Interview mit der Welt am 10. März 2008:Defizite sind ein Ärgernis,– also die Defizite aus den Rüstungsgeschäften –
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15666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Klaus Barthel
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weil sie am Ende Investitionen verhindern undSchulden anhäufen, die in der Zukunft beglichenwerden müssen. Das schadet der Produktivität, weilfür öffentliche Investitionen in Forschung, Bildungund Infrastruktur oder für private Investitionen inMaschinen oder Fabriken nur wenig übrig bleibt.Das ist der Zusammenhang, Herr Lindner, mit dem wires im wirtschaftlichen Bereich zu tun haben und den wirhier betonen müssen. Es geht um Arbeitsplätze undWachstum in der Zukunft.
Mit Blick auf die US-Immobilienkrise fuhr Stiglitzfort:Jetzt, da wir über die Blase hinaussehen können,wird die vom Irak-Krieg verursachte wirtschaftli-che Schwäche voll zutage treten. Und wir werdenteuer dafür bezahlen – mit Zinsen.Diese These hat er gerade erst wiederholt und aktuali-siert.Was hat das mit der Rüstungsexportproblematik zutun? Ganz einfach: Nennen Sie bitte ein Land der Welt,das derzeit Rüstungsbeschaffung nicht auf Pump odernicht zulasten anderer viel sinnvollerer Ausgaben finan-zieren müsste! Nennen Sie ein Rüstungsexportgeschäft,das also nicht die Weltfinanzkrise verschärfen würdeoder das nicht zulasten von Investitionen und Wohlstandgehen würde!
Was halten Sie von Berichten, wonach Frankreich vierTarnkappenfregatten nach Griechenland liefern will undDeutschland womöglich dafür mit bezahlt? Sagen Sieuns, welche Geschäfte die Bundesregierung gerade ge-nehmigen will!Es ist doch in dieser Situation völlig absurd, wenn dieBundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine An-frage der Grünen erklärt:Die Erschließung von Märkten durch die wehrtech-nische Industrie ist eine unternehmerische Ent-scheidung.Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen. Das ist eine politische Bankrotterklärung sonder-gleichen. Der Markt soll es regeln.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb für die heu-tige Debatte einen Antrag mit zwei Hauptforderungenvorgelegt: erstens Beibehaltung der restriktiven Rüs-tungsexportpolitik und zweitens mehr Transparenz beiden Entscheidungen der Bundesregierung zum Beispieldurch Parlamentsbeteiligung. Dafür bitten wir Sie umZustimmung.Dem Antrag der Grünen – Stichwort Menschen-rechte – stimmen wir selbstverständlich zu; denn erdeckt sich in weiten Teilen, wenn auch nicht in jedemDetail, mit unseren Vorstellungen. Das gilt auch für denAntrag zum Rüstungsexportbericht, den wir eigentlichgemeinsam einbringen wollten und der es wert gewesenwäre, in den nächsten Wochen im Rahmen einer eigenenDebatte hier behandelt zu werden.
Bei den 16 Anträgen der Linken enthalten wir uns,
weil wir diese Art der Rüstungsexportdebatte für wenigsystematisch und zielführend halten. Eine solche aufMomentaufnahmen und Einzelanlässe bezogene Außen-politik wird der Problematik, mit der wir es hier zu tunhaben, nicht gerecht.
Wenn wir böswillig wären, Frau Enkelmann, dann wür-den wir Sie fragen: Dürfen wir dann in alle Länder, dieSie in Ihren 16 Anträgen nicht nennen, womöglich lie-fern?
Aber wir sind nicht böswillig.
Herr Kollege!
Deswegen werden wir Ihre Anträge nicht ablehnen
und uns nicht dem Verdacht aussetzen, wir wären für
Waffenlieferungen nach Nordafrika und in die anderen
genannten Länder.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Frau Präsidentin, ich bin bei meinem letzten Satz. –
Gerade heute brauchen wir ein klares Signal, dass es
keine Liberalisierung und Aufweichung der Rüstungsex-
portpraxis geben darf.
Der nächste Redner ist der Kollege Erich Fritz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wir haben Anträge von der SPD und den Grünenvorliegen. Es gibt auch eine Inszenierung; das sind die16 Anträge von der Linken.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15667
Erich G. Fritz
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Es handelt sich deshalb um eine Inszenierung, weil Sieeine Wirkung erzielen wollen, die dem, was dahinter-steht, gar nicht entspricht. Sie wollen nämlich den Ein-druck erwecken, Deutschland habe die arabischen Län-der mit Kriegswaffen sozusagen überschüttet. DieseInformationen geben die Anträge überhaupt nicht her.Dadurch wollen Sie die Debatte über eine sinnvolle Rüs-tungsexportpolitik und deren Zusammenhänge überde-cken. Deshalb werden, so glaube ich, diese Anträge vomRest des Hauses zu Recht abgelehnt.Meine Damen und Herren, das Thema ist bisher Gottsei Dank nicht ganz so polemisch diskutiert worden, wiedas sonst häufig der Fall ist; wenngleich Herr Barthel na-türlich seiner Pflicht nachkommen musste, vergessen zulassen, dass eigentlich alle im Hause, die an Regierungenbeteiligt waren, eine Verantwortung getragen haben, dieso einfach nicht zu tragen ist.Wir wissen, dass Rüstungsexporte in einem Zusam-menhang stehen mit eigenen militärischen Fähigkeiten,die in einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitikin Europa eine Rolle spielen und die auch im Bündniseine Rolle spielen. Wir wissen auch, dass die Frage derKooperation und der militärtechnischen Zusammen-arbeit nicht unabhängig ist vom politischen Einfluss ineinem Bündnis. Wir wissen, dass viele Fähigkeiten ent-wickelt werden, die beileibe nicht nur militärische sind.In Deutschland gibt es Schlüsselfähigkeiten – Sie habenes gesagt, Herr Barthel –, deren Zukunftschancen stärkerauf der zivilen als auf der militärischen Seite liegen. In-sofern ist ganz klar: Es handelt sich um einen Wirt-schaftszweig, den man nicht lupenrein auf der einen oderder anderen Seite ansiedeln kann.Mir geht es jetzt noch um die Frage, wie wir weitermit diesem Thema umgehen. Man kann es so machenwie die Linke: Man kann das Ganze populistisch-emo-tional angehen, man kann es auch allein unter dem As-pekt „Menschenrechte“ betreiben. Das ist eine zulässigeForm der Auseinandersetzung und Kampagne. DasRecht kann Ihnen keiner nehmen. Es hilft nur nichts;denn jede Regierung muss bei jedem Begehren einesLandes, bestimmte Ausrüstungen oder Waffen zu erhal-ten, eine Abwägung treffen. Die Entscheidungen werdenfür jeden Einzelfall getroffen; sie sind nicht pauschal.Man kann sich deshalb nicht davor drücken,
sich klarzumachen, dass es in jedem dieser Einzelfälle– in einer ganz konkreten Situation – gilt, sowohl bünd-nispolitische als auch sicherheitspolitische, diplomatische,aber natürlich auch menschenrechtspolitische Gesichts-punkte in Einklang zu bringen. Diese Gesichtspunkte sindaber nicht immer in Einklang zu bringen.Was mich heute dazu bringt, den SPD-Antrag abzu-lehnen und das auch meiner Fraktion zu raten, ist, dassdieser Antrag aus einer Haltung heraus geboren ist, diedas Motto vertritt: Wir machen es jetzt ganz anders; al-les, was wir vorher gesagt haben, interessiert uns jetztnicht mehr.Ich möchte den Kollegen in allen Fraktionen noch et-was zum durchaus berechtigten Geheimhaltungsprinzipim Bundessicherheitsrat sagen: Nach meiner Auffassungkann man nicht jede Debatte, die sich mit anderen Län-dern beschäftigt, öffentlich führen. Jeder weiß, dass dasnicht geht. Wir tagen beispielsweise im AuswärtigenAusschuss deshalb nichtöffentlich, weil wir genau wis-sen, dass es notwendig ist, solche Räume zu haben. Ichhabe insofern nichts gegen die Nichtöffentlichkeit desBundessicherheitsrates. Vielmehr halte ich sie für einewesentliche Voraussetzung, um alle Informationen aufden Tisch zu legen und bestimmte Abwägungen über-haupt vornehmen zu können und nicht nur nach der öf-fentlichen Einschätzung handeln zu müssen.Wenn ich dann aber fast wörtliche Abläufe von Sit-zungen des Bundessicherheitsrates in der Presse lese undwenn ich das Gefühl habe, dass diejenigen, die dort ent-scheiden, sich auf der einen Seite auf die Geheimhaltungberufen, auf der anderen Seite aber von den Abgeordne-ten, die der Mehrheit angehören, verlangen, diese Ent-scheidung zu vertreten,
dann ist das für einen Parlamentarier – unabhängig da-von, in welcher Fraktion er sitzt – schwer erträglich.
Ja. Es ist doch ganz einfach, die richtigen Schlüsse zuziehen.Der Bundestag und die Bundesregierung sind auch inBezug auf andere Bereiche der Meinung, dass es besserist, bestimmte Dinge unter Geheimschutz zu behandeln.Dennoch ist es möglich, das Parlament zu informieren.Ich weiß das aus den Gremien, in denen das der Fall ist.Bisher ist nur in den allerseltensten Fällen etwas an dieÖffentlichkeit gelangt. Ich meine, dass wir eine Debattedazu führen müssen. Denn mit der Rolle des Parlamentsist es nur sehr schwer vereinbar, die derzeitige Situationunverändert zu lassen.
Ich sehe, dass sowohl bei meiner Fraktion als auch beiden Kollegen der FDP nicht alle klatschen. Ich glaubedennoch, dass man beide Seiten betrachten muss.Schließlich geht es darum, die Akzeptanz für notwen-dige Exporte aufrechtzuerhalten. Das Problem ist, dassimmer nur eine Debatte zur emotionalen Seite der Aus-einandersetzung geführt wird. Die eigentlichen Interes-sen Deutschlands und die Begründungen für die Exportewerden dagegen nicht öffentlich diskutiert. Da stimmtdas Verhältnis nicht. Das ist vor allen Dingen in parla-mentarischer Hinsicht nicht zu akzeptieren.Herzlichen Dank.
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15668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Erich G. Fritz
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Jan van Aken spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Amnesty International hat vor zwei Tagen diesen Berichtüber Waffenexporte an arabische Länder vorgelegt. Ichkann Ihnen wirklich nur wärmstens empfehlen, ihn ein-mal anzuschauen.
Der Bericht erinnert uns ganz drastisch daran, worumes hier tatsächlich geht: Es geht um Tod, um Zerstörungund um tausendfaches Leid. In dem Bericht wird zumBeispiel ein Bild eines Demonstranten in Ägypten ge-zeigt, der von Kugeln zersiebt auf der Straße liegt. Eswird auch berichtet, wie in Bahrain, in Syrien, natürlichin Libyen und in Ägypten Tausende von Menschen, diefür ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind, getötetwurden, und zwar von Waffen, die aus Europa, den USAund Russland geliefert worden sind. Deutschland war,was diese Lieferungen angeht, ganz vorne mit dabei – anvorderster Front sozusagen.Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen zu den deut-schen Rüstungsexporten der letzten zehn Jahre nennen:Genehmigungen für Exporte von Rüstungsgütern nachSaudi-Arabien in Höhe von 675 Millionen Euro, nachBahrain in Höhe von 22 Millionen Euro, in den Jemen inHöhe von 12 Millionen Euro und nach Ägypten in Höhevon 268 Millionen Euro. Insgesamt haben Sie Exporte inHöhe von sage und schreibe 3,5 Milliarden Euro in dieLänder im Nahen Osten und Nordafrika genehmigt. Ichfinde das unerträglich.
Das sind alles Länder, von denen Sie genau wussten,dass sie die Menschenrechte verletzen und sich in einerKriegs- und Krisensituation befinden.Es gibt in diesem Bericht einen Lichtblick: Laut Am-nesty International haben einige Länder wie Frankreich,Großbritannien, Spanien sowie weitere europäische Län-der die Waffenexporte nach Bahrain eingestellt, weil dieDemokratiebewegung dort so brutal niedergeschossenwurde. Was aber macht die Bundesregierung? Wasmacht Herr Westerwelle? Sie entscheiden, zusätzliche200 Panzer nach Saudi-Arabien zu schicken. Sie habennichts, aber überhaupt gar nichts aus den Fehlern derVergangenheit gelernt.
Wir wollen es heute anders machen. Wir wollen, dassendlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wird.Deswegen haben wir 16 Anträge vorgelegt, durch die dieWaffenexporte in 16 Länder des Nahen Ostens undNordafrikas endgültig gestoppt werden sollen. Sie kön-nen sich heute entscheiden, ob Sie wirklich weiterhinWaffen an Menschenrechtsverletzer liefern wollen, oderob Sie das nicht wollen.Sollten Sie sich wirklich dafür entscheiden, weiterhinan diese Länder zu liefern, würde ich zu gern einmal hö-ren, wie Sie das Ihren Wählerinnen und Wählern erklä-ren wollen. Denn die Mehrheit der Wählerinnen undWähler ist gegen Rüstungsexporte. Das Meinungsfor-schungsinstitut Emnid hat vor zwei Wochen eine Um-frage gemacht, die ergeben hat, dass sich 78 Prozent derMenschen – mehr als drei Viertel der deutschen Bevöl-kerung – grundsätzlich gegen jede Art von Rüstungs-exporten aussprechen. Das geht quer durch die ganzeBevölkerung. Das gilt auch für die Wählerinnen undWähler der CDU/CSU und FDP; denn von denen sindauch 70 Prozent gegen jede Art von Rüstungsexporten.
Wenn Sie schon nicht auf Ihre eigene Moral hören, dannhören Sie wenigstens auf die Leute, die Sie in den Bun-destag gewählt haben! Lehnen Sie die Rüstungsexporteendlich ab!
Amnesty International spricht sehr deutlich und rich-tig von einem totalen Versagen der Rüstungsexportkon-trollen. Da muss man sich doch fragen, woran es liegt.Ich möchte Ihnen dazu eine sehr erhellende Episode ausdem Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle undNichtverbreitung“ des Bundestages erzählen. Anfangdes Jahres, mitten im arabischen Frühling, gab es natür-lich sehr kritische Nachfragen, übrigens auch von einemAbgeordneten der Union, wie es denn sein könne, dassdeutsche Sturmgewehre an den Diktator Mubarak gelie-fert worden sind. Die lapidare Antwort der Bundesregie-rung war: „Es gab außenpolitische Interessen, die gegendie Menschenrechtsbedenken abgewogen wurden. AmEnde wogen die außenpolitischen Interessen schwerer.Deswegen wurde geliefert.“ Genau das ist das zentraleProblem der deutschen Rüstungskontrolle:
Die deutschen Rüstungsexporte werden nicht kontrol-liert, sondern allenfalls verwaltet.
Es gibt zwar die viel zitierten Politischen Grundsätzeder Bundesregierung für den Export von Kriegswaffenund sonstigen Rüstungsgütern. Da steht sehr viel Gutesdrin. Es wird von „Menschenrechten“, „Frieden“ und„nachhaltiger Entwicklung“ gesprochen, aber eben auchvom „außenpolitischen Interesse“. In der Praxis – das se-hen wir immer wieder – verlieren die Menschenrechtejedes einzelne Mal gegen die außenpolitischen Interes-sen. Deshalb fordern wir von der Linken: Die unverbind-lichen Politischen Grundsätze reichen nicht aus; wirbrauchen gesetzliche Verbote.
Ich möchte Ihnen heute drei Vorschläge für sehr kon-krete Verbote machen, mit denen wir es endlich schaffen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15669
Jan van Aken
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würden, die Flut der deutschen Waffen in der Welt zu-mindest ein wenig einzudämmen:Der erste Vorschlag: kein Export von Kleinwaffen.Kleinwaffen sind keine niedlichen, kleinen Handta-schenrevolver, sondern Sturmgewehre und Maschinen-pistolen, die Kalaschnikows, die deutschen G 36 und wiesie alle heißen.
Es gibt aus meiner Sicht drei extrem gute Gründe, denExport von Kleinwaffen grundsätzlich zu verbieten:Erstens. Kleinwaffen sind die tödlichsten Waffen derWelt. Kofi Annan hat sie einmal als Massenvernich-tungswaffen bezeichnet, weil sie tatsächlich massenhafttöten. In den Kriegen dieser Welt gibt es mehr Totedurch Kleinwaffen als durch jede andere Waffenart.Zweitens. Wenn die Kleinwaffen einmal exportiertsind, hat man null Kontrolle. Weil sie relativ klein sind,werden sie von einem Land ins nächste verschoben; vonKrieg zu Krieg gehen sie um die Welt und werden über-all zum Töten eingesetzt. Nur ein Beispiel: Sie alle wis-sen, dass im August dieses Jahres deutsche Sturmge-wehre vom Typ G 36 in Libyen gefunden wurden.Offiziell sind sie nie dorthin geliefert worden – nicht vonder Firma und nicht von der Bundesregierung –, abertrotzdem tauchten sie dort auf. Wir beobachten das: Je-des Mal, wenn in den letzten Monaten und Jahren aufder Welt ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen ist, ha-ben wir uns die Fernsehbilder und die Fotos angeschaut,und jedes einzelne Mal haben wir dort deutsche Waffengesehen. Das muss doch endlich einmal aufhören.
Drittens. Aus meiner Sicht ist das gewichtigste Argu-ment dafür, endlich alle Exporte von Kleinwaffen zuverbieten: Sie zeigen besonders deutlich, dass das bishe-rige System der Rüstungsexportkontrolle einfach nichtfunktioniert. Ich habe Ihnen hier eine Grafik mitge-bracht. Auf dieser Grafik sehen Sie die Exporte vondeutschen Kleinwaffen und deutscher Kleinwaffenmuni-tion unter den letzten vier Regierungen, in den letztenvier Legislaturperioden. Das fängt mit der RegierungKohl – Schwarz-Gelb – an, dann folgen die beiden rot-grünen Regierungen, dann die Große Koalition. Jedes Malhat die jeweilige Regierung mehr Kleinwaffen und -muni-tion in alle Welt verkauft als die Vorgängerregierung. Ichdenke, das müsste gerade Ihnen von SPD und Grünen zudenken geben. Denn Sie haben 1999 das Problem derWaffenexporte erkannt und deswegen die PolitischenGrundsätze eingeführt, und trotzdem wurden am Endemehr und mehr und mehr Kleinwaffen in alle Welt ex-portiert. Es reicht eben nicht, sich an der Regierungs-spitze zu wünschen, dass die Zahl der Exporte sinkt;denn im Alltag wird dann doch in der Verwaltung jedereinzelne Antrag angenommen, abgestempelt, abgenicktund abgelegt. Sie verhindern nichts, wenn Sie nicht tat-sächlich ein echtes Verbot aussprechen. Das Wünschenallein reicht nicht; wir brauchen hier ein Verbot.
Das zweite Verbot, das wir vorschlagen: kein Exportvon Waffenfabriken. Ich war vor zwei Wochen in Saudi-Arabien, um mir da eine Reihe von deutschen Rüstungs-projekten anzuschauen; davon gibt es dort leider ziem-lich viele. Eines der Projekte ist eine deutsche Waffenfa-brik, die gerade von der deutschen Firma Heckler &Koch südlich von Riad aufgebaut wird. Ende nächstenJahres wird diese Fabrik das hochmoderne deutscheSturmgewehr G 36 produzieren können. Ab dem Mo-ment haben Sie überhaupt keine Kontrolle mehr: Wieviele dieser Waffen werden produziert? Wohin werdensie geliefert? Sie werden im Internet schon zum Verkaufangeboten. Wer wird irgendwann irgendwo auf der Weltjemanden damit töten? Das lässt sich gar nicht mehrkontrollieren, wenn man einmal die Technologie aus derHand gibt. Wenn man einmal die Fabrik in Saudi-Ara-bien aufbaut, ist die Kontrolle vorbei. Da hilft nur, vonvornherein keine Waffenfabriken mehr zu exportieren.Punkt.
Drittens. Es darf keine Waffenexporte an Menschen-rechtsverletzer und in Krisengebiete geben. Genaudeshalb haben wir heute die 16 Anträge vorgelegt. Wirfordern, in diese Region, die für Menschenrechtsverlet-zungen und als Kriegsgebiet bekannt ist, keine Waffenmehr zu liefern. Auch hier reichen die politischenGrundsätze nicht aus. Das Ganze muss Gesetz werden.In einem Antrag der Grünen wird das erstmals gefordert.Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Deswegen werden wirdiesem Antrag der Grünen auch zustimmen. Ich würdemir nur wünschen, dass Sie aus Ihrer eigenen Geschichtelernen und endlich ein komplettes Kleinwaffenexport-verbot und ein Waffenfabrikexportverbot beschließenwürden.
Ich möchte die Frage stellen, warum heute niemandvon der Regierung zu diesem Thema spricht. Dafür wirdein Herr Lindner von der FDP in die Bütt geschickt, dersowas von gar keine Ahnung von Waffenexporten hat,dass es mich immer wieder schüttelt.
Nur zwei Beispiele aus Ihrer Rede.
Herr van Aken, Sie haben noch drei Sekunden Zeit,
um die Zwischenfrage von Herrn Gysi zuzulassen.
Möchten Sie das ?
Von Herrn Gysi? – Ja, die lasse ich zu.
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15670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
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Bitte schön.
Herr van Aken, es wird von den anderen Rednern so
getan, als ob man insgesamt gegen die Rüstung in alle
von uns genannten Staaten stimmen müsste. Besteht
nicht die Möglichkeit, dass jede Abgeordnete und jeder
Abgeordneter zu jedem Staat eine Haltung einnimmt und
beispielsweise sagt: Nach Bahrain keine Waffenexporte,
in andere Länder schon. – Gibt es diese Möglichkeit?
Warum wird davon kein Gebrauch gemacht,
sondern pauschal gesagt: „Wir verkaufen weiterhin Rüs-
tungsgüter“?
Das ist eine suggestive Frage, die ich natürlich mit Ja
beantworte.
Sie alle haben es individuell in der Hand, auch Sie, Herr
Fritz. Sie müssen nicht mit Ihrer Fraktion stimmen. Sie
können gegen Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien
stimmen. Zeigen Sie heute endlich einmal Mumm und
sagen Sie Nein zu Rüstungsexporten.
Ich wurde unterbrochen bei meiner Kritik an Herrn
Lindner.
Sie wurden unterbrochen, aber sozusagen schon jen-
seits der Redezeit.
Aber ich habe doch eine Frage beantwortet.
Die Zeit habe ich auch gestoppt. Alles ist gut. Trotz-
dem ist Ihre Redezeit zu Ende.
Herr Lindner hat es wirklich verdient; denn er führt
aus: Es ist völlig ausgeschlossen, dass es eine Parla-
mentsbeteiligung bei der Frage von Rüstungsexporten
gibt. – Fahren Sie doch einmal in die USA! Dort gibt es
das. Wieso ist in Deutschland ausgeschlossen, was in
Washington möglich ist?
Sie haben keine Ahnung, Herr Lindner.
Ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist. Beim Panzer-
deal mit Saudi-Arabien tun Sie so, als ob der eigentliche
Gegner der Iran ist. Ich war in Saudi Arabien. Ich habe
dort mit vielen hohen Politikern und Generälen gespro-
chen. Sie haben keine Vorstellung, was für eine Israel-
Hetze ich da zu hören bekommen habe. Das ist unfass-
bar.
Herr van Aken?
Ein hoher Politiker hat ein Gespräch mit einer vollen
Breitseite gegen Israel begonnen, und Sie wollen uns
hier weismachen, der Gegner wäre der Iran.
Herr van Aken?
Ihr Panzerexport ist ein riskantes Manöver gegenüber
Israel.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte.
Im Übrigen ist die Zeit jetzt mehr als abgelaufen.
Aber dafür habe ich jetzt leider keine Zeit mehr.
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin der Linken durchaus dankbar, dass siedie Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung wiedereinmal auf die Tagesordnung hat setzen lassen. Auch wirGrünen sind der Meinung, dass die aktuelle Genehmi-gungspraxis weder mit der Rüstungsexportrichtlinienoch mit dem Gemeinsamen Standpunkt der EU in Ein-klang zu bringen ist. Die Grundsätze der Bundesregie-rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigenRüstungsgütern haben die Grünen im Jahr 2000 auf denWeg gebracht. Seitdem sind wenigstens auf dem Papierdie Menschenrechte als maßgebliches Kriterium bei derGenehmigung von Rüstungsexporten festgeschrieben.Erstaunlicherweise berufen sich sowohl die jetzige Bun-desregierung als auch die Linken in ihren Anträgen aufdiese Grundsätze.Nicht hinnehmbar aber ist, dass die Bundesregierungdiese Grundsätze schlicht missachtet. Sie missachtet sieso schamlos, weil niemand sie kontrolliert.
Auch die radikale Forderung der Linken nach einem to-talen Exportverbot für alle wird daran nichts ändern,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15671
Katja Keul
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wenn wir der Regierung weiterhin erlauben, im Gehei-men zu agieren.
Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, Jan van Aken,dann müssen wir Parlamentarier endlich Wege finden,wie wir die Regierung in diesem Bereich effektiv kon-trollieren. Diese Aufforderung richtet sich natürlich auchan die andere Seite des Hauses. Auch als Mehrheitsko-alition ist es Ihre Aufgabe, die Bundesregierung zu kon-trollieren.Gerade haben wir im Rahmen der Euro-Krise vielüber parlamentarisches Selbstbewusstsein gehört. Undwas ist hier? Wenn sich die Bundesregierung nicht mehrbemüßigt fühlt, sich an die geltenden Grundsätze zu hal-ten, weil sie alles geheim hält und sich damit jeder Kon-trolle entzieht, dann versagen Sie, dann versagen wir alleals Parlament bei unserer wichtigsten Aufgabe.
Es sollte uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg em-pören, dass wir auf Recherchen des Spiegels angewiesensind, um zu erfahren, welche Beweggründe die Regie-rung veranlasst haben, Kampfpanzer nach Saudi-Ara-bien zu exportieren.Ich habe nichts dagegen, wenn sich acht Minister zueinem Gespräch treffen und über den Inhalt ihres Ge-sprächs Stillschweigen vereinbaren. Wenn sie aber dannauf der Grundlage dieses Gesprächs eine exekutive Ent-scheidung treffen,
dann muss die Regierung uns als Parlament nicht nurmitteilen, was für eine Entscheidung sie getroffen hat,sondern auch begründen, warum sie so und nicht andersentschieden hat.
Wenn dabei industriepolitische oder beschäftigungspoli-tische Gründe eine Rolle gespielt haben, dann muss dieRegierung das eben vorbringen. Oder schämen Sie sichetwa für Ihre Beweggründe?Herr Brandl, wissen Sie eigentlich, dass im Ur-sprungsland der sogenannten Westminster-Demokratievierteljährlich alle Genehmigungen bekannt gemachtund öffentlich in einem parlamentarischen Gremium dis-kutiert werden? Am heutigen Tag, etwa zur gleichenZeit, findet im britischen Parlament wieder einmal eineöffentliche Debatte darüber statt, diesmal über den Ex-portbericht des zweiten Quartals 2011. Und wir wartennoch immer auf den Exportbericht für das Kalenderjahr2010! Wissen Sie, dass dieser britische Parlamentsaus-schuss durch die Auflistung aller Genehmigungen fürExporte in die Länder des arabischen Frühlings seit 2009die Regierung veranlasst hat, 160 dieser Genehmigun-gen entschädigungsfrei zu widerrufen?
Wie viele Genehmigungen hat denn die Bundesregie-rung widerrufen? Hier ist die Antwort – ich zitiere –: DieBundesregierung hat keine Genehmigung über die Aus-fuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern inarabische Länder aufgrund der Ereignisse des sogenann-ten arabischen Frühlings widerrufen. – Wir wissen nichteinmal, was es zu widerrufen gibt. Nur aus den Medienwissen wir inzwischen, dass die Voranfrage für dieLeopard-Panzer nach Saudi-Arabien am 27. Juni geneh-migt wurde. Die endgültige Entscheidung steht bei dernächsten Sitzung zum Jahresende an. Ich fordere die Re-gierung daher heute noch einmal auf: Lehnen Sie diesenExport ab!
Und behaupten Sie nicht, der Voranfrage käme Bin-dungswirkung zu! Wir wissen: Selbst abschließende Ge-nehmigungen haben nach dem Kriegswaffenkontrollge-setz keinen Bestandsschutz und können jederzeitwiderrufen werden.Damit dieses Versteckspiel endlich ein Ende hat, for-dern wir mit unserem heutigen Antrag quartalsweise In-formationen von der Bundesregierung, und zwar voll-ständige Informationen. Wir wollen auch die Zahlenüber die tatsächlichen Rüstungsausfuhren, nicht nur dieGenehmigungszahlen. Wir wollen die Aufschlüsselungder Sammelausfuhr- und Allgemeingenehmigungen so-wie Angaben über bestehende Produktionslizenzen,Bürgschaften und sogenannte Offsetgeschäfte. Erst dannhaben wir international vergleichbare Daten, die wir ana-lysieren und zeitnah debattieren können. Das Parlamentmuss frühzeitig und rechtzeitig in den Entscheidungs-prozess über Rüstungsexporte einbezogen werden.
Mit unserem zweiten Antrag, über den wir heuteebenfalls abstimmen werden, fordern wir eine stärkereBerücksichtigung der Menschenrechte in den Empfän-gerländern, und zwar so, wie es der Wortlaut der Export-richtlinie eigentlich vorsieht; denn auch jenseits vonSaudi-Arabien ist keine Kohärenz zwischen der Rüs-tungsexportpolitik und dem Menschenrechtsbericht derBundesregierung zu erkennen.Jedes Mal, wenn wir die Bundesregierung in unserenFragen damit konfrontieren, heißt es, die Entscheidungfür einen Exportantrag werde im Einzelfall getroffen.Soll heißen: Die Lage in einem Empfängerland ist nichtim Allgemeinen, sondern nur im Hinblick auf die kon-krete Waffe ein Kriterium. Da, Herr Kollege Fritz, binich nicht mit Ihnen einer Meinung. Diese Argumentationist nicht haltbar. Wenn die Bundesregierung ausreichendKenntnisse darüber hat, dass in einem Empfängerlandinnere Repression oder schwere Menschenrechtsverlet-
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Katja Keul
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zungen drohen, dann muss sie dies bei ihrer Entschei-dung berücksichtigen.
Für Kriegswaffen, die ohnehin nur im Ausnahmefallan Drittstaaten geliefert werden dürfen, heißt das fak-tisch den konsequenten Ausschluss solcher Exporte. Dasbetrifft in der Tat die meisten der hier genannten 16 Län-der, ohne deswegen alle von Marokko bis Saudi-Arabienüber einen Kamm scheren zu wollen. Ich würde nochweiter gehen und fordern, dass in diesen Fällen auch derGenehmigungsanspruch für den Export von sonstigenRüstungsgütern aufgehoben werden muss.Aber: Die völlig Gleichstellung von Kriegswaffen mitsonstigen Rüstungsgütern, wie sie die Linke in ihren An-trägen vornimmt, halte ich für kontraproduktiv.
Es macht nämlich durchaus einen Unterschied, ob essich um den Export von Kriegswaffen wie Panzer oderMaschinengewehre handelt oder zum Beispiel um Mi-nenräumgeräte und Schutzwesten. Nicht umsonst be-zieht sich unser Grundgesetz in Art. 26 ausdrücklich aufKriegswaffen.Sie differenzieren weder zwischen den einzelnen Län-dern noch zwischen Kriegswaffen und sonstigen Rüs-tungsgütern. Deshalb werden auch wir uns nicht dieMühe machen, zu differenzieren, und uns zu allen Ihren16 Anträgen enthalten.
Für Syrien, Libyen, Tunesien und Ägypten fordert dieLinke sogar einen Exportstopp, obwohl bereits ein gel-tendes Waffenembargo besteht. „Endgültig“ soll dannwohl heißen, dass auch die weitere politische Entwick-lung keine Rolle spielen soll. Das finde ich wirklich we-nig überzeugend.
Überzeugend ist das nur für die, die ohnehin ein totalesVerbot von Rüstungsgütern fordern, auch wenn es umSchutzwesten oder Sanitätsfahrzeuge geht, und zwar fürimmer und überall.
Das heißt konsequenterweise auch: Abschaffung derBundeswehr und Austritt aus der NATO. Das ist doch inWirklichkeit Ihre Position.
Der arabische Frühling spielt dabei nur eine untergeord-nete Rolle. Aber da machen wir nicht mit.
Wir stehen zum staatlichen Gewaltmonopol und zumGewaltmonopol der UNO. Deshalb können wir Waffenzur Durchsetzung des Gewaltmonopols auch nichtgrundsätzlich verbieten.
Was wir aber tun müssen, ist, die Verbreitung von Waf-fen so gering wie möglich zu halten. Dazu brauchen wireinerseits internationale Vereinbarungen, aber nicht zu-letzt auch strenge nationale und vor allem europäischeKontrollen. Das trifft natürlich die deutschen Hersteller-firmen. Die Rüstungsbranche wird aber ohnehin umrüs-ten und abrüsten müssen; denn EU- und NATO-Staatenwerden nicht mehr wie bisher als Abnehmer zur Verfü-gung stehen. Unser Verteidigungsminister hat gesternbekannt gegeben, dass er 42 Hubschrauber NH-90,125 Kampfpanzer und 60 Transportpanzer weniger an-schaffen will. Der Bestand von Eurofightern undKampfhubschraubern soll erheblich verringert werden.Das ist gut so. Wir können aber nicht zulassen, dass al-les, was europäische Staaten in der Krise im Militärhaus-halt einsparen, in Spannungsgebiete wie Indien und Pa-kistan oder auf die arabische Halbinsel geliefert wird.
Wir dürfen nicht die Exportkriterien aufweichen, um denHaushalt zu konsolidieren.Besser als die Forderung nach Totalverboten ist ausSicht meiner Fraktion die Beendigung der Geheimnis-krämerei und die Herstellung von Transparenz im Ge-nehmigungsverfahren; denn die schärfste Norm nütztnichts, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Rainer
Stinner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich sehe hier im Raum aufseiten der Opposition vier ehe-malige Regierungsmitglieder, Frau Ministerin a. D.Wieczorek-Zeul, Frau Ministerin a. D. Bulmahn, FrauStaatsministerin a. D. Müller und Herrn Staatsministera. D. Gloser. Sie alle haben in Ihrer Regierungszeit vordenselben Problemen gestanden, vor denen die heutigeBundesregierung und die jetzt aktiv Handelnden stehen.Sie hatten Anfragen zu Rüstungsexporten vorliegen, undSie haben sich die Mühe gemacht, diese Anfragen in je-dem Einzelfall zu prüfen. Bei einem großen Teil der An-fragen haben Sie sich dafür entschieden, die Anfrage po-sitiv zu bescheiden. Niemand von uns hat jemalsunterstellt, dass Sie sich dabei nicht die nötige Mühe ge-macht haben. Bitte gehen Sie davon aus, dass die heuteHandelnden sich dieselbe Mühe machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15673
Dr. Rainer Stinner
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Sie haben natürlich auch Rüstungsexporten in kriti-sche Länder zugestimmt. Ich gehe davon aus, dass IhreBegeisterung bei Rüstungsexporten in einige Länderschon damals eingeschränkt war. Sie können davon aus-gehen, dass das den heute Handelnden ganz genausogeht, wie es Ihnen damals gegangen ist.Herr Barthel hat das, was Sie getan haben, als Fehlerbezeichnet. Er ist leider nicht mehr da.
– Er ist doch noch da. – Ihr Kollege Barthel hat Sie be-schuldigt, Fehler gemacht zu haben. Jetzt fordert er unsauf, diese nicht zu begehen. Sie sollten intern darüber insReine kommen, ob das, was Sie damals gemacht haben,fehlerhaft war.
Herr Kollege, möchten Sie die Frage des Kollegen
Ströbele zulassen?
Der Herr Ströbele ist mir lieb und teuer, aber da er
von seiner eigenen Fraktion seit Jahren keine Redezeit
mehr bekommt, denke ich nicht daran, ihm jedes Mal
Redezeit zu gewähren.
Die Rüstungsexportrichtlinien sind eindeutig. Sie be-
sagen: Wenn nicht in verbündete Staaten wie EU- und
NATO-Staaten oder ihnen gleichgestellte Staaten wie
Neuseeland und Japan geliefert wird, dann gilt Folgen-
des – ich lese das einmal vor, weil das sehr deutlich ist –:
Der Export von Kriegswaffen … wird nicht geneh-
migt, es sei denn, dass im Einzelfall besondere au-
ßen- und sicherheitspolitische Interessen der Bun-
desrepublik Deutschland unter Berücksichtigung
der Bündnisinteressen für eine ausnahmsweise zu
erteilende Genehmigung sprechen.
Das ist eine klare Sprache.
Herr Kollege, Frau Wieczorek-Zeul würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, bitte schön.
Bitte, Frau Wieczorek-Zeul.
Ich wollte eine Zwischenbemerkung machen,
was nach der Geschäftsordnung möglich ist.
Auch Zwischenbemerkungen sind erlaubt, und der
Redner kann dann darauf reagieren.
So ist es.
Gerne.
Sie haben angesprochen, wer dem Bundessicherheits-rat angehört hat und Entscheidungen getroffen hat. Ichmöchte auf einige Punkte hinweisen.Erstens. Sie können nicht all das, was in den Zeitenvorher, auch in den Zeiten der Großen Koalition, stattge-funden hat, mit der katastrophalen Entscheidung,200 Kampfpanzer an Saudi-Arabien zu liefern, verglei-chen; das ist unvergleichbar.
Bitte stellen Sie das nicht in einen Kontext.
Das ist der eine Punkt.
Zweitens. Es hat immer unterschiedliche Entschei-dungen gegeben, übrigens auch Mehrheitsentscheidun-gen. Ich bin gerne bereit – Sie sprechen ja immer michan –, die Bundeskanzlerin aufzufordern, mich von derGeheimhaltungspflicht zu entbinden, damit ich deutlichmachen kann, wie sich Ihre Kollegen in diesen Fragenteilweise verhalten haben.Drittens. Wir haben eine andere Situation. Wir habenja jetzt Veränderungen im arabischen Raum. Früher gabes die Vorstellung, eine Stabilisierung Ägyptens und an-derer Länder sei hilfreich. Ich lege Wert darauf, deutlichzu machen, dass ich immer die Position vertreten habe,dass man solche Länder nicht beliefern darf, weil esSpannungsgebiete sind und dort die Menschenrechteverletzt werden.
Außerdem haben wir durch den arabischen Frühling ge-lernt, welche katastrophalen Auswirkungen Stabilisie-rungspolitik in der von mir beschriebenen Form habenkann. Deshalb stelle ich Ihnen die Frage: Haben auch Siedaraus gelernt und Ihre Position verändert? Nein, dasGegenteil ist der Fall. Sie wollen jetzt noch zur Unter-drückung der dortigen Bevölkerung 200 Kampfpanzernach Saudi-Arabien liefern. Das halte ich für unerträg-lich.
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15674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Sehr geehrte Frau Kollegin, ich habe bewusst nicht
Sie alleine angesprochen, sondern die Handelnden in der
damaligen Regierung. Ich bin davon ausgegangen – hof-
fentlich auch zu Recht –, dass Sie, alle vier, die ich ange-
sprochen habe,
sich damals sehr wohl intensiv Gedanken gemacht haben
und nach der Abwägung der Pros und Kontras zu dem
Schluss gekommen sind, die Rüstungsexporte zu geneh-
migen. Mehr habe ich hier im Augenblick nicht ange-
sprochen.
Es sind jeweils Einzelentscheidungen. Die Genehmi-
gungen müssen die verschiedenen Aspekte berücksichti-
gen. Der Export von Rüstungsgütern hat sehr wohl – das
ist natürlich ohne jeden Zweifel – Auswirkungen in der
Region. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass
auch der Nichtexport von Rüstungsgütern Auswirkun-
gen haben kann. Dies ist in jedem Einzelfall abzuwägen.
Hier ist die Bundesregierung exekutiv verantwortlich
– das ist gar keine Frage –, aber die Arbeitsteilung funk-
tioniert nicht, dass wir hier im Parlament für das Gute
und Schöne dieser Welt zuständig sind – speziell dann,
wenn man in der Opposition ist – und dass die Grauzone,
die Interessenvertretung und die schwierige Abwägung,
also die unangenehmen Entscheidungen, ausschließlich
bei der Bundesregierung liegen. Nein, auch wir Parla-
mentarier müssen uns mit diesen Themen inhaltlich aus-
einandersetzen, und das tun wir.
Das tun auch Sie; das ist wunderbar.
Ich habe nichts gegen die Debatte, die Sie hier führen,
aber, Herr Barthel, bei Ihnen habe ich einige Widersprü-
che festgestellt. Sie sagten, dass auch Sie für Beschäfti-
gung sind. Ich gehe davon aus, dass mit Ausnahme der
Linken alle übrigen vier Parteien dafür sind, dass die
Bundeswehr nach wie vor existiert. Eine Bundeswehr
ohne Waffen ist relativ sinnfrei, also wird die Bundes-
wehr auch in Zukunft mit Waffen auszustatten sein. Die
Bundeswehr schrumpft.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, Herr Barthel – diese
Frage müssen Sie sich genauso stellen, wie ich und
meine Kollegen sie sich stellen müssen –, lautet: Sind
wir der Meinung, dass es sinnvoll ist, dass die Bundes-
wehr in Zukunft ausschließlich mit Importwaffen ausge-
rüstet wird, oder sind wir der Meinung, dass es sinnvoll
ist, dass wir auch in Zukunft in Deutschland eine wehr-
technische Industrie haben, die auch die Bundeswehr
ausrüstet?
Der Teil des Hauses, der die Koalition bildet, kommt
zum heutigen Tage jedenfalls zu dem Schluss, dass die
Aufrechterhaltung einer wehrtechnischen Industrie in
Deutschland durchaus in unserem eigenen außen- und si-
cherheitspolitischen Interesse ist; sie ist also nicht nur,
aber auch in unserem wirtschaftlichen Interesse.
Herr Barthel, Sie kommen aus dem schönen Ort Ko-
chel am See.
Ich kann aber nicht davon ausgehen, dass in Zukunft auf
dem schönen Kochelsee deutsche U-Boote eingesetzt
werden können oder dass der Gemeinderat von Kochel
deutsche U-Boote einsetzt.
Von daher müssen wir uns schon überlegen, wohin wir
diese U-Boote verkaufen können.
Meine Damen und Herren, wir müssen jeweils eine
Abwägungsentscheidung treffen. Ich rege an, dass wir
uns über die Zielkonflikte und Interessenkonflikte, die es
ohne Zweifel gibt, im Parlament intensiv auseinander-
setzen. Aber für das Handeln ist die Exekutive zustän-
dig. Wir haben großes Vertrauen, dass diese Bundesre-
gierung in ähnlicher Offenheit und vor allen Dingen mit
ähnlicher Gewissenhaftigkeit handelt, wie es die vergan-
genen Regierungen getan haben. Insofern besteht für
Aufregung keinerlei Anlass.
Schönen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort demKollegen Hans-Christian Ströbele.
Herr Kollege Stinner, Sie haben sich in unsere Frak-tionsangelegenheiten eingemischt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15675
Hans-Christian Ströbele
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und behauptet, ich hätte für die heutige Debatte kein Re-derecht bekommen. Das ist nicht wahr. Mir ist Rederechtangeboten worden. Ich habe es aber nicht gewollt,
weil ich dachte, dass die Kollegin Keul, die in unsererFraktion für dieses Thema federführend zuständig ist,acht Minuten Redezeit braucht, um ausführlich darzu-stellen, was wir mit unseren zwei Anträgen beabsichti-gen. Das ist aber nicht der Grund, warum ich mich ge-meldet habe.
Sie haben angekündigt, dass Sie, die FDP-Fraktion,und möglicherweise auch Teile der CDU/CSU-Fraktion,die Rolle der Grünen und von Teilen der SPD-Fraktionunter Rot-Grün einnehmen wollen. Ich finde, das ist einesehr gute Idee. Dann fordere ich Sie aber auf: HandelnSie so, wie wir unter Rot-Grün gehandelt haben! Auchdamals ging es um eine Panzerlieferung, die von derBundesregierung noch nicht genehmigt, aber gewolltwar. Damals sollten 1 000 Panzer in die Türkei geliefertwerden. In der Öffentlichkeit fanden viele Diskussionendarüber statt. Die grüne Fraktion und zahlreiche Mitglie-der der SPD-Fraktion haben gesagt: Das geht nicht. Da-bei machen wir nicht mit. Das darf unsere Regierungnicht machen.
Der Erfolg dieser standhaften Haltung besteht darin,dass bis heute nur einer der 1 000 Panzer geliefert wor-den ist, ein Demonstrationspanzer.Ich fordere Sie auf: Machen Sie bitte dasselbe, wennes um die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien geht!Sie haben dafür viel mehr Gründe, als wir sie hatten, alses damals um die Panzerlieferungen in die Türkei ging.Stehen Sie auf, seien Sie mann- und frauhaft und sagenSie: Bundesregierung, das ist unmöglich. Das ist ein Ver-rat an den Prinzipien, auf die sich die Fraktionen und Re-gierungen geeinigt haben. Das wäre ein grober Verstoßgegen die Menschenrechte. – Stehen Sie auf, halten Siedurch, und fordern Sie Ihre Regierung auf, diese Panzer-lieferungen endgültig zu stornieren!
Oder wollen Sie, dass Ihr Außenminister nach alldem, was man ihm schon jetzt vorwirft, eines Tages nachSaudi-Arabien oder nach Bahrain reisen und den Men-schen klarmachen muss, warum mit Panzern, dieDeutschland geliefert hat und deren Lieferung Sie zuge-stimmt haben, dort Demokratiebewegungen niederge-walzt und blutig niedergeschlagen worden sind? WollenSie, dass der Außenminister – der jetzige oder wer auchimmer dann Außenminister sein mag – in eine solche Si-tuation kommt? Das können Sie nicht wollen. Deshalb:Verhindern Sie diese Panzerlieferungen!
Herr Stinner, bitte, zur Erwiderung.
Vielen Dank. – Herr Ströbele, vielen Dank für die In-
formation zu Ihrem Rederecht. Ich warte dann auf wei-
tere feurige Reden von Ihnen im Namen Ihrer Fraktion
im Deutschen Bundestag in den nächsten Wochen und
Monaten.
Zu dem anderen Thema. Ich kann Ihnen versichern,
dass wir Sie uns unter gar keinen Umständen zum Bei-
spiel nehmen werden. Ich kann Ihnen versichern, dass
wir bei unserer Linie bleiben werden: Wir werden an den
Forderungen, die wir in Oppositionszeiten erhoben ha-
ben, und an dem Verhalten, das wir damals zum Thema
Rüstungsexporte an den Tag gelegt haben, in unserer Re-
gierungszeit festhalten.
Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihrem Beispiel nicht
folgen werden. Sie haben große Reden gehalten. Aber
Ihre Vertreter in der Bundesregierung haben sämtlichen
Rüstungsexporten zugestimmt, auch denen in die kriti-
schen Länder, um die es heute geht. Dieses Verhalten
werden wir uns nicht zum Beispiel nehmen. Wir werden
die schwierigen Abwägungsentscheidungen jeweils in
voller Verantwortung treffen. Sie sind für uns kein Bei-
spiel, weder heute noch morgen.
Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat jetzt das Wort für
die Fraktion der SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich finde, das ist eine wichtige und in weitenTeilen auch eine sehr ernsthaft geführte und angemes-sene Debatte. Ich danke dem Kollegen Fritz und auchanderen Kollegen, die im Rahmen der Möglichkeiten ei-nes frei gewählten Abgeordneten immer wieder versu-chen, über das hinauszugehen, was in den Fraktionenund vielleicht auch in der Koalition möglich ist.Umso überraschter war ich, als ich gestern Abend aufwww.tagesschau.de ein Gespräch nachgelesen habe, dasdas Verteidigungsministerium mit der Rüstungsindustrieoffensichtlich geführt hat. In diesem Interview antwor-tete der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes derDeutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, HerrAdamowitsch, auf Fragen des ARD-Hauptstadtstudios.Ich zitiere ihn:Klar ist, wenn weniger bestellt wird, hat das auchKonsequenzen für die Unternehmen, für den Zulie-ferer-Bereich und wir werden dann mit dem Vertei-
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15676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Dr. Rolf Mützenich
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digungsministerium auch über die Frage von Ex-port nachdenken, wo wir sicherlich Unterstützungbrauchen, aber auch zugesagt bekommen haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere desKabinetts und des Verteidigungsministeriums, erklärenSie uns heute hier im Parlament, was Sie der Rüstungs-industrie gestern Abend zugesagt haben!
Sehr geehrter Herr Kollege Kossendey, sehr geehrte Da-men und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie be-lasten eine wichtige Bundeswehrreform und betreibenein Koppelgeschäft, das weder politisch noch moralischzulässig ist. Ich finde, Sie müssen hierzu heute nochStellung nehmen.
Das verlangen wir und auch dieses Parlament.
Es gibt in der Tat einen unmittelbaren Zusammen-hang – Herr Stinner, das ist richtig – zwischen einer de-mokratischen Außenpolitik, also der Außenpolitik einesdemokratischen Staates, und einer transparenten Rüs-tungsexportpolitik. Deswegen sollten Regierung undParlament in dieser Frage zusammenwirken. Auch ichwill nicht, dass das Parlament einzelne Rüstungsge-schäfte genehmigt, ich will aber mehr Informationen. Ichwill gar nicht hören, was Frau Merkel und HerrWesterwelle im Bundessicherheitsrat im Einzelnen mög-licherweise gesagt haben; aber wenn die Entscheidunggetroffen worden ist, dann müssen Sie hier Rede undAntwort stehen und erklären – sowohl gegenüber demParlament als auch gegenüber der Öffentlichkeit –, wa-rum Sie einem so sensiblen Geschäft, wie 200 Panzernach Saudi-Arabien zu liefern, zugestimmt haben.Deshalb haben wir heute hier erneut einen Antragvorgelegt, mit dem wir unseren Antrag vom März wie-der aufgenommen haben, worin wir beantragt haben,über die Beweggründe informiert zu werden. Wenn Sieals Bundesregierung uns über diese Beweggründe infor-mieren müssten, dann bräuchten Sie auch nicht wiederHilfsargumente einzuführen, die ich persönlich wirklichals hochpeinlich empfunden habe.
Die Bundesregierung hat Israel für ein Rüstungsge-schäft mit Saudi-Arabien als Argument angeführt. Daswar weder der Situation noch den Herausforderungen,vor denen wir zurzeit in der arabischen Welt stehen, an-gemessen. Nehmen Sie dieses Rüstungsgeschäft Endedes Jahres, wenn Sie wieder darüber befinden werden,zurück!
Es geht nicht nur um Beteiligung und Begründung. Siesollten sich insbesondere auch die Erfahrungen aus ande-ren Parlamenten zum Vorbild nehmen. Mehr machen wirdoch auch nicht, Herr Stinner, weil auch wir Fehler ge-macht haben. Wir glauben, dass die Rüstungsexportricht-linien richtig sind, aber jetzt aufgrund der Erfahrungender Überarbeitung bedürfen. Deshalb versuchen wir,diese Informationen zu bekommen. In Schweden, inGroßbritannien, in den USA und in anderen Ländern istdas der Fall. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, alsdass Parlament und Öffentlichkeit informiert werden,fordern wir hier.
Ich glaube, das ist richtig und hilft einer demokratischenAußenpolitik weiter.
Wenn wir heute über Rüstungsexporte sprechen, danndürfen wir meiner Meinung nach nicht nur über die An-bieterseite reden, sondern wir müssen auch über dieSeite der Nachfrager diskutieren. Das betrifft insbeson-dere den Nahen und Mittleren Osten. Der Nahe undMittlere Osten ist in der Tat ein Pulverfass, das nicht anzu wenig Rüstung, sondern an zu viel Rüstung leidet.Wir haben über die Panzerlieferungen gesprochen. Wirhaben hier schon über den 240-Milliarden-Deal gespro-chen, den die USA mit Saudi-Arabien abgeschlossen ha-ben. Ich finde, wenn wir eine Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik in Europa betreiben, dann müssen wirversuchen, genau das Prinzip einzuführen, das Europasicherer gemacht hat, nämlich Abrüstung und Rüstungs-kontrolle.Es ist mein Angebot vonseiten der Opposition, zu-sammen mit den Parlamentariern und auch dieser Bun-desregierung zu sagen: In dieser Region ist Vertrauens-bildung notwendig, sind konventionelle Abrüstung undRüstungskontrolle notwendig, ist ein Frieden zwischenIsrael und Palästina existenziell. Es geht nicht nur umRüstung und Rüstungsexporte, sondern auch um Abrüs-tung. Beide Dinge gehören zusammen und müssen heuteauf den Tisch.Das ist doch auch der Grund, warum wir so froh überdas sein müssen, was junge und mutige Menschen in derarabischen Welt vorantreiben. Es geht nicht allein umDemokratie, sondern auch um freiere und gerechtere Ge-sellschaften. Unsere Erfahrung ist: Freiere, gerechtere,demokratischere Gesellschaften sind der Abrüstung undRüstungskontrolle zugeneigter.
Deswegen setzen wir große Hoffnungen in das, was dortpassiert. Es geht letztlich auch um Europa und um dasThema, das wir heute hier behandeln, um Rüstungs-exporte. Wir als Parlament, das demokratische Außen-politik will, haben aufgrund dieser Veränderungen dieChance, das Thema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“dort einzubringen.Es gibt dazu Initiativen in dieser Region, die langsamwachsen. Der Golfkooperationsrat hat sich dafür ausge-sprochen, eine kernwaffenfreie Zone im Persischen Golfeinzurichten. Unterstützen wir ihn dabei!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15677
Dr. Rolf Mützenich
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Ich glaube, das ist richtig. Darüber müssen wir mit denFranzosen und den Briten sprechen. Wenn die Vollver-sammlung der Vereinten Nationen im Rahmen der Über-prüfungskonferenz zum Kernwaffensperrvertrag ent-schieden hat, eine von Massenvernichtungswaffen freieZone im gesamten Nahen und Mittleren Osten zu instal-lieren, dann bedarf dies der Unterstützung dieses Parla-ments, aber auch dieser Regierung. Wir werden dannnicht mehr nur über Rüstungsexporte diskutieren müs-sen, sondern auch darüber, dass in dieser Region weni-ger Rüstung insgesamt besser ist. Insofern dürfen wirdiese Region nicht mit mehr Waffen ausstatten. Wenn esgelingt, Transparenz und Zurückhaltung bei Rüstungs-exporten zu erreichen und das Instrument „Abrüstung undRüstungskontrolle“ einzuführen, haben wir mehr davon.Dann stärken wir eine demokratische Außenpolitik.Wir wollen dazu beitragen. Deswegen haben wir die-sen Antrag vorlegt. Ich hoffe, dass Sie diesem Antragzustimmen.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Reinhard
Brandl jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Im Hintergrund dieser Debatte steht die mögliche
Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien. Über diesen
Vorgang liegen keine offiziellen Fakten vor; über ihn
wird, ausgehend von der Presseberichterstattung, munter
spekuliert.
Ich kann dazu nichts sagen, weil ich genauso wenig
wie Sie über den Vorgang informiert bin. Diejenigen, die
dazu etwas sagen könnten, die Mitglieder des Bundes-
sicherheitsrats, dürfen dazu nichts sagen, weil sie zur
Geheimhaltung verpflichtet sind.
Ich gebe Ihnen recht: Das ist eine unbefriedigende Situa-
tion.
Aber das heißt nicht, dass sich die Mitglieder des Bun-
dessicherheitsrats niemals für ihre Entscheidungen
rechtfertigen und verantworten müssen. Sollte eine sol-
che Lieferung tatsächlich stattfinden, wird sie natürlich
veröffentlicht:
erstens im jährlichen Rüstungsexportbericht – Frau
Keul, ich bin mit Ihnen einig, dass dieser schneller vor-
liegen sollte –, zweitens über Pressemitteilungen, sofern
es sich bei dem Lieferanten um ein börsennotiertes Un-
ternehmen handelt, und drittens natürlich über die Me-
dienberichterstattung. Eine Lieferung von Panzern oder
ähnlichem Gerät lässt sich doch gar nicht geheim halten.
Es geht also nicht darum, grundsätzlich etwas zu ver-
heimlichen.
Die Frage ist, ob es tatsächlich in unserem deutschen
Interesse wäre, wenn wir im Deutschen Bundestag be-
reits im Vorfeld eines möglichen Auftrags über das Für
und Wider diskutierten, so wie es hier in Ansätzen ver-
sucht wird. Ich meine, nein. Das möchte ich auch be-
gründen: Dadurch, dass Anfragen und Voranfragen ge-
heim behandelt werden, behält die Regierung einen
größeren Entscheidungsspielraum. Sie hat dadurch ins-
besondere eine größere Freiheit, auch einmal Nein zu sa-
gen. Wenn jede Anfrage veröffentlicht würde, wäre jede
Ablehnung eine öffentliche Brüskierung des betreffen-
den Landes. Das wäre vor allem innenpolitisch öffent-
lichkeitswirksam. Für jede weitere Zusammenarbeit mit
dem Land und damit auch für die Möglichkeit der Ein-
flussnahme, um dort wirklich etwas zu verändern, wäre
das sicherlich nicht hilfreich.
Unsere großen Partnerländer – ich nenne als Beispiel
die USA – treiben es genau andersherum auf die Spitze.
Sie nutzen die Lieferung von Rüstungsgütern, um Ein-
fluss zu nehmen und Abhängigkeiten zu schaffen. Denn
für jedes komplexere Waffensystem braucht ein Land für
den langfristigen Betrieb die Logistik, die Wartung und
die Ersatzteile vom Lieferanten. Wenn es ein System im-
portiert, ist es abhängig von der Zustimmung des Lan-
des, das exportiert.
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Frau Keul
zulassen?
Gern.
Das ist der Fall. – Bitte schön.
Vielen Dank. – Herr Kollege Brandl, Sie haben ge-rade gesagt, wir könnten hier nicht öffentlich über ableh-nende Entscheidungen sprechen, weil das diplomati-schen Schaden verursachen würde. Glauben Sie denn,dass der diplomatische Schaden in irgendeiner Weise
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15678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Katja Keul
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größer wäre, als wenn wir zum Beispiel über den Men-schenrechtsbericht der Bundesregierung sprechen, indem Menschenrechtsverletzungen in all diesen Ländernhaarklein aufgeführt sind?
Es geht mir nicht darum, die Themen, die Sie anspre-
chen, nicht öffentlich anzusprechen und im Parlament zu
debattieren. Was ich sage, ist, dass, wenn wir im Vorfeld
über solche Anfragen – es werden sehr viele Anfragen
gestellt, im Jahr ungefähr 16 000 – immer debattierten
und sie auch auswählten, der Entscheidungsspielraum,
den die Regierung hat – einmal sagt sie Nein, einmal Ja,
vielleicht stellt sie auch einmal Bedingungen –, verklei-
nert würde.
– Aber ich glaube nicht, dass es immer in Ihrem Inte-
resse ist, diesen Entscheidungsspielraum zu verkleinern.
Unabhängig davon geht es bei der Frage, ob wir über
Anfragen nach Rüstungsgütern öffentlich oder nichtöf-
fentlich debattieren, nicht nur um die Abhängigkeiten an-
derer Länder, sondern indirekt auch um unsere eigene na-
tionale Souveränität. Denn unabhängig von der Chance
auf Genehmigung würde doch kein Land mehr bei einem
deutschen Unternehmen anfragen, wenn es wüsste, dass
diese Anfrage dann Gegenstand einer öffentlichen De-
batte würde. Hinter einer solchen Anfrage stecken ja im-
mer auch langfristige nationale Sicherheitsinteressen und
strategische Überlegungen, die man nicht auf dem Markt
ausgetragen haben möchte. Zudem würden mit der Öf-
fentlichkeit mögliche Wettbewerber unterrichtet, die ihre
Aktivitäten entsprechend darauf abstellen könnten.
Wenn man möchte, dass aus Deutschland grundsätz-
lich kein Rüstungsexport mehr stattfindet, dann kann
man ein solches Verfahren wählen. Dann muss man ehr-
licherweise aber dazusagen, dass man keine wehrtechni-
sche Industrie mehr in Deutschland haben möchte. Ohne
die grundsätzliche Möglichkeit zum Export könnte kein
Unternehmen der Branche existieren. Der nationale
Markt ist dafür viel zu klein.
Herr Kollege, der Kollege Duin möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie die zulassen? –
Bitte schön.
Vielen Dank. – Herr Kollege Dr. Brandl, bevor Sie
zum Schluss kommen: Der Kollege Mützenich hat ge-
rade ein Thema angesprochen, das ich für von besonde-
rer Bedeutung halte. Deswegen frage ich Sie: Können
Sie uns aufklären, was gestern Abend zwischen dem
Verteidigungsminister und der Rüstungsindustrie verab-
redet wurde? Mich interessiert insbesondere, was darun-
ter zu verstehen ist, die sich aus der Bundeswehrreform
ergebenen Veränderungen würden kompensiert, eventu-
ell durch verstärkten Export.
Nein, ich kann Sie nicht aufklären. Ich war bei dem
Gespräch nicht dabei.
– Mir geht es nicht grundsätzlich darum, mit der Rüs-
tungsindustrie Arbeitsplätze zu erhalten. Einen Arbeits-
platzverlust könnten wir volkswirtschaftlich verkraften.
Nicht so einfach verkraften könnten wir aber den Verlust
technologischer Fähigkeiten
und den damit verbundenen Verlust an nationaler Souve-
ränität.
Denn dann wären wir bei der Kernaufgabe unseres Staa-
tes, der Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit,
plötzlich abhängig vom guten Willen anderer Länder.
Das ist nicht im Interesse Deutschlands.
Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass wir je-
den Export genehmigen müssen. Im Gegenteil: Wir ver-
folgen sogar eine restriktive Exportpolitik. Die Bundes-
regierungen der letzten Jahrzehnte haben deswegen ein
Verfahren entwickelt, um die verschiedenen Interessen
der Außenpolitik, der Menschenrechte, der Wirtschaft,
des Parlaments und der Öffentlichkeit in vernünftiger
Weise auszubalancieren.
Die jetzige Regierung hat das Verfahren und die zu-
grunde liegenden Richtlinien unverändert von Rot-Grün
übernommen.
Möchten Sie noch eine Frage von Herrn Barthel zu-
lassen? – Nein.
Die Entscheidungen erfolgen einzelfallbezogen unter
besonderer Berücksichtigung der außenpolitischen Si-
tuation und der Menschenrechtslage im Empfängerland.
Jede Regierung ist damit bisher verantwortungsvoll um-
gegangen. Das gilt auch für die Regierung von Angela
Merkel.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Johannes Selle hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15679
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(B)
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Für mich ist es nicht einfach, zu diesem
Thema zu sprechen; denn als Mitglied im Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
möchte ich gern beim Aufbau einer friedlicheren Welt
mitarbeiten, die Potenzen Deutschlands in Technologie
und Wirtschaft dafür nutzen und Demokratie und Men-
schenrechte fördern.
Ich sehne mich nach einer Welt ohne Waffen, ohne
Furcht und ohne Feindschaft.
Es ist klar: Waffen verschärfen Konflikte. Also lautet
die einfache Lösung: keine Waffen. So einfach sieht die
Welt von links aus, wie die zahlreichen Anträge zeigen.
So einfach ist die Welt aber nicht. Grundlage für die Ent-
scheidung über Rüstungsexporte sind die sehr restrikti-
ven politischen Grundsätze der Bundesregierung für den
Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
und die gemeinsamen Regeln für die Kontrolle der Aus-
fuhr von Militärtechnologie und Militärgütern des Rates
der Europäischen Union. Der Kollege Stinner hat ein-
drücklich daraus zitiert. So wird es auch in den Vorbe-
merkungen der Anträge von SPD und Grünen gesehen.
Diese Grundsätze sind wesentlich unter Grün mitgestal-
tet und von der Bundesregierung nicht aufgeweicht, son-
dern fortentwickelt worden. Aufgrund dieser Regelun-
gen sind Rüstungsexporte in die kritischen Regionen
zurzeit ausgesetzt.
Bei dem Versuch, demokratische Staaten aufzubauen
– insbesondere nach einem Regimewechsel –, geht es
nicht nur um Bildungsstrukturen, Brunnenbohren und
Impfkampagnen, sondern ganz zu Beginn um die Schaf-
fung von Sicherheitsstrukturen, den Aufbau einer demo-
kratischen Polizei und Armee und um Grenzsicherung.
Nicht vergessen werden darf die Terrorismusbekämp-
fung, bei der man auf immer stärkere Waffen trifft.
Das wird auch in Nordafrika so sein. Es stellt sich
schon die Frage, warum für diese Länder ein grundsätz-
liches Waffenexportverbot gelten soll. Auch werden wir
das Recht eines Landes auf Selbstverteidigung nicht auf-
geben können. Leider muss auch die zunehmende Pirate-
rie in manchen Regionen der Welt erwähnt werden, de-
ren Bekämpfung im Interesse aller ist.
Das Thema Rüstungsexport ist vielgestaltig und nicht
leicht abzugrenzen. Bei internationalen Kooperationen
erreichen deutsche Zulieferungen für Rüstungsprodukte
über andere Staaten kritische Regionen. Zu diesen Gü-
tern werden im Übrigen auch Motoren, Getriebe, Fern-
rohre und teilweise sogar Sitze gezählt. Problematisch
sind die Lizenzen für die Produktion von Produktteilen
oder vollständigen Produkten.
Wenn von einer vertrauensvollen internationalen Zu-
sammenarbeit ausgegangen werden kann, dann werden
auch Wünsche nach Produkten der deutschen Rüstungs-
industrie geäußert. In der Vergangenheit sind möglicher-
weise Entscheidungen getroffen worden, die im Lichte
der weiteren Entwicklung zu bedauern sind. Im politi-
schen Handeln wird das wohl nie gänzlich zu vermeiden
sein, obwohl deutsche Entscheidungen sorgfältig abge-
wogen werden. Die deutsche Politik zieht aus solchen
Fällen Lehren. Auf jeden Fall ist der Vorwurf einer un-
kritischen Beurteilung ungerechtfertigt.
So einfach, wie es im Antrag der Grünen steht, ist es
nicht. Dort heißt es:
Durch deutsche Rüstungslieferungen werden oft
noch Jahre und Jahrzehnte nach der erfolgten Liefe-
rung bestehende Spannungen und Konflikte ausge-
löst …
So einfach ist die Welt nicht. Diese vereinfachende
Sichtweise können wir vernünftigerweise nicht überneh-
men.
Das Fehlen deutscher Waffen führt bestimmt nicht dazu,
dass Konflikte beseitigt werden. Waffen werden von
Menschen eingesetzt. Es ist ein langer und mühevoller
Weg, Menschen davon zu überzeugen, dass die friedli-
che Lösung von Konflikten und die Überbrückung unter-
schiedlicher Auffassungen für die Menschen und die Na-
tur besser wären.
Herr Selle, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Duin zulassen?
Nein, das möchte ich nicht.
Dem stehen starke Kräfte wie Macht, Einfluss undGeld gegenüber. Gerade am Beispiel Libyens könnenwir sehen, wie vor keiner Gräueltat haltgemacht wird,um Macht zu retten. Wir werden es leider nicht erleben,dass Waffen auf der Erde keine Rolle mehr spielen.Der politischen Realität am nächsten kommt noch derAntrag der SPD in seiner Kürze. Aber aus ihm weht unsdas Misstrauen gegenüber der Regierung entgegen,wenn er von einer Hintertür spricht, die es gebe. HerrKollege Barthel hat dieses Misstrauen explizit ausge-drückt. Es gehört zum bekannten parlamentarischen Ver-halten, dass die Opposition der Regierung misstraut.Dem Verhalten werden wir nicht folgen. Sorgfältige Ab-wägung, europäische und internationale Abstimmungenund auch kritische Begleitung sind dem Thema ange-messen.
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15680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
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Andreas Lämmel hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Es wäre für den Redner wunderbar, wenn wir noch et-
was ruhiger sein könnten, als wir es schon sind.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Das ist die fünfte Debatte zum Thema Rüstungs-exporte in diesem Jahr, und es soll immer noch etwasNeues geben.
– Es ist noch nicht die letzte. Wir haben noch zwei Mo-nate und fünf Sitzungswochen. Ich denke, es wird schonnoch ein interessanter Antrag von Ihnen kommen.In der ganzen Debatte sind keine wirklich neuen Ge-sichtspunkte aufgetaucht. Ich möchte darauf hinweisen,dass sich Deutschland eine strenge Selbstbeschränkungbei Rüstungsexporten auferlegt hat.
Diese politischen Grundsätze der Bundesregierung wur-den im Jahr 2000 beschlossen. Liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD und von den Grünen, es sind alsodie Grundsätze einer rot-grünen Regierung. Wenn Siediese Grundsätze jetzt kritisieren, dann kritisieren Sie Ihreigenes Tun.
In diesen Grundsätzen ist auch die jährliche Vorlage ei-nes Rüstungsexportberichts enthalten. Sie hätten damalsdie Möglichkeit gehabt, den Rüstungsexportbericht vier-teljährlich erstellen zu lassen. Sie haben es nicht ge-macht. Also bitte: Die Kritik läuft erst einmal ins Leere,auch wenn ich zugebe, dass der jährliche Rüstungs-exportbericht dem Parlament natürlich wesentlich zeit-näher überstellt werden könnte.
Wenn man sich einmal die Struktur der deutschenRüstungsexporte anschaut, dann stellt man fest, dassüber die Hälfte aller Exporte in europäische Staaten ge-hen, in NATO-Staaten oder in der NATO gleichgestellteLänder. Der Anteil von Waffenexporten in Entwick-lungsländer liegt unterhalb von 10 Prozent. Das mussman ganz einfach zur Kenntnis nehmen.
Ich will noch auf zwei Aspekte kurz eingehen. Zumeinen an die Linken gerichtet: In Ihren Reihen sitzennoch genügend Kolleginnen und Kollegen, die früherMitglied der SED waren. Sie erinnern sich vielleicht anden 3. Dezember 1989, als in Kavelstorf bei Rostock ei-nes der größten Waffenlager ausgehoben wurde, dasHerr Schalck-Golodkowski damals unterhalten hat.Wenn man sich die Liste der belieferten Staaten an-schaut,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,dann sieht man, dass Sie die Staaten, die Sie heute in Ih-ren Anträgen aufführen, mit Waffen in Größenordnun-gen aller Kaliber – mit leichten Waffen, mit schwerenWaffen, mit Panzern – beliefert haben.
Die DDR hat dazu beigetragen, dass die Welt mit Waffenüberschwemmt wurde. Da können Sie doch jetzt nichtden Friedensengel spielen.
Wer im Glashaus sitzt, sollte schon gelegentlich einmaldarüber nachdenken, mit welchen Aktionen man an dieÖffentlichkeit tritt.Nun hat sich Herr Mützenich über das Interview erei-fert, das gestern im Rahmen der ARD gelaufen ist. Ichbin bei dem Gespräch natürlich auch nicht dabei gewe-sen;
aber zwei Dinge muss man doch einmal festhalten.Da wurde Herr Adamowitsch, Hauptgeschäftsführerdes Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- undVerteidigungsindustrie, angesprochen. Daran kann mannatürlich sehen, wie kurz der Weg von einem sozialde-mokratischen Staatssekretär zum Waffenlobbyisten ge-worden ist.
Herr Adamowitsch ist Mitglied der SPD und war auchStaatssekretär für die SPD. Verehrte Kolleginnen undKollegen von der SPD, Sie werden doch HerrnAdamowitsch nicht unterstellen, dass er illegale Ge-schäfte betreibt.
Aber Ihre Unterstellung, dass der deutsche Außen-minister die wehrtechnische Industrie dahin gehend un-terstützt, illegale Geschäfte zu machen, finde ich schonein starkes Stück, muss ich Ihnen sagen. Das geht,glaube ich, etwas zu weit; das sollten Sie zurücknehmen.Es geht ja nicht bloß darum, dass Waffen exportiert wer-den; es werden auch Leistungen exportiert, zum BeispielAusbildungsleistungen. Es geht sehr viel in unsere Part-nerländer, in NATO-Staaten. An einem solchen Inter-view festzumachen, es ginge hier um illegale Geschäfte,das sollte die SPD nicht weiterverfolgen. Auch der Bun-deswirtschaftsminister setzt sich im internationalenMaßstab für Exporte deutscher Unternehmen in die Weltein – und das erwarten wir auch von ihm.Zusammenfassend sage ich: Die Debatte heute hatnicht viel Neues erbracht. Die Anträge, die gestellt wor-den sind, sind schon genügend kommentiert worden. Ich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15681
Andreas G. Lämmel
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glaube, es ist Zeit, dass wir jetzt zur Abstimmung kom-men.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Ich weise darauf hin, dass ausweislich des Protokolls
der Kollege Martin Lindner die Kollegin Wieczorek-
Zeul als Heuchlerin bezeichnet hat. Das weise ich als un-
parlamentarischen Ausdruck ausdrücklich zurück.
Wir kommen zu den namentlichen Abstimmungen
über 16 Anträge der Fraktion Die Linke, über den An-
trag der Fraktion der SPD und über den ersten Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, alle zur Rüstungs-
exportpolitik. Verabredet ist, diese insgesamt 18 nament-
lichen Abstimmungen auf einem Stimmzettel durch-
zuführen. Die Stimmzettel erhalten Sie, falls das noch
nicht geschehen ist, von den Parlamentsassistentinnen
und -assistenten hier im Saal. Schreiben Sie bitte zu-
nächst Ihren Namen und die Bezeichnung Ihrer Fraktion
deutlich für andere lesbar in Druckbuchstaben auf den
Stimmzettel. Stimmzettel, die keinen Namenszusatz ha-
ben, sind ungültig.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter den Buchstaben a bis p seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/6335 die Ablehnung der An-
träge der Fraktion Die Linke. Bitte beachten Sie: Es ist
verabredet, dass unmittelbar über diese Anträge und
nicht über das jeweilige Votum der Beschlussempfeh-
lung abgestimmt wird. Sie stimmen also direkt über die
Anträge ab.
Zu dem Antrag der Fraktion der SPD sowie zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liegen keine
Beschlussempfehlungen vor.
Auf dem Stimmzettel finden Sie eine Auflistung der
18 abzustimmenden Anträge. Sie können bei jedem ein-
zelnen mit Ja, Nein oder Enthaltung stimmen, indem Sie
das entsprechend ankreuzen. Einzelne Abstimmungen
mit mehr als einem Kreuz sind ungültig, auch solche, die
kein Kreuz enthalten.
Sie können die Kreuze auf Ihrem Stimmzettel gern an
Ihrem Platz machen. Nachdem Sie den Stimmzettel aus-
gefüllt haben, werfen Sie ihn bitte in eine der vorgesehe-
nen Urnen – sobald die Schriftführerinnen und Schrift-
führer das ermöglichen. Jene bitte ich, jetzt ihren Platz
einzunehmen. – Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei-
nen Stimmzettel nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.
Da die vollständige Auswertung der Stimmzettel ei-
nen erheblichen Zeitaufwand erfordert, werden die
Schriftführerinnen und Schriftführer zunächst noch kein
zahlenmäßiges Ergebnis ermitteln, sondern nach Sich-
tung der Stimmzettel feststellen, ob die Anträge ange-
nommen oder abgelehnt wurden. Das vorläufige Ergeb-
nis dieser Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben.
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 3. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7355
an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tages-
ordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Auf Verlangen der Fraktion Die Linke unterbrechen
wir wegen einer Fraktionssitzung die Plenarsitzung für
circa eine Stunde. Der Wiederbeginn der Sitzung wird
rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet.Ich komme zurück zu dem Tagesordnungspunkt 4 abis c. Die Schriftführerinnen und Schriftführer habenmir mitgeteilt, dass die 16 Anträge der Fraktion DieLinke auf den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950, derAntrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7336und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/6931 zum Rüstungsexport mehrheitlichabgelehnt worden sind. Das detaillierte Ergebnis dernamentlichen Abstimmung wird später im Stenografi-schen Bericht veröffentlicht.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis h sowieden Zusatzpunkt 4 a und b auf:31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des EG-Verbraucherschutzdurchset-zungsgesetzes und zur Änderung desUnterlassungsklagengesetzes– Drucksache 17/7235 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-
– Drucksache 17/7236 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 17. Juni 2010 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland unddem Ministerrat der Republik Albanien überdie Seeschifffahrt– Drucksache 17/7237 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
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15682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas-sung des Erdölbevorratungsgesetzes und zurÄnderung des Mineralöldatengesetzes– Drucksache 17/7273 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologiee) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Vergaberechts für die Bereiche Ver-teidigung und Sicherheit– Drucksache 17/7275 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 3. Februar 2011 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem König-reich Spanien zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung und zur Verhinderung der Steuer-verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vomEinkommen und vom Vermögen– Drucksache 17/7318 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussg) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAusgleich für Radargeschädigte der Bundes-wehr und der ehemaligen NVA– Drucksache 17/7354 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Abgeordneten EwaKlamt, Albert Rupprecht , MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger,Dr. Martin Neumann , Sylvia Canel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPForschung zur Sicherung der weltweiten Er-nährung– Drucksache 17/6504 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschussZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten MemetKilic, Beate Müller-Gemmeke, Ulrike Höfken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENzu den Vorschlägen der Europäischen Kom-mission für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über die Bedingun-gen für die Einreise und den Aufenthalt vonDrittstaatsangehörigen im Rahmen einer kon-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Geset-zes über die Zusammenarbeit von Bundes-regierung und Deutschem Bundestag in Ange-legenheiten der Europäischen UnionRichtlinie zur konzerninternen Entsendunggrundsätzlich überarbeiten– Drucksache 17/4885 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Memet Kilic, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENzu den Vorschlägen der Europäischen Kom-mission für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über die Bedingun-gen für die Einreise und den Aufenthalt vonDrittstaatsangehörigen zwecks Ausübung ei-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Geset-zes über die Zusammenarbeit von Bundes-regierung und Deutschem Bundestag in Ange-legenheiten der Europäischen UnionRechte der Saisonarbeitskräfte stärken– Drucksache 17/5234 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15683
Vizepräsident Eduard Oswald
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Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis h auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 32 a:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 6. April 2010 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der Republik Alba-nien zur Vermeidung der Doppelbesteue-rung und der Steuerverkürzung auf demGebiet der Steuern vom Einkommen undvom Vermögen– Drucksache 17/6613 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom29. Dezember 2010 zur Änderung des Ab-kommens vom 24. August 2000 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Österreich zur Vermeidung der Doppel-besteuerung auf dem Gebiet der Steuernvom Einkommen und vom Vermögen– Drucksache 17/6614 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/7300 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeLothar Binding
Zweite Beratungund Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommenmit der Republik Albanien zur Vermeidung der Doppel-besteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebietder Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. DerFinanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/7300, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/6613 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-setzentwurf mit Mehrheit angenommen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll zurÄnderung des Abkommens mit der Republik Österreichzur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebietder Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. DerFinanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/7300, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/6614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dassind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-zialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-haltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unddie Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist angenom-men.Tagesordnungspunkt 32 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union zu dem
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkeiwiederbeleben– Drucksachen 17/5042, 17/7385 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas BareißDietmar NietanMichael Link
Andrej HunkoManuel SarrazinDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/7385, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5042 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion.Gegenprobe! – Fraktion der Sozialdemokraten undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 32 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 318 zu Petitionen– Drucksache 17/7201 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-gen? – Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht318 angenommen.Tagesordnungspunkt 32 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 319 zu Petitionen– Drucksache 17/7202 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Nie-mand. Enthaltungen? – Auch niemand. Somit ist dieSammelübersicht 319 angenommen.
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15684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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Tagesordnungspunkt 32 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 320 zu Petitionen– Drucksache 17/7203 –Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, Linksfraktion und sozialdemokratische Fraktion.Wer stimmt dagegen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen. Enthaltungen? – Niemand. Somit ist die Sammel-übersicht 320 angenommen.Tagesordnungspunkt 32 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 321 zu Petitionen– Drucksache 17/7204 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dage-gen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. DieSammelübersicht 321 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 32 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 322 zu Petitionen– Drucksache 17/7205 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-demokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. So-mit ist die Sammelübersicht 322 angenommen.Tagesordnungspunkt 32 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 323 zu Petitionen– Drucksache 17/7206 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht323 angenommen.Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 5:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undFDPBrandanschlagserie auf Bahnanlagen undlinksextremistisch motivierte GewaltIch eröffne die Aussprache. Für die Fraktion derCDU/CSU hat sich als erster Redner unser KollegeDr. Jan-Marco Luczak gemeldet. Bitte schön, Herr Kol-lege.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wieder einmal ist es so weit: Ganz Deutschlandblickt auf Berlin. Leider, muss man sagen; denn wiedereinmal geht es um linksextremistische Gewalt. In letzterZeit mussten wir uns im Deutschen Bundestag damitschon mehrfach befassen. Ich nenne nur den Spreng-stoffanschlag auf Berliner Polizisten anlässlich einer De-monstration, bei dem zwölf Beamte verletzt wurden,oder auch die gewalttätigen Ausschreitungen bei derRäumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße 14.Damals sind linksextremistische Gewalttäter in Guerilla-manier durch die Stadt marodiert.
Heute blicken wir auf die jüngsten perfiden Brand-anschläge auf den Berliner Schienenverkehr. Insgesamt17 Brandsätze waren es, nicht alle sind detoniert. ZumGlück ist daher größerer Schaden nicht eingetreten. ZumGlück sind keine Menschen verletzt oder gar getötetworden.Die Frage ist nun: Wie ordnen wir diese Brandan-schläge ein? Es lohnt sich, einen Blick auf das Beken-nerschreiben zu werfen, das im Internet veröffentlichtworden ist. Danach geht es den Tätern um den Krieg inAfghanistan, um den Einsatz der Bundeswehr. Sieschreiben: „Deutsche Soldaten morden weltweit.“ Dasnehmen sie als Rechtfertigung dafür, die Deutsche Bahnals Transporteur von Rüstungsgütern zu sabotieren. Ichfinde es wirklich unerträglich, wie über unsere Bundes-wehrsoldaten in Afghanistan gesprochen wird.
Diese Soldaten sind dort, weil wir, der Deutsche Bun-destag, sie dorthin gesandt haben. Wir haben sie dorthingesandt, weil sie dort für Frieden und Freiheit, für De-mokratie und Menschenrechte sorgen sollen.
Sie haben es nicht verdient, in dieser Weise beschimpftzu werden.Diese Gemengelage aus Brandanschlägen und Kriegs-kritik weckt ganz besondere Erinnerungen. Es gibt einebemerkenswerte Parallele zu den Anfängen der Rote-Ar-mee-Fraktion. Auch die RAF hat einmal „nur“ mitBrandanschlägen angefangen. Auch damals hieß es, derProtest gegen den Krieg in Vietnam rechtfertige dieBrandanschläge. Wir wissen alle, wie die Entwicklungder RAF endete: mit Blut, mit Tränen, mit Tod. Ich sage:Diese Zeiten wollen wir nicht noch einmal erleben.
Nun ist ganz klar: Man muss sicherlich genau analy-sieren, ob man die Taten der RAF mit den jüngstenBrandanschlägen vergleichen kann. Andernfalls würde
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15685
Dr. Jan-Marco Luczak
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man deren Opfern nicht gerecht werden. Ich selber – dassage ich Ihnen ehrlich – kann das noch nicht abschlie-ßend beurteilen. Aber eines weiß ich sicher: Die Zahl derlinksextremen Straf- und Gewalttaten in unserem Landnimmt zu. Es ist noch nicht lange her, dass in meiner Hei-matstadt Berlin fast jede Nacht ein Auto gebrannt hat. Esgibt auch immer mehr gewaltbereite Linksextreme. Dasalles bedeutet nicht, dass wir einen zweiten heißen Herbstvor uns haben. Für mich bedeutet das aber, dass wirwachsam sein müssen. Der Verfassungsschutz sagt unsganz eindeutig, dass eine signifikant erhöhte Aggressivi-tät und Gewaltbereitschaft unter den Linksextremen zubeobachten ist. Darauf müssen wir reagieren. Davor dür-fen wir unsere Augen nicht verschließen. Daher ist es gutund richtig, dass die Bundespolizei verstärkt vorgeht undkonsequent Präsenz zeigt. Als Berliner bin ich dafür be-sonders dankbar.Richtig ist aber auch: Unsere offene und freie Gesell-schaft ist verletzlich. Einen absoluten Schutz können we-der technische Einrichtungen wie die Videoüberwachungnoch der verstärkte Einsatz von Polizei gewährleisten.Umso wichtiger ist es daher, dass unsere Gesellschaft ei-nen Konsens darüber hat, dass solche Brandanschlägeunmissverständlich und mit allem Nachdruck verurteiltwerden. Das erwarte ich auch von allen Fraktionen hierim Deutschen Bundestag.
Wenn man genau hinschaut, können einem an der ei-nen oder anderen Stelle Zweifel kommen. Da gibt eszum Beispiel den Kollegen Ströbele von den Grünen. Erhat, wie wir alle wissen, eine besondere Kompetenz inSachen RAF.
Er sagt, dass hier völlig unterschiedliche Sachverhalteund gesellschaftliche Situationen miteinander in Verbin-dung gebracht werden. Er muss es ja wissen. Es sei ihmauch gegönnt, den gesellschaftlichen Oberlehrer zu spie-len und allen anderen Unwissen zu unterstellen. Aberwas ich an dieser Stelle zumindest erwartet hätte, wäreein klares Bekenntnis gewesen, dass auch er den Terro-rismus ächtet. Das habe ich von ihm aber nicht vernom-men. Deswegen sage ich: Das, was er hier macht, ist eineVerharmlosung. Damit wird er – er ist leider nicht hier –seiner Verantwortung als Mitglied des Deutschen Bun-destages nicht gerecht.
Was nicht fehlen darf, wenn wir über Linksextremis-mus sprechen, ist die Haltung der Linken. Ihre Noch-Bundesvorsitzende Gesine Lötzsch ist bekannt dafür,dass sie mit ehemaligen RAF-Terroristen auch einmalWege zum Kommunismus sucht und Geburtstagsgrüßean Fidel Castro sendet. Angesichts dessen kann man viel-leicht nichts anderes erwarten.Die innenpolitische Sprecherin der Linken, UllaJelpke – sie ist hier –, verharmlost die Brandanschlägemit den Worten, die Ziele der Gruppe seien durchausrichtig. Frau Jelpke, Sie werfen Kritikern vor, es gehe ih-nen um die Diffamierung jeglicher linken Politik, dieüber den tagespolitischen Tellerrand hinausgeht.
Wenn ich das höre, kann ich nur sagen: Ich bin wirklichrichtig froh, dass die Linke nach wie vor vom Verfas-sungsschutz beobachtet wird. Wer auf diese Weise öf-fentlich Solidarität mit linken Gewalttätern bekundetund Widerstand ausdrücklich als notwendig bezeichnet,ermutigt diese Gewalttäter zu weiteren Anschlägen, erermutigt dazu, weitere Menschen zu gefährden. Wer soetwas macht, hat im Deutschen Bundestag nichts zu su-chen.
Zum Schluss lassen Sie mich als Berliner Abgeordne-ter noch Folgendes sagen: Ich bin sehr froh, dass dieLinke nach den Wahlen hier in Berlin nicht mehr an derRegierung beteiligt sein wird.
Unter dem rot-roten Senat mit den Linken als Koali-tionspartner ist die linksextremistische Szene leider sehrvernachlässigt worden; das muss man auch einmal sa-gen. Das rächt sich nun. Deswegen ist es ein gutes Si-gnal für die deutsche Hauptstadt, dass CDU und SPDüber eine große Koalition der Demokraten miteinanderverhandeln.
Wir als Union werden im Senat sicherstellen, dass dieBerlinerinnen und Berliner vor jeglicher Gewalt ge-schützt werden, vor religiös motivierter, vor rechtsextre-mer, aber eben auch vor linksextremer.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Für uns ist und bleibt klar: Niemand darf Opfer blin-
der Gewalt werden – egal woher sie kommt.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die
Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Wolfgang Gunkel. Bitte schön, Kollege Wolfgang
Gunkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An undfür sich hatte ich mir vorgenommen, eine staatstragendeRede zu halten.
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15686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Wolfgang Gunkel
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Ich glaube aber, dass man nach der Rede eben einigesrichtigstellen muss.Ich will vorwegschicken, dass mit den Taten krimi-nelles Unrecht begangen worden ist. Es geht also nichtum eine reguläre Form der politischen Auseinanderset-zung, sondern um kriminelle Straftaten, die von der Poli-zei entsprechend verfolgt werden müssen. Darüber gibtes keinen Dissens. Es kann auch niemand ernsthaft an-nehmen, dass dies kritikwürdig wäre.Das, was hier vorgetragen worden ist, sind meinerAnsicht nach aber unzulässige Vermengungen mit Vor-fällen, die vor 30 oder 40 Jahren stattgefunden haben.Mit Verlaub, Herr Kollege, ich habe schon in Berlin inErmittlungsgruppen zur Terrorismusbekämpfung gear-beitet, als Sie gerade geboren waren.
Ich kann Ihnen deshalb sagen: Wenn Sie die Vorfälle frü-her mit denen von heute vergleichen, dann liegen Siemeterweise daneben.
Die Bewegungen, die damals eine Rolle gespielt ha-ben – ob man die RAF, die Revolutionären Zellen oderdie Bewegung 2. Juni nimmt –, sind von einer völlig an-deren organisatorischen Struktur, politischem Rückhaltund anderen Dingen geprägt gewesen, als es heute beiden Politspinnern der Fall ist, die übrigens auch in derlinken Szene auf heftige Kritik an dieser Verfahrens-weise stoßen.
Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter zurückbli-cken, um das alles zu rekapitulieren. Herr Ströbele wäresicherlich der Richtige, um sehr profund darüber Aus-kunft zu geben.
Man sollte sich dann aber auch anhören, was er dazu zusagen hat.Jetzt will ich aber das machen, was man üblicher-weise tut, nämlich nach vorne schauen. Was die Struktu-ren in Berlin mit der Landespolizei, mit Brandenburg alsUmfeld und mit der Bundespolizei angeht, kann man nureines sagen: Wenn man den Ball einigermaßen flachhaltenund vernünftig argumentieren will, dann kann man dasnur so machen wie der Bundesinnenminister – übrigensein besonnenes Mitglied Ihrer Regierungskoalition –, dergesagt hat, dass das nichts mit Terrorismus zu tun hat,sondern eine Gewaltstufe der linksextremen Ausrichtun-gen ist, die entsprechend bekämpft werden muss. Er tutrichtigerweise auch etwas: Er verstärkt den Einsatz derBundespolizei.Wir kommen in diesem Zusammenhang auf einenPunkt zu sprechen, den man als ursächlich dafür sehenmuss. Wenn Länder und Bund an Polizei und innerer Si-cherheit sparen, dann muss man sich nicht wundern,wenn nicht mehr genügend Ermittlungskapazitäten zurVerfügung stehen, um solche Straftaten von vornhereineinzudämmen.Wenn Sie in Berlin zu einer Großen Koalition kom-men sollten,
dann kommen auch Sie in die Gefahr, den Innensenatorzu stellen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie sol-che Taten verhindern können. Sie können das genausowenig verhindern wie jeder andere. Ich bin gespannt,wie Sie sich dann darstellen wollen.
Die Maßnahmen, die der Innenminister angekündigt hat,sind ein richtiger Schritt auf dem Weg zu dem, was manals Ziel im Blick behalten muss.Aber zurück zu dem, was tatsächlich geschehen ist:Bisher gab es ein Bekennerschreiben, das die Vermutungnahelegt, dass man die Taten dem linksextremen Spek-trum zuordnen muss.
Das ist völlig klar und lässt sich nicht von der Hand wei-sen.Die Ermittlungen sind aber noch nicht abgeschlossen.Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren an sich ge-zogen. Das BKA wird die Ermittlungstätigkeit unterstüt-zen und federführend durchführen. Das bedeutet: Wennalle drei Institutionen – die Landeskriminalämter in Ber-lin und Brandenburg und das BKA – in dieser Sache er-mitteln, dann wird man wohl hoffen dürfen, dass es zueinem vernünftigen und konkreten Ergebnis kommt.In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Dr. Uhlzitieren. Herr Dr. Uhl, Sie werden nicht sehr oft vonSPD-Abgeordneten zitiert, aber Sie haben gestern im In-nenausschuss etwas sehr Gutes gesagt. Sie haben gesagt,Sie hätten Vertrauen in das BKA und dessen Präsiden-ten, der übrigens ein SPD-Mann ist. In diesem Sinnesage ich: Haben Sie einfach Vertrauen in die polizeili-chen Ermittlungen und warten Sie ab, was die Ermittlun-gen ergeben!
Dann wird sich vielleicht herausstellen, wer diejenigensind, die diese Anschläge verübt haben. Eines ist richtig:Wenn man das richtig einordnen will, dann muss mansagen, dass wirklich der Bedarf besteht, das herauszufin-den. Denn die Gefahr, dass irgendwann Menschen zuSchaden kommen, ist nicht ganz von der Hand zu wei-sen. Wir hoffen alle, dass man bald fündig wird und dieTäter stellen kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15687
Wolfgang Gunkel
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Die Institutionen, die damit befasst sind, verdienenunser Vertrauen. Ich glaube, dass wir zu einem vernünf-tigen Ergebnis kommen werden. Dann hat auch eine sol-che Dramatisierung, wie sie hier erfolgt und wie wir sieauch schon vorher im Zusammenhang mit der Liebig-straße 14 und Ähnlichem erlebt haben, ein Ende.
Sie wollen derartige Vorfälle hochspielen, offenbarum der Bevölkerung zu suggerieren, dass die SPD undandere Parteien nicht in der Lage sind, die innere Sicher-heit zu gewährleisten.
Das ist an dieser Stelle lächerlich und auch fahrlässig.Schönen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege.
Jetzt hat für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Stefan Ruppert das Wort. Bitte schön, Kollege
Dr. Ruppert.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich muss sagen: Das waren neue Töne von der SPD.Das kann man einmal hervorheben. Wir führen in die-sem Hause seit zwei Jahren, seit im Koalitionsvertragsteht, dass Linksextremismus, religiös motivierter Extre-mismus und Rechtsextremismus gleichermaßen zu ver-folgen und mit entsprechenden Programmen zu bekämp-fen sind, eine merkwürdige Debatte. Sie läuft immernach dem gleichen Muster ab: Die Koalition sagt: AllePhänomene des Extremismus sind gleichermaßen in denBlick zu nehmen. Wir müssen schauen, was auf derrechten Seite, auf der linken Seite und beim religiös mo-tivierten Extremismus passiert. – Immer kommt der glei-che Reflex der Grünen, der SPD und der Linken: Siewerfen uns vor, wir wollten nur vom Rechtsextremismusablenken und diesem wichtigen Phänomen nicht insAuge blicken.
Heute hat der Kollege Gunkel eine Rede gehalten, in derer als Vertreter der Sozialdemokratie zumindest aner-kennt – zum ersten Mal nach meiner Wahrnehmung –,dass auch der Linksextremismus ein zunehmend gravie-rendes Problem in Deutschland ist. Auf dem Weg solltenSie weitergehen.
Diese Einsicht teilen die Kolleginnen und Kollegender Linken leider nicht. Wir erleben nach der Befreiungvon Auschwitz bei Antisemitismusdebatten und Debat-ten über Linksextremismus immer wieder das Gleiche.Ich bin jedes Mal fassungslos, wenn ich von Frau Jelpkehöre, dass die politischen Ziele, die diesen Brandan-schlägen zugrunde liegen, durchaus nachvollziehbar undrichtig sind. So etwas ist unerhört und unfassbar. Demmüssen wir strikt entgegentreten.
Wir leben – das merken wir auch in den Gesprächenmit den Wählerinnen und Wählern in den Wahlkreisen –in einer Zeit tiefer Verunsicherung. Die Menschen habenAngst vor der Zukunft. Sie sind unsicher, was sich in dennächsten Jahren tut. Die Bandbreite der Reaktionen aufdiese Angst erweitert sich derzeit. Alle Antiextremis-musprogramme und alle Strafverfolgungsmaßnahmenwerden nicht fruchten, wenn es uns nicht gelingt, dieMitte der Gesellschaft wieder zu stärken, eine Integra-tion zur politischen Mitte hin zu bewirken und dafür zusorgen, dass die Menschen, die jeden Tag zum Gelingendieses Gemeinwesens beitragen, wieder gestärkt werdenund dass ihnen Orientierung und Unterstützung gegebenwerden. Wenn uns das gelingt, dann werden die politi-schen Ränder nicht weiter erstarken. Das ist das Ziel die-ser Koalition.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen. In Ber-lin brennt in diesen Tagen mehr als ein Auto pro Nacht.Wir steuern auf einen neuen Rekordwert bei den Brand-anschlägen zu, die in der Regel aus linksextremer Gesin-nung heraus begangen werden. Wir können doch nichttatenlos zusehen, nur weil in dieser Stadt die staatlicheOrdnung in vielen Bereichen nicht so funktioniert wie inanderen Bundesländern oder in anderen Gesellschaften.Wir sollten uns dagegen wehren, dass dem nicht entge-gengetreten wird.
Hören Sie auf, in das alte Links-rechts-Schema zuverfallen!
Hören Sie auf, zu sagen, Rechtsextremismus sei vielschlimmer! Stellen Sie, liebe Grüne, liebe Sozialdemo-kraten, einen Antrag, in dem Sie diesem Phänomen erst-mals einige Worte und Maßnahmen widmen. Das würdeuns ausgesprochen freuen.
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15688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
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Seit zwei Jahren praktizieren Sie Verweigerung. Seitzwei Jahren hören wir keinen einzigen Ton dazu, wieman mit dem Linksextremismus und der steigenden Ge-waltbereitschaft umgehen kann. Insofern wären auf IhrerSeite einige Hausaufgaben zu machen.
Manchmal ist es schmerzhaft, die Realität mit seinempolitischen Sachverstand in Einklang zu bringen. Für Siewäre es an dieser Stelle aus meiner Sicht höchste Zeit.
Ein letztes Argument: Es gibt viele Menschen, diederzeit Angst haben, Bahn zu fahren. Das sollte auch Siebeunruhigen. Gestern haben mehrere Besuchergruppengefragt, ob man im Moment mit der Bahn nach Berlinfahren könne. Wir können den Menschen sagen: Ja. DieSicherheit wird sicherlich gewährleistet. Wir werden mitaller Macht, auch mit den Mitteln der Strafverfolgung,versuchen, diese Phänomene zu bekämpfen. Da sehenSie die Koalition wild entschlossen.Insofern: Hören Sie auf mit Ihrem Links-rechts-Ge-rede! Stellen Sie sich der gesellschaftlichen Realität! Ichbin selbst Opfer eines linksextremen Anschlags in mei-ner Wahlkreisgeschäftsstelle geworden.
Insofern ist die Art und Weise, wie Sie dieses Problemdauerhaft negieren, einfach nicht mehr sachangemessen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. – Jetzt für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Jelpke.
Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um esgleich in aller Deutlichkeit zu sagen:
Die Linke lehnt Brandanschläge auf Bahnanlagen ohneWenn und Aber ab. Nichts anderes habe ich und habenauch meine Kollegen aus meiner Fraktion in den letztenTagen erklärt.
An die Unionskollegen gerichtet sage ich: Bleiben Siemal auf dem Teppich! Es handelt sich hier nicht um dieGeburtsstunde einer neuen RAF,
wie es heute von Ihnen auch wieder leichtfertig vorgetra-gen wurde.Ich fordere Sie auf, meine Kollegen von der Unionund auch von der FDP, hier endlich wieder zu einer sach-lichen Debatte zurückzukehren.
Bewusst wird hier aus Ihren Reihen Hysterie, Ter-rorhysterie geschürt. Zu Ihrem Verkehrsminister, der jaauch eine neue Dimension des Terrors heraufziehensieht, kann man nur sagen: Das ist schlichtweg Unsinn.
Zum Glück bewahren die zuständigen Behörden– jetzt hören Sie gut zu! – sehr viel mehr Ruhe. Bei-spielsweise hat der Bundesanwalt bereits erklärt, dass erim Zusammenhang mit den Brandanschlägen nicht we-gen Terrorismus ermittelt. Der Verfassungsschutz hat er-klärt, dass er hier keinen neuen Terrorismus sieht.Betrachten wir einmal die Tatsachen, also das, wasbisher passiert ist. Es sind 19 offenbar dilettantisch ge-bastelte Brandsätze entdeckt worden.
Davon haben in der Tat zwei gezündet, und einer davonhat Sachschaden angerichtet. Dabei wurden zum Glückkeine Menschen verletzt.
Ich sage noch einmal: Dabei wurden zum Glück keineMenschen verletzt. Die Bahn hat im Übrigen versichert,dass für Reisende zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafteGefahr bestand.
Wenn Politiker der Unionsfraktion hier wider besse-res Wissen über Terrorismus schwadronieren, ist die Ab-sicht meines Erachtens leicht zu durchschauen.
Während zurzeit weltweit Hunderttausende gegen Kapi-talismus auf die Straße gehen, dienen Ihnen die Brand-ansätze als willkommene Steilvorlage zur Diskreditie-rung all dessen, wofür linke Bewegungen und Parteienstehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15689
Ulla Jelpke
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Auch den Unionsparteien werden wir nicht den Gefallentun, uns von unseren richtigen Zielen abzuwenden, nurweil auch die Zündler diese Ziele für sich in Anspruchnehmen, nämlich etwa gegen den Afghanistan-Krieg zusein.Ich will nur daran erinnern, dass wir hier vor zweiJahren das Massaker von Kunduz diskutiert haben, nach-dem auf Befehl eines deutschen Offiziers über hundertMenschen regelrecht in den Tod gesprengt wurden.
Über diesen Terror – wir bezeichnen das als Kriegsterror –wollen Sie überhaupt nicht reden,
obwohl zwei Drittel der Bevölkerung gegen diesenKrieg ist.Wie gesagt: Die Linke wird sich nach wie vor gegendie Verlängerung dieses Kriegseinsatzes einsetzen, unddas Ziel ist auch richtig.
Die Linke wird weiter für einen Rückzug der Bundes-wehr aus Afghanistan kämpfen, aber gemeinsam mit derBevölkerung und nicht auf ihrem Rücken, um das ganzdeutlich zu sagen.
Denn kein Kriegseinsatz wird gestoppt, weil Hundert-tausende Bahnkunden zu spät zur Schule oder zur Arbeitkommen. Ich selbst fahre auch viel Bahn. Ich weiß, wasdas bedeutet.Ich will zum Schluss noch auf Folgendes zu sprechenkommen. Wir reden hier über Terrorismushysterie. Ausden Reihen der Union habe ich dann, wenn Anschlägevon Neofaschisten auf Migrantinnen und Migranten, aufandersdenkende Linke oder auf Homosexuelle gesche-hen sind, das Wort „Terrorismus“ noch nie gehört.
Ich will hier ganz deutlich sagen, dass die Angriffe ge-rade der Rechten auf Wahlkreisbüros von SPD, Grünenund Linken alltägliche Gewalt sind.
Man kann am Ende nur noch einmal sehr deutlichfeststellen, dass in den Reihen der Union bei der Anwen-dung der Vokabel „Terrorismus“ offenbar mit zweierleiMaß gemessen wird. Von daher meine ich, diese Aktu-elle Stunde hätten Sie sich gut sparen können.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Zwei Vorbemerkungen. Herr Kollege Luczak,auch ich bin gebürtiger Berliner.
Ich könnte jetzt gerührt sagen: Wie schön, dass dieseKoalition sich so um die deutsche Hauptstadt sorgt! –Sie haben aufgezählt: Sprengsätze, Häuserräumung inder Liebigstraße, heute die Brandanschläge.
Sie merken gar nicht, dass Sie ein Zerrbild der deutschenHauptstadt zeichnen. Man könnte sich fragen, ob all dievielen Touristen, die hierherkommen, Abenteuerurlaubersind, die statt im Dschungelcamp in Berlin einfallen.
Ich gebe zu, dass das Ganze kurz unterbrochen wardurch den Streit um 3 Kilometer Stadtautobahn. DerKollege Lindner, FDP, und der Kollege Liebich, Links-partei, waren sich einig, dass die Grünen sich für eineKartoffelsuppe haben einkaufen lassen. So kann mansich täuschen, Herr Lindner. Genauso täuschen Sie sich,wenn Sie glauben, mit diesen Überzeichnungen undDramatisierungen irgendetwas zur Problemlösung bei-zutragen.
– Ja, Herr Lindner, falsch gelegen! Klappe mal halten,bitte schön!
Das ist zwar unparlamentarisch ausgedrückt; aber ichweiß, dass das auch ein großer Wunsch Ihrer Fraktionist.
Zweite Vorbemerkung. Wir verharmlosen gar nichts,Herr Kollege Ruppert, schon gar nicht Anschläge aufBahnanlagen. Meine Güte! Wer glaubt, in einer Stadt,
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15690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Wolfgang Wieland
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wo der öffentliche Nahverkehr mehr oder weniger nachdem Zufallsprinzip funktioniert, wo die S-Bahn monate-lang nach einem Notfahrplan fährt, mit Brandsätzen zurEntschleunigung beitragen und die Stadt in den Pausen-modus versetzen zu müssen, der ist nach eigenem Zeug-nis ein Idiot – das schreiben Sie ja selber –, aber keinharmloser Idiot, sondern ein gefährlicher. Als solchenmuss man ihn bezeichnen, und als solchen muss man ihnauch bekämpfen.
Da gebe ich dem Kollegen Gunkel völlig recht. Soviel Zutrauen habe ich in unsere Strafverfolgungsorgane:Dass man diese Gruppierung, die sich ja immerhin einenFantasienamen, nämlich Hekla, gegeben hat, dingfestmachen wird, dass man sie auch aburteilen wird, daraufgehe ich beinahe eine Wette ein. Aber das Problem desLinksextremismus ist ja nun wirklich ein weitergehen-des.
Wir als Grüne haben nie bestritten, dass es da einen An-stieg gibt. Nur, was bieten Sie denn als Bekämpfungs-konzeption an? Ein schematisches Gleichsetzen vonRechts und Links! Was wir gegen Rechtsextremismusmachen, machen wir auch gegen Linksextremismus.
Jetzt haben Sie ein Aussteigertelefon geschaltet. Da wirdniemand anrufen.
Das kann ich Ihnen sagen. Denn Links tickt anders alsRechts, trotz allem.
– Ja. Davon verstehen Sie nichts. Dann seien Sie dochruhig, wenn Sie davon nichts verstehen!
Die sind trotz allem diskursiver. Die haben kein Führer-prinzip. Da braucht man kein Aussteigerprogramm. Diesteigen von alleine aus. Dann findet sie das BKA nachJahren in der Uckermark auf ihrem Bauernhof.
Die verhängnisvolle Extremismusklausel, die Sie ein-geführt haben, zeigt nicht nur Ihre Hilflosigkeit, sondernführt auch zu falschen Solidarisierungen.
Das schematische Gleichsetzen von Rechts und Linksbringt in keiner Weise voran, sondern richtet mehr Scha-den an, als es Nutzen bringt.
Dann zum Entstehen einer neuen RAF: Das Bundes-amt für Verfassungsschutz, der BKA-Präsident und alleanderen haben Ihnen gesagt, dass es das nicht ist, dassdiese Leute zwar Gefährdungen in Kauf nehmen, dasssie hirnlos sind, dass sie aber Menschen nicht umbringenwollen.
Das unterscheidet sie von denen von Madrid, von Lon-don, von Oslo. Darin liegt der qualitative Unterschied.Wenn Sie die Unterschiede verrühren und sagen, das seider Anfang, dann laufen Sie Gefahr, mit einer Selfful-filling Prophecy genau das herbeizureden, was wir nichtwollen. Das ist keine verantwortungsvolle Politik.
Schließlich und endlich: Politik muss verhindern,dass Menschen in diese Ecke des gewalttätigen Linksra-dikalismus getrieben werden. Protestbewegungen wiedie Globalisierungsgegner oder die Okkupierer der WallStreet müssen Platz für ihre Proteste haben, und sei es inForm eines Platzes zum Zelten. Das muss man zulassen.
– Keine Angst, Herr Lindner, nicht in Ihrem Vorgarten,aber im öffentlichen Raum.Meine letzte Bemerkung. Das beste Mittel gegenlinksextreme Gewalt ist eine sozial gerechte Gesell-schaft.
– Sie können sie sich noch nicht einmal vorstellen. –Viele sehen gerade in der Finanz- und Euro-Krise die so-ziale Gerechtigkeit immer weiter entschwinden. Insofernsollte Athen auch für uns ein Warnsignal und ein negati-ves Beispiel sein.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Wieland. – Nächster Redner istfür die Bundesregierung der Parlamentarische Staatsse-kretär Dr. Ole Schröder. Bitte schön, Kollege Dr. OleSchröder.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15691
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Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! In dieser Woche haben wir zwei Aktuelle Stunden.Gestern haben wir über die vom Chaos Computer Clubuntersuchte Software diskutiert. Dabei geht es um eineabstrakte Gefahr. Wir müssen hier wachsam sein, dasskeine Software missbraucht wird. Heute sprechen wirüber eine ganz konkrete Gefahr, die sich im Erfolg dieserBrandanschläge – neun Brandanschläge wurden alleinim Monat Oktober auf das Bahnnetz verübt – bereitsrealisiert hat.
Wir haben ein Problem, was die rechtsextreme Ge-walt angeht. Es ist mitnichten so, dass wir Rechts- undLinksextremismus gleichsetzen. Lieber Herr Wieland,wenn Sie der Auffassung sind, dass unsere Programmegegen Linksextremismus verbessert werden können,dann bringen Sie doch eigene Vorschläge dazu ein, waswir gegen den Linksextremismus weiter unternehmenkönnen.
Wie war das in der Großen Koalition? Wir konntenuns hinsichtlich der Bekämpfung des Rechtsextremis-mus einigen. Es ist äußerst wichtig, in diesem Bereichgemeinsam vorzugehen. Alle Demokraten sollten da zu-sammenstehen. Aber immer wenn es um die Bekämp-fung des Linksextremismus ging, war keine Einigungmöglich. Da waren Sie nicht bereit, etwas zu unterneh-men. Deshalb kann man uns nicht vorwerfen, dass wirdas eine mit dem anderen vergleichen oder dass wir daseine mit Verweis auf das andere relativieren würden. Esmuss auch einmal möglich sein, im Deutschen Bundes-tag über Linksextremismus zu reden und dieses Problemzu thematisieren, ohne dass gleich gesagt wird, es gebenoch Rechtsextremismus und andere Formen von Extre-mismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir solltenuns als Demokraten einig sein: Es gibt keinen guten Ex-tremismus.
Die Brandanschläge auf die Bahn waren politischlinks motivierte Straftaten. Wir verzeichnen eine zuneh-mende Anzahl von solchen Taten. Die Brandanschlägeauf die Bahn in und um Berlin sind nach heutigen Maß-stäben, nach den Maßstäben des Strafgesetzbuches keineterroristischen Taten. Das ist auch nicht der entschei-dende Punkt; denn die Auswirkungen auf die Bürgersind dadurch nicht geringer. Dafür ist nicht von Bedeu-tung, ob wir uns im Parlament auf eine Definition vonExtremismus einigen.
Die Tatsache, dass der Generalbundesanwalt die Ermitt-lungen übernommen hat, zeigt schon, wie gravierenddiese Ereignisse waren.Ich möchte im Übrigen an Folgendes erinnern: Nochbis Dezember 2003, als Rot-Grün die Definition von Ex-tremismus enger gefasst hat,
hätten wir eine solche Straftat durchaus als terroristischeTat bezeichnet. Das hätte der alten Definition entspro-chen.
Sie haben den Straftatbestand eingeengt.
Aber lassen Sie uns jetzt nicht in diesen typisch deut-schen Automatismus verfallen – wie der Kollege Gunkeldas gemacht hat –, uns über Definitionen zu streiten.Lassen Sie uns vielmehr über das eigentliche Problemsprechen, nämlich linksextreme Gewalttaten.Diese Taten sind der bisherige Höhepunkt einer seitJahren anwachsenden Anzahl politisch links motivierterGewalttaten in unserem Land. Hier gilt es, nichts zu ver-harmlosen. Die Anschläge auf die Bahn sind der Ver-such, flächendeckend und systematisch die Infrastruktur,die für die Funktionsfähigkeit eines Landes von existen-zieller Bedeutung ist, zu beschädigen.Zigtausende Bürgerinnen und Bürger sind nicht nurbei ihren täglichen Abläufen erheblich gestört worden,sondern sie leben auch in der Angst, dass die Bahnen,auf die sie täglich angewiesen sind, nicht sicher sind.Genau das ist das Ziel dieser Täter, nämlich die Men-schen zu verunsichern, Angst und Schrecken zu verbrei-ten, um damit unserer mobilen, freiheitlichen Gesell-schaft zu schaden.Meine Damen und Herren, natürlich ist auch erhebli-cher wirtschaftlicher Schaden entstanden, nicht nur beider Deutschen Bahn, sondern auch bei den Bürgerinnenund Bürgern. Wir können nur von Glück reden, dass auf-grund der feuchten Witterung einige Brandsätze nichtgezündet haben. Die Sicherheitsbehörden sind – zusam-men mit der Bahn – jetzt noch aufmerksamer als vorher.Ihnen gilt mein besonderer Dank.Die aktuelle Brandanschlagsserie bestätigt den seitlängerem von den Sicherheitsbehörden festzustellendenAnstieg der Zahl linker Straftaten. Seit 2005 verzeichnenwir – lediglich mit einer kleinen Abweichung im vergan-genen Jahr – eine stete Zunahme der politisch links moti-vierten Taten in Deutschland. Das ist aber nicht alleinauf die Brandanschläge zurückzuführen. Selbst wennwir jeweils die Brandanschläge auf die Kfz außer Achtlassen, übersteigen die Zahlen der links motivierten Ge-
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Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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walttaten die Vorjahreszahlen und erreichen sogar diedes Rekordjahres 2009.Die gegenwärtige Entwicklung bei den linken Ge-walttaten zeigt, dass die Innenminister und Innensenato-ren der Länder sowie der Bundesminister des Innern gutdaran getan haben, in der Herbst-IMK 2010 eine Ge-samtkonzeption zur Bekämpfung der politisch motivier-ten Gewaltkriminalität links bzw. des gewaltbereitenLinksextremismus zu beschließen. Sie enthält Maßnah-men des Verfassungsschutzes sowie der Polizei und hatdie wichtigsten Felder für eine enge Zusammenarbeitbeider Bereiche identifiziert.Die Bedeutung dieser Gesamtkonzeption für die Be-kämpfung linker Gewalt hat auch die IMK in ihrer heuti-gen Sondersitzung noch einmal hervorgehoben. Zudemhat die Innenministerkonferenz heute auch den Be-schluss gefasst, dass ihr im kommenden Herbst eine Zu-sammenstellung der Erkenntnisse zu den Phänomenen„Anschläge auf die Bahn“ sowie „Brandanschläge aufKfz“ vorgelegt wird.Auch in diesem Hause – das haben wir eben wiedererlebt – werden linke Straftaten im Vergleich zu anderenextremistischen Straftaten gern relativiert. Häufig wirdgesagt: Die haben eigentlich gute Ziele, die auch vielefriedliebende Bürger haben, wenn es etwa um den Af-ghanistan-Einsatz, bezahlbaren Wohnraum oder Protest-aktionen gegen rechtsextremistische Aufmärsche geht. –Seit Jahren wird von den Linken versucht, die linkenStraftaten zu relativieren nach dem Motto: Die Links-extremisten wollen ja eigentlich das Gute, nur eben mitden falschen Mitteln. – Das ist falsch. Es gibt keinen gu-ten Extremismus.
Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.
Langsam scheint sich diese verharmlosende Wahr-nehmung zu wandeln, nämlich in einer Zeit, in der im-mer mehr Kleinwagen und Familienkutschen in Brandgesteckt werden und die Menschen in Berlin von denBrandanschlägen erheblich betroffen sind.Was mir besondere Sorgen bereitet, ist die Gewaltbe-reitschaft der Linken gerade gegenüber unseren Polizei-beamtinnen und Polizeibeamten. Wir können beobach-ten, dass die unglaubliche Gewaltbereitschaft immerstärker zunimmt. Das ist besorgniserregend. Es scheintkaum noch eine Hemmschwelle zu geben. Dies gilt ins-besondere für Demonstrationen mit einer Rechts-links-Konfrontation. Da fliegen Pflastersteine, Brandsätze undKnallkörper. Da werden Polizeibeamte wirklich wie Sa-chen behandelt. Genau da liegt das Problem. Wenn mananfängt, Gewalt gegen Sachen als Mittel der politischenAuseinandersetzung zu akzeptieren, dann ist es nur nochein ganz kleiner Schritt bis hin zur Akzeptanz von Ge-walt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bzw.gegen Menschen im Allgemeinen.Es ist richtig, dass die Koalition ein Zeichen dafür ge-setzt hat, dass wir als Gesellschaft diese Entwicklungnicht akzeptieren. So haben wir zum Beispiel den in§ 113 StGB vorgesehenen Strafrahmen für Gewalt gegenPolizeibeamte von zwei auf drei Jahre erhöht. Das zeigt,dass wir eine solch ungeheure Gewalt nicht akzeptieren.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
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Gerade diese Straftaten müssen uns noch einmal vor
Augen führen, dass wir achtsam sein müssen, um unse-
ren Rechtsstaat nicht zu gefährden.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Jetzt spricht für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-nen! Liebe Herren und Damen! Das Thema der von derRegierungskoalition beantragten Aktuellen Stunde lau-tet: linksextremistisch motivierte Gewalt. Darüber, HerrStaatssekretär, würde ich jetzt gerne reden. Ich fragemich: Warum haben Sie das zum Gegenstand einer Ak-tuellen Stunde gemacht?
Ja, das ist ein Kriminalitätsfeld mit hoher Betroffen-heit der Bevölkerung. Ja, es gab Brandanschläge und eindazugehöriges Bekennerschreiben, welches nahelegt,dass die Täter linksextremistisch motiviert waren. Wennwir uns aber das gesamte Kriminalitätsfeld ansehen,dann stellen wir fest, dass die Zahl der Straftaten in die-sem Bereich im Jahr 2010 um etwa ein Viertel auf etwa6 900 Fälle zurückgegangen sind.
Auch die Zahl der Gewalttaten ist um knapp 25 Prozentgesunken. Wir sprechen also von 1 377 links orientiertenGewalttaten im Jahre 2010. Das ist noch immer eine sehrhohe Zahl. Dieser Zahl müssen wir uns annehmen undetwas dagegen tun.
Wir haben bereits etwas dagegen getan. Wir haben imFachausschuss, im Innenausschuss, über links motivierteKriminalität geredet.
Wir haben mit Fachleuten darüber geredet. Wir habenüber Aufklärung, über Aussteigerprogramme und überPrävention geredet, Herr Kollege Ruppert. Warum also
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15693
Kirsten Lühmann
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dieses Thema in einer Aktuellen Stunde und warumhier?
Wir könnten genauso gut über andere Deliktfelder re-den, die eine steigende Tendenz aufweisen. Ich denkedabei an die organisierte Kriminalität. Allein im letztenJahr ist dadurch bundesweit ein Schaden von 1,65 Mil-liarden Euro entstanden, davon 300 Millionen Eurodurch Eigentumskriminalität. Ich möchte Ihnen einmalschildern, was das bedeutet – ich habe es selber erlebt –:Wenn zum Beispiel bei einem Einbruchsdiebstahl in denengsten Privatbereich der Bürger und Bürgerinnen ein-gegriffen wird, dann hat das für die Betroffenen trauma-tische Folgen, die weit über den materiellen Schaden derKriminalität hinausgehen. Darüber sollten wir uns ein-mal eingehender unterhalten.
Die Frage ist: Warum reden wir hier über Linksextre-mismus? Ich kann es Ihnen sagen: Weil Sie, meine Her-ren und Damen von der Regierungskoalition, einenLinksterrorismus herbeireden wollen! Das ist in einigenWortbeiträgen bereits angeklungen. Das kann ich auchbelegen: Angefangen hat es mit Verkehrsminister PeterRamsauer. Er sprach als Erster von verbrecherischen,terroristischen Ansätzen neuer Dimension.
Der niedersächsische Innenminister Schünemann warntvor einer Vorstufe zum Terrorismus. Der Bundesinnen-minister lässt verlauten, man müsse wachsam sein, damitsich die durch die Brandanschläge zum Ausdruck kom-mende Gewaltbereitschaft nicht zu einem neuen Links-terrorismus entwickelt.
Die Frage ist: Was ist Terrorismus? Ich berufe michdabei auf den Bundesgerichtshof, der 2007 entschiedenhat: Es sind Straftaten mit staatsgefährdenden Zielen, dieden Staat erheblich schädigen können. Und: Es geht Ter-roristen darum, den politischen Gegner gezielt zu töten,wie das auch bei der Sauerland-Gruppe, den Kofferbom-bern oder anderen islamistischen Terroristen der Fall warbzw. ist.Die Praktikerinnen und Praktiker sagen: Nein, einesolche Gefahr besteht hier nicht. Der Berliner Innense-nator Körting sieht keinen neuen organisierten Linksra-dikalismus. Er spricht von „radikalisierten Einzeltätern“.Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke,dem heute schon von mehreren Seiten des Hauses dasVertrauen ausgesprochen worden ist, stellt fest, dass derTerrorismus gezielte Anschläge auf Personen voraus-setze. Er verweist darauf, dass das hier nicht der Fall sei.Die Taten sind auch in der Szene schwer vermittelbar;das wurde heute hier schon gesagt. Auf den Internetsei-ten der linken Szene häufen sich Kommentare, die Dis-tanzierungen, ja sogar Beschimpfungen zum Inhalt ha-ben.Ich fasse zusammen: Die Taten sind nicht unter demBegriff „Terrorismus“ zu subsumieren. Selbst die linkeSzene spricht den Tätern die Glaubwürdigkeit ab.
Ich möchte jetzt zu den Taten selber kommen. Es han-delt sich um Brandanschläge auf Bahnanlagen. MeineHerren und Damen, die Infrastruktur gehört uns allen.Das heißt, diese Angriffe waren, anders als die Brand-anschläge auf Pkw, Angriffe auf die Allgemeinheit undsomit auf uns alle hier. Jetzt zitiere ich jemanden aus Ih-ren Reihen, aus der Regierungskoalition: Sie haben völ-lig richtig gesagt, dass die Täter weder links noch poli-tisch noch pazifistisch sind. Sie haben recht: Es sindkriminelle, radikalisierte Einzeltäter, denen man mit al-len zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mittelnbegegnen muss.
Doch was müsste die Bundesregierung nun in diesemFall tun? Verantwortungsvoll wäre es, ehrlich zu infor-mieren. Was tun Sie? Sie sind von einem ehrlichen La-gebild meilenweit entfernt. Dadurch rufen Sie Trittbrett-fahrer und Nachahmer hervor. Das, meine Herren undDamen, ist brandgefährlich.
Wir haben aber auch Chancen, die wir ergreifen müs-sen. Erstens haben wir die Chance, die Täter zu ermit-teln; wir haben gestern im Fachausschuss gehört, dassdas auf dem Wege ist. Zweitens müssen wir das ThemaBevölkerungsschutz angehen. Wir müssen uns inÜbungsszenarien dem Problem von Angriffen auf dieVerkehrsinfrastruktur widmen. Drittens müssen wir imFachausschuss mit dem Bundesamt für Bevölkerungs-schutz und Katastrophenhilfe bzw. mit seinem Leiter,dem Fachmann Christoph Unger, über Aufgaben, Struk-turen und Chancen des Amtes reden.
Würden Sie zum Schluss kommen, bitte?
Viertens müssen wir die Bevölkerung ehrlich infor-mieren und nicht, wie es die Regierung tut, Sprechblasenproduzieren; Sie tun das seit zwei Jahren. Reden könnenSie gut. Aber Reden ist Silber, verantwortungsvollesHandeln wäre Gold.Danke schön.
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15694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Kirsten Lühmann
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Vielen Dank, Frau Kollegin Kirsten Lühmann. – Jetzt
für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring.
Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKollegin Lühmann fordert hier ein ehrliches Lagebildein; ich will versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten.Zu einem ehrlichen Lagebild gehört dazu, dass – wieauch in der Rede soeben sowie in den Reden der Kolle-gin Jelpke und des Kollegen Wieland – ganz offensicht-lich ein Unterschied zwischen den Gewalttaten, die indieser Stadt von einem bestimmten politischen Spektrumausgehen, und anderen Gewalttaten in anderen TeilenDeutschlands gemacht wird. Eben wurde sogar der Ein-druck erweckt, die Anschläge gegen die Bahn seien ge-sellschaftlich mehr zu ächten als Anschläge gegen Fahr-zeuge.
Es ist ein Problem dieser Gesellschaft, dass hier solcheReden gehalten werden.
Zum ehrlichen Lagebild gehört dazu, dass der grüneAbgeordnete Benedikt Lux im Abgeordnetenhaus inBerlin sagt, das Abbrennen von Pkw in Berlin sei einKonjunkturprogramm der besonderen Art. Das gehörtzum Lagebild; das ist das Problem dieser Gesellschaft,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich sage ganz deutlich: Zum ehrlichen Lagebild ge-hört auch, geschätzter Kollege Wieland, dass Sie hier er-neut das Thema Extremismusklausel aufgegriffen haben.
Es ist für die drei Oppositionsfraktionen offensichtlicheine Unzumutbarkeit, dass diejenigen, die Mittel ausdem Bundeshaushalt empfangen wollen, ihre Zustim-mung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung er-klären. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, spricht inBezug auf Ihre Haltung Bände; das ist das Problem, mitdem wir es hier zu tun haben.
Die Deutsche Bahn ist ein Unternehmen, das demBund gehört. Die Infrastruktur, die angegriffen wurde– das hat die Kollegin Lühmann richtig festgestellt –, ge-hört dem Bund und wurde mit Steuermitteln errichtet.Das Unternehmen, das dem Bund gehört, hat bereits jetztmehr als eine halbe Million Euro in die Hand genom-men, um zusätzliche Abwehr- und Sicherheitsmaßnah-men zu ergreifen. Der Bund hat durch seine Sicherheits-behörden erheblichen Aufwand betreiben müssen. Klarist: Wenn es in diesem Haus keine deutliche Abgrenzungvon dieser Art von Gewalt gibt,
dann werden wir es nicht schaffen, 34 000 KilometerSchienennetz in Ordnung zu halten und zu schützen.Vielmehr würden wir signalisieren: Macht an andererStelle weiter! Wir als Koalition sagen: Wir wollen nicht,dass diese Gewalttaten verharmlost werden.
Die taz, die hier in Berlin erscheint, hat den Beken-nerbrief eine „stilistisch gelungene Abhandlung“ überdas Leiden am Kapitalismus genannt.
Einige Redner aus den Oppositionsfraktionen haben dasin Verbindung mit den Demonstrationen gegen das kapi-talistische System gebracht. Ich hätte mir schon ge-wünscht, dass auch einer von Ihnen sagt: In der sozialenMarktwirtschaft geht es den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern besser als in allen anderen wirtschaftlichenund politischen Systemen der Welt.
Das gehört zur Wahrheit dazu. Das sollte man auch hiereinmal benennen, anstatt den Eindruck zu erwecken, alsgehörte das alles irgendwie zusammen.
Das große Problem in dieser Auseinandersetzung ist,dass Sie ganz offensichtlich in Kauf nehmen, dass zu-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15695
Patrick Döring
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nächst Autos und dann Bahnanlagen brennen und dannspäter auch noch andere Dinge passieren.
Ich sage deutlich: Das ist der Grund, warum wir die Ak-tuelle Stunde für wichtig gehalten haben.Ja, diejenigen, die die Brandanschläge auf die Bahn-anlagen verübt haben, sind wirr. Sie sind wahrscheinlichviel weniger politisch, als wir vermuten. Wenn man denBrief liest, der sich gegen Leistungsdruck und Arbeits-zwang wendet und die Entschleunigung von Berlin for-dert, dann ist das an Unoriginalität und an Merkwürdig-keit kaum noch zu überbieten. In einem Punkt bin ichmir mit dem Kollegen Wieland allerdings einig: Solchein Geschwurbel hätte die RAF der deutschen Öffent-lichkeit wahrscheinlich erspart.
Es zeigt natürlich auch: Den Eindruck zu erwecken, dasalles seien irgendwelche Wirrköpfe, mit denen das poli-tische Spektrum, zumindest Teile der Linkspartei, aberauch Teile der Grünen, nichts zu tun hat, das ist diesesHauses nicht würdig.
Deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn wir in der Diskus-sion, in der es um Anschläge gegen Eisenbahnanlagen,gegen Fahrzeuge und gegen Infrastrukturen geht,
deutlich machen, dass wir in diesem Haus dies verurtei-len. Dies verlangen wir in ganz besonderer Weise von al-len, die hier auf demokratischer Grundlage ihrer Arbeitnachkommen. Ich jedenfalls hoffe sehr, dass die Telefon-nummern, die zur Lossagung von der linksextremisti-schen Szene dienen sollen, nicht in die Kreisgeschäfts-stellen der Linkspartei und der Grünen führen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. – Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Swen
Schulz. Bitte schön, Kollege Swen Schulz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol-lege Döring, ich weiß nicht, was diese Art von Scharf-macherei hier soll.
Um es klar zu sagen: Es gibt kein Motiv, keine Begrün-dung für die Rechtfertigung solcher Taten. Sie sind kri-minell und gemeingefährlich. Wir verurteilen solche An-schläge, egal ob auf Bahngleise oder auf Autos, egal obvon rechts oder von links; da gibt es kein Vertun.
Es handelt sich nicht „nur“ um Gewalt gegen Sachen.Was hätte denn passieren können, wenn Signalanlagenausgeschaltet werden, wenn die Kommunikation gestörtwird? Es war großes Glück, dass kein Mensch zu Scha-den kam. An dieser Stelle ein herzlicher Dank an alleMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn und an dieSicherheitskräfte, die so umsichtig agiert und Schlimme-res verhindert haben! Ich glaube, das sollte man hier be-tonen.
Nun gibt es die Diskussion, ob es sich dabei um Ter-rorismus handelt oder nicht. Zunächst einmal ist festzu-stellen: Es ist zweitrangig, wie wir das nennen, vor allemden Bürgerinnen und Bürgern ist es völlig egal. Sie wol-len zu Recht, dass wir alles Mögliche dafür tun, dass dieSicherheit gewährleistet ist. Das ist doch das Entschei-dende.
Man muss trotzdem einmal fragen, was hinter dieserBegriffsdebatte steckt. Zunächst einmal an Sie, HerrKollege Döring: Auf der einen Seite ist vollkommenklar, dass solche Taten nicht verharmlost werden dürfennach dem Motto: Die wollten ja keine Menschen gefähr-den, und die Ziele sind doch möglicherweise richtig.
– Regen Sie sich doch nicht auf!
Ich bin doch vollkommen Ihrer Meinung. – Eine solcheRhetorik wäre der vollkommen falsche Weg. Wir dürfensolchen Leuten, solchen Ideologien keinen MillimeterSpielraum lassen.
Da darf es keine Missverständnisse geben.
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15696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Swen Schulz
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Auf der anderen Seite dürfen wir solche Anschlägesozusagen nicht hochreden. Viele aus der Koalitionkommen mit gewaltigen Begriffen wie „Terrorismus“und „RAF“. Der Kollege Luczak beispielsweise spielthier den starken Mann und will aus dieser Situation ganzoffensichtlich politisches Kapital schlagen.
Das ist der falsche Weg. Mit Hysterie helfen Sie nieman-dem. Im Gegenteil: Sie müssen sich fragen, ob Sie dasSpiel der Extremisten nicht sogar ein Stück weit mitspie-len. Das geht so nicht.
Gucken wir uns das Ganze einmal an: Der Bundes-innenminister hat in seiner ersten Stellungnahme über-haupt nicht von Terrorismus geredet. Erst später, als ergehört hat, dass viele aus der CDU/CSU-Fraktion vonTerrorismus gesprochen haben, hat er in einem Interviewrhetorisch ein bisschen aufgemuskelt. Aber auch bei derTitelgebung dieser Aktuellen Stunde ist von Terrorismuswieder nicht die Rede. Ich nehme es einmal als hoff-nungsvolles Zeichen, dass vielen von Ihnen von der Re-gierungskoalition bei den Geistern, die Sie da herbeiru-fen, selbst nicht ganz wohl ist.Es kommt darauf an, dass wir klar, realistisch undnüchtern analysieren und dann die Gewalttaten konse-quent bekämpfen, und zwar ohne Verharmlosung undohne Übertreibung. Das ist der sachlich richtige Weg.
Die entschiedene öffentliche Stellungnahme ist dieerste Maßnahme, wenn man so will, zur Bekämpfungsolcher Gewalttaten. Die zweite Maßnahme setzt dannbei den Sicherheitsbehörden und in diesem Fall auch beider Bahn an. Es muss dann näher besprochen werden, in-wiefern etwa eine Videoüberwachung oder die Einzäu-nung von Anlagen sinnvoll sind.Natürlich stellt sich auch die Frage nach der Personal-ausstattung der Sicherheitskräfte und der Polizei. In die-sem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dassdie Bundespolizei gerade in Berlin und im Berliner Um-land in den letzten Jahren im Bereich der Bahn sehr aus-gedünnt wurde. Sie ist unterbesetzt. Die CDU und dieFDP – Herr Luczak jetzt wieder – kritisieren ja immer,dass der rot-rote Senat zu wenig Polizei zur Verfügungstelle. Ich denke, Sie sollten den Mund nicht zu voll neh-men, sondern vor der eigenen Haustür kehren und hierim Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass die Bundes-polizei ordentlich ausgestattet ist.
Bei alledem müssen wir auch an Folgendes erinnern:Es ist klar, dass man Gewalt letztendlich nicht ausschlie-ßen kann. Bei allem Engagement, bei allem, was wir daeinsetzen: Totale Sicherheit gäbe es vielleicht nur in ei-nem totalen Staat, und den wollen wir alle wohl nicht.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Swen Schulz. – Der nächste
Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Enak
Ferlemann für die Bundesregierung. Bitte schön, Kol-
lege Enak Ferlemann.
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Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Die Vorfälle rund um die Brand-anschläge auf Gleisanlagen sind Thema im Verkehrsaus-schuss des Deutschen Bundestages gewesen und, FrauKollegin Lühmann, auf Wunsch aller Fraktionen dort be-handelt worden. Grundlage der Diskussion war ein Be-richt unseres Hauses zu den derzeitigen Sachständen indiesem Zusammenhang.Zunächst vielleicht etwas zu den Daten, um ein biss-chen zur Versachlichung der Diskussion beizutragen.Wir haben in Deutschland ein Eisenbahnnetz von etwa34 000 Kilometern, das man schlechterdings nicht, wievon manchen vorgeschlagen, durch Zäune schützenkann. Allein die DB AG transportiert etwa 5,3 MillionenFahrgäste pro Tag und knapp unter 2 Milliarden Fahr-gäste pro Jahr. Pro Tag sind 26 700 Züge im Personen-nah- und -fernverkehr und etwa 5 100 Güterzüge im Ein-satz. Man kann daran sehen, wie kompliziert, aber auchwie bedeutsam das System Schiene für unsere Volks-wirtschaft ist. Von den Auswirkungen der Anschlägewaren mehr als 2 600 Züge betroffen. Dadurch ergabensich über 70 000 Verspätungsminuten.Das macht deutlich, dass das, was mein Bundesminis-ter, Dr. Peter Ramsauer, ausgeführt hat – er hat gesagt,dass wir es mit einer neuen Dimension zu tun haben –,durchaus seine Berechtigung hat. Das hatten wir in die-ser Art und Weise bisher noch nicht.
Es handelt sich um eine Art der politischen Auseinander-setzung, die wir in Deutschland bisher so nicht kannten.Deswegen darf man allen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern der DB AG und den Sicherheitskräften sehr dankbarsein, dass sie dafür gesorgt haben, dass nicht mehr pas-siert ist und der Schaden in Grenzen gehalten werdenkonnte. Gleichwohl werden wir uns auf diese neue Situa-tion einstellen müssen. Ich denke an gezielte Aktionen,die Verstärkung der Kräfte oder andere Maßnahmen.Es bleibt aber die Sorge, dass sogenannte Nachah-mungsaktionen folgen. Eine haben wir schon gehabt, inNiedersachsen. Dort hat man Ähnliches getan. Auch dortkonnten sehr umsichtige Mitarbeiter der DB AG denSchaden eingrenzen. Das Problem dürfte damit abernoch nicht behoben sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15697
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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Deswegen ist es wichtig, dass wir uns immer wiederbewusst machen, dass bei solchen Anschlägen bewusstMenschenleben in Gefahr gebracht werden, dass auchUnglücke provoziert werden. Stellen Sie sich einmal vor,ein mit schwerem Material beladener Güterzug entgleistdurch eine solche Aktion und verursacht einen schwerenUnfall. Reisende wie auch die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter werden bewusst gefährdet. Deswegen verur-teilen wir als Verkehrsressort diese Aktionen aufsSchärfste. Das sind menschenverachtende Aktionen, unddie sind durch nichts zu entschuldigen.
Auch mit linker Ideologie sind sie nicht zu begründen.Anschläge auf die Infrastruktur – darum handelt es sichhier – betreffen immer die gesamte Gesellschaft, weildie Schäden nicht nur Berlin oder den Großraum Berlintreffen. Aufgrund der Verkettung und Verknotung desBahnsystems sind die Folgen vielmehr in ganz Deutsch-land spürbar. Deshalb ist es eine gesellschaftliche Auf-gabe, dem Einhalt zu bieten.Genau deswegen sind Diskussionen darüber, was gehtund was nicht, gefährlich. Ich kenne Kolleginnen undKollegen von der Linken, die das sogenannte Schotternim Rahmen von Castortransporten gut finden. Auch da-bei geht es um die Infrastruktur. Da wird so getan, alswäre das Schottern geradezu eine gute Tat. Dadurchwird das gesellschaftliche Klima beeinflusst. Aus die-sem Umfeld heraus erfolgen solche Taten. Das resultiertdaraus.
Man muss aufpassen, weil in dieser Szene alles mitei-nander vermischt wird, das angeblich gesellschaftlichgewünschte, „gute“ Schottern und das vermeintlich ge-ächtete Verüben eines Anschlags in Berlin. Nein, das ge-hört zusammen. Deshalb müssen wir uns von diesenDingen klar distanzieren.Gleichwohl: Da wir auf diese Situation vorbereitetsind, können die Menschen die Verkehrsmittel inDeutschland benutzen. In Deutschland kann man gutenGewissens die Straße sowie die Schienen-, Luft- undWasserwege nutzen, dank der vielen guten und fleißigenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsdiensteund dank der vielen guten und fleißigen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Enak Ferlemann. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal möchte ichfesthalten: Es ist richtig und gut – das sage ich insbeson-dere an Ihre Adresse, Frau Kollegin Lühmann –, dassdiese Aktuelle Stunde stattfindet. Manche Beiträge von-seiten der Opposition bestärken mich in der Annahme,dass es richtig war, diese Aktuelle Stunde zu beantragen.
Die Brandanschläge in Berlin und in Brandenburg inder vergangenen Woche waren schwerwiegende, heimtü-ckische, feige und widerwärtige Straftaten. Sie waren einAngriff auf das Gemeinwohl und auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Ich möchte betonen:Glücklichen Umständen, insbesondere der Tatsache, dasses in der betreffenden Nacht geregnet hat, ist es zu ver-danken, dass kein Personenschaden entstanden ist. Derverursachte Schaden – auch das möchte ich betonen –war aber durchaus immens: Insgesamt waren mehr als2 600 Züge von den Anschlägen betroffen. 150 Züge sindsogar komplett ausgefallen. Insgesamt gab es ungefähr70 000 Verspätungsminuten. Zehntausende Pendler sindin diesen vier Tagen zu spät zum Arbeitsplatz, zurSchule, zum Kindergarten und zu spät zu privaten oderberuflichen Verpflichtungen gekommen. Deshalb ist es,werter Herr Kollege Gunkel, keine Dramatisierung, wennwir darauf hinweisen, dass es einer deutlichen Distanzie-rung des gesamten Hauses von derartigen, extremisti-schen Straftaten bedarf.Ich bin mir auch sicher – das sage ich ganz offen –,dass die Betroffenen keinerlei Verständnis dafür haben,dass wir hier eine akademische Diskussion darüber füh-ren, ob es sich nun um extremistische oder um terroristi-sche Straftaten gehandelt hat. Ich bin mir sicher, dass esjemandem, der in einem der betreffenden Züge saß oderdamit fahren wollte, vollkommen egal ist, ob er nun vonlinkem Extremismus oder von linkem Terrorismus be-troffen ist.
Der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinwei-sen, dass es der Gesetzesänderung durch Rot-Grün imJahr 2003 zu „verdanken“ ist – § 129 a Abs. 2 des Straf-gesetzbuches wurde dahin gehend verändert –, dasssolch eine Straftat nun nicht mehr als Straftat einer terro-ristischen Organisation zu verfolgen ist. Hier ist durch-aus eine akademische und rechtspolitische Debatte zuführen, ob diese Gesetzesänderung, die von Ihnen 2003vorgenommen wurde, richtig ist.Abgesehen von dieser akademischen Debatte müssenwir uns dem Problem von Grund auf zuwenden. Ichhalte es für schockierend und – das sage ich ganz offen –für unerträglich, dass manche Politiker, insbesondereSie, Frau Kollegin Jelpke, diese Anschläge und vor al-lem die Motive der Gruppe sogar noch verharmlost ha-ben, indem Sie gesagt haben, dass Sie durchaus der Mei-nung seien, dass die Ziele, die diese Gruppe verfolge,richtig seien. Das ist aus meiner Sicht eine unfassbareund unhaltbare Aussage. Ich erwarte hier von Ihnen eineganz eindeutige Distanzierung von diesen widerwärtigenStraftaten.
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15698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Stephan Mayer
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Es darf kein Verständnis, keine Rechtfertigung und keinewie auch immer geartete, vielleicht sogar subtile Be-gründung für derartige Straftaten geben.Ich muss auch ganz deutlich sagen: Die Ankündigungder Gruppe „Hekla“, dass man Berlin in einen Pausen-modus versetzen wolle, ist an Zynismus und Verhöh-nung nicht mehr zu übertreffen. Eines ist klar: DieseBrandanschläge waren kein Dummejungenstreich. DerUmstand, dass 18 Brandsätze angebracht wurden, bau-gleich waren und sogar zur gleichen Zeit detonierensollten, lässt den Schluss zu, dass in der betreffendenGruppe ein durchaus hoher Organisationsgrad vorhan-den ist. Es ist unmissverständlich festzuhalten, dass sichinsbesondere die linksextremistische Szene in Berlinstärker konzertiert hat und auch eine stärkere strukturelleBindung in dieser Gruppe vorhanden ist.Heute wurde schon darauf hingewiesen: Es gab in dervergangenen Woche zwei Vorfälle. Der eine Vorfall warder angebliche Skandal um den Staatstrojaner, über densich die ganze Republik echauffiert hat. Ich möchte klar-stellen: Sowohl in der gestrigen Debatte im Innenaus-schuss als auch in der Aktuellen Stunde gestern hat sichgezeigt, dass dies alles heiße Luft ist.
Es wurde klargestellt, dass an den Vorwürfen nichts dranist. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich auch nur einPolizeibeamter strafrechtlich oder disziplinarrechtlich zuverantworten hat.
Der andere Vorfall – dessen Bedeutung war meines Er-achtens leider niederschwelliger – waren die Brandan-schläge in Berlin. Ich möchte noch einmal deutlich ma-chen: Diese Brandanschläge haben insbesondere bei derDB AG ganz konkret Schaden, Millionenschaden verur-sacht und, wie schon erwähnt, Zehntausende Pendlerund Fernreisende unmittelbar in ihren Persönlichkeits-rechten betroffen.Es ist in aller Deutlichkeit festzuhalten, dass es inDeutschland einen erheblichen Anstieg der linksextre-mistisch motivierten Gewalt gibt. Frau KolleginLühmann, Sie haben auf das Jahr 2010 abgehoben. Ichmöchte das Lagebild des ersten Quartals 2011 erwähnen:Es gibt einen deutlichen Anstieg der Zahl der Straftatenim Vergleich zum ersten Quartal 2010, nämlich um39 Prozent, und einen Anstieg der Zahl der linksextre-mistisch motivierten Gewalttaten im Vergleich zum Vor-quartal sogar um 68 Prozent.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Dies zeigt ganz klar: Es gibt einen deutlichen Anstieg
der Gefahren, die uns aus dem Bereich des Linksextre-
mismus drohen. Dieses Problems müssen wir uns be-
hende, stringent und deutlich annehmen. Deswegen er-
warte ich von diesem Haus ohne Wenn und Aber eine
ganz klare und unmissverständliche Distanzierung von
diesen unsäglichen und unmöglichen Straftaten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Jetzt der
letzte Redner unserer Aktuellen Stunde, Kollege Armin
Schuster für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn derGeneralbundesanwalt anlässlich der jüngsten Brandan-schlagsserie ein Ermittlungsverfahren wegen des Ver-dachts der verfassungsfeindlichen Sabotage einleitet,dann ist das meines Erachtens Anlass genug, im Deut-schen Bundestag wohltemperiert – Herr Schulz, da ha-ben Sie recht – eine politische Bewertung hierzu abzuge-ben. Es ist auch Anlass genug für eine Bewertung desUmgangs mit politisch motivierten Straftaten, in diesemFall mit Straftaten aus der linken Ecke unserer Gesell-schaft.Durch die 18 Brandvorrichtungen – es heißt übrigens„unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen“,Frau Jelpke; das heißt aber nicht, dass sie dilettantischsind – sind bisher keine Personen zu Schaden gekom-men. Diese Angriffe zielten ganz offensichtlich zunächstauf die Infrastruktur. Die Täter wollten Teile unserer Ge-sellschaft lahmlegen und uns zu einer Verhaltensände-rung zwingen.Meine Damen und Herren, ein Angriff auf die Infra-struktur ist schon heute – erst recht allerdings in der Zu-kunft – die Sicherheitsbedrohung schlechthin für eine mo-derne Gesellschaft. Nirgendwo sind wir verletzlicher alsbei der Infrastruktur. Kommunikationsnetze, Energielei-tungen und Verkehrswege werden immer mehr zu Haupt-schlagadern, die sehr verletzlich sind. Die 34 000 Kilo-meter Bahnnetz sind dafür ein Beleg. Hier kann mitbegrenztem Mittelaufwand ein sehr großer Schaden ange-richtet werden. Die Gefahr für die Täter, auf frischer Tatertappt zu werden, ist zunächst gering.
Wir müssen schon aus sicherheitsstrategischen Grün-den mit größter Entschiedenheit gegen die Täter vorge-hen. Es muss auch für die Zukunft jedem klar sein, dassder Staat hier bei niedrigster Einschreitschwelle null To-leranz walten lassen wird. In diesem Sinne werden dieStrafverfolgungsbehörden ihre Arbeit tun. Ich bin zuver-sichtlich, dass sie die Zusammenhänge in diesem Fallaufklären werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15699
Armin Schuster
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Das ist für mich im Moment das wichtigste Signal undnicht das Führen einer politischen Diskussion über Ter-rorismus etc.
Was mir darüber hinaus politisch Sorge bereitet, istder schon seit längerem festzustellende zuweilen leicht-fertige Umgang einiger Politiker und Medienvertretermit dem Thema „linke Gewalt“.
Ich warne hier vor einem rhetorischen Dammbruch. Wirdürfen linke Gewalt nicht verharmlosen oder gar recht-fertigen. Politisch motivierte Verbrechen sind Verbre-chen – Punkt. Gewalt gegen Menschen oder Sachen wer-den wir nicht tolerieren.Gewalt gegen Sachen, wie in Berlin, ist leider oft dieVorstufe von Gewalt gegen Personen. Dass die Zahllinksextremistischer Gewalttaten ansteigt – 2010 war nureine kleine Delle zu verzeichnen; die Zahl steigt wiederstark an –, muss ich nicht wiederholen. Hier muss einewehrhafte Demokratie wachsam bleiben. Sie muss Ver-fassungsfeinde von rechts wie von links ohne Unter-schied bekämpfen. Doch auf dem linken Auge scheineneinige blind zu sein oder zumindest Sehstörungen zu ha-ben; denken wir nur an die Übergriffe Autonomer aufPolizisten im Februar dieses Jahres in Sachsen.Dass es sogar Parlamentarier gibt, die das Durchbre-chen von Polizeiketten als „Durchfließen“ rhetorischverniedlichen, muss einem doch zu denken geben. KeinPolitiker darf linke oder gar linksextremistische Gewalt,ob vorsätzlich oder unbedacht, rhetorisch wieder salon-fähig machen. Wer zum Beispiel jahrelang eine Sicher-heitspolitik wie Rot-Rot in Berlin macht, sollte sichnicht wundern, wenn ihm dieses Problem in zunehmen-dem Maße auf die Füße fällt. Man hatte allzu lange denEindruck, dass Hausbesetzer und brennende Autos hierein Teil der Lokalfolklore sind.
Ich bin dankbar, dass die SPD eine sehr richtige Ent-scheidung getroffen und bei Ihnen ein Umdenken einge-setzt hat. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die neue rot-schwarze Landesregierung die Fehler der Vergangenheitkorrigieren und dem Thema Sicherheit in dieser Stadtein neues Gesicht geben wird.
Ich muss das jetzt sagen, Herr Gunkel: Sie haben sogarschon angefangen. Ich finde es zwar nicht gut, dass dieCDU daran nicht beteiligt ist, aber die Sache mit demneuen Polizeipräsidenten lässt einiges erwarten.Ein Gedanke zum Abschluss. In der SüddeutschenZeitung wurde diese Woche kommentiert, die Politik be-handle das Thema „innere Sicherheit“ stiefmütterlich.Ich kann diese Einschätzung zum Teil nachvollziehen.Wir dürfen dieses Feld nicht den Talkshows überlassen.
Hier ist der Ort, an dem wir fachlich über innere Sicher-heit debattieren sollten. In dieser Woche tun wir dies be-reits zum zweiten Mal. Das macht mir keine Sorge, son-dern ermutigt mich. Gerne würde ich dies künftighäufiger zu solch prominenter Zeit tun, auch dann, wennes vorher kein mediales Vorkommnis gegeben hat.
Mein Fazit: Das war eine gute Woche für die Innen-politik in Deutschland und für den Deutschen Bundes-tag.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. Sie waren derletzte Redner in unserer Aktuellen Stunde.
– Ja, genau. Das war eine Punktlandung. Wir sind Ihnensehr dankbar, dass Sie Ihre Rede auf die Sekunde genaubeendet haben.Die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf– Drucksache 17/6000 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/7387 –Berichterstattung:Abgeordnete Erwin RüddelPetra CroneMiriam GrußHeidrun DittrichKatja Dörner
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Vizepräsident Eduard Oswald
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– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/7388 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas MattfeldtRolf SchwanitzFlorian ToncarSteffen BockhahnSven-Christian Kindlerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten KathrinSenger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEBezahlte Pflegezeit einführen – Organisationder Pflege sicherstellen– zu dem Antrag der Abgeordneten ElisabethScharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVereinbarkeit von Pflege, Familie und Berufverbessern – Pflegende Bezugspersonen wirk-sam entlasten und unterstützen– Drucksachen 17/1754, 17/1434, 17/7391 –Berichterstattung:Abgeordneter Willi ZylajewZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemokratenvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie allesind damit einverstanden. Dann ist das auch so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erstes hat in unsererDebatte Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder fürdie Bundesregierung das Wort. Bitte schön, Frau Bun-desministerin.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImJanuar 2010 habe ich hier im Deutschen Bundestagmeine erste Rede als Bundesfamilienministerin gehalten.Ich habe damals angekündigt, dass ich ein lange ver-nachlässigtes Problem aufgreifen will, nämlich die Ver-einbarkeit von Pflege und Beruf.
Dieses Versprechen habe ich gehalten.
Wir verabschieden heute ein Gesetz, das vielen pfle-genden Angehörigen helfen wird. Mit der Einführungder Familienpflegezeit können sich Menschen Zeit fürPflege nehmen, ohne allzu große finanzielle Einbußenhinnehmen und ohne Angst haben zu müssen, ihren Ar-beitsplatz zu verlieren. Das ist ein innovatives Modell,das die Bürgerinnen und Bürger entlastet, ohne unseresozialen Sicherungssysteme zusätzlich zu belasten.Wir setzen damit auf Hilfe zur Selbsthilfe statt aufneue Schulden zulasten künftiger Generationen.
Durch genau diese Schuldenpolitik ist der Sozialstaat indie Krise geraten. Deswegen brauchen wir neue Wege,um ihn zukunftsfähig zu machen. Die Familienpflegezeitist ein solcher Weg, um Menschen Zeit für Verantwor-tung zu geben.Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, ein realistischesund an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes Kon-zept zu entwickeln. Auch durch die parlamentarischenBeratungen der letzten Wochen konnten wir noch einigewichtige Punkte in den Gesetzentwurf aufnehmen, zumBeispiel auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Versi-cherung. Auch hier ganz herzlichen Dank für die guteZusammenarbeit.
Die Anstrengungen haben sich gelohnt. Mittlerweilehaben die ersten Unternehmen schon angekündigt, dasssie die Familienpflegezeit zum 1. Januar 2012 einführenwollen. Die Deutsche Telekom wird dies tun, die Deut-sche Post wird dies tun, der Automobilzulieferer Conti-nental wird dies tun, Airbus Deutschland wird dies tun,und der Stahlhersteller Georgsmarienhütte sowie derPharmakonzern Roche haben die Familienpflegezeit be-reits eingeführt.
Es sind aber keineswegs nur die großen Unterneh-men, die die Chancen erkannt haben, die mit der Famili-enpflegezeit verbunden sind. Gehen Sie doch einmal inmittelständische Unternehmen, die händeringend nachFachkräften suchen. Dort werden Sie genauso wie ich zuhören bekommen, dass das Thema „Vereinbarkeit vonPflege und Beruf“ längst im Unternehmensalltag ange-kommen ist.Viele Unternehmen wollen ihre Beschäftigten dabeiunterstützen, die Pflege der kranken Mutter sicherzustel-len. Man muss sie nicht dazu zwingen. Was sie brau-chen, sind praxistaugliche Instrumente, die wir ihnen andie Hand geben müssen, und zwar aus einem ganzschlichten Grund: Es ist kostengünstiger, die Familien-
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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pflegezeit anzubieten, als erfahrene, gut ausgebildeteMitarbeiter gehen lassen zu müssen.Deshalb bin ich überzeugt: Der Erfolg wird Unionund FDP recht geben. Mit der Familienpflegezeit lassenwir die Menschen, die ihren Angehörigen einen würdi-gen Lebensabend schenken wollen, nicht im Stich.
Meine Damen und Herren, als ich das erste Mal dieIdee der Familienpflegezeit vorgestellt habe, hieß es, derFamilienpflegezeit läge ein veraltetes Familienbild zu-grunde. Ein veraltetes Familienbild! Die Kritiker habendamit auch offenbart, was sie unter einem „modernenFamilienbild“ verstehen: Das, was pflegende Angehö-rige wirklich bräuchten, sei, dass man sie zwei oder dreiMonate von der Berufstätigkeit freistelle, damit sie indieser Zeit die Pflege organisieren könnten. Das war bei-spielsweise ein Vorschlag von Frau Künast, den sie imMai letzten Jahres verbreitet hat.Was heißt das denn? Das heißt, dass in der Welt vonFrau Künast Pflege etwas ist, das nicht mehr zu Hausestattfindet, sondern was in zwei oder drei Monaten weg-organisiert wird, damit man danach wieder ungestört sei-ner Berufstätigkeit nachgehen kann.
Das ist kein modernes Familienbild, sondern das ist einfamilienfernes Menschenbild.
Diese Menschen, die zu Hause pflegen und die das oftbis an den Rand ihrer physischen und psychischen Leis-tungsfähigkeit tun,
die das sicher auch aus Pflichtgefühl tun, die das vor al-len Dingen aber aus Liebe tun, können nichts wenigergebrauchen, als dass wir ihnen ein veraltetes Familien-bild attestieren.
Eine große Mehrheit in diesem Land – das wissen wiraus Umfragen – will sich um die Pflege ihrer Angehöri-gen kümmern. Sogar 65 Prozent der Berufstätigen sagen,dass sie das tun wollen. Fast alle alten Menschen wün-schen sich, in ihrer vertrauten Umgebung bleiben zukönnen, in der sie meistens auf Hilfe angewiesen sind.Genau das ist doch der familiäre Zusammenhalt, den wiruns für unsere Gesellschaft wünschen: Menschen, diesich aufeinander verlassen, Menschen, die füreinanderVerantwortung übernehmen. Mit der Familienpflegezeitwird die Familie als Verantwortungsgemeinschaft unter-stützt.
Das unterscheidet Union und FDP von Rot-Rot-Grün.
Gleichzeitig wird mit der Familienpflegezeit auch da-für gesorgt, dass sich auch mehr Männer in der Pflegeengagieren, denn die Familienpflegezeit ist auf Vollzeit-berufstätige zugeschnitten. Vollzeitberufstätige sind indieser Altersgruppe nun einmal mehrheitlich Männer.Wir alle kennen Menschen, die zu Hause die hochbe-tagte Mutter, den vom Schlaganfall gezeichneten Vaterpflegen. Wir alle wissen, dass diese Menschen das ausLiebe und Dankbarkeit tun. Wir wissen, dass sie das oftbis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit tun. Wir wissenauch, dass die meisten dieser Menschen berufstätig sind,dass sie auf ihr Einkommen angewiesen sind und dasses, wenn sie mit Mitte oder Ende 50 aus dem Beruf aus-steigen, der sichere Weg in Arbeitslosigkeit und oft auchin Altersarmut ist. Weil wir das wissen, unterstützen wirpflegende Angehörige ab dem 1. Januar 2012 mit der Fa-milienpflegezeit.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Petra Crone für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir be-sprechen heute ein wirklich wichtiges Thema, einThema, das ganz vielen Menschen unter den Nägelnbrennt und das sicherlich in der Zukunft immer wichti-ger wird: Wie ist es zu schaffen, einen pflegebedürftigenAngehörigen, Freund oder Nachbarn zu betreuen undtrotzdem im Beruf zu bleiben? Eines ist klar: Wir dürfendie Menschen mit ihren oft akuten Problemen nicht al-leine lassen.
Frau Ministerin Schröder, Sie haben einen Gesetzent-wurf vorgelegt, mit dem die Vereinbarkeit von Pflegeund Beruf erleichtert werden soll. Doch dieser Gesetz-entwurf erfüllt diesen Anspruch nicht.
Er ist leider reine Makulatur; denn es fehlt der Rechtsan-spruch. Mit anderen Worten: Arbeitgeber können, müs-sen aber die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nichtunterstützen.
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Petra Crone
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Wofür dann dieser Gesetzentwurf? Wissen Sie nicht,Frau Schröder, dass es bereits viele freiwillige Vereinba-rungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt,
und zwar flexibel und für alle Seiten passend? Allein inmeinem Wahlkreis, im Sauerland, wollen eine Mengeder mittelständischen Familienunternehmen unbedingtihre Fachkräfte halten. Dafür wird einiges getan.Hier zwei Beispiele: Ich war letzte Woche zur Ein-weihung eines Betriebskindergartens eingeladen, undauf Wunsch einiger Unternehmen berät die Caritas dieBelegschaft in den Unternehmen in Fällen von Engpäs-sen bei der Pflege und Betreuung. Daraus ergeben sichhäufig Möglichkeiten und Absprachen, Pflege und Berufzu vereinbaren. Diese Unternehmen wissen, dass sichdas lohnt.Aber andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerhaben diese Möglichkeit nicht. Für die wollen wir, willdie SPD-Bundestagsfraktion das Pflegezeitgesetz wei-terentwickeln. Wir wollen pflegenden Angehörigen oderanderen nahestehenden Personen ein passgenaues, fle-xibles Instrument bieten, und zwar ein Budget von 1 000Stunden, die flexibel eingesetzt werden können – dasentspricht ungefähr sechs Monaten – und die mit einervon der Allgemeinheit getragenen Lohnersatzleistungversehen sind.
Dazu besteht wie bisher die Möglichkeit, kurzzeitig einezehntägige Auszeit zur Organisation von Pflege zu neh-men – die allerdings bezahlt analog dem Kinderkranken-geld. Denn wir betrachten Pflege und Betreuung als ge-samtgesellschaftliche Herausforderung, für deren Be-wältigung wir alle stehen. Wir betrachten sie nicht alsAuszeit nach dem Goodwill des Chefs auf eigenes Ri-siko.Frau Ministerin, zu dem von Ihnen vorgelegten Ge-setzentwurf gab es in unserem Ausschuss eine Experten-anhörung. Dort ist unsere grundsätzliche Kritik absolutbestätigt worden.
Der Gesetzentwurf ist nicht ausgereift. Die Verbindlich-keiten fehlen. Er ist viel zu starr.Ihnen fehlt leider ein Gesamtkonzept für die Verein-barkeit von Pflege und Beruf. Kein Wunder, denn diedringend notwendige Pflegereform wurde von Ihrer Re-gierung vom Sommer in den Herbst, dann in den Winterund letztlich auf das Frühjahr verschoben. Aber dieserSkandal soll an anderer Stelle diskutiert werden.
Stattdessen verlieren Sie sich in Ihrem Gesetzentwurfin versicherungsrechtlichen Detailfragen. Da zitiere icheinmal aus dem Begründungsteil:Leistungsausschlüsse oder Leistungseinschränkun-gen darf die Familienpflegezeitversicherung … fürsolche Krankheiten enthalten, für die auch die ge-setzliche Krankenversicherung Leistungsbeschrän-kungen bei Selbstverschulden vorsieht. … eine Tä-towierung oder ein Piercing …Also, die dürfen sich nicht versichern. Interessant!Der Personenkreis, sieht man von den Tätowiertenund Gepiercten ab, den Sie vorsehen, ist viel zu eng ge-fasst und überhaupt nicht mehr zeitgemäß.
– Nein, aber die Frau Ministerin leider!Man kann nicht mehr nur vom Personenkreis der „na-hen Angehörigen“ sprechen. Wie viele Nachbarn undFreunde übernehmen schon heute Verantwortung fürpflegebedürftige Menschen, weil keine Angehörigenmehr vor Ort wohnen oder es schlicht keine gibt!Die meisten Pflege- und Betreuungspersonen sindFrauen. Kaum haben sie die Hürde der Vereinbarkeit vonKindererziehung und Beruf gemeistert, stehen sie vorder nächsten, der der Vereinbarkeit von Pflege und Be-ruf. Und dann droht ihnen noch die Pflegefalle: Teilzeit-arbeitende, Alleinverdienende und Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen – es sindmeistens Frauen – werden eine jahrelange Reduzierungihres Gehaltes kaum in Anspruch nehmen können.Ich hätte mir zudem eine Aussage dazu gewünscht,Frau Ministerin, wie das Ungleichgewicht zwischenMännern und Frauen in der Pflege und in der Betreuungverringert werden kann. Das eben hat mir nicht ausge-reicht. Wo sind die Anreize? Wo sind sie sinnvoll? Wiekönnen Männer gezielt angesprochen werden?Neben alldem steht leider auch die professionellePflege nicht im Fokus des Gesetzentwurfs. Dabei kommtihr eine Schlüsselrolle bei der Vereinbarkeit von Pflegeund Beruf zu. Nur im Zusammenspiel von Betreuungund Pflege durch nahestehende Personen mit professio-nellen Diensten wird eine ganzheitliche und gesundePflegesituation sichergestellt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!2,4 Millionen Menschen sind in Deutschland zurzeit aufPflege angewiesen. Mehr als 1,6 Millionen Frauen undMänner werden zu Hause versorgt. Laut Umfragen wol-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15703
Nicole Bracht-Bendt
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len 91 Prozent aller Berufstätigen für ihre kranken oderalten Angehörigen da sein. Pflege und Beruf in Einklangzu bringen, ist allerdings für viele häufig mit großenSchwierigkeiten verbunden. Dabei nimmt die Zahl derPflegebedürftigen ständig zu.In wenigen Jahren ist die Wahrscheinlichkeit größer,einen über 80-Jährigen zu treffen als einen jungen Vateroder eine junge Mutter mit einem Kinderwagen. 2009lag der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevöl-kerung bei 21 Prozent. 2030 werden es bereits 29 Pro-zent und 2060 voraussichtlich 34 Prozent sein.Alt sein muss nicht unbedingt ein großes Handicapsein. Problematisch wird es aber angesichts des drama-tisch ansteigenden Anteils an pflegebedürftigen Hochbe-tagten. 2009 betrug der Anteil der über 90-Jährigenschon 59 Prozent. Deshalb müssen wir etwas tun.Die Politik hat in den vergangenen Jahren viel für dieBetreuung von Kindern geleistet. Jetzt ist es Zeit, sichauf die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur ein-zustellen.
Mit der Familienpflegezeit hat die Koalition geliefert.Von dem zeitgemäßen Konzept profitieren alle. Ich wie-derhole: alle. Die Arbeitgeber profitieren, weil ihnen dieMitarbeiter erhalten bleiben. Das ist in Zeiten des Fach-kräftemangels ein sehr wichtiger Aspekt. Damit ist dasGesetz ein Beitrag, um Arbeitnehmer langfristig an denBetrieb zu binden. Die Arbeitnehmer profitieren, weilsie im Beruf bleiben können und den Anschluss nichtverlieren. Die Pflegebedürftigen profitieren, weil sie inihrer gewohnten Umgebung bleiben, was wir alle wün-schen. Für die Angehörigen schaffen wir die Möglich-keit, schwer erkrankte Verwandte zu pflegen und dafürdie Berufstätigkeit auf 50 Prozent zu reduzieren, wäh-rend die finanziellen Einbußen moderat bleiben.Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf löstnicht alle durch die demografische Entwicklung beste-henden Herausforderungen auf einen Schlag.
Er ist aber ein zentraler Beitrag für die Vereinbarung vonPflege und Beruf.
In unserer Anhörung im Familienausschuss neulichäußerten Experten an einigen Punkten Kritik. Das istrichtig. Diese Anregungen hat das Ministerium aufge-griffen. Stichwort Flexibilisierung: Es werden nun auchalle Angestellten mit unregelmäßigen Wochenarbeitszei-ten erfasst. Stichwort Klarstellung: Nach der Pflegezeitist jederzeit die Rückkehr in den Beruf möglich. Auchdie Anregung des DIHK, dem Gesetzentwurf gleich ei-nen Mustervertrag beizufügen, hat das Ministerium auf-genommen. Damit schaffen wir Rechtssicherheit undbeugen kostspieligen Klagen vor.Mit der Familienpflegezeit ist kein Rechtsanspruchverbunden. Das war uns Liberalen sehr wichtig.
Die unternehmerische Freiheit darf nicht angetastet wer-den.
– Das können Sie natürlich nicht verstehen. Das ist mirvöllig klar.
– Hören Sie bitte zu! Vielleicht lernen Sie noch etwas.Das Modell ist für Frauen und Männer attraktiv. Dennalle, die vorübergehend im Beruf kürzertreten, bleibensozialversicherungspflichtig. Die Rentenansprüche blei-ben auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Dasbeugt Altersarmut vor. Das ist insbesondere für Frauenein wichtiger Punkt.Mit der Familienpflegezeit entlasten wir die vielenAngehörigen, die die Pflege nicht allein Fremden über-lassen wollen, indem sie Rechtssicherheit erhalten. Wirentlasten aber auch die Gesellschaft, Medizin und Pfle-gekassen, und zwar ohne die Gesetzeskeule einzusetzen.Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag, umdie Herausforderungen der demografischen Veränderun-gen unserer Gesellschaft als Chance zu nutzen.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kathrin Senger-Schäfer für die
Fraktion der Linken.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! ImJahr der Pflege hat die Regierungskoalition nichts Besse-res zu tun, als ihre eigenen Befindlichkeiten zu pflegen.Sie streiten wie die Kesselflicker über Eckpunkte undDetails einer Pflegereform. Der Pflegenotstand bestehtindes munter weiter. Das ist unglaublich.
Heute beraten wir den Gesetzentwurf zum Familien-pflegezeitgesetz abschließend im Bundestag. Professio-nelles Arbeiten Ihrerseits hätte bedeutet, in der zurück-liegenden Zeit die notwendigen Verbesserungeneinzuarbeiten, die von allen Seiten angemahnt wurden.
Spätestens als Sie in der öffentlichen Anhörung desFamilienausschusses selbst von Ihren eigenen Sachver-ständigen zurechtgewiesen wurden, hätten Sie sich demoffensichtlichen Handlungsdruck beugen müssen. Aber
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15704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Kathrin Senger-Schäfer
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das ist nicht geschehen. Es bleibt für uns bei dem Urteil:Dieses Gesetz ist ineffektiv, es ist arbeitnehmerfeindlichund für die Mehrheit der Pflegenden irrelevant.
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum. Der fehlendeRechtsanspruch ist schon mehrmals in der Debatte er-wähnt worden. Das ist das, was dieses Gesetz gänzlichüberflüssig macht. Frau Ministerin sagte, es sei ein realis-tisches Gesetz. Ich aber frage Sie: Was macht die Sekre-tärin in einem Betrieb, wenn sie Pflegezeit in Anspruchnehmen will und das Unternehmen aus betrieblichenGründen Nein sagt? Wie stellen Sie sich die Lösung vor:Kündigung des Arbeitsverhältnisses oder doch lieberHeimunterbringung? In klassischen Beschäftigungsver-hältnissen gilt nämlich folgender Grundsatz: WerdenFrau Schneider oder Frau Schröder erwerbsunfähig, soist der Arbeitslohn, der im Voraus gezahlt wurde, nachgeltendem Arbeitsrecht nicht zu erstatten. – Ihr Gesetz-entwurf aber sieht vor, dass ein solcher Fall versiche-rungspflichtig ist, und zwar durch eine Ausfallversiche-rung, welche Frau Schneider oder Frau Schröder selbstzu zahlen haben.Fakt ist auch, dass heutzutage Pflege nicht selten – daswurde schon genannt – zu Überbelastung, Krankheit unddamit Berufsunfähigkeit führt. Das Gesetz, das Sie unsals Arbeitnehmerschutzgesetz präsentieren, ist in Wirk-lichkeit ein Arbeitgeberschutzgesetz. Das ist für unsnicht akzeptabel.
Ich frage mich auch – Sie sprachen von einem realis-tischen Gesetz –, von welchem Personenkreis dieses Ge-setz überhaupt in Anspruch genommen werden kann.Teilzeiterwerbstätige, Alleinstehende und Niedrigverdie-nende, die nach einer Arbeitszeitverkürzung ihren Le-bensunterhalt nicht mehr angemessen bestreiten kön-nen, sind faktisch ausgeschlossen. Eine Friseurin inBerlin verdient durchschnittlich brutto 961 Euro. Wiesoll sie mit zwei Dritteln dieses Einkommens pflegenund überleben? Erwerbstätige Frauen haben im Schnittsowieso niedrigere Löhne als ihre männlichen Partnerund damit eher einen Anreiz, ihre Arbeitszeit und damitihr Gehalt zu reduzieren. Menschen, die schon Teilzeitarbeiten – das sind, wie gesagt, meist Frauen –, könnenihre Arbeitszeit aus finanziellen Gründen nicht nochweiter reduzieren. Glauben Sie im Ernst, dass in einerSituation, in der Männer mehr verdienen als Frauen,Männer sich freiwillig bereit erklären, die Pflege zuübernehmen? Ihr Ziel ist es, häusliche Pflege zu stärken,aber allein zu dem Zweck, dauerhafte Einsparungen inder sozialen Pflegeversicherung zu erreichen. Das istnicht hinnehmbar.
Mit dem Familienpflegezeitgesetz belassen Sie diePflege allein im privaten Lebensumfeld und machen dieAngehörigen – das sind meistens Frauen – zum konkur-renzlos kostengünstigsten Pflegedienst der Nation.Die Linke sieht das anders. Für uns ist Pflege eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe.
Wir brauchen eine umfassende Pflegereform, die Sieaber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben haben.Das Familienpflegezeitgesetz bringt keine wirklicheVerbesserung, sondern weicht bestehende gesetzlicheRegelungen zu Arbeitszeitkonten auf. Die Linke will dieprofessionelle Pflege und begleitende Angebote zur Un-terstützung Angehöriger stärken. Das ist unser Ansatz.
Damit wird die pflegerische Versorgung von Angehö-rigen auch in Zukunft gewährleistet, und pflegende An-gehörige werden entlastet. Unsere Gesellschaft wandeltsich. Die klassische Großfamilie gibt es nicht mehr. Fa-milienpflege ist so, wie Sie sie sich vorstellen, nichtmöglich. Wir fordern eine bezahlte sechswöchige Pfle-gezeit für Erwerbstätige, die in erster Linie der Organi-sation der Pflege – das betone ich – und der ersten pfle-gerischen Versorgung dient. Gleichzeitig sind dieLeistungen der sozialen Pflegeversicherung sofort anzu-heben.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Frau Ministerin, das Jahr der Pflege2011 zählt nun schon 293 Tage, und die einzige Maß-nahme – ich wiederhole: die einzige Maßnahme –, dieSchwarz-Gelb in dem selbst ausgerufenen Aktionsjahrbisher auf den Weg gebracht hat, ist dieses kümmerlicheFamilienpflegezeitgesetz.
Dabei tun Sie zumindest heute so, als wären Sie mitIhrer Familienpflegezeit Ihrer Zeit voraus; denn wirkonnten um 13 Uhr – wir haben jetzt 15.25 Uhr – auf derHomepage der CDU/CSU lesen, dass das Gesetz inzweiter und dritter Lesung schon verabschiedet ist.
Ehrlich gesagt schaut vorausschauende Politik für michganz anders aus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15705
Elisabeth Scharfenberg
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Der Gesetzentwurf zur Familienpflegezeit ist einfachgründlich missglückt. Was von Ihnen als Familienminis-terin vollmundig angekündigt wurde, hat sich nicht zueiner reifen Frucht entwickelt, sondern das ist jetzt imHerbst einfach wie Fallobst auf den Boden der Tatsachengeplumpst.
– Passen Sie mal auf, das wird noch besser. – Die pfle-genden Erwerbstätigen tragen das volle Risiko und dieBelastungen während dieser Zeit. Sie müssen sich mitdem Arbeitgeber auseinandersetzen und ihn überzeugen,dass er sie teilweise freistellt, und sie müssen wissen,wie der Vertrag zwischen ihnen und dem Arbeitgeberaussehen muss, der zur Arbeitszeitreduzierung notwen-dig ist. Sie müssen eine Familienpflegezeitversicherungabschließen und auch bezahlen, und sie müssen das Dar-lehen, das den Arbeitgebern gewährt wird, wieder ab-arbeiten. Zu guter Letzt müssen auch sie nach Abschlussder maximal zweijährigen Pflegezeit klären, wie es dannmit der Pflege weitergehen soll. Dieses Gesetz ist ohneRechtsanspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer nicht das Papier wert, auf dem es steht.
Es ist naiv, zu glauben, dass die Arbeitgeber ihren Be-schäftigten nun in Scharen auf freiwilliger Basis die Fa-milienpflegezeit anbieten werden.Ich konnte heute früh auf rbb Herrn Hecken hören,der sagte: Es wird nun massenhaft zu Vereinbarungenkommen.
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Frau Ministerin, Sie setzen mit Ihrer Politik auf eine frei-willige Selbstverpflichtung der Unternehmen.
Die öffentliche Anhörung zu diesem Gesetzentwurf derKoalition hat aber schon gezeigt, dass er ein einzigesFiasko ist. Die Mehrzahl der geladenen Experten kriti-sierte den fehlenden Rechtsanspruch. Das größte Lobkam noch von Ihrem selbst geladenen Sachverständigen,Herrn Dr. Rürup. Der sagte nämlich: Das Gesetz schadetja nicht, aber der große Wurf, na ja, das ist es halt auchnicht. – Herzlichen Glückwunsch!
Wann verstehen Sie endlich, Frau Ministerin, dassFreiwilligkeit auch Grenzen kennt, nämlich dann unddort, wo ökonomische Interessen dominieren? Und dasist hier der Fall. Machen Sie doch endlich einmal wirk-lich Politik, die Fakten schafft! Ich sage Ihnen, dannwerden Sie endlich in Ihren eigenen Reihen und dannauch von uns ernst genommen.
Sie rühmen sich, dass einige große Unternehmen dieFamilienpflegezeit einführen wollen. Das Problem liegtaber doch auf einer ganz anderen Ebene und an einerganz anderen Stelle. Das sind die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen. Das sind aber die größten Arbeit-geber, die wir haben; denn zwei Drittel aller Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer sind dort beschäftigt. Dassind arbeitende Menschen, die die Doppelbelastung vonBeruf hier und Pflege dort tagtäglich schultern müssen.Was bieten Sie diesen Menschen an, Frau Schröder? Wastun Sie für diese Menschen?Wir müssen eine wirkliche Entlastungsoffensive fürdiese pflegenden Angehörigen machen. Wir müssenStrukturen schaffen, die zur besseren Vereinbarkeit vonBeruf und Pflege beitragen. Wir brauchen ein Gesamt-konzept, und wir müssen den Begriff „pflegende Ange-hörige“ erweitern. Wir müssen niedrigschwelligeDienstleistungen ausbauen, und wir müssen quartiers-nahe Konzepte stärken und fördern.Wenn ich Ihrer Rede vorhin richtig gefolgt bin, dannhaben Sie damit eindrücklich gezeigt, dass Sie all dasnicht verstanden haben.Das, was ich eben aufgezählt habe, ist nämlich diewirkliche Unterstützung, die pflegende Angehörigebrauchen. Dazu kommt von Ihnen nichts. Während dieOpposition in Ihrem Jahr der Pflege Konzepte erarbeitet,hören wir von Ihnen gar nichts. Wir liefern, während Siesich morgen noch einmal zusammensetzen und amRande über die Pflege sprechen werden.Frau Ministerin, Sie haben eine wirklich großeChance vertan.
Damit zeigen Sie allen pflegenden Angehörigen undauch allen Pflegebedürftigen, wie wenig Sie von der Le-bensrealität dieser Menschen verstanden haben.Vielen Dank.
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15706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
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Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine geehrten Damen und Herren!Wenn man hier zuhört, ist man schnell sprachlos.
Sie verdammen ein Gesetz, das erst jetzt das Licht derWelt erblickt – heute soll es verabschiedet werden –, in-dem Sie von vornherein behaupten, es sei nichts wert.Warten Sie doch einmal ab!
Dann werden Sie eines Besseren belehrt werden.
Man kann die Schlagworte, die Sie gebraucht haben,nicht mehr hören. Man hat das Gefühl, nicht im Parla-ment, sondern im Hinterzimmer irgendeiner abgelege-nen Gaststätte zu sein.
Eine vernünftige Diskussion kann man das nicht nennen.Es ist unerträglich, wenn Sie hier behaupten, dieMinisterin wäre in ein Fettnäpfchen getreten. Das be-haupten Sie, aber nicht die Leute da draußen. Ich bitteSie um ein bisschen mehr Zurückhaltung.
Warum kann man eine vielleicht notwendige Kritik nichtmit Intelligenz vortragen?
– Ja, daran fehlt es.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habenheute einen Gesetzentwurf vorliegen, der keinen Rechts-anspruch schafft. Aber es hat ja einen Grund, warum wirdas Einvernehmen mit dem Arbeitgeber nicht durch ei-nen Rechtsanspruch, sondern auf freiwilliger Basis errei-chen wollen.
– Sie haben ein schlechtes Bild vom Unternehmer.
Es wird, auch in kleineren Betrieben, möglich sein, dassdie Unternehmer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern, deren Vater oder Mutter schwer pflegebedürftigist, entgegenkommen. In diesem Fall wird der Unterneh-mer nicht die kalte Schulter zeigen und sagen: Deine An-gelegenheiten gehen mich nichts an. – Sie haben einevöllig falsche Vorstellung von dem Einvernehmen, dasin einem guten Betrieb bestehen kann. Wenn Sie Rechts-ansprüche schaffen, die mithilfe des Gerichtes und wo-möglich des Gerichtsvollziehers durchgesetzt werden,werden Sie in den Betrieben eine Atmosphäre schaffen,die die gegenseitige Verantwortung unmöglich macht.
Gerade in diesem Fall wollen wir das nicht; wir haltendas für grundfalsch.Es ist richtig, dass wir versuchen, auf Freiwilligkeitzu setzen, dass wir die Verantwortung des Unternehmersgegenüber seinem Arbeitnehmer betonen. Auch der Ar-beitnehmer hat, wenn er aus der Pflegezeit zurückkehrt,eine Verantwortung. Er hat dafür Sorge zu tragen, dassder Verlust, der dem Unternehmer durch die Lohnfort-zahlung zunächst entstanden ist, ausgeglichen wird.Wenn das nicht möglich sein sollte, weil der Arbeitneh-mer von einer schweren Krankheit betroffen oder ver-storben ist, dann muss eine Versicherung einspringen.Diese Versicherung wollen wir ebenfalls einrichten;denn der entstandene Verlust soll ausgeglichen werden.Außerdem wollen wir nicht, dass durch die Pflegezeitder Rentenanspruch geschmälert wird. Da entsteht keinVerlust; denn in der Pflegezeit wird ja bekanntlich derLohn, wenn auch nicht voll, weiterbezahlt, und dadurchwerden auch die Beiträge zur Rentenversicherung er-bracht. Auf der anderen Seite werden auch die Leistun-gen der Pflegeversicherung in Betracht zu ziehen sein,sodass am Ende kein Verlust bei der Rente entsteht.Das vorliegende Modell ist meiner Meinung nach einsehr zurückhaltendes, aber exzellentes Modell. Ich haltees für sehr gut. So schlecht ist dieser Gesetzentwurfnicht.
– Natürlich bin ich in der Anhörung gewesen. LieberHerr Kollege Wieland, waren Sie dabei? Sie waren mitSicherheit nicht da.
Wir wollen hier nicht gegenseitig aufrechnen; dafür istdie Zeit zu schade.Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anbrin-gen.
Wir werden die Pflege nicht meistern, wenn wir die Fa-milie nicht einbinden. Im Jahr 2020 wird der Bevölke-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15707
Norbert Geis
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rungsanteil der 85-Jährigen fast genauso groß sein wieder der 5-Jährigen. Ab dem 85. Lebensjahr beginnt sehroft die Pflegebedürftigkeit. Wir leben länger; das ist einschöner Umstand. Aber mit zunehmendem Alter werdenwir auch gebrechlicher. Eine solche Leistung kann dahernicht vom Staat erbracht werden. Es ist völlig falsch, diePflege zu sozialisieren. Wir müssen sie sozusagen in dieFamilien zurückgeben. Deswegen müssen wir die Fami-lien stärken.Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wiewir zu einer Mehrgenerationenfamilie zurückkommen.Dieser Aspekt ist völlig untergegangen. Das hängt natür-lich mit dem Umstand zusammen, dass es vermehrtkleine Wohnungen gibt. Wenn wir den großen Auftrag,den Pflegeerfordernissen gerecht zu werden, erfüllenwollen, müssen wir unseren Beitrag dazu leisten.Danke schön.
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Geis, erst einmal zu Ihnen: Es ist hier zwar nichtder Ort, Sie über die Aufgaben eines Gerichtsvollziehersaufzuklären, aber nach dem, was Sie gesagt haben, wärees nötig.
Wir haben heute schon viel über das zu verabschie-dende Familienpflegezeitgesetz gehört. Ich erinneremich noch sehr gut daran, mit welchen Versprechungendieses Gesetz von Ministerin Köhler, jetzt Schröder, imFrühjahr 2010 öffentlich angekündigt wurde. Ein Mei-lenstein zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf sollte es werden. Einen Rechtsanspruch sollte esgeben. Es hieß, pflegende Angehörige würden wirkungs-voll entlastet. Mehr noch: Mit diesem Gesetz wolltenSie, Frau Schröder, den Herausforderungen in der Pflegebegegnen.Die Ankündigung der Familienpflegezeit war derVersuch der neuen Ministerin, aus dem Schatten ihrerVorgängerin herauszutreten. Es war der Versuch, einThema endlich einmal mit dem eigenen Namen zu beset-zen. Ein Versuch, Frau Ministerin, ist es geblieben. Da-bei hätte aus dem Vorhaben, die Situation pflegenderAngehöriger zu verbessern, durchaus etwas werden kön-nen. Dazu hätte es allerdings weniger Ignoranz gegen-über der Lebensrealität und vor allem mehr Durchset-zungsvermögen bedurft. Denn zur Lebensrealität gehörtbeispielsweise, dass nach wie vor überwiegend FrauenVerantwortung für die Pflege übernehmen.Übrig geblieben ist nun leider ein Gesetzentwurf, dender Sachverständige der CDU/CSU-Fraktion, BertRürup, in der Anhörung wie folgt kommentierte: Mitihm ist keinerlei Rückschritt verbunden, und es gibt ei-gentlich keine Verlierer in diesem Gesetz. – Eine sehrhöfliche Kritik, wie ich finde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Familien-pflegezeitgesetz bringt für pflegende Angehörige keineechte Verbesserung. Schwarz-Gelb macht die Pflegehiermit zur reinen Privatsache. Die Rede von Herrn Geishat dies unterstrichen.
Die pflegebedingten Auszeiten werden allein von den Be-schäftigten durch Lohnverzicht finanziert. Beim vollmun-dig angekündigten Rechtsanspruch ist Frau Schröderbeim ersten Gegenwind der FDP eingeknickt. Es gibt ihnnicht mehr. Die FDP kann darauf stolz sein. Die privatePflichtversicherung belastet einseitig die pflegenden An-gehörigen. Die Arbeitgeber und die Wirtschaft sind feinraus. Auch hiermit wird die private Verantwortung fürdie Pflege zementiert. Ich finde, es ist ein Skandal.Meine Vorstellung und die meiner gesamten Fraktionvon einer solidarischen Gesellschaft ist eine andere.
Es ist richtig: Die Vereinbarkeit von Pflege und Berufist ein wichtiges Thema. Richtig ist auch: Pflegende An-gehörige brauchen Entlastung im Alltag. Falsch ist,Pflege zur reinen Privatangelegenheit zu machen undaus der Verantwortung der Gesellschaft zu nehmen. Dastun Sie mit diesem Gesetz.
Die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich gemeinsammit vielen Verbänden – das ist in der Anhörung und inden aktuellen Presseerklärungen vieler Verbände in denletzten Tagen und heute noch einmal sehr deutlich ge-worden – klar gegen eine Privatisierung und Individuali-sierung der Pflegeverantwortung aus. Das wäre der fal-sche Weg.Wir fordern vielmehr eine sinnvolle Weiterentwick-lung des Pflegezeitgesetzes der ehemaligen Gesund-heitsministerin Ulla Schmidt. So wollen wir die zehntä-gige Auszeit an eine Lohnersatzleistung analog zumKinderkrankengeld koppeln. Dies hat im Übrigen dieUnion in der Großen Koalition leider blockiert.Zudem wollen wir den Rechtsanspruch auf Freistel-lung bis zu sechs Monaten zu einem zeitlich sehr flexib-len Freistellungsanspruch weiterentwickeln. FinanzielleEinbußen, die durch die Reduzierung der Arbeitszeitentstehen, wollen wir durch eine Lohnersatzleistung ab-federn und dadurch die Inanspruchnahme verbessern.Das halte ich für sehr wichtig. Wenn Sie die finanziellenEinbußen zu einer rein privaten Angelegenheit machen,dann wird dieses Gesetz für viele Menschen – das habenwir heute anhand vieler Beispiele schon gehört – nichtzur Anwendung kommen.
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15708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Caren Marks
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Im Gegensatz zu Schwarz-Gelb, betrachten wir, dieSPD-Bundestagsfraktion, alle pflegerelevanten Themenim Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes. Ich fragedie Bundesregierung: Was tun Sie für die Verbesserungder wohnortnahen Beratungs- und Pflegeinfrastruktur?Was tun Sie für den Ausbau von barrierefreiem und al-tersgerechtem Wohnraum? Was tun Sie wirklich dafür,dass Familien-, Sorge- und Pflegearbeit partnerschaftlichzwischen Frauen und Männern aufgeteilt werden? Lei-der tun Sie wieder einmal nichts. Sie gehen wiedereinmal gemeinsam mit der Regierungskoalition aufTauchstation. Ich sage Ihnen: Wir von der SPD-Bundes-tagsfraktion sind gerne beim Auftauchen behilflich.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der jüngste Familienmonitor hat uns ge-
zeigt: Der Wunsch, der am häufigsten angegeben und
von keinem anderen Wunsch übertroffen worden ist, war
der, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbes-
sern. Wir kommen mit dem heute vorliegenden Gesetz-
entwurf diesem Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung
nach.
Ich danke Ihnen, liebe Ministerin, und den Bericht-
erstattern ganz herzlich für die gute, konstruktive Zu-
sammenarbeit. Der Gesetzentwurf, den wir heute vorle-
gen, kann sich sehen lassen. Wir tun den Menschen im
Lande, die sich eine bessere Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf wünschen, hiermit einen sehr großen Gefal-
len.
Ich komme gerne auf die vorgetragenen Kritikpunkte
zu sprechen, insbesondere auf den mangelnden Rechts-
anspruch. Ich finde es gerade wichtig, dass es keinen
Rechtsanspruch gibt,
weil hierdurch in unzulässiger Art und Weise in die un-
ternehmerische Freiheit eingegriffen würde. Das betrifft
nicht nur Großunternehmen, sondern auch die kleineren
und mittleren Unternehmen. Man stelle sich nur einmal
vor – das gibt es in Ihrer Vorstellungskraft natürlich
nicht –: Es gibt auch kleine Unternehmen, bei denen das
Ganze nicht funktionieren würde, die eben nicht auf ei-
nen Arbeitnehmer – und das auch noch zeitlich befristet –
verzichten können. Deswegen darf es keinen Rechtsan-
spruch geben. Die Unternehmen müssen weiterhin be-
stehen und mit ihren Arbeitskräften rechnen können.
Die Ministerin hat in diesem Zusammenhang aber auch
die großen Unternehmen genannt. Dieses Vorhaben wird
zu einem Erfolgsmodell werden. Es betrifft kleine, mitt-
lere und große Unternehmen gleichermaßen. Wir haben
diesbezüglich von allen Seiten volle Unterstützung er-
fahren.
Es ist aber auch für die Frauen gut, dass es keinen
Rechtsanspruch gibt. Bereits jetzt ist es so, dass Frauen
bei Vorstellungsgesprächen immer noch damit rechnen
müssen – auch wenn es nicht angesprochen werden
darf –, dass der potenzielle Arbeitgeber sagt: Vielleicht
kommt das Risiko einer oder mehrerer Schwangerschaf-
ten auf mich zu. Wenn nun durch einen Rechtsanspruch
bei der Pflege wiederum alles alleine auf die Frauen ab-
gewälzt würde, würde ihnen das den Einstieg ins Berufs-
leben zusätzlich erschweren. Auch hier ist ein verant-
wortungsvolles, freiwilliges Miteinander wesentlich
mehr und wesentlich besser, gerade für die Arbeitneh-
merinnen in diesem Lande.
Wir haben nach der Anhörung noch einige Verbesse-
rungen vorgenommen. Ich möchte in diesem Zusam-
menhang die Einführung der Zertifizierung nennen.
Diese ist vor allen Dingen aus verbraucherschutzrechtli-
chen Gründen wichtig. Denn durch sie kann man sich
darauf verlassen, dass von allen Anbietern das gleiche
Niveau angeboten wird. Weiterhin sind keine Risikoprü-
fungen und keine Aufschlüsselungen nach Alter und Ge-
schlecht vorgesehen. Einige befürchten, dass der Betrag
zu hoch ist. Er bewegt sich aber im niedrigen einstelli-
gen Bereich und ist daher meines Erachtens vertretbar.
Der Bürokratieabbau und die Flexibilisierung haben
ebenfalls Eingang in den Gesetzentwurf gefunden; das
wurde bereits erwähnt. Das bedeutet, dass man schnell
wieder in den Beruf einsteigen kann, wenn eine Pflege-
zeit vorzeitig beendet werden muss.
Dieser Gesetzentwurf wurde zum Wohl von Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgebern gestaltet. Er trägt vor allem
dem Ziel der verbesserten Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf Rechnung. Ich kann daher nichts Schlechtes an
diesem Gesetzentwurf finden.
Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkterteile ich dem Kollegen Erwin Rüddel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15709
(C)
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Die Familienpflegezeit ist ein großer Schritt in
Richtung einer umfassenden Verbesserung der Verein-
barkeit von Pflege und Beruf.
Das ist uns in der Anhörung auch eindrucksvoll bestätigt
worden. Was besonders wichtig ist: Es handelt sich hier-
bei um einen Gesetzentwurf, der besonders flexibel und
unbürokratisch ist.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, Frau
Ministerin, ganz besonders dafür zu danken, dass Sie
diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht haben.
Wir kommen mit diesem Gesetzentwurf den Erwar-
tungen und Wünschen vieler älterer Menschen und deren
Angehörigen entgegen und stärken somit den Zusam-
menhalt in der Familie. Nach dem Vorbild der Altersteil-
zeit wird die künftige Familienpflegezeit es den Be-
schäftigten erlauben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um
Eltern, Großeltern, Ehepartner oder Kinder zu Hause zu
pflegen. In der Pflegephase ist die Reduzierung des Ge-
halts nur halb so hoch wie die Reduzierung der Arbeits-
zeit. In der Nachpflegephase wird das Zeitkonto dann
wieder ausgeglichen. Ich bin sicher, dass wir uns mit
dieser Initiative auf dem richtigen Weg befinden.
Mehr als 1,6 Millionen Menschen werden durch An-
gehörige und ambulante Dienste zu Hause versorgt. Die
meisten Menschen wollen die Verantwortung für pflege-
bedürftige Angehörige nicht delegieren. Vielmehr möch-
ten sie ihre Angehörigen nach Möglichkeit selbst
betreuen, stoßen dabei aber oft auf erhebliche Schwie-
rigkeiten. Mit der künftigen Familienpflegezeit haben
berufstätige Menschen die Zeit, um im Pflegefall Verant-
wortung zu übernehmen, ohne ihre Erwerbstätigkeit auf-
geben zu müssen. Mit dieser Lösung gewinnen alle: die
Pflegebedürftigen, die pflegenden Beschäftigten und die
Unternehmen.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir keine gesetzli-
chen Zwänge schaffen. Wir wollen vielmehr neue Mil-
liardenausgaben vermeiden. Die Arbeitgeber können
beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche
Aufgaben ein zinsloses Darlehen im Umfang der Lohn-
aufstockung beantragen. Die Versicherungskosten für
den Fall, dass die Beschäftigten die Rückzahlungen
durch Tod oder Berufsunfähigkeit nicht leisten können,
belaufen sich auf einen niedrigen zweistelligen Betrag.
Während der Familienpflegezeit und der Rückzahlungs-
phase besteht außerdem Kündigungsschutz für den pfle-
genden Arbeitnehmer. Ferner garantieren die Beitrags-
zahlungen in der Familienpflegezeit und die Leistungen
der Pflegeversicherung den Erhalt der Rentenansprüche.
Wir haben im Rahmen der Ausschussberatungen für
mehr Flexibilität und für weniger Bürokatie gesorgt. Die
Familienpflegezeitversicherung wird zertifiziert und
ohne Gesundheitsprüfung und Differenzierung nach Al-
ter und Geschlecht angeboten. Das Bundesamt für Fami-
lie und zivilgesellschaftliche Aufgaben wird einen Grup-
penvertrag anbieten, um Arbeitnehmern in Betrieben
ohne eigenen Gruppenvertrag den Zugang zu günstigen
Konditionen zu ermöglichen.
Auch während der Pflegephase kann der Arbeitsum-
fang flexibel an den sich ändernden Pflegebedarf ange-
passt werden. Eine vorzeitige Beendigung der Familien-
pflegezeit ist möglich, etwa wenn der Pflegebedürftige
in ein Pflegeheim geht. Wird ein Arbeitnehmer in der
Nachpflegephase krank, setzt für die Dauer des Kran-
kengeldbezuges die Rückzahlungspflicht aus; die Nach-
pflegephase verlängert sich entsprechend.
Meine Damen und Herren, aus der Wirtschaft hat es
vereinzelt Kritik an unserem Vorhaben gegeben. Ande-
rerseits bemühen sich viele Unternehmen schon jetzt in
Eigeninitiative darum, innovative Lösungen für ihre Be-
schäftigten zu finden. Denn kluge und weitblickende
Unternehmer haben längst erkannt, dass die demografi-
sche Entwicklung, die langfristige Finanzierbarkeit un-
serer Sozialsysteme und der Bedarf an qualifizierten Be-
schäftigten künftig gar keine andere Wahl lassen, als die
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern.
Die heutige Entscheidung ist ein Meilenstein auf dem
Weg, das große Thema der bedarfsgerechten Pflege in
einer rasch alternden Gesellschaft zu bewältigen. Des-
halb sagen wir Kritikern, dass wir auch im wohlverstan-
denen Interesse der Unternehmen handeln. Wir knüpfen
an unseren heutigen Beschluss die Hoffnung, dass er als
Auslöser weiterführender und innovativer Lösungen in
den Betrieben selbst wirken wird.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinbar-keit von Pflege und Beruf. Der Ausschuss für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/7387, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6000in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositions-fraktionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvorangenommen.
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15710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/7390. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mitden Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der SPD bei Enthaltung von Linken und Grü-nen abgelehnt.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-heit auf Drucksache 17/7391. Der Ausschuss empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/1754 mit dem Titel „Bezahlte Pflegezeit ein-führen – Organisation der Pflege sicherstellen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPDund Grünen angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1434 mitdem Titel „Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Berufverbessern – Pflegende Bezugspersonen wirksam entlas-ten und unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünenbei Enthaltung der SPD und der Linken angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeGottschalck, Heinz Paula, Sören Bartol, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDSchlichtung für Luftfahrtunternehmen ver-kehrsträgerübergreifend einführen– Drucksache 17/7337 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für TourismusFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile KolleginUlrike Gottschalck für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschenreisen gerne. Wir alle sind gerne mobil unterwegs. Dabeiwünschen wir uns natürlich, dass die Bahn keine Verspä-tungen hat, dass der Flieger nicht überbucht ist und dasses auch sonst keine kleinen Katastrophen gibt. Wenn esdoch vorkommt, dann ist der Urlaub verdorben, der be-rufliche Termin ist vielleicht verpasst, und der Ärger istgroß. Umso wichtiger ist es daher, dass Fahrgäste einenguten Ansprechpartner haben, um Schadenersatzansprü-che geltend zu machen, und zwar verkehrsträgerüber-greifend, weil die Reisenden häufig unterschiedlicheVerkehrsmittel nutzen. Mit dem heute vorliegenden An-trag möchten wir die Rechte der Flugpassagiere stärken,und ich bitte daher ausdrücklich um Ihre Unterstützung.
Vor genau einer Woche hat der EuGH erneut dieRechte von Flugpassagieren gestärkt, deren Flüge gestri-chen wurden. Die Richter sprachen den Passagieren ne-ben den Buchungskosten eine individualisierte Wieder-gutmachung zu. In der FAZ vom 12. April kündigte EU-Verkehrskommissar Kallas erneut an, die Fluggastrech-teverordnung weiter zum Wohle der Flugpassagiere zuverschärfen.Wir sehen: Die EU nimmt die Rechte der Fluggästesehr ernst, aber leider gibt es bei der Durchsetzung die-ser Rechte immer noch Schwachstellen. Das zeigt auchdie Zwischenbilanz der EU-Kommission, die eine Über-prüfung der Fluggastrechteverordnung eingeleitet hat. Injedem Land der Europäischen Gemeinschaft wird durchoffizielle Durchsetzungs- und Beschwerdestellen dieEinhaltung der Rechte überwacht. In Deutschland machtdas das Luftfahrt-Bundesamt, aber das LBA ist nicht er-mächtigt, zivilrechtliche Ansprüche durchzusetzen.Die Verbraucherzentralen stellen fest, dass einigeFluggesellschaften die Rechte von Fluggästen missach-ten. Die Ergebnisse einer Onlineumfrage bestätigen das:80 Prozent der Passagiere wurden erst am Flughafenüber Flugstörungen unterrichtet. Bestehende Ansprücheauf Betreuungsleistungen wurden teilweise von denFluggesellschaften ignoriert. Nur jedem Vierten bot dieAirline Entschädigung an, und das überwiegend erst aufNachfrage. Ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv aufihre Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaftenbei über der Hälfte der Teilnehmer nicht nach. Nur in3 Prozent der Fälle verlief die Rechtsdurchsetzung derFluggäste reibungslos.Die für Verbraucherschutz zuständigen Ministerin-nen und Minister der Länder haben die Bundesregierungdaher schon im September 2010 aufgefordert, dafür zusorgen, dass die Fluggesellschaften der söp beitreten.Wenn das nicht freiwillig passiert, dann sollten sie dazuverpflichtet werden. Dies sollte gesetzlich festgelegtwerden.Bei uns in Deutschland hat die ehemalige Justizminis-terin Brigitte Zypries mit dem Fahrgastrechtegesetz diejuristischen Grundlagen für die Arbeit der verkehrsträ-gerübergreifenden Schlichtungsstelle im öffentlichenPersonennahverkehr geschaffen.
Heute beteiligen sich bereits mehr als 120 Verkehrsun-ternehmen aller Verkehrsträger an der söp, und zwarfreiwillig, egal ob Bus, Bahn, Schiff oder ÖPNV. Auchmit sechs nichtdeutschen Airlines konnte die söp bereitserfolgreich schlichten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15711
Ulrike Gottschalck
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Was schätzen wir an dieser Schlichtungsstelle? Zum ei-nen natürlich den verkehrsträgerübergreifenden Schlich-tungsansatz, der die finanzielle Effizienz durch eineneinzigen Ansprechpartner ermöglicht. Die söp verfügtüber eine speziell entwickelte, sehr effiziente Infrastruk-tur und hat hochqualifizierte Schlichter. Sie sind Exper-ten im Reiserecht und ausgewiesene Volljuristen.
Die Schlichtung ist für die Reisenden kostenlos, und esgibt keine Zugangsschwelle. Das ermöglicht ein unbüro-kratisches Verfahren. Außerdem hat die praktischeUmsetzung der Schlichtungsarbeit gezeigt, dass die un-verbindlichen, auf Freiwilligkeit basierenden Schlich-tungsempfehlungen bei 90 Prozent der Fälle für beideParteien fruchtbar waren. Das ist ein wichtiger Aspekt.
Die Bundesregierung selbst wollte die verkehrsträger-übergreifende Schlichtung durchsetzen; das steht so imKoalitionsvertrag. Aber leider ziehen sich die Gesprächemit den Airlines für unseren Geschmack schon etwas zulange hin.Ich muss sagen: Ich verstehe dieses Lavieren nicht;denn auch für die Unternehmen ist es betriebswirtschaft-lich durchaus sinnvoll, sich an dieser Schlichtung zu be-teiligen. Inzwischen gibt es nämlich auf dem offenenMarkt viele private Anbieter, die sich an Fluggäste wen-den, damit sie gegen hohe Provision Schadenersatz-ansprüche bei den Airlines durchsetzen. Ich denke, dasist auch für die Airlines kontraproduktiv. Deshalb ver-stehe ich ihre Haltung auch aus betriebswirtschaftlichenGründen nicht.Wir nehmen die Sorgen der Airlines im Hinblick aufMissbrauch ernst. Gleichwohl lehnen wir eine Eintritts-gebühr ab, weil sie eine Hemmschwelle für die Passa-giere darstellen würde. Praktische Beispiele belegen– auch die Bahn hatte gedacht, dass es wesentlich teurerwürde –: Es ist nicht teurer geworden.Gerade im Bahnbereich hat die söp eine hervorra-gende Arbeit geleistet. Offensichtlich wird die Bahndurch die söp nicht in den Ruin getrieben.
Im Gegenteil: Die söp hat dazu beigetragen, dass Quali-tät und Service bei der Bahn besser geworden sind. Aberes kann immer noch besser werden. Wir alle sind Bahn-fahrer. Ich denke, dies hat bereits geholfen. Deshalbwerbe ich dafür, dass Sie unserem Antrag zustimmen.Abschließend sage ich zusammenfassend: Verhandeltwurde lange genug. Die Bundesregierung muss nun ei-nen Gesetzentwurf vorlegen. Es ist im Sinne der Ver-braucherinnen und Verbraucher, wenn Flugpassagieredie Möglichkeit einer verkehrsträgerübergreifendenSchlichtung haben. Die söp hat belegt, dass sie überKompetenz verfügt und gute Arbeit leistet. Von daher istsie prädestiniert, diese Aufgabe auch für den Luftver-kehr zu übernehmen. Deshalb noch einmal der Appell:Stimmen Sie unserem Antrag zu!Vielen Dank.
Das Wort hat nun Marco Wanderwitz für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende An-trag bezieht sich auf einen Teil jenes Themenbereichs,der uns schon im Rahmen der Rechtspolitik der GroßenKoalition an prominenter Stelle beschäftigt hat. DasFahrgastrechtegesetz von 2009 war aber, anders als esIhr Antrag darstellt – bei aller Wertschätzung für die Ar-beit der Kollegin Zypries als zuständiger Ministerin da-mals –, weder ihr Werk allein noch das Werk der SPD.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Verbraucher-schutzministerin Ilse Aigner standen bei dieser Thematikalles andere als auf der Bremse.
Dass der christlich-liberalen Koalition das Themawichtig ist und dass wir es vor Augen haben, zeigt nichtzuletzt, dass wir ihm einen eigenen kleinen Abschnitt imKoalitionsvertrag gewidmet haben.Nun haben wir gerade einmal Halbzeit der Legislatur-periode. Wir alle wissen, dass manche Themen zu Be-ginn abgearbeitet werden und andere etwas später. Es istso – auch das ist Ihnen bekannt –, dass nicht nichts pas-siert, sondern dass es im Hintergrund intensive Verhand-lungen gibt,
dass sich beispielsweise auch die Luftfahrtunternehmenschon bewegt haben. Allerdings haben sie sich in der Tatnoch nicht so weit bewegt, wie wir uns das wünschenwürden. Aber die gesetzliche Lösung, die Sie jetzt for-dern – aus unserer Sicht in einer zu frühen Phase –, istalles andere als das Allheilmittel.Wie funktionieren denn Schlichtungsstellen in unse-rem Rechtssystem? Sie beruhen im Regelfall auf Frei-willigkeit. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahmean einem Schlichtungsverfahren ist natürlich möglich,hat aber gewisse Voraussetzungen. Bei einer gesetzli-chen Verpflichtung ist eine rechtliche Bindung der Un-ternehmen an die Schlichtungsentscheidungen ebennicht möglich. Das ist verfassungsrechtlich nicht zuläs-sig.Der Justizgewährleistungsanspruch in Verbindungmit dem Rechtsstaatsprinzip besagt ganz klar: Wir kön-nen den ordentlichen Rechtsweg nicht abschneiden. –Das heißt nichts anderes, als dass die Verbraucherinnenund Verbraucher jedenfalls nicht das bekommen werden,was sie bekommen könnten, wenn wir zu einer Verhand-lungslösung kommen, nämlich eine mögliche Unterwer-
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15712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Marco Wanderwitz
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fung unter Schlichtungsergebnisse. Eine solche Unter-werfung wird es auf dem gesetzlichen Weg jedenfallsnicht geben können. Es gibt den schönen Spruch „Steinestatt Brot“. Das Brot, die von Ihnen vorgeschlagene ge-setzliche Lösung, wäre in diesem Fall nicht besondersgut genießbar.Die bereits bestehende söp – da wir gerne Fachbe-griffe verwenden, ohne sie zu erläutern, erläutere ichkurz: Das ist die Schlichtungsstelle für den öffentlichenPersonenverkehr – leistet zweifellos gute Arbeit für dieanderen Verkehrsträger. Da es sich hierbei um einen ein-getragenen Verein handelt, müssten wir die Organisa-tionsform der söp ändern, wenn wir die Mitgliedschaftder Fluggesellschaften gesetzlich festlegen wollten;denn in einem eingetragenen Verein ist die Mitglied-schaft freiwillig. Deswegen müssten wir an der söp Ver-änderungen vornehmen.Zum Thema. Natürlich ist die außergerichtliche Streit-beilegung ein gutes Instrument – das ist unstrittig –, dasauch nachgefragt wird. Das ist, weil die Hürden niedrigsind, ein einfacher Weg, um sachgerechte Lösungen zufinden. Nun führen die Fluggesellschaften aber an – dassteht im Gegensatz zu Ihren Ausführungen –, dass dieZufriedenheit ihrer Kunden höher ist als die bei den an-deren Verkehrsträgern.
Wir könnten uns einmal das Vierte Verbraucherbarome-ter anschauen: Danach schneiden die Luftverkehrsunter-nehmen in der Tat deutlich besser ab als die anderen Ver-kehrsträger. Beispielsweise bewerten 94 Prozent der Ge-schäftsreisenden das Verkehrsmittel Flugzeug mit gut,sehr gut oder ausgezeichnet.
Die Zahl der Beschwerden beim Luftfahrtbundesamt:eine Beschwerde auf 60 000 Fluggäste. Die Zahlen drü-cken ferner aus, dass der Anteil der Beschwerden imVerhältnis zu den Beförderten bei inländischen Flugge-sellschaften deutlich geringer ist als bei ausländischen.Auch dieses Problem kann mit der von Ihnen vorge-schlagenen gesetzlichen Lösung nicht abgestellt werden.Nun muss man positiv festhalten, dass die Zahlen sosind, wie sie sind. Wenn man sich das Ganze anschaut,stellt man fest, dass es dafür Gründe gibt. Die Flugge-sellschaften jedenfalls führen Gründe an, die mir nichtganz abwegig erscheinen. Zum einen sagen sie, dass sieein durchaus kundenorientiertes Beschwerdemanage-mentsystem haben, und zum anderen, dass es im Luft-verkehr anders als bei der Bahn einen richtigen, ausge-prägten Wettbewerb gibt.
Das ist für Sozialdemokraten vielleicht nicht einfachnachzuvollziehen, aber funktionierende Märkte bringenmanches Mal bessere Ergebnisse als eine Regulierung.
Die Fluggesellschaften favorisieren derzeit – in dieseRichtung haben sie sich in den Gesprächen bewegt –eine Lösung, die sie als Y-Lösung bezeichnen: ein Ein-gangsportal, zwei Ausgänge; sprich: Die Verbraucherinbzw. der Verbraucher nutzt dasselbe Portal, und dieSchlichtung findet nach Verkehrsträgern getrennt statt;ein Eingang, zwei Wege. Ich sage ganz offen: MeinWunschmodell ist das nicht. Gleichwohl kann ich dievorgetragenen sachlichen Bedenken der Fluggesellschaf-ten zum Teil durchaus verstehen. Genau darum geht es jaauch bei den Verhandlungen. Zum einen sind Beschwer-den im Flugbereich kein Massengeschäft, sondern eheratypisch und sehr spezifisch, weil es zumeist eben nichtum die klassische Verspätung geht. Zum anderen ist dieKostenträgerschaft zweifellos ein Thema.Ich habe gerade von 60 000 Passagieren gesprochen,von denen 59 999 offenkundig nicht unzufrieden sind.Die Möglichkeit, das Portal ohne Eintrittsgebühr zu nut-zen, bedeutet nichts anderes, als dass 59 999 bei Miss-brauch mitbezahlen. Nun sagen Sie, dass Sie keinenMissbrauch wollen. Das schreiben Sie hinein; das ist einschöner, unbestimmter Rechtsbegriff. Das Problem istaber gerade, dass das ein unbestimmter Rechtsbegriff ist.Die Formulierung zeigt, wohin es gehen wird: Wennman von Missbrauch spricht, ohne ihn einzugrenzen, istim Grunde genommen alles beschwerdefähig, wenn esnicht schon offensichtlich ist, dass die Beschwerde un-begründet ist. Das ist für uns zu weit gefasst. Deshalbglauben wir, dass die Zeit der Verhandlungen noch nichtvorbei ist.
Die gesetzliche Lösung sollte am Ende stehen. DiesesEnde sehen wir aber noch nicht.
Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wiralle kennen vielleicht so eine Anzeige: Flug XY 1278,Larnaca/Zypern nach Hamburg, zehn Stunden Verspä-tung. Wir sehen die Bilder vor uns: entnervtes Warten inder Flughalle; kein Ort zum Ausruhen oder um sich or-dentlich frisch zu machen; nach spätestens fünf Stundenwandern die ersten Raucher entwöhnt durch die Warte-halle;
nach sechs Stunden beginnen die Verteilungskämpfe umdie noch freien Steckdosen, weil inzwischen die Akkusder Laptops und Telefone leergelaufen sind. Dies ist eineHorrorvorstellung für viele Reisende auf Flughäfen.Fehlendes Gepäck, verpasste Anschlüsse oder dieLandung auf einem Zielflughafen, der nicht der ge-wählte ist, das bedeutet für die Betroffenen Stress undÄrger pur. Dies kann man mit Geld nicht ausgleichen,
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Herbert Behrens
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wohl aber den entstandenen materiellen Schaden. Ver-spätet sich ein Flug um mehr als drei Stunden, haben dieReisenden einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung.Das hat der Europäische Gerichtshof festgestellt. DieAusgleichszahlung in der Praxis aber durchzusetzen, istgar nicht so einfach. Da unterscheidet sich die Wirklich-keit von dem, was Herr Wanderwitz hier dargestellt hat.Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Am 9. Novem-ber 2009 verspätet sich der Abflug ebenjener Maschinevon Zypern nach Hamburg um zehn Stunden. Zwei Be-troffene fordern von der Fluggesellschaft eine Aus-gleichszahlung und berufen sich auf das Urteil des Ge-richtshofs. Ende Dezember bietet die Fluggesellschafteine Erstattung von 10 Prozent des Nettoflugpreises– 19,80 Euro – oder wahlweise einen Reisegutschein inHöhe von 35 Euro an.
Am Ende hilft den Betroffenen nur die Androhung einerKlage, um ihr Recht durchzusetzen. Ende März 2011 istes endlich geschafft: Die Fluggesellschaft zahlt den bei-den Betroffenen jeweils 400 Euro Ausgleichszahlung.Diese Reise dauerte eineinhalb Jahre. Andere hättenschon längst entnervt und enttäuscht aufgegeben und aufihr Recht verzichtet. Das ist unzumutbar für die Betrof-fenen. Genau das muss geändert werden.
Für Bahnreisende, aber auch für Menschen, die bei ei-ner Bus- oder Schiffsreise Nachteile hinnehmen muss-ten, ist es einfacher. Seit Ende 2009 können sie sich andie Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenver-kehr wenden. Diese Stelle arbeitet mit großem Erfolg imInteresse der Antragsteller, so, wie vorher schon dieSchlichtungsstelle Mobilität beim VCD. Die Luftver-kehrsunternehmen aber verweigern die Beteiligung andieser Schlichtungsstelle. Nach dem Motto: „Wir wollenmal sehen, wer am längeren Hebel sitzt“, missbrauchensie ihre wirtschaftliche Macht, um berechtigte Kunden-ansprüche abzuwimmeln.Mit dieser Position haben die Luftverkehrsunterneh-men übrigens schon die damalige SPD-JustizministerinZypries bezwungen, als sie die Schlichtungsstelle nichtanerkannten. Sie setzen sich nun offenbar wieder bei derBundesregierung durch, wie wir hier heute sehen. Entge-gen Ihrer eigenen Beschlusslage, meine Damen und Her-ren von der Koalition, stärken Sie nicht die Rechte vonFluggästen, sondern die der Fluggesellschaften. In IhremKoalitionsvertrag von 2009 heißt es – es wurde ebenschon angesprochen; ich zitiere –:Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifen-den Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus,Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.Noch im Juli 2010 hat Frau Ministerin Aigner ange-kündigt, dass sich die Fluggesellschaften an der Schlich-tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr beteili-gen sollen. Aber jetzt kuscht die Ministerin. Jetzt machtsich die Bundesregierung die Forderung der Fluggesell-schaften zu eigen und will eine Schlichtungsstelle Flug-verkehr einrichten, der sich die Unternehmen nach eige-ner Entscheidung anschließen können oder auch nicht.
Auch Verkehrsminister Ramsauer will keine Regelung,die nicht den Segen der Luftverkehrsunternehmen erhal-ten hat. Das ist keine Politik im Interesse der Reisenden,das ist Klientelpolitik, wie wir sie leider auch an andererStelle von der Bundesregierung kennen. Die Linke willwirtschaftliche Macht dort beschränken, wo sie sich ge-gen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger richtet.
Der Fluggast ist gegenüber dem Unternehmen ein-deutig in der schwächeren Position. Darum ist es unserePflicht, ihn zu stärken, damit er sein Recht durchsetzenkann. Die Linke fordert, die Luftfahrtunternehmen ge-setzlich zur Beteiligung an der Schlichtungsstelle für alleVerkehrsträger zu verpflichten. Die Schlichtungsstellesoll weiterhin unabhängig sein. Die Streitschlichtungmuss durch Gebühren der Fluggesellschaften finanziertwerden. Das hatten wir bereits 2010 in unserem Antraggefordert. Das fordert heute auch die SPD. Darum stim-men wir diesem Antrag zu.
Es ist eine gerechte Politik, den Schwächeren zu stär-ken und die Macht der Starken zu begrenzen. Nur sokann wirklich eine demokratische Beziehung zwischenden Schwachen und den Starken entstehen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Frak-
tion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der sozialenMarktwirtschaft haben Verbraucherinnen und Verbrau-cher, Kundinnen und Kunden immer dann eine starkePosition, wenn sie in einem wettbewerblichen Markt dieMöglichkeit haben, unter mehreren Anbietern auszu-wählen und ihre Kundenwünsche deutlich zu machen.Das geschieht seit vielen Jahren erfreulicherweise auchim liberalisierten Luftverkehr. Insbesondere aufgrundder Öffnung der europäischen Märkte gibt es viele neueAnbieter. Viele neue Flughäfen bzw. Flugziele werdennun durch viele international tätige Airlines angeflogen.Nun haben die Menschen die Wahl, ob sie mit einemPremium-Carrier bzw. einer Fluglinie, die einer Pre-mium-Kooperation angehört, oder mit einem Low CostCarrier für 19,99 Euro von Punkt zu Punkt fliegen wol-len. All das entscheiden die Kunden aufgrund derSchwarmintelligenz zu ihrem Nutzen.
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Patrick Döring
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Ich bin ein großer Anhänger von Schlichtungsmög-lichkeiten, ob im Banken- und Versicherungsbereich, ausdem ich beruflich komme, oder bei den Verkehrsträgern.Aber eines muss man anerkennen: Die Schlichtung vonStreitfällen im Bereich des Luftverkehrs ist ganz andererNatur als die meisten zu schlichtenden Fälle im Bereichder Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenver-kehr, weil wir es hier mit international operierenden Un-ternehmen zu tun haben. Die Ursache manch einerAnnullierung oder Verspätung ist eben nicht in Deutsch-land, sondern an dem Flughafen, von dem der Fliegerkommt, zu finden. Die betroffene Fluglinie ist nicht im-mer Air Berlin oder Lufthansa, sondern kann auchEasyJet, Ryanair oder eine andere ausländische Airlinesein. In diesem Fall wird es, was die deutschen Vereins-strukturen betrifft, schon etwas schwieriger.Es ist völlig unbestritten – das entnehme ich auchdem Antrag der Sozialdemokraten –, dass das Ganze nurSinn macht, wenn auch die vielen nichtdeutschen Air-lines, die in Deutschland starten und landen, der Schlich-tung zustimmen. Sie müssen sich ihr unterwerfen, ge-schätzter Herr Kollege Behrens; zu diesem Zweckmachen wir ein Gesetz. Wir müssen aber auch zurKenntnis nehmen, dass die nichtdeutschen gemeinsammit den deutschen Airlines sagen: Wir wollen das in ei-ner eigenen Organisationsform und mit unseren eigenenfachlichen Zuständigkeiten machen und nicht vom Ge-setzgeber eine Organisationsform aufgezwungen be-kommen. – Das muss die Politik akzeptieren. Ich jeden-falls stelle fest, dass die sachlichen Gründe für einegesonderte, eigene Organisationsform sprechen. DieProbleme und Sachverhalte sind nämlich andere als beider Eisenbahn, beim Bus oder beim Fährverkehr.
Diese Koalition will per Gesetz die Schlichtung zurEntschädigung bei Nichtbeförderung, Annullierung,Verspätung, Gepäckschäden und Schäden an Sachen re-geln. Das wird alsbald geschehen. Dabei dürfen wir aberauch das, was der Kollege Wanderwitz angedeutet hat,nicht übersehen: Es gibt wegen der exzellenten Streit-schlichtungsmöglichkeiten innerhalb der Airlines einehohe Kundenzufriedenheit. Ich empfehle allen Kollegen,die der heutigen Debatte freundlicherweise folgen, einenBesuch der Callcenter und Streitschlichtungsstellen vonAir Berlin oder der Lufthansa. Dort kann man beobach-ten, wie die Gespräche geführt und wie schnell viele Be-schwerden abgearbeitet werden. Das ist sicher auch einVorbild für die Schlichtung auf europäischer Ebene.Ein Problem müssen wir dabei im Blick haben – übri-gens ein Problem, das weit über die Verbraucherrechtehinausgeht –: Wir stehen heute vor der Herausforderung,dass manch ein Bußgeldbescheid des Luftfahrt-Bundes-amtes in Irland gelocht und geheftet, aber nicht bezahltwird.
Wir können in Deutschland noch so viele tolle gesetzli-che Regelungen treffen. Wenn sich ein oder zwei großeLow Cost Carrier mit auswärtigem Sitz nicht daran hal-ten oder sich destruktiv verhalten, dann ist für die Ver-braucher nichts erreicht. Unser Ziel bleibt, gemeinsammit der betroffenen Wirtschaft ein gutes Gesetz auf denWeg zu bringen. Das wird geschehen. Ich sage Ihnen vo-raus: Wir werden verfahren wie bei allen anderenSchlichtungsstellen. Natürlich trägt die Kosten zunächstdie betroffene Wirtschaft. Aber eines muss klar sein:Wenn es zu missbräuchlichem Anrufen der Schlich-tungsstelle kommt, müssen wir diesen Missbrauch unter-binden. Auch dazu werden wir im Gesetz Regelungenvorsehen.Die große Frage ist, wie man Missbrauch definiert.Missbräuchliches Verhalten liegt auch dann vor, wennman nach mehreren in der ersten, zweiten, dritten odervierten Instanz verlorenen Prozessen noch einmal ver-sucht, mit der Schlichtungsstelle ins Geschäft zu kom-men. Irgendwann muss Schluss sein. Dies wird sehr ge-nau geregelt werden. Wir müssen dafür sorgen, dassnicht einzelne – vielleicht besonders klagefreudige –Passagiere einen ungerechtfertigten Vorteil erhalten.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Markus Tressel für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben die gleiche Debatte schon vor einigen Wochenund im letzten Jahr geführt. Ihre Argumente sind in denvergangenen zwölf Monaten nicht besser geworden,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
Wenn Sie sagen, dass Sie zusammen mit der Wirtschaftein Gesetz auf den Weg bringen, dann muss ich Ihnensagen: Wir Abgeordnete machen die Gesetze, nicht dieWirtschaft. Ich glaube, das sollten Sie beherzigen.
Der Passus, der in Ihrem Koalitionsvertrag steht,wurde Ihnen vorhin schon einmal vorgelesen; deswegenspare ich mir das an dieser Stelle. Sie haben in IhremKoalitionsvertrag selbst geschrieben, dass Sie die ver-kehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich regelnwerden. Sie halten uns heute entgegen, das sei gesetzlichnicht zu regeln. Sie müssen sich einmal fragen, was Siein Ihrem Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben.
Das, was Sie hier anbieten, ist ja an politischer Schizo-phrenie kaum zu überbieten.
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Markus Tressel
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Es ist ja schon bezeichnend, dass wir als Oppositionheute die Einhaltung Ihres Koalitionsvertrages fordernmüssen, in dem Sie das ja niedergeschrieben haben.
Das ist ja auch nichts Neues. Das ist ja keine Diskussion,die die Opposition hier angestoßen hat, sondern die Ver-braucherschützer und auch die Europäische Kommissionhaben uns ins Stammbuch geschrieben: In keinem Be-reich gehen Anspruch und Wirklichkeit so weit aus-einander wie bei der Regelung von Ansprüchen Reisen-der im Bereich des Flugverkehrs.Sie sagen, die Kundenzufriedenheit sei in diesem Be-reich besonders hoch. Wir wissen, dass die meisten ihreRechte überhaupt nicht kennen. Die Fluggesellschaftenbemühen sich meines Erachtens ja auch nicht besondersdarum, die Kunden über ihre Rechte aufzuklären.Gucken wir uns die Zahlen an; ich habe mir geradenoch einmal aktuelle Zahlen herausgeschrieben. Zwi-schen dem 1. Januar und dem 19. Oktober dieses Jahres,also gestern, gab es 1 566 ausgefallene Abflüge abFrankfurt und 448 Flüge mit mehr als drei Stunden Ver-spätung. Wenn man das hochrechnet, dann kommt manauf mehr als 100 000 Betroffene alleine in Frankfurt.Das sind immense Zahlen. Das Aufkommen ist wahnsin-nig hoch. Die Reisenden, die davon betroffen sind, brau-chen Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte.Diese soll nicht kompliziert, sondern möglichst einfachsein.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wiewir das niedrigschwellig gestalten. Ich will mir nichtvorstellen, wie viele Leute auf die Durchsetzung ihrer ei-genen Rechte verzichten, weil sie Angst haben, gegeneine Airline vor Gericht zu gehen.
Die Airlines scheuen ja auch keine Mühen, die Passa-giere davon abzuhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Wirhaben das in der Debatte um eine Eingangsgebühr von50 Euro für die Schlichtung erlebt. Kein Argument warzu schief, um den Leuten zu sagen: Wir brauchen jetzteine Eingangsgebühr. – Sie haben in diesem Zusammen-hang das Argument Prozesshanselei angeführt. Das hatmit Prozesshanselei überhaupt nichts zu tun.Fakt ist: Durch die Schlichtung wird die Servicequali-tät erhöht, und sie führt zu mehr Kundenzufriedenheit.Das müssen auch die Airlines einsehen.Die söp – sie ist vorhin ja schon einmal angesprochenworden – ist verkehrsträgerübergreifend konzipiert. Dasist die richtige Stelle für die Schlichtung. Die Verbrau-cherschutzminister der Länder haben ja bereits vor ei-nem Jahr festgestellt – damals saßen auch Verbraucher-schutzminister der CDU und der FDP mit am Tisch –,dass die Schlichtung bei der söp am besten aufgehobenist.Während die söp heute für alle Bahnunternehmen zu-ständig ist, müssen wir mit politischem Druck dafür sor-gen, dass auch die Flugunternehmen mit an Bord gehen.Als Feigenblatt wird von diesen jetzt eine eigeneSchlichtungsstelle vorgeschlagen. Genau das ist derPunkt: Wir wollen keine Sonderlösung für die Airlines.Wir wollen im Interesse der Verbraucher keine Extra-wurst, sondern wir wollen eine transparente, verkehrsträ-gerübergreifende Schlichtung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sehr Sie sichauch bemühen: Es gibt keine schlagenden Argumentefür eine separate Lösung der Airlines, außer dem, dassdie Airlines dort möglicherweise ihr eigenes Süppchenkochen wollen. Wir haben gesehen: Es gibt immer mehrintermodale Angebote, zum Beispiel Rail & Fly, und im-mer mehr Reiseangebote, bei denen verschiedene Ver-kehrsträger kombiniert werden.Im Hinblick auf Neutralität und auf niedrige Kostenist es wichtig, dass es nur eine zuständige Einrichtunggibt, und das kann meines Erachtens nur die söp sein.Die Verbraucher sollen wissen, an wen sie sich wendenkönnen. Das geht nur, indem wir keine Verwirrung stif-ten und dafür sorgen, dass es nur eine Schlichtungsstellegibt.Ich kann als Fazit nur eines sagen: Sorgen Sie dafür,dass es eine gesetzliche Regelung gibt, mit der die Be-lange der Verbraucher entsprechend berücksichtigt wer-den.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kauder?
Ich bin schon am Ende. – Wenn Sie schon kein stich-
haltiges Argument gegenüber den Verbrauchern haben,
dann nehmen Sie doch wenigstens einfach Ihren Koali-
tionsvertrag ernst. Dort haben Sie es niedergeschrieben.
Wenn Sie sich daran halten, dann gibt es auch eine gute
Lösung für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-gen Siegfried Kauder.
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Siegfried Kauder (CDU/CSU):Lieber Kollege, es ist immer gut, anderen Vorwürfezu machen: der Bahn wegen der Verspätungen; denFluggesellschaften, weil man zehn Stunden auf einenAnschlussflug warten musste. Die Menschen sind irri-tiert, deswegen muss die Politik etwas machen.Vielleicht kehren wir einmal vor der eigenen Tür. Diegrößte Verzögerung erlebe ich persönlich auf den Bun-desautobahnen. Der Bürger zahlt Steuern dafür, dass dieAutobahnen so in Schuss sind, dass man nicht vier oderfünf Stunden im Stau steht. Darüber reden wir nicht.
Sie haben zu Recht gesagt, Herr Kollege: Wir sinddas Parlament. Wir machen Gesetze. – Dann dürfen Sieaber diesen Verkehrsträger nicht ausnehmen. Sie dürfennicht sagen: Die Bahn muss etwas machen, die Flugge-sellschaften müssen etwas machen. Aber wenn auf derBundesfernstraße ein Stau ist, muss der Bürger warten. –Auch da müssen Sie Farbe bekennen.Erarbeiten Sie einen Gesetzentwurf, damit das besserwird. Dann ist der Bürger auch zufrieden, wenn wir übersolche Themen wie jetzt diskutieren.
Kollege, bitte schön.
Lieber Herr Kollege, wir reden heute hier über Ver-
braucherschutz. Ich sehe ein, dass wir auch für ordentli-
che Zustände auf unseren Straßen sorgen müssen.
Diese Diskussion muss man separat führen.
Aber den Verbraucherschutz – es geht insbesondere
um Situationen, die der Verbraucher nicht selbst ver-
schuldet hat, und um das, was er sowohl bei der Bahn als
auch bei Fluggesellschaften erdulden muss – mit der Si-
tuation auf deutschen Autobahnen zu vergleichen, halte
ich für sehr weit hergeholt. Ich denke, dass Sie jetzt eine
Bringschuld haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
statt weiter mit der Wirtschaft herumzukungeln. Dafür
sorgen, dass es auf den Autobahnen fließt, kann Ihr Ver-
kehrsminister ganz gut selber.
Das Wort hat nun Peter Wichtel für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Siemich zunächst den vorliegenden Antrag der SPD-Frak-tion und die Debatte dazu nutzen, um deutlich herauszu-stellen, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen undBürger mit einer verantwortungsbewussten und nachhal-tigen Verbraucherpolitik begleitet.Das deutsche Recht gewährt den Reisenden umfas-senden Schutz, der in schwierigen Verhandlungen mitden Verkehrsträgern erarbeitet wurde. In zahlreichen eu-ropäischen und deutschen Rechtsverordnungen ist dasganz klar zum Ausdruck gekommen. Es geht Ihnen da-rum, die Luftverkehrsrechte anzusprechen, die geregeltwerden sollen, und Sie bemühen dazu den Koalitions-vertrag zwischen CDU, CSU und der FDP.
Dort haben wir festgeschrieben, dass wir die Strukturendes Verbraucherschutzes ausbauen und auf alle Ver-kehrsträger ausdehnen wollen. Ein anschauliches Bei-spiel des kontinuierlichen Ausbaus ist von Ihnen, FrauGottschalck, erwähnt worden: die söp, die im September2009 – das geschah zusammen mit dem Fahrgastrechte-gesetz – gegründet wurde und seitdem erfolgreich Streit-fälle zwischen den Verbrauchern und den Verkehrsunter-nehmen schlichtet.Die Erfolgsquote von über 90 Prozent bei circa 3 300eingereichten Schlichtungsanträgen spricht für sich.Dies ist ein Erfolgsmodell für die Verbraucher, das manallerdings noch weiter optimieren kann. Wir wollen nunauch die Teilnahme der Fluggesellschaften an denSchlichtungsverfahren realisieren. Die Umsetzung die-ses Vorhabens, das wir im Koalitionsvertrag festgehaltenhaben, wird gegenwärtig überaus konstruktiv zwischender Bundesregierung und den Fluggesellschaften vorbe-reitet.Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Antrag, indem gefordert wird, die Schlichtung für Luftfahrtunter-nehmen verkehrsträgerübergreifend einzuführen, fürmich nicht nachvollziehbar. So argumentieren Sie, dieLuftverkehrsunternehmen hätten die Frist zu einer frei-willigen Schlichtung verstreichen lassen. Dieser Vorwurfist vollkommen haltlos. Es hat nie eine zeitliche Begren-zung oder gar ein striktes Ultimatum für diesbezüglicheGespräche und Lösungen gegeben. Im Gegenteil: Wirsind durch intensive Gespräche und Verhandlungen nunso weit, dass nur noch einzelne Details geklärt werdenmüssen. Ich gehe davon aus, dass bald ein Ergebnis vor-liegen wird. Diesem Ergebnis heute vorzugreifen unddas freiwillige Engagement der Fluggesellschaften zu ei-nem Schlichtungsverfahren dadurch zu torpedieren,kann nicht der richtige Weg sein.Ein weiterer Denkfehler offenbart sich in der Forde-rung, den Verkehrsträger Luft zu einer Teilnahme an ei-ner Schlichtung zu zwingen. Das gesamte Konzept derSchlichtung beruht im Gegenteil doch darauf, dass manmöglichst freiwillig zusammenarbeitet und in diesemEngagement die besten Ergebnisse für die Betroffenenherausholt. Die Fluggastrechte für Fluggäste könnendoch nur dann wirken, wenn die Schlichtung am Endeauch angenommen wird. Würden Sie als Opposition,wenn Sie zu einem Schlichtungsverfahren verpflichtet
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Peter Wichtel
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würden, das Ergebnis am Ende tatsächlich tolerieren?Ich glaube, damit wird sehr deutlich, dass Sie mit derEinforderung der Beteiligung der Luftverkehrsgesell-schaften an Schlichtungsverfahren genau das Gegenteildessen erreichen, was wir eigentlich gemeinsam wollen,nämlich die Unterstützung und das Festlegen für einEngagement an der Schlichtung.Ich denke darüber hinaus, dass Sie zwei Dinge miss-achten. Wenn eine Lösung zustande kommt, ist es docham besten, wenn es sich um eine freiwillige Lösung inForm einer Vereinbarung handelt, die nachher in ein Ge-setz mündet.
Denn damit haben Sie am Ende genau das, was hier vonvielen Rednern gesagt worden ist, nämlich die höchsteWirkung für die Betroffenen. Wer klagt schon, wennman in der Schlichtungsstelle gemeinsam zu einem posi-tiven Ergebnis kommt? So erzielen wir für diejenigen,die wir schützen wollen, am meisten. Die organisatori-sche Frage, ob das innerhalb der söp geschieht, ob es un-ter einem virtuellen Dach eine gleiche Anlaufstelle gibtoder ob eine eigene Schlichtungsstelle eingerichtet wird,ist aus meiner Sicht heute vollkommen zweitrangig.Wichtig ist vielmehr, dass gemeinsam ein Ziel erreichtwird und dass sich möglichst viele Fluggesellschaftenfreiwillig beteiligen. Nur so können wir es machen.Ich will ein Zweites sagen; ich glaube, Herr Döringhat das vorhin schon erwähnt. Wie viele Rechnungen be-kommen Fluggesellschaften präsentiert, die am Endenicht bezahlt werden? Diesen Zustand wollen wir zu-gunsten der Fluggäste ändern. Wir wollen eine unge-zwungene ordnungsgemäße Stelle, die am Ende alsSchlichtungsstelle so funktioniert, dass jeder Betroffenedort hingeht.Letzter Punkt, den ich ansprechen will: Eingangs-hürde. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass dieEingangshürde, um Missbrauch zu verhindern, ähnlichsein kann wie bei Beschwerden beim Bundesverfas-sungsgericht, dass man also zunächst eine Vorprüfungmacht, ob das, was beantragt wird, überhaupt Erfolg hat.So könnte man die Beschwerden abarbeiten.Ich denke, in diesem Sinne müssen wir noch viel tun.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich denke, Zwang aus-zuüben, wie Sie es beantragen, ist nicht der richtigeWeg. Deswegen lehnen wir das ab.
Das Wort hat nun Heinz Paula für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! WirTourismuspolitiker und Verbraucherschutzpolitiker ha-ben uns bereits sehr intensiv mit diesem Thema befasst.Es wurden sehr wichtige und richtige Argumente ausge-tauscht. Ich darf aus dem Protokoll des Deutschen Bun-destages vom 7. Juli 2011 einige Passagen zitieren:Der Verbraucher soll sich leicht informieren kön-nen, er soll gut beraten und seine Interessen sollengut vertreten werden.Frau Mortler, wir stimmen Ihnen absolut zu.
Ich darf Sie weiter zitieren:Ihre erfolgreiche Tätigkeit– Sie meinen an der Stelle die söp –stärkt den Verbraucherschutz im Tourismus.
Da kann ich nur sagen: Alle Achtung, söp! Ihr leisteteine hervorragende Arbeit. Ihr habt die entsprechendeAnerkennung der Unternehmen und der Verbraucher. Ihrhabt eine hervorragende Infrastruktur, und ihr habt her-vorragende Experten, die es schaffen, bis über 90 Pro-zent der Schlichtungen zu einem positiven Ergebnis zuführen. Respekt, söp!
An dieser Stelle ist interessant, dass über ein Drittelder anhängigen Verfahren justament von Fluggesell-schaften kommen. Interessant ist dabei auch – das richtetsich an alle diejenigen, die die Sorge haben, dass die aus-ländischen Fluggesellschaften nicht mit im Boot wären –,dass genau diese Fluggesellschaften bereits sehr aktivmitmachen. Es funktioniert doch.Wir Sozialdemokraten wollen eine möglichst ver-braucherfreundliche Regelung. Ich hoffe, Sie von derRegierungskoalition wollen das auch. Wir wollen, dassdie Unternehmer verpflichtet werden, an einem Schlich-tungsverfahren teilzunehmen, wenn sie einer Verbrau-cherbeschwerde nicht innerhalb von vier Wochen selbstabgeholfen haben. Verbraucherfreundlich heißt für unsdarüber hinaus, dass man sich an eine gemeinsame, alsoverkehrsträgerübergreifende Stelle wenden kann. EineAnlaufstelle und eine einheitliche Spruchpraxis, dasbrauchen wir. Verbraucherfreundlich heißt für uns außer-dem, dass nicht die Kunden die Kosten zu übernehmenhaben. Wo kommen wir denn hin, wenn nicht die Verur-sacher, sondern die Geschädigten dafür bezahlen sollen?Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Fluggesellschafteninzwischen von solchen Eingangsgebühren Abstand ge-nommen haben. Damit sind sie bereits auf dem richtigenWeg. Jetzt muss der nächste Schritt folgen.
Es ist immer wieder davon die Rede, wie teuer die söpsei. Ein Blick in die geplante Beitragsordnung zeigt:Man kommt den Fluggesellschaften sehr weit entgegen.Es wird immer wieder die große Sorge geäußert, dassein wilder Missbrauch drohe. Liebe Kolleginnen undKollegen, die bisherige Arbeit der söp zeigt überdeut-
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15718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Heinz Paula
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lich, dass kein Missbrauch zu befürchten ist. Außerdemhaben wir in unserem Antrag eine entsprechende Rege-lung vorgesehen. Sie können also ganz beruhigt sein.Entscheidend wird allerdings sein, dass wir endlich zuErgebnissen kommen. Wenn wir in den nächsten 20 oder30 Jahren immer noch verhandeln, nützt das den Ver-braucherinnen und Verbrauchern nicht.
Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie die Argu-mente Ihrer eigenen Kollegen heranziehen. Die Verbrau-cherministerkonferenz wurde bereits angesprochen. Ichdarf aus einer Pressemitteilung unserer früheren Kolle-gin Puttrich zitieren, die inzwischen in Hessen Ministe-rin ist.
– Ich hoffe, Sie sagen das auch nach dem Zitat aus derPressemitteilung. – Ich darf zitieren:Für den Verbraucher ist es dabei nicht nachvollzieh-bar, dass es unterschiedliche Anlaufstellen desSchlichtungsverfahrens gibt. … Die Fluggesell-schaften sind nun aufgefordert, sich aktiv an derSchlichtungsstelle zu beteiligen. Geschieht diesnicht,– Herr Schweickert, ich zitiere immer noch –werden wir sie dazu verpflichten …Dazu kann ich nur sagen: Die Frau hat recht.
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie die richtigenAussagen getroffen. Richtige Aussagen ersetzen aberkein Handeln. Handeln Sie endlich im Sinne der Ver-braucherinnen und Verbraucher!
Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren auf den Zuschauerrängen!Wenn man Ihre Rede verfolgt hat, Herr Paula, könnteman meinen, die Regierungskoalition wüsste nicht, dasses zu Verspätungen kommt. Das wissen wir aber. Wirwissen sehr wohl, wie unangenehm das Ganze ist. Ausdiesem Grunde haben wir in unserem Koalitionsvertraggenau das niedergeschrieben, was von allen Opposi-tionsfraktionen zitiert worden ist. Denn wir wollen denUmstand abschaffen, dass die Verbraucherrechte in die-sem Bereich ungenügend sind.
Die Frage ist, wie wir das machen.Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, über den wirheute abstimmen werden. Die SPD geht darin auf dieSchlichtungsstelle söp ein, die bisher nicht für den Flug-verkehr zuständig ist. Weil die Schlichtungsstelle gut ar-beitet, will die SPD die Teilnahme der Luftverkehrsbran-che an der söp erreichen. Genau wie Kollegin Puttrichsage ich: Ja, die söp leistet gute Arbeit. Wir wollen abermit unserer Regulierung die Richtigen treffen. Ich hättegern den Kollegen Behrens gefragt, wer den Flug nachLarnaca ausgerichtet hat. Wir können gerne die deut-schen Carrier verpflichten. Die Frage ist aber, ob dieProbleme bei ihnen am größten sind. Haben wir nicht diegrößten Probleme mit Ryanair und easyJet, die sich nie-mals freiwillig einer Schlichtung unterwerfen werden,wenn wir den falschen Weg wählen?Wir wollen erreichen, dass die Schlichtungsergeb-nisse von den Verkehrsträgern anerkannt werden. Des-wegen müssen wir eine Systematik finden, der alle fol-gen können. Jetzt ist der einzige Streitpunkt der, wie dasaussehen soll. Wenn das später unter dem Dach der söpstattfindet und alle freiwillig unter dieses Dach gehen,dann haben wir das Problem nicht. Aber es zeigt sich,dass gerade die ausländischen Carrier nicht unter diesesDach wollen.Zu den Gründen, die Sie angeführt haben, muss ichsagen, dass sie sekundär sind. Aus der Sicht des Verbrau-chers ist es wichtig, dass er nur eine Nummer anrufenmuss, egal ob er mit der Bahn gefahren oder mit demFlugzeug geflogen ist, und dass er nur eine Homepageaufzurufen braucht. Es ist egal, ob er in der Zentrale dersöp landet und anschließend in die Abteilung Bahn oderFlug durchgestellt wird. Es ist vollkommen unerheblich,wie die Struktur dahinter aussieht. Auch in einem Unter-nehmen, wie Sie es zeichnen, gibt es verschiedene Ab-teilungen, die sich mit unterschiedlichen Schlichtungs-fragen beschäftigen. Wenn es eine Anlaufstelle gibt, istes aus Verbrauchersicht vollkommen irrelevant, wie dieStruktur dahinter aussieht. Uns geht es darum, eine nie-derschwellige, gute Verbraucherschutzpolitik zu ma-chen. Genau das tun wir mit unserer Vorgehensweise.Sie wissen genau, dass es sehr schwierig ist, die auslän-dischen Carrier unter dieses Dach zu bekommen.
Deshalb sind wir dabei, nicht nur mit diesen Unterneh-men zu reden, sondern auch zu schauen, wer mitzieht.Als Ultima Ratio sollen diejenigen, die nicht mitmachen,einer Zwangsschlichtung unterworfen werden.
Wenn das alles so einfach wäre, hätten Sie es damalsschon machen können. Sie wissen genau: Wenn wirnicht alle Unternehmen der Branche einbeziehen, dannhaben wir ein Problem. Ausnahmen werden wir nichtzulassen. Deswegen heißt gute Verbraucherschutzpoli-tik, alle in die Schlichtung einzubeziehen. Wir sind dabeinicht nur auf einem guten Weg, sondern ganz nahe dran.Ich gehe davon aus, dass wir mit Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Frau Aigner die richtigen Damenhaben, um dieses Problem zu lösen.Vielen Dank für Ihr Zuhören.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15719
Dr. Erik Schweickert
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Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer den Kolleginnen und Kollegen der Oppo-
sition und von der Regierungskoalition genau zugehört
hat, der musste am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass
wir unter dem Strich gar nicht so weit auseinanderliegen.
Ehrlich gesagt, auch ich bin unzufrieden darüber, dass
wir noch kein abschließendes Ergebnis erzielen konnten.
Es geht in der Tat noch um einen wesentlichen Punkt,
den der Kollege von der FDP gerade ausführlich erläu-
tert hat. Ich glaube, es ist überhaupt nicht zielführend,
wenn die Kollegen von der SPD so tun, als hätten sie mit
ihrem Antrag einen großen Wurf gelandet.
Tatsache ist, dass der alte BDF, also der Bundesver-
band der Deutschen Fluggesellschaften, nicht nur akzep-
tiert hat, was in unserem Koalitionsvertrag zur Schlich-
tung steht, sondern auch aktiv geworden ist und
beschlossen hat, dass die Schlichtung kommen wird.
Auch für uns von der Union ist es zweitrangig, ob das
unter dem Dach der söp oder separat erfolgt. An erster
Stelle ist für uns wichtig, dass alle Verkehrsträger dabei
sind. An zweiter Stelle ist uns wichtig, dass die Ver-
kehrsträger die Kosten tragen und dass die Lösung aus
Kundensicht praktikabel ist und sie schnell und unkom-
pliziert umgesetzt wird.
Ich möchte an der Stelle die söp, die Schlichtungs-
stelle für den öffentlichen Personenverkehr, loben. Ende
2009 ist sie gestartet, und sie macht zweifellos eine gute
Arbeit. Sie hat im Sinne des Verbraucherschutzes auch
im Bereich Tourismus die Anliegen der Kunden ge-
stärkt. Deshalb ein herzliches Dankeschön.
Wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es
im Bereich des Bus- und Schiffsverkehrs sehr selten, bei
der Bahn jedoch in höherem Maße zu Schlichtungsanfra-
gen kommt. Die Schlichtungsfälle, über die wir reden,
werden – ich wiederhole es gerne – zu 90 Prozent ein-
vernehmlich beigelegt. Wenn die Angaben vom alten
BDF, vom Bundesverband der Deutschen Fluggesell-
schaften, stimmen, dann ist es auch hier so, dass 99 Pro-
zent der Kundenbeschwerden außergerichtlich und da-
mit zufriedenstellend gelöst werden.
Wir sollten aber auch wissen, über welche Dimensio-
nen wir insgesamt reden. Die Bahn befördert jährlich
2,4 Milliarden Fahrgäste. Bei 2 100 Schlichtungsanträ-
gen ist das ein Verhältnis, das sich sehen lassen kann.
Die Anzahl der Schlichtungsfälle ist doch sehr gering.
Im Bereich der Fluggesellschaften werden in Deutsch-
land jährlich 190 Millionen Fluggäste befördert. Im glei-
chen Zeitraum sind lediglich 1 500 Anträge als Schlich-
tungsverfahren bei der söp eingegangen.
Sie haben jetzt vielleicht das Gefühl, das könne über-
haupt nicht stimmen. Aber wir reden heute ausschließ-
lich über die Schlichtung. Wir reden nicht über den
ersten Schritt, das interne Verbraucherbeschwerdema-
nagement des jeweiligen Unternehmens. Hier werden
bereits die meisten Beschwerden und Schadenersatzfor-
derungen der Kunden abgearbeitet. Das halte ich für ein
gutes Zeichen. Wir reden hier auch nicht über den dritten
Weg, den sogenannten Klageweg, der jedem offensteht,
sondern über die Schlichtung.
Ich werbe am Schluss noch einmal dafür, weiterhin
auf Freiwilligkeit zu setzen, unabhängig davon, ob die
Fluggesellschaften nun unter dem Dach der söp oder
selbstständig eine Schlichtungsstelle einrichten. Der
Kollege Wichtel hat es schon gesagt: Wenn wir die
Schlichtung gesetzlich verbindlich regeln, hat am Ende
der Kunde das Nachsehen, weil er dann den Spruch ak-
zeptieren muss.
Also noch einmal: Es geht um eine einvernehmliche
Streitbeilegung für alle Verkehrsträger. Da sich abzeich-
net, dass die Verhandlungen dazu in der letzten Phase
sind, ist der Antrag der SPD überflüssig. Wir können ihn
also mit ruhigem Gewissen ablehnen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7337 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derFDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, dieFraktion der SPD wünscht Federführung beim Aus-schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion der SPD abstimmen, also Federführung beimAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-vorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionenabgelehnt.
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15720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, alsoFederführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mitdem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenom-men.Auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenunterbrechen wir nun wegen einer Fraktionssitzung diePlenarsitzung bis 17.30 Uhr. Der Wiederbeginn der Sit-zung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Michael Kretschmer, Wolfgang Börnsen
, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann,Sören Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPsowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede,Josef Philip Winkler, Katrin Göring-Eckardt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDas Reformationsjubiläum im Jahre 2017 –Ein Ereignis von Weltrang– Drucksachen 17/6465, 17/7219 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael KretschmerSiegmund EhrmannPatrick Kurth
Dr. Rosemarie HeinAgnes KrumwiedeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Minis-terpräsident des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, ReinerHaseloff.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Mitglie-der des Bundestages! Ich bin dankbar, heute vor Ihnenals Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt undMitglied im Kuratorium zur Vorbereitung des Reforma-tionsjubiläums sprechen zu dürfen. Ich tue das auch imNamen meiner Kollegin aus Thüringen, Frau Minister-präsidentin Lieberknecht,
und meines sächsischen Kollegen, Herrn Ministerpräsi-denten Tillich.
Es gibt viele Städte in Mitteldeutschland, mit denender Reformator eng verbunden war. Erfurt war die Stadtdes jungen Luther. Auf der Wartburg in Eisenach fand erZuflucht. Seine Frau stammte aus Sachsen. Ihr Gelübdeals Nonne legte sie im Kloster Nimbschen ab. Torgauwar ihr Sterbeort. Das eigentliche Lutherland ist jedochdas heutige Sachsen-Anhalt mit Mansfeld,
dem Heimatort der Eltern und der befreundeten Fürsten-familie, mit Eisleben, dem Ort der Geburt und des To-des, und natürlich mit Wittenberg, dem wichtigsten Wir-kungsort Luthers. Die Lutherstadt Wittenberg ist derzentrale Gedenkort der Reformation und die Stadt mitden bedeutendsten Lutherstätten: Schloss- und Marktkir-che, Augusteum, Lutherhalle und die alte UniversitätLeucorea. Erste Anregungen, das Reformationsjubiläumdes Jahres 2017 und die Jahre bis dorthin in einerLutherdekade gemeinsam zu begehen, sind deshalb be-reits im Jahre 2008 von Sachsen-Anhalt ausgegangen.Sie wurden noch durch meinen Amtsvorgänger Profes-sor Böhmer an die Evangelische Kirche in Deutschlandund an den Bund herangetragen und dort positiv aufge-nommen. Daraus ist das schon erwähnte Kuratorium mitseinen inzwischen weitverzweigten Arbeitsstrukturenentstanden.Gemeinsam, das heißt für uns im Bewusstsein derUnterschiede zwischen Kirche und Staat mit Blick aufein Ereignis, das ja unzweifelhaft zunächst einmal kirch-licher Natur ist, aber eben zugleich in enger freund-schaftlicher Zusammenarbeit, weil die Bezüge dieses Er-eignisses ebenso unzweifelhaft tief hineinwirkten undhineinwirken in den Staat und die Gesellschaft. Ich be-grüße es deshalb, dass es in den Kirchen konkrete Über-legungen gibt, im Jahr des Reformationsjubiläums zu ei-nem Kirchentag nach Berlin und Wittenberg einzuladen.
Dem Reformator wichtige Fragen der Weltverantwor-tung des Glaubens können so ganz bewusst vor demHintergrund einer inzwischen ausgeprägten Säkularisa-tion an den Stätten der Reformation diskutiert und aufihre Relevanz für uns im Hier und Heute hin reflektiertwerden.Das unterscheidet unsere Herangehensweise im Übri-gen fundamental von der Herangehensweise bei denstaatlicherseits sehr verschämt gestalteten Feiern zum500. Geburtstag Luthers im Jahre 1983 in Wittenberg,die ich noch in persönlicher Erinnerung habe. „Gemein-sam“ heißt für uns also auch: im Zusammenwirken vonBund, Ländern und Kommunen, ergänzt durch ein Enga-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15721
Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff
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gement der Zivilgesellschaft, soweit sie sich in ihrergeistigen und kulturellen Prägung auf Impulse MartinLuthers bezieht. Als Wittenberger füge ich beim Stich-wort „gemeinsam“ hinzu: Ich wünsche mir, dass diesesJubiläum eine spirituelle Kraft auch über konfessionelleGrenzen hinweg entfaltet.
Vor diesem Hintergrund bin ich für die Unterstützungdes Deutschen Bundestages dankbar. Mit einem erstenBeschluss am 18. Juni 2009 und der Beschlussempfeh-lung, die Ihnen heute zur Entscheidung vorliegt, bekräf-tigen Sie nachdrücklich die Bereitschaft des Bundes,sich aktiv konzeptionell, fördernd und gestaltend an derLutherdekade und am Reformationsjubiläum zu beteili-gen.Besonders dankbar bin ich, dass die vorliegende Be-schlussempfehlung fraktionsübergreifend von den Ab-geordneten der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bünd-nisses 90/Die Grünen und ebenso einvernehmlich vomfederführenden Ausschuss für Kultur und Medien wievon allen mitberatenden Ausschüssen getragen wird.Damit unterstreichen Sie den übergreifenden Charakterdes Ereignisses und seine Bedeutung für Politik und Ge-sellschaft, Bildung und Kultur, Wirtschaft und Touris-mus, nationale Identität und internationale Beziehungen.Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken.Ich danke Ihnen auch dafür, dass die Unterstützungdes Bundes bereits sehr konkret geworden ist. Der Be-auftragte der Bundesregierung für Kultur und Medienhat mit Unterstützung des Deutschen Bundestages imlaufenden Jahr ein neues Förderprogramm auf den Wegbringen können, das kulturellen Projekten, aber auch derHerrichtung der historischen Lutherstätten zugute-kommt. Dafür danke ich Ihnen, sehr geehrter HerrStaatsminister Neumann.Das Auswärtige Amt und das Innenministerium sindim Rahmen ihrer Zuständigkeiten hilfreich. Danebenhelfen uns das Bau- und das Wirtschaftsministerium mitBlick auf bauliche und touristische Vorhaben. Natürlichwünsche ich mir, dass diese Unterstützung fortgeführtwerden kann. Wahrnehmung und Bewertung des Refor-mationsjubiläums hängen entscheidend von der touristi-schen Infrastruktur, einem guten Veranstaltungsangebot,interessanten Projekten und vom baulichen Zustand kul-tureller Leuchttürme wie den Lutherstätten ab.All das sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolgdes Jubiläums. Hier steht der Bund aus meiner Sicht ineiner besonderen Pflicht; diese Pflicht hat er erkannt.
Der Kulturstaatsminister hat sein Programm bereits indie mittelfristige Finanzplanung einbezogen. Dankbarbin ich für Überlegungen, eine ergänzende Unterstüt-zung der großen Baumaßnahmen an Orten, die zumWeltkulturerbe gehören, aus dem Etat des Bauministe-riums zu prüfen. Für die betroffenen Länder wäre dieseine große Erleichterung. Die heutige Beschlussempfeh-lung schafft dafür eine gute Basis.Dabei will ich betonen, dass sich bereits sechs Länderfür das Reformationsjubiläum engagieren und auch Un-terstützung des Bundes in Anspruch nehmen: NebenSachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen arbeiten inzwi-schen Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz in den ent-sprechenden Gremien mit. Für Sachsen-Anhalt kann ichsagen, dass wir uns in erheblichem Maße engagieren:Sachsen-Anhalt wird die Jubiläumsvorbereitungen inden kommenden Jahren mit bis zu 75 Millionen Euroaus Landesmitteln unterstützen.
Wir sind für Mittel des Bundes und der EuropäischenUnion dankbar, die hier ergänzend wirken. Wir sind– wie die anderen genannten Länder – dringend daraufangewiesen.Sehr geehrte Damen und Herren, Deutschland bereitetsich auf das Reformationsjubiläum 2017, ein Ereignisvon Weltrang, vor. Der Antrag, der Ihnen heute zur Be-schlussfassung vorliegt, bringt kräftigen Rückenwind fürdas weitere Engagement des Bundes, aber auch der Län-der. Ich danke allen, die daran mitwirken. Ich bitte Sie:Lassen Sie uns weiter gemeinsam für den Erfolg diesesJubiläums arbeiten. Im Jahr 2017 soll die Welt nur denbesten Eindruck von einem geschichtsbewussten, kultur-geprägten, weltoffenen und gastfreundlichen Deutsch-land gewinnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Siegmund Ehrmann hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wer etwas will anfangen, der mag es beizeiten tun“ – soMartin Luther. Diesen Ratschlag befolgen wir, insbeson-dere die Regierung, im politischen Handeln nicht immer,aber im Fall des Reformationsjubiläums 2017 ist diesvon den Akteuren – das haben wir gerade von HerrnMinisterpräsident Haseloff gehört – schon recht frühzei-tig angepackt worden. Bereits im Jahre 2008 ist die so-genannte Lutherdekade feierlich eröffnet worden. Übli-cherweise gestehen wir Jubilaren ein besonderes Jahr zu:Einsteinjahr 2005, Mozartjahr 2006 und das Schillerjahr2009. Warum bekommt Martin Luther eine ganze De-kade?So erfolgreich die eben genannten Herren in ihren je-weiligen Bereichen auch gewirkt haben mögen – die Re-formation revolutionierte nicht nur Theologie und Kir-che. Sie führte zu Umbrüchen weit darüber hinaus. Sieprägte ganze Gesellschaften und stellt einen der wich-tigsten Wendepunkte in der Geschichte des Abendlandes
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15722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Siegmund Ehrmann
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dar. Deshalb gilt sie auch als Eckpunkt für den Beginnder Neuzeit.Natürlich war die Reformation kein Geniestreich Ein-zelner, sondern sie stand in der Kontinuität reformeri-scher Ansätze des Spätmittelalters und konnte sich nurvollziehen, weil verschiedene Faktoren zusammenwirk-ten. Das macht sie aber nicht weniger bedeutsam. Im Ge-genteil: Die Reformation hat der Aufklärung den Weggeebnet, und die prägt bis in die Gegenwart unsere Ge-sellschaft.
Ich will gerne etwas konkreter werden, weil ich esausgesprochen hilfreich finde, dass die Organisatorender Lutherdekade, insbesondere die Evangelische Kirchein Deutschland und ihre Gliedkirchen, die jeweiligenJahre unter ein Leitthema gestellt haben. 2011 stand un-ter der Überschrift „Reformation und Freiheit“. Lutherhatte die theologisch revolutionierende Überzeugung,dass die Menschen durch ihren Glauben und in derNachfolge als theologisch religiöse Begründung freisind. Diese Freiheit können ihnen weder kirchliche nochstaatliche Obrigkeiten nehmen. Der Mensch ist mündigund kann sich ohne Vermittlung einer Autorität ein eige-nes Urteil bilden.
Das ist nicht verkehrt, nicht wahr? Im Gegenteil: Da be-kommt die Bibelübersetzung eine ganz wesentliche Be-deutung. Was früher unter der Herrschaft des Klerus ge-standen hat, nämlich die Schulung der Fähigkeit, sich eineigenes Urteil, eine eigene Kenntnis zu erarbeiten,wurde allen zugänglich. Langfristig entwickelten sichdaraus die Ideen von Freiheit und Gleichheit als eine we-sentliche Triebfeder der Reformation, die letztendlichDemokratie mitgestaltet hat.Das Jahr 2010 stand unter dem Motto „Reformationund Bildung“. Auf die Bibelübersetzung bin ich bereitseingegangen. Die Reformatoren setzten sich aktiv für dieEntwicklung des Schulwesens ein. Sie forderten, dieSchulpflicht für alle Kinder, unabhängig von Stand undGeschlecht. Sie forderten, dass die Städte ihrer Verant-wortung gerecht und als Schulträger tätig werden.Luther predigte den Eltern: Die Kinder müssen lesen ler-nen. Die Folgen der reformatorischen Bildungspolitiksind wissenschaftlich nachgewiesen. Am Ende des19. Jahrhundert war die Alphabetisierungsquote in denprotestantisch geprägten Gegenden um 10 Prozent höherals in anderen Regionen.Das Themenjahr 2013 trägt den Titel „Reformationund Toleranz“. Es liegt auf der Hand, dass durch die Re-formation Toleranz nicht einfach vom Himmel fiel. Dieblutigen Religionskriege in der Zeit danach sprechenBände und haben viel Elend über die Menschen ge-bracht. Nachdem jedoch die Reformation offensichtlichunumkehrbar war, musste man sich langfristig auf einZusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen,aber auch mit Menschen, die nicht „religiös musika-lisch“ sind, einrichten. Die Reformation hat insofernEuropa genötigt, auf der Basis von Toleranz und wech-selseitigem Respekt Regeln für das Zusammenleben un-terschiedlicher Weltanschauungen zu entwickeln. Die re-ligiös-kulturelle Differenzierung und Pluralisierung istdamit zu einem Wesensmerkmal, einer Signatur Europasgeworden.Dies alles stelle ich voran, weil es deutlich macht, wiewichtig es ist, sich mit diesem Teil unseres kulturellenErbes auseinanderzusetzen und deutlich zu machen, wel-che Prägekraft die Reformation in unsere Gesellschafthineinbringt.
Es ist also wichtig – ich begrüße ausdrücklich die Aus-führungen des Ministerpräsidenten –, dass viele Akteurezusammenwirken, um daran zu erinnern, was von derReformation ausgegangen ist und wo ihre Dimension inGegenwart und Zukunft liegt. Insofern unterstützt dieservon den Fraktionen des Deutschen Bundestages getra-gene Antrag genau das Bemühen, diese Dimension he-rauszuarbeiten.Ich möchte noch einen besonderen Aspekt in Erinne-rung rufen: Die europäische Dimension sollte dabeinicht zu kurz kommen. Wir fordern konkret in diesemAntrag, dass der Aspekt des Reformationsjubiläumsauch in die europäischen Programmplanungen aufge-nommen wird. Was das Europäische Kulturerbe-Siegelausmacht, merkt man daran, dass zum Beispiel dieLuthergedenkstätten als Stätten der Reformation mit die-sem Siegel ausgezeichnet worden sind. Das macht deut-lich, welche Strahlkraft von den soeben nähergeschilderten Lutherwelterbestätten ausgeht.
Wir sollten das Reformationsjubiläum 2017 und dieZeit bis dahin intensiv nutzen, um uns mit der Reforma-tion als Teil unseres kulturellen Erbes ganz bewusst aus-einanderzusetzen und um auch die aktuellen Aspekteaufzunehmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun die Staatsministerin im Auswärti-
gen Amt, Cornelia Pieper.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung bringt sich aktiv in die Gestaltung derLutherdekade und des eigentlichen Jubiläumsjahres einund begleitet die Lutherdekade von Anbeginn, nämlichseit 2008. Der Kulturstaatsminister, Herr Neumann, ist für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15723
Staatsministerin Cornelia Pieper
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die Lutherdekade federführend zuständig. Wir, die Bun-desregierung, lassen uns von dem Verständnis leiten, dassdie Reformation ein Ereignis war, das kulturgeschichtlichbedeutende Veränderungen angestoßen hat – und zwarweltweit –, getreu der Aussage Martin Luthers: „Es gibtkeinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon Frie-den ist.“Die Dimension der von der Reformation ausgegange-nen Impulse will die Bundesregierung in Kooperationmit ihren Partnern unterstreichen. Am nächsten Don-nerstag wird die Bundesregierung aus diesem Anlass zu-sammen mit der EKD, den Landeskirchen und den Bun-desländern die sogenannte Dachmarkenkampagne hierin Berlin feierlich eröffnen. Wir wollen damit die Vorbe-reitungen auf das Reformationsjubiläum national undinsbesondere über die Grenzen Deutschlands hinaus be-kannter machen. Im Mittelpunkt der Kampagne stehendabei nicht nur das auf einem der bekanntesten Luther-porträts basierende Logo, sondern auch Leuchtturmpro-jekte, zum Beispiel die Eröffnung des Themenjahres2012 „Reformation und Musik“ am 31. Oktober diesesJahres mit einem großen Festgottesdienst und Konzertenin Eisenach.
Mich freut besonders, dass wir dieses Jubiläum hierim Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend – natür-lich mit Ausnahme der Linken – würdigen und dass wirdies gemeinsam mit einer entsprechenden Dynamik an-gehen; denn das ist wichtig. Wichtig ist aber auch, dasswir international werben,
weil dieses Ereignis weltweit von kulturgeschichtlicherBedeutung ist – ich habe es schon gesagt – und auch tou-rismuspolitisch einiges bewegen kann.Ich selbst bin Mitglied im Kuratorium und werde na-türlich das Auswärtige Amt einbringen. Neben demAuswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium en-gagieren sich acht Bundesministerien, das Bundeskanz-leramt und das Bundespresseamt für die Lutherdekade.Die Bundesregierung hat – vorbehaltlich der jeweili-gen Zustimmung des Bundestages – ihre Bereitschaft er-klärt, sich auch am Reformationsjubiläum finanziell zubeteiligen. Immerhin haben wir 2011 5 Millionen Euroeingestellt. Wir werben für die Einstellung der entspre-chenden Summen in den Haushalt 2012.
– Ja, das ist einen Applaus wert. – Dagegen ist dieSumme beim Auswärtigen Amt – im Moment200 000 Euro – noch etwas klein. Aber das kann sich bis2017 noch steigern.
Lassen Sie mich für die Bundesregierung als Letztes– leider habe ich nur drei Minuten Redezeit – folgendesPlädoyer im Hinblick auf das Reformationsjubiläum hal-ten: Auf internationaler Ebene werden wir für die Jahre2013/2014 eine kunsthistorische Wanderausstellung zumWirken Luthers und zu den weltweiten Auswirkungender Reformation vorbereiten. Daneben soll die soge-nannte Lutherbox an verschiedene Orte wandern, umüber Luther und die Reformation zu informieren.Ich glaube, das alles sind hervorragende Projekte, mitdenen wir auch für den Kulturstandort Deutschland, fürdie Kulturnation Deutschland in der Welt werben kön-nen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Fraktionen,die sich an diesem Antrag beteiligt haben. Danke, dassSie das so intensiv unterstützen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist eine schöne Aufgabe, sich im Parlament mit einemgroßen Ereignis in der Geschichte Deutschlands, ja Eu-ropas zu befassen – mit der Reformation. Es ist eher un-schön, dass meine Fraktion bei der Antragstellung einweiteres Mal ausgeschlossen wurde. Selbst bei einemThema wie der Würdigung des Reformationsjubiläumsdarf meine Fraktion einen Antrag aller anderen Fraktio-nen nicht mittragen.
Grund: ein grundsätzlicher Boykott der Linken durch dieCDU/CSU-Fraktion, der von den anderen Oppositions-fraktionen tapfer mitgetragen wird.
„Was ist eigentlich natürlich am Ausschluss der FraktionDie Linke bei einem solchen Thema in der parlamentari-schen Behandlung?“, frage ich mich und frage ich Sie.
Wenn wir an diesem Antrag schon nicht mitarbeitendurften, wähle ich den kurzen Moment meiner Rede, umIhnen zu beschreiben, was diesem Antrag aus unsererSicht fehlt. Wenn Sie die Reformation feiern wollen,müssen Sie sich mit mehr befassen als mit Luther, undSie dürfen Luther auch nicht zu einer Lichtgestalt vonFreiheit oder gar Toleranz stilisieren.
Kardinal Lehmann, kein geringerer als er, hat in einemInterview mit der Zeitung Die Welt konstatiert – Zitat –:
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15724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Dr. Lukrezia Jochimsen
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Er wird wohl deshalb so gefeiert, weil er denKampf gegen die Autorität des Papstes aufgenom-men hat und sich nicht einschüchtern ließ. Dass ereinen epochengeschichtlichen Einschnitt personifi-ziert, kann man nicht bestreiten. Aber der Held derFreiheit im weitesten Sinn ist er nicht. Das zeigtsein Verhalten gegenüber anderen Reformatoren,den Bauern bei ihrem Aufstand, Andersgläubigen,zum Beispiel den Wiedertäufern, aber auch gegen-über Katholiken und Juden.
In den lutherischen Territorien– lieber Kollege Ehrmann –wurde die frühzeitliche Religionsfreiheit kaum be-achtet, es herrschte allenfalls eine mildere Formvon Toleranz als sonst im Reich.So weit Kardinal Lehmann.Von dieser Einordnung Luthers ist in Ihrem Antrag ankeiner Stelle die Rede. Zwar versprechen Sie – Zitat –,„das weite Themenspektrum der Reformation“ in derLutherdekade aufzunehmen, doch ich vermisse vor al-lem die Rolle des Volkes bei dieser Reformation:
das hoffende, das kämpfende, das umdenkende und dasvielerorts schwer betrogene, ja niedergekämpfte Volk.Seiner bei diesem Jubiläum zu gedenken, wäre geradeheute, in einer Zeit der vielen Volksaufstände, die zu-meist auch religiös motiviert oder gegenmotiviert sind,ein wichtiges Signal.
Sie führen eine imposante Liste von WeggefährtenLuthers an. Aber wo bleiben die Zeitgenossen der Refor-mation, allen voran Thomas Müntzer, der, wohlgemerkt,die erste deutsche Predigt verfasst hat und dessen Frei-heitsbegriff und Menschenbild durch und durch reforma-torisch waren, auch wenn die Niederschlagung blutigwar? Müntzer steht für Begriffe wie direkte Demokratieund soziale Gerechtigkeit. Er propagierte Freiheit undGleichheit der Menschen als göttliche Prinzipien. DerReformation der Kirche sollte eine Reformation der Ge-sellschaft folgen.Ferner führen Sie eine imposante Liste von Orten an,die kulturgeschichtlich mit der Reformation in Verbin-dung stehen, von Augsburg bis Worms. Wo bleibt zumBeispiel Mühlhausen? Nein, Ihr Reformationsbild – esist auf Luther fixiert, und Ihr Lutherbild ist ganz und gareinseitig – ist zu schmal, um dem Ereignis Reformationgerecht zu werden. Von den ständigen Ausrutschern indie Tourismusfalle, den ganzen Marketing- und Stand-ortbeschwörungen bis hin – jetzt bitte ich, aufmerksamzu sein – zur „Dachmarkenkampagne Luther 2017“durch den Staatsminister – ist er anwesend? – am27. Oktober 2011 will ich gar nicht reden. Ich glaube,Luther würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn erdas Wortungetüm „Dachmarkenkampagne Luther 2017“hören würde.
Ich kann nur hoffen, dass von den 5 Millionen EuroBundesmitteln, die jetzt jährlich zur Verfügung stehen,auch Projekte und Orte der Seite der Reformation geför-dert werden, die Sie in Ihren Antrag – sagen wir einmal:bisher – gar nicht einbezogen haben. In dieser Hoffnungstimmen wir als ausgeschlossene Fraktion diesem An-trag zu.Danke schön.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Agnes Krumwiede das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ja, 5 Millionen Euro Bundesmittel pro Jahrbis 2017 für die Lutherdekade erfordern eine transpa-rente Kommunikation darüber, wofür diese Mittel ver-wendet werden sollen. Jedes Jahr haben die Veranstal-tungen andere thematische Schwerpunkte; wir habenschon gehört, dass das so ist. Das nächste Jahr zum Bei-spiel steht unter dem Motto „Reformation und Musik“.Ein Teil der Bundesfinanzierung wird in die Restau-rierung und Vorbereitung der Wirkungsstätten MartinLuthers fließen. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass imvorliegenden Antrag auf eine nachhaltige Ausrichtungdes Reformationsjubiläums Wert gelegt wird.
Bei Veranstaltungen und bei der Herstellung von Info-materialien sollen Kriterien der Klimaneutralität berück-sichtigt werden.Neben der investiven Vorbereitung auf das Großereig-nis im Jahr 2017 sind für uns die kulturelle und gesell-schaftliche Dimension entscheidend. Zahlreiche Veran-staltungen sollen den Dialog zwischen Gesellschaft undKirche programmatisch stärken. Wir begrüßen, dass da-bei kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Aus-einandersetzungen im Zentrum stehen.
Diese Chancen der kulturellen Begegnung innerhalb derLutherdekade wollen wir gern in den nächsten Jahrenpolitisch begleiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15725
Agnes Krumwiede
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Eine Fokussierung auf rein touristische Aspekte leh-nen wir ab.
Nicht ein möglichst repräsentatives Bild Lutherdeutsch-lands im Ausland steht für uns im Vordergrund, sonderndie inhaltliche und interdisziplinäre Auseinandersetzungmit Luther, seiner Zeit und den Auswirkungen seinerSchriften.Um die Trennung zwischen Staat und Kirche in derOrganisationsstruktur zu bewahren, gibt es zwei Ge-schäftsstellen: eine von staatlicher und eine von kirchli-cher Seite. Bestrebungen – auch seitens des BKM –,diese beiden Stellen zusammenzulegen, lehnen wir ab.Kirchliche und staatliche Zuständigkeiten müssen klarvoneinander getrennt bleiben.
Ein Jubiläum mit dem Anspruch auf ein kirchlichesund kulturgeschichtliches Ereignis von Weltrang mussbei Projekten und Veranstaltungen alle Menschen an-sprechen und einbeziehen, nicht nur Protestanten. Au-ßerdem darf sich die Ausgestaltung der Jubiläumsfeier-lichkeiten nicht auf einige wenige Prestigeeventsbeschränken. Dafür ist eine bundesweit flächende-ckende, vielfältige und abwechslungsreiche Veranstal-tungsstruktur in den Städten ebenso wie im ländlichenRaum notwendig. Auch die Förderung des Dialogs mitanderen Religionen, mit Nichtgläubigen und Atheistensollte im Rahmen der Lutherdekade gestärkt werden.
Es darf nicht um eine Verherrlichung Martin Luthersgehen.
Auch kritische Fragen müssen aufgeworfen werden. Nurdurch eine kritische Auseinandersetzung mit der Institu-tion Kirche, der Person Martin Luther und den umfas-senden Konsequenzen seiner Schriften für die Ge-schichte wird die Lutherdekade ihren Aufgaben gerecht.
Martin Luthers Wirken hatte viele Facetten mit prä-gender historischer Ausstrahlung. Auf der einen Seitegilt er als Reformator, als Modernisierer der Kirche. Un-bestritten ist sein Beitrag zur Demokratisierung, zur Ent-wicklung der deutschen Sprache und zum Zeitalter derAufklärung durch die Stärkung der individuellen Eigen-verantwortung und der Gewissensentscheidung.
Auf der anderen Seite, der unbequemen Schattenseite,gilt Martin Luther als populärer Vertreter des Antijudais-mus. Einige Auszüge aus seinen Briefen und Predigtensind gerade durch die Brille der jüngeren deutschen Ver-gangenheit schwer verdaulich. Diese Aspekte dürfen imGlanz der Lutherdekade nicht untergehen.
Im Gegenteil: Die Lutherdekade kann ein Forum derkritischen Reflexion bieten, um über den EinflussLuthers auf Vergangenheit und Gegenwart aus unter-schiedlichen Perspektiven zu diskutieren. In diesemKontext sollten auch Moses Mendelssohn – der jüdischeLuther, wie Daniel Barenboim ihn einmal bezeichnet hat– und Mendelssohns wenig beachteten Bibelübersetzun-gen eine Rolle spielen.Im vorliegenden Antrag sind die Rahmenbedingun-gen für das Jubiläum festgelegt. Als nächster Schrittmuss die inhaltliche Ausrichtung, die Identifikation mitder Lutherdekade in der Bevölkerung gestärkt werden.Jetzt müssen die inhaltlichen Weichen für eine bunteLutherdekade gestellt werden, mit Events, Diskussions-runden und Foren, die alle gesellschaftlichen und kultu-rellen Gruppen zum Mitreden, Mitdenken und Mitge-stalten einladen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Nach Martin Luther müsste ich in dieser 45-Minu-ten-Debatte schweigen. Er hat einmal seinen Glaubens-brüdern zugerufen: Ihr könnt predigen, was ihr wollt,aber nicht über 30 Minuten.
Ich schweige nicht.Ich möchte mich dem Lutherjubiläum in meinem Bei-trag mit einer Aussage des Papstes, die er im DeutschenBundestag getroffen hat, nähern:Die Kultur Europas– so hat es der Papst gesagt –ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen undRom – aus der Begegnung zwischen dem Gottes-glauben Israels, der philosophischen Vernunft derGriechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden.Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identi-tät Europas.Unser Denken, unser Handeln und unsere Wertvor-stellungen sind ganz wesentlich durch die christlich-jü-dischen Religionen geprägt. Auch unserem neuen Eu-
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Wolfgang Börnsen
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ropa haben sie mit die Seele gegeben. Eine europäischeKulturidentität ist ohne das Christentum nicht vorstell-bar.
Dass unser Kontinent unabhängig davon eine buntemultikonfessionelle wie religiöse Landschaft bietet,empfinde ich als eine Bereicherung. Tatsache bleibt je-doch: Die Entchristlichung unseres Abendlandes hält an.Die Risse in Europas Fundament vergrößern sich. EineRevitalisierung der geistig-moralischen Grundlagen un-seres Kontinents ist nicht nur Kirchenverantwortung. Sieist unser aller Verantwortung.
Auch deshalb befassen wir uns mit der Lutherdekade,mit dem Beitrag der Lutheraner zur kulturellen und euro-päischen Identität.Luthers Freiheitsverständnis nimmt dabei eine Schlüs-selrolle ein. Er sagte:Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alleDinge und niemandem untertan.
Zugleich sagte er:Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht allerDinge und jedermann untertan.Dieses Doppelgesicht von Freiheit und Gleichheit vorGott und dem Gesetz hat unser Bürger-, unser Staats-und unser Demokratieverständnis in den folgenden Jahr-hunderten ganz maßgeblich beeinflusst. Die Bill ofRights in England, die Verfassung der Vereinigten Staa-ten von Amerika und die Aufklärung wären ohne Luthernicht denkbar.Besonders in Skandinavien, wo der Wegbegleiter desReformators Johannes Bugenhagen gewirkt hat und wosich bis heute fast 90 Prozent der Bevölkerung zum Pro-testantismus bekennen, lassen sich die Spuren dieserGlaubensausrichtung verfolgen. Dass Dänemark als ers-tes Land die Sklaverei abschaffte, hat mit dem damalsneuen Freiheits- und Gleichheitsverständnis des Refor-mators zu tun. Die vorbildlichen Staatsgedanken derSchweden im Hinblick auf die soziale Ausrichtung derPolitik sind ebenso darauf zurückzuführen wie der nor-wegische Widerstand gegen die deutsche Besatzungwährend des Zweiten Weltkrieges. Mut, Rechtfertigungund Kraft schöpften die Frauen und Männer damals ausden Lehren Luthers.Heute sind diese Länder ein unverzichtbarer Eckpfei-ler Europas. Sie haben standgehalten – auch gegenüberFaschismus und Kommunismus, diesen menschenver-achtenden Selbsterlösungsideologien. Diese Länder ge-hörten mit zu den ersten auf unserem Kontinent, die denGrundsatz der Glaubensfreiheit praktizierten, wie ihndas Luthertum forderte.In der ständisch hierarchisierten Welt Anfang des16. Jahrhunderts trugen Forderungen nach Religionsfrei-heit und demokratischen Gemeindestrukturen oder auchder Wahrung der Gleichheitsgrundsätze revolutionäreZüge. Heute sind sie in der Europäischen Union Allge-meingut. Gott sei Dank! Das muss so bleiben.Für die Mehrheit der Menschen auf unserer Welt gel-ten sie jedoch noch nicht. Deshalb ist es für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein besonderes Anliegen, mitder Lutherdekade auch auf diese Defizite aufmerksam zumachen und weltweit Bürger- und Menschenrechte ein-zufordern.Geben wir als Parlament den 25 Millionen Protestan-ten in unserem Land – Frau Jochimsen, unseren Glau-bensbrüdern – eine Stimme, ohne Spott. Stärken wir die61 Millionen Protestanten in Europa und die über400 Millionen in der Welt. Als Ausgangs- und Kernlanddes Protestantismus haben wir in Deutschland hier eineganz besondere Verantwortung.
Das Lutherjubiläum wird sicher einen Beitrag zurStärkung der europäischen Solidarität leisten können,und gerade in diesen Tagen ist Solidarität in Europa be-sonders gefordert.Danke schön.
Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Iris
Gleicke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Reformation war nicht nur ein wichtiges kirchliches,sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis. Sie bedeu-tete Abschied vom Mittelalter, Stärkung der Aufklärung,Bildung für das Volk und Ausbildung einer deutschenSprache und Kultur, und, ja, bis zur wirklichen Demo-kratie, bis zu wirklicher Freiheit und bis zu Toleranz wares dennoch noch ein weiter Weg. Trotzdem: Die Ham-merschläge, mit denen Martin Luther im Jahr 1517 seine95 Thesen an das Tor der Wittenberger Schlosskirche na-gelte, erschütterten die Welt in ihren Grundfesten.Viele verbinden das Wort „Reformation“ mit unseremheutigen Reformbegriff, mit Umgestaltung und mit derVerbesserung des Bestehenden, mit der Art von Refor-men, die wir im Parlament immer wieder in Gang setzenund die leider viel zu oft dazu führen, dass sich die Bür-ger entsetzt und genervt abwenden.Reformation bedeutet aber eigentlich Wiederherstel-lung und Erneuerung. Luther wollte die von ihm festge-stellten Fehlentwicklungen des Christentums beseitigenund überwinden. Er wollte die Kirche eigentlich nichtspalten.
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Iris Gleicke
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Auch wir reden heute viel von Wiederherstellung undErneuerung, zum Beispiel von einer Erneuerung undWiederherstellung der sozialen Marktwirtschaft, die an-gesichts des wahnwitzigen Treibens an den Finanzmärk-ten aus den Fugen zu geraten droht. Manch einer findet,ein Reformator vom Range eines Martin Luther stündeuns auch heute noch ganz gut zu Gesicht.2017 werden Martin Luther, sein Werk und seine Wir-kungsstätten im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen.Ich finde, sie sollten Kristallisationspunkte für einebreite gesellschaftliche Debatte sein. Das sollten wir unsalle als Angehörige unterschiedlicher Religionen undKonfessionen gemeinsam wünschen. Das gilt auch fürunsere Laizisten.
Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deut-schen Kulturrates, hat erklärt, dass es einer kritischenund öffentlichen Debatte der gesamten Zivilgesellschaftbedarf. Er hat die evangelische Kirche aufgefordert, ihreTore dafür sehr weit zu öffnen. Das ist ein gutgemeinterHinweis. Ja, wir müssen gemeinsam darauf achten unddarauf drängen, dass sich die gesamte Zivilgesellschaftan den geplanten Projekten beteiligt und es eine bunteDekade wird.Aber mir erscheint auch in Erinnerung an den Besuchdes Papstes hier im Deutschen Bundestag der Hinweisäußerst wichtig, dass sich die beiden großen Kirchen inihrer bewussten Distanz zum Staat doch längst als Teildieser Zivilgesellschaft begreifen. Insofern stehen dieTore längst sperrangelweit offen. Das ist ein gewaltigerFortschritt, der neue Perspektiven hinsichtlich des Um-gangs mit unserer gemeinsamen Geschichte und unseresMiteinanders eröffnet. Darauf dürfen wir gemeinsamstolz sein.
Ich bin in diesem Sinne dem Kulturstaatsministerdankbar, dass er bei dem Projekt „DenkWege zu Luther“darauf gedrängt hat, dass Schülerinnen und Schüler ausSachsen-Anhalt und Thüringen gemeinsam miteinanderarbeiten. Als Ostdeutsche – das sei mir gestattet – wün-sche ich mir natürlich eine Westerweiterung, weil ichglaube, dass dieses Projekt dabei noch spannender undfruchtbarer werden könnte. Ich denke, das werden wiralle in diesem Hause einmütig unterstützen.Es wäre doch wirklich gut, wenn sich junge Leutenicht nur aus den Kernländern der Reformation mit sospannenden Fragen beschäftigen würden, was ein soklassischer und theologischer Begriff wie „Gnade“ heutebedeutet. 500 Jahre nach Luthers Thesen ist unsere mo-derne Gesellschaft vielfach gnadenlos auf Leistung undMakellosigkeit ausgerichtet.Ein anderes Beispiel ist der kritische Umgang mitdem damaligen Ablasshandel. Wie weit sind wir davonheute in einer Gesellschaft entfernt, in der buchstäblichalles und damit auch das gute Gewissen käuflich zu seinscheint? Der unvergessene Johannes Rau hat einmal dieSorge geäußert, dass eine junge Generation heranwächst,die von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.Meine Damen und Herren, „Am Anfang war dasWort“, so steht es in der Bibel, und so heißt ein Projekt,das die Thüringer Wartburg-Stiftung und die Lutherge-denkstätten in Sachsen-Anhalt ins Werk gesetzt haben.Dabei geht es um die Auswirkungen der Reformationauf die deutsche Sprache. Es geht darum, auch diejeni-gen auf unsere kulturellen Wurzeln aufmerksam zu ma-chen, die mit Religionen nichts am Hut haben. Auch dasist ein wichtiges, gutes und sinnvolles Projekt.Hier sehe ich, liebe Frau Pieper, auch das AuswärtigeAmt mit den Goethe-Instituten in der Verantwortung undin der Pflicht; denn die Reformation als Weltereigniswäre auch in Ihrem Ressort eine klassische Aufgabe.
Meine Damen und Herren, die Reformation gehörtnicht der Kirche und nicht dem Staat. Sie gehört uns al-len, so wie die Aufklärung und das Grundgesetz. Sie istein Menschheitserbe. Für das Jubiläum der Reformationmüssen sich alle gesellschaftspolitischen Kräfte engagie-ren, und zwar nicht nur als Geldgeber und Gönner, alsStifter und Sponsoren. All das ist hochwillkommen; aberes muss einer übergreifenden Debatte dienen und dieseunterstützen. Ersetzen kann es diese Debatte auf keinenFall; sonst würde daraus ein neuerlicher Ablasshandelwerden. Verantwortung muss man wahrnehmen. Mankann sich davon nicht freikaufen. Aber das, liebeFreunde, ist zweifellos ein weites Feld.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick
Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinisterpräsident! Frau Jochimsen, ich habe nun besserverstanden, warum Herr Ramelow in dieser Woche sostark an einen Austritt aus der Linken dachte.500 Jahre Thesenanschlag, 500 Jahre seit Beginn derReformation und, leicht übertrieben, 500 Jahre evangeli-sches Christentum. Nicht übertrieben: Das Reforma-tionsjubiläum ist kirchlich, kulturgeschichtlich und ge-sellschaftlich ein Ereignis von Weltrang.
Die Reformation war eine der ganz, ganz wichtigenSäulen für die Aufklärung. Sie ist ein Stück weit Voraus-setzung für die Entwicklung hin zum mündigen Men-schen im aufgeklärten Staat gewesen. Dem Menschenobliegt die Verantwortung für sich selbst. Sein Schicksal,seine Erfolge, seine Niederlagen – ja, dafür hat er eine
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15728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Patrick Kurth
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eigene Verantwortung. Und er übergibt diese persönlicheHaftung nicht komplett an übergeordnete Institutionenoder Mächte.Diese Entwicklung stieß die Reformation an – nichtnur in der Kirche und schon gar nicht nur für die evange-lische Kirche; denn der Impuls, den die Reformationgab, war ein Impuls für die Bildung der Menschen undinsbesondere für das Verständnis von persönlicher Ver-antwortung für das eigene Handeln. Das sind heute,Jahrhunderte später, noch immer die Grundsätze, auf de-nen unser Gemeinwesen beruht. Einige wissen, wieschwer es ist, sich täglich schweißtreibend dafür einzu-setzen, dass persönliche Freiheit und eigene Verantwor-tung verteidigt werden müssen.
Auf die christlichen Traditionen dieses Landes kön-nen wir mit Blick auf die Reformation stolz sein. Dennwir hier in Deutschland haben den aufgeklärten Staat einStück weit vorangetrieben. Uns Deutschen steht es gutzu Gesicht, wenn wir auch die protestantische Traditiondes Landes nicht verstecken. Deshalb wird diese Luther-dekade, die wir feiern und die 2017 zu ihrem Höhepunktkommt, eben nicht nur von Protestanten durchgeführtund gefeiert: Breite gesellschaftliche, wirtschaftliche,bürgerschaftliche Kräfte, freie Kirchen, Kommunal- undLandespolitik sind mit an Bord. Die öffentliche Verwal-tung – meistens nicht erwähnt – trägt einen großen Teildazu bei; Gleiches gilt für Ehrenamtliche und – das istbesonders wichtig – zahlreiche Katholiken. Mittlerweileist diese gute Zusammenarbeit zwischen Protestantenund Katholiken, zwischen den beiden Konfessionen,auch in der Lutherdekade eher selbstverständlich als au-ßergewöhnlich, und das ist auch gut so.Meine Damen und Herren, alle Beteiligten sind sicheinig: Die Lutherdekade wird nicht ausschließlich auftheologische und akademische Aspekte eingehen. DieKirche hat gerade in Mitteldeutschland die Möglichkeit,sich gesellschaftlich breit zu öffnen. Insofern schlagenwir mit unserem Antrag nicht nur ein paar Punkte vor,sondern fordern dazu auf, natürlich auch wirtschaftliche,touristische und gesellschaftliche Aspekte in die Luther-dekade einzubringen.Ich freue mich übrigens darüber, dass wir am 27. Ok-tober – Sie alle sind dazu eingeladen – noch einmal überdie Lutherdekade sprechen werden, genau in einer Wo-che um diese Zeit drüben im Paul-Löbe-Haus. Da gehtes darum, über die einzelnen Aspekte zu sprechen.In diesem Sinne bedanke ich mich bei allen Beteilig-ten, insbesondere bei denen, die die Verhandlungen fürden Antrag geführt haben. Ich bedanke mich ganz herz-lich bei den Haushältern dafür, dass sie so viel Geld inden Haushalt des Bundeskanzleramts, nämlich für denStaatsminister, einstellen. Ich bedanke mich ebensoherzlich dafür, dass es demnächst auch im AuswärtigenAmt viel, viel mehr sein wird. Ich bedanke mich beimStaatsminister im Auswärtigen Amt, der derzeit im Aus-land weilt. Ich bedanke mich beim Wirtschaftsministe-rium und beim Verkehrsministerium, das eigenständigMittel für die Lutherdekade zur Verfügung gestellt hat.Bei der Präsidentin bedanke ich mich für ihre Geduldund dafür, dass ich hier kurz überziehen durfte.Herzlichen Dank.
Der Kollege Michael Kretschmer spricht nun für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In gro-ßer Einigkeit wurde und wird heute über die Lutherde-kade und das Reformationsjubiläum diskutiert. Dazugibt es einen Antrag, der von der Mehrheit der Fraktio-nen in diesem Hohen Hause gemeinsam eingebrachtwurde. Ich finde, das ist ein erfreulicher Umstand. Ichfreue mich sehr darüber, weil es dem Anliegen und derBedeutung dieses Anlasses sehr gerecht wird.
Die Reformation – das wurde bereits angesprochen –ist nicht allein eine kirchliche Angelegenheit; sie hatvielmehr die gesamte Gesellschaft geprägt. UnserWunsch sollte sein, dass Deutschland und Europa diegroße Chance nutzen, mit dem Reformationsjubiläum ei-nen neuzeitlichen Diskurs über die Grundlagen unsererKultur, das Verhältnis zu anderen Kulturen sowie unsereWerte und Traditionen zu führen.Der freiheitliche Staat lebt von Grundlagen, die erselbst nicht schaffen kann. Dazu gehören Werte wie dieAchtung des anderen, Toleranz, Demokratie und Gewal-tenteilung. Über all das lohnt es zu debattieren und sichdessen immer wieder zu vergewissern. All das hat mitSicherheit mit einem bedeutenden Punkt begonnen: mitder Reformation. Denn die Reformation ist die Geburts-stunde eines christlichen Freiheitsbegriffs, der das Men-schenbild beeinflusst, die Eigenverantwortung und dieGewissensentscheidung des Einzelnen wieder in denVordergrund gerückt und letzten Endes Aufklärung undDemokratie befördert hat.
Die Übersetzung der Bibel hat eine gewaltige Bil-dungsexpansion ausgelöst. Sie hat die deutsche Sprachebefördert und – das wurde mehrfach angesprochen –dazu geführt, dass Schulen gegründet wurden und Bil-dung ermöglicht wurde.All das sind Gründe, warum sich der Staat für diesesJubiläum engagieren soll, statt es alleine den Kirchen zuüberlassen. Aus diesem Grund ist es richtig, dass wir denUnterhalt der Luthergedenkstätten seit geraumer Zeit mit1 Million Euro jährlich fördern und dass wir mit unse-rem Staatsminister Bernd Neumann in der Bundesregie-rung jetzt einen Koordinator haben, der sich um das Re-formationsjubiläum und die Lutherdekade kümmert.Bernd Neumann, der heute leider nicht anwesend sein
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Michael Kretschmer
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kann, weil er im Ausland weilt, arbeitet unglaublich er-folgreich und engagiert an diesem Projekt.
Es ist im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass es gelun-gen ist, für den Zeitraum bis 2017 immerhin 35 Millio-nen Euro für das Reformationsjubiläum zu organisieren,um Projekte, Ausstellungen und die Sanierung derLuthergedenkstätten zu finanzieren. Ich halte das füreine großartige Sache.
Wir alle wollen an diesem Projekt weiter mitarbeiten.Ich halte es für richtig, dass wir über den Denkmalschutzund die Denkmalpflegemittel zusätzliche Möglichkeitenschaffen, die Orte der Reformation in einen ordentlichenZustand zu bringen. Ich bin auch der Meinung, dass wirdas Reformationsjubiläum nicht touristisch „verzwe-cken“ dürfen. Natürlich ist es eine Chance für den Tou-rismus, den man auch ergreifen sollte. Aber es wäre vielzu kurz gesprungen, die Reformation und das Jubiläumvor diesem Hintergrund zu diskutieren.Nein, meine Damen und Herren, es muss um Werteund Kultur gehen. Das muss das Ziel dieses Prozessessein, in dem wir mittendrin sind. Es liegen noch einigespannende Jahre vor uns. Nutzen wir sie! Bringen wiruns alle aktiv in die Diskussion ein!Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Das Reformationsjubiläum im
Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7219, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6465 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
möchte sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzmarktwächter im Verbraucherinteresse
einrichten
– Drucksache 17/6503 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Sobald die notwendigen Umgruppierungen im Ple-
narsaal vorgenommen sind, werde ich die Aussprache
eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wirderzeit auf den Finanzmärkten erleben, zeigt nicht nur,dass die Märkte dysfunktional sind, sondern das ist auchein Zeichen für Politikversagen, für regulatorische Feh-ler, für mangelnden Vollzug und für politische Mutlosig-keit gegenüber einer Branche, die Vertrauen in großemStil verzockt hat. Das belegt ein Blick auf die Schlagzei-len in der Tagespresse in beängstigender Weise, und dasbetrifft die Stabilität des gesamten Finanzsystems.Aus der Sicht der einzelnen Anlegerinnen und Anle-ger und der einzelnen Kreditnehmer, wenn wir also vonunten her schauen, ist die Situation kaum besser als zuBeginn der letzten Finanzmarktkrise, als wir hier dieFolgen des Lehman-Crashs diskutiert haben. DieFinanzbranche ist nicht verbraucherfreundlicher gewor-den. Das liegt zum einen an regulatorischen Fehlern derschwarz-gelben Bundesregierung. Ich nenne das Anla-geberatungsprotokoll, das Produktinformationsblatt oderjetzt zuletzt den Gesetzentwurf zur Novellierung desFinanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts,nach dem man die Gewerbeaufsichtsämter statt derBaFin mit der Regulierung betrauen will.
Das liegt zum anderen daran, dass gesetzliche Regelun-gen, die wir zum Schutz der Anleger haben, in weitenTeilen der Finanzbranche als freundliche Hinweise ver-standen werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Offenle-gung von Provisionen. Die Bankkunden haben den ge-setzlichen Anspruch auf Informationen. Eine aktuelleErhebung des vzbv kam zu folgendem Ergebnis: ZweiDrittel der Banken und Sparkassen antworteten über-haupt nicht, und 94 Prozent der Auskünfte des einenDrittels, das geantwortet hat, waren wertlos. Dazu kannich nur sagen: Wenn es Gesetze gibt, dann muss mansich daran halten; es sind keine freundlichen Hinweise,die man beachten kann oder eben nicht.
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Nicole Maisch
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Dieses Problem wurde nicht von der BaFin, der Auf-sichtsbehörde, entdeckt und skandalisiert, sondern voneinem privaten Akteur, dem vzbv. Es gibt eine ganzeReihe weiterer Beispiele: absurd hohe Dispozinsen, ver-steckte Gebühren, Restschuldversicherungen usw. Diesbeweist, dass auf den Finanzmärkten eine ganze Mengeim Argen liegt.Deshalb schlagen wir Ihnen unser Konzept desFinanzmarktwächters vor. Was bedeutet dieses Konzept?Zunächst bedeutet es die Stärkung der Marktbeobach-tung aus Verbrauchersicht. Wir brauchen eine verbrau-cherorientierte Marktbeobachtung, die nicht nur die Sta-bilität der Märkte und die Solvenz der Banken, sondernauch die Interessen der einzelnen Kundinnen und Kun-den im Blick hat. Die Marktanalyse von unten ist not-wendig. Das hat die Bundesregierung im letzten Herbstselbst zugegeben, als sie ankündigte, verdeckte Testkäu-fer der BaFin losschicken zu wollen. Das heißt, auch dieBundesregierung hat erkannt, dass wir Marktbeobach-tung nicht nur aus Sicht der Großen, sondern auch ausSicht der Kleinen, der Kundinnen und Kunden, brau-chen. Wir haben mit den Verbraucherzentralen und demvzbv gute Partner, die wir weiter stärken können; denn inden Verbraucherzentralen kommen die aktuellen Pro-bleme der Kundinnen und Kunden, die sich dort beratenlassen, an.Was gehört noch zu unserem Konzept des Finanz-marktwächters? Dazu gehört auch die Zusammenarbeitmit den Aufsichtsbehörden. Wir haben die BaFin, aberdie kann, so finde ich, manchmal einen kleinen Schubsgebrauchen. Deshalb benötigen die Verbraucherzentra-len und die vzbv ein Anrufungs- und Initiativrecht ge-genüber der BaFin. Wir fordern, dass die BaFin analogzum Verfahren bei der britischen Super Complaint spä-testens nach 90 Tagen zu einem vom Finanzmarktwäch-ter eingereichten Problem öffentlich Stellung nimmt.Das ist im europäischen Ausland nichts Ungewöhnli-ches. Es wird damit auch kein Privater mit der Regulie-rung betraut, sondern die Regulierungsbehörden werdenlediglich von unten, aus Verbrauchersicht, angeschubst.Das ist keine schlechte Sache.
Was soll der Finanzmarktwächter noch leisten? Ichnenne hier die Instrumente der kollektiven Rechtsdurch-setzung. Wir haben auf europäischer Ebene einen um-fangreichen Konsultationsprozess zu Instrumenten derkollektiven Rechtsdurchsetzung. Wir sind der Meinung,dass gerade auf dem Finanzmarkt bessere Möglichkeitenfür Sammel- und Gruppenklagen notwendig sind, damitdie Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem gutenRecht kommen. Märkte funktionieren nur, wenn es eineneffektiven Rechtsschutz gibt.
Deshalb fordern wir Sie auf: Schaffen Sie die rechtli-chen Voraussetzungen für die Arbeit eines Finanzmarkt-wächters! Stellen Sie im Haushalt die notwendigen Mit-tel zur Verfügung! Prüfen Sie, ob auch die Branche zurFinanzierung herangezogen werden kann!Ich erinnere an die letzte Finanzmarktkrise, als dasBMELV in Kooperation mit den Verbraucherzentralenein Verbrauchertelefon geschaltet hat. Das hat, soweitich weiß, wenige Hunderttausend Euro gekostet. Nichteinmal da war die Finanzbranche bereit, einen finanziel-len Beitrag zu leisten. Das ist, finde ich, ein Armuts-zeugnis. Hier könnte sich die Regierung Gedanken ma-chen, wie man die Banken und die Finanzvermittlerbeteiligen könnte.Lassen Sie mich zum Schluss noch mit einigen Vorur-teilen und bewussten Missverständnissen aufräumen, dieder Begriff „Finanzmarktwächter“ in schwarz-gelbenOhren gelegentlich auslöst.Erstens. Es handelt sich nicht um eine Vermischungvon privater Initiative und staatlichem Handeln.Zweitens. Es ist keine neue Behörde, soll keine neueBehörde werden; das ist nicht geplant.Drittens. Es ist nicht die Lösung aller Probleme, undes ist auch nicht der Ersatz für effektive Regulierungen.Aber es ist eine wirksame Unterstützung für die Verbrau-cherschützer in der Arbeit, die sie leisten. Es ist einewirksame Möglichkeit, das eklatante Ungleichgewichtzwischen Anbietern und Anlegern zu mindern, und es isteine Unterstützung für fairen Wettbewerb statt Abzocke,für ehrliche Beratung statt provisionsgetriebenem Ver-kauf und für eine Regulierung, die sich an den Bedürf-nissen der Kundinnen und Kunden orientiert.Ich würde die schwarz-gelbe Regierung auffordern,ihre Samthandschuhe, die sie gegenüber der Finanzbran-che immer noch trägt, auszuziehen,
endlich effektiv zu regulieren und den Finanzmarkt-wächter im Sinne der Kundinnen und Kunden einzufüh-ren.
Die Kollegin Mechthild Heil hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Finanzkrise hat unser Vertrauen in dieMärkte erschüttert. Quer durch alle Bevölkerungsschich-ten wird Bankern und Finanzleuten heute nur mit Kopf-schütteln begegnet. Der Glaube an funktionsfähige Fi-nanzmärkte ist geschwunden. Das mag die Sozialistenund die Globalisierungsgegner freuen, die Auswirkun-gen sind aber für uns alle fatal.
Denn in unserer sozialen Marktwirtschaft sind integere,effiziente und transparente Kapitalmärkte die entschei-dende Voraussetzung für ein gesundes Wachstum der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15731
Mechthild Heil
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Wirtschaft einerseits, aber auch für die Leistungsfähig-keit unserer Sozialsysteme andererseits, an die wir unsso wunderbar gewöhnt haben und auf deren Niveau wirwirklich nicht verzichten wollen. Ich denke, auch dieLinken, die Sozialisten und die Globalisierungsgegnerwollen das nicht.
Es gilt, Vertrauen in die Finanzmärkte zurückzuge-winnen. Liebe Frau Maisch, an erster Stelle ist das eineAufgabe der Finanzmärkte selber.
Sie haben das Vertrauen verspielt, und sie müssen sich„tummeln“, es wiederzugewinnen. Ich habe deswegenüberhaupt kein Verständnis für diejenigen in der Bran-che, die glauben, so weitermachen zu können wie zuvor.Das ist ein Armutszeugnis für die Institutionen und fürdie Menschen, die sich selbst zur Elite unseres Landeszählen. Sie haben kluge Köpfe in ihren Reihen, sie gehö-ren zu den Spitzenverdienern in unserem Land, und siehaben die Verantwortung. Es wird Zeit, dass die Finanz-branche diese Verantwortung auch trägt.
Sosehr ich mich über den Prozess hin zu mehr Verant-wortung der Akteure auf dem Finanzsektor freuenwerde, so sehr bin ich aber auch fest davon überzeugt,dass wir diesen Prozess nicht nur politisch begleitenmüssen, sondern ihn auch befeuern müssen.
Deshalb hat die christlich-liberale Koalition seit 2009mit einem ganzen Bündel von Gesetzen die Stellung derKunden gegenüber der Finanzwirtschaft gestärkt.
Wir haben das verpflichtende Beratungsprotokoll einge-führt, wir haben kurze und verständliche Produktinforma-tionen, sogenannte Beipackzettel, eingeführt. Sie könnenheute auf zwei bis drei Seiten das Wesentliche einesFinanzprodukts erkennen, seine Funktionsweise, die da-mit verbundenen Risiken, die Chancen und die Kosten.Außerdem haben wir neue Instrumente für eine effekti-vere Beaufsichtigung des Vertriebspersonals und der da-hinterliegenden Strukturen bei Kreditinstituten geschaf-fen. Die Sanktionsregelungen bei Falschberatung habenwir massiv verschärft. Wir schaffen im Bereich desgrauen Kapitalmarkts erstmals – das ist sensationell –ein Anlegerschutzniveau, das mit dem im Bankensektorvergleichbar ist.
Der Sachkundenachweis unterstützt die Qualität der Be-rater. Die Registrierungspflicht zeigt deutlich, wer ver-antwortlich ist, und eine Berufshaftpflichtversicherungsorgt für mehr Kundenschutz.Weitere Gesetzentwürfe liegen auf dem Tisch, umnoch bestehende Lücken zu schließen. Die Vergangen-heit hat gezeigt: Nicht immer stand bei der Anlagebera-tung das Kundeninteresse im Vordergrund. Provisionenund Vertriebsvorgaben haben zur Falschberatung einge-laden. Aus diesem Grund wollen wir die Honorarbera-tung als Alternative zum Provisionsmodell etablieren.Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag dieStärkung des Verbraucherschutzes in der Finanzaufsicht.Wir fordern nicht, wir handeln, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen.
Sie sind zu spät dran. Wir sind längst da, wo Sie gernehinwollen. Die Koalition setzt sich erfolgreich für eineStärkung des Verbraucherschutzes in der Finanzaufsichtein.
Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben:Kein Anbieter von Finanzprodukten soll sich derstaatlichen Finanzaufsicht entziehen können.
Dieses Ziel verfolgen wir seit 2009 konsequent,
wie Sie anhand der Vorschläge und Gesetze, die ich ebenaufgezählt habe, erkennen können.
Welches Ziel verfolgen Sie von den Grünen? Sieglauben, die Finanzwelt disziplinieren zu können – FrauMaisch, Sie müssten vielleicht einmal Ihren ganzen An-trag vorlesen –, zum Beispiel durch eine Pflicht zurKennzeichnung von ökologischen und ethischen Kom-ponenten eines Anlagepapiers,
durch viel mehr verdeckte Testkäufer und durch dasSammeln von Daten,
deren Aufbereitung und statistische Verarbeitung. Dassind wahrhaft gute Mittel, um die Finanzwelt zu diszipli-nieren.Die Grünen greifen mit ihrem nun zum zweiten Malvorgelegten Antrag alte Forderungen der Verbraucher-zentrale auf, die – verständlicherweise – immer auf derSuche nach neuen Aufgabenfeldern ist und als Finanz-marktwächter ihren Aktionsradius erweitern könnte. Bei
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Mechthild Heil
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allem Verständnis für den Wunsch der Verbraucherzen-trale müssen wir als politisch Verantwortliche uns dieFrage stellen, ob ein solches Vorgehen sinnvoll ist. Ichsage: nein. Die Verbraucherzentrale ist zwar in erhebli-chem Maße mit öffentlichen Geldern finanziert, bleibtaber dennoch eine unabhängige Privatorganisation. Des-halb ist der vzbv aus Sicht der Koalition nicht der pri-märe Ansprechpartner, wenn es um die hoheitliche Auf-gabe geht, die Finanzmarktaufsicht wahrzunehmen. Dasist der BaFin, der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht, vorbehalten.Nicht, dass ich hier falsch verstanden werde: Eine Stär-kung der individuellen Beratungstätigkeit der Verbrau-cherzentralen ist grundsätzlich wünschenswert und auchförderungswürdig, und sowohl ich persönlich als auch un-sere Koalition unterstützen das. Das sieht man daran, dasswir allein im aktuellen Haushalt 10 Millionen Euro zu-sätzlich für die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz zurVerfügung gestellt haben, um die Verbraucherzentralennoch unabhängiger und schlagkräftiger zu machen.
Die bürokratische Instanz eines Finanzmarktwäch-ters, die Sie von den Grünen heute fordern, ist in Groß-britannien längst wieder abgeschafft worden. Warumsollten wir sie dann hier einführen? Wir lernen lieber ausden Fehlern, auch wenn wir sie nicht selber gemacht ha-ben.Wir wollen kein Verzetteln in unübersichtlichenStrukturen, die zudem noch mit anderen um Aufmerk-samkeit und finanzielle Ressourcen konkurrieren. Wirunterstützen die vorhandenen Strukturen. Das sind nebender BaFin die Stiftung Warentest, die in ihrer ZeitschriftFinanztest ganze Marktsektoren von Finanzproduktenuntersucht und auch Langzeitbeobachtungen vornimmt,und viele weitere Fachpublikationen, in denen Finanz-produkte bereits jetzt bewertet werden.Die Koalition hat die notwendigen Maßnahmen füreine Stärkung des Verbraucherschutzes im Finanzsektorlängst erarbeitet und vieles erfolgreich auf den Weg ge-bracht. Wir entlassen die Akteure der Finanzwirtschaftnicht aus ihrer Verantwortung, und wir stärken den Kun-den im Kampf gegen Falschberatung und fehlende Infor-mation.Ihr Antrag ist schlicht überflüssig. Sie laufen hinter-her. Wir haben längst gehandelt.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Frau Heil, ich möchte zunächst ganz deut-lich sagen: Die CDU/CSU-Fraktion hat im Jahre desHerrn 2009 die Einführung eines Finanzmarktwächtersbeschlossen. Was Sie heute hier als Teufelswerk darstel-len, haben wir damals im Frühjahr des Jahres 2009 in derGroßen Koalition gemeinsam vereinbart.
Dieser Beschluss ist von Ihnen aber nicht umgesetztworden.Man kann ja sagen, dass man zu neuen Erkenntnissengekommen ist. Das müsste man dann erklären. Aber zusagen, dass man dieses Instrument schon immer für nichttragfähig gehalten hat, ist nicht nachvollziehbar ange-sichts der Tatsache, dass man noch vor zwei Jahren da-von überzeugt war, dass es sich um ein ganz hilfreichesInstrument handelt, das man auch einführen will.Ich bitte deshalb ganz herzlich darum, sich die altenBeschlüsse noch einmal anzuschauen. Man kann sicher-lich sagen, dass man das Ganze heute anders sieht. Dasmag so sein. Man kann aber nicht sagen, dass man diesesInstrument schon immer für Teufelswerk gehalten hat.Wir haben uns damals in der Großen Koalition in einemsehr umfangreichen Antrag zum Verbraucher- und Anle-gerschutz unter anderem mit der Frage beschäftigt, wiewir es schaffen, dass die Verbraucherzentralen die Funk-tion eines Marktwächters übernehmen können. Damalswar es unser gemeinsames Ziel, die Verbraucherzentralediesbezüglich zu stärken.Was wollten wir? Wir wollten, dass die Verbraucher-verbände die Beschwerden von Verbrauchern systema-tisch auswerten, unseriöse Vertriebswege aufdecken, aufRegulierungslücken hinweisen und unlautere Geschäfts-praktiken durch Abmahnung oder auf dem Klagewegunterbinden können. Die kollektive Rechtsdurchsetzung,wie sie jetzt auf der europäischen Ebene diskutiert wird,ist deshalb außerordentlich zu begrüßen.Wir haben auch immer wieder gesagt, wie wir diesenMarktwächter finanzieren wollen. Wir wollen ihn überdie Deutsche Stiftung Verbraucherschutz finanzieren, diedafür allerdings zusätzliches Kapital benötigt. DiesesKapital soll sich zum einen aus den Bußgeldern aus Kar-tellverfahren speisen. Dieses Geld, das den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern vorher durch unlauteren Wett-bewerb sozusagen genommen wurde, kommt ihnen dannzugute, indem es in die verbraucherbezogene Arbeitfließt. Zum anderen sollen Mehreinnahmen aus der Ver-äußerung des Zweckvermögens der Deutschen Sied-lungs- und Landesrentenbank an die Stiftung fließen.Wie gesagt, das haben wir miteinander 2009 so verein-bart.Die derzeitigen Regelungen, die Sie angesprochen ha-ben – das sind insbesondere die völlig unzureichende Pro-tokollierung und die völlig unzureichenden Informations-blätter, für die Sie keine Standards festlegen wollen –,sind aus unserer Sicht nur bedingt wirksam. Die von Ih-nen geplante Bankenabgabe ist ein Hohn; das wissenwir. Die Finanztransaktionsteuer findet schon in Ihreneigenen Reihen keine Zustimmung.
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Kerstin Tack
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Es ist völlig verständlich, dass derzeit auch in Deutsch-land Verbraucherinnen und Verbraucher auf die Straßegehen. Sie sagen, dass dieser Sektor nicht vernünftig ge-regelt ist. Das ist aus meiner Sicht absolut nachvollzieh-bar.
Der Anlegerschutz, den Sie vorhin als hervorragendbeschrieben haben, funktioniert aus unserer Sicht nicht.Sie schaffen es nämlich nicht – das ist aber eines derhöchsten Ziele des Verbraucher- und Anlegerschutzes –,dass eine Einheitlichkeit der Aufsicht, sowohl der Auf-sicht über die Finanzvermittler und -berater
als auch der Aufsicht über die Finanzprodukte, gewähr-leistet ist. Das stellen Sie nicht sicher. Die Verbrauche-rinnen und Verbraucher genießen keinen einheitlichenSchutz. Der hängt davon ab, welches Finanzprodukt siekaufen und ob sie es bei einer Bank oder bei einemfreien Vermittler erwerben.
Die Einheitlichkeit zu erreichen, haben Sie in Ihrer Ko-alitionsvereinbarung versprochen. Das setzen Sie abernicht um. Das ist skandalös.
Die Honorarberatung – von der Sie vorhin gesagt ha-ben, dass das eines Ihrer wesentlichen Ziele sei – ist unsbereits vor acht Monaten großspurig angekündigt wor-den. Das ist eine Ihrer vielen Ankündigungen, die zu kei-ner weiteren Umsetzung geführt haben als zu einemEckpunktepapier, zu dem noch nicht einmal intern eineAbstimmung stattgefunden hat. Auch hier werden wir si-cherlich noch Monate oder gar bis zum Ende der Legis-laturperiode warten müssen, bis es zumindest einen vor-zeigbaren Entwurf gibt, geschweige denn eine Einigunginnerhalb der Koalition.
Die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, de-ren Vorlage wir in den nächsten Tagen erwarten, enthältkeine Aussagen im Hinblick auf Finanzprodukte. Dabei– auch das möchte ich sagen – hat sich der KollegeGoldmann von der FDP im Jahre 2009 – damals noch inder Opposition – an das Redepult gestellt und gesagt,ganz wichtig sei es, im Rahmen der Novellierung desVerbraucherinformationsgesetzes die Ausweitung aufdie Finanzprodukte zu installieren. Die Novelle zumVIG wird das jedoch nicht vorsehen.Man sieht also: Das, was man damals gefordert hat,ist in Regierungsverantwortung auf einmal nicht mehrumsetzbar. Auch hier scheint die Koalition nichts mitei-nander auf den Weg bringen zu können. Was bewirkenSie mit einer solchen Vorgehensweise? Sie zerstörennicht nur das Vertrauen in den Markt, sondern – das istnoch viel wichtiger für uns alle – Sie zerstören das Ver-trauen in die Demokratie. Wenn wir es jetzt nicht gere-gelt bekommen, vernünftige Strukturen der Aufsicht zuinstallieren, dann tragen Sie die Verantwortung.
Wir wollen für die Verbraucherinnen und VerbraucherZugänge zu einer freien und unabhängigen Finanzbera-tung schaffen. Dabei spielen die Verbraucherzentraleneine ganz wichtige Rolle. Diese brauchen – über dieFrage nach einem Marktwächter hinaus – weitere eigeneMittel, um ihre Angebote in der Finanzberatung auswei-ten zu können. Denn die Verbraucherzentralen sind fürviele Verbraucherinnen und Verbraucher eine zentraleund wichtige Anlaufstelle im Bereich der unabhängigenBeratung.Zum Schluss möchte ich unsere Forderung nach derIntensivierung der Verbraucherbildung bekräftigen. Wirbrauchen insbesondere im Finanzwesen nicht nur einebessere Information, sondern auch Bildungsarbeit. Diesevermisse ich seitens der Bundesregierung. Auch hier wa-ren wir im Jahr 2009 gemeinsam längst weiter; denn dahatten wir schon beschlossen, Konzepte zur ökonomi-schen Bildung von Verbraucherinnen und Verbrauchernzu entwickeln. Nichts davon ist passiert. Das wäre jaauch zu schön gewesen!
Alles in allem geht der Antrag der Grünen in die rich-tige Richtung, weil er unseren Forderungen von 2009und denen, die wir in den letzten Monaten immer wiederaufgestellt haben, sehr entgegenkommt. Ich gehe davonaus, dass wir hier mit dieser Koalition und dieser Bun-desregierung nicht weiterkommen. Deshalb werden wirauf diese Maßnahmen noch lange warten können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Erik
Schweickert von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasoll noch einmal jemand sagen, man würde im Plenumnichts dazulernen. Frau Kollegin Tack, zu dem, was inder letzten Legislaturperiode geschehen ist, kann ichnicht aus dem Nähkästchen plaudern, weil ich nicht da-bei war. Zum Thema VIG und Finanzaufsicht kann ichjedoch etwas sagen.Wir wollten die drei Bereiche – UIG, IFG und VIG –zusammenlegen und in einem Informationsgesetz bün-
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Dr. Erik Schweickert
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deln, weil das die Materie vereinfacht. Aber Sie und ichsowie die anderen Verbraucherschützer in diesem Hausewissen, was das zur Folge gehabt hätte, nämlich dass dieFederführung für ein solch wichtiges Gesetz sicherlichnicht beim BMF gelegen hätte.Aus diesem Grunde sind die Verbraucherorganisatio-nen von dieser Forderung zurückgetreten. Wir wolltendiese Bündelung vornehmen, haben dann aber festge-stellt, dass die Wirkungen für die Verbraucher nicht effi-zient genug gewesen wären. Deswegen haben wir jetztein VIG vorgelegt, das Informationsrechte enthält; diegleichen Rechte sind im IFG und im UIG verankert.Es steht fest, dass die Finanzkrise viele Verbrauche-rinnen und Verbraucher eine Menge Geld gekostet hat.Viele Betroffene waren einfache Sparer, also keine gro-ßen Spekulanten, die einfach nur etwas mehr Rendite ha-ben wollten und die jetzt wahrscheinlich ohne höhereRendite mit ihrer normalen Rente dastehen. Wir sind unsvor diesem Hintergrund in dem Ziel einig, dass Anlegerund Sparer, die nicht wissentlich spekulieren, zu schüt-zen sind. Der Anleger darf nicht der Dumme sein. Dafürmuss man etwas tun.Wenn ich mir den vorliegenden Antrag genau an-schaue, dann stelle ich fest, dass die Kollegen der Grü-nen suggerieren, es sei nichts getan worden. Ich musshier klar sagen: Als Sie regiert haben, wurden beispiels-weise Hedgefonds in Deutschland zugelassen. Sie habenaber versäumt, einen verbesserten Anlegerschutz inDeutschland umzusetzen.
Was haben wir in den knapp zwei Jahren, in denenwir regieren, getan? Wir haben aktiv regulatorisch einge-griffen, zum Beispiel bei den Banken. Mit dem Gesetzzur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung derFunktionsfähigkeit des Kapitalmarktes, kurz Anleger-schutzgesetz genannt, haben wir Beratungsprotokolleund Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht undsomit den Schutz vor Falschberatung gestärkt.
Wir haben auch Sanktionsmöglichkeiten implementiert,sodass Falschberatung tatsächlich sanktioniert werdenkann, und dafür gesorgt, dass das Vertriebspersonal beiKreditinstituten beaufsichtigt wird.Kommen wir zu den freien Finanzvermittlern. Wirhaben einen guten Gesetzentwurf zur Novellierung desFinanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechtsvorgelegt. Für den grauen Kapitalmarkt, ein großes Pro-blem der jetzigen Finanzkrise, wird ein mit dem Banken-sektor vergleichbares Anlegerschutzniveau geschaffen.Es geht uns dabei nicht um die Mittel, sondern um dieErgebnisse. Das Niveau muss stimmen; das Schutzni-veau muss gleich sein. Wir haben die Beratungsqualitäterhöht, indem wir verpflichtende Beratungsprotokolleauch für freie Finanzanlagenvermittler eingeführt haben.Außerdem werden diese gewerblichen Vermittler einerstärkeren Kontrolle der Aufsichtsbehörden unterworfen.Dies beinhaltet verpflichtende Haftpflichtversicherun-gen und Sanktionen bis hin zur Rücknahme der Zulas-sung für die gewerbliche Finanzanlagenvermittlertätig-keit. Hier ist also einiges getan worden.Auch bei den Produkten waren wir nicht untätig.Durch Re-Regulierung haben wir dafür gesorgt, dasshochspekulative Anlageformen nicht mehr ungehindertzirkulieren. Wir haben mit dem AnlegerschutzgesetzHaltepflichten bei geschlossenen Immobilienfonds ein-geführt. Wir haben die damit verbundenen Risiken fürdie Stabilität und die Funktionsfähigkeit der Finanz-märkte eindeutig verringert.Wir gehen das Problem der zersplitterten Finanzauf-sicht an.
Die Bundesregierung hat erkannt, dass es auf nationalerEbene zu viele Probleme bei den Schnittstellen in derBankenaufsicht zwischen Bundesbank und BaFin gibt.Die christlich-liberale Koalition ist aktiv und baut dieseSchnittstellen ab. Das Ganze muss natürlich in die Land-schaft passen. Wir wollen die BaFin nicht mit Aufgabenüberfrachten, die sie nicht erfüllen kann. Die BaFin mussihren Aufgaben nachkommen können. Dafür müssen wirdie Voraussetzungen schaffen. Im Zuge der laufendenReform der nationalen Finanzaufsicht wird auch der Ver-braucherschutz einbezogen. Bisher ist das nicht der Fall.Die Aufgaben des Verbraucherschutzes sind weder inder BaFin noch woanders verankert. Wir wollen denVerbraucherschutz dort verankern, wo er am besten auf-gehoben ist.
Wir tun deutlich mehr als Sie, Frau Tack.Die entscheidende Frage ist: Was können wir tun? Siewollen halbstaatliche Finanzsheriffs, sogenannte Finanz-marktwächter. Ich sage Ihnen, was wir als FDP uns vor-stellen. Wir könnten uns eine Stiftung „Finanzdienstleis-tungen“ vorstellen, die die Aufgabe hat, zum BeispielProdukte und deren Risiken zu bewerten, und deutlichmacht, inwieweit Produkte vergleichbar sind. Wir habenimmer die Forderung nach Vergleichbarkeit der Pro-dukte erhoben. Es muss das draufstehen, was drin ist.Ein Paradebeispiel ist das Altersvorsorgekonto der Post-bank.
– Ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir den Etiketten-schwindel bei den Produkten beenden müssen. Dort, woAltersvorsorgekonto draufsteht, muss auch ein Alters-vorsorgekonto drin sein. Genau in diesem Bereichwürde, unabhängig von einem schönen Marketingbegriff– ich weiß! –, das Konzept einer einheitlichen Risiko-klasse ansetzen, die offenbart, wie spekulativ das Anla-geprodukt ist. Wenn keine staatliche Institution, sondernzum Beispiel eine Stiftung die Klassifizierung vor-nimmt, umgehen wir die Haftungsproblematik und ge-ben in diesem Bereich gute Empfehlungen.Mir ist schon klar, warum man möchte, dass der Staatdie Bewertung vornimmt: Es kann dem Verbraucher
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Dr. Erik Schweickert
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dann vollkommen egal sein, wie sich der Wert eines Pro-duktes im Laufe von zehn Jahren entwickelt, weil er kla-gen könnte und der Staat haften müsste; das wäre einProblem.
So werden wir in der christlich-liberalen Koalition nichtvorgehen.
Wir haben bis zum jetzigen Zeitpunkt mehr regulato-rische Maßnahmen ergriffen, als Sie jemals gedacht hät-ten. Man muss einfach sehen, dass die christlich-liberaleKoalition für einen effizienten Verbraucherschutz aufdem Finanzmarkt steht. Sie aber haben während IhrerRegierungszeit die Aufgaben als Wächter des Finanz-marktes und Hüter der Verbraucherinteressen anders, alsSie es dargestellt haben, nicht wahrgenommen, sondernhaben hier in meinen Augen völlig versagt. Einen besse-ren Finanzmarktwächter als die christlich-liberale Koali-tion kann sich der Verbraucher überhaupt nicht vorstel-len.
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Nach wie vor hat der finan-zielle Verbraucherschutz in Deutschland einen enormenNachholbedarf. Ich möchte Ihnen die derzeitige Situa-tion vor Augen führen: Bei der derzeit bestehenden Be-ratungsstruktur der Verbraucherzentralen würde es nochimmer an die 30 Jahre dauern, bis jeder Haushalt we-nigstens einmal eine unabhängige Finanzberatung erhal-ten könnte. Noch immer haben wir weit überhöhte Dis-pozinsen; die Stiftung Warentest hat es im Septembererneut bestätigt. Noch immer haben die Verbraucherver-bände weder die finanziellen Mittel noch die rechtlichenMöglichkeiten, um auch nur annähernd so tätig zu wer-den, wie es nötig wäre.Dennoch leisten die Verbraucherzentralen hervorra-gende Arbeit. Aus ihren Beratungsgesprächen machensie meist als Erste auf Missstände aufmerksam. Durchihre Beobachtung liefern sie den Verbraucherinnen undVerbrauchern und uns Politikerinnen und Politikernwertvolle Hinweise. In diesem September hat der Ver-braucherzentrale Bundesverband offengelegt, dass vieleBanken geltende Rechtsprechung ignorieren und eineehrliche Auskunft über Provisionen verweigern.Leider können die Verbraucherschützer mangels ent-sprechender Kapazitäten keine kontinuierliche Marktbe-obachtung durchführen. Der Verbraucherzentrale Bun-desverband hat nicht einmal ausreichende finanzielleMittel, um die wertvollen Informationen und Daten, dieer über Gespräche und Verbraucherbeschwerden erhält,auswerten zu können. Nach wie vor haben die Verbrau-cherzentralen weder ein Recht auf Sammelklage nochrechtliche Möglichkeiten, die Finanzaufsicht wirksamzum Handeln zu zwingen.Meine Damen und Herren, die Linke und die anderenOppositionsfraktionen haben hier immer wieder Vor-schläge gemacht und Verbesserungen gefordert; aber dieKoalitionsfraktionen haben gemauert. Drei Jahre nachdem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers solltedie Bundesregierung die Verbraucherinteressen amFinanzmarkt endlich ernst nehmen. Es ist an der Zeit, zuhandeln.
Die Linke fordert deshalb, die Verbraucherzentralenzu stärken und sie zu Finanzwächtern auszubauen. DieseFinanzwächter müssen erstens den Finanzmarkt umfas-send und verbraucherorientiert beobachten können.Zweitens müssen sie kollektiv klagen können. Drittensmüssen sie an den Gremien der Finanzaufsicht beteiligtwerden und ein wirksames Beschwerderecht erhalten.
Der Finanzwächter allein wird es aber nicht richten;wir brauchen auch einen Finanz-TÜV. Da halte ich dieBaFin wirklich nicht für die richtige Adresse; ich glaube,sie ist dafür nicht aufgestellt. Dafür braucht es eine sepa-rate Einrichtung. Bisher gilt in Deutschland der Grund-satz: Alle Formen der Geldanlage, die nicht ausdrücklichverboten sind, sind erlaubt. Die Folge ist, dass immerneuer Finanzschrott ungehindert auf den Markt kommt.Frau Heil, ich muss wirklich sagen: Uns kümmert essehr, wenn die Menschen ihr Erspartes verlieren,
wie das bei vergangenen Krisen schon passiert ist undwie es wahrscheinlich auch in den nächsten Monatenoder Jahren noch passieren kann.
Dagegen möchten wir präventiv vorgehen, und dafürbrauchen wir die Einrichtung eines Finanz-TÜV.
Er muss als Zulassungsstelle alle Anlageformen prüfen,und zwar bevor sie auf den Markt kommen. Nur so kön-nen wir vorbeugen und den Schutz der Verbraucherinnenund Verbraucher und auch der Wirtschaft gewährleisten.Die Linke hatte bereits 2010 ein umfassendes Konzeptvorgelegt, um die Verbraucherinteressen auf dem Fi-nanzmarkt zu stärken. In den diesjährigen Haushaltsver-handlungen fordern wir noch einmal finanzielle Mittelfür den Verbraucherzentrale Bundesverband, damit er alsFinanzwächter aktiv werden kann.Verbraucherschutz ist eine wichtige gesellschaftlicheAufgabe. Die Bundesregierung muss dafür ausreichendund dauerhaft Mittel zur Verfügung stellen. BeginnenSie damit in den derzeitigen Haushaltsverhandlungen.
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Karin Binder
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Dann haben wir die Chance auf eine rasche Umsetzungund Erfüllung der vor uns liegenden Aufgaben.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort der Kollege Ralph Brinkhaus von
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Tack, lesen Sie doch einfach das Plenarproto-
koll vom vorletzten Jahr zu dem Antrag der Grünen, der
hier wieder vorgelegt wird. Wenn man bedenkt, wie die
SPD zu diesem Thema Stellung genommen hat, dann
wird sich einiges aufklären.
Lassen Sie mich vorab eine Bemerkung machen. Der
Begriff „Finanzmarktwächter“ – egal wer den Begriff
geprägt hat – gefällt mir nicht. Er ist beunruhigend. Die
Grünen haben ihn von den Verbraucherzentralen über-
nommen, die die Initiative „Finanzmarktwächter“ ins
Leben gerufen haben.
Vielleicht haben es die Verbraucherzentralen auch von
den Grünen. Vielleicht sind beide zusammen auf die
Idee gekommen, die ganze Geschichte auf den Weg zu
bringen.
Man weiß es nicht. Es war sicherlich nicht böse gemeint,
aber „Finanzmarktwächter“, das hört sich nach Kon-
trolle und Überwachung an. Ganz ehrlich: Mir macht die
Vorstellung, dass Menschen durch die Gegend laufen
und überwachen, ob ich mich richtig oder falsch ver-
halte, Angst.
Ein zweiter Punkt. Der Antrag der Grünen läuft nach
dem üblichen Muster ab – alle Anträge haben das glei-
che Muster –: Erstens. Die Welt ist fürchterlich schlecht.
Zweitens. Die Regierung tut nichts dagegen. Drittens.
Wir haben die Lösung, und die Lösung heißt Bürokratie,
Regeln, Kontrolle und Bevormundung.
Man könnte an dieser Stelle eigentlich Schluss ma-
chen, aber es lohnt sich, auf den einen oder anderen As-
pekt einzugehen. Wir haben in Deutschland seit 111 Jah-
ren das beste Verbraucherschutzgesetz der Welt, nämlich
das Bürgerliche Gesetzbuch. Das Bürgerliche Gesetz-
buch hat dazu beigetragen, dass sich in Deutschland Ver-
braucher und Anbieter seit 111 Jahren in der überwie-
genden Zahl der Fälle ganz hervorragend vertragen. Das
kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht durch.
Sie zeichnen ein Bild, als ob der Finanzsektor ein
komplett rechtsfreier Raum wäre. Wissen Sie, was Sie
damit machen? Sie unterstellen damit den Verbrauchern,
dass sie schwach, unmündig und uninformiert sind,
und Sie unterstellen den Anbietern, dass sie stark sind
und ihre Stärke nur dazu benutzen, um die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher zu übervorteilen.
Damit diskreditieren Sie nicht nur die Verbraucherinnen
und Verbraucher, sondern auch Hunderttausende von
Menschen, die in der deutschen Finanzindustrie arbeiten,
die morgens zur Arbeit gehen und einen anständigen Job
machen. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Ich komme zu einem weiteren interessanten Aspekt.
Sie stellen Ihren Antrag in den Kontext der Finanzkrise.
Das scheint auf den ersten Blick plausibel, ist aber
schlichtweg falsch. Die Finanzkrise 2008 war eine Ban-
kensystemkrise und keine Verbraucherschutzkrise – bis
auf wenige Ausläufer bei Lehman, aber das war wirklich
sehr wenig.
Die Finanzkrise 2010 ist eine Staatsverschuldungskrise
und keine Bankenkrise, wie so mancher SPD-Parteivor-
sitzender momentan versucht zu suggerieren, und sie ist
erst recht keine Verbraucherschutzkrise.
Nichtsdestotrotz muss man konstatieren – das schrei-
ben Sie in Ihrem Antrag ganz richtig –, dass es Verbrau-
cherinnen und Verbraucher gibt – zu viele Verbrauche-
rinnen und Verbraucher, da haben Sie absolut recht –, die
mit den Produkten, die sie erworben haben, nicht klarge-
kommen sind und Enttäuschungen erlebt haben. Man
könnte nun sagen: Das ist Marktwirtschaft. Menschen
treffen Entscheidungen. Menschen treffen auch falsche
Entscheidungen und müssen dann die Konsequenzen tra-
gen. Aber das ist an dieser Stelle zu kurz gegriffen.
Herr Kollege Brinkhaus, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Keul?
Nein. – Das ist an dieser Stelle zu kurz gegriffen, weiles schon ein Unterschied ist, ob man ein Stück Kuchenvom Konditor oder ein Produkt für eine Altersversor-gung erwirbt. Das ist deswegen ein Unterschied, weilsich ganze Lebensentwürfe durch eine Fehlentschei-
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Ralph Brinkhaus
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dung, zum Beispiel bei einer Altersversorgung, erledigthaben und weil es Menschen gibt, die eine falsche Fi-nanzanlageentscheidung getroffen haben und die des-halb ihren Lebensabend nicht mehr in Ruhe verbringenkönnen, sich nicht mehr selber versorgen können unddann von der Gesellschaft getragen werden müssen. Dasist nicht tolerabel. Deswegen ist es gut und richtig, dasswir an Finanzprodukte andere Maßstäbe ansetzen als anKuchen oder Brötchen.Das tun wir auch. Das hat die CDU/CSU immer ge-macht.
Sie haben recht: Wir haben uns noch im Rahmen derGroßen Koalition zusammen mit der SPD mit Schuld-verschreibungen beschäftigt. Wir haben das Beratungs-protokoll eingeführt, und wir haben die Verbraucher-rechte an dieser Stelle gestärkt.Wir haben in der christlich-liberalen Koalition dasAnlegerschutzgesetz auf den Weg gebracht, die Bera-tungsqualität gestärkt, Produktinformationsblätter einge-führt und Produkte verbessert, die problematisch waren,zum Beispiel offene Immobilienfonds. Wir haben bei-spielsweise OGAW IV, das europäische Richtlinienwerk,umgesetzt und in diesem Zusammenhang sogar mehrumgesetzt, als wir mussten. Wir haben die Verbraucher-rechte im Bereich der offenen Fonds gestärkt. Diese Wo-che haben wir im Ausschuss das Finanzanlagevermittler-gesetz auf den Weg gebracht und Bereiche angepackt,die bisher überhaupt nicht reguliert waren,
nämlich einen Vertriebsbereich, der nicht reguliert war,und einen Produktbereich, der wenig reguliert war. Dasmuss man doch einmal anerkennen.
Die christlich-liberale Koalition hat ihr Versprechengehalten. Wir haben gesagt: Wir machen uns auf denWeg. Wir werden nicht dulden, dass es Produkte oderVertriebswege gibt, die nicht reguliert werden. Das ha-ben wir umgesetzt.
Wir haben noch etwas gemacht: Wir haben gesagt, dasswir eine Stiftung für Finanzprodukte errichten wollen.Auch das steht im Koalitionsvertrag.Damit sind wir beim Antrag der Grünen. Die Grünenwollen etwas Ähnliches, aber sie wollen die Verbrau-cherzentralen damit beauftragen. Lassen Sie uns einmalüber die Verbraucherzentralen reden. Verbraucherzentra-len informieren und beraten, sie helfen auch bei derRechtsdurchsetzung; das ist gut und wichtig. Aber Ver-braucherzentralen sind eines nicht: Sie sind nicht unab-hängig. Verbraucherzentralen ergreifen Partei, und dasmüssen sie auch. Sie müssen für die Verbraucher Parteiergreifen. Das ist deren Job.
Aber sie sind nicht in der Lage, den Markt zu beobach-ten; das ist kein fairer Ausgleich zwischen Anbieter undVerbraucher. Dementsprechend sind Verbraucherzentra-len nicht unabhängig. Das dürfen sie nicht sein. DieÜberhöhung der Verbraucherzentralen, die Sie in IhremAntrag vornehmen, ist nicht richtig; sie ist falsch.
Aber kommen wir nun zu den konkreten Inhalten.Verbraucherzentralen sollen den Markt beobachten undVerbraucheraufklärung betreiben. Das tun sie, im Übri-gen mit der Initiative „Finanzmarktwächter“; wir hattenuns ja gerade die Frage gestellt, wer die Idee zuerst hatte,Sie oder die Verbraucherzentralen. Man kann sich jetztdarüber unterhalten, ob sie mehr Geld dafür brauchenoder nicht. Aber das ist eine haushaltstechnische Frageund keine grundsätzliche Verbraucherschutzfrage. Daskann man anpacken. Da sind wir an Ihrer Seite.Jetzt geht es aber weiter: Sie wollen mehr Elementedes kollektiven Verbraucherschutzes bei den Verbrau-cherzentralen ansiedeln. Ich sage Ihnen eines: Die Ver-braucherzentralen verfügen bereits über Elemente deskollektiven Schutzes. Sie können entsprechend vorge-hen. Noch mehr würde noch mehr Sammelklagen bedeu-ten. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mit Sammelklagen ha-ben wir im Umweltbereich nicht immer nur guteErfahrungen gemacht. Dementsprechend sind wir dasehr vorsichtig.
Es geht weiter: Sie wollen, dass die Verbraucherzen-tralen – das zieht sich durch alle Elemente Ihres Antrags –nicht nur den Markt, sondern auch die Aufsicht beauf-sichtigen.
Herr Kollege Brinkhaus, jetzt würde Frau Maisch
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Keine Zwischenfragen, keine zusätzliche Redezeit. –Jetzt kommen wir in eine sehr interessante Gemenge-lage: Verbraucherzentralen sollen die BaFin beaufsichti-gen. Wo sind wir denn, dass wir Nichtregierungsorgani-sationen damit beauftragen, den Staat zu beaufsichtigen!Das ist doch eine ganz unheilvolle Entwicklung, die denGrünen an sehr vielen Stellen gefällt: Wir verlagern Ver-antwortung an runde Tische, an Nichtregierungsorgani-sationen und an sonstige Institutionen. Aber das gehtnicht!
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Ralph Brinkhaus
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Die Verantwortung und die Rahmensetzung für funktio-nierende Märkte ist eine staatliche Aufgabe. Das wirdvon uns erledigt und nicht von den Verbraucherzentra-len. Das wird es mit uns nicht geben.
Ein abschließender Punkt: Verbraucherschutz findetimmer im Spannungsfeld zwischen Transparenz auf dereinen Seite und Bürokratie auf der anderen Seite statt,zwischen Schutz auf der einen Seite und Bevormundungauf der anderen Seite.
Die Union steht für Transparenz und nicht für Bürokra-tie. Sie steht für Schutz und nicht für Bevormundung.Wenn ich mir aber Ihre Anträge anschaue, insbesonderedie Anträge der Grünen, die krampfhaft versuchen, sichin diesem Bereich zu profilieren, dann muss ich sagen,dass darin von Bevormundung und Bürokratie ausgegan-gen wird und nicht für Schutz und Transparenz gesorgtwird. Deswegen lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.Abschließend komme ich noch einmal auf das Un-wohlsein zu sprechen, das ich am Anfang meiner Redeangesprochen habe: Wir brauchen keinen Wächterstaat;denn wir haben einen Rechtsstaat, und das ist auch gutso.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Carsten Sieling von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben hier ein wichtiges Thema auf der Ta-gesordnung, das ganz viele Menschen in unserem Landbetrifft. Es sind nämlich Tausende Menschen von dembetroffen, was auf den unregulierten Finanzmärkten ab-gelaufen ist. Tausende Menschen haben infolge ihrertreuherzigen Anlageversuche persönlich einen finanziel-len Schaden erlitten.
Viele wurden im Zusammenhang mit der Finanzkrise zuGeschädigten. Wir sprechen nicht nur über die soge-nannten Lehman-Geschädigten in den USA, sondernauch über ganz viele Geschädigte, die ihr Geld bei deut-schen Banken angelegt haben. Darüber muss man reden.Man muss handeln. Es reicht nicht, hier große, ideologi-sche Reden zu halten. Es geht darum, den Leuten wirk-lich zu helfen.
Mein Vorredner hat eine ganz neue Art und Weise derAuseinandersetzung in diese Debatte eingebracht. Siehaben uns einen Schattenboxkampf vorgeführt. Das warnichts anderes als Schattenboxen.
In dieser Disziplin sind Sie der Champion. Diesen Titellasse ich Ihnen aber gerne. In Ihrer Rede kam sehr deut-lich der gesamte Frust zum Ausdruck, den die Koalitionnach einem Tag wie dem heutigen in sich trägt, undnichts anderes.
Jetzt möchte ich aber erst einmal Ihre Aussagen zumFinanzmarktwächter geraderücken.
Sie haben das grundlegend missverstanden. Wenn Sie allunsere Anträge dazu lesen, werden Sie feststellen, dasswir die Gesellschaft stärken wollen. Wir wollen dieZivilgesellschaft stärken. Wir wollen mit der Einbindungder Verbraucherzentralen kein Kontrollorgan einführen.Sie sollen die Märkte beobachten und die Missständemelden.
Natürlich muss man staatliche Instrumente entwickeln.Lesen Sie die Anträge, die dazu vorliegen, wenigstensrichtig, wenn Sie sie hier schon kritisieren und versu-chen, sie auseinanderzunehmen.Warum Sie das in Wahrheit gemacht haben, haben Sieselbst gesagt: Mit dem Gesetzentwurf, den die Koalitionzum Anlegerschutz auf den Weg gebracht hat, produzie-ren Sie nichts anderes als löchrigen Käse. Vor anderthalbJahren wurde uns vom Bundesfinanzministerium einVorschlag zu einem wirklich einheitlichen Anleger-schutz vorgelegt. Mittlerweile wurde dieses Vorhabenzerlegt und durchlöchert. Mit dem Entwurf eines Geset-zes zur Novellierung des Finanzanlagen- und Vermittler-gesetzes, worüber wir in der nächsten Woche beratensollen,
ist nichts anderes als eine zweite Regulation geplant.Das, was Sie machen, ist kein Anlegerschutz.
In Wirklichkeit betreiben Sie Lobbyschutz. Gerade fürdie gefährlichsten, nämlich die sogenannten grauen Fi-nanzmärkte sehen Sie eine Sonderregelung vor.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15739
Dr. Carsten Sieling
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Frau Kollegin, Sie haben hier gesagt, die BaFinmüsste besser ausgestattet werden. Da gebe ich Ihnensofort recht. Aber Ihre Antwort, 7 800 kleine Gewerbe-ämter und vielleicht auch ein größeres Gewerbeamt zubeauftragen, diese gefährlichen und unkontrollierbarenMärkte zu kontrollieren, ist eine Farce. Das ist eine Ver-äppelung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Dieses Problem schreit geradezu nach Finanzmarkt-wächtern. Diese Regierung und diese Koalition brau-chen nämlich Finanzmarktwächter angesichts des Un-heils, das sie anrichten. Darum geht es hier im Kern.
Eine weitere Bemerkung will ich Ihnen nicht erspa-ren:
Wenn ich mir die vorläufige Tagesordnung für dienächste Sitzungswoche anschaue, dann weiß ich, dassSie sich für Ihre eigenen Taten schämen.
Wenn am Donnerstagabend, spät in der Nacht, über ei-nen Gesetzentwurf diskutiert werden soll, weist das da-rauf hin, dass diese Koalition nicht stolz auf ihre Arbeitist, sondern dass Lobbyarbeit verschleiert werden soll.Ich finde, es ist ein Skandal, dass laut der Tagesordnungfür die nächste Woche der Entwurf eines Gesetzes zurNovellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermö-gensanlagenrechts spät in der Nacht debattiert werdensoll. Sie wollen hier die Wahrheit verschleiern. So gehtdas nicht, meine Damen und Herren! Bringen Sie dieWahrheit ans Licht und hören Sie auf, Chaos zu verbrei-ten, indem Sie Steuersenkungen ankündigen – das ist un-verantwortlich – und am gleichen Tag die so wichtigeRegierungserklärung für morgen absagen. Sie verschlei-ern und schaffen keine Transparenz. Das ist eine unwür-dige Regierung für Deutschland.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6503 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a bis d auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HelmutHeiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPLändliche Entwicklung und Ernährungs-sicherheit weltweit verbessern– Drucksache 17/7185 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten HelmutHeiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPIllegale Landnahme verhindern, Eigentums-freiheit schützen, Ernährungsgrundlage inEntwicklungsländern sichern– Drucksachen 17/5488, 17/5965 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichDr. Sascha RaabeDr. Christiane Ratjen-DamerauNiema MovassatThilo Hoppec) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten NiemaMovassat, Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKeine großflächige Landnahme und Spekula-tionen mit Land oder Agrarproduktion in denLändern des Südens– Drucksachen 17/3541, 17/4820 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDr. Bärbel KoflerDr. Christiane Ratjen-DamerauAnnette GrothThilo Hopped) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
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15740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan van Aken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEErkenntnisse des Weltagrarberichtes zurGrundlage deutscher, europäischer und inter-nationaler Agrar- und Entwicklungspolitikmachen– Drucksachen 17/3542, 17/4490 –Berichterstattung:Abgeordnete Johannes RöringDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannUlrike HöfkenNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Dr. Christiane Ratjen-Damerau von der FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten
Kollegen und Kolleginnen! Die Bilder der hungernden
Menschen in Somalia führen es uns erneut schmerzhaft
vor Augen: Das Hungerproblem in dieser Welt ist akuter
denn je, und das nicht nur am Horn von Afrika. Rund
925 Millionen Menschen auf der Erde leiden zurzeit an
Hunger; das sind 75 Millionen mehr als im Vorjahr. Al-
lein in Somalia sind 750 000 Menschen vom Hungertod
bedroht. 60 000 Menschen sind dort bereits gestorben,
davon waren die Hälfte Kinder. So lautet die Bilanz des
gerade vorgestellten Welthungerberichts 2011 der Er-
nährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Verein-
ten Nationen.
Ursächlich für den Hunger in der Welt sind die Men-
schen selbst. Zwar verschärfen Naturkatastrophen wie
Dürren und Überflutungen oftmals eine Hungersnot,
doch vor allem menschliches Fehlverhalten wie Kriege,
politische Konflikte, instabile und korrupte Regierun-
gen, illegale Landnahme und die Missachtung von Men-
schenrechten sind hauptursächlich für den Hunger in der
Welt. Hinzu kommt die Vernachlässigung des ländlichen
Raums in den vergangenen Jahrzehnten durch die Poli-
tik. Dies trägt dazu bei, dass ehemalige Kornkammern in
Afrika heute auf Lebensmittelhilfen aus dem Ausland
angewiesen sind. Die vorliegenden Anträge der christ-
lich-liberalen Koalition zur Ernährungssicherheit welt-
weit und zur Verhinderung der illegalen Landnahme sind
ein bedeutender Schritt hin zur nachhaltigen Lösung des
Welternährungsproblems.
In Afrika, Lateinamerika und Südostasien verkaufen
Regierungen fruchtbares Land an Unternehmen oder
Staaten. Dieses Land ist seit Jahrzehnten im Besitz von
Gemeinschaften oder Familien. Ganze Dörfer werden
vertrieben, ohne die Menschen zu entschädigen oder sie
in irgendeiner Weise am Verkaufsprozess zu beteiligen.
Vordergründig geschieht dies, weil keine formalen Be-
sitzrechte existieren, hintergründig, weil sich die Regie-
rungen kurzfristige Einnahmen sichern wollen. Juris-
tisch können sich die Vertriebenen kaum dagegen
wehren. Meist existiert in diesen Ländern keine rechts-
staatlich funktionierende Justiz. Fortan sind die Gemein-
schaften und Familien heimatlos und ohne jegliche Er-
nährungsgrundlage.
Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung
auf, betroffene Länder bei der Umsetzung von Maßnah-
men zur guten Regierungsführung und beim Abbau ihrer
Defizite im Justiz- und Vergabesystem sowie im Katas-
terwesen zu unterstützen. Reicht das nicht aus, muss die
Bundesrepublik Deutschland offiziell protestieren und
das Recht auf Eigentum für diese Menschen einfordern.
Genauso nehmen wir die Unternehmen in die Pflicht.
Auch sie können ihren Beitrag leisten und ihre unterneh-
merische Pflicht erfüllen, um derartige Entwicklungen in
den betroffenen Ländern zu verhindern.
Selbst wenn in einem Land Rechtsstaatlichkeit vor-
herrscht, bedeutet dies nicht, dass sich ein Bauer sicher
sein kann, seine Ernte lagern, verkaufen und von dem
Erlös leben zu können. Schätzungen zufolge belaufen
sich die Verluste nach der Ernte in den Entwicklungslän-
dern auf Rund ein Drittel bis sogar die Hälfte der gesam-
ten Ernte. Durch niedrige Preise auf dem Weltmarkt oder
auf den heimischen Märkten können Bauern nicht von
ihrer Arbeit leben. Dies ist zum Teil durch marktverzer-
rende Agrarsubventionen oder Zölle der Industrie-
nationen hervorgerufen.
Diesen Problemen stellen wir uns mit diesen Anträ-
gen. Der ländliche Raum muss weiter unterstützt, die
Infrastruktur und die Agrarforschung müssen massiv vo-
rangetrieben werden. Wesentliche Forderungen sind da-
her: Die Industrienationen müssen den Weg zum freien
Handel ohne jegliche Verzerrungen weitergehen und die
Partnerländer gute Regierungsführung und verantwor-
tungsvolle Landnutzungskonzepte verwirklichen. Auf
nationaler und subnationaler Ebene müssen wir helfen,
die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen,
wenn nötig, neu zu erarbeiten, Wertschöpfungsketten
und Infrastrukturen auszubauen und in der Landwirt-
schaft eine ergebnisorientierte finanzielle Unterstützung
zu leisten.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, sofort. – Dabei müssen insbesondere Frauen stär-ker gefördert und in die Entwicklung einbezogen wer-den. Auf lokaler Ebene müssen wir dazu beitragen, dass
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Dr. Christiane Ratjen-Damerau
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die Interessen der Landwirte stärker vertreten undKooperationsmöglichkeiten geschaffen werden. Ich bitteSie daher, unseren Anträgen zuzustimmen. Die Men-schen in den Entwicklungsländern setzen auf unsere So-lidarität.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ländliche Entwicklung ist ein wichtigesThema. Deswegen hätte es uns gefreut, wenn der Minis-ter persönlich anwesend wäre. Anscheinend ist ihm die-ses Thema nicht so wichtig. Heute ist er nicht einmalhier. Letztes Mal, bei der Debatte zum 50-jährigen Be-stehen des Ministeriums, hat er das Wort nicht ergriffen.Dies zeigt, dass er nicht mit dem Herzen bei der Ent-wicklungszusammenarbeit ist. So kann man Entwick-lungszusammenarbeit nicht erfolgreich bestreiten.Wir diskutieren heute unter anderem über einen An-trag der Koalitionsfraktionen, in dem als Schwerpunktdie ländliche Entwicklung genannt wird. In der Begrün-dung heißt es, dass die Investitionen im ländlichen Raumim letzten Jahrzehnt zu niedrig gewesen sind. Das ist einTeil der Wahrheit. Aber zur Ehrlichkeit würde dazugehö-ren, dass Union und FDP auch sagen würden, warum vorfünf oder zehn Jahren vonseiten der internationalen Ge-berländer, aber auch von den Regierungen in den Ent-wicklungsländern in der Tat wenig in die Landwirtschaftinvestiert wurde.Das lag daran, dass die Landwirte in den USA, aberauch in Europa – also auch deutsche Landwirte – über-subventioniert worden sind, und zwar gerade die großen,und dann Dumpingagrarexporte die Märkte in Afrika,Lateinamerika und Asien zerstört haben.
Es hätte keinen Sinn gemacht, wenn wir – nachdem dieHühnerzuchten schon überall kaputtgegangen sind unddie Bauern in Afrika ihre Kühe irgendwann verkaufenmussten, weil sie ihre Milch nicht mehr losgewordensind – noch mehr Geld für einen Wirtschaftszweig in dieHand genommen hätten, der durch die Dumpingagrar-exporte der Industriestaaten kaputt gemacht wurde.
Auch dies gehört zur Wahrheit. Das hätten Sie auch inIhrem Antrag benennen müssen.
Als wir mit den Grünen zusammen die Regierung ge-stellt haben – damals hatten wir mit Renate Künast eineengagierte Landwirtschaftsministerin –, haben wir imRahmen der Welthandelsorganisation versucht, das zuändern. Dabei sind wir immer wieder auf die Betonlobbyder Bauernverbände gestoßen. Insbesondere von Frank-reich und von der Union ist sie kräftig unterstützt wor-den. Landwirtschaftsministerin Aigner zum Beispiel haterst vor kurzem wieder einmal Schweinefleischexport-subventionen gewährt. Zur Förderung der ländlichenEntwicklung gehört auch, dass wir gerechte Handelsbe-dingungen schaffen. Sie müssen endlich dafür sorgen,dass nicht nur der Bauer in Deutschland, sondern auchder Kleinbauer in Afrika Chancen bekommt.
Auch der zweite Teil dieser Koalition, die FDP, hatihren Teil dazu beigetragen, dass die ländliche Entwick-lung in den ärmsten Ländern brachlag. Sie hat mit derständig wiederholten Forderung nach Liberalisierungund mit ihrem Credo „Märkte öffnen!“ auch dazu beige-tragen, dass die Entwicklungsländer ihre Zölle abschaf-fen mussten, wodurch die Dumpingagrarexporte auf dieMärkte kamen. Ich würde mir von Ihnen ein klares Be-kenntnis wünschen, dass auch die ärmsten LänderSchutz brauchen. In dem Antrag, den wir zu Zeiten derGroßen Koalition erarbeitet haben, lieber Kollege Ruck,haben wir das so formuliert. Jetzt haben Sie sich an-scheinend nicht durchsetzen können und dieses Anliegendem Motto der FDP geopfert: Wenn jeder für sich selbstsorgt, ist für alle gesorgt. – Das ist schäbig. Wir brau-chen Schutz für die Entwicklungsländer.
Wenn man sagt, man möchte mehr Geld für die länd-liche Entwicklung ausgeben – das ist sinnvoll, weil sichin der Tat die Agrarpreise nach oben entwickeln, waszwar Nachteile hat, den Bauern aber auch Chancen bie-tet, ihre Agrarprodukte wieder zu verkaufen –, dannmuss man natürlich auch sagen, woher dieses Geld kom-men soll. Wenn Sie den Haushalt insgesamt nicht auf-wachsen lassen wollen,
dann muss das Geld, das zusätzlich in die Landwirt-schaft fließen soll, beispielsweise aus den Bereichen Bil-dung und Gesundheit genommen werden, aus Bereichen,die für die Entwicklungszusammenarbeit auch sehrwichtig sind.Deswegen ist es ja gerade so schäbig, dass dieser Ent-wicklungsminister, der heute durch Abwesenheit glänzt,im jetzigen Haushalt nur einen Miniaufwuchs von1,8 Prozent vorgesehen hat, während wir hier im Hauseinen entwicklungspolitischen Konsens haben, den368 Abgeordnete unterschrieben haben, wonach wirjetzt eigentlich 18 Prozent bräuchten. Ich würde mirwünschen, dass dieses Projekt 18 von der FDP verwirk-licht wird. Sie machen das aber entsprechend Ihrem Er-
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Dr. Sascha Raabe
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gebnis in Berlin, wo Sie bei 1,8 Prozent gelandet sind,und sehen im Entwicklungshaushalt deshalb nur noch ei-nen Aufwuchs von 1,8 Prozent vor. Das ist schäbig, dasist wenig. So können wir natürlich weder den Menschennoch der Landwirtschaft in den Entwicklungsländernwirklich helfen.
Ich kenne schon jetzt die Replik von einem der nächs-ten Redner, der fragen wird, wo das Geld für diese Stei-gerung im Haushalt herkommen soll. Es gibt natürlicheine Quelle, nämlich die Finanztransaktionsteuer, für dieEntwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitikerseit über zehn Jahren auf den Straßen kämpfen. Gruppenwie Attac haben diese Tobin-Tax damals eingefordert,und auch viele kirchliche und zivilgesellschaftlicheGruppen – ich nenne nur einmal die Kampagne „Steuergegen Armut“ – fordern sie seit Jahren. Jetzt ist dieseFinanztransaktionsteuer greifbar nah, die Steuer, mit derwir dann auch unsere Verpflichtung erfüllen könnten, biszum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-mens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügungzu stellen.Dieser Entwicklungsminister müsste jetzt eigentlichmit wehenden Fahnen vorneweg gehen und sagen: Ichwill, dass diese Steuer kommt, je schneller, desto besser,und natürlich will ich, dass das Geld dann auch für dieEntwicklungszusammenarbeit genommen wird. – Es istdoch ein Witz, dass ausgerechnet dieser Entwicklungs-minister derjenige in der jetzigen Regierung ist, derüberall sagt, er sei gegen die Finanztransaktionsteuer. Ermöchte diese Steuer nicht. Wo soll dann das Geld her-kommen? Er fällt der Bewegung der Entwicklungspoliti-kerinnen und Entwicklungspolitiker, der Entwicklungs-helfer und der Zivilgesellschaft in den Rücken, anstattdiese zu stärken. Das ist eine Schande.
Es gibt ja auch einen Grund dafür, warum er das nichtmöchte: Für ihn sind Regulierungen des Finanzmarktesnatürlich Teufelswerk. Liberalisierung ist das Stichwort:freie Wirtschaft, freie Märkte, freie Finanzmärkte. Ge-rade bei der ländlichen Entwicklung sehen wir aberdoch, welch verheerende Auswirkungen Agrarspekula-tionen, die Spekulationen mit Agrarrohstoffen, haben.Mittlerweile werden 80 Prozent der gehandelten Agrar-rohstoffe nur noch spekulativ gehandelt und nicht mehr,um die Preise der Bauern zu schützen, sondern damit dieAckermänner und die Deutschen Banken dieser Welt ei-nen Reibach machen können.Es kann doch angesichts der Diskussion über die För-derung der ländlichen Entwicklung nicht sein, dass derEntwicklungsminister und seine Partei nach wie vor sa-gen: Hände weg von jeder Regulierung des Finanzmark-tes. Lasst die Deutsche Bank und die Finanzspekulantenmachen, was sie wollen, lasst sie mit dem Hunger in die-ser Welt spekulieren. – Das darf nicht wahr sein. Demmüssen wir hier in diesem Haus die rote Karte zeigen.
Deswegen brauchen wir auch ganz scharfe Regeln ge-gen Land Grabbing. Das gehört auch dazu. Immer mehrgroße Flächen von Land werden nämlich von Konzernenund anderen Ländern aufgekauft, um dann die Rohstoffein andere Länder zu exportieren, anstatt sie der dort le-benden hungernden Bevölkerung zur Verfügung zu stel-len.Deswegen sage ich an dieser Stelle: Ich unterstützedie soziale Bewegung, die sich gebildet hat und derenAkteure im Augenblick in Zelten vor der EuropäischenZentralbank kampieren und zum Teil auch hier in Berlindemonstrieren. An den Transparenten können Sie erken-nen, dass diese Menschen eben auch der Hunger in die-ser Welt bewegt und dass sie die Finanzmärkte regulie-ren wollen, damit die ärmsten Menschen der Welt nichtdiese Nachteile haben.Weil auch die Deutsche Bank kräftig mit dem Hunger,mit dem Leid und mit Agrarrohstoffen spekuliert, hatdiese Bewegung heute einen Aufruf gemacht und zuHerrn Ackermann gesagt: Machen Sie sich vom Acker,Mann. Ich sage: Herr Minister, machen Sie sich auchvom Acker. Das wäre besser für diese Republik.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vielleichteine Vorbemerkung zu dem, was der Vorredner hier ge-rade geboten hat: Das war nichts, was zum Thema beige-tragen hat.
Das war allenfalls – um seine eigenen Worte zu wählen –eine schäbige Schlechtrederei über viele Themenfelder.
Um Ihren eigenen Begriff zu wählen: Das war allenfallsein Witz. Wenn man Sie hätte ernst nehmen sollen, dannhätte ich erwartet, dass die SPD-Fraktion hier als Beitrageinen Antrag vorlegt, in dem wirklich etwas steht und indem wirklich auch Themen abgearbeitet werden – aber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15743
Helmut Heiderich
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nicht so einen albernen Rundumschlag, wie er eben hiergeboten wurde.
Gerade ist uns der Welthunger-Index 2011 zugegan-gen, Sie haben ihn sicherlich gelesen. Dort steht, dasssich die Situation in diesem Bereich seit 20 Jahren nichtverbessert hat. Die Zahl der Betroffenen ist nicht, wiewir alle einmal versprochen haben, um die Hälfte zu-rückgegangen. Es sind immer noch, wie eben gesagt,rund 1 Milliarde Hungernde auf der Erde. Wenn wir daseinmal übersetzen, heißt das, dass wir an diesem An-spruch, den Hunger in der Welt zu bekämpfen und zu-rückzuführen, gescheitert sind.Wo sind die Ursachen? Ich will ein paar Dinge erwäh-nen. Gut drei Jahrzehnte – das ist eben schon einmal an-gesprochen worden; Herr Raabe, hören Sie zu – habensinkende Preise bei den Grundnahrungsmitteln mitgleichzeitiger Überschussproduktion falsche Signale füreine vermeintliche Sicherheit gegeben. In der Folge wur-den die Mittel zur Finanzierung der Entwicklung desAgrarsektors, zum Beispiel im Bereich der ODA-Ausga-ben, über Jahrzehnte gekürzt. Im Jahre 2000 sind wir beidiesem Investment auf das Niveau des Jahres 1973 zu-rückgefallen – 30 Jahre lang Rückgang in diesem Be-reich der Förderung!Auch die Weltbank, die 1982 noch 30 Prozent ihrerKredite in den Agrarsektor vergeben hatte, gab 2006 nurnoch kümmerliche 7 Prozent. Die USAID hat gerade nurnoch 1 Prozent ihres Budgets für Landwirtschaftspro-gramme ausgegeben. Und – auch das gehört zur Wahr-heit – Ihre Kollegin Wieczorek-Zeul, die elf Jahre langals Entwicklungsministerin auf der Regierungsbank ge-sessen hat, hat diesen Bereich im bundesdeutschenHaushalt bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen.
Deswegen sind wir froh, dass der neue Minister hierwieder für einen Aufwuchs auf 700 Millionen Euro indiesem Jahr gesorgt hat. Sie sollten einmal zur Kenntnisnehmen, wie wir hier wieder vorangekommen sind.
Wir müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass runddrei Viertel aller vom Hunger betroffenen Menschenausgerechnet in ländlichen Regionen leben. Deshalb istes an der Zeit, so meine ich, dass wir von der bisher de-fensiven Strategie des „Weniger Hunger für wenigerMenschen“, die meist noch durch Nahrungsmittelhilfevon außen bedient worden ist, wegkommen und sagen:Wir brauchen eine neue offensive Ausrichtung. Diesemuss heißen: Ernährung für alle aus eigener Kraft. Dasmuss das Ziel einer zukunftsorientierten Entwicklungs-politik sein.
Ich sage das gerade angesichts der Erkenntnis, dass bald2 bis 3 Milliarden Menschen mehr auf der Erde lebenwerden, dass die FAO ausgerechnet hat, dass wir daher70 Prozent mehr Agrarmittel produzieren müssen.Wir stehen vor einer Zeitenwende. Ich denke, das hatniemand besser als der Präsident des IFAD beschrieben,der neulich bei uns im Ausschuss war, Herr Nwanze. Erhat Folgendes gesagt: Wir müssen aus der kleinbäuerli-chen Landwirtschaft der Entwicklungsländer ein profi-tables Geschäft machen. Kein Sektor hat mehr Chancenfür Arbeitsplätze. Kein Sektor bringt mehr gesellschaft-liche Stabilität. – Damit ist genau beschrieben, wohin dieReise gehen muss.
Es ist gut, dass die neue Bundesregierung bereits imKoalitionsvertrag die ländliche Entwicklung als Schlüs-selsektor ausgewiesen hat. Deswegen begrüße ich aus-drücklich, dass das Ministerium mit einem neuen Strate-giepapier „Entwicklung ländlicher Räume und ihrBeitrag zur Ernährungssicherung“ nachgezogen hat. Wirhaben diese Anträge eingebracht, damit wir aus demParlament heraus dieses Vorhaben nicht nur unterstüt-zen, sondern es weiter ausbauen und zu weiteren Ergeb-nissen in der Zukunft kommen. Ich gehe einmal davonaus, dass der Aufwuchs im Haushalt auch in den kom-menden Jahren in diesen Bereichen weitergehen wird,weil es einfach notwendig ist.
Ziel unseres Einsatzes muss sein, dass wir Wertschöp-fungsketten aus lokal erzeugten Nahrungsmitteln auf-bauen, mit denen nicht nur die Eigenversorgung gesi-chert, sondern auch zusätzliches Einkommen und damiteine Beschäftigungsperspektive in den eben genanntenländlichen Räumen erreicht werden kann. Das ist in un-seren Anträgen alles ausführlich beschrieben; das willich hier nicht wiederholen.Weil es notwendig ist, dürfen wir uns nicht scheuen,uns mit privaten Organisationen und Unternehmen zu-sammenzutun. Dadurch erreichen wir Synergieeffekte.Es ist nicht so, wie häufig gesagt wird, dass wir damiteine Förderung der Privatwirtschaft vornehmen. Nein, esgibt einen doppelten Nutzen. Ich will ein Beispiel nen-nen. Das ist die sogenannte AGRA in Nairobi, „Alliancefor a Green Revolution in Africa“. Da ist Kofi AnnanVorsitzender und verfolgt mit der Bill-Gates-Stiftung zu-sammen genau das, was ich eben beschrieben habe,nämlich einen neuen integrierten Ansatz für die Agrar-förderung der Entwicklungspolitik.Ein zweites Beispiel aus dem Hause der GIZ hat michsehr beeindruckt: die Afrikanische Cashew-Initiative, dieebenfalls mit der Bill-Gates-Stiftung zusammen seit zweiJahren betrieben wird. Dort sind inzwischen 1 800 Bauernan einer Genossenschaft beteiligt. Zusammen mit einemdeutschen Softwareunternehmen wurde hier eine Wert-
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Helmut Heiderich
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schöpfungskette aufgebaut. Das Ergebnis sind Ertrags-und Qualitätssteigerungen, gute Marktpreise und deutli-che Verbesserungen der Lebenssituationen der betroffe-nen Bürger.
Da wollen wir hin, und so muss Entwicklungspolitikweitergehen.Deswegen – das sage ich auch an die Adresse desVorredners und der SPD – müssen wir als Parlament na-türlich dazu beitragen, dass die Neuausrichtungen, die zuspüren sind bei den G 8, beim Weltwirtschaftsforum, beider FAO, bei den G 20, die gerade ein neues internatio-nales Agrarforschungsprojekt anschieben, oder bei denvielen UN-Organisationen, nicht nur auf dem Papier ste-hen bleiben, sondern in die Praxis umgesetzt werden,und zwar möglichst zügig. Dazu müssen wir unserenBeitrag leisten und dürfen nicht über alle möglichenThemen aus anderen Bereichen herumalbern.Es soll natürlich auch nicht verschwiegen werden– das ist doch völlig klar –, dass diesen positiven Ent-wicklungen einige große Problemfelder entgegenstehen.So verzeichnen wir seit der Wirtschaftskrise 2007 hef-tige Preisausschläge bei Agrarprodukten. Die Gründesind vielfältig, wie man in einer aktuellen Untersuchungdes Committee for World Food Security der UN nachle-sen kann. Auf der Nachfrageseite werden verschiedeneUrsachen genannt: niedrige Welterntevorräte, hohe Pro-duktverluste nach der Ernte – auch ein wichtiges Thema –,ein verändertes Nachfrageverhalten der Schwellenländerund die Getreidenutzung für Biosprit. Die US DA – umden letzten Punkt aufzunehmen –, also das amerikani-sche Ministerium selbst, hat dazu kürzlich veröffentlicht,dass in diesem Jahr, 2011, etwa 40 Prozent der amerika-nischen Maisernte für die Produktion von Ethanol einge-setzt werden. Das hat natürlich Folgen für die Märkte.Das sehen wir doch auch. Darüber muss man hier reden.Allerdings sind nicht die steigenden Preise das Haupt-problem. Diese haben durchaus auch positive Effekte,weil sie Produktions- und Investitionsanreize setzen.Das Problem sind die starken unberechenbaren Preis-sprünge, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Da-ran tragen – das sagen verschiedene Studien unisono –die Spekulanten zumindest eine Teilschuld. Deshalb istfür uns klar – das sage ich ganz deutlich –: MarktfremdeSpekulanten haben im Lebensmittelbereich nichts zu su-chen. Das müssen wir versuchen umzusetzen.
Die internationale Gemeinschaft ist weiter gefordert,Lösungen zu finden, die über das reine Monitoring – soetwa AMIS der G 20 – hinausgehen, und neue Konzepteund neue Möglichkeiten zu schaffen.Dass wir, wie ich eben gesagt habe, an einer Zeiten-wende in Bezug auf Nahrungsmittel und landwirtschaft-liche Produkte stehen, hat natürlich längst andere Be-gehrlichkeiten ausgelöst. Landwirtschaftsflächen sindinzwischen eine globale Kapitalanlage geworden. DenUmfang beschreibt das CFS in einer weiteren Studie mitetwa 50 bis 80 Millionen Hektar. Auch das hat einenzweiseitigen Effekt: Einerseits – so sagen sie – sei höhe-res Investment dringend erforderlich, damit der Bedarfzukünftiger Generationen gedeckt werden kann. Ande-rerseits seien große Landkäufe oder Pachtungen häufigmit negativen Folgen für die örtliche Bevölkerung ver-bunden. Davon war bereits die Rede. Deswegen müssenwir auch hier weiter aktiv werden. Darüber kann es keinMissverständnis geben.Das CFS verlangt deshalb, dass betroffene Regierun-gen einen jährlichen Bericht über Bedingungen und Er-gebnisse der Landnahme vorlegen müssen, der danngegebenenfalls nach Prüfung durch die FAO Vorausset-zung für die weitere entwicklungspolitische Unterstüt-zung des jeweiligen Landes sein sollte. Ich denke, dassmit diesem Vorschlag die Forderungen in unseren beidenAnträgen durchaus weiter ausgebaut werden können, zu-mal die Weltbank in ihrem aktuellen Bericht davon aus-geht, dass sich die Landnachfrage in Zukunft weiter ver-stärken wird.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zu-sammen: Insgesamt müssen die Verbesserung der Pro-duktion und der Lebensbedingungen vor Ort, der ökono-mische Erfolg der ländlichen Bevölkerung und dieStrukturverbesserung im ländlichen Raum die entschei-denden Kriterien für unsere Anstrengungen sein,
und zwar nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Kri-terium kann und darf aus meiner Sicht nicht sein, waswir an finanziellen Mitteln ausgeben; Bewertungsmaß-stab muss vielmehr sein, was die Empfänger an Lebens-chancen gewinnen. Daran müssen wir uns messen. Dasist das entscheidende Ziel. Ich hoffe, dass Sie wenigstensunsere Initiative und unsere Anträge unterstützen, wennSie schon selbst keinen Antrag eingebracht haben.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle dreiSekunden stirbt ein Mensch an Hunger. Auch deshalbmuss das Menschenrecht auf Nahrung Vorrang vor denGewinninteressen von Investoren haben. Das muss derpolitische Grundsatz dieser Debatte sein.
Eines der Dinge, die dieses Menschenrecht am meis-ten verletzen, ist das neokoloniale Phänomen des Land-raubs. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel deutlich ma-chen, was Landraub bedeutet. Im Dorf Meanchey in denWäldern im Nordosten Kambodschas lebt das indigeneVolk der Stean. Dieses betreibt dort seit Jahrhunderten
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Niema Movassat
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Wanderfeldbau, sammelt Früchte und Pilze. Im Juli 2008tauchten plötzlich Bulldozer auf, die den Wald zerstör-ten. Dies taten sie für eine ausländische Firma, die dortüberall Gummibäume pflanzen ließ, angeblich um dieGegend zu entwickeln, um Arbeitsplätze zu schaffenund um Armut zu bekämpfen. Tatsächlich aber vertrie-ben sie die Menschen, die dort seit Generationen lebten.Sie nahmen ihnen die Lebensgrundlage.Landraub heißt Vertreibung, Verelendung und Hun-ger. Deswegen sagen wir heute, dass dies endlich ge-stoppt werden muss.
Das Beispiel der Stean steht für das Schicksal vonHunderttausenden Menschen auf der Welt. Laut der Ent-wicklungsorganisation Oxfam wurde seit 2001 weltweiteine Fläche aufgekauft oder gepachtet, die so groß istwie Westeuropa.Auch deutsche Firmen sind daran beteiligt. Ich nennedrei Beispiele dafür aus Afrika, dem Kontinent, auf demderzeit 300 Millionen Menschen hungern und wo dreiViertel aller Land-Grabbing-Fälle stattfinden.Erstes Beispiel: In Äthiopien baut die MünchenerFirma Acazis AG Jatropha- und Castorpalmen zur Pro-duktion von Biodiesel an, und zwar auf Land, von demdie äthiopische Regierung in sogenannten Umsiedlungs-programmen derzeit im großen Stil Bauern vertreibt.Zweites Beispiel: Auf Madagaskar pflanzen die deut-schen Firmen JatroGreen und JSL Biofuels Biokraft-stoffpflanzen auf über 30 000 Hektar Land an. Zur Erin-nerung: Madagaskar war das Land, in dem die FirmaDaewoo Ende 2008 die Hälfte des fruchtbaren Landesauf 99 Jahre pachten wollte. Dadurch wurde der Stein inpuncto Landraub erst richtig ins Rollen gebracht.Drittes Beispiel: Der DWS-Fonds der DeutschenBank, 110 Millionen Euro schwer, hat 27 000 HektarLand in Sambia, 25 000 Hektar im Kongo und 5 000 Hek-tar in Tansania aufgekauft, um damit zu spekulieren.Dies zeigt eine Studie der MenschenrechtsorganisationFIAN. Allein in Tansania sind derzeit 126 000 Men-schen von Vertreibung durch Landraub bedroht. Dassauch deutsche Firmen dabei mitmachen, ist ein Skandal.
Sie von der Koalition müssten endlich dagegen aktivwerden. Doch statt Landraub zu verurteilen, sprechenSie, die Bundesregierung, oft sogar beschönigend vonLandinvestitionen, Jobs, Infrastrukturausbau und Tech-nologietransfers.Alles Lüge! Das Institut für Entwicklungsstudien derUniversität Sussex hat 100 Landdeals untersucht. In kei-nem einzigen der Fälle wurden die Zusagen eingehalten.Nehmen Sie das zur Kenntnis und erzählen Sie keineMärchen!
Die Wahrheit ist: Ackerland ist spätestens seit derNahrungsmittelkrise 2008 zu einer hochprofitablen An-lage für Spekulanten, Banken und Unternehmen gewor-den. Auch westliche Staaten haben das zugelassen, nichtum ländliche Regionen in Afrika und Asien zu entwi-ckeln, sondern damit die eigenen Unternehmen Profitemachen können. Angesichts 1 Milliarde hungernderMenschen ist das zutiefst inhuman.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung Landraubsogar noch fördert. Sie setzen sich weiter dafür ein, dassdie verantwortlichen Konzerne straffrei bleiben. Sie wäl-zen die Kontrolle und die Durchsetzung von Sicherheits-mechanismen auf die völlig überforderten Partnerländeroder korrupten Eliten ab. Das ist unverantwortlich.
Die Linke fordert, dass gegen deutsche Unternehmen,die das Menschenrecht auf Nahrung verletzen, direktvorgegangen wird. Das ist der zentrale Punkt in unseremAntrag zum Landraub. Wenn Sie von der Koalition tat-sächlich ein Interesse an der Hungerbekämpfung haben,dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Umes klarzustellen: Wir debattieren hier über drei verschie-dene Anträge. Die Debatte war etwas verwirrend, weilhier zu verschiedenen Anträgen Stellung bezogen wurde.Wir haben einen Antrag der Linken zum Thema LandGrabbing. Wir stimmen diesem Antrag zu.
Er enthält Forderungen, die die Grünen allerdings schonvor einigen Monaten in sehr ähnlicher Form eingebrachthatten. Aber doppelt hält vielleicht besser. Dann liegt einAntrag vor, in dem es darum geht, Erkenntnisse desWeltagrarberichts aufzunehmen. Auch das ist ein Anlie-gen der Grünen. Auch dem Antrag können wir nur zu-stimmen. Jetzt aber möchte ich zu dem Antrag der Ko-alition zum Thema Ländliche Entwicklung reden.Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass die Koalitiondiesem Thema große Aufmerksamkeit schenkt. DasBMZ hat ein neues Konzept dazu verabschiedet, an demwir mitgearbeitet und zu dem wir Vorschläge eingereichthaben. Es ist von Minister Niebel eine neue Hunger-Taskforce eingerichtet worden, und jetzt wird dieser An-trag vorgelegt. Man könnte den Eindruck gewinnen, dassdie Koalition das Problem erkannt hat und angemessendarauf reagieren wird. Aber leider gibt es zwischen denWorten und den Taten doch noch eine Diskrepanz, dieich ansprechen möchte.
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Thilo Hoppe
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Es fängt schon beim Geld an. Wir haben das gesternin den Haushaltsberatungen im Ausschuss erlebt. Alleunsere Anträge, die mehr Geld für die ländliche Ent-wicklung bedeutet hätten, wurden leider von der Koali-tionsmehrheit abgelehnt. Aber es gibt auch inhaltlicheUnterschiede bei den Zielen. Herr Heiderich, vieles vondem, was Sie gesagt haben, kann ich voll und ganz un-terschreiben, aber bei den Methoden, die wir einsetzenwollen, gibt es Unterschiede. Sie loben in Ihrem Antragdie grüne Revolution der 70er-Jahre. Die hat mit denGrünen nichts zu tun, sie hat aber viel zu tun mit den so-genannten Errungenschaften der modernen industriellenLandwirtschaft. Aber sie hat eben nicht zu den ge-wünschten Erfolgen in Afrika geführt. Sie hat vielmehrdazu beigetragen, dass es große Umweltschäden gab,dass die Böden ausgelaugt wurden und dass es Pestizid-und Insektizidprobleme gab. Sie hat gerade die Klein-bauern in die Schuldenfalle geführt. Eine Neuauflagedieser grünen Revolution kann nicht die Lösung sein.
Wenn wir die Kleinbauern unterstützen, dann könnenwir das nur mit angepassten Methoden tun, bei denen dieBodenfruchtbarkeit und der Gewässerschutz mit berück-sichtigt werden.
Es muss eine Strategie sein, die nicht nur die Kleinbau-ern, aber vor allem die Kleinbauern unterstützt. Ihnenmuss Zugang zu Wasser, Saatgut, Mikrofinanzsystemenund vor allem Land verschafft werden.
Im Antrag der Koalition kann man feststellen, dassder Zusammenhang von Landwirtschaft und Klimawan-del vernachlässigt wird. Je nachdem wie Landwirtschaftbetrieben wird, kann sie Teil der Lösung oder Teil desProblems sein. Industrielle Landwirtschaft trägt maß-geblich zu den Emissionen bei. Angepasste und umwelt-gerechte Landwirtschaft kann hingegen Teil der Lösungdes Klimaproblems sein.Sie haben die Governance-Strukturen in dem Antraganders als in Ihrer Rede gewichtet, Herr Heiderich. Sie,Herr Heiderich, haben dankenswerterweise das CFS, dasreformierte Komitee für Welternährung bei der FAO, ge-lobt und unterstützt, aber in dem Antrag findet sich dasnicht wieder. Da wird vielmehr auf die G-8- und G-20-Initiativen der Fokus gerichtet. Es geht gerade jetzt da-rum, die FAO im Kampf gegen Land Grabbing zu unter-stützen, damit sie in der Lage ist, wirklich wirksameLeitlinien zum Thema Zugang zu Land zu erarbeiten.Das ist wichtig und nicht der Fokus auf G 8 und G 20.
Der Kollege Raabe hatte in seiner Rede den Schwer-punkt auf die europäische Agrarpolitik, auf ungerechteSubventionen und ungerechte Handelsstrukturen gelegt.Auch das ist in diesem Antrag völlig unterbelichtet,kommt in diesem Antrag kaum vor.Im Kampf gegen den Hunger hilft wirklich nur einkohärenter, ganzheitlicher Ansatz weiter, der sowohl dieländliche Entwicklung in den Entwicklungsländern un-terstützt als auch hemmungslose Spekulationen mitAgrarrohstoffen sowie Land Grabbing eindämmt undgerechte Handelsstrukturen schafft.Wir haben jetzt in dieser Debatte keinen Antrag ein-gereicht, aber wir haben in der letzten Wahlperiode einensehr umfassenden zum Thema Ländliche Entwicklungeingereicht und in dieser Wahlperiode einen mit ganzkonkreten Vorschlägen, wie Agrarspekulationen einge-dämmt werden können, einen sehr umfassenden Antragzum Thema Land Grabbing. Dieses Maßnahmenbündelist nach wie vor sehr aktuell und hat an Gestalt undWahrheitskraft nichts eingebüßt. Deshalb können wirdiesmal Ihrem Antrag nicht zustimmen, stimmen aberden Anträgen der Linken zu.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Edmund Geisen von der FDP-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich in An-betracht der kurzen Redezeit Folgendes feststelle: Werdie Welternährung sichern will und sicherer machen willals in der Vergangenheit, der muss neue Wege gehen. Ermuss es natürlich einerseits wegen der rapide ansteigen-den Bevölkerungszahl tun und andererseits, weil dieEntwicklungsstrategien der vergangenen Jahrzehnteweitgehend versagt haben.Verehrter Herr Kollege Raabe, zwölf Jahre Entwick-lungshilfepolitik der SPD an einem Stück sind verant-wortlich für die heutigen Missstände.
Da können Sie nicht mehr einfach nur mitreden. Siemüssten dazu etwas ganz anderes sagen. Sie müssten er-klären, wie man den von Ihnen zu verantwortendenMissständen jetzt begegnen und wie man sie korrigierenkann.
Die internationale Zusammenarbeit muss jetzt auchneu ausgerichtet werden. Dies wird mit der christlich-li-beralen Koalition möglich sein. Die FDP-Fraktion be-dankt sich besonders bei Herrn Minister Niebel dafür,dass er den Weg in diese neue Politik eingeschlagen hat.Zukünftig müssen die politischen Rahmenbedingungenund das politische Bewusstsein in den Entwicklungslän-dern selbst verbessert und unterstützt werden. Unsichere
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15747
Dr. Edmund Peter Geisen
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Land- und Wassernutzungsrechte, Korruption und auchfehlende Verwaltungsstrukturen behindern jegliche In-vestition vor Ort.Insbesondere in Afrika könnten die bestehenden Re-serven auch durch eine produktivere Landwirtschaftgenutzt werden, wenn man es denn täte. Innovative Be-triebsmittel wie moderne Maschinen, Dünge- und Pflan-zenschutzmittel, auch Biotechnologie müssen standort-und bedarfsgerecht genutzt werden.Es gilt auch mehr denn je, die Landwirte vor Ort bes-ser auszubilden und die Mittel für die Agrarforschungvor allem in den Entwicklungsländern aufzustocken.Nichts davon ist in der Vergangenheit geschehen. Diesist die Zielrichtung unserer Anträge und auch des Posi-tionspapiers der FDP-Fraktion.Meine Damen und Herren, in dem Motto „Hilfe zurSelbsthilfe“ ist sich die christlich-liberale Koalition völ-lig einig.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz zu denRohstoffbörsen sagen. Exzessive Spekulationen mitNahrungsmitteln gilt es einzudämmen; darüber gibt eskeinen Zweifel.
Hierbei ist internationales Handeln gefragt.
Deshalb begrüße ich auch, dass die G-20-Agrarminister-konferenz schon im Sommer einen umfassenden Ak-tionsplan vorgelegt hat.Kernpunkte müssen natürlich mehr Transparenz undklare zeitgemäße Rahmenbedingungen sein. Allerdingskann es nicht das Ziel sein, ganz ohne Märkte und Wa-renbörsen auszukommen. Wohin das geführt hat, solltenwir eigentlich noch nicht vergessen haben. Man kann esnur besser machen, als die Linken es in der Vergangen-heit gemacht haben.
Beispiele dafür gibt es in 70 von den Linken beherrsch-ten Ländern, und in allen Entwicklungsländern kannman die Ergebnisse der Politik in der Vergangenheit se-hen.
Wir wollen und können es besser machen. Die christ-lich-liberale Koalition steht für einen neuen, besseren,fruchtbareren Weg in der Entwicklungspolitik.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7185 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund FDP mit dem Titel „Illegale Landnahme verhindern,Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage inEntwicklungsländern sichern“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5965,den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufDrucksache 17/5488 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der Oppositionsfraktionen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu demAntrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keinegroßflächige Landnahme und Spekulationen mit Landoder Agrarproduktion in den Ländern des Südens“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4820, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/3541 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undBündnis 90/Die Grünen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Erkenntnissedes Weltagrarberichtes zur Grundlage deutscher, euro-päischer und internationaler Agrar- und Entwicklungs-politik machen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/4490, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3542 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung derSPD-Fraktion.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SwenSchulz , Dr. Ernst Dieter Rossmann,Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDFür einen Hochschulpakt Plus – ZusätzlicheStudienplätze schaffen und Masterangebotausbauen– Drucksache 17/7340 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitHaushaltsausschuss
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15748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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b) Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleGohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEHochschulpakt 2020: Für mehr Studienplätzeund gute Arbeitsbedingungen – Hochschulensozial öffnen– Drucksache 17/7341 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Swen Schulz von der Fraktion derSPD das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verzeich-nen eine steigende Nachfrage nach Studienplätzen. Dashat mit den doppelten Abiturjahrgängen und der Ausset-zung von Wehrpflicht und Zivildienst zu tun, es hängtaber auch mit der steigenden Studierneigung zusammen,und das ist positiv. Das ist zunächst einmal eine guteNachricht.
Darum war es auch gut und wegweisend, dass wir ge-meinsam den Hochschulpakt geschaffen haben. DerHochschulpakt wirkt.
Er verschafft vielen jungen Leuten die Möglichkeit, zustudieren. Auch das ist eine gute Nachricht.Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht stehen bleiben;denn wir sehen, dass der Hochschulpakt unterdimensio-niert ist. Seit langem weisen wir darauf hin, dass derHochschulpakt auf veralteten Prognosen basiert. Werdenkt, dass die Bundesbildungsministerin Schavan indieser Situation die Erste ist, die auf Verbesserungendrängt, der liegt falsch.Wir müssen die Bundesministerin Schavan leider im-mer wieder zum Jagen tragen. Ein unrühmliches Bei-spiel dafür ist die Geschichte rund um die Aussetzungder Wehrpflicht und des Zivildienstes. Als die Bundes-regierung angekündigt hatte, dass sie die Wehrpflichtaussetzen will, haben wir sofort gesagt, dass die Mittelfür den Hochschulpakt entsprechend aufgestockt werdenmüssen; denn diejenigen, die nicht Zivildienst leistenund die nicht zur Bundeswehr gehen, streben natürlichzu einem gewissen Teil an die Hochschulen.
Wir haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Aberwir mussten eine Verweigerungshaltung der Regierungs-koalition feststellen. Immer wieder wurde gesagt: „Malsehen! Die Länder sind zuständig!“ Ich erinnere michnoch daran, wie im Ausschuss diese Haltung von denKolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition ver-treten wurde, bis endlich – einen Tag nach der Aus-schusssitzung – die Bundeskanzlerin dem Druck nachge-geben und den Ministerpräsidenten eine entsprechendeZusage gegeben hat.
Jetzt melden viele Hochschulen tatsächlich „Land un-ter“. Was macht die Bundesregierung? Sie macht nichts.
– Sie sagen, weil alles bestens ist.
Wenn Sie uns von der Opposition das nicht glauben,dann glauben Sie es vielleicht den Medien. Ich nenne Ih-nen einmal ein paar Überschriften: „Stresstest für Hoch-schulen“, „Universitäten sind knüppeldicke voll“, „Hör-säle sind überfüllt“, „Die Invasion“, „Unis schotten sichmit Numerus clausus ab“, „Flucht vor dem Numerusclausus ins Ausland“, „Platzangst im Hörsaal“, „Flick-werk an deutschen Unis“ usw.
Angesichts dieser Situation können Sie doch nicht sa-gen, dass alles gut ist. Das ist zu wenig von der Regie-rungskoalition.
Wir haben das Problem angepackt und einen Antragfür einen Hochschulpakt Plus vorgelegt, über den heutediskutiert wird. Ich will Ihnen die wichtigsten Punktekurz skizzieren.Erstens. Wir wollen, dass mindestens 50 000 Studien-plätze zusätzlich geschaffen werden. Das kann schnellrealisiert werden und ist ein Beitrag für ein besseres An-gebot an den Hochschulen.Zweitens. Es gibt immer mehr Probleme beim Ange-bot von Masterstudienplätzen. Darum wollen wir einSonderprogramm. Wir wollen, dass allen Bachelorabsol-venten das Masterstudium offensteht.
Das ist ein wichtiges Ziel, für das wir streiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15749
Swen Schulz
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Drittens. Wir führen die Idee des Abschlussbonus ein.Bisher finanzieren wir nur die Studienanfänger; das istso weit in Ordnung. Aber die Frage ist, was danach pas-siert. Wir möchten einen finanziellen Anreiz, eine Be-lohnung für diejenigen Hochschulen schaffen, die einegute Lehre anbieten und die die Studierenden erfolgreichzum Abschluss führen.
Das ist eine wichtige Ergänzung des Hochschulpaktes,die wir hier vorschlagen.
Es ist vollkommen klar, dass alles entsprechend finan-ziert werden muss. Darum haben wir zusätzlich einennationalen Pakt für Bildung und Entschuldung formu-liert. Er beinhaltet auch Steuererhöhungen für diejeni-gen, denen es wirklich sehr gut geht, damit wir endlichmit der viel beschworenen Bildungsrepublik Deutsch-land vorankommen. So toll ist das nämlich nicht, wasFrau Merkel uns bisher präsentiert hat.Heute gab es einen Vorgang, der mir im Zusammen-hang mit der Finanzierung von Bildung nachgerade denAtem verschlagen hat. Pünktlich zur geplanten Sitzungder Kultusminister, also der Bildungsminister der Län-der, mit Bundeskanzlerin Merkel, gab es heute unter derÜberschrift „Schwarz-Gelb einig über Steuersenkung“die Meldung:Die Bundesregierung erwartet eine Entlastung von6 bis 7 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Ge-meinden.Das sind doch genau diejenigen, die die Hauptlast beider Finanzierung der Bildung tragen.
Sie können doch nicht eine Bildungsrepublik Deutsch-land schaffen, wenn Sie gleichzeitig die finanzielle Basisdafür zerschlagen.
Das ist nichts weiter als eine Verzweiflungstat zur Ret-tung der FDP, Kollege Döring, auf Kosten der Bildungund auf Kosten der Menschen.
Wir erwarten von der BundesbildungsministerinSchavan, dass sie gegen diesen Unsinn angeht und dasssie sich für Bildung einsetzt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Tankred Schipanski von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen, mit ei-nem von den Linken und mit einem von der SPD. Alsich den Antrag der Linken gelesen habe, musste ich fest-stellen, dass er wieder jeglichen Realitätssinn und jeg-liche Kenntnis des deutschen Grundgesetzes vermissenlässt. Einen Antrag mit dieser Rhetorik können Sie aufIhrem Parteitag in Erfurt einbringen, aber nicht in die-sem Hohen Hause.
Sie sprechen von einer ständischen Gliederung desSchulsystems. Sie verkennen, dass das Abitur Studierfä-higkeit bescheinigt und somit Hochschulzugangsberech-tigung ist. Sie haben noch nicht einmal mitbekommen,dass es die ZVS seit 2008 gar nicht mehr gibt; und es istIhnen völlig neu, dass wir in einem föderalen Bundes-staat leben, in dem die primäre Bildungskompetenz beiden Ländern liegt.Wir alle wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie bei Ih-rem nächsten Antrag nicht wieder die Textbausteine Ih-rer vorherigen Anträge bzw. Parteitagsreden zusammen-setzen, sondern einmal einen konstruktiven Beitrag fürdie Bildungsrepublik Deutschland leisten würden.
Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte ist ein An-trag der SPD. Der Kollege Schulz hat es gerade vorge-tragen: Die SPD fordert einen „Hochschulpakt Plus“.Wir wollen uns doch einmal die Ausgangslage ins Ge-dächtnis rufen:
Mit dem Hochschulpakt wurden in der ersten Pro-grammphase von 2007 bis 2010 185 000 zusätzlicheStudienmöglichkeiten geschaffen; das sind doppelt soviele wie ursprünglich vereinbart.
Auch für die zweite Programmphase haben Bund undLänder vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebotzu schaffen. Auf der Basis der Vorausberechnungen derKMK wurden 320 000 bis 335 000 zusätzliche Studien-möglichkeiten bis zum Jahr 2015 zugesichert.Wenn in diesem Wintersemester mehr Studienmög-lichkeiten als erwartet benötigt werden, so werden auchdiese gemäß der Systematik des Hochschulpakts – dasheißt nachlaufend nach zwei Jahren – bundesseitig finan-ziert. Ein Überschreiten des vereinbarten Deckels ist vor2014 nicht zu erwarten. Von daher sehe ich gegenwärtiggar keine Notwendigkeit, den Hochschulpakt anzupas-sen oder gar einen „Hochschulpakt Plus“ aufzulegen.
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15750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Tankred Schipanski
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Ich darf daran erinnern, dass wir darüber hinaus bun-desseitig einen Pakt für Qualität und Lehre aufgelegt ha-ben, über den bis 2020 rund 2 Milliarden Euro für bes-sere Studienbedingungen und mehr Lehrqualität an denHochschulen bereitgestellt werden.
Das ist die Ausgangslage.
Diese positive Ausgangslage wird heute in einemArtikel der Zeit – das ist mit Sicherheit eine Zeitung,die der Koalition nicht nahesteht – vollumfänglich be-stätigt. Der Heidelberger Rektor Professor Eitel sagt:„Aber es herrscht keinerlei Chaos oder nicht zu bewäl-tigender Andrang.“ Der Regensburger Rektor ProfessorStrothotte sagt, von den „von vielen Seiten skizziertenSchreckensszenarien“ sei man weit entfernt. Der Präsi-dent der Hochschule Osnabrück sagt, dank der „sehr gu-ten“ finanziellen Unterstützung habe man „frühzeitigund dauerhaft“ zusätzliche Professoren eingestellt undBaumaßnahmen zur Verbesserung der Studiensituation„zügig“ umsetzen können. Der Präsident der Uni Han-nover sagt: „Die Chance, einen Studienplatz zu bekom-men, war sogar besser als in den Vorjahren.“
Eine junge Frau, Anouk Fechner, hat sich mit einemAbi-Schnitt von 2,7 an 20 Hochschulen für Jura undBWL beworben und zehn Zusagen bekommen. MeineDamen und Herren, das ist die Realität in der Bildungs-republik Deutschland!
Was machen Sie mit Ihrem Antrag? Angst machen,Schwarzmalen und – wie immer – vonseiten des Bundesmit einer Gießkanne das Geld über die deutschen Hoch-schulen verteilen. Das ist abzulehnen!Zudem soll ein angeblicher struktureller Mangel desHochschulpaktes beseitigt werden – der Kollege Schulzhat es vorgetragen. Trennen Sie doch bitte ganz scharfzwischen dem Hochschulpakt, den Bund und Ländermiteinander vereinbart haben, und den Hochschulpak-ten, die die Länder mit ihren Hochschulen schließen.Dann werden Sie erkennen, dass viele Ihrer Forderungenbereits umgesetzt worden sind. Denn die Mittelzuwei-sungen und Verteilungsschlüssel der Länder an ihreHochschulen berücksichtigen zum einen bereits die Zahlder Studienanfänger und zum anderen die Anzahl derAbsolventen.Ihr Vorwurf, die Vergabe von Masterstudienplätzenwürde nach ideologischen Gesichtspunkten geschehen,ist schlichtweg falsch. Masterstudienplätze stehen inausreichender Anzahl für die Bachelorabsolventen zurVerfügung, die einen guten Bachelorabschluss haben.
Die Weiterführung eines Studiums an die bisherigenLeistungen zu koppeln, ist sinnvoll und systemimma-nent, weil die Masterausbildung größtenteils auf denGrundkenntnissen und Methoden eines Bachelorstu-diums aufbaut.Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, wennSie einen Beitrag für ein Gelingen des Starts dieses Win-tersemesters leisten möchten, dann sollten Sie das nichtmit derartigen Anträgen machen, sondern Sie sollten mitIhren Genossen Bürgermeistern und Oberbürgermeisternder Hochschulstädte in Kontakt treten. Nicht Studien-plätze fehlen, sondern eine gute Infrastruktur. In Mün-chen unter SPD-Oberbürgermeister Ude mussten Ma-tratzenlager eingerichtet werden.
Der Jenaer SPD-Oberbürgermeister weigert sich, weite-ren Wohnraum für Studenten zu schaffen. Das sind dieeigentlichen Probleme der Erstsemester.
Die Koordination zwischen Städten und Studenten-werken, die Kommune als Bildungspartner vor Ort zubegreifen – das sind die Herausforderungen, die es zu lö-sen gilt. Es darf nicht einfach gießkannenartig Bundes-geld über die Hochschulen verteilt werden, die gar nichtim verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereich desBundes liegen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Yvonne Ploetz von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indieser Woche hat das neue Semester begonnen.
– Ich bin nicht mehr eingeschrieben. Ich habe mein Stu-dium beendet, und zwar erfolgreich. Herzlichen Dankfür die Nachfrage!
Es gibt eine gute Nachricht: Mehr junge Menschenals jemals zuvor strömen an die Hochschulen. Mehrjunge Menschen als jemals zuvor wollen eine wissen-schaftliche Ausbildung in Angriff nehmen. Diejenigen,die tatsächlich einen Studienplatz ergattert haben, dürfensich glücklich schätzen. Zwar haben sie vielleicht nichtden Studienplatz ihrer Wahl bekommen, vielleicht auchnicht in der Stadt, in der sie gerne studieren möchten,aber immerhin haben sie einen Studienplatz. Sie müssensich glücklich schätzen, weil Tausende Studienplatz-bewerber eine Absage von den Hochschulen bekommenhaben. Diese jungen Menschen haben ihre Studienbe-rechtigung hart erkämpft. Sie haben Abitur bzw. Fach-abitur gemacht. Aber die Studienberechtigung nutzt ih-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15751
Yvonne Ploetz
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nen in diesem Semester rein gar nichts. Das ist absurd,eine Frechheit und ein politischer Skandal,
ein Skandal auch deshalb, weil all das nicht wie eine Na-turkatastrophe über uns gekommen ist.Wir alle wissen, dass es durch die Einführung von G 8zu doppelten Abiturjahrgängen kommt. Wir alle wissennicht erst seit gestern von der Abschaffung der Wehr-pflicht. Die neuen Erstsemester kommen schon an ihremersten Studientag in der neuen Wirklichkeit an denHochschulen an. Sie müssen im Einführungsseminarwahrscheinlich auf dem Boden sitzen, weil der Platznicht ausreicht.
Sie haben vermutlich keine Unterkunft, weil kleine undkostengünstige Wohnungen auf dem Immobilienmarktkaum noch vorhanden sind und die Wohnheime hoff-nungslos überfüllt sind. Kümmern Sie sich endlich da-rum!
Die Infrastruktur der Hochschulen reicht hinten und vornnicht aus. Das Centrum für Hochschulentwicklung – dasCHE ist nicht gerade eine linke Organisation, wie Sievielleicht wissen – gab im Juli bekannt, dass für das Jahr2011 mindestens 50 000 Studienplätze fehlen und dass500 000 Studienanfängerinnen und -anfänger bis 2015an die Hochschulen strömen werden. Aber selbst nachdieser Meldung ist wieder einmal nichts passiert.Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie er-klären immer lauthals, dass Sie bestens auf die Situationvorbereitet sind und dass durch den Hochschulpakt 2020ausreichend Studienplätze zur Verfügung stehen. Ich be-fürchte, Sie haben sich ordentlich verrechnet.
Hinzu kommt, dass der Hochschulpakt derzeit hoff-nungslos unterfinanziert ist. Laut Statistischem Bundes-amt kostet ein Studienplatz durchschnittlich 7 150 Euro.Sie stellen den Universitäten aber nur 6 500 Euro zurVerfügung. Das kann so nicht funktionieren. Bitte kom-men Sie mir jetzt nicht mit irgendeinem Beispiel, wo esan einer Hochschule oder in einem bestimmten Fachbe-reich besser aussieht. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zusorgen, dass es nicht ein Glücksspiel ist, ob man guteStudienbedingungen vorfindet. Es geht hier um dasMenschenrecht auf Bildung und nicht um Lotte-riescheine.
Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für denHochschulpakt. Wir brauchen mindestens 500 000 zu-sätzliche Studienplätze.
Der Hochschulpakt muss das politische Ziel errei-chen, Zulassungsbeschränkungen durch ein ausreichen-des Angebot an Studienplätzen überflüssig zu machen.Wir möchten, dass jeder und jede die Möglichkeit hat,das Fach zu studieren, das er oder sie gerne möchte.
An dieser Stelle möchte ich kurz an das Versprechenvon Frau Schavan erinnern. Im Juli 2009 hat sie als Re-aktion auf den Bildungsstreik verkündet:Studierende sollen selbst entscheiden können, obsie einen Master machen wollen oder nicht.
Die Erfüllung dieses Versprechens sind Sie seitdemschuldig geblieben.
Setzen Sie das endlich um! Wir fordern das Recht auf ei-nen Master für alle.
Selbst Frau Merkel hat vor einigen Tagen Verständnisfür die Proteste gegen die Macht der Banken und dieAuswirkungen der Wirtschaftskrise geäußert.
Ich denke, sie wird dieses Verständnis auf die Studieren-den ausdehnen können; denn sie werden nicht das ganzeStudium über am Boden sitzen. Die Parole „Geld fürBildung statt für Banken“ ist heute richtiger denn je.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Martin
Neumann von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Zahl der Studienanfänger in Deutschlandist in diesem Semester auf einem Rekordniveau: Mehrals 500 000 Erstsemester studieren – es ist schon gesagtworden –, und zwar dank der steigenden Studienneigung– das ist positiv –, aber auch wegen der doppelten Abi-turjahrgänge in Bayern und Niedersachsen und der Aus-setzung der Wehrpflicht. Diese Umstände waren derGrund dafür, dass in der ersten Phase des Hochschul-pakts in den Jahren 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzli-che Studienplätze geschaffen wurden. Der Bund – daskann man an der Stelle zusammenfassend feststellen –hat die Länder bei ihrer Aufgabe, zusätzliche Studien-plätze zu schaffen, mehr als anständig unterstützt.
In der zweiten Phase des Hochschulpakts stehen wei-tere 5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das Geld, das der
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15752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Dr. Martin Neumann
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Bund an der Stelle zahlt, ist mit der Erwartung verbun-den, dass die Länder die Mittel zur Gegenfinanzierunggleichermaßen aufstocken. Der Qualitätspakt Lehre zurVerbesserung der Studienbedingungen wurde bereits an-gesprochen. Dafür stellt der Bund bis zum Jahr 2020nochmals 2 Milliarden Euro zur Verfügung. So weit zuden Tatsachen.Die Oppositionsfraktionen fordern heute, dass derBund die Mittel für den Hochschulpakt angesichts derdoppelten Abiturjahrgänge und der Aussetzung derWehrpflicht aufstockt, obwohl – das will ich an derStelle hervorheben – die GWK, die Gemeinsame Wis-senschaftskonferenz, erst im März 2011 aus genau die-sen Gründen den Hochschulpakt angepasst hat und1,5 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen wird.
– Kollege Gehring, Sie haben gleich die Gelegenheit,dazu etwas zu sagen.Jetzt komme ich auf etwas zu sprechen, das ich in denletzten Tagen in der Presse gelesen habe. Herr Gehring,Sie sind in den Medien mit den Worten zitiert worden,dass das, was die Koalition hier gegenwärtig unternehme– es sind massive Anstrengungen –, „halbherzig“ sei; soentnehme ich es den Medien. Zur Erinnerung: In diesemJahr stellen wir im Rahmen des Hochschulpaktes600 Millionen Euro zur Verfügung. Ich finde Ihre Äuße-rung angesichts der realen Hochschulpolitik in den Län-dern – ich komme gleich genauer darauf zu sprechen –nicht nur kaltherzig, sondern auch etwas kaltschnäuzig.
Meine Damen und Herren, wie sieht denn die Hoch-schulpolitik von SPD, Linken und Grünen im wahrenLeben, also jenseits der Lippenbekenntnisse, die wir hierimmer wieder hören, tatsächlich aus? Es könnten vieleBeispiele genannt werden. Aufgrund der begrenzten Re-dezeit will ich mich auf zwei Beispiele konzentrieren.Ich nenne als Beispiel das Land Rheinland-Pfalz, dasvon Rot-Grün regiert wird: Dort werden die Studienbei-träge für Langzeitstudenten trotz des Studentenansturmsin diesem Jahr abgeschafft. Das führt zu Mindereinnah-men von etwa 4 Millionen Euro, die vom Land nichtkompensiert werden. Abgesehen davon nehmen dieLangzeitstudierenden den anderen Studierenden denStudienplatz weg. Vielleicht ein brisantes Beispiel dazu:An der Uni Mainz gibt es sieben Dauerstudenten, die– man höre! – im 79. Semester sind und demnach jetztwieder kostenfrei studieren können.
Im Land Nordrhein-Westfalen, das unter Tolerierungdurch die Linke von Rot-Grün regiert wird, ist das Stu-dium ab diesem Semester wieder gebührenfrei.
Jetzt fallen Tutoren aus; es werden weniger Bücher fürdie Bibliotheken gekauft.
An der Uni Bonn sind zum Beispiel 50 Stellen in Gefahr.Ich könnte das weiterführen, belasse es aber an dieserStelle dabei.Zur Krönung des Ganzen möchte ich mein Heimat-land Brandenburg ansprechen; ich habe schon mehrfachdas eine oder andere zur dortigen Situation gesagt. ImHaushaltsentwurf der rot-roten Landesregierung für daskommende Jahr findet sich eine globale Minderausgabein Höhe von 12 Millionen Euro, die von den Hochschu-len eingespart werden müssen. Zudem kommt es zu ei-ner Entnahme aus den Rücklagen zur allgemeinen Haus-haltskonsolidierung in Höhe von 10 Millionen Euro. DieLinken formulieren in ihrem Antrag süffisant – ich zi-tiere –:Der Bund muss dementsprechend dafür sorgen,dass ein ausreichendes Angebot an Studienplätzenzur Verfügung steht.Da kann man nur noch sprachlos den Kopf schütteln.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie be-finden sich wahrscheinlich immer noch in einemSchockzustand;
denn in den letzten Tagen ist eines Ihrer zahlreichenideologischen Totschlagargumente in Sachen Bildungs-politik wissenschaftlich fundiert entkräftet worden. Ichzitiere aus der taz, die nun wirklich nicht unser Partei-organ ist.
In der Ausgabe vom 11. Oktober 2011 steht – ich zitieremit Erlaubnis des Präsidenten –:
Diese Nachricht ist ein Schock für alle Gegner vonStudiengebühren. Die Campus-Maut– so wird sie oft bezeichnet –schreckt offenbar nicht einmal die Kinder aus nicht-akademischen Haushalten vom Studieren ab.
Nach Einschätzung einer aktuellen Studie des Wissen-schaftszentrums Berlin, des WZB, mit dem Titel „Warall die Aufregung umsonst?“ gibt es keinen negativenEffekt von Studienbeiträgen auf die Studierneigung. ImGegenteil: Sie haben positive Effekte.
Ich will das kurz begründen. Studierende schätzenihre Ertragsaussichten besser ein, wenn es Studienge-bühren gibt, und in den Ländern, in denen Studienbei-träge erhoben wurden, ist die Anzahl der Studenten so-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15753
Dr. Martin Neumann
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gar noch stärker als in Ländern ohne Studienbeiträgeangestiegen.
Als hätte ich es nicht anders erwartet, wird Herr Gehringin dem genannten Blatt zitiert. Am 12. Oktober hat ergesagt: „Die WZB-Untersuchung ist methodisch zwei-felhaft …“, ganz nach dem Motto: Was nicht sein darf,das kann auch nicht sein.
Ich komme zum Schluss. Die Anträge, die Sie gestellthaben, sind wieder einmal viel Lärm um nichts.
Sie fordern den Bund zu Maßnahmen auf, für die er ei-gentlich nicht zuständig ist. Trotzdem nimmt er – das be-tone ich – bereits enorme Investitionen vor. Sie verges-sen immer wieder Ihre eigene Verantwortung in denLändern. Daher appelliere ich an Sie zum Wohle der vie-len Studierenden in Deutschland: Machen Sie endlichIhre Hausaufgaben, und beenden Sie diese Spielchen!Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Während die Bundesregierung seit Monaten über Fach-kräfte- und Akademikermangel lamentiert, schnuppertseit wenigen Tagen eine halbe Million Studienanfängerakademische Luft. Wir Grüne freuen uns über diese Re-kordeinschreibung zum Wintersemester.
Wir wollen, dass aus Studienanfängern Absolventenwerden. Deshalb wünschen wir allen Erstsemestern, si-cherlich auch im Namen des ganzen Hauses, ein erfolg-reiches Studium.
Seit mehreren Semestern hält das Studierendenhochdank gestiegener Studierneigung, geburtenstarker Jahr-gänge und doppelter Abiturjahrgänge an. Wie erwartetist der Ansturm zu Beginn dieses Semesters durch denüberfälligen, aber überstürzten Ausstieg aus der Wehr-pflicht ganz besonders groß.
Leider hält seit mehreren Semestern das Hochschulzu-lassungschaos an. Daher möchte ich an dieser Stelledeutlich machen: Wir brauchen schnellstmöglich einfunktionierendes, dialogorientiertes Serviceverfahrenund endlich bundeseinheitliche Zulassungsregeln, damitder Einstieg gelingt.
Die zentrale politische Aufgabe ist, den Studienplatz-mangel zu überwinden, anstatt den Hochschulzugangdurch immer höhere lokale NCs zu blockieren. ZentraleAufgabe von Bund, Ländern und Hochschulen ist esauch, den Studierenden bestmögliche Studienbedingun-gen zur Verfügung zu stellen. Wer einen Studienplatz er-gattert, braucht auch einen Platz im Seminar,
einen Sitzplatz im Hörsaal, einen Professor mit Zeit,mehr Qualität in der Lehre und eine gute soziale Infra-struktur, das heißt Beratungsangebote, bezahlbarenWohnraum, moderne Bibliotheken und Mensen. Darummuss es jetzt gehen. All das gehört zu einem Studien-platz dazu. Daran mangelt es vielerorts. Daran mussbundesweit dringend gearbeitet werden.
Ärgerlich ist, dass der aktuelle Ansturm seit längererZeit bekannt ist und es zwei Bundesregierungen dennochnicht geschafft haben, nachhaltige Lösungen zu schmie-den. Der Hochschulpakt ist wichtig,
er war ein Kraftakt, aber er ist trotzdem weiterhin unter-finanziert, gedeckelt, und er ist zu kurz gedacht. Anstattaus dem ominösen 12-Milliarden-Paket von FrauSchavan zu klotzen, kleckern FDP und CDU/CSU nurherum
und versprechen an einem Tag wie heute, an dem überallüber die Euro-Krise diskutiert wird, 6 bis 7 MilliardenEuro an Steuersenkungen. Dabei wissen sie, dass dasGeld dann in den Länderhaushalten fehlt. Es fehlt auchfür den Ausbau unseres Hochschulsystems. Ein solchesVorhaben ist völlig falsch.
Schon im ersten Semester droht Ihre Pakt-II-Phasezur Makulatur zu werden, weil mindestens 50 000 Stu-dienplätze fehlen
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15754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Kai Gehring
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und Sie nicht die realen Masterübergangsquoten zu-grunde legen. Deshalb muss der Hochschulpakt drin-gend dynamisiert und an den tatsächlichen Studieren-denzahlen gemessen werden, damit junge Talente aufden Uni-Campus und nicht in die Warteschleife ge-schickt werden.
Für dieses Semester braucht man kreative Lösungenund Notmaßnahmen vor Ort. NRW und Baden-Württemberg sind hier Vorreiter.
Sie gehen weit über die Paktzusagen hinaus. Das ist ein-fach so. Man muss Geld vorstrecken. Die finanziellenVorleistungen sind höher als das, was im Pakt verhandeltwurde. Das ist ein gutes Zeichen.
Da Herr Neumann die Studiengebührendebatte hieraufgemacht hat, sage ich für meine Fraktion sehr deut-lich: Hochschulfinanzierung ist eine öffentliche undkeine private Aufgabe. Studiengebühren sind und blei-ben sozial ungerecht.
Sie haben den Nachweis schlichtweg nicht erbracht, dassdadurch die Qualität gesteigert wird. Deshalb freue ichmich darüber, dass wir statt in sieben nur noch in zweiLändern eine „Campusmaut“ haben, mit der Studierendeabkassiert werden, und dass CDU und FDP mit uns Grü-nen im Saarland die Studiengebühren abgeschafft haben.
Ich freue mich darüber, dass Grün-Rot in Baden-Württemberg und Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen dieEinnahmen aus den Studiengebühren durch Qualitäts-verbesserungsmittel vollständig kompensieren
und dass beide Landesregierungen so viel wie nie zuvorin Hochschulen investieren und damit die Attraktivitätfür Studierende erhöhen. Das ist die grün-rote und rot-grüne Bilanz in den Ländern.Die Bundesregierung darf sich jetzt nicht längerzurücklehnen. Sie muss den Hochschulpakt jetzt auswei-ten, mit den Ländern nachverhandeln und endlichbessere und klügere Finanzierungsmechanismen verab-reden. Es ist notwendig, dass wir mehr Bachelor- undauch Masterstudienplätze schaffen, damit niemand aufein Studium verzichten muss. Zudem brauchen wirunbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten und klareKarriereperspektiven für Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler auch jenseits der Professur. Darüber hinausbrauchen wir zusätzlich zu bestehenden Professorenstel-len ein Anreizprogramm für Juniorprofessuren, und wirbrauchen ein transparentes Studienvergabesystem. Alldas sind Hausaufgaben, die Frau Schavan erledigenmuss, wo Bund und Länder gemeinsam zusammenarbei-ten müssen. Nur so würde der Hochschulpakt tatsächlichseinem Anspruch gerecht, dass jeder junge Studienbe-rechtigte in Deutschland tatsächlich studieren kann.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!2007 wurde zwischen dem Bund und den Ländern derHochschulpakt geschlossen. Wenn man sich die Ent-wicklung bei den Studienanfängern seither anschaut,wird deutlich, welch großer Wurf
damals unter Führung von Bundesministerin Schavangelungen ist.
Man ging 2007 davon aus, dass bis 2010 91 000 neueStudienplätze geschaffen werden müssen. Die Basisdamals waren die Zahlen von 2005. 2005 haben356 000 junge Menschen ein Studium begonnen. Daswaren 37 Prozent des Altersjahrgangs. Im Jahr 2010 wa-ren es über 440 000 Studienanfänger; das waren 46 Pro-zent des Altersjahrgangs.
Das war ein Rekordwert. Die ursprüngliche Zielmarkeaus dem Jahr 2007, nämlich 91 000, wurde mit182 000 zusätzlichen Studienanfängern zwischen 2007und 2010 bei Weitem übertroffen. Das zeigt, wie wichtigdieser Hochschulpakt war und wie richtig es war, dasswir ihn damals mit Ihnen und gemeinsam mit den Län-dern eingeführt haben.
Der Hochschulpakt wird fortgeführt. 2009 wurde dieVerlängerung des Hochschulpakts beschlossen. Bis 2015werden wir weiterhin investieren. Wir werden ihn auchdarüber hinaus verlängern, falls es notwendig ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15755
Dr. Reinhard Brandl
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Wir haben in diesem Jahr sehr flexibel reagiert, alswir vor dem Hintergrund der Aussetzung der Wehr-pflicht gemeinsam mit den Ländern die Anzahl der Stu-dienplätze noch einmal erhöht haben.
Allein in der zweiten Programmphase investiert derBund 4,7 Milliarden Euro in den Ausbau der Studien-plätze.
Das unterstreicht deutlich: Die Förderung von Bildungund Forschung ist und bleibt ein Schwerpunkt der Arbeitdieser Koalition.Natürlich wollen wir auch die Lehre verbessern.
Dafür gibt es den Qualitätspakt Lehre; der KollegeSchipanski hat ihn bereits angesprochen. In der erstenAuswahlrunde wurden 111 Hochschulen aus allen Re-gionen Deutschlands ausgewählt, die in den nächstenfünf Jahren unterstützt werden, damit sie die Studienbe-dingungen und die Lehrqualität verbessern können. Dasist der richtige Weg.
Der Versuch, die Verbesserung der Lehre über denAnreiz einer Abschlussprämie zu erreichen, ist fragwür-dig. Das wäre dann sinnvoll, wenn es einheitliche undzentrale Prüfungen gäbe. Das möchte aber niemand.Wenn Sie den Hochschulen Geld entsprechend der An-zahl der bestandenen Prüfungen geben, die sie selbststellen und selbst bewerten, besteht die Gefahr, dass diePrüfungen leichter werden und sich nichts verbessert.Das wäre der falsche Ansatz. Wir wollen bei einer gro-ßen Zahl von Studenten ein qualitativ hohes Niveau derAbschlüsse beibehalten.
Verehrte Kollegen von der SPD, wenn Sie ernsthaftetwas für die Verbesserung der Studienbedingungen tunmöchten, dann reden Sie einmal mit Ihren Kollegen inden Landesregierungen, zum Beispiel in NRW.
Dort wurde ein großes Wahlversprechen eingelöst unddie Studienbeiträge gestrichen.
Nur hat die rot-grüne Landesregierung den zweiten Teilihres Wahlversprechens nicht eingelöst,
nämlich den Hochschulen den Ausfall vollständig zukompensieren.
Im ganzen Land werden Assistentenstellen und Tutoriengestrichen:
Aachen, Köln, Bonn, Wuppertal, Münster. Ich könntedie Liste fortführen. Von überall erreichen uns die Kla-gen. So haben sich die Studenten und die Hochschulendas Wahlgeschenk nicht vorgestellt.
Das Ganze geschah zu einem Zeitpunkt, an dem ab-sehbar war, dass aufgrund der doppelten Abiturjahr-gänge und der Aussetzung der Wehrpflicht die Anzahlder Studienanfänger auch in NRW massiv ansteigenwürde.
Dass Ministerin Schulze in ihrer Pressekonferenzzum Semesterbeginn nicht gesagt hat, wie sie diese Fi-nanzierungslücke schließen will, zeigt, dass dort, wo dieSPD Verantwortung trägt, den Studienbedingungen keinhoher Stellenwert eingeräumt wird, obwohl Sie das hiervollmundig verkünden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirwollen ausdrücklich einstimmen in die große Freude da-rüber, dass wir so viele Studienanfänger haben.
Das sind so viele wie noch nie. Es ist schön, dass nie-mand mehr von der Studentenschwemme spricht, son-dern dass diese vielen neuen zusätzlichen Studentenpositiv aufgenommen werden. Ich will auch ausdrück-lich sagen: Wir freuen uns, dass so viele Studienanfängerin die neuen Bundesländer gehen.
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15756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Das ist etwas, was wir gemeinsam erarbeitet haben.
Wir freuen uns schließlich darüber, dass es sich bei die-sen Hochschulpakten um eine gemeinsame Bund-Län-der-Finanzierung handelt. Sie hat 2007 begonnen, alswir gleichberechtigt Verantwortung getragen haben.Herr Kretschmer, weil wir uns heute beide freuen,will ich betonen: Sie sind ein besonderer Freund unsererSache, weil Sie in Sachsen erfolgreich verhindert haben,dass Studiengebühren erhoben werden.
Im Übrigen ist Dresden eine wunderschöne Stadt inSachsen, in der vor drei Jahren der erste sogenannte Bil-dungsgipfel stattgefunden hat.
An dieser Stelle kann ich an die Ausführungen desKollegen Schulz anknüpfen, der darauf aufmerksam ge-macht hat, dass Steuerentlastungen in Höhe von 6 Mil-liarden Euro, die ja bei Ihnen diskutiert werden, bei denLändern zu Mindereinnahmen in Höhe von 2,5 Milliar-den Euro führen.
Auch bei den Kommunen und beim Bund führt das zuMindereinnahmen. Dabei wissen Sie genau, wie die Bil-dungsausgaben in Deutschland finanziert werden: Denkleinsten Beitrag leistet der Bund mit 16 Prozent, denmittleren Beitrag leisten die Kommunen mit 20 Prozentund den stärksten Beitrag die Länder mit 64 Prozent. Andieser Stelle den Ländern und den Kommunen Geld zuentziehen, das verträgt sich drei Jahre nach dem Bil-dungsgipfel, der damals unter Fanfarenklängen von IhrerSeite in Dresden eingeleitet worden ist, nicht mit derPriorität für Bildung.
Das ist ein Desaster.Wir machen es der Kanzlerin nicht zum Vorwurf, dasssie heute bei der KMK abgesagt hat; denn sie hat an an-derer Stelle für Milliarden einzustehen; dafür muss siekämpfen. Aber einem Bildungsgipfel den Boden unterden Füßen wegzuziehen, indem man den Ländern undKommunen am Anfang und am Ende der Legislaturpe-riode Geld wegnimmt, steht im Widerspruch zur Bil-dungsrepublik, von der Sie immer sprechen; das entlarvtSie.
Was könnte mit den besagten 2,5 Milliarden Euro nunkonkret umgesetzt werden?
Entsprechend unserer Initiative erfordern 50 000 zusätz-liche Studienanfängerplätze in etwa 750 Millionen Euro.Dies ist das Signal, das die Studierenden und auch dieHochschulen aktuell brauchen: Bildungschancen finan-zieren statt Steuern senken. Herr Schipanski, auch ichhabe Die Zeit gelesen; es ist eine gute Zeitung. Mankann das nur unterstreichen. Viele Hochschullehrer undRektoren haben sich wirklich ins Zeug gelegt und aufBasis der gemeinsamen Verpflichtungen aus dem Hoch-schulpakt etwas Ordentliches auf die Beine gestellt.Aber es findet sich in diesem von Ihnen zitierten Zeit-Artikel genauso wissenschaftliche Expertise, zum Bei-spiel von Professor Dohmen, der sagt: Die 335 000 bis-her zusätzlich finanzierten Studienanfängerplätze rei-chen nicht; sondern wir können es unter Umständen miteinem maximalen Korridor von 1 Million erwarteter Be-werber zu tun bekommen.Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir dagegen, so-zialdemokratisch bescheiden, zumindest ein verlässlichesSignal von mindestens 50 000 Studienanfängerplätzensetzen sollten. Damit stärken wir auch den entsprechen-den Elan in den Hochschulen, bei den Hochschulverwal-tungen und auch in den Ländern, der von Rheinland-Pfalz über Baden-Württemberg, über Nordrhein-Westfa-len bis hin nach Niedersachsen vorhanden ist.
Ja, wir sind nicht einäugig, so wie Sie es immer gernedarstellen. Auch Niedersachsen hat sich ordentlich insZeug gelegt. Nur, auch dort werden zusätzliche Mittelgebraucht.
Und Herr Döring: Auch Sie könnten auch einmal auf alleLänder schauen und die Wirklichkeit nicht immer nureinseitig aus Ihrer 3-Prozent-Perspektive heraus betrach-ten. Sie diskutieren immer nur einseitig über die 3 Pro-zent.
Also, ich lobe Niedersachsen; es ist CDU/FDP-regiert.Sie könnten im Gegenzug auch einmal Lob an andereLänder aussprechen; ansonsten sind Sie ein kleinerFrosch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15757
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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– Entschuldigung, wenn ich das so sage –: aufgeblasen,aber nicht viel Substanz darin.
Deshalb noch einmal: Wir müssen darum werben, dasswir mit 50 000 zusätzlichen Studienanfängerplätzen einSignal setzen; denn dies würde zeigen, dass wir die Stu-dierenden und die Hochschulen in ihren Anstrengungenernst nehmen. Hier sind wir doch eigentlich gar nicht soweit auseinander. Herr Schipanski, wenn Sie sagen, derDeckel sei nicht fest, sondern soll gegebenenfalls geho-ben werden, dann ist das eine Ansage.
Nur, man kann es in Bezug auf die 50 000 noch dingfes-ter machen. Und darum geht es.
Herr Kollege Rossmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Herr Brandl, eine letzte Bemerkung, weil ich gern
noch etwas sachlich zu bedenken geben möchte.
So wie wir Studienanfängerplätze fördern, bei denen
man nicht weiß, ob sie für die Hochschulen eigentlich
immer ein Anreiz sind, über die Studienanfängerzeit hi-
naus diese Studierenden an der Hochschule zu halten,
könnte man eine neue Balance finden, indem man auch
Abschlüsse fördert. Diese Balance brauchen wir. Wir
brauchen das Signal auch für die Studierenden und ihre
Hoffnung auf Hochschule. Deshalb: Setzen Sie mit uns
dieses Signal, und seien Sie nicht einäugig!
Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7340 und 17/7341 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Umsatzsteuergesetzes
– Drucksache 17/7020 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/7378 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dr. Daniel Volk
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll ge-
nommen werden.1)
Deswegen kommen wir sofort zur Abstimmung. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/7378, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7020 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Ausgrenzung stoppen – Alle Kinder, Jugendli-
chen und jungen Erwachsenen im Leistungs-
bezug des Asylbewerberleistungsgesetzes in
das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen
– Drucksachen 17/6455, 17/7278 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Peter Tauber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Paul Lehrieder von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Wir haben heute wieder einmal einenAntrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD zubehandeln und stellen fest: Der Antrag würde Sinn ma-chen, wäre er denn vor knapp sieben Jahren eingebrachtworden. Sie monieren in Ihrem Antrag die Ausgrenzungvon bedürftigen Kindern im Sozialbereich. Das hat mandamals schlichtweg übersehen; das haben Sie in Ihrer1) Anlage 21
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15758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Paul Lehrieder
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rot-grünen Regierungszeit übersehen. Jetzt, da Sie in derOpposition sind, veranstalten Sie ein Riesenlamento. Siefordern, dass wir an dieser Stelle im Asylbewerberleis-tungsgesetz nachbessern. Das passt nicht zusammen. Siehätten das bei Einführung der SGB-II-Regelungen in Ih-rer Regierungszeit mit abdecken können. Sie hätten denbedürftigen Kindern bereits vor sechs, sieben Jahren Bil-dungsmöglichkeiten gewähren können. Das haben Sienicht getan. Jetzt zu schimpfen und zu sagen: „Es gehtuns nicht schnell genug“, ist zu billig und auch zu dieserweniger prominenten Uhrzeit nicht angebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen selbst,was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Diechristlich-liberale Koalition hat zunächst einmal die vonIhnen zu verantwortende Ausgrenzung bedürftiger Kin-der gestoppt, um das mit aller Deutlichkeit zu sagen. Esist schade, dass Sie sich in der Einbringung populisti-scher Anträge üben, statt uns mit konstruktiver Opposi-tionsarbeit zu begleiten.Der Antrag der SPD ist ein gutes Beispiel für eine we-nig zielführende Oppositionsarbeit. Er ist populistisch.Er befasst sich mit einem Sachverhalt, dessen Problema-tik längst erkannt wurde und für den bereits Lösungenerarbeitet worden sind. Sie dürfen davon ausgehen, dassdieser christlich-liberalen Koalition die Bildungsange-bote für Kinder sehr wohl am Herzen liegen. Da brau-chen wir Ihre Unterstützung nicht.
Ihr Antrag läuft darüber hinaus größtenteils in Leere,da seine Inhalte in die Kompetenz der Länder fallen. Esist fast wie bei der vorherigen Debatte: Wir haben überHochschulpolitik diskutiert und dabei verkannt, dass beidiesem Thema auch die Länder mitzureden haben. Hierist es genauso; ich komme im Detail noch darauf zusprechen. Außerdem kommt Ihr Antrag zum falschenZeitpunkt, nämlich knapp sieben Jahre zu spät.Ich bin geduldig genug, Ihnen den Sachverhalt an die-ser Stelle noch einmal zu erklären. Das Bildungs- undTeilhabepaket, mit einem Umfang von immerhin1,6 Milliarden Euro, gibt bedürftigen Kindern aus Ge-ringverdienerfamilien mehr Zukunftschancen. Es er-möglicht rund 2,5 Millionen jungen Menschen die Teil-nahme an Schulausflügen, die Wahrnehmung sportlicherAktivitäten, die Teilhabe an Musik und Kultur und dieTeilnahme am Mittagessen in der Schule, im Kinderhortoder in der Kita. Liebe Sozialdemokraten, Sie sehen,dass wir zunächst einmal Ihr Versäumnis beheben muss-ten. Das haben wir gern gemacht, im Interesse der Kin-der.Auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „ha-ben nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes … An-spruch auf die Leistungen für Bildung und Teilhabe ana-log dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch …“, um ausder Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-frage der Linken, Drucksache 17/5633, zu zitieren. Auchnach § 3 berechtigte Kinder und Jugendliche mit einerkürzeren Aufenthaltsdauer als 48 Monate können Leis-tungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten,allerdings nur als Ermessensleistung. Dieses Ermessenliegt im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Behördevor Ort, also bei den Ländern und Kommunen. Da derBund hier zudem eindeutig nur für die Rahmengesetzge-bung zuständig ist, läuft Ihr Antrag bereits aus diesemGrund leider ins Leere.
Nichtsdestotrotz wird ebendiese Ermessensleistung ge-rade überprüft, lieber Herr Kurth. Dies belegt ein weite-res Zitat aus der eingangs erwähnten Antwort der Bun-desregierung:Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungenfür Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfungder Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfungist noch nicht abgeschlossen.Auch dies hätten Sie bei aufmerksamem Lesen längstselbst herausfinden können.Die Bundesregierung plant – das möchte ich festhal-ten – die Anpassung der Regelsätze im Asylbewerber-leistungsgesetz und will bis Ende des Jahres Eckpunktefür eine gesetzliche Regelung entwickeln und vorstellen.Liebe Sozialdemokraten, wir haben uns des Themasangenommen und müssen nun abwarten, was die Prü-fungen ergeben. Dass wir gute Voraussetzungen für alleKinder in unserem Land schaffen wollen, steht völlig au-ßer Frage. Hier sind wir gar nicht weit auseinander. Kin-der sind der Keim unserer Gesellschaft. Die christlich-li-berale Koalition eröffnet allen Kindern Chancen undfördert deren Potenziale und Talente – völlig unabhängigvon ihrem sozialen Hintergrund.
– Sie hätten ja mitklatschen können, Frau KolleginKramme, dann wäre es lauter gewesen.
Sie können davon ausgehen: Die Bildungschancender Kinder aus allen Familien sind bei uns in guten Hän-den. Wir freuen uns auf Ihre kritische Begleitung.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenheute gemeinsam die Chance, ein Stück mehr sozialeGerechtigkeit für die ärmsten Kinder in unserem Landherzustellen. Auch Sie, meine Damen und Herren vonden Regierungsfraktionen, haben diese Chance. Nach Ih-rer Rede, Herr Kollege Lehrieder, fürchte ich allerdings,dass es schlecht aussieht.Es geht um rund 40 000 Flüchtlingskinder, derenExistenz über das Asylbewerberleistungsgesetz abge-deckt wird und die bis zu vier Jahre in unserem Landsind. Es sind Kinder, die oft unter traumatisierendenUmständen mit ihren Eltern nach Deutschland gekom-men sind, um hier überleben zu können. Sie stammenaus dem Irak, aus Afghanistan, dem Kosovo, aus Syrien,Nigeria und anderen Ländern, die von Krieg und Unru-hen gekennzeichnet sind. Sie wären sicherlich lieber beiihren Verwandten und Freunden geblieben. Die Not hatsie zu uns in ein für sie fremdes Land getrieben.Wie begegnen wir diesen Flüchtlingskindern? Zeigenwir Mitleid mit ihrem Schicksal? Nein, das tun wir nicht.Wir schicken diese Kinder in Sammelunterkünfte, ver-weigern ihnen notwendige medizinische und psycholo-gische Betreuung und speisen sie mit Leistungen ab, diedeutlich unter denen für bedürftige deutsche Kinder lie-gen. Sie müssen mit bis zu 40 Prozent weniger Regelsatzauskommen. Das ist beschämend und verstößt gegen dieMenschenwürde und unser Grundgesetz.
Der Gipfel der sozialen Kälte ist jedoch, dass dieBundesregierung diesen Kindern noch nicht einmal dasBildungs- und Teilhabepaket gewährt, das die Bundes-verfassungsrichter für bedürftige Kinder ausdrücklicheingefordert haben.
Das bedeutet für viele Flüchtlingskinder ganz konkret:kein warmes Mittagessen in Kita und Schule, keinefinanzielle Unterstützung bei Teilhabe an Sport und Kul-tur, keine Lernförderung, keine Kostenerstattung fürSchülerbeförderung, kein Geld für Klassenfahrten undAusflüge, keine 100 Euro jährlich für Schulbedarf.Erst nach vier langen Jahren erhalten FlüchtlingeLeistungen analog zur Sozialhilfe. Dann haben auchdiese Kinder einen Rechtsanspruch auf höhere Regel-sätze und das Bildungs- und Teilhabepaket. Vier Jahresind eine lange Zeit, gerade für Kinder, die schlimmeZeiten von Flucht und Vertreibung aus gewohnter Um-gebung verarbeiten müssen. Förderung in Kita undSchule und Teilhabe, zum Beispiel im Sportverein, sindwichtige Hilfestellungen, die diese Kinder dringendbrauchen.Staatsministerin Emilia Müller aus Bayern hat da je-doch eine andere Einstellung. Sie lehnte im Bundesratdas Bildungs- und Teilhabepaket für diese Flüchtlings-kinder für Bayern und Hessen mit der Begründung ab –ich zitiere –:Einer … Einbeziehung in das Bildungs- und Teilha-bepaket bedarf es aus Sicht von Bayern und Hessennicht. Dies gilt insbesondere für integrative Leis-tungen wie Vereinsbeiträge, da hier der nur vo-rübergehende Aufenthalt von Leistungsberechtig-ten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuberücksichtigen ist.Vier Jahre sind weiß Gott kein vorübergehender Aufent-halt.
Vier Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Schwarz-Gelbzeigt: Zwei Jahre sind eigentlich schon zu viel.
Wir debattieren heute nicht das erste Mal über unserenAntrag für ein Bildungs- und Teilhabepaket auch fürFlüchtlingskinder. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegender Regierungsfraktionen, haben erklärt, dass Sie einenRechtsanspruch für nicht erforderlich halten. Es sei denLändern und Kommunen schließlich nicht verboten, die-sen Kindern Leistungen nach dem Bildungs- und Teilha-bepaket zu gewähren. Sie verweisen dabei auf § 6 Asyl-bewerberleistungsgesetz, der sonstige Leistungenzulasse.Ich gebe Ihnen recht: Theoretisch wäre es durchausmöglich, dass Flüchtlingskinder in ganz Deutschlandbessere Bildungs- und Teilhabechancen bekommen.Doch hier geht es nicht um Theorie, sondern um knall-harte Praxis. Diese kann von Bundesland zu Bundesland,von Stadt zu Stadt, von Landkreis zu Landkreis ebensehr unterschiedlich aussehen. Das bedeutet über400 verschiedene zuständige Behörden. Weil das inDeutschland so ist, hat das Bundesverfassungsgerichtuns Bundespolitiker aufgefordert, für gleichwertige Bil-dungs- und Teilhabechancen in ganz Deutschland zu sor-gen. Aus diesem Grund wurde schließlich das Bildungs-und Teilhabepaket überhaupt auf den Weg gebracht.Die Länder tragen die Verantwortung für die Bil-dungspolitik. Darauf haben auch wir uns unter rot-grü-ner und rot-schwarzer Regierung, Herr KollegeLehrieder, verlassen. Aber wir mussten eben lernen, dassdas anders ist. Das Bundesverfassungsgericht hat unsdies ins Stammbuch geschrieben. Wir, der Bundestag,müssen gleichwertige Bildungs- und Teilhabechancenfür alle Kinder in Deutschland sicherstellen. Natürlichsind damit auch die Flüchtlingskinder, die bei uns leben,gemeint. Alles andere wäre doch absurd.
Ohne ein entsprechendes Rahmengesetz ist es den Län-dern und Kommunen jedoch völlig freigestellt, ob sieden Kindern Bildungschancen gewähren oder ebennicht. Das dürfen wir nicht zulassen.
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15760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Gabriele Hiller-Ohm
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Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, unserem An-trag zur Einbeziehung von Flüchtlingskindern in das Bil-dungs- und Teilhabepaket zuzustimmen und endlich einentsprechendes Rahmengesetz auf den Tisch zu legen.Ohne einen solchen Rechtsanspruch für alle Kinder undJugendlichen ist es möglich, dass ein Flüchtlingskind,das noch keine vier Jahre in Deutschland ist, anders be-handelt wird als ein Flüchtlingskind, das länger als48 Monate bei uns lebt. Beide Flüchtlingskinder besu-chen die gleiche Schule, gehen in dieselbe Klasse. Daseine Kind bekommt die Leistungen des Bildungs- undTeilhabepakets, das andere nicht. Ungerechter geht eswohl nicht!Inzwischen haben auch die Bundesländer eingesehen,dass dies ein unhaltbarer Zustand ist. 13 der 16 Bundes-länder fordern genau wie die SPD-Bundestagsfraktioneine einheitliche Rahmengesetzgebung auch für Kinderim Regelkreis des Asylbewerberleistungsgesetzes. Das,meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,sollte Sie aufhorchen lassen. Ihre eigenen Parteifreundefordern Sie zum Handeln auf. Wenn Sie schon nicht aufuns hören wollen, so hören Sie auf Ihre Kolleginnen undKollegen aus den Landtagen. Reden Sie sich nicht längermit fehlender Zuständigkeit und damit heraus, dass dieBundesregierung bereits prüfe. Wie lange soll die Un-gleichbehandlung der Kinder denn noch dauern? Wielange wollen Sie dieses beschämende Unrecht in unse-rem Land zulassen?Der Rechtsanspruch auf das Bildungs- und Teilhabe-paket für alle Kinder ist der erste Schritt hin zu mehr so-zialer Gerechtigkeit. Mit diesem Schritt sind wir jedochnoch lange nicht am Ende des Weges angekommen. Dasgesamte Asylbewerberleistungsgesetz muss reformiertwerden.
Die Grundsicherung entspricht nicht dem Urteil derBundesverfassungsrichter. Sie ist verfassungswidrig.
Hier muss dringend etwas geschehen. Wir werden dazueinen Antrag vorlegen. Tun Sie heute etwas für die Kin-der, und unterstützen Sie uns anschließend bei der längstüberfälligen Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Hiller-Ohm, manches, was Sie außerhalb desBildungs- und Teilhabepaketes am Asylbewerberleis-tungsgesetz kritisiert haben, besteht nun schon seit 1993.
In der Zwischenzeit – ich habe Ihrer Rede gelauscht –gab es auch sieben Jahre mit rot-grüner Bundesregie-rung. Wenn das alles so skandalös ist, dann ist doch dieFrage zu stellen, warum Sie das in diesen sieben Jahrennicht geändert haben.
– Ich habe gesagt: alles, was außerhalb des Bildungs-und Teilhabepaketes zum Asylbewerberleistungsgesetzvon Ihnen gesagt worden ist. Dazu haben Sie auch nochWorte gefunden.
Ich möchte darauf hinweisen, dass das Asylbewerber-leistungsgesetz Ergebnis eines großen Konsenses in derPolitik ist, den damals Oskar Lafontaine – damals nochfür die SPD – mit verhandelt hat. Insofern sollten Sie,liebe Frau Hiller-Ohm, wenn Sie insgesamt so viel kriti-sieren, auch kritisch zu sich selber sein und fragen: Washaben Sie in Ihrer Regierungszeit gemacht?
Jetzt, liebe Frau Hiller-Ohm, geht es in der Tat um Ih-ren Antrag. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesre-gierung auf, Kindern und Jugendlichen und jungen Er-wachsenen, die sich im Leistungsbezug nach § 3 desAsylbewerberleistungsgesetzes befinden, umgehend ei-nen Rechtsanspruch auf die Leistungen des Bildungs-und Teilhabepaketes zu gewähren. Wenn ich Sie jetztrichtig verstanden habe, fordern Sie, dass der Bund denRechtsanspruch eröffnet und die Länder zur Finanzie-rung des Bildungs- und Teilhabepaketes für Kinder undJugendliche und junge Erwachsene verpflichtet, nachdem Motto: Der Bund bestellt, die Länder bezahlen.
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Frau Hiller-Ohm. – Es ist in der Tat nicht unsachgerecht, was Siefordern; denn es entspricht insgesamt der Systematik desAsylbewerberleistungsgesetzes, bei dem der Bund dengesetzlichen Rahmen beschreibt, den die Länder dannerfüllen und ausfüllen.Ich möchte aber doch etwas zu bedenken geben:Wenn wir uns klarmachen – darauf haben auch Sie ver-wiesen –, dass wir insgesamt vor der Aufgabe stehen,das Asylbewerberleistungsgesetz zu reformieren, undwenn wir uns klarmachen, dass es sich dabei um ein zu-stimmungspflichtiges Gesetz handelt, dann ist es meinesErachtens nur sachgemäß, wenn wir die Länder frühzei-tig in die Beratungen einbeziehen. Deshalb ist es völlig
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15761
Pascal Kober
(C)
(B)
richtig, dass das Bundesministerium für Arbeit und So-ziales die Länder eingeladen hat, sich frühzeitig an demProzess der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzeszu beteiligen.
Wir sind also gemeinsam in einem Prozess, das Asyl-bewerberleistungsgesetz zu überarbeiten. In diesem Pro-zess sollten wir auch die Frage beantworten, ob und in-wieweit Kinder und Jugendliche und junge Erwachseneberechtigt sein sollen, Leistungen aus dem Bildungs-und Teilhabepaket zu bekommen. Wenn wir uns aber da-ran erinnern, wie schwierig und langwierig sich die Ver-handlungen um die Neufestsetzung der Hartz-IV-Regel-sätze im Vermittlungsausschuss dargestellt haben, wieschwierig es war, am Ende zu einem guten Kompromisszu kommen, finde ich es – wie gesagt – sinnvoll, wennwir uns die Zeit nehmen, frühzeitig gemeinsam mit denLändern eine Lösung zu erarbeiten.
Wir sollten auch beachten, dass in wenigen Wochen einUrteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage derHöhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-gesetz ansteht.
Meines Erachtens wäre es sinnvoll, auch diese richterli-che Rechtsprechung in die Beratungen einzubeziehen.Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,befinden wir uns in einem laufenden Prozess um dasAsylbewerberleistungsgesetz, in dem wir die Fragen ins-gesamt beantworten sollten. Sie selber haben zu Rechtdarauf hingewiesen, dass die Länder, wenn sie möchten,nach § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes den Kin-dern schon jetzt diese Leistungen gewähren können.Einzelne Länder tun dies; auch das haben Sie zu Rechtbemerkt. Andere Länder tun es nicht, auch SPD-regierteLänder. Da gibt es Gesprächsbedarf. Miteinander wer-den wir, glaube ich, zu einer gemeinsamen Lösung kom-men. Ich denke, diese Zeit sollten wir uns nehmen.Vielen Dank.
Die Kollegin Diana Golze hat ihre Rede zu Proto-
koll1) gegeben.
Damit erteile ich Markus Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kober, wenn ich Sie über die anstehenden und un-1) Anlage 20zweifelhaft notwendigen Änderungen beim Asylbewer-berleistungsgesetz und speziell bei der Höhe der Regel-sätze reden höre, bin ich schon sehr verwundert. Am9. Februar 2010 ist das Verfassungsgerichtsurteil zu denArbeitslosengeld-II-Regelsätzen verkündet worden. Da-mit war klar, dass die wesentlich niedrigeren und seitden 90er-Jahren nicht mehr erhöhten Sätze im Asylbe-werberleistungsgesetz ebenfalls angepasst werden müs-sen. Sie verschleppen den Prozess mutwillig. Das ist dieWahrheit. Dass Sie die Abstimmung mit den Ländernsuchen, trifft nicht zu.
Die Kollegin Hiller-Ohm hat darauf hingewiesen, dassdie Länder weitaus mehrheitlich – es sind 13 Bundeslän-der – zumindest diese kleinen Änderungen beim Bil-dungs- und Teilhabepaket wollen. Die Bundesregierunghätte längst die Gelegenheit gehabt, zum Ende dieses Jah-res nicht nur Eckpunkte, sondern einen Gesetzentwurfmit der Neufestsetzung der Regelsätze vorzulegen.Statt uns wieder in Retroschallplatten zu ergehen, werwann was hätte machen können, sollten wir uns nocheinmal sachlich vergegenwärtigen, worum es eigentlichgeht. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Sachver-ständige Professor Dr. Frings, die in einer Anhörungzum Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Ausschussfür Arbeit und Soziales ganz klar festgestellt hat, dassalle Flüchtlingskinder, die regulär im Kindergarten oderin der Schule eingebunden sind, bei einer Sonderbehand-lung gegenüber anderen Kindern, was Bildungszugängeund Schulbücher anbelangt, stigmatisiert und ausge-grenzt sind. Sie hat weiter ausgeführt, es sei ein Wer-tungswiderspruch, wenn es einerseits eine Schulpflichtfür diese Kinder und einen Rechtsanspruch auf einenKindergartenplatz gebe, ihnen aber andererseits Leistun-gen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket vorenthaltenwürden.
Es ist auch vernünftig, ihnen die vollen Zugänge zuBildung zu ermöglichen, und zwar nicht erst dann, wenndiese Kinder vier Jahre in Deutschland sind. Eine solcheStigmatisierung und Ausgrenzung sind zudem teuer,wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte dieser Kin-der dauerhaft in unserem Land bleiben. Ich zitiere nocheinmal Frau Professor Frings:Wenn wir sie in dieser Phase der ersten Jahre in die-ser Weise ausgrenzen, dann zerstören wir die Mög-lichkeit, dass sie zu unserem Humankapital bei-tragen, und es ist auch volkswirtschaftlich sehrbedauerlich, dass wir Hinderungsgründe setzen, dieerschweren, dass hier qualifizierte junge Menschenheranwachsen können.Darum geht es im Kern. Unter anderem aus diesemGrunde wäre es geboten, diesen Kindern wenigstens dieLeistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zugu-tekommen zu lassen. Das wäre sogar aufgeklärter Eigen-nutz, wenn Sie schon das christliche Motiv der Nächs-tenliebe nicht interessiert.
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Markus Kurth
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Ich stelle aber abschließend fest, dass dies ein sehrkleiner Schritt ist. Meine Fraktion ist der Ansicht, dasses mit einer Reform des Asylbewerberleistungsgesetzesnicht getan ist. Dieses Gesetz hat seine Untauglichkeitbewiesen. Wir meinen, dass mit dem Urteil des Bundes-verfassungsgerichts die Menschenwürde auf alle inDeutschland lebenden Menschen – dazu gehören auchFlüchtlinge – ausgedehnt wird. Das Asylbewerberleis-tungsgesetz gehört aus diesem Grunde nicht reformiert,sondern schlicht und ergreifend abgeschafft.Vielen Dank.
Zum Schluss der Debatte zu diesem Tagesordnungs-
punkt erhält Kollege Peter Tauber für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD kriti-siert in ihrem Antrag, dass nicht alle Kinder und Jugend-lichen und jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nachdem Asylbewerberleistungsgesetz einen Rechtsanspruchauf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket ha-ben. Darüber kann man trefflich streiten. An dem Antragist aber zu kritisieren, dass darin der Eindruck erwecktwird, asylsuchende Kinder und Jugendliche würden inDeutschland systematisch ausgegrenzt und benachtei-ligt.
Das ist definitiv nicht der Fall, wie auch die Praxis vorOrt in den Kommunen zeigt.Der vorliegende Antrag ist identisch mit einer Bun-desratsinitiative vom September dieses Jahres. Widerbesseres Wissen behaupten Sie einiges, von dem ichglaube, dass es klargestellt werden sollte.Erstens. Kinder und Jugendliche und junge Erwach-sene können sehr wohl Leistungen aus dem Bildungs-und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das ist unstrit-tig. Vor Ort in den Kommunen werden die Leistungenaus dem Bildungs- und Teilhabepaket sehr wohl auchKindern aus Asylbewerberfamilien gewährt.Zweitens. Alle Beteiligten wissen auch, dass die Leis-tungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz Gegenstandder laufenden Beratungen zwischen Bundesarbeitsminis-terium, Innenministerium und den Ländern sind. Ich binganz sicher, dass der Staatssekretär, der auch heute derDebatte folgt, aber auch die Kollegen hier diese Beratun-gen begleiten, und zwar im positiven Sinne und im Sinneder betroffenen Kinder und Jugendlichen.Drittens. Die Möglichkeit, den Kindern, Jugendlichenund jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nach § 3Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen nach demBildungs- und Teilhabepaket zu gewähren, ist laut demFlüchtlingsrat in Berlin – das ist keine Gliederung derCDU – bereits in 13 Bundesländern geregelt. Es gibtzwar in einigen Bundesländern somit Nachholbedarf,aber es gibt bereits eine Regelung in diesem Bereich.Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben das Land Hessenerwähnt. Sie hatten vielleicht nicht den aktuellen Sach-stand. Ich kann aus einer Auskunft des hessischen So-zialministeriums vom 22. August dieses Jahres zitieren.Das Sozialministerium schreibt dem Hessischen Städte-tag: Aus hiesiger Sicht steht daher nichts im Wege, beientsprechenden Anträgen jugendlichen Grundleistungs-empfängern nach dem AsylbewerberleistungsgesetzLeistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zu-nächst auf Grundlage des § 6 Asylbewerberleistungsge-setz als sonstige Leistung zu gewähren. – Also, auch inHessen ist das gängige Praxis.
Vielleicht lesen Sie das einmal nach und bringen IhreUnterlagen auf den aktuellsten Stand.
Richtig ist auch, dass durch die Zuständigkeit für dieAusführung des Asylbewerberleistungsgesetzes es denKommunen freisteht, den Kindern und JugendlichenLeistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zu-kommen zu lassen. Sie dürfen dies eben nicht mit Bun-desmitteln bezahlen, so wie generell die Kosten von denKommunen in diesem Bereich getragen werden müssen.Wir haben bereits in der Ausschussdebatte darauf hinge-wiesen, was wir seit Beginn dieses Jahres alles auf denWeg gebracht haben, um die Kommunen zu entlasten.Ich glaube, dass eine grundsätzliche Regelung getroffenwerden muss, aber es muss nicht zwingend um eine Kos-tenübernahme des Bundes gehen. Darüber wird noch zusprechen sein.Ich möchte es wiederholen: Grundsätzlich können dieKinder und Jugendlichen die Leistungen des Bildungs-und Teilhabepakets in Anspruch nehmen. Die Frage, wa-rum Sie, die Sie sich für die Abschaffung dieses Geset-zes in toto so stark machen, das Gesetz nicht schon frü-her abgeschafft haben, müssen Sie sich stellen lassen.
– Sie haben es versucht, aber Sie haben es nicht ge-schafft.
Wir geben jetzt Kindern und Jugendlichen die Möglich-keit, am Bildungspaket teilzuhaben.Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage derFraktion Die Linke geantwortet:Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15763
Dr. Peter Tauber
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für Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfungder Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfungist noch nicht abgeschlossen.Das wurde in der Debatte schon mehrfach erwähnt.Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole – derErfolg der Pädagogik liegt manchmal in der Wiederho-lung –: Es ist jetzt schon möglich und in 13 Ländern,nicht nur in SPD-regierten Bundesländern, gelebte Pra-xis, dass Kinder, die nach § 3 Asylbewerberleistungsge-setz leistungsberechtigt sind, diese Leistungen in An-spruch nehmen können und gewährt bekommen.Wir haben uns des Themas angenommen. Sie wissen,dass die Bundesländer, das Innenministerium und dasArbeits- und Sozialministerium den Sachverhalt zumWohle der Kinder und Jugendlichen prüfen. Wir solltenden Ergebnissen nicht vorgreifen. Ich bin mir sicher,dass die Länder und Kommunen schon jetzt ihrer Verant-wortung in diesem Bereich im Sinne der Kinder und Ju-gendlichen gerecht werden. Darauf kommt es an.Langer Rede kurzer Sinn: Wir haben das Thema aufder Tagesordnung. Die Gespräche laufen. Ihr Antrag istentbehrlich und daher von uns abzulehnen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Ausgrenzung stoppen –
Alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im
Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes in
das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7278, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/6455 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai
2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels
– Drucksachen 17/7316, 17/7368 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Elisabeth Winkelmeier-Becker, Norbert Geis, Dr. Eva
Högl, Sibylle Laurischk, Andrej Hunko und Memet
Kilic.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 17/7316 und 17/7368 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Missbrauch von Werkverträgen verhindern –
Lohndumping eindämmen
– Drucksache 17/7220 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Einige Kollegen geben ihre Reden zu Protokoll. Es
handelt sich um die Kollegen Gitta Connemann, Ulrich
Lange und Pascal Kober.2)
Damit erteile ich zunächst Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor circa einem Dreivierteljahr kam ein Kol-lege zu mir mit der Bitte, seinen Arbeitsvertrag zu über-prüfen. Der Kollege war Leiharbeitnehmer bei der FirmaAdecco in meiner Region, und sein Vorgesetzter hatteihm einen neuen Arbeitsvertrag gegeben, jetzt von derFirma Adecco Outsourcing GmbH. Der Vorgesetztehatte das mit der Aussage gemacht, es sei alles gleich ge-blieben – Lohnhöhe, Urlaub –, nur der Firmenname habesich geändert.Dem Kollegen war klar, dass er, bevor er unter-schreibt, sein Recht in Anspruch nimmt, den Arbeitsver-trag von seiner Gewerkschaft überprüfen zu lassen, unddas hat er klugerweise gemacht. Der neue Arbeitsvertragwar jedoch ein tiefer Einschnitt in seine bisherigenLohnleistungen und Rechte. Mit der Unterschrift wäremein Kollege kein Leiharbeitnehmer mehr gewesen,sondern Werkvertragsarbeitnehmer. Die – wenn auchschlechten – Tarifverträge gelten für Leiharbeitnehmer,nicht für Werkvertragsarbeitnehmer. Die Möglichkeit,den Betriebsrat im Entleihbetrieb in Anspruch zu neh-men, gilt nicht für Werkvertragsarbeitnehmer. DasRecht, den Betriebsrat im Entleihbetrieb mit zu wählen,1) Anlage 232) Anlage 22
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Jutta Krellmann
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gilt nicht für Werkvertragsbeschäftigte. Wenn vor einemDreivierteljahr „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ imGesetz vereinbart worden wäre, hätte es nicht für Werk-vertragsbeschäftigte gegolten. Sie sind ja keine Leihar-beitnehmer.Die ganze Zeit wird darüber gesprochen, dass dieZahl der Leiharbeitnehmer über 1 Million ansteigen soll.Vielleicht haben sich alle schon einmal gefragt: Wiesoist sie noch nicht über 1 Million gestiegen? Ich habe eineaktuelle Zahl gelesen. Im August 2011 waren es909 000 Leiharbeitnehmer, nicht mehr. Ich behaupte,ganz viele von denen sind nun in anderen Arbeitsverhält-nissen, in Outsourcing GmbHs, die mittlerweile jedeVerleiharbeitsfirma hat. Sie sehen, was da passiert ist,wenn Sie einmal ins Internet schauen.Woher kommen Werkverträge? Historisch gesehensind sie kein Problem. Jeder Handwerker arbeitet, indemer völlig selbstständig eine genau definierte Arbeit ver-richtet, ohne dass der Arbeitgeber ihm bei der Erfüllungseiner Aufgabe hineinredet. Beispiele sind die Reparatureines Autos durch einen Kfz-Mechaniker oder der Ein-bau einer Steckdose durch einen Elektriker. Bis hier gibtes keine Probleme, und daran gibt es auch nichts zu kriti-sieren. Ein Problem ist es dann, wenn Werkverträge alsverdeckte Leiharbeit, sprich Scheinwerkverträge, oderOutsourcing ganzer Abteilungen mit dem Ziel der Kos-teneinsparung genutzt werden. Ergebnis ist eine Auf-spaltung und Entsolidarisierung ganzer Belegschaftenund Betriebe.Ähnlich wie bei der Leiharbeit verdienen Werkver-tragsbeschäftigte 30 bis 50 Prozent weniger als dieStammbelegschaft,
und das noch ohne kollektiven Schutz und ohne kollek-tive Rechte. Für die Linke ist klar: Wer unsichere Be-schäftigung bekämpfen will, muss auch eine Antwortauf den zunehmenden Missbrauch von Werkvertragsbe-schäftigung haben.
Wir haben in unserem Antrag klar dargelegt, welcheMaßnahmen der Gesetzgeber hierfür ergreifen muss.Dazu gehört zwingend, ein Gesetz vorzulegen, welchesdas Vorliegen eines Scheinwerkvertrages definiert. Stim-men der Arbeitsvertrag und das dann realisierte Arbeits-verhältnis nicht überein, müssen den Beschäftigten ge-setzlich die Anrechte auf die im Betrieb üblichenEntgelte zugesprochen werden. Gleiches Geld für glei-che Arbeit auch für diese Werkvertragsbeschäftigten!Außerdem will die Linke den Betriebsräten ein erzwing-bares Mitbestimmungsrecht bei der Vergabe von Aufga-ben an Fremdfirmen geben. Dafür muss das Betriebsver-fassungsgesetz geändert werden. Diese Regierung hatbis jetzt immer versagt, wenn es darum ging, die Be-schäftigten vor Lohndumping zu schützen. Das Gesetzvon Frau von der Leyen in Sachen Leiharbeit war eineNullnummer und hat nichts gebracht – außer der Fest-schreibung der Lohnungleichheit in Ost und West.Es wird Zeit, dass in diesem Haus endlich etwas un-ternommen wird, um dem unsäglichen Lohndumpingmancher Unternehmen etwas entgegenzusetzen. In die-sem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Debatte.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sprechen hier häufig darüber, wie Arbeitin unserem Land entlohnt wird. Wir verfallen dabeimeistens in die gleichen Denkmuster: Die linke Seite desHauses klagt Lohndumping an. Die rechte Seite desHauses betont, dass es bei den Arbeitgebern vielleichteinzelne schwarze Schafe gebe, die ihre Mitarbeiterschlecht bezahlten, dass es aber Sache der Tarifpartnersei, für faire Löhne zu sorgen.Sosehr wir auch über dieses Thema streiten müssen,sollten wir dabei die Frage nicht vergessen: Wie viel istuns Arbeit eigentlich wert? Bei den Unternehmen und inder ganzen Gesellschaft ist der Werbeslogan „Geiz istgeil“ zu einem Lebensmotto geworden. Überall wird da-ran gewerkelt, wie man für möglichst wenig Geld mög-lichst viel Leistung erhält. In den Einkaufs- und Perso-nalabteilungen wird nicht mehr die Frage gestellt, wieviel uns die Arbeit wert ist, sondern es wird gefragt: Wererledigt die Arbeit am billigsten für uns?Das mag bis zu einem gewissen Grad eine betriebs-wirtschaftliche Logik haben. Aber das, was derzeit inunserer Republik passiert, hat keine betriebswirtschaftli-che Logik mehr, sondern ist eine Zerstörung unserervolkswirtschaftlichen Grundlage.
Die Unternehmen geben den Wettbewerbsdruck immerstärker an die Beschäftigten weiter. Daher ertönt vieler-orts der Ruf nach Leiharbeit und Werkverträgen. Damitwerden keine eigenen Mitarbeiter mehr im Unternehmenbeschäftigt, sondern das Risiko wird auf den Subunter-nehmer verlagert, der mit seinen Mitarbeitern beischlechter Auftragslage von jetzt auf gleich abgeschobenwerden kann. Der Druck, der auf dem Subunternehmerlastet, wird potenziert auf die Arbeitnehmer übertragen.So entstehen massenhaft sogenannte Randbelegschaf-ten. Die Stammbelegschaften in den Unternehmen wer-den immer kleiner. Leiharbeit, Fremdfirmen undOutsourcing bestimmen das Personal der Unternehmen.Das führt zu einer Entsolidarisierung im Betrieb. Ichwage es gar, von einem Vierkastensystem zu sprechen.Die erste Kaste sind die oft reichlich bezahlten Füh-rungskräfte. An zweiter Stelle steht die Stammbeleg-schaft, unbefristet und einigermaßen anständig entlohnt.Die dritte Kaste sind die befristet Beschäftigten, die mit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15765
Josip Juratovic
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großer Unsicherheit leben müssen. Ganz unten, in dervierten Kaste, finden wir Leiharbeiter und Werkverträge,um die sich das Stammunternehmen einen feuchten Keh-richt schert.Die Betriebsräte erhalten dabei immer weniger Ein-fluss. In den Unternehmen wird diese Personalpolitik zu-nehmend in der Einkaufsabteilung betrieben. Denn dieArbeitnehmer werden, wie sonst Büromaterial oder Ma-schinen, eingekauft und nicht mehr angestellt. Das zeigt,dass die Arbeitskraft nur noch als betriebswirtschaftli-cher Faktor gesehen wird. Die Arbeit ist zur Ware ge-worden. Es geht nicht mehr darum, einen Menschen mitseinen Fähigkeiten und seinem Know-how anzustellen.Hier ist die Frage, was die Arbeit wert ist, vollkommenins Hintertreffen geraten.Die Folgen dieser Personalpolitik sind verheerend.Die Arbeitnehmer müssen mit immer weniger Lohn aus-kommen und zu immer schlechteren Bedingungen arbei-ten. Die Betriebsräte müssen damit kämpfen, dass dieTarifverträge durch externe Arbeit, durch Leiharbeit undWerkverträge immer weiter unterwandert werden.
Zudem wird Mitbestimmung immer schwieriger. BeiWerkverträgen beispielsweise können die Betriebsrätegar nicht mitreden.Aber auch für die Unternehmen – das möchte ich be-sonders betonen – entstehen zahlreiche langfristigeNachteile. Die Arbeitnehmer identifizieren sich nichtmehr mit ihrem Unternehmen. Wenn die Arbeitnehmerwissen, dass sie in ihrem Unternehmen keine Beschäfti-gungsperspektive haben, werden die Arbeitsergebnisseschlechter, und dann sinkt die Produktivität. Auch dieInnovationsfähigkeit sinkt; denn Ideen der Arbeitnehmerzur Verbesserung werden nicht mehr aufgenommen.Zudem besteht auch ein Problem der Steuerung. Wiekann ein Unternehmen eine Belegschaft einlernen, diedauernd wechselt? Wie können hier Prozesse angestoßenwerden? Eingespielte Arbeitsabläufe werden durch häu-figen Personalwechsel gestört. Auch das Image des Un-ternehmens leidet, zum Beispiel bei der Fachkräftesiche-rung. Wer will denn schon bei einem Unternehmenanfangen, das für schlechte Arbeitsbedingungen bekanntist?Leiharbeit und Werkverträge sind zudem nur für dieEinkaufsabteilung so billig. Versteckte Kosten wie Ein-arbeitungszeit oder Qualitätsmängel in der Produktionwerden hier nicht mitberechnet. Das zeigt: Die Personal-politik, die in den Einkaufsabteilungen der Unternehmengemacht wird, ist nicht zukunftsfähig.
Der kurzfristige Profit nach betriebswirtschaftlicherLogik zerstört den langfristigen Erfolg unserer ganzenVolkswirtschaft. Das so hoch gelobte Modell der Tarif-parteien wird durch die Entsolidarisierung im Betriebausgehöhlt. Immer mehr Menschen, die durch diese Per-sonalpolitik schlechte Löhne erhalten, müssen aufsto-cken und brauchen staatliche Leistungen. Das belastetunseren Staatshaushalt und ist keine sinnvolle Sozial-politik. Langfristig leidet unsere ganze Wirtschaft: DieKaufkraft nimmt ab, die Qualität der Produkte sinkt, dasKnow-how unserer Arbeitnehmer verschwindet.Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, dieseAnalyse kennen auch Sie. Es ist geradezu absurd, wennIhre Ministerin von der Leyen immer wieder betont, ihrsei kaum Missbrauch in der Leiharbeit und bei denWerksverträgen bekannt. Ich kann Ihnen erklären, worandas liegt: Wer die Unternehmen nicht ausreichend kon-trolliert, findet auch keine Verstöße.
Das ist wie im Straßenverkehr: Wenn die Polizei keinenBlitzer aufstellt, weiß man nicht, wie viele Leute zuschnell um die Kurve fahren. Nach der Logik von Frauvon der Leyen hieße dies aber, dass auch niemand zuschnell fährt. Man hat ja keine Beweise. Hier müssen wirdringend in eine andere Richtung steuern.
Es ist bezeichnend, dass der Konzern, der früher mit„Geiz ist geil“ geworben hat, heute damit wirbt, den„ersten Preis ohne den Preis-Irrsinn“ zu haben. In die-sem Sinne müssen wir auch in der Politik umsteuern.Wir brauchen wieder Löhne ohne diesen Niedriglohnirr-sinn. Wir brauchen reguläre und faire Beschäftigung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Durch den sogenannten Schlecker-Skandal wurden die Methoden des Lohndumpings in derLeiharbeit bekannt. Selbst die Bundesregierung musstedieses Jahr in dieser Sache endlich tätig werden. Dochdie Lohndrückerei in Deutschland geht weiter.Schon die minimalen Regulierungen bei der Leih-arbeit schrecken manche Unternehmen ab. Da verlegtman sich lieber auf Werkverträge; denn diese bergen alleunternehmerischen Vorteile und noch mehr. Bei Werk-verträgen gibt es nämlich keinen Mindestlohn, und häu-fig fehlen Tarifverträge. Außerdem existiert keineEqual-Pay-Regelung. Werkverträge sind also ein weite-res Instrument für Lohndumping. Wir werden weiter fürdie Rechte der Beschäftigten streiten müssen.Im Bremer Einzelhandel beispielsweise beträgt derEinstiegsstundenlohn nach dem Tarifvertrag von ver.di10,20 Euro; Leiharbeitskräfte verdienen nach Mindest-lohn wenigstens noch 7,79 Euro. Doch inzwischen räu-
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15766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Beate Müller-Gemmeke
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men Werkverträgler die Regale von Rossmann, Realoder REWE ein; genauso wie zuvor festangestellte Be-schäftigte. Und anstatt 10,20 Euro oder wenigstens7,79 Euro verdienen sie nur noch 6,50 Euro die Stunde.Das kann nicht angehen. So etwas ist für uns nicht ak-zeptabel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-tionen, es kann mir niemand weismachen, dass das Ein-räumen von Regalen ein Werk ist: selbstständig und inEigenregie, ohne Weisung vom Chef der Filiale. Es kannmir auch niemand weismachen, dass die Werkvertrags-beschäftigten nicht in den normalen Betrieb der Filialeeingebunden sind. All dies sind Kriterien, die einenWerkvertrag ausmachen. Wenn diese Kriterien abernicht vorliegen, dann liegt auch kein Werkvertrag vor.Dann handelt es sich um klassische Leiharbeit, und diemuss wenigstens auch wie Leiharbeit bezahlt werden.Alles andere ist zutiefst ungerecht.
Ein Beleg, dass es sich häufig um Scheinwerkverträgehandelt, zeigt auch die Nähe zur Leiharbeitsbranche; daswurde vorhin schon ausgeführt. So bietet beispielsweise„Randstad Outsourcing“ Dienst- und Werkverträge fürunbefristete Aufgaben an und bewirbt die Leistung imInternet folgendermaßen – ich zitiere –:Mit Randstad setzen Sie auf: Wahrung der Wettbe-werbs-, Wachstums- und Ertragschancen, höhereUnternehmenserträge durch Umwandlung von Per-sonalkosten in planbare Sachkosten …So wird auch für die Leiharbeit geworben – mit„Sachkosten“ sind Menschen gemeint. Für mich ist dasalles ziemlich unerträglich.
Wie kann es angehen, dass sich in unserem Land im-mer mehr Lohndumping breitmacht und wir inzwischenschon Spitzenreiter in der EU sind? Ich frage mich: Wobleibt da die soziale Verantwortung in der Arbeitswelt?Wohin treibt unsere Gesellschaft, wenn die Wirtschaftjede kleinste Möglichkeit ausnutzt, um prekäre Beschäf-tigung auszubauen?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? –
Nein?
Nein, das wäre jetzt auch relativ komisch, weil der
Herr Kober ja selber hätte reden können. Dann hätte er ja
etwas dazu sagen können.
Die Bundesregierung interessiert das Thema aber nicht,
sie sieht keinen Handlungsbedarf.
Ich habe gerade schon angesprochen, dass kein Hand-
lungsbedarf gesehen wird. Die Regierungsfraktionen sit-
zen hier. Sie haben die Reden zu Protokoll abgegeben;
das heißt, hier wird in keinerlei Weise etwas ernst ge-
nommen. Man hätte ja wenigstens zu dem Thema reden
können.
– Sie hätten sich noch die zehn Minuten Zeit nehmen
können, um etwas hierzu zu sagen. Das sehe ich schon
so.
Auf jeden Fall nehmen wir das Thema ernst. Wie die
Linken wollen auch wir diese weitere Krankheit des
deutschen Arbeitsmarkts angehen. Allerdings greift uns
die Linke zu sehr in die unternehmerische Freiheit ein.
Uns geht es in erster Linie um eine klare und deutliche
Abgrenzung zwischen Werkverträgen und Leiharbeit.
Wir Grünen diskutieren zurzeit einen Weg, wie diese
Leiharbeit unter dem Deckmantel von Werkverträgen
enttarnt werden kann und vor allem, welche Kontrollen
notwendig sind, um diesen Missbrauch zu stoppen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie dürfen sich also
darauf freuen, demnächst in diesem Hause auch unseren
Antrag zu diskutieren.
Vielen Dank.
Werte Kolleginnen, wir sollten es nicht einführen, unswechselseitig vorzuwerfen, wenn jemand eine Rede zuProtokoll gegeben hat. Das sind immer Gentlemen’sAgreements, die wir da eingehen. Daraus sollten wir kei-nen Vorwurf entwickeln.
Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15767
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7220 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung des Pflanzenschutzrechtes– Drucksachen 17/7317, 17/7369 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: AloisGerig, Gustav Herzog, Christel Happach-Kasan,Alexander Süßmair und Harald Ebner.
2009 wurde in der Europäischen Union nach schwie-
rigen Verhandlungen zwischen Parlament, Rat und
Kommission das EU-Pflanzenschutzpaket beschlossen.
Mit dem Paket werden für Pflanzenschutzmittel strenge
und einheitliche Standards beim Verbraucher-, Anwen-
der- und Umweltschutz europaweit festgelegt.
Das Pflanzenschutzpaket ist ein wichtiger Schritt, um
auf dem europäischen Markt für Pflanzenschutzmittel
die dringend notwendige Harmonisierung voranzubrin-
gen. Wir in Deutschland sollten bei der Umsetzung des
Pakets unseren Beitrag dazu leisten, dass diese Zielset-
zung erreicht wird.
Die Bundesregierung hat zur Umsetzung des EU-
Pflanzenschutzpakets den Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes vorgelegt. Der
Gesetzentwurf setzt die richtigen Schwerpunkte:
Bei Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutz-
mitteln haben auch in Zukunft der Schutz von Menschen,
Tieren und Umwelt absolute Priorität.
Pflanzenschutzmittel sollen dazu beitragen, eine
nachhaltige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft in
Deutschland zu erhalten.
Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmit-
teln werden in Deutschland so geregelt, dass sie im Ein-
klang mit den europäischen Vorgaben stehen.
Wichtig ist die Botschaft an die Verbraucher, dass we-
der mit dem EU-Pflanzenschutzpaket noch mit dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung das Schutzniveau ab-
gesenkt wird. Es ist vielmehr so, dass sich das EU-
Pflanzenschutzpaket am hohen deutschen Schutzniveau
orientiert. So müssen künftig in allen Mitgliedstaaten
die Anwender von Pflanzenschutzmitteln ihre Sachkunde
nachweisen und ihre Pflanzenschutzgeräte überprüfen
lassen – dies ist in Deutschland bereits vorgeschrieben.
Ein weiteres Beispiel ist der integrierte Pflanzen-
schutz, der ab 2014 in der gesamten EU anzuwenden ist.
Integrierter Pflanzenschutz bedeutet, dass im Pflanzen-
schutz biologische, pflanzenzüchterische und anbautech-
nische Verfahren Vorrang vor chemischen Mitteln haben.
In Deutschland ist dieser Grundsatz bereits gesetzlich
festgeschrieben mit dem Ziel, die Pflanzenschutzmittel-
anwendung auf das notwendige Maß zu beschränken.
Neben der Einführung des integrierten Pflanzenschutzes
werden alle EU-Mitgliedstaaten darüber hinaus ver-
pflichtet, im Rahmen sogenannter Nationaler Aktions-
pläne daran zu arbeiten, die Anwendung von Pflanzen-
schutzmitteln zu verbessern und Risiken zu minimieren.
An diesen Vorgaben des EU-Pflanzenschutzpakets
wird ersichtlich, dass der Einsatz von Pflanzenschutz-
mitteln nicht leichtfertig erfolgen soll. Im Rahmen der
bestehenden und künftigen Schutzbestimmungen für Ver-
braucher, Anwender und Umwelt bleibt die Anwendung
von Pflanzenschutzmitteln aber absolut notwendig. Mit-
hilfe von Pflanzenschutzmitteln können sich Landwirte
gegen Schädlinge und Krankheiten zur Wehr setzen, die
die Erträge in ihren Anbaukulturen empfindlich mindern
können.
Pflanzenschutzmittel tragen wesentlich zu hohen Er-
trägen und damit zu einer guten Versorgung mit bezahl-
baren Lebensmitteln bei. Nirgendwo auf der Welt wer-
den Lebensmittel so intensiv auf Rückstände von
Pflanzenschutzmitteln geprüft wie in Deutschland. Die
Überschreitung der Rückstandshöchstgehalte ist seit
Jahren rückläufig und war 2009 nur bei 1,6 Prozent der
in Deutschland erzeugten Lebensmittel zu beanstanden.
Dies zeigt zweierlei:
Der Verbraucher kann sich auf sichere Lebensmittel
aus deutschem Anbau verlassen.
Die Landwirte in Deutschland setzen Pflanzenschutz-
mittel verantwortungsvoll ein.
Um wettbewerbsfähig produzieren zu können, ist es
für deutsche Landwirte mitunter äußerst wichtig, durch
Anwendung von Pflanzenschutzmitteln die Erträge zu
steigern. Es ist für die deutschen Landwirte ein klarer
Wettbewerbsnachteil, wenn Konkurrenten in anderen
EU-Staaten Pflanzenschutzmittel zur Verfügung stehen,
die in Deutschland nicht zugelassen sind. Bei vielen
deutschen Landwirten stößt auf Unverständnis, dass Le-
bensmittel, die mithilfe bei uns nicht zugelassener Pflan-
zenschutzmittel in anderen EU-Staaten erzeugt werden,
im Handel den Verbrauchern angeboten werden. Im Ge-
setzgebungsverfahren sollten wir prüfen, wie wir beste-
hende Wettbewerbsnachteile durch das Gesetz zur Neu-
ordnung des Pflanzenschutzrechts beseitigen können.
Eine Schlüsselrolle kommt dem Zulassungsverfahren
für Pflanzenschutzmittel zu. Das EU-Pflanzenschutzpa-
ket sieht als Neuerung vor, das Zulassungsverfahren um
3 Monate auf 12 Monate zu verkürzen. Neu ist auch,
dass die EU in drei Zonen aufgeteilt wird: Ist ein Pflan-
zenschutzmittel in einem Mitgliedstaat zugelassen, kann
die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die der
gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen er-
folgen. Die Zulassungsbehörden können auf Prüfungs-
ergebnisse anderer Mitgliedstaaten zurückgreifen, um
Alois Gerig
(C)
(B)
zu beurteilen, ob die beantragte Zulassung erteilt wer-
den kann.
Die Zulassung kann nicht ohne Weiteres versagt wer-
den, wenn das Mittel bereits in einem anderen Mitglieds-
land der gleichen Zone zugelassen wurde. Die EU-Mit-
gliedstaaten einer Zone sind grundsätzlich verpflichtet,
ihre Zulassungen gegenseitig anzuerkennen. Die gegen-
seitige Anerkennung stellt einen bedeutenden Beitrag
zur Harmonisierung des europäischen Marktes für
Pflanzenschutzmittel dar. Im Ergebnis ist zu erwarten,
dass sich die Verfügbarkeit von Pflanzenschutzmitteln
deutlich verbessert. Damit dieser positive Effekt auch in
Deutschland eintritt, ist es erforderlich, dass die deut-
schen Zulassungsbehörden mit dem vereinfachten Ver-
fahren der zonalen Zulassung und mit den kürzeren Zu-
lassungsfristen zurechtkommen. Derzeit dauern die
Zulassungsverfahren wesentlich länger.
Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht vor, dass neben
dem federführenden Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit, BVL, auch weiterhin das
Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, das Julius-
Kühn-Institut, JKI, und das Umweltbundesamt, UBA,
am Zulassungsverfahren beteiligt sind. Wir müssen in
den Gesetzesberatungen der Frage nachgehen, wie die
Zulassungsverfahren mit vier beteiligten Behörden ef-
fektiv durchgeführt werden können. Insbesondere mit
Blick auf die gegenseitige Anerkennung der Zulassung
erscheint es mir zweckmäßig, im Zulassungsverfahren
die Anwendung der von der EU-Kommission entwickel-
ten Leitlinien vorzuschreiben. Die gegenseitige Aner-
kennung wird erleichtert, wenn alle Zulassungsbehör-
den in der EU einheitliche Bewertungsmaßstäbe
verwenden.
Eine effektive Zusammenarbeit von BVL, BfR, JKI
und UBA ist nicht nur im Zulassungsverfahren gefragt.
Auch in allen anderen Fällen, in denen das Pflanzen-
schutzgesetz eine Zusammenarbeit vorschreibt, müssen
praktikable und ergebnisorientierte Verfahren gewähr-
leistet sein. Dies gilt beispielsweise für die Ausbringung
von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahrzeugen und die
Festlegung von Anwendungsbestimmungen in Sonderge-
bieten.
Wie die Zulassungsverfahren durchgeführt werden, ist
besonders für die Hersteller von Pflanzenschutzmitteln
von Interesse. Nicht nur für den Anwender, sondern auch
für den Hersteller ist wichtig, dass neue Pflanzenschutz-
mittel schnell auf den Markt gelangen. Nur so können die
hohen Forschungs- und Entwicklungskosten wieder ein-
gespielt werden. Neue Pflanzenschutzmittel haben häufig
einen größeren Nutzen für den Anwender und im Hin-
blick auf den Verbraucher- und Umweltschutz bessere
Eigenschaften. Da die Sicherung der Welternährung in
den kommenden Jahrzehnten eine große Herausforde-
rung sein wird, kann auf innovative Pflanzenschutzmit-
tel, die eine Steigerung der Agrarproduktion ermögli-
chen, nicht verzichtet werden.
Wir tun also gut daran, die Rahmenbedingungen so
zu setzen, dass die Innovationsfähigkeit der Branche er-
halten bleibt. Deutsche Pflanzenschutzmittelhersteller
nehmen eine führende Rolle auf dem Weltmarkt ein und
Zu Protokoll
tragen dazu bei, Arbeitsplätze hierzulande zu sichern.
Effektive Zulassungsverfahren sind notwendig, damit
Deutschland ein zukunftsfähiger Standort für For-
schung, Entwicklung und Herstellung von Pflanzen-
schutzmitteln bleibt.
Bei der Neuordnung des Pflanzenschutzrechts sind
neben verbraucher- und agrarpolitischen Aspekten auch
industriepolitische zu beachten. Im Gesetzgebungsver-
fahren werden wir den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung prüfen. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz wird zu diesem Zweck
eine Sachverständigenanhörung durchführen. Die Ziel-
setzung der CDU/CSU ist klar: Wir wollen auf der
Grundlage hoher Standards im Verbraucher- und Um-
weltschutz eine sichere Anwendung und eine effektive
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ermöglichen.
Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurfmit dem doch recht technisch anmutenden Titel „Gesetzzur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes“. Was da inder Drucksache 17/7317 auf 164 Seiten so ordnungspo-litisch daherkommt hat weitreichende Auswirkungen bisin unser aller Alltag. Denn Pflanzenschutz geht uns allean. Er ist ein wichtiger Produktionsfaktor bei der Erzeu-gung unserer Nahrungsmittel, er sichert die Ernten aufhohem Niveau und beeinflusst die Qualität der Erntegü-ter. Und spätestens hier scheiden sich die Geister: Dieeinen denken an Mycotoxine in Getreide und meinen da-mit mehr chemischen Pflanzenschutz auf deutschenÄckern, und die anderen denken an Chemiecocktails aufPaprika und meinen damit weg mit den Agrargiften ausder Landwirtschaft.In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns, und es istan uns, den Grat zu bestimmen, auf dem wir uns bewe-gen. Wir müssen so viel Pflanzenschutz zulassen, wie esnotwendig ist, dabei aus den „Sünden der Vergangen-heit“ lernen und die mit dem Pflanzenschutz verbundenenRisiken minimieren. Die Probleme der Vergangenheit undauch der Gegenwart, die wir mit Pflanzenschutzmittelnhaben, sind nicht zu unterschätzen, um nicht zu sagen:oftmals auch gravierend. Hier geht es um Anwender, diesich den Mitteln aussetzen müssen, es geht um Rück-stände in Lebensmitteln, die wir tagtäglich zu uns neh-men, und es geht um unseren Naturhaushalt, der alsNichtzielorganismus in vielgestaltiger Form mitunterschwer leidet. Es geht aber auch um unsere ausreichendeVersorgung mit hochwertigen Lebensmitteln, die derzeitnicht ohne den chemisch-synthetischen Pflanzenschutzauskommt.Der Pflanzenschutz muss sich weiterentwickeln. DieMittel sind in ihren Risiken weiter zu reduzieren. DieUnternehmen, die Pflanzenschutzmittel entwickeln, tra-gen eine hohe Verantwortung dafür, was ihre Mittel hierund in der Welt bewirken, sowohl positiv wie auch nega-tiv. Wir geben ihnen mit dieser Novelle den Rahmen vor,in dem sie sich rechtssicher bewegen dürfen.Deutschland gehört zu den Ländern, die ganz weitvorne sind bei der Entwicklung und Anwendung neuerPflanzenschutzmittel. Unser Zulassungsverfahren war gegebene Reden
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15768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Gustav Herzog
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und ist eines der strengsten – aber auch eines der si-chersten. Und ich hätte gerne, dass es auch noch dasschnellste wäre. Unser Pflanzenschutzrecht wurde oft-mals als Blaupause für europäisches Recht genutzt. Die-ser Vorbildcharakter wurde in der Vergangenheit häufigals Wettbewerbsnachteil heftig kritisiert, sowohl von derLandwirtschaft als auch von der Agrarindustrie. Jetztmacht er sich bezahlt, denn die Umsetzung europäischerVorgaben in nationales Recht ist nicht so tief greifend,wie es in anderen Mitgliedstaaten Europas der Fall seindürfte. Unsere vermeintlichen Wettbewerbsnachteilekehren sich jetzt in Vorteile um. All dies hat nicht nur dieWettbewerbsfähigkeit verbessert, sondern auch einenBeitrag zu der Lebensqualität in unserem Land geleistet.Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmit-teln waren stets Gegenstand heftiger gesellschaftlicherund politischer Auseinandersetzungen. Ich erinnere anStichworte wie „Gifttomate“, „Bienensterben“ oder die„Schlapphutaffäre“, die eine Kontrolle der Landwirt-schaft durch das Umweltbundesamt als Spitzelei diffa-miert hat.Der vorliegende Gesetzentwurf setzt das europäischeRegelwerk, das bei seiner Verabschiedung seinerzeitSchauplatz dieser Auseinandersetzungen war, folgerich-tig um. Das begrüßen wir zwar im Grundsatz, müssenaber doch die erhebliche Zeitverzögerung anmahnen,die die Bundesregierung mit ihrer offensichtlich schwie-rigen Abstimmung verursacht hat. Diese Verzögerunggeht auf das Konto der Bundesregierung, und wir wer-den nicht zulassen, dass sie den Druck nun auf uns ab-wälzt. Das Parlament muss sich die Zeit nehmen, die esbraucht, um dieses umfassende Regelwerk zu beraten.Es liegen umfangreiche Stellungnahmen und zahlreicheVorschläge vor. Allein der Bundesrat hat 57 Änderungs-vorschläge beschlossen. Berufs- und Umweltschutzver-bände mahnen viele Punkte an, wie auch die Hersteller,Handel und Ämter. Das müssen wir uns in Ruhe an-schauen und die Anhörung der Sachverständigen aus-werten, um dem Gesetz den notwendigen Feinschliff zugeben. Hierzu müssen wir uns unter anderem das Ver-fahren der gegenseitigen Anerkennung im Detail an-schauen, die Regelung der Pflanzenstärkungsmittel oderdie Wirksamkeit der Maßnahmen zur Eindämmung ille-galer Pflanzenschutzmittel. Der Einsatz Letzterer nimmtein ernst zu nehmendes Ausmaß an, das all unsere Bemü-hungen um einen sicheren Umgang mit Pflanzenschutz-mitteln zunichtemacht. Ungeprüfte Formulierungen undgefälschte Wirkstoffe gefährden all unsere Schutzgüter.Landwirte sollten aus Eigeninteresse auf fragwürdigeProdukte verzichten.Neben dem Gesetz haben wir aber auch den Prozessdes in § 4 geforderten Nationalen Aktionsplans, NAP,fest im Blick. Es stimmt schon nachdenklich, wenn dieeinen behaupten, alles sei ein guter und transparenterDiskurs, während zahlreiche andere ihren Ausstieg an-drohen. Das müssen wir klären, denn der NAP ist als we-sentliches Element zur Minimierung der Risiken durchPflanzenschutzmittel viel zu wichtig, als dass man ihn ineiner Randnotiz abhakt. Ich erwarte von der Bundesre-gierung, dass sie in den Jahren der Arbeit mehr produ-ziert als viel Papier und Reisekostenabrechnungen derZu ProtokollTeilnehmerinnen und Teilnehmer. Wir brauchen eineAgenda, die auch zu einer tatsächlichen Reduzierungdes Einsatzes gefährlicher Chemikalien führt. Wir brau-chen eine Ökologisierung der Landwirtschaft in derBreite, und wir brauchen eine Stärkung des ökologi-schen Landbaus, der nicht nur in Sachen PflanzenschutzVorbildcharakter hat.Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung.
Wir haben einen gemeinsamen EU-Binnenmarkt, dieLandwirtschaft ist maßgeblich von europaweit einheit-lichen Bestimmungen geprägt. Um für die Betriebe glei-che Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, war es über-fällig, die Zulassungsregeln für PflanzenschutzmittelEU-weit zu harmonisieren. Es ist für keinen Betrieb ein-sichtig, wenn Pflanzenschutzmittel westlich des Rheinserlaubt sind, die östlich davon verboten sind, die Pro-dukte jedoch auf demselben Markt miteinander kon-kurrieren. Auf europäischer Ebene wurden neue Be-stimmungen zur Zulassung und Anwendung vonPflanzenschutzmitteln bereits im Jahr 2009 endgültigbeschlossen. Sie sind seit Juni dieses Jahres in Kraft. Esgilt nun, die neuen Anforderungen so direkt und prakti-kabel wie irgend möglich in deutsches Recht umzuset-zen.Pflanzenschutzmittel sind für eine gute Produktquali-tät wie auch für sichere Ernteerträge unabdingbar. Nie-mand mag Salat mit Blattläusen oder verpilzte Erdbee-ren essen. Die landwirtschaftliche Produktion wie auchder Garten- und Gemüsebau können auf die Anwendungvon Pflanzenschutzmitteln nicht verzichten. Das Lebens-mittelmonitoring zeigt in jedem Jahr, dass unsere Land-wirte Pflanzenschutzmittel sehr verantwortungsvoll an-wenden und die Bestimmungen sorgfältig beachten.Auch bei hoher Qualität der zugelassenen neuen Pflan-zenschutzmittel bleibt es ein wichtiges Ziel, deren Ein-satz auf das unabdingbar notwendige Maß zu beschrän-ken.Das neue EU-Pflanzenschutzpaket sieht unter ande-rem eine Einteilung der EU in drei Zulassungszonen vonNord nach Süd vor. Neue Pflanzenschutzmittel müsseninnerhalb einer Zone nur noch einmal ausführlich in ei-nem europäisch einheitlichen Verfahren geprüft werden.In den anderen Ländern einer Zone ist eine schnelle undunkomplizierte Anerkennung vorgesehen. Die schnellereEinführung bereits geprüfter Pflanzenschutzmittelkönnte vor allem für Sonderkulturen, deren Marktum-fang bisher in einem einzelnen Land zu gering war, einegroße Chance bieten.Für uns Liberale ist es im Hinblick auf einheitlicheWettbewerbsbedingungen sehr wichtig, dass die natio-nalen Regelungen sich eins zu eins an den Vorgaben derEU-Verordnung orientieren. Neue Pflanzenschutzmittelsind besser als alte. Die Anwendung verschiedenerPflanzenschutzmittel vermindert die Möglichkeit der Re-sistenzbildung. Deswegen ist eine zügige und harmoni-sierte Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auch einVorteil für Natur und Umwelt. Es darf bei der Zulassungvon Pflanzenschutzmitteln keine deutschen Alleingänge
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15769
gegebene RedenDr. Christel Happach-Kasan
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oder Sonderwege geben. Die Beachtung der Guidelinesder Kommission zur Wirkstoffprüfung muss selbstver-ständlich sein. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar,wenn beispielsweise die Auswirkungen von Pflanzen-schutzmitteln auf Nichtzielorganismen in den verschie-denen EU-Ländern nach unterschiedlichen Kriterienbewertet werden.Das für die Zulassung zuständige BVL, das Bundes-amt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit,muss mit dem JKI, dem Julius-Kühn-Institut, und mitdem BfR, dem Bundesinstitut für Risikobewertung, le-diglich ein Benehmen in wichtigen Fragen wie der Ge-fährdung von Mensch und Tier herstellen, jedoch mitdem UBA, dem Umweltbundesamt, das Einvernehmenbei allen Fragen zur Vermeidung von Schäden für denNaturhaushalt sowie durch Abfälle von Pflanzenschutz-mitteln herstellen. Diese Gewichtung ist und bleibt fürdie FDP unlogisch und nicht nachvollziehbar. Warumhat der Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier ei-nen geringeren Wert als der Schutz des Naturhaushalts?Die Einhaltung der geforderten 120-Tage-Frist beider gegenseitigen Anerkennung ist von großer Bedeu-tung. Die Beteiligung von vier verschiedenen Behördenbeim nationalen Zulassungsverfahren stellt große An-forderungen an die Ablauforganisation. Zwar kann dasBVL für die Abgabe von Bewertungen oder Stellungnah-men eine Frist festlegen. Aber leider bleibt die Frageunbeantwortet, was geschieht, wenn die vorgegebeneFrist nicht eingehalten wird. Eine Nichteinhaltung einerFrist durch eine einzelne Behörde sollte dem Benehmen/Einvernehmen gleichkommen.Das neue Pflanzenschutzgesetz stellt neue Anforde-rungen an den Vertrieb und die Anwendung von Pflan-zenschutzmitteln. Der Graue Markt des Parallelhandelsund der Reimporte muss sorgfältig überwacht und krimi-nelles Handeln konsequent bestraft werden. Die Strafbe-wehrung ist ein erster, wichtiger Schritt. Die Forderun-gen von Herstellern und der Länder über weitergehendeMaßnahmen nehmen wir sehr ernst und sind bereit,diese zu prüfen. Vor allem der Import von gefälschten,falsch deklarierten und gefährlichen Nachahmerpro-dukten muss weitestgehend unterbunden werden. Diesdient insbesondere dem Schutz der Anwender und derUmwelt.Wir erwarten einen konstruktiven Umgang mit demneuen Gesetz. Im weiteren Gesetzgebungsverfahrenmüssen wir sicher stellen, dass die kulturellen Besonder-heiten der einzelnen Obst- und Gemüseanbauregionenim Gesetz Berücksichtigung finden. Sonderregelungenfür Obstanbaugebiete wie das Alte Land müssen erhal-ten bleiben.Die weitere Entwicklung neuer hochselektiver undleicht abbaubarer Wirkstoffe für den Pflanzenschutz isteine wichtige Zukunftsaufgabe. Das Gesetz muss einenRahmen schaffen, der die Genehmigung der erforder-lichen Freilandversuche unbürokratisch ermöglicht undsicherstellt, dass auch mittelständische Unternehmenmit ihren Ideen daran teilhaben können.Der vorliegende Gesetzentwurf bietet eine gute Vo-raussetzung für ein gutes Gesetz. Wir werden die Vor-schläge der Anhörung sorgfältig prüfen.Zu Protokoll
Auf über 90 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflä-chen in Deutschland und Europa wird „konventionell“– das heißt unter anderem mit dem Einsatz diverser che-mischer Pflanzenschutzmittel – gewirtschaftet. Die inder Landwirtschaft eingesetzten Pestizide werden damitauf einem beachtlichen Flächenanteil eingesetzt, undbei dem anhaltend hohen Niveau des Pestizidverbrauchssind Auswirkungen auf Umwelt und menschliche Ge-sundheit oft dokumentiert und nachgewiesen worden.Dem Gesundheitsschutz und dem Umweltschutz räumtdie neue EU-Pestizidgesetzgebung eine hohe Relevanzein; sie verschärft die Regelungen der Pestizidverwen-dung für besonders sensible Gebiete und stärkt den Ge-wässerschutz. Mit der Neuordnung des deutschen Pflan-zenschutzrechtes müssen die Ziele der EU-Richtlinienumgesetzt werden, und es muss abgesichert werden,dass die Umwelt vor unvertretbaren Auswirkungen derPestizide geschützt wird.Die Linke unterstützt die Intention der EU-Pestizid-gesetzgebung. Neu ist dabei, dass die auf EU-Ebene ent-wickelten Ziele, wenn sie in der Umsetzung in das natio-nale Pflanzenschutzrecht ernsthaft umgesetzt werden,einen deutlich höheren Standard im Pflanzenschutzrechtbedeuten als bislang. Dabei zieht die alte Debatte umSonderwege höherer Umweltstandards in Deutschlandnicht mehr – es geht hier um die Realisierung höhererEU-Standards. Das ist im Ergebnis also mehr als diebloße Umsetzung von EU-Recht.Die alte Debatte um die gegenüber der EU höherenStandards in Deutschland kehrt sich ein Stück weit um.In der nun kommenden Erörterung der Neuordnung desPflanzenschutzrechtes ist schon eine Reihe kontroverserPositionen, zwischen Fachleuten aus dem Bereich Um-welt auf der einen Seite und den Vertretern der Pestizid-anwendung auf der anderen Seite, erkennbar. Die Fragestellt sich, wie umfassend es gelingt, der ambitioniertenZielstellung der EU-Vorgaben gerecht zu werden. Sowerden zum Beispiel in der EU-Zulassungsverordnungdie Zulassung von Pflanzenschutzmitteln und Genehmi-gung von Wirkstoffen geregelt. Zentrales Element derZulassungsverordnung ist das Vorsorgeprinzip, mit demsichergestellt werden soll, dass in Verkehr gebrachteWirkstoffe oder Produkte die Gesundheit von Menschund Tier sowie die Umwelt nicht beeinträchtigen. Sieräumt den Mitgliedstaaten ausdrücklich ein, „das Vor-sorgeprinzip anzuwenden, wenn wissenschaftlicheUngewissheit besteht, ob die in ihrem Hoheitsgebiet zu-zulassenden Pflanzenschutzmittel Gefahren für die Ge-sundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt ber-gen“. Hier zeigt sich schon in der EU-Verordnung, dasses Spielräume in der nationalen Umsetzung der EU-Rah-mengesetze gibt. Neben der Zulassungsverordnung fürPflanzenschutzmittel sind das die EU-Rahmenrichtliniezur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden sowie wei-tere Europäische Rechtsakte wie die Flora-Fauna-Habi-tat-Richtline.Die Linke wird sich in den Beratungen zur Novelle füreine ernsthafte Umsetzung der EU-Rahmengesetze ein-sezten. Es geht bei den Beratungen zu diesem Gesetznicht zuletzt um die Bewahrung unserer Lebensgrundla-gen, es darf nicht um den Profit der Agrarindustrie ge-
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15770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15771
Alexander Süßmair
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hen. Ermessensspielräume müssen im Sinne von Art. 20 aunseres Grundgesetzes genutzt werden. Da heißt es, derStaat schützt unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Da-rauf wird Die Linke achten.
Die schwarz-gelbe Koalition legt mit der Neuordnung
des Pflanzenschutzrechts eine erschreckende Kontinui-
tät an den Tag. Nach dem Hin und Her beim Atomaus-
stieg, der fatalen Verzögerungstaktik in der Euro-Krise
und der verschlafenen Wahlrechtsreform mit eklatanter
Fristversäumnis kommt auch der jetzt vorgelegte Ge-
setzentwurf ein halbes Jahr zu spät. Die Novelle des
Pflanzenschutzgesetzes hätte nach den Vorgaben der EU
spätestens am 11. Juni dieses Jahres in Kraft treten müs-
sen.
Wenn ein Gesetzentwurf zusätzliche sechs Monate be-
nötigt und deshalb sogar ein eigenes Übergangsgesetz
beschlossen werden muss, dann darf man eigentlich ei-
nen großen Wurf erwarten, also ein ganzheitliches Kon-
zept, das sich stringent in ein modernes Landwirtschafts-
konzept einfügt. Leider ist das Gegenteil der Fall: Mit
ihrem Gesetzentwurf versucht die Bundesregierung, den
Status quo so weit wie irgend möglich fortzuschreiben.
Im Unterschied zu den Vorgaben aus Brüssel fehlt jegli-
che Aktualisierung der Zielsetzung in der Pflanzen-
schutzthematik, die auch die zentralen aktuellen Heraus-
forderungen in der Land- und Ernährungswirtschaft
aufgreift: den dramatischen Schwund der Artenvielfalt
gerade in den Agrarlandschaften, die wissenschaftlich
immer besser begründeten Ansprüche der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher an Lebensmittel ohne Pestizid-
rückstände oder die europaweit stark wachsende Zahl
der Landwirte, die auf den ökologischen Landbau um-
stellen.
Die Bundesregierung und speziell das Bundesminis-
terium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz offenbaren mit diesem Gesetzentwurf entweder
ihr Unvermögen oder ihre mangelnde Bereitschaft, ein
modernes Modell einer multifunktionalen und ökolo-
gisch nachhaltigen Landwirtschaft zu entwickeln und
politisch umzusetzen. Vor allem der Einsatz chemisch-
synthetischer Pflanzenschutzmittel in seiner breit prakti-
zierten Form ist ein klassisches End-of-Pipe-Instrument
zur Bekämpfung bereits aufgetretener Probleme. Ein
glaubwürdiges politisches Konzept für den Pflanzen-
schutz setzt aber einen agrarpolitischen Rahmen voraus,
der zunächst alle ökologisch notwendigen und ökono-
misch realisierbaren Möglichkeiten zur Vorbeugung von
Schadwirkungen ausschöpft. Dazu zählen vielfältige
Fruchtfolgen, spezielle Anbauverfahren, die gezielte
Förderung von Nützlingen und der Einsatz biologischer
Schädlingsbekämpfungsmethoden ebenso wie die Wei-
terentwicklung von Beratungs- und Fortbildungskonzep-
ten für die potenziell von Schädlingsbefall betroffenen
Stufen der Lebens- und Futtermittelkette.
Hier besteht erheblicher Nachholbedarf, hier könnte
sich die Bundesregierung mit einem engagierten, zu-
kunftsorientierten Konzept profilieren. Diese Chance
wird mit dem vorgelegten Entwurf jedoch leichtfertig
verschenkt. Denn ein derartiger Ansatz widerspräche
dem von der Bundesregierung verfolgten agrarpoliti-
schen Modell der immer weiter getriebenen Intensivie-
rung in Ackerbau und Tierhaltung. Das Festhalten an
der ökologisch ebenso gefährlichen wie ökonomisch un-
sinnigen Agrogentechnik trotz der heute bekannten dras-
tischen Zunahme des Herbizideinsatzes als Folge des
Anbaus herbizidtoleranter Genpflanzen ist ebenfalls un-
vereinbar mit einer ernst zu nehmenden Berücksichti-
gung von Umwelt- und Verbraucherschutzaspekten im
Pflanzenschutz.
Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Novelle
sowohl von einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisa-
tionen als auch der Wasserwirtschaft heftig kritisiert
wird. Auch der Bundesrat hat mit seinen zahlreichen Än-
derungswünschen die Schwächen der Novelle aufge-
deckt. Zwar ist es beruhigend, dass im Unterschied zum
ersten Entwurf im Vorjahr nun das Umweltbundesamt
seine entscheidende Korrekturfunktion als Einverneh-
mensbehörde in den meisten Anwendungsbereichen wei-
ter wahrnehmen kann. Um so unverständlicher ist, dass
dieses Einvernehmen beispielsweise beim besonders ris-
kanten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln mit Luftfahr-
zeugen oder bei der Saatgutbeize nicht realisiert wurde.
Der auch vom Bundesrat geforderte Mindestabstand der
Pflanzenschutzmittelanwendung zu Oberflächengewäs-
sern fehlt dagegen ebenso wie die in der EU-Rahmenge-
setzgebung vorgesehenen Sonderregelungen für „be-
stimmte Gebiete“ wie Trinkwasserschutzgebiete.
Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihr
bisher passiv wie aktiv unterstütztes Agrarmodell und
damit auch die Novelle des Pflanzenschutzgesetzes
grundlegend zu korrigieren. Nur eine ökologisch zu-
kunftsfähige, qualitätsorientierte Landwirtschaft mit ei-
ner konsequenten Minimierungsstrategie beim Pflan-
zenschutzmitteleinsatz bietet den deutschen Landwirten
eine dauerhafte ökonomische Perspektive und Akzeptanz
in der Gesamtgesellschaft. Erst gestern bekamen wir
von Vertreterinnen und Vertretern vom Bund der Deut-
schen Landjugend im Agrarausschuss die diesjährige
Erntekrone überreicht. Mit Gesetzentwürfen wie der
heute vorgelegten Pflanzenschutzgesetz-Novelle setzt
die Bundesregierung nicht nur die biologische Vielfalt
und den Verbraucher- und Gewässerschutz, sondern
auch die Zukunft dieser jungen Menschen aufs Spiel.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksachen 17/7317 und 17/7369 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 16:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN10 Jahre Frauen in der Bundeswehr– Drucksache 17/7351 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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15772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Es handeltsich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:Anita Schäfer, Karin Evers-Meyer, Burkhardt Müller-Sönksen, Inge Höger, Katja Keul und ParlamentarischerStaatssekretär Christian Schmidt.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7351 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz-Josef Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. ChristelHappach-Kasan, Rainer Erdel, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPFischartenschutz voranbringen – Vordringli-che Maßnahmen für ein Kormoranmanage-ment– Drucksache 17/7352 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolle-ginnen und Kollegen Cajus Caesar, Holger Ortel,Christel Happach-Kasan, Jan Korte und Cornelia Behm.
Die Erhaltung der Biodiversität muss allumfassend
behandelt werden und harmonisch erfolgen. Ich stimme
dem Bundesumweltminister Röttgen zu: Die Bewahrung
der Biodiversität und der Klimaschutz sind zwei zentra-
len Herausforderungen der Politik – und nicht nur der
Umweltpolitik. Wir, die Union, aber auch ich persönlich,
wollen das Miteinander von Umweltinteressen und wirt-
schaftlicher Entwicklung. Bei den Themen Biodiversität
und Artenschutz darf das Gleichgewicht nicht in Verges-
senheit geraten. Ein ausgewogener Artenschutz kann
nicht dem Schutz einer ausgewählten Art gleichgestellt
werden. Zudem darf er nicht nur über Wasser gelten,
und das betrifft auch den Kormoran.
Man könnte fragen: Warum sind vordringliche Maß-
nahmen für ein Kormoranmanagement nötig? Immerhin
wurde der Kormoran im vorigen Jahr vom NABU zum
Vogel des Jahres ernannt. Nun handelt es sich um einen
Vogel, der erhebliche Schäden verursacht und zudem
langlebig, mobil und äußerst anpassungsfähig ist. Er
jagt Fische in Trupps mit bis zu einigen Hundert Vögeln
und kann bis 40 Meter tief ins Wasser tauchen. Die
1) Anlage 24
Trupps können Fische zusammentreiben und Gewässer
völlig fischleer machen.
Die rasante Bestandszunahme des Kormorans in den
letzten dreißig Jahren hat gravierende Auswirkungen
auf die natürliche Fischfauna. Europaweit sind mittler-
weile etwa 600 000 Brutvögel vorhanden, die Gesamt-
zahl wird auf fast 2 Millionen Vögel geschätzt. Die Zahl
der Brutpaare in Deutschland ist seit den 80er-Jahren
von knapp 800 auf 23 500 im Jahr 2009 angestiegen.
Mit 47 000 Brutvögel und der Gesamtvogelzahl von
130 000 hat sich der Bestand der Kormorane seit 1990
vervierfacht. Alleine in Nordrhein-Westfalen konnten im
Jahr 2010 rund 1 000 Brutpaare verzeichnet werden.
Dies hat zusätzliche Auswirkungen auf Deutschland
durch Zugvögel, die sich hier vorübergehend aufhalten.
Gleichzeitig hat der Kormoranbestand auch in unseren
nordeuropäischen Nachbarländern zugenommen: Die
Zahl der durchziehenden oder überwinternden Vögel im
süd- und westdeutschen Raum ist hiermit deutlich ge-
stiegen.
Ein Kormoran verzehrt mit der täglichen Menge von
400 bis 500 Gramm einen voluminösen Fischbestand.
Dies entspricht einer Menge von 160 Kilogramm pro
Jahr. Mit über 2 Millionen Kormoranvögeln entsteht eu-
ropaweit ein täglicher Fischverlust von etwa 1 000 Ton-
nen, mit etwa 130 000 Kormorane in Deutschland mehr
als 20 000 Tonnen. Insbesondere kleinere Fischarten
und Jungtiere größerer Fischarten sind bedroht. Dies
ergibt eine weitere Problematik, die nach effektiven Lö-
sungsansätzen verlangt.
Heute müssen wir leider feststellen, dass die bisheri-
gen Erfolge trotz zahlreicher Artenschutzprogramme
eher bescheiden zu beurteilen sind. Einheimische Fisch-
arten wie Lachs, Äsche, Meeresforelle oder Aal gelten
weiterhin als ernsthaft gefährdet. Trotz Verbesserungen
der Wasserqualität sind europaweit bereits 38 Prozent
der Süßwasserfischarten in Gefahr. In Deutschland gel-
ten nach Angaben des Bundesamtes für Naturschutz so-
gar 74 Prozent heimischer Rundmäuler und Fischarten
als gefährdet oder ausgestorben. Dabei spiegelt ein ge-
sunder Fischbestand die Qualität eines Gewässers wider.
Das darf bei der Argumentation hinsichtlich der Kormo-
ranpopulation nicht in Vergessenheit geraten. Der mas-
sive Bestandszuwachs von Kormoranen hat eindeutig ne-
gative Auswirkungen auf unsere Ökosysteme und die
Artenvielfalt. Doch auch die Existenz unserer Fischerei
und Teichwirtschaft ist dadurch ernsthaft bedroht. Insbe-
sondere die kleineren teichwirtschaftlichen Familienbe-
triebe stehen unter starkem Preisdruck durch Importe
aus Ländern mit industriemäßiger Fischproduktion. Ihre
Marktposition können sie nur über hohe Qualität und
ausreichenden Bestand behaupten.
Dabei sind naturnahe Erzeugung und nachhaltige
Wirtschaftsweise Markenzeichen unserer Fischereiwirt-
schaft. Sie ist erhaltenswert und sollte nicht durch Total-
verluste gefährdet werden. Wir dürfen nicht vergessen,
dass die Fischerei ein traditioneller wirtschaftlicher Be-
standteil sowohl an unserer Küste als auch an Flüssen,
Seen und Teichen im ländlichen Raum ist. Auch im Tou-
rismusbereich trägt sie zur Wirtschaftskraft bei.
Cajus Caesar
(C)
(B)
Inzwischen ist auch wissenschaftlich nachgewiesen,
dass Kormorane sogar in Fischpopulationen freier Ge-
wässer großen Schaden anrichten und bedrohte Fisch-
arten massiv verringern. Doch was können wir dagegen
tun? Die Auswertung der bisherigen Erfahrungen weist
auf die Bekämpfung der Symptome hin. Bis jetzt wurden
lediglich optische oder akustische Abwehrmaßnahmen
vor Ort durchgeführt. Solche Maßnahmen wie Über-
spannungen mit Netzen oder Einsatz von Schutzkäfigen
haben sich als inneffizient und teuer erwiesen. Auch mit
anderen lokal angewandten Taktiken ist es bisher nicht
gelungen, dieses Problem in den Griff zu kriegen. Unser
Ziel muss die langfristige Bestandsregulierung sein. Wir
müssen uns der Ursachenbekämpfung widmen. Denn
nur mit einem erfolgreichen Populationsmanagement
können wir unsere Ökosysteme und Artenvielfalt wieder
ins Gleichgewicht bringen: effektiv, vergleichsweise
preiswert und mit deutlich geringeren Nebenwirkungen.
Dafür benötigen wir umgehend ein funktionierendes und
langfristiges Kormoranmanagement.
Das hat die CDU/CSU-Fraktion früh erkannt. Bereits
im Jahr 2008 setzte sich Frau Bundesagrarministerin
Aigner für ein europaweites Bestandsmanagement dieser
Vogelart ein und erntete Unterstützung ihrer Kollegen in
anderen Mitgliedstaaten. Weiterhin wurde auf Initiative
der Bundesministerin im Rahmen der Agrarministerkonfe-
renz Ende letzten Jahres eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Kormoran“ eingerichtet. So konnte eine fachlich fun-
dierte Datengrundlage hinsichtlich des bundesweiten
Kormoranbestands, der gegebenen einschlägigen Rechts-
rahmen sowie der bereits realisierten Abwehrmaßnahmen
und fischereiwirtschaftlichen Schäden erfasst werden.
Auch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung
sieht einen EU-weiten Managementplan für Kormorane
vor. Durch das Engagement der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion wurde bereits eine entsprechende Initiative so-
wohl beim EU Fischerei- als auch beim Umweltrat ge-
startet. Diese Maßnahmen sind richtig und wichtig.
Doch langfristige Wirkung zeigen sie nur, wenn alle Be-
teiligten mitmachen. Die Kormorane lassen sich nicht
durch Ländergrenzen abhalten. Die Maßnahmen der
Bundesländer und der EU-Mitgliedstaaten müssen des-
halb zukünftig besser koordiniert werden. Dafür ist län-
gerfristig ein europaweiter Aktionsplan auf der EU-
Ebene erforderlich. Das Ziel ist es, eine nachhaltige eu-
ropaweite Bestandsregulierung einzusetzen und dessen
Auswirkungen zu beobachten.
Mit unserem Koalitionsantrag zum Kormoranmanage-
ment gehen wir deshalb noch einen Schritt weiter. Heute
fordern wir die Bundesregierung auf, vordringliche Maß-
nahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts beim
Artenschutz sowohl auf der Bundes- als auch auf der EU-
Ebene zu ergreifen. Für unsere Koalition ist der Fischar-
tenschutz genauso wichtig wie der Vogelschutz oder der
Tierschutz allgemein. Deshalb haben wir sowohl mit den
Naturschützern als auch mit den betroffenen Fischern
und Menschen aus dem Verarbeitungs- und Handelsbe-
reich den Dialog gesucht. Wir brauchen Regelungen, die
die gesamte ausgewogene Artenvielfalt genauso ernst
nehmen wie die Belange unserer Fischereiwirtschaft.
Zu Protokoll
Ich beginne meine Rede mit den gleichen Worten, wiein der Debatte im April dieses Jahres, als wir über denAntrag der Linken zum Kormoran sprachen: Der Arten-schutz darf nicht an der Wasseroberfläche aufhören. Un-ter dieses Motto möchte ich auch meine heutige Redestellen.Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgsge-schichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten handeltvom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unterhalbder Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte – bis-lang. Es gibt einige bedrohte Fischarten. Und es gibt fürdiese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese Ar-tenschutzprogramme drohen zu scheitern. Der Rück-gang einzelner Fischbestände hat vielfältige Gründe.Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer und derteilweise noch schlechte ökologische Zustand der Ge-wässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer wesentli-cher Grund ist der Kormoran.Ich möchte heute aber nicht schon wieder einenÜberblick über die Entwicklung des Kormoranbestan-des in den letzten 30 Jahren geben. Die Zahlen werdenzum einen immer wieder angezweifelt und wurden in derVergangenheit sehr oft wiederholt, so auch im Plenar-protokoll der Debatte vom 7. April dieses Jahres. Werdiese Zahlen also unbedingt nachlesen möchte, kann esdort tun. Ich möchte aber den Bericht des Europaparla-ments zum Kormoran erwähnen. Mein SPD-KollegeHeinz Kindermann hat im Dezember 2008 einen Berichtzum Kormoran vorgelegt. Dieser mündete in der am4. Dezember 2008 verabschiedeten Entschließung desEuropaparlaments zur Erstellung eines EuropäischenKormoranmanagementplans zur Reduzierung der zu-nehmenden Schäden durch Kormorane für Fischbe-stände, Fischerei und Aquakultur. Diese Entschließungwurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. DieKommission ist aber nicht gewillt, sich auf diesem Feldzu engagieren. Sie versucht immer wieder, den Mitglied-staaten den schwarzen Peter zuzuschieben. Zuletzt ha-ben wir gesehen, wie das Projekt Sustainable Manage-ment of Cormorant Populations torpediert wurde.Ich möchte aber auch auf die Aussagen der Koalitionin der Debatte vom April eingehen, denn diese waren inBezug auf ihren eigenen, den heute hier vorliegendenAntrag bemerkenswert. Die Union hat den Antrag derLinken mit dem Argument abgelehnt, dass es bei den un-terschiedlichen Forderungen verschiedene Zuständig-keiten gibt.Wenn ich mir jetzt den vorliegenden Antrag ansehe,stelle ich fest, dass es auch hier unterschiedliche Zu-ständigkeiten gibt.So liegt ein Teil Ihrer Forderungen in der Zuständig-keit der Länder. Beispiele dafür sind die ForderungenNr. 5 und 8. Jetzt frage ich Sie: Lehnen Sie diesen Antragauch ab?Weiterhin haben Sie sich in der Debatte für ein bun-deseinheitliches Kormoranmanagement ausgesprochen.Diese Forderung wurde nun stark abgeschwächt, es istnoch von einer Harmonisierung der Kormoranverord-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15773
gegebene RedenHolger Ortel
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nungen der Länder die Rede. Dass sich diese Forderungin der Zuständigkeit der Länder bewegt, möchte ich nuram Rande erwähnen. Sie haben sich offensichtlich ein-fach die Forderungen der FDP zu eigen gemacht. Unseregeschätzte Kollegin Christel Happach-Kasan vertrittdiese Standpunkte schon lange. Nur Ihr Bundesumwelt-minister und einige Umweltpolitiker haben Ihnen immerwieder Steine in den Weg gelegt. Ich frage mich nur, wa-rum. Herr Röttgen hat sich nämlich in dieser Angelegen-heit für gar nicht zuständig erklärt. Er will sich dem Kor-moran erst wieder annehmen, wenn dieser in seinemBestand gefährdet ist. Davon sind wir ja nun nachweis-lich weit entfernt. Der Herr Minister schlägt sich in dieBüsche. Aber nun haben Sie ja nach zähem Ringen einengemeinsamen Antrag geschrieben.Ich möchte Sie an dieser Stelle an Ihren Koalitions-vertrag erinnern. In diesem steht nämlich, dass Sie aufeuropäischer Ebene auf die Erstellung eines Manage-mentplans für Komorane drängen wollen. Es hat bereitseine Initiative von Frau Aigner bei ihren Ministerkolle-gen in den anderen EU-Mitgliedstaaten gegeben. Aberdiese Initiative ist im Sande verlaufen. Ein Drängenkonnte ich noch nicht erkennen. Ich hoffe, dass sie aufdiesem Gebiet noch mehr Initiative ergreifen werden.Wir müssen beim Kormoran nämlich sehen, dass esMenschen gibt, deren berufliche Existenz durch denKormoran zunichtegemacht wird. Es mussten schon ei-nige Teichwirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmalsüber mehrere Generationen betriebene Familienbe-triebe, die jetzt am Rande der Existenz stehen.Unter Punkt 5 Ihres Antrages machen Sie Eingriffe inBrutkolonien von Kormoranen von nachgewiesenen Ge-fährdungen der Fischfauna abhängig. In der Vergangen-heit wurde von Umweltverbänden immer wieder bestrit-ten, dass der Kormoran am schlechten Zustand derFischfauna Schuld hat. Mit dieser Argumentation wirdes sehr schwer werden, Eingriffe in Brutkolonien zu er-reichen. Deshalb müssen wir Parameter für den Zustanddes Kormorans festlegen, der Eingriffe in Brutkolonienmöglich macht bzw. bedingt.Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, euro-paweit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetztnicht auch europaweit managen? Die Vogelschützer ha-ben seinerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man dieProbleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwalokal lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefah-ren, die durch den Kormoran entstehen. So wie der Kor-moran Anfang der 1980er-Jahre in Europa unterreprä-sentiert war, so ist er nun überrepräsentiert. Auf dieErstellung eines europäischen Managementplans fürKormorane drängen heißt dicke Bretter bohren. Wirwerden zunächst aber über diesen Antrag im Ausschusszu beraten haben. Ich freue mich darauf.
Der Schutz des Kormorans war überaus erfolgreich.Die Kormorane haben sich so stark vermehrt, dass in-zwischen eine Bestandsregulierung erforderlich gewor-den ist. Es gibt in Europa keine Artenschutzmaßnahme,die so durchgreifend gewirkt hat wie der Kormoran-Zu Protokollschutz. Der Kormoran ist inzwischen Bestandsvogelnicht nur an der Küste, sondern auch in den südlichenBundesländern, wo er in den letzten Jahrhunderten al-lenfalls als seltener Irrgast anzutreffen gewesen ist. Ergehört dort zu den invasiven Arten und bedroht Fisch-arten in ihrem Bestand, die an das Fraßverhalten desKormorans nicht angepasst sind. Nach Angabe derBundesregierung auf Anfrage der Linken auf Drucksa-che 17/980 ist die Anzahl der heimischen Brutpaare aufetwa 24 000 gestiegen. Die europäische Population desKormorans wird von Wissenschaftlern auf etwa 600 000erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von bei-nahe 2 Millionen Vögel geschätzt. Es gibt sehr vieleBrutvogelarten, bei deren Schutz wir uns so viel Erfolgwünschen wie beim Kormoran.Nach diesem Erfolg des Vogelschutzes ist es an derZeit, auch den Fischartenschutz und speziell den Schutzautochthoner Fischbestände voranzubringen. Die Situa-tion vieler bedrohter Fischarten hat sich in den letztenJahrzehnten weiter verschlechtert. Nach den Kriteriender IUCN, der International Union for Conservation ofNature and Natural Resources, sind 38 Prozent der Süß-wasserfischarten Europas gefährdet oder vom Ausster-ben bedroht. So sind beispielsweise die Bestände derÄsche, Thymallus thymallus, dem Fisch dieses Jahres2011, in den vergangenen zehn Jahren in verschiedenenGewässern zusammengebrochen. Laut Aussagen desBundesamtes für Naturschutz, BfN, gelten in Deutsch-land 74 Prozent der heimischen Rundmäuler und Fisch-arten als gefährdet oder ausgestorben. Es bleibt unver-ständlich, warum der behördliche Naturschutz dennocheine Bestandsregulierung des Kormorans ablehnt, dasBundesamt für Naturschutz in der Broschüre über dieÄsche sogar ein Grußwort verweigert hat.Die Gefährdung von Fischbeständen ist genauso wiedie wirtschaftliche Belastung von Teichwirtschaften durchden Kormoran vielfältig nachgewiesen worden. Ein Kor-moran frisst pro Tag zwischen 240 und 1 000 GrammFisch, so die Bundesregierung in Drucksache 16/706.Die wirtschaftliche Belastung von Teichwirtschaften istunmittelbar einsichtig. Die fränkischen Teichwirte bezif-fern den Verlust durch den Kormoran auf 60 Prozent.Der Kormoranfraß hat vielfach ein Wirtschaften unmög-lich gemacht und die Wertschöpfung in den ländlichenRäumen erschwert. Viele Teichwirte in Mittelfrankenund in ganz Deutschland wollen deswegen aufhören,ihre Teiche zu bewirtschaften. Der Erhalt der Kultur-landschaft mit ihren über 4 000 Teichen allein in Fran-ken ist dadurch gefährdet. Fränkische Teichwirte for-dern deshalb ein europaweites Kormoranmanagement.Es ist bemerkenswert, dass der NABU den Kormoranzum Vogel des Jahres 2010 gemacht hat, obwohl er alsBesitzer der Blumberger Mühle in Brandenburg, einerKarpfenteichwirtschaft, seine Teiche mit Fischen auseiner tschechischen Satzfischaufzucht besetzen muss.Diese Fische sind so groß sind, dass Kormorane sienicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 wer-den jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teicheder Blumberger Mühle gesetzt. Für einen gewerblichenBinnenfischer oder Teichwirt ist ein solches Verfahrenviel zu teuer, unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit ist
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15774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenDr. Christel Happach-Kasan
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dieses Vorgehen abzulehnen. Es ließe sich durch einsinnvolles Kormoranmanagement vermeiden. Ebensobrauchen die freiwilligen Bemühungen der Anglerver-bände zum Gewässerschutz sowie zur Wiederansiede-lung bedrohter Fischarten die Unterstützung durch einnachhaltiges Kormoranmanagement.Ein wirkungsvoller Fischartenschutz erfordert einenbreiten Ansatz. Die Wasserqualität bzw. der Gewässer-zustand von Fließgewässern muss vielerorts weiter ver-bessert werden. Der Gewässerverbau durch die kleineWasserkraft zum Beispiel ist nur dann akzeptabel, wennUmgehungsmöglichkeiten für wandernde Fischarten ge-schaffen werden. Nur so können sich bedrohte, autoch-thone Bestände erholen oder ausgestorbene Arten wie-der ansiedeln. Gleichzeitig ist es unabdingbar, denFraßdruck durch Raubtiere wie den Kormoran auf be-drohte Bestände zu begrenzen.Es besteht ein allgemeines Einverständnis, dass auchaufgrund des Fehlens von Wolf und Bär, also Raubtie-ren, die früher einmal bei uns heimisch waren, derMensch Reh-, Rotwild- und Damwildbestände bejagenmuss, um im Wald Schäden durch winterlichen Verbisszu mindern. Genauso muss an bestimmten Gewässernder Kormoranbestand begrenzt werden, um bedrohteFischarten zu schützen, um autochthone Bestände vordem Aussterben zu bewahren. Nur so kann die innerart-liche Biodiversität erhalten werden.Mehr als 120 000 Unterschriften wurden für ein Kor-moranmanagement gesammelt, in Ulm haben über 6 000Menschen für das Kormoranmanagement demonstriert.Ich bin erfreut, dass sich inzwischen die Linke unsererForderung nach einem Bestandsmanagement ange-schlossen hat. In den Landtagen von Niedersachsen undSchleswig-Holstein wurden Entschließungen verab-schiedet, die auf ein europaweites Kormoranmanage-ment und ein abgestimmtes und wirkungsvolles Vorge-hen in Deutschland dringen.Es gibt im Rahmen der einzelnen Kormoranverord-nungen der Bundesländer bereits viele Beispiele für re-gionale Aktivitäten, die eine Regulierung des Kormo-rans zum Ziel haben. Allerdings ist der Kormoran einWandervogel, und im Laufe des Jahres kommt es zu ei-nem massenhaften Durchzug von Vögeln aus den nord-europäischen Staaten, die zusätzlichen Druck auf be-drohte Fischbestände ausüben. Regionale Maßnahmengegen den Kormoran sind richtig und wichtig. Aberohne eine Koordinierung dieser Maßnahmen innerhalbDeutschlands und mit unseren Nachbarländern, alsoohne ein europäisches Kormoranmanagement, könnenwir keinen sicheren und dauerhaften Artenschutz ge-währleisten und Schaden von bedrohten Arten in heimi-schen Gewässern abwenden.Als Regierungskoalition sind wir uns der Wichtigkeiteines Kormoranmanagements zum Wohle der Biodiver-sität und des wirksamen Artenschutzes unter der Was-seroberfläche bewusst. Mit diesem Antrag setzen wir einZiel des Koalitionsvertrages um. Wir laden alle ein,denen der Schutz unserer bedrohten Fischfauna, der Er-halt wertvoller Teichflächen und ein ausgewogener Um-Zu Protokollweltschutz am Herzen liegt, unseren Antrag zu unter-stützen.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsfrak-tionen es nun endlich geschafft haben, einen Antrag zumKormoranmanagement zu erarbeiten, der – das begrüßeich natürlich auch – in weiten Teilen sowohl in der Ana-lyse als auch in der Zielsetzung dem Antrag der Linkennahekommt, den wir im April dieses Jahres in den Bun-destag eingebracht haben. Deshalb wundert es michehrlich gesagt, warum Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von Union und FDP, so lange dafür gebraucht ha-ben – Sie hätten einfach dem Antrag der Linken zustim-men können.Als am 7. April im Bundestag über den Antrag derLinksfraktion „Ökosysteme schützen, Artenvielfalt er-halten – Kormoranmanagement einführen“, Druck-sache 17/5378, diskutiert wurde, haben sich alle Frak-tionen mit Ausnahme der Grünen, die offenbar ein eherselektives Verständnis von Natur- und Artenschutz ha-ben, für ein Kormoranmanagement ausgesprochen. DieKoalitionsfraktionen haben einen eigenen Antrag zumKormoranmanagement angekündigt, der praktisch nurnoch aus der Schublade geholt werden müsse. Dass Sienun so lange dafür gebraucht haben, würde ich Ihnen jaeigentlich nachsehen. Sie haben aber genau diesen An-trag als Grund dafür angeführt, den Antrag der Linkenvon der Tagesordnung des Agrarausschusses am13. April 2011 zu nehmen, um ihn dann dort am 11. Maimit den Stimmen der Jamaika-Koalition abzulehnen, umdann wiederum fast ein halbes Jahr nichts zu machen.Weil sich unser Antrag vom April diesen Jahres und Ihrjetzt vorgelegter Antrag nur in wenigen Punkten von-einander unterscheiden, frage ich mich, warum Sie diepaar Punkte, in denen Sie anderer Meinung sind als wir,nicht als Änderungsantrag eingebracht haben. Dann wä-ren wir in dieser Sache, in der sich offenbar ein großerTeil dieses Parlaments einig ist, schon viel weiter, undSie hätten sich viel Arbeit erspart. Vor dem kommendenWinter, in dem wieder Tausende Kormorane – gerade anden nicht zugefrorenen Fließgewässern – massivenSchaden anrichten werden, hätten es Fischereiberech-tigte und Naturschützer gerne gesehen, dass der Bun-destag in diesem Punkt einmal Einigkeit demonstrierthätte, statt sich in kleinlichen parteipolitischen Aus-einandersetzungen zu verlieren. Ich hätte das beimThema Kormoranmanagement für nicht möglich gehal-ten; das muss ich an dieser Stelle einmal klar und deut-lich sagen. Die Kormoranproblematik hätten Sie aus-nahmsweise einmal sachlich und nicht ideologischhandhaben können.Nun aber zu Ihrem Antrag. Zuerst einmal möchte icheinmal anerkennen, dass der vorliegende Antrag weitergeht als der FDP-Antrag in der vergangenen Legislatur-periode. Die Koalitionsfraktionen haben es offenbarverstanden, dass wir nicht länger auf Europa wartenkönnen, sondern dringend eine bundesweite Koordina-tion von Maßnahmen gegen die viel zu hohe Kormoran-population brauchen. Das ist zuerst einmal sehr zu be-grüßen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15775
gegebene RedenJan Korte
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Warum ein bundesweites Kormoranmanagement not-wendig ist, sollte heute mittlerweile bekannt sein; dieArgumente dafür haben wir bereits Anfang April im Ple-num ausgetauscht. Zwei regionale Beispiele aus derjüngsten Zeit möchte ich aber hier noch einmal anfüh-ren. In den Gewässern Südsachsens ist der Bestand anÄschen 2010 auf 7 Prozent der Bestandes des Jahres2001 reduziert worden, das hat eine Auswertung derFangmeldungen ergeben. Und in Brandenburg sinktnicht nur die Menge an produziertem Fisch, auch die Ar-beitsplätze nehmen ab, und immer weniger junge Men-schen sehen in der Fischereiwirtschaft eine Zukunftsper-spektive. Die kommerzielle Fischerei stellt wie auch dieFreizeitfischerei und der damit verbundene Tourismusgerade im Osten der Republik große Entwicklungs-potenziale dar. Wenn wir die nicht mehr von der Naturzu kompensierenden, von Kormoranen verursachtenSchäden sowohl in den Flüssen als auch in den Seen undTeichwirtschaften nicht begrenzen, vergeben wir diesesPotenzial und entscheiden uns gegen regionale Wirt-schaftskreisläufe, regionale Produktion und regionalenTourismus. Das kann doch niemand ernsthaft wollen,erst recht nicht die Grünen, bei denen diese Schlagwortein jeder zweiten Broschüre zu finden sind. Sie, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Grünen, hätten beimKormoranmanagement einmal die Chance, zu widerle-gen, dass Sie sich bei Ihrer Artenschutzpolitik an der op-tischen Attraktivität von Tieren orientieren. Mit IhrerEinstellung könnten Sie einen Zoo leiten, aber vom Ar-tenschutz sollte man mit dieser Einstellung die Fingerlassen. Denn Artenschutz endet nicht an der Wasser-oberfläche.Wir sind uns offenbar einig, was die Regulierung desKormoranbestandes zum Beispiel durch Maßnahmenzur Steuerung der Reproduktion angeht. Wir fordern dieEinhaltung der EU-Wasserrahmenrichtlinie sowie dieGleichwertigkeit von Arten unter und über Wasser. DieKollegin Stauche hat ja in ihrer Rede zum Kormoran-antrag der Linken gesagt, ein bundeseinheitliches Kor-moranmanagement müsse an die Realität angepasstwerden. Das, finde ich, ist eine richtige Aussage. Des-halb finde ich es auch gut, dass Sie sich an unserem rea-listischen Konzept ausgerichtet haben.Auch wenn die Richtung Ihres Antrags grundsätzlichrichtig ist, bleibt er dennoch in einigen Punkten hinterunserem zurück, zum einen bei den Partnerinnen undPartnern, mit denen ein Management des Kormoranbe-standes entwickelt wird. Sie nennen hier nur die Bundes-länder. Deren Zuständigkeitsbereiche sind gerade indiesem Bereich klar, und deshalb ist die Entwicklungund Koordinierung von Maßnahmen mit den Länderneine Selbstverständlichkeit. Wir fordern in unserem An-trag die Beteiligung von Fischerei-, Naturschutz- undAngelverbänden an der Planung und vor allem auch ander Zielsetzung eines Kormoranmanagements. Bevorwir mit einem Management beginnen, muss doch ersteinmal geklärt werden, wie hoch eigentlich das Be-standsziel beim Kormoran sein sollte. Darüber gibt esseit Jahren fachliche, aber eben auch sehr emotional ge-führte Diskussionen; das dürfte auch Union und FDPnicht entgangen sein. Die Einbeziehung der betroffenenZu ProtokollInteressenverbände soll nicht nur wegen des Sachver-stands von Fischern und Naturschützern geschehen,sondern auch, um alle Beteiligten in ein Boot zu holenund am Ende einen Konsens zu erreichen. In Dänemarkhat dies geklappt, vielleicht schaffen wir es in der Bun-desrepublik auch.Zum Zweiten fehlt es bei Ihnen an einer Entschädi-gungsregelung für betroffene Fischereiberechtigte undTeichwirte. Klar können Sie sagen, das ist Sache derLänder. Aber das sind die Kormoranverordnungen auch,die Sie harmonisieren wollen – auf einem guten Niveau,hoffe ich, und nicht auf dem kleinsten gemeinsamenNenner. Es gilt hier für alle, an einem Strang zu ziehenund dafür zu sorgen, dass es überhaupt einmal in allenLändern Entschädigungszahlungen gibt, die sich an ver-gleichbaren Kriterien orientieren.Und drittens hätte ich mich gefreut, wenn Sie unserenVorschlag eines grenzübergreifenden Kormoranma-nagements im Ostseeraum als ersten Schritt zu einemeuropäischen Kormoranmanagement auch übernommenhätten. Das könnte man als Ergänzung ja noch aufneh-men.In unserer Debatte im April habe ich deutlich ge-macht, dass die Linke zu einem konstruktiven Dialog be-reit ist, um über die Parteigrenzen hinweg konkrete Lö-sungen für den Artenschutz, für die Fischerei und fürüber 3 Millionen Anglerinnen und Angler in der Bundes-republik zu finden. Im Gegensatz zu Ihnen bewerten wirAnträge am Inhalt – und nicht daran, wer sie verfassthat. Ich fordere Sie auf, sich bei den zukünftigen Bera-tungen ebenso offen für eine gemeinsames Vorgehen indieser Sache zu zeigen. Und ich hoffe sehr, dass Ihr An-trag nach dieser ersten Lesung nicht wieder für Monatein den Schubladen verschwindet, sondern zügig mitMaßnahmen begonnen werden kann. An uns wird esnicht scheitern.Zum Schluss möchte ich noch denjenigen danken, dietrotz erheblicher Rückschläge immer daran festgehaltenhaben, die Artenvielfalt in den Gewässern zu erhalten.Ohne die Besatzmaßnahmen der Fischerei und der Ang-lerverbände müssten wir heute von vielen Fischarten inder Vergangenheitsform reden. Diesem unermüdlichenEinsatz gilt unser voller Respekt.
Der Koalitionsantrag zum Fischartenschutz und zumKormoranmanagement ist ein Etikettenschwindel; dennin ihm geht es weder um einen umfassenden Fischarten-schutz noch um ein planvolles Kormoranmanagement.Er fordert schlicht eine ziellose Dezimierung der Kor-moranbestände, ohne dass populationsökologisch über-haupt ermittelt werden soll, was denn eine tragbare Be-standsgröße überhaupt wäre, die sowohl den Erhalt derKormoranbestände als auch der zu schützenden Fisch-arten gewährleistet. Das aber müsste Ausgangspunkt ei-nes Kormoranmanagements sein. Dass die Regierungs-fraktionen eine solche Bedingung aber nicht einmalformulieren, spricht Bände.
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15776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15777
Cornelia Behm
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Der Antrag wird in seiner Armseligkeit aber auchsonst davon geprägt, was er an Fakten und Sachverhal-ten weglässt. So liefert er zum Beispiel keinerlei Analyseder europäischen und der deutschen Rechtslage, die nuneinmal der Rahmen für die geforderten Eingriffe in dieKormoranpopulation ist. Die Antragsteller verschließendie Augen vor den Grenzen, die das Europarecht undauch das Bundesrecht Eingriffen in die Kormoranpopu-lationen setzt. Die von Ihnen geforderten Maßnahmen– eine schrittweise Verminderung des Brutvogelbestan-des auf ein unbestimmtes Niveau und eine grundsätzlicheVerhinderung von Neugründungen von Kormorankolo-nien – sind so jedenfalls nicht erlaubt. RechtskonformeVorschläge zu wirksamen Eingriffen in die Kormoran-populationen, die den Zweck des Fischartenschutzes er-füllen, ohne Kollateralschäden an anderen geschütztenArten zu verursachen, finden sich in diesem Koalitions-antrag nicht.Da aber aus dem Antrag nicht ersichtlich ist, dasseine Rechtsänderung angestrebt wird, wird es bei dembleiben, was bereits heute möglich ist: bei Kormoran-verordnungen der Bundesländer zur Abwehr fischwirt-schaftlicher Schäden. Die Länder können diese unterBerücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse imSinne eines effektiven Schutzes der betreffenden Binnen-fischereibetriebe vor Schäden durch den Kormoran opti-mieren und harmonisieren, mehr aber auch nicht. Unddas müssten die Koalition eigentlich auch wissen.Man kann sicherlich darüber diskutieren, ob eineAusweitung der Möglichkeit zu regional begrenzten Ein-griffen zukünftig auch zum Schutz bestimmter natürli-cher Gewässer und gefährdeter Arten sinnvoll ist, so wieman vonseiten des Naturschutzes zu dem Schlusskommen kann, dass in bestimmten Schutzgebieten diePrädation durch bestimmte Beutegreifer für bestimmtegeschützte Arten ein Problem ist und deswegen regionalbegrenzt in die Population dieser Beutegreifer eingegrif-fen werden sollte. Das EU-Recht dürfte dies erlauben.Dabei muss aber gewährleistet sein, dass es weder fürden Bestand des geschützten Kormorans noch für an-dere geschützte Arten erhebliche nachteilige Wirkungengibt. Wie das gewährleistet werden kann, damit befasstsich der Antrag mit keinem Wort.Aber der Antrag lässt noch mehr wichtige Fakten ein-fach weg. So wird zwar richtigerweise dargelegt, dasszahlreiche Süßwasserfischarten in Europa und insbe-sondere in Deutschland gefährdet sind. Und das ist inder Tat ein Problem, das die Politik anpacken muss. AlsGrund für diese Gefährdung wird aber nur ein einzigergenannt: die gewachsenen Bestände des Kormorans.Das ist von atemberaubender Schlichtheit. Dass dieseGefährdung auch etwas damit zu tun hat, dass ein Groß-teil unserer Gewässer stark verbaut, begradigt unddurch eine Kaskade von Staustufen inklusive Wasser-kraftwerken beeinträchtigt sind, davon erfährt man ge-nauso wenig wie über die Rolle von Gewässerbelastun-gen und Überdüngung der Gewässer durch nach wie vorsehr hohe Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft.Entsprechende Gegenmaßnahmen fehlen folglich. Dermonokausale Ansatz, der uns hier von der Koalition vor-gelegt wird, ist selbst dann inakzeptabel, wenn man zudem Ergebnis kommt, dass die Kormoranbestände tat-sächlich ein Teil des Problems beim Fischartenschutzsind, worüber sich der Naturschutz keinesfalls einig istund wofür der Antrag Belege schuldig bleibt.Zusammengefasst ist festzuhalten: Die Koalition tutso, als könnten der Bund, die Länder und die EU imRahmen des geltenden Rechts die Kormoranbeständedezimieren. Damit täuscht und verschaukelt sie die vie-len Fischer und Angler, die Hoffnungen auf sie gesetzthaben, und weckt Erwartungen, die absehbar nicht er-füllt werden können. Mit diesem Antrag ist klar, dass vonden vollmundigen Versprechungen der FDP und derschwarz-gelben Koalition an die Fischer und Angler inSachen Kormoran auch weiterhin rein gar nichts in dieTat umgesetzt werden wird. Der Antrag ist ein reinerSchaufensterantrag zur Beruhigung von Fischern undAnglern, denen FDP und Union vollmundig Wahlver-sprechen gemacht haben. Das ist aber eine Rechnung,die nicht aufgehen wird.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7352 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung
des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
– Drucksache 17/7334 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolle-
gen Stefan Kaufmann, Swen Schulz, Patrick Meinhardt,
Nicole Gohlke, Kai Gehring und Helge Braun.
Heute beraten wir in erster Lesung das Vierundzwan-
zigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsför-
derungsgesetzes. Hintergrund ist eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom Juni diesen Jahres, der-
zufolge Absolventen von Studiengängen mit Mindeststu-
dienzeiten bei der Gewährung eines Teilerlasses nicht
benachteiligt werden dürfen. Diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts werden wir jetzt fristgerecht
umsetzen. Darum geht es, meine Damen und Herren,
und um nichts anderes!
Noch einmal zum Verständnis: Bei einem Studienab-
schluss vier Monate vor Ablauf der Förderungshöchst-
dauer bekommen die Studenten einen großen Teilerlass,
bei einem Abschluss zwei Monate vor Ablauf der Förde-
rungshöchstdauer einen kleinen Teilerlass. Im vorlie-
genden Fall hatte ein Medizinstudent aus Thüringen
Verfassungsbeschwerde eingereicht. Er hatte in den
Dr. Stefan Kaufmann
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90er-Jahren BAföG bekommen und sein Studium zügig
beendet. Genau wie seine ostdeutschen Kommilitonen
hatte er jedoch keine Chance auf den großen Teilerlass.
Während die Förderungshöchstdauer in Medizin in den
alten Bundesländern noch bis 1993 bei 13 Semestern
und die Mindeststudienzeit bei 12 Semestern lag, betrug
die Förderungshöchstdauer in den neuen Bundeslän-
dern 12 Semester und 3 Monate bei identischer Mindest-
studienzeit. Somit konnte der Medizinstudent aus
Thüringen gar nicht vier Monate vor Ende der Förde-
rungshöchstdauer sein Studium beenden und den großen
Teilerlass bekommen. Der Student hatte sein Studium
nach 12 Semestern und einem Monat abgeschlossen,
also zwei Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer
in den neuen Bundesländern. Folglich wurde dem Stu-
denten nur der kleine Teilerlass von 2 000 DM gewährt.
In den alten Bundesländern hätte der Student sein Stu-
dium bei gleicher Studiendauer aber 5 Monate vor dem
Ende der Förderungshöchstdauer beendet und damit
den großen Teilerlass von 5 000 DM erhalten. Somit
wurde der Thüringer Medizinstudent einerseits gegen-
über Studenten benachteiligt, in deren Fächer es keine
Mindeststudienzeit gibt, und andererseits gegenüber
Medizinstudenten aus den alten Bundesländern.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung vom 21. Juni 2011 erklärt: „§ 18b Abs. 3 Satz 1 Bun-
desausbildungsförderungsgesetz ist mit Art. 3 Abs. 1 GG
unvereinbar, soweit es Studierenden wegen Rechtsvor-
schriften zu einer Mindeststudienzeit einerseits und zur
Förderungshöchstdauer andererseits objektiv unmög-
lich ist, einen sogenannten großen Teilerlass zu erhal-
ten.“ Das Bundesverfassungsgericht führt über den ent-
schiedenen Fall hinaus aus, dass auch in allen anderen
nicht bestands- und rechtskräftigen bzw. zukünftigen
Fällen, in denen ein großer Teilerlass aufgrund objekti-
ver Unmöglichkeit nicht erreicht werden kann, § 18 b
Abs. 3 BAföG nicht mehr angewendet werden darf. Mit
diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht
eine Regelung als zum Teil verfassungswidrig aufgeho-
ben, die auch von der Regierungskoalition als ungeeig-
nete Maßnahme zur Förderung besonderer Studienleis-
tungen angesehen wurde, dies unter anderem gerade
wegen der zwischenzeitlich nicht mehr zu gewährleis-
tenden Einzelfallgerechtigkeit. Dementsprechend wurde
bereits mit dem 23. BAföGÄndG im Jahre 2010 das Aus-
laufen dieser Regelung beschlossen. Aus Gründen des
Vertrauensschutzes für diejenigen Studierenden, die be-
reits mit Blick auf die Erreichung des Teilerlasses beson-
dere Studienanstrengungen unternommen haben, wurde
eine Übergangszeit für das Auslaufen der angegriffenen
Regelung bis zum 31. Dezember 2012 beschlossen.
Dementsprechend betrifft die jetzige Neuregelung nur
die Übergangszeit bis Ende 2012. Zudem dürfte sie auch
nur in wenigen Fällen zum Zuge kommen, da die Decke-
lung der Rückzahlungssumme bei 10 000 Euro dem Teil-
erlass vorgeht. Abschließend wurde dem Gesetzgeber
vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben, bis zum
31. Dezember 2011 die entsprechende Vorschrift verfas-
sungskonform zu gestalten und die Darlehensteilerlasse
bei frühzeitigem Studienabschluss neu zu regeln.
Dieser Vorgabe kommen wir mit dem vorgelegten Ge-
setzentwurf im Sinne der Betroffenen nach. Wir wollen si-
Zu Protokoll
cherstellen, dass für die Übergangszeit kein Studierender
von vornherein allein deshalb von einem großen oder
kleinen Teilerlass nach §18b Abs. 3 Satz 1 und Satz 2
BAföG ausgeschlossen ist, weil ihm ein ausreichend
frühzeitiger Abschluss noch vor Ablauf der Förderungs-
höchstdauer durch das Zusammenspiel der Regelungen
über Mindeststudiendauer, Förderungshöchstdauer und
über den seiner Einflussnahme entzogenen Prüfungsab-
lauf objektiv unmöglich gemacht wird. Dafür werden im
Gesetz rechtlich verbindlich vorgeschriebene Mindest-
ausbildungszeiten einschließlich erforderlicher Prü-
fungszeiten bei der Gewährung eines Geschwindigkeits-
teilerlasses nach § 18b Abs. 3 BAföG künftig nach den
Maßgaben der neuen Abs. 4 und 5 gesondert berück-
sichtigt.
Was passiert nun, wenn sich Prüfungszeiten an reine
Mindeststudienzeiten anschließen, die allein in einer
Rechtsvorschrift bestimmt sind, ohne dass dort auch die
gesamte Dauer der Mindestausbildungszeit ausdrück-
lich bestimmt wird? Dann werden diese Prüfungszeiten
zusätzlich mit der Dauer angesetzt, die in diesen Stu-
diengängen für einen erfolgreichen Studienabschluss
auch noch nach Ablauf der Mindeststudienzeit regelmä-
ßig erforderlich ist. In diesen Fällen bemisst sich die für
den Teilerlass zusätzlich maßgebliche Prüfungsdauer
unmittelbar nach der Rechtsvorschrift. Dies gilt jeden-
falls dann, wenn – wie beim Studium der Humanmedizin
– ein kalendarisch festgelegter Zeitraum bestimmt ist,
innerhalb dessen die Prüfungen abgenommen werden.
Zu regeln sind auch Studiengänge, in denen trotz gere-
gelter Mindeststudienzeit die Dauer der Prüfungszeit
noch nach Ablauf der Mindeststudienzeit zusätzlich an-
zusetzen ist. Kann die Prüfungszeit nicht unmittelbar
aus der maßgeblichen Regelung entnommen werden, so
wird für die Teilerlassberechtigung pauschal eine
dreimonatige Prüfungszeit als erforderlich vermutet.
Diese drei Monate werden zudem zusätzlich zur Min-
deststudienzeit der Erlassentscheidung als insgesamt
maßgebliche Mindestausbildungszeit zugrunde gelegt.
Somit ist kein Studierender mehr allein deshalb von ei-
nem großen Teilerlass nach § 18b Abs. 3 BAföG ausge-
schlossen, weil ihm ein frühzeitigerer Abschluss noch
vor Ablauf der Förderungshöchstdauer objektiv unmög-
lich gemacht wird. Dementsprechend kommt die CDU/
CSU-Fraktion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nach und
schließt eine bestehende Ungerechtigkeitslücke.
Forderungen der Opposition nach Aktionismus und
größeren Änderungen in der BAföG-Gesetzgebung sind
auch vor dem Hintergrund der rot-grünen BAföG-Bilanz
von 1998 bis 2005 absolut unglaubwürdig. Hier werden
wir weiter auf rot-grün oder rot-rot regierte Bundeslän-
der warten, die sich im Bundesrat für BAföG-Erhöhun-
gen starkmachen. Weitergehende Diskussionen über das
BAföG werden wir im nächsten Jahr nach dem Vorliegen
des nächsten BAföG-Berichtes führen.
Mit großer Freude feiern wir in diesem Jahr das40-jährige Bestehen des BAföG. Das BAföG – es ist undbleibt eine große Erfolgsgeschichte. 1971 unter Bundes-kanzler Willy Brandt eingeführt, ermöglicht dieses
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15778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenSwen Schulz
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Gesetz, dass sich Millionen von Menschen ein Studiumleisten konnten und bis heute können. Auch Bundes-ministerin Schavan hat zu den Feierlichkeiten öffentlichbekundet, dass für sie das BAföG eine für das Studiumermutigende Rolle gespielt hat. Das Entscheidende fürden Erfolg ist dabei der Rechtsanspruch. Alle, die finan-zielle Hilfe benötigen, können sich darauf verlassen,dass sie etwas erhalten, und ausrechnen, was sie erhal-ten. So konnte 40 Jahre lang erfolgreich Gerechtigkeit inder Studienförderung organisiert werden. Und damit dasso bleibt, muss das BAföG ständig weiterentwickelt undaktuellen Erfordernissen angepasst werden.Nun könnte man meinen, die Regierungskoalitionhätte dies erkannt. Dann schaut man aber auf dieses24. BAföG-Novellierungsgesetz und findet nichts weiterals das formell Gebotene. Lediglich die Teilerlassrege-lung, die das Bundesverfassungsgericht teilweise alsverfassungswidrig erklärt hat, wird korrigiert. Sonstnichts, sonst bleibt alles beim Alten. Das also ist das Ge-schenk der Koalition zum 40. Geburtstag. Da erlebt dieGeburtstagsfeier eher verzogene Gesichter. Sie habensich bei der Auswahl des Geschenkes augenscheinlichnicht wirklich Mühe gegeben. Das Ergebnis ist einebunte Geschenkverpackung mit leerem Inhalt.CDU/CSU und FDP wissen selber, dass – wenn manschon eine Änderung des Gesetzes durchführt – noch ei-nige bekannte Problemstellen des BAföG-Gesetzes zu-sätzlich hätten aufgegriffen werden können. Politik heißtnicht nur verwalten, Politik heißt auch gestalten. Nichtnur wir als Oppositionspartei, auch die Sachverständi-gen und Experten haben im vergangenen Jahr mehrfachdarauf hingewiesen, dass die 23. BAföG-Novelle nichtausreichend ist und das Ziel, mehr betroffenen Men-schen ein Studium zu ermöglichen, nicht zufriedenstel-lend erreicht wird. Die von der Bundesregierung vorge-schlagene Änderung des BAföG-Gesetzes ist durch dieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts unweiger-lich notwendig, ohne Frage. Von einer Regierungskoali-tion hätte ich – und vor allem Hunderttausende Studie-rende ebenso – nach aller Kritik und konstruktivenVorschlägen aber deutlich mehr erwartetet. Was die Ko-alition stattdessen tagtäglich in der Hochschulpolitiktreibt, bleibt ein Marathon der Ankündigungen, bei demaber anschließend die Ziellinie nie erreicht wird undChancen vertan werden.Bei allen Erfolgen des BAföG: Noch immer hindernfinanzielle Gründe Menschen daran, ein Studium aufzu-nehmen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind unsdessen klar; denn wir verstehen Bildung als ein Men-schenrecht, und nicht als Privileg. Wir haben das bereitsim vergangenen Jahr mit einem umfassenden Antrag deut-lich gemacht. Wir wollen, dass für jeden Einzelnen undjede Einzelne der bestmögliche Bildungsabschluss mög-lich ist, unabhängig von den finanziellen Voraussetzungender Eltern. Was uns dagegen als 24. BAföG-Novellierungangeboten wird, ist schlicht lustlos und unzureichend. Da-bei liegen die Handlungsfelder offensichtlich auf derHand. Einerseits sind wir an der Hochschule heute mit un-terschiedlichsten Bildungsbiografien konfrontiert. Der ge-radlinige Weg vom Abitur zum Studium zum Abschluss istnicht mehr selbstverständlich. Hinzu kommen neue He-Zu Protokollrausforderungen durch Studierende mit Kind, Studierende,die Angehörige pflegen, Teilzeitstudierende oder Studie-rende mit berufsbegleitendem Studium.Zudem haben wir mit Bachelor und Master nun zweimögliche Studienphasen etabliert, in denen sowohl einkonsekutiver Übergang als auch zeitversetztes Master-studium möglich sind. Daraus entstehen neue Lückenwährend des Studiums als auch neue Varianten. Das bis-herige BAföG aber gibt auf diese veränderten Rahmen-bedingungen keine ausreichende Antwort. Wo sind indieser BAföG-Novelle Anpassungen an Teilzeitstudie-rende? Wo sind die Anpassungen an das neue gestufteStudiensystem? Wo ist das BAföG, das genauso flexibeleinsetzbar ist, wie Sie es von den Studierenden erwar-ten? Nichts davon findet sich in diesem Gesetz.Auch für individuellen oder zeitlich begrenzten finan-ziellen Bedarf haben Sie, liebe Regierungskoalition,keine Antworten im BAföG-Gesetz. Noch immer fallenetliche Studierende durch das BAföG-Netz, da das Ein-kommen ihrer Eltern nicht groß ist, aber knapp an derGrenze liegt. Dieses sogenannte Mittelstandsloch führtdazu, dass diese entweder gar keine oder nur eine gerin-gere Finanzierung erhalten. Wer sich zudem währenddes Studiums ehrenamtlich betätigt oder sich für Aus-landssemester entschieden hat, kommt beim Studienab-schluss schnell in finanzielle Nöte, da dann oftmals auchdie Erwerbsarbeit zurückgefahren werden muss. Washaben Sie diesen Studierenden zu bieten?Wir haben auf diese akuten Probleme reagiert und be-reits im letzten Jahr Antworten präsentiert. Wir schlageneine weitere Erhöhung der Freibeträge um 7 Prozent undder Förderbeträge um 1 Prozent sowie eine zweite Ein-kommensgrenze mit einem Nullzinsdarlehen vor. Damitwollen wir die Lücke weiter schließen und eine flexiblereFörderung in breite Bevölkerungsschichten hinein eröff-nen. Wir wollen auf die neuen Herausforderungen derneuen Studienstruktur reagieren und das BAföG denneuen Rahmenbedingungen anpassen. Dazu zählen Ände-rungen für ein flexibleres BAföG, das die Vielfalt individu-eller Bildungsbiografien stärker berücksichtigt.Um Studierende in der Studienabschlussphase nichtin akute Geldnöte und somit zwangsweise in Kreditpro-gramme zu drängen, wollen wir die Förderhöchstdauerauf bis zu zwei Semester über der Regelstudienzeit anhe-ben. Auch für die Pflege von Angehörigen wollen wireine Verlängerung der Bezugsdauer ermöglichen. Dazuzählt auch die Anerkennung einer Schwangerschaft so-wie die Erziehung von Kindern künftig bis zum 14. Le-bensjahr statt wie bisher bis zum 10. Lebensjahr. Dasalles nennt man Flexibilisierung und Familienfreund-lichkeit des BAföG. Was hat die Koalition diesen Men-schen anzubieten?Jetzt wäre auch für Sie die Gelegenheit gewesen, Ver-säumnisse aus dem letzten Jahr gutzumachen. Es warZeit genug, um über unsere konstruktiven Vorschlägenachzudenken, auch über die Verbesserungsvorschlägeder Sachverständigen und Experten. Von der Koalitionaber kommt leider nichts. Sie schweigt sich in ihrem Ge-setzentwurf zu diesen Themen aus und lässt damit dieBetroffenen erneut im Stich.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15779
gegebene RedenSwen Schulz
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Ich lade herzlich dazu ein, alle damals diskutiertenVorschläge noch einmal intensiv durchzugehen. Da ste-hen zahlreiche weitere Vorschläge drin, die auch dieser„Novelle“ gut zugestanden hätten.Wir dagegen wollen kurz- und mittelfristige Verbesse-rungen, die den jetzigen Studierenden und Studieninte-ressierten eine starke und flexible BAföG-Förderunganbietet und auf individuelle Bildungswege und Heraus-forderungen während des Studiums adäquat eingeht.Damit machen wir das BAföG weiter zukunftsfest. Werjedoch Zukunft gestalten will – und das sollte eigentlichauch der Wunsch der Regierungskoalition sein –, derdarf an diesem Punkt nicht verharren. Wir machen unsdeshalb bereits heute Gedanken darüber, wie das BAföGzukünftig als flexibles und angepasstes Finanzierungs-modell unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenswe-gen Rechnung tragen, neue gesellschaftliche und beruf-liche Herausforderungen angemessen berücksichtigenund durch mutige Schritte eines sozialen und gerechtenBildungsfinanzierungssystems dem drohenden Fach-kräftemangel und den gestiegenen Bildungsanforderun-gen unserer Gesellschaft erfolgreich begegnen kann.Die Regierungskoalition hat weder Antworten auf dieheutigen Probleme und Herausforderungen noch den nö-tigen Weitblick für die Fragen der Zukunft. Stattdessenklammert sie sich weiterhin an ihr Nationales Stipendien-programm, das bislang als gescheitert angesehen werdenkann, und nutzt das BAföG nur noch als Alibiveranstal-tung. Dieser Entwurf zum 24. BAföG-Änderungsgesetz istder beste Beweis dafür. Aber es ist ja nicht zu spät. Wirmachen der Koalition einen konstruktiven Vorschlag: Wirklammern bei dieser Novelle alle politisch besonderskontroversen Themen aus und konzentrieren uns auf diewichtigsten organisatorisch-technischen Fragen. Dazugehört ganz sicher der BAföG-Bezug beim Übergangvom Bachelor in den Master, aber auch die Frage desUmganges mit Studierenden mit Kindern und mit pflege-bedürftigen Angehörigen. Darüber hinaus gibt es einigePunkte hinsichtlich der Vereinfachung der Verfahren.Wenn wir uns zusammensetzen, finden wir sicher ge-meinsam einige Punkte, die wir im Interesse der Studie-renden verbessern können. Ich setze darauf, dass dieKolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP beiden Beratungen dieses Gesetzes offen für eine solcheDebatte sind und nicht nur einfach den Gesetzentwurfdurchwinken.
Das Bundesverfassungsgericht hat beim Teilerlasszum BAföG eine Entscheidung gefällt, die Koalitions-fraktionen haben schnell gehandelt, und jetzt liegt derGesetzentwurf vor. Die FDP-Fraktion hat dieses Urteilgleich begrüßt. Es schließt eine Gerechtigkeitslücke.Der heutige Gesetzentwurf setzt dieses um. Deswegensollten in diesem Hohen Haus auch alle zustimmen. Wirmüssen jetzt einen zeitlichen Korridor schließen undrechtliche Sicherheit einräumen für circa 1100 Perso-nen.Bei der umfassenden BAföG-Modernisierung des ver-gangenen Jahres war auch dieser Teilerlass schon Ge-Zu Protokollgenstand und ist ab 1. Januar 2013 ohnehin außer Kraftgesetzt. Hier haben die Regierungsfraktionen schon um-sichtig und vorausschauend gehandelt. Gerade deshalbhaben wir auch bereits im dem 23. BAföG-Änderungsge-setz eine Neuregelung der sogenannten großen Förde-rungshöchstdauer vorgesehen.Dies zeigt, dass diese Koalition konsequent daran ar-beitet, die Ausbildungsförderung in Deutschland nochmoderner, noch gerechter und noch effizienter zu gestal-ten. Als eine der führenden Wirtschafts- und Wissen-schaftsnationen müssen wir alles daran setzen, dass un-sere jungen Menschen beste Voraussetzungen für ihreschulische, universitäre und berufliche Ausbildung ha-ben. Und genau dies ist das Ziel dieser Koalition derMitte.Deshalb haben wir bereits lange vor dem Urteil desBundesverfassungsgerichts dafür gesorgt, dass der Wi-derspruch zwischen Förderhöchstdauer und Regelungenzur Mindeststudienzeit ausgeräumt wird. Wir hatten diesfür die Zeit nach dem 31. Dezember 2012 vorgesehen,werden diese Regelung nun aber vorziehen und entspre-chend dem Urteil bis zum 31. Dezember 2011 umsetzen.Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtsbestätigt in erster Linie die Bundesregierung in ihrerPolitik für mehr Gerechtigkeit und mehr Fairness beider Studienfinanzierung in Deutschland. Und das ist dasgute Signal, das von diesem Urteil ausgeht.Wir beenden mit diesem Änderungsgesetz einen inak-zeptablen Zustand bei dem durch das Zusammenkommenvon Regelungen zur Mindeststudiendauer und Förde-rungshöchstdauer Studierenden ein wirklicher finanziel-ler Nachteil entsteht, ohne dass dies im Bereich der eige-nen Einflussnahme liegt. Dies ist eine Frage derGerechtigkeit, aber auch des Anstandes gegenüber unse-ren Studierenden.Dabei war es für dieses Koalition wichtig, keine zu-sätzlichen bürokratischen Belastungen für die Verwal-tungen der Hochschulen oder für das Bundesverwal-tungsamt zu schaffen. Wir orientieren uns deshalb anden vorgesehenen Mindestausbildungszeiten und deneventuell notwendigen Prüfungszeiten, sodass zukünftigalle Studierenden die Chance erhalten, den sogenanntengroßen Teilerlass zu erhalten. Damit fördern wir Leis-tung, schaffen mehr Gerechtigkeit und verhindern neuebürokratische Strukturen.Wir alle sind uns sicher einig, dass sich das BAföGals zentrales Element der breiten Bildungsförderung be-währt hat. Es garantiert Bildungsgerechtigkeit, Chan-cengleichheit und ist somit eine wesentliche Säule fürmehr soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Da-neben haben wir dank der großartigen Arbeit der Be-gabtenförderungswerke eine weitere wichtige Ergän-zung insbesondere im Bereich der Spitzenförderung beiAkademikerinnen und Akademikern. Ein moderner undwettbewerbsstarker Wirtschafts- und Wissenschafts-standort braucht auch eine lebendige Stipendienkultur.Die deutsche Wirtschaft hat bereits eigene Stipendienzur Verfügung gestellt. Dies ist ein gutes Zeichen für dasgesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein der Unter-
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15780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenPatrick Meinhardt
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nehmen und Verbände in Deutschland. Es zeigt aberauch, dass eine führende Wirtschaftsnation wie Deutsch-land auf die Förderung von außergewöhnlicher Leistungund Einsatzbereitschaft angewiesen ist.Und genau deshalb ist es für uns auch selbstverständ-lich, dass wir eine entsprechende Förderung auch vonstaatlicher Seite benötigen. Mit dem Deutschlandstipen-dium haben wir deshalb den richtigen Weg eingeschla-gen, um für unser Land eine moderne und zukunftswei-sende Stipendienkultur zu schaffen – wie dies in anderenIndustrienationen längst der Fall ist. Ein Stipendiumwährend des Studiums ist ohnehin der bessere Weg alsder, einen Teilerlass im Nachgang zu gewähren.Mehr Gerechtigkeit, weniger Bürokratie und mehrLeistungsfähigkeit – dies sind unsere Grundsätze für dieBildungsförderung in Deutschland. Wir stärken damitden Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutsch-land, wir stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt,und wir stärken die Zukunftschancen der nachfolgendenGenerationen.
Pünktlich zum 40. Geburtstag des BAföG ließ Bil-dungsministerin Schavan vermelden, dass in diesemJahr mit keiner weiteren Änderung des BAföG zu rech-nen sei. Die magere BAföG-Erhöhung im Jahr 2010 seiein „vorgezogenes Geburtstagsgeschenk“ gewesen.Ministerin Schavan gibt damit das BAföG dem Verfallpreis. Denn faktisch haben die BAföG-Erhöhungen derletzten Jahre nicht einmal die Preissteigerung ausgegli-chen. Wenn das BAföG nicht weiter steigt, bedeutet daseine reale Schrumpfung. Ministerin Schavans gleichzei-tiger Hinweis auf Darlehen ist eine höflich verpackte,aber umso zynischere Aufforderung an die Studierenden,sich zu verschulden.Das ist gerade einmal sieben Wochen her. Überra-schenderweise liegt uns heute jedoch ein 24. BAföG-Än-derungsgesetz zur Debatte vor. Obwohl die Bundesregie-rung hier den anstrengenden Weg der parlamentarischenVerhandlung geht, verpasst sie wieder einmal die Gele-genheit für weitere notwendige Änderungen.Unser Antrag „40-jähriges BAföG-Jubiläum für so-ziale Weiterentwicklung nutzen“ liegt Ihnen vor. Hierinbenennen wir, wie das BAföG zu einer modernen und vorallem sozialen Ausbildungsfinanzierung weiterentwi-ckelt werden kann. Sie wissen, es klafft eine Finanzie-rungslücke von mindestens 10 Prozent. Zwei Drittel derStudierenden arbeiten deshalb neben dem Studium.Diese Kluft muss dringend geschlossen werden. DasBAföG muss sofort um 10 Prozent angehoben werden.Die Umstellung auf eine Zuschussförderung ist zudemüberfällig und verhindert die Verschuldung der Studie-renden. Die Angst vor Verschuldung hält vor allem Stu-dieninteressierte aus finanzschwachen Schichten vonden Hochschulen fern.Es muss klar sein, dass sich alle Studierenden auchein Masterstudium leisten können. Stellen Sie endlichdie komplette Masterförderfähigkeit sicher. Die diskri-minierenden Altersgrenzen von 30 bzw. 35 LebensjahrenZu Protokollmüssen fallen. Sie stellen vor allem für Menschen einHindernis dar, die im Anschluss an eine Berufsausbil-dung, an Jahre der Berufstätigkeit oder an eine Famili-enphase studieren oder sich weiterbilden möchten oderdie die Hochschulzugangsberechtigung anders als aufdem traditionellen Weg erworben haben. Also genau dieGruppen, die es besonders zu fördern gilt. In diesem Zu-sammenhang dürfen auch Studierende, Schülerinnenund Schüler in Teilzeit nicht generell von einer Förde-rung ausgeschlossen werden. Ich nenne als Beispiel nurdie Psychotherapeutenausbildung.Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteilig-ten Schichten müssen früh und durchgängig gefördertwerden. Sie sind besonders auf eine verlässliche Ausbil-dungsförderung angewiesen. Dementsprechend soll dasBAföG für Schülerinnen und Schüler in der Oberstufeallgemeinbildender Schulen wieder vollständig einge-führt werden.Aus unserer BAföG-Debatte von Anfang Septemberwissen wir schon, dass sich weder die Bundesregierungnoch die Koalitionsfraktionen aus FDP und CDU/CSUeinen Meter bewegen wollen. Warum aber wollen dieKoalitionsfraktionen und die Bundesregierung nur dasUrteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Darle-hensteilerlässen umsetzen? Das ist doch absurd.Sie hätten die Gelegenheit, endlich auch handwerkli-che Fehler im BAföG zu beseitigen. Ich nenne Ihnenzwei Beispiele:Erstens die Unterdeckelung des Kranken- und Pflege-versicherungszuschlags: Eigentlich müsste es selbstver-ständlich sein, schließlich handelt es sich um einen ge-setzlich festgelegten Pflichtbeitrag und nicht um eineAusgabe, deren Höhe man durch Nutzung der Angeboteam Markt selbst bestimmen kann. Seit dem Beginn desSommersemesters 2011 – an den Fachhochschulen be-gann es im März, an den Unis im April – beträgt der Bei-trag für die studentische Pflichtversicherung 64,77 Euro,für die Pflegeversicherung von kinderlosen Personen ab23 Jahren 13,13 Euro. Im BAföG ist jedoch nur ein Zu-schlag von 62 Euro bzw. 11 Euro festgelegt. Das ent-spricht einer Unterdeckung von insgesamt 4,90 Euro proMonat.Zweitens die Anrechnung eines Kfz als Vermögen: BisEnde 2010 wurde ein Kfz bis zum Wert von 7.500 Euroim Verwaltungsvollzug des BAföG einfach als Haus-haltsgegenstand angesehen, der nicht als Vermögen an-gerechnet wird. Im Juli 2010 hat das Bundesverwal-tungsgericht geurteilt, dass eine solche Betrachtung imBAföG nicht zulässig sei, da ein Kfz kein Haushaltsge-genstand ist. Da sie dieses Urteil nicht ignorieren dür-fen, müssen die BAföG-Ämter seit Januar 2011 bei jederneuen Bewilligung den Zeitwert des Fahrzeugs als Ver-mögen mitanrechnen. Was damals in der Presse als lapi-dare Randmeldung erschien, dürfte in der Praxis fürmanche BAföG-Bezieherinnen und -Bezieher zur Exis-tenzfrage werden. Bessern Sie nach und fügen Sie in§ 27 BAföG ein „angemessenes Kraftfahrzeug“ ein. Werbei BAföG-Geförderten stets nur Studierende mit Semes-terticket in Ballungszentren und gut ausgebautem Nah-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15781
gegebene RedenNicole Gohlke
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verkehr vor Augen hat, vergisst, dass es auch Schülerin-nen und Schüler sowie Studierende in der Fläche gibt.
„Leistung muss sich lohnen“ – dieser viel zitierte
Grundsatz ist auch Teil des BAföG. Viele Studierende,
die besonders schnell ihr Studium abgeschlossen oder
einen überdurchschnittlichen Studienerfolg erzielt ha-
ben, mussten den Darlehensteil des BAföG nicht kom-
plett zurückzahlen. Den „großen Teilerlass“ erhält zum
Beispiel jemand, der das Studium vier Monate vor Ende
der Förderungshöchstdauer abschließt. Den „kleinen
Teilerlass“ gibt es, wenn die Ausbildung mindestens
zwei Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer ab-
geschlossen wurde. Allerdings waren die Darlehenser-
lasse aufgrund schnellen Studiums mit Ungerechtigkei-
ten verbunden, die die 24. BAföG-Novelle notwendig
machen. Am 21. Juni 2011 hat das Bundesverfassungs-
gericht entschieden, dass eine Neuregelung der Darle-
hensteilerlässe im BAföG erfolgen muss. Die jetzige Re-
gelung sei nicht vereinbar mit dem Gleichheitssatz nach
Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Im Fall des klagenden
Studierenden der Humanmedizin, dem die Karlsruher
Richter recht gegeben haben, betrug die Mindeststudi-
endauer zwölf Semester, die Förderungshöchstdauer lag
aber nur bei zwölf Semestern und drei Monaten, sodass
es objektiv unmöglich war, den großen Teilerlass
– damals 5 000 DM – zu erhalten. Dem betroffenen Stu-
denten wurde nur der „kleine Teilerlass“ in Höhe von
2 000 DM zuerkannt, da er sein Studium zwei Monate
vor Ablauf der Förderungshöchstdauer beendet hatte.
Mit der 24. BAföG-Novelle wird diese Ungerechtigkeit
gelöst, was wir als grüne Bundestagsfraktion begrüßen.
Die Wirkung dieser Novelle wird indes nur von be-
grenzter Dauer sein. Denn die Möglichkeit zum Darle-
henserlass läuft zum 31. Dezember 2012 aus – so hat es
Schwarz-Gelb im letzten Jahr in der 23. BAföG-Novelle
beschlossen. An dieser Stelle beseitigen Union und FDP
im BAföG das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“, ob-
wohl sie doch stets gerne von sich behaupten, sie wären
die einzigen, die diesen Grundsatz beherzigen. Das Ge-
genteil ist der Fall. Das gilt vor allem, wenn man an die
anstehende Neuregelung zur Absetzbarkeit der Erstaus-
bildung über das Steuerrecht denkt. Es ist zu befürchten,
dass Union und FDP eine Regelung vereinbaren nach
dem Motto „Je mehr jemand direkt nach dem Studium
verdient, desto höher die Steuerrückerstattung“. Das hat
mit Leistung während des Studiums nichts zu tun.
Wir wollen, dass die Ausbildungsförderung danach
ausgerichtet wird, wie bedürftig jemand zum Zeitpunkt
des Studiums ist. Nur so kann die staatliche Studienför-
derung dazu beitragen, dass mehr Studienberechtigte
aus einkommensschwachen Nichtakademikerhaushalten
an die Hochschulen gehen. Statt Schavans Deutschland-
Stipendien oder einer steuerlichen Absetzbarkeit nach
dem Studium brauchen wir eine breitere und bessere Stu-
dienfinanzierung während der Campuszeit. Wir wollen
das BAföG kurzfristig aufstocken, um den Berechtigten-
kreis zu erweitern, und mittelfristig zu einem Zweisäu-
lenmodell ausbauen. Eine solche Modernisierung der
staatlichen Studienfinanzierung schließt das Mittel-
Zu Protokoll
schichtsloch, antwortet auf die Bologna-Struktur und
Vielfalt der Bildungsbiografien, setzt in Zeiten des Fach-
kräfte- und Akademikermangels einen starken Studien-
anreiz und ermöglicht mehr Bildungsaufstiege. Nach
dieser Minireparaturnovelle braucht es in diesem Haus
eine Perspektivendiskussion über eine zukunftsfähige
Studienfinanzierung und beherzte BAföG-Reformen, die
zu mehr Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit führen.
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Das BAföG wird in diesem Jahr 40 Jahre alt. Es istals bewährtes Sozialleistungsgesetz und nach wie vorzentrales Bildungsfinanzierungsinstrument gerade erstdank zweier vorangegangener wichtiger Novellen indichter Folge unter der Verantwortung von Bundes-ministerin Schavan gut aufgestellt worden.Bereits 2008 haben wir mit dem 22. BAföGÄndGnach jahrelangem Stillstand im staatlichen Ausbildungs-förderungsengagement mittels einer erheblichen Anhe-bung der Bedarfssätze und Freibeträge und durch zen-trale strukturelle Weichenstellungen vor allem in derAuslandsförderung sowie durch eine integrationsför-dernde Neuausrichtung und Ausweitung der Förde-rungsberechtigung von Auszubildenden aus Migranten-familien der Bildungsfinanzierung wieder ihrenzentralen Stellenwert zurückgegeben. Dies konnten wirmit weiterem erheblichem finanziellem Engagement2010 durch die 23. BAföG-Novelle nochmals vertiefenund verstetigen.Es wird allen hier im Hause noch deutlich in Erinne-rung sein, welche Widerstände es für die Bundesregie-rung zu überwinden galt, bis Bund und Länder damitnochmals insgesamt zusätzlich rund 500 Millionen Eurojährlich für die Ausbildungsförderung bereitgestellt ha-ben. So haben wir erreicht, dass der Förderungshöchst-satz mit jetzt 670 Euro wieder voll dem unterhaltsrecht-lich maßgeblichen Regelsatz nach der sogenanntenDüsseldorfer Tabelle entspricht, wobei das BAföG ja be-kanntlich zusätzlich noch den vollen Kindergeldbetragohne Anrechnung belässt.Der Kreis der Berechtigten wurde durch nochmaligeAnhebung der Einkommensgrenzen weiter gezogen undvergrößert. Wir haben die Altersgrenze für Auszubil-dende mit Kinderbetreuungszeiten flexibilisiert und fürMasterstudierende generell angehoben. Damit habenStudierende seither genügend Zeit, nach dem Bachelor-Abschluss zunächst einen unmittelbaren Eintritt ins Er-werbsleben zu versuchen, bevor sie sich auf eine weitereFortsetzung und Vertiefung ihres Studiums festlegen.Zur Erleichterung des BAföG-Bezugs und zugleichzur Vereinfachung der Verwaltung wurden die Wohnkos-ten voll pauschaliert, die Leistungsnachweise durch blo-ßen Nachweis der individuell erreichten ECTS-Leis-tungspunkte ermöglicht und bei Auslandsaufenthaltender vorherige Nachweis hinreichender Sprachkennt-nisse als Fördervoraussetzung abgeschafft.Die Erfolge dieser kumulierten Verbesserungen konn-ten wir nicht nur bereits in der Ende Juli vom Statisti-
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15782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15783
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
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schen Bundesamt bekanntgegebenen BAföG-Statistik2010 ablesen, sondern dürfen diesen wohl auch dendeutlichen Wiederanstieg der Studienanfängerzahlenund nicht zuletzt auch das wieder zurückgewonnene Ver-trauen junger Menschen in staatliche Ausbildungsförde-rung zugutehalten.Über die Gesamtentwicklung der für die Ausbil-dungsförderung relevanten Parameter wie der Entwick-lung der Lebenshaltungskosten und Preisindizes einer-seits und der Nettolöhne andererseits, aber auch derZusammensetzung der Gruppe der BAföG-Gefördertenund beobachtbaren Entwicklungen im Ausbildungsver-halten werden wir entsprechend dem gesetzlich in § 35BAföG vorgesehenen Turnus als Bundesregierung demBundestag und dem Bundesrat Anfang 2012 ausführlichberichten. Dann werden wir unter Einbeziehung auchder finanzwirtschaftlichen Entwicklung das gesamteDatenbild kennen, das uns erst in den Stand versetzenwird, verantwortlich über etwaigen weiteren Fortent-wicklungs- und Anpassungsbedarf zu entscheiden. ImLichte der Empfehlungen des nächsten BAföG-Berichtesund der darin enthaltenen Stellungnahme des BAföG-Beirates werden wir über die weitere Fortentwicklungdes BAföG entscheiden.Heute geht es mit dem 24. BAföG-Änderungsgesetznicht um eine grundsätzliche Novelle des BAföG, son-dern einzig und allein um eine noch erforderlich gewor-dene Korrektur. Bekanntlich hat ja das Bundesverfas-sungsgericht mit seiner uns heute beschäftigendenEntscheidung vom 21. Juni dieses Jahres die Teilerlass-regelung im BAföG für Studienabsolventen in solchenStudiengängen wie Humanmedizin für verfassungswid-rig erklärt, in denen eine zwingend vorgeschriebeneMindeststudienzeit von vornherein die Möglichkeit eineshinreichend frühen Abschlusses ausschließt.Gerade wegen völlig inhomogener Beschleunigungs-möglichkeiten in unterschiedlichen Studiengängen istder Bundestag ja bereits letztes Jahr beim 23. BAföG-Änderungsgesetz dem Vorschlag der Bundesregierunggefolgt, die Teilerlasse nach § 18 b Abs. 2 und 3 desBAföG nach einer aus Vertrauensschutzgesichtspunktennoch erforderlichen Übergangszeit für Absolventen abdem Jahr 2013 abzuschaffen.Die Bundesregierung steht selbstverständlich zumGrundsatz „Leistung muss sich lohnen“. Aber die Pra-xis dieses Teilerlasses hat leider gezeigt, dass diese Re-gelung dem Anspruch der Leistungsgerechtigkeit in derUmsetzung nur sehr unvollkommen erfüllt hat.In der Sache sieht sich die Bundesregierung durch dieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts daher be-stätigt. Die Abschaffung des bisherigen Teilerlasses imBAföG wurde verfassungsrechtlich in keiner Weise be-anstandet. Für die noch bis einschließlich 2012 erfol-genden künftigen Abschlüsse muss zu den dazu folgen-den Erlassentscheidungen gesetzlich gewährleistetwerden, dass niemand wegen der rechtlichen Ausgestal-tung seines Studiengangs mit einer Mindestausbildungs-dauer, die kaum kürzer bemessen ist als die gleichzeitiggeltende Regelstudienzeit, von der Gewährung einesTeilerlasses von vornherein ausgeschlossen ist.Die von der Koalition hierzu vorgeschlagene Neure-gelung erfüllt mit Augenmaß die verfassungsrechtlichenKorrekturvorgaben für den betroffenen begrenzten Per-sonenkreis. In den Fällen, in denen Mindeststudienzei-ten einschließlich erforderlicher Prüfungszeiten so nahan die für denselben Studiengang gültige Regelstudien-zeit und damit an die daran anknüpfende BAföG-Förde-rungshöchstdauer heranreichen, soll künftig die Einhal-tung der Mindestausbildungszeit ausreichen, um densogenannten großen Teilerlass geltend zu machen.Einige bedauern die Aufhebung des Teilerlasses undfordern wieder eine Honorierung der Studienleistung imBAföG ein. Nach eingehender Prüfung bin ich jedochzutiefst überzeugt, dass diese bisherige Regelung unge-recht war. Eine leicht umsetzbare, gerechtere Lösungexistiert nicht. Deshalb bleibt ganz im Sinne der Subsi-diarität ein großer Zugewinn des zügigen Studiums üb-rig: Der schnelle Hochschulabsolvent belohnt sich sel-ber mit der Chance auf eine frühzeitige Aufnahme einerqualifizierten und damit gut bezahlten Erwerbstätigkeit.Kernaufgabe des BAföG ist es, jungen Menschen mitsteuerfinanzierter Unterstützung während der Ausbil-dung einen qualifizierten Abschluss zu ermöglichen, da-mit sie später mit Rückzahlung des zinslosen und überJahre gestreckten nur hälftigen Darlehensanteils derGesellschaft etwas von der Förderung zurückgeben kön-nen. Die Teilerlassregelung kann angesichts der erhebli-chen Diversifizierung der Studiengänge mit höchst un-terschiedlichen Beschleunigungspotenzialen nicht mehrals Leistungsanreiz dienen.Mit dem Deutschlandstipendium hingegen hat dieKoalition ein weitaus effektiveres und eben während desStudiums selbst wirkendes Anreizinstrument geschaffen.Es greift genau dann, wenn der Studierende es braucht,und motiviert ihn zu größerem Engagement und beson-deren Leistungen. Durch das Deutschlandstipendiumwurden seit dessen Start im Sommersemester bereits ins-gesamt 8,6 Millionen Euro an privaten Mitteln für Sti-pendien mobilisiert. Studierende werden dadurch ab so-fort während des Studiums unterstützt. Schon jetzt hat essich damit als überaus wirksamer Anreiz für bürger-schaftliches Engagement im Bildungsbereich erwiesen.Es ist und bleibt gerade eine der entscheidenden Er-rungenschaften dieser Regierung, dass wir das eine ge-schafft haben, ohne das andere zu lassen: ein Gesetzzum Deutschlandstipendium und eine verlässliche Si-cherung der Sozialleistung BAföG.Die heute zur Diskussion stehende Korrektur wird si-cherstellen, dass auch für die Übergangszeit, in der nochErlassentscheidungen zu treffen sind, kein Studierenderverfassungswidrig davon ausgeschlossen wird. Dazu bitteich daher auch für die Bundesregierung um Ihre Zustim-mung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/7334 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.
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15784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 19:Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIELINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInvestitionen in Antipersonenminen undStreumunition gesetzlich verbieten und diesteuerliche Förderung beenden– Drucksache 17/7339 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. FolgendeKolleginnen und Kollegen geben ihre Reden zu Proto-koll: Roderich Kiesewetter, Erich Fritz, Uta Zapf,Christoph Schnurr, Inge Höger und Agnes Malczak.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7339 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Tagesordnungspunkt 21 a und b:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAlexander Süßmair, Dr. Dietmar Bartsch, HerbertBehrens, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKETiertransporte verringern – Tierschutz ver-bessern– Drucksache 17/6913 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Undine Kurth ,Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTierschutz bei Tiertransporten verbessern– Drucksachen 17/5491, 17/5892 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierHeinz PaulaHans-Michael GoldmannAlexander SüßmairFriedrich OstendorffWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolle-gen Dieter Stier, Heinz Paula, Hans-Michael Goldmann,Alexander Süßmair und Friedrich Ostendorff.1) Anlage 25
Mit diesen beiden heute vorliegenden und nahezu
identischen Anträgen fordern die Fraktionen der Linken
und von Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung
auf, sie möge für Tiertransporte auf EU-Ebene und in-
nerhalb Deutschlands die derzeitigen Regelungen zu
den Tiertransportzeiten noch weiter begrenzen. Insbe-
sondere sollen hier die Lebendtiertransporte nach Ost-
europa und Russland wieder reduziert werden.
Die Linken fordern eine zeitliche Begrenzung auf vier
Stunden zuzüglich maximal zwei Stunden Ladezeit.
Die Tiertransportzeiten seien sowohl auf europäi-
scher Ebene, als auch innerhalb Deutschlands einzu-
schränken, fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sie beabsichtigen eine Reduzierung auf acht Stunden in-
nerhalb Europas und auf vier Stunden innerhalb
Deutschlands.
Darüber hinaus fordert die Linke-Fraktion die Schaf-
fung eines dezentralen Netzes von Schlachthöfen, um
Transporte unnötig zu machen, und die Anhebung der
Mindesthöhe der Tiertransporter auf 4,20 Meter.
Ich habe es schon oft gesagt und ich werde es auch
immer wiederholen: Deutschland hat bereits die höchs-
ten Tierschutzstandards auf der ganzen Welt.
Was die Tiertransporte angeht, setzt sich die Regie-
rungskoalition selbstverständlich dafür ein, dass Tier-
schutz nicht am Stalltor aufhört. Gerade beim Ausstallen
und beim Transport ist auf optimale Bedingungen für die
Tiere zu achten. Eine gute und fachgerechte Ausstattung
der Transportfahrzeuge durch Futter, Wasser und gute
Klimatisierung sollte beim Transport den Erfordernis-
sen der Tiere Rechnung tragen.
Vor der Sommerpause konnten die Bundestagsabge-
ordneten des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz an der Besichtigung eines Tier-
transporters teilnehmen, so wie er täglich in Deutsch-
land und Europa zum Einsatz kommt. In diesem Trans-
porter konnte ich mich davon überzeugen, wie die
Wasser- und Futterversorgung und eine Klimaanlage mit
Luftzirkulation funktioniert. Auch die natürliche Bewe-
gungsfreiheit der Tiere ist dort gewährleistet. Inzwischen
sind die Spezialfahrzeuge für den Langstreckentransport
mit Zwangsbelüftung ausgerüstet, damit gute Luftquali-
tät überall im Transporter garantiert ist, um auch Hitze-
stress oder Unterkühlung der Transporttiere bei Ver-
kehrsstaus sicher auszuschließen.
Letztlich entscheidend für das Wohlergehen der Tiere
sind das Verantwortungsbewusstsein und das Know-how
der Transporteure und der damit befassten Mitarbeiter.
Mit einer erstklassigen Ausbildung und der guten fachli-
chen Praxis der Transporteure können die tierschutzre-
levanten Risiken beim Transport auf ein Minimum redu-
ziert werden. Die Skandale in der Vergangenheit sind
ausschließlich bei grenzüberschreitenden Langstrecken-
transporten quer durch Europa aufgetreten, für die die
Regelungen in der nationalen Verordnung ohnehin nicht
gelten. Einige wenige schwarze Schafe der Branche dür-
fen nicht einen gesamten Berufszweig in Misskredit brin-
gen.
Dieter Stier
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Noch ein kleiner Nachtrag zum Vor-Ort-Termin im
Tiertransporter: Die Grünen-Bundestagsabgeordneten
des Agrarausschusses blieben dieser Informationsveran-
staltung im Tiertransporter wiederholt fern. Ich hätte mir
gewünscht, dass die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen endlich die Chancen zur sachlichen Infor-
mation wahrgenommen hätten, ehe sie Anträge zu diesen
Themen stellen.
Statt über Gesetzesänderungen zu Transportzeiten zu
diskutieren, welche die wirtschaftliche Freiheit der Un-
ternehmer weiter einschränken würden, sollten wir viel-
mehr auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen
gemäß der EU-Transportverordnung und unserer natio-
nalen Tierschutztransportverordnung drängen. Auf der
Basis der aktuellen Gesetzgebung und unter den Bedin-
gungen der guten fachlichen Praxis wird der Tierschutz
eindeutig gewahrt. Verstöße dagegen sind konsequent zu
ahnden. Deshalb befürworten wir auch flächendeckende
Kontrollen und die Verbesserung des Vollzugs und bei
Verstößen die Anwendung der vorgesehenen Strafen und
Sanktionen.
Meiner Ansicht nach kann eine Verbesserung des
Tierschutzes durch eine höhere Kontrolldichte und harte
Sanktionen bei Verstößen erreicht werden. Hier liegt der
Hebel, um die schwarzen Schafe zu disziplinieren. Neue
Regelungen zu Transportzeiten bestrafen ungerechtfer-
tigt die redlichen Spediteure – das wollen wir nicht.
Die betroffene Wirtschaft spricht sich eindeutig für
die Einhaltung der tierschutzrechtlichen Vorgaben aus.
Die Durchführung von Transporten erfolgt fast aus-
nahmslos mit hoher Sorgfalt und hohem Verantwor-
tungsbewusstsein.
In den vergangenen Jahren hat die Branche erhebli-
che Investitionen erbracht, um die Transportfahrzeuge
an die technischen Anforderungen der Gesetzgebung
anzupassen. Die Branche sollte nun vonseiten des Ge-
setzgebers einen Vertrauens- und Bestandsschutz genie-
ßen, denn diese geforderten Modernisierungsmaßnah-
men waren mit erheblichem finanziellen Aufwand für die
Spediteure verbunden, und dieses Geld wurde hart ver-
dient. Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit auf EU-
Ebene sind unnötige finanzielle Belastungen der Trans-
porteure unbedingt weiterhin zu vermeiden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt die vorlie-
genden Anträge zur Begrenzung der Transportzeiten ab,
da ein Mehr an Tierschutz nicht durch eine Reduzierung
der Transportdauer erreicht wird, sondern nur durch die
konsequente Eliminierung der schwarzen Schafe.
Mit Sorge sehe ich die Bestrebungen deutscher Be-
hörden, die Transportverordnung dahin gehend zu revi-
dieren, dass die Mindestmaße für die Laderaumhöhe
ausgedehnt werden sollen. Ausgehend von der Gesamt-
fahrzeughöhe von 4 Metern würde sich so eine Erhö-
hung der Transporter auf 4,20 Meter ergeben. Damit
kann der Lkw unter einigen Brücken nicht mehr durch-
fahren. Ebenso könnten die Rindertransporte nur noch
einstöckig und die Schweinetransporte statt dreistöckig
nur noch doppelstöckig gefahren werden. Zudem gibt es
auch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse für
Zu Protokoll
die Notwendigkeit einer Erhöhung der Laderaumhöhe
für die Tiere. Durch ein höheres Maß an Kopffreiheit
würde das gegenseitige Aufspringen der Tiere erleich-
tert und stellt somit ein zusätzliches Verletzungsrisiko
dar.
Wir lehnen deshalb nationale Alleingänge zulasten
der deutschen Viehtransportwirtschaft ab. Die daraus
resultierende gravierende Wettbewerbsverzerrung zu-
lasten deutscher Spediteure ist zudem auch EU-rechtlich
nicht vertretbar.
Im Hinblick auf die Verkehrsströme muss bei Ein-
schränkung der Transportkapazität pro Fahrzeug mit ei-
ner deutlichen Zunahme des Güterverkehrs gerechnet
werden, denn die Rindertransporte werden sich folglich
verdoppeln und die Schweinetransporte werden um ein
Drittel zunehmen. Dies ist aus volkswirtschaftlicher, um-
weltpolitischer und verkehrspolitischer Sicht keinesfalls
akzeptabel. Deshalb lehnen wir die vorliegenden An-
träge der Opposition ab.
Die Zahl der Tiertransporte ist in den vergangenenJahren sowohl innerhalb der EU-Staaten als auch inner-halb von Deutschland stark angestiegen. Insgesamt be-finden sich jährlich über 400 Millionen Tiere auf einemTransport. Dies bringt oftmals eine unnötige Quälereimit sich, und dem muss Einhalt geboten werden.Vor einigen Wochen berichtete die Bundesregierungim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz über Lebendtiertransporte in die Türkei.Hier ging es speziell um Zuchttiere, die aus Deutschlandin die Türkei transportiert werden. Die Bundesregierunghat das notwendige Veterinärabkommen mit der Türkeiunterzeichnet – der Transport kann losgehen.Wer jemals mit dem Auto nach Südeuropa gereist ist,weiß, dass dies ohne lange Pausen, Beine vertreten,Austreten, viel Trinken nicht zu machen ist. Als es nochGrenzkontrollen zwischen den EU-Ländern gab, so erin-nere ich mich persönlich, musste man sehr lange Warte-zeiten an den Grenzübergängen in glühender Hitze inKauf nehmen. Heilfroh war man, als man die Grenzeendlich passiert hatte und sich die Füße vertretenkonnte.Bei Tiertransporten ist das nun folgendermaßen gere-gelt: Auf EU-Ebene gibt es keine Transportzeitbegren-zung. Dies heißt im Klartext: Die Tiere bleiben in derRegel die gesamte Fahrtzeit im Transporter. 29 StundenAufenthalt auf den Transportern sind erlaubt. 14 Stun-den Fahrtzeit, 1 Stunde Pause, 14 Stunden Fahrtzeit –kein Abladen ist notwendig.Dies bedeutet für die Tiere: 29 Stunden auf engstemRaum zusammengepfercht, 29 Stunden ohne Bewegung,29 Stunden ohne frisches Wasser, 29 Stunden Qual. Dazukommen die langen Wartezeiten an der Grenze, wo dieTiere in der Regel nicht zwischendurch abgeladen wer-den: stunden-, teilweise tagelange Wartezeiten, die mitden notwendigen Kontrollen gerechtfertigt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15785
gegebene RedenHeinz Paula
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Dagegen verwehren wir Sozialdemokraten uns. Wirunterstützen die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen,die sich für eine Transportzeitbegrenzung innerhalb derEU auf acht Stunden einsetzen. Damit sind solche tier-quälerischen Transporte wie oben geschildert obsoletund nicht mehr durchführbar. Dies begrüßen wir.Wir sind froh darüber, dass die Anfrage nach einemTransport von Schlachttieren in die Türkei von der Bun-desregierung abgelehnt wurde. Aber auch die Überfüh-rung von Zuchttieren in die Türkei oder andere europäi-sche Staaten ist nicht mehr notwendig. Der Export vonSperma ist möglich. Er verhindert nicht nur Tierquälerei,er ist aus meiner Sicht auch um vieles ökonomischer.Machen wir also Druck auf europäischer Ebene. DerEuropäischen Kommission sind die Missstände sehrwohl bekannt. Auf die Anfrage eines niederländischenMdEP-Kollegen antwortet Herr EU-Kommissar Dalli:Der Kommission sind die Tierschutzprobleme im Zusam-menhang mit dem Transport lebender Tiere aus einigenMitgliedstaaten in die Türkei bekannt. – Gleichzeitigschließt er ein EU-weites Verbot von Lebendtiertrans-porten aus. Es gibt aber bisher auch keine Bemühungen,diesen Missständen durch eine entsprechende Trans-portzeitbegrenzung entgegenzutreten.
Setzen Sie sich auf EU-Ebene dafür ein, dass die Trans-
portzeit auf acht Stunden begrenzt wird! Sorgen Sie
gleichzeitig dafür, dass Fleisch und Sperma anstatt der
Tiere transportiert werden! Dies stärkt unsere heimische
Viehzucht und unsere Fleischwirtschaft. Sorgen Sie da-
für, dass die Kontrollen auf EU-Ebene verschärft und
Verstöße entsprechend sanktioniert werden!
Auch auf deutschen Straßen rollen verhältnismäßig
viele Tiertransporter. Auch hier gilt für die Sozialdemo-
kraten der Grundsatz: Transportiert Fleisch statt Tiere. –
Ein Ausbau der regionalen Schlachteinrichtungen ist
wichtig.
In diesem Punkt gehen wir mit den Damen und Her-
ren der Linkspartei konform: Es ist sinnvoller, ökonomi-
scher, ökologischer und tierfreundlicher, die regionale
Fleisch- und Schlachtindustrie zu erhalten und auszu-
bauen und das Fleisch zu transportieren, als stunden-
lang in großen Transportern Tiere über die Autobahn zu
fahren. Dieses schadet den Tieren, der Umwelt, der hei-
mischen Schlacht- und Fleischindustrie. Der Transport
von Fleisch schafft Arbeitsplätze. Er kommt den Tieren
zugute. Er schont die Umwelt durch weniger Verkehr.
Bisher legt die Tierschutztransportverordnung eine
Begrenzung der Transportzeiten auf acht Stunden fest.
Es gibt jedoch zahlreiche Ausnahmeregelungen.
Über eine Begrenzung der Transportzeiten innerhalb
Deutschlands auf vier Stunden und eine streckenmäßige
Begrenzung auf 200 Kilometer, wie sie die Damen und
Herren von Bündnis 90/Die Grünen vorschlagen, müs-
sen wir reden. Ist es nicht sinnvoller, zunächst die Aus-
nahmeregelungen in der geltenden Tierschutztransport-
verordnung zu streichen, die zeitliche Begrenzung auch
für grenzüberschreitende Transporte einzufordern und
auch hier mehr Kontrollen durchzuführen sowie Ver-
Zu Protokoll
stöße entsprechend zu sanktionieren? Es gibt keinen
Grund, Ausnahmeregelungen für die geltenden Bestim-
mungen zu erlassen. Die Schlachthofstruktur erfordert
schon jetzt keine längeren Transporte, die über acht
Stunden hinausgehen.
In den nächsten Wochen werden wir ein Expertenge-
spräch zum Thema führen und weitere Argumente hören.
Danach werden wir eigene Vorschläge einbringen.
Die Linkspartei erwähnt in ihrem Antrag auch die
Ausstattung der Transportfahrzeuge. Das ist gut so.
Denn auch hier liegt einiges im Argen, und es kann eine
Menge getan werden. Die SPD-Bundestagsfraktion for-
dert Verbesserungen hinsichtlich der Ladedichten. Der
Transport der Tiere muss für diese so wenig belastend
wie möglich sein. Sie müssen sich einigermaßen verhal-
tensgerecht bewegen können. Dementsprechend muss
das Platzangebot in den Fahrzeugen auch bemessen
sein. Die Tränkevorrichtungen sind oftmals so ange-
bracht, dass sie von vielen Tieren, je nach Tierart, nicht
erreicht werden können und dass einige Tiere aufgrund
der Ladedichte keinen Zugang haben. Die Temperatur-
und Klimabedingungen in den Transportfahrzeugen
müssen konkretisiert werden. Dies erleichtert den Trans-
portunternehmen die Erfüllung der Anforderungen, den
Kontrolleuren die Ahndung von Verstößen.
Nicht zuletzt sollten bei der Überarbeitung der Tier-
schutztransportverordnung die Bestimmungen für den
Transport von Zirkustieren mit aufgenommen werden.
Selbst wenn wir ein Haltungsverbot von Wildtieren in
Zirkussen durchsetzen, muss dafür gesorgt werden, dass
die verbleibenden Zirkustiere tiergerecht befördert wer-
den. Bisher fehlt eine solche Bestimmung völlig.
Ergo: Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen befür-
worten wir, wir haben ihm im Ausschuss bereits zuge-
stimmt. Es besteht dringender Handlungsbedarf ange-
sichts der bestehenden Missstände. Der Antrag der
Linkspartei geht in die richtige Richtung, weist aber ei-
nige Mängel auf. Eine Transportzeitbegrenzung auf EU-
Ebene auf vier Stunden ist nicht realistisch. Noch in die-
sem Jahr werden wir einen eigenen Antrag einreichen,
der auch die Ausstattungen der Transportfahrzeuge mit-
berücksichtigt.
Ende September hat uns die Bundesregierung im Aus-schuss von den Verhandlungen mit dem türkischenLandwirtschaftsministerium über eine Veterinärbeschei-nigung für Zuchtrinder berichtet. Nun ist das Abkommenabgeschlossen und der türkische Markt für Zuchtrinderaus Deutschland wieder offen. Die Nachfrage ist groß.Die Zahl der Langstreckentransporte wird steigen.Umso mehr und intensiver müssen wir uns über dieGewährleistung des Tierschutzes beim Transport unter-halten. Die Diskussion darf aber nicht so einseitig ver-laufen, wie sie die Grünen in ihrem Antrag führen,indem sie das Tierwohl durch alleinige Transportzeitbe-grenzung verbessern wollen. Vielmehr sollten wir unsauf die technischen Gegebenheiten und vor allem auf diemenschlichen Kenntnisse und Fähigkeiten fokussieren.
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15786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenHans-Michael Goldmann
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Dass nicht die Transportdauer für die Sicherstellung desTierschutzes ausschlaggebend ist, hat auch die Europäi-sche Behörde für Lebensmittelsicherheit in einem Be-richt bestätigt.Angesichts der Vorgabe im „Handbuch Tiertrans-porte“, den beförderten Tieren sollten 20 ZentimeterFreiraum über der höchsten Körperstelle zur Verfügungstehen, überschreiten dann Doppelstocktransporter beiGroßvieh die maximale Fahrzeughöhe von 4 Meter. Des-wegen werden wir dafür kämpfen, eine Sondergeneh-migung für eine Transporterhöhe von 4,20 Meter durch-zusetzen. Sollte das nicht der Fall sein, wird Großviehzukünftig nur einstöckig transportiert werden müssen.Für eine ganzheitliche Bewertung von Tiertranspor-ten ist eine Ermittlung aussagekräftiger und tierbasier-ter Tierschutzindikatoren zur objektiven Bemessung desTierschutzes erstrebenswert. Die Debatte über die Ani-mal-Welfare-Indikatoren ist relativ neu; sie wird erst seiteinigen Jahren international geführt. Erfreulicherweisewird sie auch durch die EU im Rahmen des Projektes„Welfare Quality“ unterstützt. Deutschland muss sichaktiv einbringen und Initiativen, wie das vom BMELVveranstaltete Fachgespräch zur Entwicklung von Tier-schutzindikatoren, fortführen. Ein Kriterienkatalog wärenicht nur ein praktikables Instrument für Kontrolleure,sondern könnte auch für Transporteure eine hilfreicheOrientierung für eine tierschutzkonforme Arbeit sein.Wichtig ist auch, dass alle Bereiche des Transportesvom Be- bis zum Entladen unter Beachtung der Tier-schutzaspekte von sachkundigem Personal durchgeführtwerden. Genaue Kontrollen, wirksame Überwachungund strenge Sanktionen bei Verstößen sind unerlässlich,damit alle Tierschutzdefizite aufgedeckt und behobenwerden. Denn wir können nicht darüber hinwegschauen,dass es zu Missständen bei Tiertransporten kommt – wiebei jedem anderen wirtschaftlichen Tun im Übrigenauch. Diese müssen von den zuständigen Behörden er-kannt und geahndet werden.Vor diesem Hintergrund begrüße ich das derzeit lau-fende Forschungsprojekt des Friedrich-Loeffler-Insti-tuts zur Verbesserung der Kontrollstellen während Tier-transporten über lange Strecken sehr. Das Projekt läuftbis April 2012. Wenn wir dann die wissenschaftlichenErgebnisse vorliegen haben, müssen wir darauf pochen,dass sie in die Praxis umgesetzt werden.Dieser ganzheitliche Ansatz ist nach meiner Auffas-sung unabdingbar, wenn wir ein Mehr an Tiergesundheitund Tiergerechtigkeit beim Transport erreichen wollen.Deswegen kann ich die eindimensionalen Anträge derGrünen und der Linken nicht unterstützen. Ich bin esaber gewohnt, dass die Fraktionen die Forderungen derTierschutzverbände populistisch aufgreifen und die öf-fentliche Meinung mit unsachlichen Vorschlägen beein-flussen wollen. Wir Liberale wollen und werden dasaber aus Verantwortung gegenüber Mensch und Tiernicht mitmachen. Wir setzen uns ein für forschungsba-sierte Tierschutzauflagen, die im Einklang mit ökonomi-schen und ökologischen Aspekten stehen.Zu Protokoll
Wir befassen uns heute mit einer Thematik, welche inder Öffentlichkeit immer wieder für kontroverse Diskus-sionen sorgt. Auch gab und gibt es immer wieder Be-richte über Tiertransporte mit teils erschreckenden Bil-dern und katastrophalen Zuständen. Ich möchte aberhier gleich anführen, dass sich im Bereich der Tiertrans-porte in den vergangenen Jahren sehr viel getan hat,nicht zuletzt auch aufgrund von Maßnahmen auf euro-päischer Ebene.Leider befinden sich in der EU nicht alle Fahrzeugeauf dem neuesten Stand der Technik, und leider mangeltes auch an Kontrollen zur konsequenten Durchsetzungder gesetzlichen Vorgaben.In den letzten Jahren hat der Transport von Tieren,ähnlich wie das gesamte Transportaufkommen, deutlichzugenommen. Viele Schlachthöfe sind durch den Kosten-druck des Marktes verschwunden, und aus einem ehe-mals fast flächendeckenden regionalen Netz vonSchlachthöfen wurde durch Konzentration ein zentralesSystem immer größerer Schlachthöfe. Diese wollen „ge-füttert“ werden, um profitabel zu sein. Deshalb werdendie Tiere über immer größere Entfernungen herange-karrt.Transporte sind für die betroffenen Tiere immer mitStress verbunden, ganz gleich ob sie über genügend Fut-ter, Wasser und akzeptable Temperaturen verfügen. Esbleibt die räumliche Enge und auch der Lärm der Straßeund der schaukelnde Lastwagen. Dabei interessiert esdie Tiere herzlich wenig, ob sie innerhalb Deutschlandstransportiert werden oder international. Hinzu kommenoftmals lange Wartezeiten an den Außengrenzen der EU.Wir fordern, Tiertransporte generell auf vier Stunden zubegrenzen, gleich ob Rinder oder Schweine nun vonSachsen nach Bayern gebracht werden oder von Sach-sen nach Polen!Wie geht das in der Praxis? Das geht freilich nur,wenn dezentral Schlachthöfe vorhanden sind bzw. wie-der eine Chance bekommen. Ist dies nicht der Fall, musseben vor Ort geschlachtet werden. Die Technik dafürsteht zur Verfügung. Mit dezentralen Schlachthöfen wer-den regionale Kreisläufe gestärkt und landwirtschaft-liche Wertschöpfung bleibt in der Region. Das wollenauch die Verbraucherinnen und Verbraucher: Lebens-mittel aus ihrer Region. Und es ist auch ökologisch sinn-voll, weil wir Verkehr vermeiden und Ressourcen spa-ren.Aber es fehlt noch ein entscheidender Punkt, über denaktuell immer häufiger diskutiert wird, nämlich dieFrage der räumlichen Höhe in den Transportern. Dasssich die Tiere beim Transport auch bewegen wollen,dürfte allen klar sein. Die derzeitigen Transportbehält-nisse sind dafür oft nicht hoch genug, und Tiere verlet-zen sich, wenn sie den Kopf heben wollen. Diesen Zu-stand wollen wir beenden. Damit aber laufen wirGefahr, dass doppelstöckige Transporte künftig nichtmehr in dem Umfang, wie heute üblich, möglich wären.Dadurch würden die Transporte teurer und es gäbe einMehraufkommen an Transportfahrten. Dies wollen wiraber aus ökologischer Sicht vermeiden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15787
gegebene RedenAlexander Süßmair
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Derzeit dürfen Transporter nur maximal vier Meterhoch sein. Wir fordern daher in unserem Antrag die Bun-desregierung auf, die zulässige Transporthöhe zu über-prüfen und die Auswirkungen von höheren Transporten,also Sicherheit, Brücken, Unterführungen, Fahren vonUmwegen etc., zu ermitteln.Das Tierwohl ist hierbei nicht Gegenstand der Prü-fung. Der Tierschutz ist ein Staatsziel, nicht die Rentabi-lität von Tiertransporten. Doch muss hier natürlich eineLösung mit Augenmaß gefunden werden, die auch diemöglichen Auswirkungen, welche ich gerade skizzierthabe, berücksichtigt.In Art. 20 a unseres Grundgesetzes heißt es:Der Staat schützt auch in Verantwortung für diekünftigen Generationen die natürlichen Lebens-grundlagen und die Tiere im Rahmen der verfas-sungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung …Mit unserem Antrag haben wir in diesem Hause Gele-genheit, dieses Vorhaben bezüglich der Tiertransporteumzusetzen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung fürden Antrag der Linken.
Allein 4 Millionen Rinder und über 6,5 MillionenSchweine wurden 2009 durch Deutschland transpor-tiert, aber auch Pferde, Schafe, Ziegen und Geflügel.Für jedes einzelne Tier bedeutet dies Stress, für viele istes mit Verletzungen, Hunger und Durst verbunden. Füreinige Tiere bedeutet es den qualvollen Tod. Oft werdenSchlachttiere über Tage hinweg quer durch Europa undbis in den Nahen Osten transportiert, und dies nur, weildie Kosten für Kühlfleischtransporte gespart werdenoder die Ankäufer nur Lebendvieh kaufen wollen. VielLeid also für ein paar Cent mehr Gewinn pro Schlacht-tier.Und auch innerhalb Deutschlands werden die Trans-portwege länger. Die verfehlte Förderpolitik zwingt im-mer mehr kleine regionale Schlachthöfe zum Aufgeben.Dagegen können die industrialisierten Schlachtbetriebedurch abenteuerliche Arbeitsverhältnisse mit ihrenDumpinglöhnen günstige Konditionen anbieten und ver-schärfen damit das Problem noch weiter. Aber auchdurch die zunehmende Spezialisierung der Landwirt-schaft werden Tiere oft mehrfach in ihrem Leben trans-portiert. Ferkel aus den neuen Bundesländern werden indie Schweinemastanlagen ins Münsterland oder nachOldenburg transportiert und von dort als Schlacht-schweine nach Italien oder Russland.Regelmäßig werden von den ÜberwachungsbehördenMissstände festgestellt. Der Transport kranker Tiere, dieÜberschreitung der Transportzeiten und Überladungensind immer wieder an der Tagesordnung. Alleine in Nie-dersachsen wurden 2009 weit über 600 Verstöße fest-gestellt. Die Dunkelziffer liegt zweifellos noch deutlichhöher. Und wie oft wird bei Verstößen auch noch wegge-schaut? Dies ist so nicht länger hinnehmbar.Zu ProtokollUm unnötiges Tierleid endlich zu beenden, brauchenwir zuallererst und möglichst schnell eine Begrenzungder Transportzeiten. Es ist nicht einzusehen, warum le-bende Tiere aus reinen Profitgründen immer noch querdurch Europa transportiert werden. Wir Grüne forderndaher in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sichauf EU-Ebene für eine Begrenzung auf maximal achtFahrtstunden ohne Ausnahmen einzusetzen. Deutsch-land als ein Haupttransitland für Tiertransporte hat hiererhebliche Verantwortung. Auch für Transporte inner-halb Deutschlands brauchen wir eine Transportzeit-begrenzung. Ziel muss es sein, den nächstmöglichenSchlachthof anzufahren. Das ist in den von uns geforder-ten vier Stunden möglich. Flankierend müssen wir regio-nale Schlachthöfe stärker fördern, sodass die Tiere wie-der verstärkt in der Region geschlachtet werden können.Sehr geehrte Frau Ministerin Aigner, aus IhremHause haben wir nun schon oft gehört, dass Sie sich füreine Begrenzung der Transportzeiten innerhalb der EUeinsetzen wollen. Immer wieder wurden wir vertröstet,zuletzt auf den Bericht der EU-Kommission zum Wohl-befinden von transportierten Tieren, der nun innerhalbder nächsten Wochen vorgelegt werden soll. Nun müssenIhren Worten Taten folgen! Setzen Sie sich für die bereits2009 vom Bundesrat beschlossene Forderung nach ei-ner maximalen Transportdauer von acht Stunden ein!Die Dauer von Tiertransporten ist der entscheidendeFaktor für eine Verbesserung der Transportbedingun-gen. Zwar haben wir durch die EU-Tiertransportverord-nung in den letzten zehn Jahren schon einige Verbesse-rungen erreicht, wie die veterinärbehördliche Zulassungvon Transportfahrtzeugen bei Viehtransporten von überacht Stunden. Doch die realen Zustände zeigen: WeitereVerbesserungen und vor allem Konkretisierungen sindnötig. Wir brauchen Verbesserungen bei Belüftung, Tem-peraturvorgaben, Fahrt- und Pausenzeiten, Versorgungder Tiere, und verbindliche Melkvorgaben für laktie-rende Kühe. Zudem müssen die Ladedichten dringendverringert werden, sodass Kontrollen und Zugang zu je-dem einzelnen Tier jederzeit möglich sind.Die Überarbeitung der EU-Tiertransportverordnungist schon seit Jahren seitens der EU-Kommission ange-kündigt. Doch weder der Zeitplan noch das Ergebnissind derzeit absehbar. Daher, liebe Frau MinisterinAigner, muss sich Deutschland nicht nur auf EU-Ebenemit aller Kraft für Verbesserungen einsetzen, sondernauch auf nationaler Ebene handeln und mit Tierleid ver-bundene Marathontransporte beenden! Während in derEU wenigstens noch die Einhaltung der Bestimmungenüberprüft werden kann, ist das außerhalb der EU-Gren-zen nur schwer möglich. Das heißt: Wenn wir vermeidenwollen, dass Rinder aus Deutschland an der türkisch-griechischen Grenze aus wirtschaftlichen Erwägungenlebend transportiert werden und dann dort bis zu mehre-ren Tagen in sengender Sonne unter tierschutzwidrigenBedingungen auf die Abfertigung warten, müssen wirdiese Transporte einstellen. Dies ist der einzig möglicheWeg. Und auch durch Handelsabkommen mit Ländernwie Libyen zur Abnahme von deutschen Rindern machenSie sich mitverantwortlich an vielfachem Tierleid. Auf
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15788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15789
Friedrich Ostendorff
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längeren Strecken und außerhalb der EU können nur ge-schlachtete Tiere gehandelt werden.Zurecht sind auch doppelstöckige Transporte vonRindern in die Diskussion geraten. Immer wieder wer-den Transporter aufgegriffen, bei denen Tiere mit demRücken an der Decke scheuern und nicht einmal auf-recht stehen können, und dies stunden- oder sogar tage-lang. Hier müssen die unklaren Vorgaben der EU-Ver-ordnung konkretisiert werden. Dies ist jetzt imHandbuch für Tiertransporte geschehen, allerdingsnicht verbindlich. Gefordert werden dort 20 cm Luftüber dem Rücken der Tiere. Wer nachrechnet, wirdschnell feststellen, dass sich damit viele doppelstöckigeTiertransporte von alleine erledigen. Der Zuchtfort-schritt hat auch bei Rindern zu immer größeren Tierengeführt. Schlachtrindern von einem Jahr oder älter ha-ben eine Rückenhöhe von 1,50 bis 1,60 Meter. Rechnenwir für zwei Ebenen je 20 cm Raum über dem Rückender Tiere dazu, sind wir schon bei 3,40 bis 3,60 Meter.Bei einer maximal erlaubten Höhe der Transporter blei-ben also nur 40 bis 60 cm für Reifen und Böden desTransporters.Ausziehbare Lkw-Dächer sind nach der Straßenver-kehrszulassungsverordnung nicht erlaubt. Doch selbstwenn dies der Fall wäre, würde die zusätzliche Höhe invielen Fällen gar nicht ausreichen. Dies kann nur zu ei-ner Folgerung führen: Der Transport von Rindern musssich klar an deren Größe orientieren. Hier sind uns ei-nige unserer Europäischen Nachbarn wieder einmal vo-raus: Sowohl in den Niederlanden als auch in Dänemarksind 20 cm Raum über dem Tierrücken verbindlich vor-geschrieben, in der Schweiz sind es sogar bis zu 35 cm.Schon jetzt müssen Tiertransporter an den Grenzen zudiesen Ländern umladen oder aber von vornehereindiese Vorgaben einhalten. Umso mehr Sinn macht es fürDeutschland als Transitland für Transporte aus undnach Italien, Dänemark oder Russland, mit unserenNachbarländern an einem Strang zu ziehen. Die Klagenvon Transporteuren und Agrarindustrie, dass damitmehr Transporte nötig sind und die Kosten steigen, dür-fen wir nicht über millionenfaches Tierleid stellen. Viel-mehr werden Lebendviehtransporte gegenüber Kühl-transporten unrentabler.Aber jede gesetzliche Regelung ist nur so gut wie ihreUmsetzung und Kontrolle. Die Realität auf den Straßenzeigt, dass es fortwährend zu Verstößen der ohnehinnicht ausreichenden Vorgaben kommt. Pausenzeitenwerden nicht eingehalten, Transporter überladen oderverletzte Tiere transportiert. Dem können wir nur durchmehr Kontrollen begegnen. Regelmäßige Schulungenfür Polizei, Kontrolleure und Fahrer sind unabdingbar.Auf lange Sicht müssen Tiertransporte auf ein absolutunumgängliches Minimum reduziert werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6913 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Tierschutz bei Tiertranspor-
ten verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5892, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5491 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea Rößner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Der älter werdenden Gesellschaft gerecht wer-
den – Barrieren in Wohnungen und im Wohn-
umfeld abbauen
– Drucksache 17/7188 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar der Kollegin-
nen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, Daniela Ludwig,
Sören Bartol, Sebastian Körber, Ilja Seifert und Daniela
Wagner.
Jeder will alt werden, keiner will alt sein. Das hörtman landauf, landab. Ich will damit sagen: KlugerMann bzw. kluge Frau baut vor!Deshalb ist das Thema Barrierefreiheit für uns Bau-politiker, die immer langfristig an die zukünftigen Ent-wicklungen denken müssen, von zentraler Bedeutung fürunsere Entscheidungen.Mit dem vorliegenden Antrag zum barrierefreienWohnen folgen Bündnis 90/Die Grünen in vielen Punk-ten dem, was wir in der Regierungskoalition bereits kon-sequent bearbeiten. Das, was uns unterscheidet, ist diePraktikabilität der Herangehensweise durch die christ-lich-liberale Koalition. Wir müssen hier immer die Leh-ren aus der Vergangenheit im Blick haben.Wenn es um Mobilität und um eigenständiges Han-deln geht, dann gehören unsere ostdeutschen Mitbürgermit einer Behinderung mit Gewissheit zu den Gewinnernder deutschen Einheit. In kürzester Zeit war es dank bes-serer technischer Hilfsmittel und dank der breiterenSchultern der Sozialverbände möglich, dass behinderteund ältere Menschen wieder am öffentlichen Leben teil-nehmen konnten. Sozialkassen und staatliche Fördersys-teme flankierten diesen Prozess. In kaum einem anderensozialen Bereich wurde deutlicher, dass das von man-chen verherrlichte DDR-Sozialsystem tatsächlich nurVolkmar Vogel
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die Grundversorgung sicherte und oft die Verwahrungfür unsere behinderten Mitbürger bedeutete. Lediglichdie Hilfsbereitschaft und die menschliche Wärme desPflegepersonals – und natürlich der Angehörigen –konnten dies mildern. Breite Schultern in Form vielerkaritativer Einrichtungen haben hier gleich Anfang der90er-Jahre Hervorragendes geleistet.Für uns sind Barrierefreiheit und Zugänglichkeit unddie Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allenLebensbereichen selbstverständliche Grundrechte. Da-rin sind wir uns sicherlich alle einig. Das bedarf keinerDiskussion.Gerade in den letzten 20 Jahren ist im Bereich der Mo-bilitätsverbesserung für ältere und behinderte Menschen– auch durch unsere beiden Konjunkturprogramme – sehrviel Positives geschehen. Es wurde zum Beispiel die Bar-rierefreiheit auf vielen kleinen Bahnhöfen hergestellt.Allerdings – auch darin sind wir uns einig – könnenwir uns mit den Gegebenheiten nie vollständig zufriedengeben. Deshalb arbeiten die christlich-liberale Koali-tion und die Bundesregierung intensiv an der ständigenVerbesserung der Situation.Was sind nun die Herausforderungen für die Zukunft?Abweichend zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünenmuss man dies einer differenzierten Betrachtung unter-ziehen:Wir haben zum einen den Bereich der öffentlichenGebäude mit seinen öffentlichen Einrichtungen ebensowie die öffentliche Infrastruktur und zum anderen denriesigen privaten Wohnbestand, wo Menschen zur Mieteoder in den eigenen vier Wänden leben, im Blick.Klar ist für uns, dass für die Menschen die barriere-freie Benutzung der öffentlichen Einrichtungen aus eige-ner Kraft – wo immer möglich – sichergestellt werdenmuss. Die Kosten für den Steuerzahler dafür sind sehrhoch. Das gilt übrigens nicht nur für die Bundesrepu-blik, sondern Mobilität muss heute weltweit gesehenwerden.Den Wohnbereich muss man differenzierter betrach-ten. Zum einen ist ganz klar: Barrierefreiheit ist mit ho-hem konstruktivem Aufwand und hohen Kosten verbun-den. Das können sich nur wenige leisten. Auch der Staatund die Sozialkassen können das nicht in Gänze ausglei-chen.Der demografische Wandel führt dazu, dass mehr äl-tere Menschen mit körperlichen Gebrechen Wohnraumnutzen. Deshalb sollten wir – mehr als bisher – die Mög-lichkeit barrierearmer und altersgerechter Wohnraum-zuschnitte in den Fokus nehmen. Das ist finanziell güns-tiger und kann auch von Hauseigentümern mit kleinemGeldbeutel sowie mit geringerer staatlicher Unterstüt-zung geschultert werden.Das beste Beispiel hierfür liefert das KfW-Programm„Altersgerecht Umbauen“. Durch dieses Förderpro-gramm erhalten vor allem ältere oder behinderte Men-schen die Chance, dank reduzierter Wohnbarrieren solange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden zu le-ben. Das Programm definiert erstmals einen bundesweitZu Protokolleinheitlichen Standard für Barrierereduzierung im Woh-nungsbestand. Es bietet wahlweise ein zinsgünstigesDarlehen oder einen Investitionszuschuss – sowohl fürselbstgenutztes als auch für vermietetes Wohneigentum.Die KfW ist durch ihre Förderprogramme ein gutes,nachahmenswertes Beispiel, wenn es darum geht, intel-ligent die Kopplungsfunktion zwischen Demografiewan-del – sprich: barrierearm – und Energieeffizienz– sprich: CO2-Gebäudesanierungsprogramm – herzu-stellen.Bei aller Attraktivität, Intelligenz und Wirksamkeitdes Programms muss man ganz ehrlich und deutlich sa-gen, dass die finanzielle Quelle nicht unbegrenzt spru-deln kann.Wir werden im Mietwohnungsbau nicht alle Wohnun-gen barrierefrei oder -arm bauen oder umbauen können,aber wir müssen dafür sorgen, dass es in jedem Quartierwelche gibt.Wir werden nicht jeden Eigentümer in den eigenenvier Wänden zum Umzug bewegen können, schon ausnachvollziehbaren emotionalen Gründen nicht. Hiermüssen wir mehr als bisher neben Förderanreizen dieBeratung und Begleitung auch und vor allem junger Ei-gentümer intensivieren.Wie ich eingangs sagte: Kluger Mann bzw. klugeFrau baut vor!Die Nachhaltigkeit beim Bauen wird zukünftig einegrößere Rolle spielen. Das gilt für den öffentlichen Be-reich ebenso wie für den privaten.Die Betrachtung eines Gebäudes über den gesamtenLebenszyklus hinweg muss auch mögliche Neunutzun-gen berücksichtigen. Wer privat nicht von Anfang anbarrierearm baut, sollte, wenn möglich, zumindest dieVoraussetzungen dafür schaffen, diesen Umbau späternachholen zu können – auch schon dann, wenn der Kin-derwagen zum Einsatz kommt.Für mich hat es sich bewährt – und das vermisse ichebenfalls im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen –, en-gen Kontakt zu den Verbänden aus dem Bereich der Be-hindertenbetreuung zu halten. Es sind doch oftmals dievielen kleinen Dinge des Lebens und die einfachen Lö-sungen in Zeiten knapper Mittel, die unseren Mitmen-schen mit Behinderung helfen, in ihren vier Wänden zu-rechtzukommen.Dieser Erfahrungsaustausch sollte – dafür kann ichbei allen Kollegen nur werben – noch intensiver geführtwerden. Dasselbe gilt natürlich auch für die Architektenund Bauplaner.Nichtsdestotrotz wird nicht jedes Handicap im Ver-kehrs- oder im Baubereich für unsere behinderten Mit-bürger zu beseitigen sein. Die Möglichkeiten der techni-schen Hilfsmittel kommen im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen viel zu kurz, werden aber von der christlich-liberalen Koalition – weniger durch uns Verkehrs- undBaupolitiker als vielmehr durch unsere Kollegen ausdem sozialen Bereich – intensiv beackert. Denn die di-rekte Hilfe der Betroffenen durch ausgereifte Prothetik,
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15790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenVolkmar Vogel
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hochwertige Orthopädie und Hightechmedicare ist dieallerbeste Lösung, um mit den Gegebenheiten klarzu-kommen.In diesen Bereichen gehört Deutschland zu den Welt-marktführern: Mittelständische Familienunternehmenwie die Hans B. Bauernfeind AG aus dem thüringischenZeulenroda und die Duderstädter Otto Bock HealthCareGmbH und viele weitere Global-Player-Firmen spiegelnwider, dass sich soziales Empfinden und wirtschaftlicheInteressen eben nicht ausschließen müssen.Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnenwerden niemals abschließend oder endgültig geregeltwerden können. Entgegen dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen kommt es aus unserer Sicht darauf an, dierechtlichen Rahmenbedingungen differenziert in Wohn-bzw. Eigentumsformen so zu formulieren, dass sie kos-tenseitig vertretbar und technisch einfach machbar sind.Finanzielle Fördermöglichkeiten haben Grenzen. Umsowichtiger sind Informations- und Beratungsangebote füreinfache Lösungen.Im Neubau ist Barrierefreiheit einfacher machbar alsim Bestand, auch was die Kosten betrifft.Bei knappem Geld müssen wir unsere Förderpro-gramme besser verzahnen und andere Förderquellen er-schließen. Ich denke dabei an die Pflegeversicherung,steuerlichen Vorsorgeaufwand oder die staatlich geför-derte private Altersversorgung.Bei allen baulichen Aktivitäten wird nie eine 100-pro-zentige Barrierefreiheit möglich sein. Deshalb werdenmoderne Hilfsmittel weiter an Bedeutung gewinnen undnicht zuletzt die Hilfsbereitschaft der Menschen unter-einander.
Erst vor wenigen Wochen haben wir uns mit einemganz ähnlichen Antrag der SPD-Fraktion beschäftigt,daher ist klar, dass wir diesbezüglich bereits ausgiebigbis ins Detail über das Thema Barrierefreiheit und al-tersgerechtes Wohnen gesprochen haben. Auch damalswurde vonseiten der Union darauf verwiesen, dass wirbereits genau das tun, was Sie fordern, denn wir wün-schen uns alle eine Gesellschaft, in der man auch im Al-ter oder mit Behinderung noch aktiv sein kann.Eine umfassend gestaltete Barrierefreiheit durchzu-setzen, beginnend beim Design von Alltagsgegenständenbis hin zum sozialen Nahraum, sollte unser aller Anlie-gen sein. Barrierefreiheit erleichtert sowohl Menschenmit Behinderung den Zugang zu Gebäuden und Trans-portmitteln als auch Eltern oder Großeltern mit Kinder-wagen, Älteren mit Rollator oder Einkaufswagen.In puncto Barrierefreiheit haben wir in den letztenJahren viel erreicht. Zudem hat auch ein Umdenkenstattgefunden. Wir sind nicht nur gegen äußere Barrie-ren vorgegangen, sondern auch gegen die Barrieren imKopf. Beides hängt nämlich zusammen bzw. wirkt auf-einander ein.Auch wenn zweifellos noch viel zu tun bleibt, um alleBarrieren abzubauen, ist die Öffentlichkeit in den letztenZu ProtokollJahren doch sensibilisiert worden. Wir haben erkannt,dass Barrierefreiheit die Voraussetzung darstellt, damitMenschen mit Behinderung ein selbstständiges undselbstbestimmtes Leben führen können. So wie sie eswollen und seit Jahr und Tag einfordern. Und so wie siees können.Der Punkt ist nicht, dass sich Menschen unterschei-den, der Punkt ist vielmehr, die Lebensbedingungen die-sen Unterschieden anzupassen. Wir fragen jetzt, wel-chen besonderen Bedarf Menschen mit Behinderunghaben, um im Alltag so gut wie möglich klarzukommen.Wir fragen, was getan werden kann, um ihnen die Teil-nahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern.Sie haben die Studie des BMVBS ja selbst erwähnt.Die Probleme sind also bekannt und werden auch gezieltangegangen. An dieser Stelle möchte ich nur kurz daraufverweisen, dass die Prognosen über das Altern unsererGesellschaft ja nicht erst seit gestern bestehen, sondernschon zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung be-kannt waren. Da sind wir uns doch einig!? Also müssensich Rot-Grün, wenn sie heute Verfehlungen anpran-gern, auch an die eigene Nase fassen.Niemand denkt gern daran, was einem im Alter alleswiderfahren könnte. Und man sollte sich auch nicht mitzu vielen vorausschauenden Überlegungen belasten.Um eine gewisse Vorsorge fürs Alter kommt jedoch nie-mand herum. Und zu ihr gehört, sich rechtzeitig zu fra-gen, wie man im Alter wohnen möchte bzw. was für eineWohnung den eigenen Erfordernissen und Möglichkei-ten dann wohl am besten entspricht. Gerade im Alter,wenn die Menschen immer mehr Zeit im eigenen Zu-hause verbringen, wird Wohnen zunehmend wichtig.Komfort ist gefragt und eine altersgerechte Einrichtung,der Wohlfühlaspekt gewinnt an Bedeutung.Das Programm der KfW „Altersgerecht Umbauen“,das seit 2009 läuft und das der Kreditfinanzierung vonMaßnahmen zum Zwecke der seniorengerechten Anpas-sung von bestehenden vermieteten und selbstgenutztenWohngebäuden dient, hat einen wertvollen Beitrag fürdie Erhöhung und den Bestand der Lebensqualität imAlter geleistet. Durch die Förderung werden und wur-den die Finanzierungskonditionen insbesondere für diesenioren- und behindertengerechte Modernisierung desWohnungsbestandes deutlich attraktiver gestaltet. Da-mit wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, in deneigenen vier Wänden alt zu werden und dort möglichstlang ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das nicht da-ran scheitert, dass Treppenstufen oder kleine Badezim-mer bei einer Gehbehinderung den Umzug in ein Heimerforderlich machen, obwohl ansonsten die Selbstver-sorgung noch bestens funktioniert.Generell gilt, dass zum Abbau von Barrieren Investi-tionen in großem Umfang getätigt werden müssen. Aberdiese Anforderungen generieren auch einen Markt.Wenn man heutzutage baut oder Eigentum kauft, achtetman auf vieles, in der Regel auch darauf, dass dieses Ei-gentum auch im Alter und mit möglichen Gebrechennoch bewohnbar ist. Aber auch viele, die zur Miete le-ben, stellen diese Ansprüche an ihr Mietobjekt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15791
gegebene RedenDaniela Ludwig
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Momentan ist es so, dass in unserer sozialen Markt-wirtschaft in erster Linie die Eigentümer für die nach-fragegerechte Fortentwicklung der Wohnungsbeständeund des Neubaus verantwortlich sind. Sie müssen dieVerantwortung übernehmen für ältere und behinderteMenschen und erhöhen gleichzeitig auch die Vermiet-barkeit ihrer Wohnungen, und sie tun das oftmals in vor-bildhafter Weise.Und seien wir doch ehrlich: Auch die Kommunenkommen schon längst ihrer Verantwortung nach, wennes zum Beispiel darum geht, die öffentlichen Räume inStadtquartieren altersgerecht umzubauen und die Pla-nung und Beratung hinsichtlich des alters- und behin-dertengerechten Wohnens zu unterstützen.Sie sprechen unter anderem die sogenannte Muster-bauordnung an, die konkret die Länder betrifft; denn inderen Hand und Regelungsbereich fallen die Bauord-nungen. Generell liegt auch weiterhin die Gesetzge-bungskompetenz ausschließlich bei den Ländern, undder Bund sollte sich mit Aufgabenzuweisungen und Rat-schlägen zurückhalten, insbesondere dann, wenn dieForderungen Kosten verursachen, die zulasten der Lan-deshaushalte gehen. Aber die Bundesländer sind nichtuntätig: In 14 Bundesländern enthält die Landesbauord-nung – angelehnt an die Musterbauordnung – im Neu-bau eine Aufzugspflicht bei mehr als fünf Vollgeschosseneines Wohngebäudes. Zwei Länder fordern bereits beimehr als 4 Vollgeschossen den Einbau von Aufzügen.Um es abzuschließen – in den vergangenen Aus-schusssitzungen wurde schon oft darauf eingegangen –:Die Gestaltung barrierefreien Wohnens und barriere-freier Mobilität für ältere sowie für behinderte und in ih-rer Mobilität eingeschränkte Menschen hat für dasMinisterium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung undfür die Union eine hohe Bedeutung, die vor dem Hinter-grund des demografischen Wandels künftig auch nochwachsen wird. Die Herstellung von Barrierefreiheitbeim Personenverkehr ist ein ebenso wichtiger Faktorfür eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabeam gesellschaftlichen Leben wie die Barrierefreiheit inden eigenen vier Wänden.Bei dem genannten KfW-Programm handelt es sichallerdings keinesfalls um die einzige Maßnahme desBundes, die Barrierefreiheit fördert. Da gibt es nicht zu-letzt den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung derUN-Behindertenrechtskonvention, mit dem die Bundes-regierung einen wichtigen Schritt nach vorne geht undmit dem sie ein weiteres wichtiges Vorhaben aus demKoalitionsvertrag umsetzt. Der Aktionsplan beinhaltetein Maßnahmenpaket und stellt einen Motor für Verän-derung dar, aber er ist kein Gesetzespaket. Es geht da-rum, bestehende Lücken zwischen Gesetzeslage undPraxis zu schließen.Zudem hat der Aktionsplan einen Zeithorizont vonzehn Jahren, der uns also viel Zeit für nötige Verände-rungen gibt, uns aber auch eine Frist setzt. Ziel ist es,ihn dabei kontinuierlich auf den Prüfstand zu stellen undentsprechend neuerer Erkenntnisse weiterzuentwickeln,das erste Mal in zwei Jahren.Zu ProtokollWie ein roter Faden muss sich mit ihm die Inklusionauf allen politischen Ebenen durch unsere Überlegun-gen und Entscheidungen ziehen. Und das heißt zum Bei-spiel, dass die gemeinsame Erziehung und Bildung vonbehinderten und nichtbehinderten Kindern konsequentvorangetrieben werden muss.Aber es gibt auch weitere Punkte, die es zu beachtengilt: Es gilt Hilfe- und Unterstützungsleistungen so zu or-ganisieren, dass sie sich an den Lebenslagen und Bedürf-nissen von Personen orientieren und nicht an Strukturenvon Organisationen und Institutionen. Darüber hinausmüssen wir langfristig eine inklusive Arbeitsgesellschaftschaffen.
Wir wissen alle, dass wir in einer älter werdendenGesellschaft leben und auf den demografischen Wandelreagieren müssen: Die Anzahl der über 80-Jährigenwird bis 2050 auf über 10 Millionen steigen. Mit zuneh-mendem Alter nehmen körperliche Einschränkungen zu.Stufen und Treppen machen vielen, insbesondere älterenMenschen, das Leben schwer. Das Thema Barrierefrei-heit spielt für Ältere ebenso eine große Rolle wie fürMenschen mit Behinderungen.Nach Schätzungen der Wohnungswirtschaft ist derzeitjedoch nur 1 Prozent des Wohnungsbestandes barriere-frei und nur weitere 4 Prozent barrierearm ausgestaltet.Nach einer Studie des Bundesministeriums für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung wird der Bedarf an barriere-freien und -armen Wohnungen bis 2020 auf zusätzlich2,5 Millionen Wohnungen geschätzt. Es liegt auf derHand, dass wir mehr barrierefreien Wohnraum benöti-gen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich mit dem An-trag „Barriefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen –Voraussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“ausführlich zu diesem Thema in den Deutschen Bundes-tag eingebracht.Fest steht: Es fehlt schon jetzt eklatant an altersge-rechtem Wohnraum, und die Situation wird sich mit dersteigenden Anzahl älterer Menschen noch weiter ver-schärfen. Investoren, Politik und Verwaltung müssensich daher frühzeitig auf die sich verändernden Rah-menbedingungen einstellen. Die Bundesregierung mussjetzt handeln.Stichwort „gezielte Förderpolitik“: Die brauchen wirdringend. Umso unverständlicher ist es, dass die Bun-desregierung das KfW-Förderprogramm „AltersgerechtUmbauen“, wie aus dem Bundeshaushaltsentwurf von2012 hervorgeht, auslaufen lässt. Dabei hat die Bundes-regierung selbst das Programm als sehr positiv einge-stuft: In ihrer Antwort auf die Anfrage der SPD-Bundes-tagsfraktion bescheinigte sie dem Programm „eineerfreuliche Bilanz“, zudem bereitete es „in der Umset-zung keine Probleme.“ Da kann ich mich nur fragen:Warum aber soll dann das Programm „AltersgerechtUmbauen“ gestrichen werden? Das Förderprogrammist doch von enormer Bedeutung: Älteren Menschen er-möglicht es, lange und selbstbestimmt in ihrer Wohnungund in ihrem gewohnten Umfeld zu leben.
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15792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenSören Bartol
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Vergessen wir nicht, dass Wohnen ein Grundrecht ist,die Bundesregierung die UN-Behindertenkonventionunterschrieben hat und somit in der Pflicht steht, fürbarrierefreien Wohnraum zu sorgen. BarrierefreierWohnraum kommt im Übrigen nicht nur Älteren undMenschen mit körperlichen Einschränkungen, sondernauch Familien zugute. Aber barrierefreie Umbautensind eben auch kostenintensiv, „Altersgerecht Um-bauen“ leistet hierbei wichtige finanzielle Unterstüt-zung. Statt das Förderprogramm auslaufen zu lassen,gilt es, das Programm zu erhalten. Wenn die Bundesre-gierung das Programm mit dem Argument streicht, dassdie Mittel nicht voll abgerufen werden, schüttet sie dasKind mit dem Bade aus. Es muss doch vielmehr darumgehen, die Förderkonditionen so zu gestalten, dass dasProgramm angenommen wird. Es muss darum gehen,bei Hauseigentümern und Wohnungsunternehmen Be-wusstsein für die Notwendigkeit barrierefreien Umbauszu schaffen. Die Politik ist hier gefordert, aber ganz klarauch die privaten Hauseigentümer und die Wohnungs-wirtschaft.Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-gierung dazu auf, das Programm „Altersgerecht Um-bauen“ auf bisherigem Niveau zu erhalten. Mit unseremAntrag stehen wir übrigens nicht nur für den bloßen Er-halt, sondern vielmehr für eine Weiterentwicklung desProgramms: Unser Ziel ist es, langfristig den Bedarf analtersgerechtem Wohnraum schneller zu decken als bis-her.Um das Thema Barrierefreiheit anzugehen, bedarf esdarüber hinaus eines Gesamtpakets: Das Informations-und Beratungsangebot muss insgesamt ausgebaut undbesser auf ältere Menschen abgestimmt werden. Nochimmer mangelt es an einer Evaluation des Status quo beider Zugänglichkeit von Gebäuden – und das, wo es docherfolgreiche Beispiele wie die Wheelmap gibt: eine On-linekarte vom Berliner Verein Sozialhelden, mit der kör-perlich eingeschränkte Menschen wie Rollstuhlfahrer,aber auch Ältere die Zugänglichkeit öffentlicher Ge-bäude im Vorfeld prüfen können. Nach dem Ampelprin-zip werden hier öffentliche Einrichtungen wie Museenoder Bahnhöfe kategorisiert. Damit es zukünftig nochmehr solcher Projekte gibt, sollte der Bund solche Vor-zeigeprojekte fördern.Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, Barriere-freiheit nicht nur beim Wohnungsbau, sondern auch imWohnumfeld zu berücksichtigen, das heißt Mobilität imSinne der Erreichbarkeit von Arbeitsstätten, Einkaufs-möglichkeiten, ärztlicher Versorgung, Bildungs- und so-zialen Angeboten. Genau aus diesem Grund hat dieSPD-Bundestagsfraktion mit dem bereits erwähntenBarrierefreiheitsantrag einen umfassenderen Ansatz alsdie Grünen gewählt: Barrierefreiheit muss auch für dasLebensumfeld gewährleistet werden, das heißt im Be-reich der Mobilität und Infrastruktur. Ein Beispiel:Klapprampen für Geschäfte sind kostengünstig – und er-leichtern das Leben von Mobilitätsbehinderten auf ein-fache Weise.Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dassdie Förderung von Barrierefreiheit integraler Bestand-Zu Protokollteil der Städtebauförderung wird. Es ist Aufgabe desBundes, barrierefreies Bauen und Umbauen von Wohn-raum stärker zu fördern. Eine stärkere Kopplung staatli-cher Förderung an Kriterien der Barrierefreiheit wärezielführend. Damit Barrierefreiheit bereits bei Planungund Ausführung mitbedacht wird, muss sie insbesonderefür Baumaßnahmen der öffentlichen Hand gelten – manbedenke hier die Vorbildfunktion. Um das umzusetzen,wäre ein Programm zur Förderung der Barrierefreiheitvon öffentlichen Gebäuden notwendig; so könnten auchfinanzschwache Kommunen die Anforderungen der UN-Behindertenkonvention erfüllen.Da barrierefreie Umbauten kostenintensiv sind, wärees nur logisch, bereits im Planungsprozess die DIN-Nor-men für barrierefreies Bauen zu berücksichtigen. Dochderzeit ist noch das Gegenteil der Fall, die Normen sindnur zum Teil im Baurecht verankert. Hier sind die Län-der gefordert: Sie müssen die Standards setzen.Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass die Muster-bauordnung im Hinblick auf die Anforderungen an Bar-rierefreiheit bei Bau und Umbau überarbeitet wird. DieLänder müssen die Umsetzung dieser Anforderungeneffektiver überwachen und Verstöße sanktionieren.Ich appelliere nochmal an die Bundesregierung, dieKürzungen bei der Städtebauförderung zurückzunehmenund das erfolgreiche KfW-Programm „AltersgerechtUmbauen“ auf bisherigem Niveau langfristig weiterzu-führen. Auch die bestehenden KfW-Programme müssenweiterentwickelt und ergänzt werden – nur so könnenwir den Anforderungen der Behindertenkonvention ge-recht werden.Barrierefreiheit muss selbstverständlich werden beiBau und Umbau. Bis dahin aber ist es noch ein weiterWeg, den die Bundesregierung aktiv gestalten muss. DasProgramm „Altersgerecht Umbauen“ ist so ein wichti-ger Baustein. Deshalb fordere ich Sie auf: Setzen Siedieses Programm zumindest auf bisherigem Niveau fort!
Das Wohnen im Alter bleibt Schwerpunkt unsererWohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, damit „ältereMenschen und Menschen mit Behinderungen länger undlebenswerter in ihrem gewohnten Umfeld wohnen kön-nen“ – so der Koalitionsvertrag von Union und FDP.Von Winston Churchill soll der Satz stammen: DerPessimist sieht in jeder Aufgabe ein Problem, der Opti-mist in jedem Problem eine Aufgabe. – Und da wir als Li-berale von Hause aus Optimisten sind, sehen wir im de-mografischen Wandel eine große Aufgabe. Denn – gleichvorneweg gesagt – wir sind heute nicht zusammenge-kommen, um den demografischen Wandel zu beklagen.Denn es ist ganz entscheidend, dass alle Akteure ge-meinsam anpacken und entschlossen an einem Strangziehen. Keine andere Entwicklung wird unsere Gesell-schaft so stark beeinflussen und nachhaltig verändernwie der demografische Wandel.Wir stehen bekanntlich vor einer mehrfachen Heraus-forderung: Zum einen sinken in Deutschland seit den70er-Jahren die Geburtenzahlen und unterschreiten seit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15793
gegebene RedenSebastian Körber
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langem den Schwellenwert, der für ein Gleichgewichtaus Geburten und Sterbefällen nötig wäre. Die Bevölke-rung schrumpft. Sodann steigt gleichzeitig aufgrund desmedizinischen Fortschritts Gott sei dank die Lebens-erwartung stetig an. Die Anzahl älterer Menschen inner-halb der Bevölkerung steigt. Und zudem haben immermehr Bürgerinnen und Bürger einen Migrationshinter-grund. Zuwanderer kommen zu uns. Kurz gesagt: Wirwerden weniger, älter und kulturell vielfältiger – mit al-len Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialversiche-rungen und im Alltag.Der demografische Wandel ist kurz- und mittelfristignicht umkehrbar. Selbst wenn heute mehr Kinder gebo-ren würden, würde es mindestens 20 Jahre dauern, bisdiese das erwerbsfähige Alter erreichen. Allerdings wirdsich der demografische Wandel in Deutschland regionalsehr unterschiedlich – Abwanderungen im ländlichenRaum, Zuwanderungen in Ballungszentren – bemerkbarmachen.Die Alterung wird den ländlichen Raum besondersstark betreffen. Übrigens: Ländliche Regionen deshalbaufs Abstellgleis zu schieben, wäre der absolut falscheWeg. Das würde der großen Bedeutung des ländlichenRaumes keinesfalls gerecht. Lassen Sie mich deshalb beidieser Gelegenheit für die FDP nochmals klarstellen:Keine einzige Region darf abgehängt werden. Wir setzenin ganz Deutschland auf gleichwertige Lebens- und Ar-beitsbedingungen. Gleichwertig heißt dabei nicht gleich-artig. Aber es geht um vergleichbare Chancen. Themenwie die zukünftige ärztliche Versorgung im ländlichenRaum, die Stärkung der Innenstädte und Ortskerne, Ver-kehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur stehen ganzoben auf der Agenda.Die Herstellung der weitestgehenden Barrierefreiheitist ein dynamischer Prozess, der nur schrittweise undunter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrund-satzes vollzogen werden kann. Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention als einer der ersten Staa-ten unterzeichnet. Sie ist seit dem 26. März 2009 ver-bindlich. Das deutsche Recht genügt bereits heute denAnforderungen der VN-Behindertenrechtskonvention.Im Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteiengleichwohl darauf verständigt, einen Aktionsplan zurUmsetzung der UN-Konvention zu entwickeln, um diebestehende Lücke zwischen Gesetzeslage und Praxis zuschließen.„Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr“, sagtdas Sprichwort. Es ist doch ein verständlicher Wunsch,dass Menschen im Alter möglichst lang zu Hause blei-ben wollen. 86 Prozent der „jungen“ Alten – die heute50- bis 65-Jährigen – wollen so lange wie möglich in dereigenen Wohnung leben. Wohnbarrieren müssen redu-ziert werden.Aktuelle Situation: Wohnen zuhause ist die bevor-zugte Wohnform im Alter: 93 Prozent der 65-jährigenund älteren Menschen leben in „normalen“ Wohnungen,auch rund zwei Drittel der 90-Jährigen. Von Seniorengenutzte Wohnungsangebote sind vielfach nicht alters-gerecht, sondern weisen erhebliche Barrieren beim Zu-gang zur Wohnung und im Sanitärbereich auf. Mehr alsZu Protokolldrei Viertel der Senioren wohnen in Gebäuden mit zweioder mehr Stockwerken – auch im Einfamilienhaus über50 Prozent; deutlich über 90 Prozent ohne technischeHilfen. Senioren wohnen überwiegend in älterer Bau-substanz. Über 60 Prozent der Senioren in Beständenmit Baujahr vor 1971, Schwerpunkt Nachkriegszeit1949 bis 1971; weitere 20 Prozent in Gebäuden derBaujahre 1972 bis 1980. Je circa 50 Prozent Mieter undEigentümer, vor allem jüngere Senioren überwiegend imselbst genutzten Eigentum. Zukünftig wächst der AnteilHochaltriger mit erhöhtem Pflegerisiko in diesemMarktsegment.Die Lage der genutzten Wohneinheiten kann dieselbstständige Lebensführung im Alter beeinträchtigen.Vor allem in Randlagen und Siedlungen außerhalb ge-schlossener Ortschaften bestehen oft Einschränkungenin der Mobilitätsversorgung und in Bezug auf die ver-sorgende Infrastruktur.Barrierearmut ist als zukunftsfähiges Qualitätsmerk-mal einer der zentralen Begriffe, die das öffentlicheLeben in den nächsten Jahren bestimmen werden. DieKoalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDPspricht sich klar dafür aus, Mobilität zu ermöglichenund nicht zu behindern, und fordert zudem mehr Barrie-rearmut im Wohnumfeld und im öffentlichen Raum.Unser Ziel ist eine höhere Lebensqualität für alleMenschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.Hier ergibt sich Handlungsbedarf vor dem Hintergrund,dass der Anteil älterer Menschen deutlich zunehmenwird. Nur circa 1,2 Prozent der Wohnungen in Deutsch-land sind altersgerecht und bis 2020 werden rund2,5 Millionen zusätzlich benötigt – denn 86 Prozent der„jungen“ Alten – die heute 50- bis 65-Jährigen – wollenso lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben.Dies bedeutet: Wohnbarrieren müssen reduziert werden.Wünschenswert wäre eine Verzehnfachung der Quote analtengerechtem Wohnraum auf 20 Prozent bis 2030.Investitionen zur Bereitstellung eines ausreichendenAngebots altersgerechten Wohnraums sind vorrangigvon den Eigentümern der Wohnungen, sei es als Vermie-ter oder als Selbstnutzer, zu erbringen. Der Staat kannsie dabei auf verschiedene Weise unterstützen, zum Bei-spiel durch finanzielle Anreize. Für die Beseitigung vonBarrieren im Wohnbereich können auch steuerliche Vor-teile genutzt werden. Vermieter können entsprechendeAufwendungen entweder sofort in voller Höhe oder übermehrere Jahre verteilt im Wege der Abschreibung steu-erlich berücksichtigen. Selbstnutzende Eigentümer undMieter können auch für die entsprechenden Aufwendun-gen die Steuervergünstigung für Handwerkerleistungenin Anspruch nehmen und so ihre Steuerlast um maximal1 200 Euro im Jahr mindern. Die Länder erhalten bis2013 insgesamt 518,2 Millionen Euro zweckgebundenfür die soziale Wohnraumförderung vom Bund. Sie fi-nanzieren daraus zusammen mit eigenen Mitteln unteranderem Programme für die Barrierereduzierung im Be-stand, Mietwohnungsneubau für Menschen mit Behinde-rungen, Modernisierung von Alten- und Pflegeheimen.Die Praxis zeigt: Weitestgehende Barrierefreiheitbeim Bauen ist nahezu kostenneutral, wenn sie rechtzei-
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15794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenSebastian Körber
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tig beachtet wird. Gleichzeitig ermöglicht ein langesWohnen im Zuhause eines jeden Einzelnen deutlicheKostenvorteile bei notwendiger Pflegeunterstützung.Die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden istdeutlich günstiger als die stationäre Pflege und damitgleichermaßen entlastend für die Pflegeversicherung.Dies ist eine Entlastung für die zukünftige Generation.Während im Jahr 2000 noch etwa vier Arbeitnehmer fürdie Rente eines Rentners aufgekommen sind, müssen imJahr 2040 etwa zwei Arbeitnehmer die Rente eines Se-nioren tragen. Zukunftsfähige Baupolitik kommt an ei-ner Fortführung des KfW-Programms „AltersgerechterUmbau“ nicht vorbei.Reden und Handeln klaffen aber bei Ihnen auseinan-der. Die Frage sei erlaubt: Wenn den Grünen das Themaso wichtig ist, warum hat sich deren Fraktion bei derAbstimmung am 8. Juli im Bundestag zum schwarz-gel-ben Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention enthalten und nicht zugestimmt? SPD undLinke haben ganz dagegen gestimmt.Schließlich wird in diesem Antrag die Bundesregie-rung unter anderem aufgefordert, das auslaufende Pro-gramm zum altersgerechten Umbau über 2011 hinaus zuverstetigen. Im Übrigen: Das Programm wird nicht„eingestellt“ oder gar „abgeschafft“, wie Sie das immerbehaupten, sondern es läuft schlicht aus, war – aus Mit-tel des Konjunkturpakets I gespeist – nur bis 2011 befris-tet. Bitte bei der Wahrheit bleiben! Die Weiterentwick-lung des Programms ist Auftrag der schwarz-gelbenKoalitionsvereinbarung, auch in schwieriger Finanz-lage. Aufgrund der positiven Erfahrungen werbe ich inden Haushaltsberatungen intensiv für eine ordentlicheMittelausstattung bei einer Weiterführung des Pro-gramms.Sie wissen sicher: Regelungen zur Barrierefreiheit inGebäuden gehören zum Bauordnungsrecht. Für dieseRechtsmaterie liegt die Gesetzgebungskompetenz unver-ändert – auch nach der letzten Föderalismusreform –ausschließlich bei den Ländern. Ich bin daher sehr ge-spannt, wie und ob Sie das dort, wo Sie Verantwortungin den Länderregierungen tragen, auch umsetzen. Da-von sollte man ja ausgehen, allein sehen kann ich davonnichts. Dort sparen Sie und hier erstellen Sie einenWunschzettel.Ich selbst baue gerade mein Elternhaus in ein Mehr-generationenhaus für meine Eltern, meine Großmutterund mich barrierearm und energieeffizient um – falls Siealso Anregungen aus der Praxis brauchen, lade ich Siegerne ins schöne Forchheim ein.Am Umgang mit unseren Senioren, am Respekt vorden Älteren beweist sich die menschliche Qualität unse-res Landes, die keine kalte Gesellschaft werden darf. Diehöhere Lebenserwartung ist ein großer Gewinn für denEinzelnen, für die Familien und für die gesamte Gesell-schaft. Noch nie war die Generation der über 60-Jähri-gen so gesund und aktiv wie heute. Senioren haben eineenorme Lebenserfahrung und Kompetenz. Unsere Ge-sellschaft kann es sich nicht leisten, auf den Erfahrungs-schatz dieser Generation zu verzichten!Zu ProtokollAls junger Abgeordneter sage ich: Wir bauen heuteauf dem auf, was vor uns geschaffen wurde. Dank desEinsatzes, der Arbeit und des Fleißes der jetzt älterenGeneration steht Deutschland hervorragend da.Wir brauchen hier einen positiven Bewusstseinswan-del in unserer Gesellschaft: Ich wünsche mir, dass unserLand auch künftig für Alt und Jung lebenswert ist. Las-sen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir inDeutschland auch in Zukunft ein selbstbestimmtes, ge-nerationengerechtes und barrierearmes Leben führenkönnen.
Jede und jeder von Ihnen, meine lieben Kolleginnenund Kollegen, kennt das Schild, das an fast allen Aufzü-gen steht: „Im Brandfall nicht benutzen“. Im Klartextheißt das, dass gehbehinderte Menschen sich im Notfallnicht selbst retten können. In der Brandschutzordnungunseres Deutschen Bundestages heißt es unter anderem:„Die Evakuierung von Behinderten im Zuständigkeits-bereich der Fraktionen ist eigenverantwortlich zu orga-nisieren und sicherzustellen. Entsprechende Hinweiseauf die Büros von Behinderten sind in den Pforten desjeweiligen Gebäudes zu hinterlegen. Was – das werdenSie sich jetzt fragen – hat das mit dem vorliegenden An-trag zu tun? Menschen mit Behinderungen sind bei fastallen Gebäuden mit Barrieren konfrontiert, die sie nurschwer oder gar nicht überwinden können. Das betrifftsowohl das Hineinkommen in ein Gebäude, die Fortbe-wegung innerhalb des Gebäudes und – zum Beispiel beiBränden – auch das Verlassen eines Gebäudes. Dabeigibt es längst Aufzüge, die auch im Brandfall noch län-gere Zeit – eben zur Evakuierung – nutzbar sind. Siesind nur etwas teurer als die allgemein üblichen Auf-züge.Das führte dazu, dass der eigentlich mit vergleichs-weise hervorragend barrierefreien Gebäuden ausgestat-tete Bundestag 300 Menschen mit Behinderungen erst zueinem Dialog mit den Bundestagsabgeordneten am2. und 3. Dezember 2011 einlud und – da sich darunterzu viele Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen befin-den – wieder auslud. Dieser an Peinlichkeit kaum zuübertreffende Vorgang zeigt, wie das wirkliche Leben istund wie weit wir noch von einer inklusiven Gesellschaftentfernt sind.Kaum ein Gebäude ist barrierefrei. Das betrifftWohngebäude, Arztpraxen, Schulen, Hotels, Gaststät-ten, Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe, Kultureinrichtun-gen usw. Das Problem ist nicht neu, aber die Aktivitätenzur Beseitigung der Barrieren und zur Vermeidungneuer Barrieren lassen arg zu wünschen übrig. Es be-ginnt beispielsweise damit, dass an der Spitze des Bun-desbau- und Verkehrsministeriums mit Herrn Ramsauer,CSU, ein Minister steht, der das Wort „Barrierefreiheit“nicht zu kennen scheint, erst recht nicht, welche Pro-bleme sich damit verbinden und was – auch durch ihn –zu tun ist. Wer es nicht glaubt, sollte sich mal die rund700 Pressemitteilungen des Ministers auf seiner Home-page oder seine Reden im Bundestag sowie auf diversenVeranstaltungen oder seine Antworten auf meine diesbe-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15795
gegebene RedenDr. Ilja Seifert
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züglichen Anfragen ansehen. Vorschläge seinerseits fürgesetzliche Rahmenbedingungen, zum Beispiel durchverbindliche Vorgaben zum barrierefreien Bauen, imBaugesetzbuch? – Fehlanzeige! Initiativen seinerseits,mit Konjunkturprogrammen der Bundesregierung, steu-erlichen Anreizen oder KfW-Programmen barrierefreiesBauen zu fördern? – Fehlanzeige? Im Gegenteil: Daskleine Pflänzchen KfW-Programm „Altersgerecht Um-bauen“ soll 2012 wieder gerodet werden.Dabei gibt es seit März 2009 mit der UN-Behinder-tenrechtskonvention und dem Behindertengleichstel-lungsgesetz aus dem Jahr 2002 Gesetze in Deutschland,welche Bund, Länder und Kommunen verpflichten, sichaktiv für die Schaffung von Barrierefreiheit in Wohnun-gen und im Wohnumfeld einzusetzen. Nicht einmal2 Prozent aller Wohnungen in der BRD sind barrierefrei.Wer behinderungs- bzw. altersbedingt auf Barrierefrei-heit angewiesen ist, steht – so meine Erfahrungen – vorgravierenden Problemen. In einigen Fällen sind Anpas-sungsmaßnahmen am Wohngebäude oder in der Woh-nung möglich. Voraussetzungen dafür sind die Zu-stimmung des Eigentümers und die Klärung derFinanzierung. Beide Hürden sind oft nicht überwindbar.Hinzu kommt der absurde Fakt, dass die Schaffung derBarrierefreiheit nicht etwa als Wertsteigerung begriffenwird, sondern sie bei Auszug oder Tod auf Kosten derbehinderten Menschen sogar wieder rückgängig ge-macht werden muss.Also bleiben drei Möglichkeiten: erstens der Verbleibin der nicht barrierefreien Wohnung unter Inkaufnahmemenschenunwürdiger Bedingungen – dazu zähle ich mas-sive Bewegungseinschränkungen innerhalb der Wohnung,Einschränkungen in der Nutzung von Toilette und Wasch-möglichkeiten und äußerst eingeschränkte Möglichkeiten,die Wohnung zu verlassen –, zweitens der Umzug in einebarrierefreie Wohnung, was angesichts des fehlendenWohnungsangebotes und der mit dem Umzug verbunde-nen Kosten ebenfalls schwer zu realisieren ist, sowie drit-tens der Umzug ins Heim – ein Weg, der für viele Men-schen aus mir sehr verständlichen Gründen nichterstrebenswert ist.Deswegen unterstütze ich ausdrücklich die Losung desBundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobi-lienunternehmen, GdW, „Aufzug statt Auszug“ und dies-bezügliche Initiativen des sächsischen Verbandes derWohnungsgenossenschaften. Wir brauchen dringendstdeutlich mehr barrierefreie Wohnungen, Wohngebäudeund ein entsprechendes Wohnumfeld. Deswegen wird dieLinke den vorliegenden Antrag unterstützen.Ein Weg ist die Beseitigung vorhandener Barrieren.Dazu brauchen wir verbindliche Regelungen im Bauge-setzbuch und den Landesbauordnungen, entsprechendeFörderprogramme und intelligente Lösungsvorschlägevon Architektinnen und Architekten sowie den Baufir-men. Bei den Förderungen kann man von den bewährtenInstrumenten hinsichtlich der Sanierung in denkmalge-schützten Gebäuden und bei der energetischen Sanie-rung lernen. Statt eine Einstellung des KfW-Programms„Altersgerechtes Umbauen“ fordert die Linke schon mitdem Bundeshaushalt 2012 dessen Erhöhung und Verste-Zu Protokolltigung. Auch eine andere Bezeichnung dieses KfW-Pro-gramms halte ich für sinnvoll. Neubauten müssten künf-tig generell barrierefrei bzw. so barrierearm gebautwerden, dass individuelle Anpassungen unkompliziertmöglich sind. Das ist auch eine Herausforderung für dieFirmen, welche Einfamilienhäuser und andere kleine Ei-genheime anbieten.Ich habe zwei Visionen hinsichtlich der Barrierefrei-heit von Wohnungen und anderen Gebäuden. Erstenshoffe ich, dass irgendwann alle Gebäude und alle Woh-nungen barrierefrei sind. Ich möchte – egal mit welcherBehinderung – uneingeschränkt in meiner Wohnung le-ben und auch jederzeit Verwandte, Bekannte undFreunde in deren Wohnungen besuchen können. Auchdas gehört zu umfassender Teilhabe, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben wurde.Zweitens möchte ich in jedes Gebäude nicht nur hi-nein-, sondern auch bei Notfällen wie andere Menschenohne Behinderungen wieder hinauskommen können.
Alle wollen alt werden, niemand will alt sein. Obwohlsich alles ständig im Wandel befindet – eines ist sicher –wir alle werden älter, auch wenn wir es nicht unbedingtwahrhaben wollen. Zum Glück sind wir damit nicht al-leine, denn bis 2030 wird die Anzahl der über 65-Jähri-gen auf 22,3 Millionen und die der über 80-Jährigen auf6,4 Millionen steigen. Wir befinden uns also in guter Ge-sellschaft.Dieser Tatsache muss auch im Wohnbereich Rechnunggetragen werden, vor allem weil wir alle selbstbestimmtleben wollen, ob kerngesund, im hohen Alter oder mit ei-ner körperlichen Beeinträchtigung, auch vor dem Hin-tergrund der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-vention. Die eigene Wohnung, sei es eine Miet- oderEigentumswohnung, steht unter dem besonderen Schutzunserer Rechtsordnung. Sie bietet uns einen geschütztenRaum zur freien Persönlichkeitsentfaltung. Deswegenwollen und sollen auch ältere Menschen so lange wiemöglich unabhängig und selbstbestimmt wohnen. Aberüber die Hälfte der Seniorenhaushalte lebt in Gebäuden,die zwischen 1949 und 1980 gebaut wurden. Hier ist einebarrierearme Bauweise kaum zu finden. Aber es bestehteine hohe Bereitschaft, entsprechend altersgerecht umzu-bauen. Doch häufig fühlen sich die Menschen, geradewenn sie schon etwas älter sind, diesbezüglich überfor-dert. Ich vermute, dass aus diesem Grund die bisher be-reitgestellten Bundesmittel über das KfW-Programm„Altersgerecht Umbauen“ so schlecht abgeflossen sind.Hinzu kommt, dass es erfahrungsgemäß eine Weile dau-ert, bis Förderprogramme bei Bürgern „ankommen“ undihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse daran gewecktwerden. Von den 2010 bereitgestellten 90 Millionen Eurowurden nur rund 32 Millionen Euro abgerufen. Das zeigtaber nicht, dass das Programm sinnlos ist und gestrichenwerden sollte, so wie es die Bundesregierung plant, imGegenteil. Es muss besser beworben und zielgruppenge-recht ausgestaltet werden.Altersgerechtes und barrierearmes Wohnen ist men-schenrechtes Wohnen. Es profitieren nicht nur alte oder
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15796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15797
Daniela Wagner
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hochbetagte Bewohner, auch Bewegungseingeschränkte,Rollstuhlfahrer oder Familien mit kleinen Kindern gewin-nen mehr Bewegungsfreiheit. Mit dem Auslaufen des Pro-gramms „Altersgerecht Umbauen“ zeigt sich einmal mehr,dass die schwarz-gelbe Bundesregierung ein wohnungs-politischer Totalausfall ist. Selbstverständlich sehen auchwir die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung. Ge-rade weil „nur“ 32 Millionen Euro von 90 Millionen Euroabgerufen wurden, kann mit einem reduzierten Mittelein-satz ein immer wichtiger werdendes KfW-Programm er-halten werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7188 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Inge Höger, Dr. Dietmar Bartsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg schließen
– Drucksache 17/5757 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar folgender Kol-
leginnen und Kollegen: Wolfgang Götzer, Werner
Schieder, Joachim Spatz, Kornelia Möller und Thomas
Gambke.
Seit den 30er-Jahren leben die Menschen in der Re-
gion Siegenburg mit den Belastungen und Risiken, die
der Luft-Boden-Schießplatz mit sich bringt: Unfälle,
teilweise beträchtlicher Lärm und Bodenkontamination
beeinträchtigen die Lebensqualität.
Seit Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit in
den 80er-Jahren ist der Luft-Boden-Schießplatz Siegen-
burg ganz oben auf der Liste der besonders wichtigen
Themen meiner Wahlkreisarbeit. In zahllosen Gesprä-
chen, Briefen, Anfragen, Ortsterminen unter anderem
auch mit dem Parlamentarischen Staatssekretär beim
Bundesministerium der Verteidigung, Christian Schmidt,
kämpfe ich seitdem – gemeinsam mit den Politikern vor
Ort und der Bürgerinitiative – dafür, dass der Bomben-
abwurfplatz geschlossen wird. Dies wurde stets vom
Bundesverteidigungsministerium mit dem Hinweis ab-
gelehnt, dass der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg
militärisch unverzichtbar sei. Daran hat sich übrigens
auch unter der rot-grünen Regierung nichts geändert.
Deshalb habe ich all die Jahre dafür gekämpft, dass
wenigstens die Zahl der Überflüge reduziert wird. Die-
ser Einsatz hat sich gelohnt: Waren es 1993 noch 1741
Flüge pro Jahr, so sank die Zahl der Flüge im Jahr 2000
auf 660 und erreichte schließlich 2009 einen absoluten
Tiefststand von 17 Flügen pro Jahr.
Ein weiterer Erfolg ist, dass im gültigen Nutzungs-
konzept für die beiden Luft-Boden-Schießplätze in
Deutschland – nämlich Siegenburg und Nordhorn – der
geplante Nutzungsumfang und die planerische Ober-
grenze festgelegt sind. Letztere liegt deutlich unter den
Einsatzzahlen der 90er-Jahre. Die tatsächliche Nutzung
in Siegenburg lag in den vergangenen Jahren wiederum
deutlich unter dem geplanten Nutzungsumfang.
Trotzdem bleibt unser Ziel die Schließung des Luft-
Boden-Schießplatzes Siegenburg. Dafür spricht aus
meiner Sicht eine ganze Reihe von Gründen: Praktikabi-
lität, Kosten, Gefährdung und Nutzbarkeit sind hier zu
nennen. Bereits im Jahr 2007 empfahl der Bundesrech-
nungshof der Bundeswehr, die Mitfinanzierung und -nut-
zung des LBS Siegenburg aufzugeben. Vor allem bin ich
aber der Auffassung, dass die Nutzung des Bombenab-
wurfplatzes in Siegenburg aufgrund der veränderten mi-
litärischen Herausforderungen nicht mehr notwendig
ist. Wegen seiner geringen Fläche können auf dem Platz
nämlich nur ungelenkte Waffen eingesetzt und erprobt
werden. Solche werden aber in absehbarer Zeit kaum
noch zum Einsatz kommen. Beispielsweise der Eurofigh-
ter verfügt über solche Waffensysteme schon gar nicht
mehr. Dies ist für mich der entscheidende Punkt, denn
selbstverständlich muss gewährleistet sein, dass unsere
Soldaten und die unserer Verbündeten auf ihre immer
gefährlicher werdenden Einsätze nach wie vor bestmög-
lich vorbereitet werden können. Siegenburg ist dafür
aber nicht mehr erforderlich.
Der Standort Siegenburg wird derzeit im Rahmen der
Bundeswehrreform überprüft. Im Zuge dieser Überprü-
fung finden im Bundesministerium der Verteidigung Un-
tersuchungen zum künftigen Übungsbetrieb der Luft-
waffe statt. Ob und in welchem Umfang die Ergebnisse
dieser Untersuchungen oder die anstehenden Entschei-
dungen zur zukünftigen Struktur der Bundeswehr kon-
krete Auswirkungen auf die Nutzung des Luft-Boden-
Schießplatzes Siegenburg durch die Bundeswehr haben
werden, ist nach Auskunft des BMVg noch nicht abseh-
bar. Im Zuge der Bundeswehrreform muss erst ein si-
cherheitspolitisch unterlegtes Standortkonzept für die
gesamte Bundesrepublik vorliegen, das im Übrigen auch
Nordhorn berücksichtigt. Dieses ist in Kürze zu erwar-
ten. Dieses Konzept wird aus der Sicht des BMVg Aussa-
gen über die Notwendigkeit der weiteren Mitnutzung des
Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg durch die Bundes-
wehr beinhalten und gegebenenfalls Verhandlungen mit
den US-Streitkräften in Deutschland über die Schlie-
ßung des Übungsplatzes zur Folge haben.
Die Siegenburg Range ist den US-Streitkräften gemäß
Art. 48 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut
zur Nutzung überlassen worden und wird von der Bun-
deswehr mitgenutzt. Die Entscheidung zur Beendigung
der militärischen Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes
liegt somit nicht in der alleinigen Zuständigkeit des Bun-
desverteidigungsministeriums. Auf meine kürzliche An-
frage hin hat mir der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt allerdings mitgeteilt, dass die
US-Streitkräfte die militärische Nutzung des Luft-Bo-
den-Schießplatzes aktuell nicht infrage stellen und dass
seitens der USA auch keinerlei Pläne zur Aufgabe des
Dr. Wolfgang Götzer
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Luft-Boden-Schießplatzes existieren. Eine verbindliche
und seriöse Aussage über die Zukunft des Standortes
Siegenburg kann seitens des Bundesverteidigungsminis-
teriums somit zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht getrof-
fen werden.
Gerade jetzt, im Rahmen der umfassenden Bundes-
wehrreform, sind die Chancen für eine Schließung des
Bombenabwurfplatzes so groß wie nie. Deshalb gilt es,
den derzeit im BMVg laufenden Entscheidungsfindungs-
prozess zu einem im Sinne der Menschen in der Region
erfolgreichen Ergebnis zu bringen.
In einem von mir als gewähltem Vertreter des Wahl-
kreises initiierten gemeinsamen Brief mit den ebenfalls
befassten Kollegen von FDP, SPD und Grünen an den
Bundesverteidigungsminister wurden deshalb diesem
nochmals die Gründe, die für die Schließung sprechen,
dargelegt und die Beendigung der Nutzung des Bomben-
abwurfplatzes gefordert. Eine eventuelle Überführung
des Platzes in eine zivile Nutzung muss dem Standort-
konzept der Bundeswehr überlassen bleiben.
Auch die SPD will die Schließung des Luft-Boden-
Schießplatzes Siegenburg, weil sich die Bedingungen für
seine Nutzung über die Jahre grundlegend verändert ha-
ben.
Seit Jahrzehnten steht das Übungsgelände gemäß
Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, Art. 48,
unter hoheitlicher Verwaltung der US-Streitkräfte.
Während die US-Seite ihre Übungen immer mehr redu-
ziert hat – zuletzt nutzten die Amerikaner den Übungs-
platz 2008 –, nutzt nunmehr nur noch die Bundeswehr
das Gelände für Übungsflüge – und das auch nur gele-
gentlich.
Seit Jahren beklagen die Anwohner und die „Bürger-
initiative gegen den Fluglärm e.V.“ in unermüdlichem
Einsatz massivste Fluglärmbelästigung durch den Luft-
Boden-Schießplatz Siegenburg und auch große Umwelt-
gefahren für das anliegende Grundwasserschutzgebiet.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und par-
teiübergreifend alle Kommunalpolitiker verlangen mei-
nes Erachtens zu Recht die Schließung des Militärgelän-
des und die Überführung in eine zivile Verwendung –
siehe Onlineumfrage der „Mittelbayrischen Zeitung“
vom 3. Dezember 2010.
Wiederholt habe ich mich im Verteidigungsministe-
rium für die Schließung des Luft-Boden-Schließplatzes
eingesetzt. Schließlich sprechen auch objektive Gründe
dafür: Der Bundesrechnungshof hat bereits im Jahr
2007 die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die hohen
Unterhaltskosten bemängelt, die in keinem Kosten-Nut-
zen-Verhältnis stehen. Immerhin kostet der Erhalt des
Übungsgeländes mehr als eine halbe Million Euro jähr-
lich.
Besonders bedeutsam ist in meinen Augen aber Fol-
gendes: Auf dem relativ kleinen Übungsgelände ist nur
das Training mit ungelenkten Waffen möglich. Diese
Waffengattung ist aber ein Auslaufmodell angesichts der
Weiterentwicklung zu nur noch ferngelenkten Waffensys-
Zu Protokoll
temen an Bord moderner Kampfjets wie zum Beispiel
dem Eurofighter. Der Zeitpunkt, zu dem die ungelenkten
Raketen nicht mehr eingesetzt werden, ist absehbar, so-
dass die Notwendigkeit eines entsprechenden Übungs-
geländes entfällt.
In einer neuen Initiative habe ich mich nun gemein-
sam mit den regional zuständigen Kollegen von den
Grünen, der FDP und der CSU an den Verteidigungs-
minister de Maizière gewandt und um eine baldige Ent-
scheidung und Klärung bezüglich der Zukunft des Luft-
Boden-Schießplatzes Siegenburg gebeten. Besonders
vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Bundeswehr-
reform das Standortkonzept für die Übungsplätze so-
wieso überarbeitet wird, ist die Chance für eine Schlie-
ßung des Übungsgeländes im Sinne der Menschen vor
Ort äußerst günstig. Voraussetzung ist allerdings, dass
die Bundesregierung in Verhandlungen mit den US-
Streitkräften das alleinige Verfügungsrecht über die Nut-
zung des Militärgeländes in Siegenburg erhält. Deswe-
gen sollte die Bundesregierung unverzüglich in Ver-
handlungen treten. Von amerikanischer Seite wurde mir
signalisiert, dass Gespräche möglich sind. Die Initiative
muss aber von der Bundesregierung kommen.
Nach meiner Überzeugung gibt es keinerlei objektive
oder gute Gründe, die gegen eine Schließung des Luft-
Boden-Schießplatzes Siegenburg sprechen. Die Bundes-
regierung muss jetzt im Sinne der Bevölkerung Konse-
quenzen ziehen.
Der Antrag der Linken ist zwar schön und gut. Wir
von der SPD wollen aber keine Schaufensterpolitik be-
treiben. Wir brauchen vielmehr Unterstützung aus allen
Fraktionen, um die Bundesregierung endlich dazu zu
bringen, dass sie sich bewegt.
Die Belastung von Anwohnern in der Nähe militäri-scher Übungsplätze ist naturgemäß hoch, vor allem auf-grund der im Zusammenhang mit Flugbewegungenentstehenden Lärmbelastung. Vor kurzem hat das Bun-desverteidigungsministerium den Bericht zum Truppen-übungsplatzkonzept für das Jahr 2010 herausgegeben.Diese Aufstellung wird aufgrund einer Entschließungdes Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundesta-ges seit 1992 jährlich vorgelegt und umfasst die an denLuft-Boden-Schießplätzen Wittstock, Nordhorn und Sie-genburg stattgefundenen Flugbewegungen. Insgesamtlag die Anzahl der Einsätze mit Kampfflugzeugen derBundeswehr im Jahr 2010 auf Luft-Boden-Schießplät-zen und Truppenübungsplätzen im Inland mit 320 um74 Einsätze unter der Zahl des Vorjahres. Davon entfie-len 133 Einsätze auf den Übungsplatz Siegenburg, wo-bei die überwiegende Zahl der Übungsflüge auf die Bun-deswehr entfiel. Die Nutzung des SchießplatzesSiegenburg liegt aufgrund eines NATO-Truppenstatutsgrundsätzlich in der Zuständigkeit der US-Streitkräfte.Insgesamt führte die Bundeswehr im Jahr 2010129 Übungsflüge durch, während sich die Nutzungszahlunserer NATO-Partner auf 4 belief.Die militärische Ausbildung und Inübunghaltung derAngehörigen unserer Luftwaffe sowie unserer alliierten
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15798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenJoachim Spatz
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Partner sind dringend erforderlich. Beides stellt eineGrundvoraussetzung dafür dar, dass die Bundeswehr alsInstrument einer umfassend angelegten und voraus-schauenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik einenwesentlichen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes leis-ten kann. Gleiches gilt für unsere NATO-Partner. Hie-raus folgt, dass die Bundeswehr und vor allem auch diefliegende Besatzung in Kampfflugzeugen die Möglich-keiten haben müssen, entsprechend zu trainieren. Diesumfasst auch als wesentlichen Bestandteil einer wirksa-men und am Auftrag orientierten Ausbildung das regel-mäßige Üben von Waffeneinsatzverfahren auf Luft-Bo-den-Schießplätzen im Inland.Sowohl die Interessen der betroffenen Anwohner alsauch die notwendigen Ausbildungsmöglichkeiten derSoldatinnen und Soldaten liegen uns am Herzen. BeideAnliegen stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zu-einander und können nicht einseitig aufgelöst werden. Ineiner solch komplexen Frage gibt es keine einfachen Lö-sungen. Daher müssen wir die Anstrengung unterneh-men, ein für beide Seiten angemessenes Ergebnis zu fin-den.Es spricht für sich, dass die Antragsteller geradenicht um einen solchen Lösungsweg bemüht sind. Statt-dessen fordern die Linken die umgehende Schließungdes Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg. Dies isteine plakative Forderung, die den unrühmlichen Ver-such darstellt, sich bei den vor Ort Betroffenen als Für-sprecher zu gerieren. Auch in diesem Zusammenhangzeigt sich wieder einmal, dass eine ernsthafte Auseinan-dersetzung mit der Linken über verantwortungsvolle Si-cherheitspolitik nicht möglich ist. Wer Auslandeinsätzeunserer Bundeswehr pauschal ablehnt und die Auflö-sung der NATO fordert, der hat auch kein Problem da-mit, Übungsplätze schließen zu wollen. Verantwortungs-volle und realitätsorientierte Politik sieht jedoch andersaus.Wir unterstützen die Bundesregierung ausdrücklichund nehmen ihr Bemühen ernst, bei allen Entscheidun-gen bezogen auf die Nutzung inländischer Truppen-übungsplätze zwischen operationellen Notwendigkeitenfür unsere Bundeswehr auf der einen und den berechtig-ten Interessen der betroffenen Bürger auf der anderenSeite abzuwägen. Wir haben dabei auch in Zukunft vol-les Vertrauen in die Kompetenz des Bundesministeriumsder Verteidigung, den Ausbildungs- und Einsatzflugbe-trieb in dem gerade erforderlichen Maße zu planen, umdamit die Belastungen durch notwendige militärischeFlüge in Deutschland auf das unvermeidbare Maß zubegrenzen und auch weiterhin minimalinvasiv auszuge-stalten.Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr müs-sen weiterhin auch in Deutschland die Möglichkeit ha-ben, sich auf ihre gefährlichen Auslandseinsätze vorzu-bereiten. Schließlich ist ihr Einsatz oftmals mit einerhohen Gefahr für Leib und Leben verbunden und bedarfdeshalb ohne Wenn und Aber einer optimalen Vorberei-tung. Dies muss mit den berechtigen Schutzinteressender Bewohner Hand in Hand geben, und nicht gegenei-nander. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen –Zu Protokollohne dabei die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr oderunserer Partner zu gefährden.
Noch bevor wir hier heute über den Antrag der Lin-ken „Luft-Boden-Schließplatz Siegenburg schließen“debattieren, hat die Linke in Niederbayern, in meinemWahlkreis Landshut/Kehlheim, dafür gesorgt, dass sichder Dauerschläfer Dr. Götzer, seit 20 Jahren direkt ge-wählter Abgeordneter, zumindest ein wenig bewegt. Einwenig, aber immerhin!Der Antrag hätte auch gut ein gemeinsamer Antragaller hier im Bundestag vertretenen Fraktionen seinkönnen. Doch leider ist dieses anfangs gut gestartete ge-meinsame Unterfangen im Interesse von über 40 000bayerischen Bürgerinnen und Bürgern an der Unfähig-keit – nein, an der Unwilligkeit – eines Einzelnen ge-scheitert. Doch dazu später.Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick zu demSachverhalt des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburggeben, sodass jeder sich ein Bild von der Notwendigkeitder Schließung machen kann.Erstmalig genutzt wurde der Platz vor dem ZweitenWeltkrieg. Kurz vor Ende des Krieges wurde auf demPlatz von NS-Soldaten Munition vergraben. Leider sindweder Art, Anzahl noch die genauen Stellen der vergra-benen Munition bekannt. Auch die US-Streitkräfte, de-nen im Rahmen des Zusatzabkommens zum NATO-Trup-pen-Statut in Art. 48 das Gelände zur alleinigen Nutzungüberlassen wurde, haben über Jahre hinweg Müll ver-schiedenster Art auf dem Gelände vergraben. Ganz be-sonders besorgniserregend ist dies vor dem Hinter-grund, dass der Luft-Boden-Schießplatz im DürnbucherForst in einem ausgewiesenen Grundwasserschutzge-biet liegt.Erhebliche Gefahren bestehen durch die gegenwär-tige Nutzung des Platzes:So könnte durch den Absturz eines US-Kampfjets vomTyp F 16 das stark wassergefährdende HydraulikölHydrazin ins Grundwasser einsickern. Auch der von derUSAF geflogene Flugzeugtyp A 10 stellt eine Gefähr-dung dar, weil dieser Typ mit Uran angereicherter Muni-tion, sogenannter DU-Munition, ausgerüstet ist.Das Übungsgelände ist mit 2,6 Quadratkilometernsehr klein, sodass die Jets regelmäßig über Wohngebie-ten fliegen. Es besteht die unmittelbare Gefahr des Ab-sturzes von Kampfjets über den umliegenden Gemein-den. Einer der häufig eingesetzten Jets stürztebeispielsweise im April dieses Jahres in der Eifel nurwenige hundert Meter von einem Wohnhaus entfernt ab.Und noch weitere dauerhafte Gefährdungen und Be-lästigungen gehen vom Übungsgelände aus: BeiÜbungsflügen entsteht für die Anwohnerinnen und An-wohner eine massive Lärmbelästigung, die über 110 De-zibel betragen kann. Von den aus Fluglärm nachweislichhervorgerufenen Gesundheitsgefährdungen und -schä-digungen sind unmittelbar rund 40 000 Menschen be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15799
gegebene RedenKornelia Möller
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troffen – dem Lärm kann man sich nicht einfach entzie-hen.Falls diese Gefahrenargumente noch nicht überzeugthaben, verweise ich gerne noch auf finanzielle Aspekte.Der Bundesrechnungshof empfahl bereits 2007 der Bun-deswehr, die Mitfinanzierung und -nutzung des LBS-Siegenburg aufzugeben: Für jede Nutzung des unter ho-heitlicher Verwaltung der US-Streitkräfte stehenden Ge-ländes sind Gebühren an die US-Regierung zu zahlen.Die Kosten dafür sind in den letzten Jahren ständig ge-stiegen. Laut Bundesverteidigungsministerium ist bis2014 mit Kosten von über 500 000 Euro pro Jahr zurechnen.Doch das schwerwiegendste Argument, diesen An-trag zu unterstützen und mitzutragen, ist, das zu tun, wo-für wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herrn, indieses Hohe Haus gewählt worden sind: die Belange derBevölkerung ernst zu nehmen und ihren Willen umzuset-zen. Und genau das ist es, was wir hier mit unserem An-trag tun.Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der be-troffenen Region sowie eine Reihe von Volksvertreterin-nen und Volksvertreter verschiedener Parteien forderndie umgehende Schließung des Übungsplatzes. So habenbei einer am 3. Dezember 2010 in der MittelbayerischenZeitung durchgeführten Onlineumfrage 86,22 Prozentder Beteiligten für die Schließung des Luft-Boden-Schießplatzes gestimmt, nur 13,78 Prozent waren füreine Beibehaltung, falls die Bundeswehr den Platz nochbenötigen sollte. Das ist ein klares Signal, dem sich nie-mand verschließen kann.Seit 33 Jahren setzt sich die sehr aktive „Bürgerini-tiative gegen den Fluglärm e.V. Siegenburg“ mit Enga-gement und Ideenreichtum für die Belange der Bevöl-kerung vor Ort ein und hat zum Beispiel einNachtflugverbot und ein Flugverbot bei Hochzeiten undBeerdigungen erreicht.Im November letzten Jahres habe ich die BI nach Ber-lin eingeladen, damit sie ihr Anliegen, die Schließungdes LBS, direkt ihren gewählten Volksvertreterinnen undVertretern vortragen konnten. In unserem Fraktionssaaltrafen sich die BI, der Landrat und mehrere Bürgermeis-ter sowie etliche betroffene Bewohnerinnen und Bewoh-nern mit regionalen Bundestagsabgeordneten fast allerFraktionen, auch die Abgeordneten der CSU/CDU wa-ren der Einladung der BI und mir gefolgt. Lediglich dieFDP lies sich entschuldigen. Bei dem konstruktiven undzielführenden Gespräch haben wir uns einvernehmlichdarauf verständigt, gemeinsam und wirkungsvoll dieAnliegen der Bürgerinnen und Bürger umzusetzen undfür die Schließung des LBS zu sorgen.Nachdem ich zum ersten gemeinsamen Treffen einenAntragsentwurf vorgelegt hatte, schien das verabredetegemeinsame Vorgehen aller Fraktionen gut zu laufen.Leider stellte sich bald heraus, dass nicht alle beteilig-ten regionalen Abgeordneten ihre parlamentarischenMöglichkeiten für die Lösung des Problems nutzen woll-ten, so wie sie es den Bürgerinnen und Bürgern verspro-chen hatten.Zu ProtokollSo komme ich nun auf das zurück, was ich zu Anfangmeiner Rede bereits angedeutet habe: Das gemeinsameUnterfangen scheiterte an der Unwilligkeit eines einzel-nen Abgeordneten; denn leider hat sich Herr Dr. Götzervon der CSU gegen die Zusammenarbeit entschieden.Nach über 20 Jahren hohler Phrasendrescherei würdees wohl an ein Wunder grenzen, wenn Herr Dr. Götzersich am Ende doch für die Belange seiner Wählerinnenund Wähler einsetzen würde. So ist es ihm zu verdanken,dass das fraktionsübergreifende gemeinsame Vorgehenkurz vor dem Erfolg noch zum Erliegen kam.Nun aber, aus lauter Angst davor, dass Die Linke miteinem Antrag dem Anliegen der Bürgerinnen und Bürgeraus der Region Rechnung trägt, entschieden sich CSU,SPD, FDP und Grüne dazu, zumindest mit einem Briefans Verteidigungsministerium tätig zu werden. Stattdurch ein gemeinsames parlamentarisches Vorgehen,wie mit allen Fraktionen vereinbart, die Schließung desLBS endgültig zu besiegeln, begnügen sich Grüne, SPD,CSU und FDP damit, einen Bittstellerbrief an den Ver-teidigungsminister zu schicken und auf seine Gutmütig-keit bzw. auf die Bundeswehrreform zu hoffen. Zudembeschränkt sich diese Koalition der Zauderer bei ihrerBitte auf die Beendigung der Nutzung des Bombodromsdurch die Bundeswehr, was soviel heißen würde, dassdie NATO weiterhin auf dem Gelände üben kann. Von ei-ner wirklichen Schließung des LBS – im Sinne der Bür-gerinnen und Bürger – mit einer zivilen Nachnutzungdes Platzes kann dabei keine Rede sein.Aber so, wie die BI den Kampf nicht aufgegeben hat,werde auch ich mich weiter dafür einsetzen, mit Ihnen,meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo-sition und Koalition, an einer gemeinsamen Lösung, aneinem gemeinsamen Antrag zu arbeiten. Vor allem dieKolleginnen und Kollegen von der CSU/CDU lade ichherzlich ein, dem Anliegen ihrer Basis und kommunalerVertreterinnen und Vertreter zu folgen und sich für dieSchließung, aber vor allem für die zivile Nachnutzungdes LBS-Siegenburg, wie in unserem Antrag gefordert,auszusprechen.Die Zeit ist noch nicht abgelaufen; für eine Zusam-menarbeit stehe ich gerne und immer zur Verfügung.
Die Partei Die Linke hat einen Antrag zur Schließungdes Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg in Niederbay-ern, Kreis Kelheim, vorgelegt. Sie fordert die umge-hende Schließung des Platzes und die Zuführung desGeländes in eine zivile Verwendung. So richtig dieGrundrichtung des Antrages ist, umso genauer müssenwir hinschauen, was denn seine eigentliche Zielsetzungist. Und da finden sich Aussagen und Ziele, denen ichund unsere Fraktion so nicht zustimmen können.Ich will an dieser Stelle feststellen: Die Bundeswehrbraucht auch und gerade in Deutschland militärischeÜbungsplätze. Wenn die Linke so tut, als könnten wiralle militärischen Übungsplätze in Deutschland schlie-ßen, so ist dies einfach ein Zeichen von Verantwortungs-und Orientierungslosigkeit. Wenn es bei Einzelnen eine
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15800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15801
Dr. Thomas Gambke
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pazifistische Grundhaltung gibt, wie ich es bei der Kol-legin Möller der Linken vermuten kann, dann respek-tiere ich das, auch wenn ich ihre Auffassung nicht teilenkann. Eine reine Verweigerungshaltung ist schlicht keinLösungsansatz. Vielmehr muss es darum gehen, die Not-wendigkeit zur Bereitstellung benötigter militärischerÜbungsplätze mit den Erfordernissen einer möglichstgeringen Belastung der Natur und der Menschen zu ver-binden. Es darf nicht sein, dass die Belastungen durchden militärischen Übungsbetrieb an eine andere Stelleverlagert werden. Deshalb ist auch im vorliegenden Falldes Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg eine Abwä-gung vorzunehmen.Wie ist die Sachlage? Der Luft-Boden-SchießplatzSiegenburg hatte lange Zeit eine wesentliche Bedeutungfür die Ausbildung der Luftwaffe und war als solcher fürdie Bundeswehr unverzichtbar. Die intensive Nutzungwar durch in der Spitze 1 741 Übungsflüge im Jahr 1993gekennzeichnet. Dabei war aufgrund der geringen Flä-che des Übungsplatzes die Belastung für die umliegendeBevölkerung ungleich höher als an anderen Luft-Boden-Übungsplätzen. So verfügt der Platz Siegenburg nurüber eine Fläche, die etwa 12 Prozent der Größe desÜbungsplatzes in Nordhorn ausmacht. Auch amerikani-sche Luft-Boden-Übungsplätze sind wesentlich größerund vor allem in weitgehend menschenleeren Gebieten.Auch deshalb ist die Nutzung des Luft-Boden-Schieß-platzes Siegenburg durch die US-Streitkräfte fast völligzum Erliegen gekommen.Nicht zuletzt durch die hohe Belastung des Umlandsbildete sich in Siegenburg eine breite Bürgerbewegung,die sich für die Verminderung der Lärmemissionen ein-setzte. Die Bürgerbewegung mündete in einen Verein:„Bürgerinitiative gegen den Fluglärm e.V. Siegenburg“.Die Initiative hatte dabei nie das Ziel der Schließung desPlatzes. Vielmehr ist das Ziel des Vereines die Förde-rung des Natur- und Umweltschutzes. Gemäß Vereins-satzung soll dies erreicht werden mit einer Reduzierungder Abgas- und Lärmwerte, die durch militärische Flug-bewegungen rund um den Luft-Boden-Schießplatz Sie-genburg verursacht werden. Weiterhin sind die För-derung von spezifischen Naturschutzprojekten undLandschaftsschutzgebieten in der Vereinssatzung festge-schrieben, wie sie noch im Februar 2010 mit breiterMehrheit von den Vereinsmitgliedern bestätigt wurde.In den Jahren 2006 bis 2009 hatte die Zahl derÜbungsflüge am Luft-Boden-Schießplatz Siegenburgdeutlich abgenommen. Seit 2007 waren es deutlich unter100 Übungseinsätze pro Jahr. Damit waren die Ziele derBürgerinitiative im Prinzip erreicht. Vor drei Jahren hatdazu der Bundesrechnungshof festgestellt, dass das Nut-zen-Kosten-Verhältnis eine Weiternutzung des Platzesnicht sinnvoll erscheinen lässt. Und im Konzept für dieNutzung der Luft-Boden-Schießplätze in der Bundes-republik Deutschland von 2008, zwar „VS – Nur für denDienstgebrauch“ gekennzeichnet, aber im Internet ver-fügbar, heißt es zum Luft-Boden-Schießplatz Siegenburgwörtlich:Er ist … aufgrund seiner geringen Größe aus-schließlich für den Einsatz ungelenkter Abwurf-munition bei Tag aus dem Geradeaus- und Sinkfluggeeignet. Er ist nicht an das Nachttiefflugsystemangebunden und liegt nicht in räumlicher Nähe zueinem für militärische Übungen geeigneten reser-vierten Luftraum. Das Einsatzverfahren „LOFT“,das Schießen mit Bordkanone sowie Übungsein-sätze bei Nacht sind dort nicht möglich …Durch die geringe Größe des Platzes und die Näheder umliegenden Gemeinden ist die Belastungdurch den Übungsflugbetrieb hoch.Dem ist nichts hinzuzufügen.In mehreren Initiativen habe ich versucht, die nied-rige Zahl von Übungsflügen festschreiben zu lassen. DasVerteidigungsministerium wollte eine solche Aussagebislang allerdings nicht abgeben. Im Mai 2011 verwiesStaatssekretär Schmidt auf die gerade laufenden Unter-suchungen und Festlegungen im Rahmen der sogenann-ten Bundeswehrstrukturreform. Das Ergebnis wurde unsfür Herbst dieses Jahres zugesagt.So habe ich diese Woche in einem gemeinsamen Briefmit den Abgeordneten Dr. Götzer, CSU, WernerSchieder, SPD, und Horst Meierhofer, FDP, den Vertei-digungsminister gebeten, nunmehr Stellung zur weiterenVerwendung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburgzu nehmen. Gleichzeitig haben wir unsere wohlbegrün-dete Forderung vorgetragen, die Nutzung des Platzes alsLuft-Boden-Schießplatz endgültig aufzugeben. Wir sindder Auffassung, dass eine Nutzung des Platzes in derGrößenordnung von 100 Überflügen nicht die Bereit-stellung einer Infrastruktur mit Kosten von einer halbenMillion Euro im Jahr rechtfertigt, besonders nicht inVerbindung mit der sehr beschränkten Eignung des Plat-zes sowie seiner geringen Größe und der damit verbun-denen hohen Belastung für die anliegende Bevölkerung.Wenn es weiterhin im Rahmen der Bundeswehrstruktur-reform keine vernünftige Verwendung des Platzes gebensollte, ist der Platz einer zivilen Nutzung zuzuführen. Esist selbstverständlich, dass damit die Bereinigung desPlatzes von möglichen Altlasten aus der Nutzungszeitals Luft-Boden-Schießplatz verbunden sein muss.Ich setze auf den Dialog mit dem Verteidigungsminis-terium und erwarte nunmehr die angekündigte, substan-zielle und begründete Aussage zur weiteren Verwendungdes Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg. Dafür willund werde ich mich mit allen mir zur Verfügung stehen-den Mitteln einsetzen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5757 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 24:Beratung des Antrags der Abgeordneten BettinaHerlitzius, Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFlächenverbrauch wirkungsvoll reduzieren– Drucksache 17/6502 –
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15802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen, und zwar der folgendenKolleginnen und Kollegen: Peter Götz, Ulrich Lange,Hans-Joachim Hacker, Rita Schwarzelühr-Sutter, PetraMüller, Heidrun Bluhm und Bettina Herlitzius.
Mit dem vorliegenden, von Ideologie geprägten An-
trag der Grünen wird das untaugliche Ziel aus der so-
zialistischen Mottenkiste der 70er-Jahre des vorherigen
Jahrhunderts verfolgt, über eine Flächenverbrauchsab-
gabe das Bauen zu verteuern. Abgesehen davon, dass
dies nur mit einem neuen bürokratischen Monster zu be-
wältigen wäre, ist es der falsche Weg.
Bereits die im Länderwettbewerb rot-grüner oder rot-
roter Landesregierungen nach oben gepuschte Grunder-
werbsteuer verteuert das Wohnen unangemessen und
bremst die von allen erwartete Mobilität.
Den Kommunen sollen nach dem Grünen-Antrag Flä-
chenausweisungsrechte zugestanden werden. Von wem
denn? Vom Bund? Von den Ländern? Wollen Sie damit
eine neue „Flächenausweisungsrechtebehörde“ schaf-
fen? – Wir haben einen anderen Ansatz:
Wir wollen die kommunale Planungshoheit weiter
ausbauen, damit die Gemeinden eigenverantwortlich
ihre kommunale Planung steuern können. Die kommu-
nalen Mandatsträger vor Ort wissen am besten, wie sie
die Zukunft ihrer Gemeinde gestalten. Dazu bedarf es
keiner Bevormundung aus Berlin.
Auch für uns sind die Stärkung der Innenentwicklung
und das Flächensparen wichtig. Deshalb werden wir das
Baurecht im zweiten Teil der Novelle zum Baugesetz-
buch, BauGB, in diese Richtung konsequent weiterent-
wickeln.
Ich erinnere daran, dass das zuständige Bundes-
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vor
einem Jahr einen bundesweiten öffentlichen Beteili-
gungsprozess zur Erarbeitung eines „Weißbuchs Innen-
stadt“ durchgeführt hat, der zu Recht hohe Anerkennung
erhielt.
Für uns sind Innenstädte und Ortskerne die Schlüs-
selfaktoren für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Des-
halb muss es um die Frage gehen, wie wir die Innenent-
wicklung erleichtern und attraktiver machen können.
Neue Strafsteuern und Abgaben für Flächeninanspruch-
nahme sind der falsche Weg. Sie sind investitionshem-
mend und führen zu keiner wirklichen Stärkung der In-
nenentwicklung.
Und wenn, wie im Antrag der Grünen vorgesehen, neue
kommunale Aufgaben wie „Nachweispflichten für Innen-
entwicklungspotenziale“, „verpflichtendes Flächenmoni-
toring“ oder die bei der letzten Novelle zum BauGB abge-
schaffte „Revisionspflicht für Flächennutzungspläne“
erfunden werden, so sind dies bestenfalls Beschäftigungs-
programme für Städteplaner, die von den Kommunen zu
bezahlen sind. Sie tragen weder zum Bürokratieabbau bei
noch sind sie als Zwangsvorgabe zielführend. Die Städte
und Gemeinden sehen sehr wohl selbst, wie und an wel-
cher Stelle sie die Entwicklung ihrer Kommunen verän-
dern. Dazu bedarf es keiner bevormundenden „Zwangsbe-
glückung“ aus Berlin.
Unabhängig davon, haben wir nach der Föderalis-
musreform I zu Recht im Grundgesetz verankert, dass
der Bundesgesetzgeber den Gemeinden keine neuen Auf-
gaben mehr übertragen darf. Schon allein deshalb kann
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag der Grü-
nen nicht zustimmen.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir den Ge-
staltungsspielraum kommunaler Selbstverwaltung und
die kommunale Planungshoheit erweitern können. Die
anstehende Novelle zum BauGB bietet dafür eine Reihe
von Möglichkeiten, die wir gemeinsam angehen sollten:
So wollen wir die im ersten Teil der BauGB-Novellie-
rung zurückgestellte Bestimmung des § 136, die Klima-
schutz- und Klimaanpassung im Rahmen der städtebau-
lichen Sanierung beinhaltet, als wichtiges neues
Element der Innenentwicklung den Kommunen anbieten.
Zusammen mit dem ebenfalls neuen, jährlich mit
92 Millionen Euro ausgestatteten Programm „Energeti-
sche Stadtsanierung“ kann die energetische Bilanz in
Stadtquartieren verbessert werden. Dies sind wesentli-
che Beiträge zur qualitativen Stärkung der Innenent-
wicklung.
Auch werden wir darüber hinaus die klassische Städ-
tebauförderung, die in diesem Jahr ihr 40-jähriges Be-
stehen feiert, auf hohem Niveau fortsetzen und weiter-
entwickeln.
Wie Sie sehen, verfolgen wir den Ansatz, Fehlent-
wicklungen auf der „Grünen Wiese“ nicht mit neuen
Steuern und Abgaben, sondern mit Anreizen entgegenzu-
wirken. Wir trauen den Menschen, die vor Ort in den
Städten und Gemeinden kommunalpolitische Verantwor-
tung tragen, sei es als Oberbürgermeister, Bürgermeis-
ter oder als Rat in den kommunalen Parlamenten, zu,
selbst zu entscheiden, was für ihre Kommune gut ist, und
welche planerische Entwicklung sie gehen wollen. Wir
sollten darauf verzichten, sie ständig bevormunden zu
wollen. Vielmehr wollen wir ihnen helfen, nicht nur im
planerischen Bereich, sondern auch finanziell.
Wir wollen die kommunale Selbstverwaltung stärken.
Deshalb entlasten wir in den nächsten Jahren durch
schrittweise Übernahme der Kosten für die Grundsiche-
rung im Alter die kommunalen Haushalte in den Städten,
Gemeinden und Kreisen in Milliardengrößenordnungen.
Das hilft den Kommunen mehr als neue Bürokratie.
Heute befassen wir uns mit dem Antrag der Grünen
„Flächenverbrauch wirkungsvoll reduzieren“. Lassen
Sie mich aber zuerst klarstellen: Sprachlich korrekt
müssen wir von Flächeninanspruchnahme reden, da die
Ulrich Lange
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Fläche nicht verbraucht, sondern durch eine neue Nut-
zung in Anspruch genommen wird. Man versteht darun-
ter die Umwandlung von bisher vor allem landwirt-
schaftlich genutzten, aber auch naturbelassenen Flächen
in Siedlungs- und Verkehrsfläche. Gemeint ist bei der
Flächeninanspruchnahme der Verlust von landwirt-
schaftlicher Nutzfläche oder natürlichen Lebensräumen.
Diese Flächen werden für Wohnen, Straßen oder Ge-
werbe genutzt.
Der als gleitender Vierjahresdurchschnitt berechnete
tägliche Flächenzuwachs hatte zwischen 1997 und 2000
noch 129 Hektar betragen. Ziel der nationalen Nachhal-
tigkeitsstrategie der Bundesregierung war und ist es, die
tägliche Inanspruchnahme neuer Siedlungs- und Ver-
kehrsflächen bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar pro Tag
zu reduzieren. In den Jahren 2001 bis 2005 sank der Flä-
chenzuwachs auf 115 Hektar bzw. 114 Hektar und redu-
zierte sich im Vierjahresdurchschnitt zwischen den Jah-
ren 2006 bis 2009 weiter auf 94 Hektar pro Tag. Damit
verlangsamte sich die Flächeninanspruchnahme für
Siedlungs- und Verkehrszwecke in den letzten Jahren
sehr deutlich.
Wenn ich jetzt die Jahre mit den jeweiligen Werten
vergleiche, stelle ich fest, meine lieben Grünen, dass die
Flächeninanspruchnahme während Ihrer Regierungs-
zeit mit der SPD im Vergleich zu 1997 leicht zurückge-
gangen ist. Aber erst nach Ihrer Regierungszeit ist die
Flächeninanspruchnahme drastisch gesunken. Wie so
häufig erheben Sie als Opposition Forderungen, um die
Sie sich als Regierungspartei in keiner Weise gekümmert
haben. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit. Aber den-
noch ist die heutige Debatte zu begrüßen. Sparsamer
Umgang mit Grund und Boden – Minderung der Flä-
cheninanspruchnahme für Siedlungen und Verkehr im
Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie ist wichtig und
von der Bundesregierung und unserer Fraktion gewollt.
Wenn ich mir aber Ihre Forderungen ansehe, muss
ich leider sagen, dass Ihre „Erziehungskonzepte“ im
Großen und Ganzen nur auf Bestrafung hinauslaufen,
ohne dass ein wirklich positiver Aspekt zu erwarten ist.
Vorschläge, die die Außenentwicklung gegenüber der
jetzigen Rechtslage schwieriger gestalten, wirken ledig-
lich investitionshemmend, führen aber zu keiner tatsäch-
lichen Stärkung der Innenentwicklung. Dies gilt zum
Beispiel für die Vorschläge zu § 35 BauGB, Außenbe-
reich, und zur Verankerung eines Nachhaltigkeits- und
Demografiechecks.
Die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme ist
ein wesentliches Teilziel einer nachhaltigen Raument-
wicklung, aber nicht das einzige. Eine sachgerechte Um-
setzung dieses Teilziels kann nicht einseitig zulasten an-
derer Nachhaltigkeitsziele erfolgen, wie etwa der
Sicherung wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandorte und
einer angemessenen Wohnungsversorgung. Auch dies
muss berücksichtigt werden.
Was können wir machen? Welche Maßnahmen sind
sinnvoll? Ich möchte einige Schwerpunkte von einer
Kette vieler kleiner Detailmaßnahmen aufführen: Ers-
tens vorrangige Ausrichtung der Siedlungsentwicklung
am Bestand durch Nutzung von Baulücken, Baulandre-
Zu Protokoll
serven, Brachflächen und Möglichkeiten der Verdich-
tung, Vorrang der städtebaulichen Innenentwicklung vor
der Außenentwicklung; zweitens Vermeidung einer flä-
chenhaften Zersiedelung durch Konzentration der Sied-
lungstätigkeit in zentralen Orten, Entwicklungsachsen
und in Siedlungsschwerpunkten; drittens Sicherung aus-
reichender Freiräume zum Schutz der ökologischen Res-
sourcen und für Zwecke der Erholung sowie Vorhaltung
von Flächen für land- und forstwirtschaftliche Nutzun-
gen, den vorbeugenden Hochwasserschutz und die Nut-
zung regenerativer Energiequellen; viertens Vermei-
dung der Inanspruchnahme von Böden mit besonderer
Bedeutung für den Naturhaushalt sowie für landwirt-
schaftliche Nutzungen.
Fünftens. Zur Stärkung der Innenentwicklung gilt es,
die bestehenden Planungsinstrumente der Raumord-
nung, die Möglichkeiten der Bauleitplanung und Fach-
planung aber auch informelle Instrumente und Verfah-
ren verstärkt zu nutzen durch sechstens die Präzisierung
flächensparender Vorgaben in den Raumordnungsplä-
nen, siebtens den Abbau von Hemmnissen der Innenent-
wicklung, achtens die Bestandsmobilisierende Stadtent-
wicklung, neuntens die Vereinfachung von Entwick-
lungsmaßnahmen im Innenbereich und zehntens den
Ausbau des Flächenmonitorings.
Die Bundesregierung wird deshalb demnächst den
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwick-
lung in den Städten und Gemeinden vorlegen. Vorgese-
hen ist damit zum Beispiel eine Flexibilisierung des
§ 17 BauNVO, Erleichterung bei der Überschreitung
der Maßobergrenzen; zudem soll die Bodenschutzklau-
sel des § 1 a Abs. 2 BauGB präzisiert, die Ausübung des
Vorkaufsrechts zugunsten Dritter erweitert und das
Rückbaugebot weiterentwickelt werden.
Politische Zielsetzung ist es, die Innenentwicklung zu
erleichtern und attraktiver zu machen. Je besser es ge-
lingt, den künftigen Bedarf im Wege der Innenentwick-
lung zu befriedigen, desto eher ist es gerechtfertigt, die
Inanspruchnahme neuer Flächen einzuschränken. Auch
für die Minderung der Flächeninanspruchnahme sind
die Planungsinstrumente der Raumordnung, die Mög-
lichkeiten der Bauleitplanung und Fachplanung aber
auch informelle Instrumente und Verfahren zu nutzen.
Jeden Tag werden in Deutschland Flächen in derGröße von mehr als 130 Fußballfeldern verbaut. Dassind nicht nur Straßen und Wege, sondern auch Wohn-häuser, Gewerbe- und Industriegebäude. Was auf dereinen Seite die wirtschaftliche Kraft unseres Landessymbolisiert, hat auf der anderen Seite jedoch Auswir-kungen auf Natur und Umwelt. Insbesondere die Land-wirtschaft hat unter dem Verlust wertvoller Kulturbödenzu leiden. Die zunehmende Versiegelung von Flächenhat Folgen für die natürliche Verdunstung und stört dieVersickerung von Regenwasser. Auch dies trägt zuHochwasser bei, führt dazu, dass sich weniger Grund-wasser neu bildet, und hat damit ganz konkrete Auswir-kungen auf das lokale Klima.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15803
gegebene RedenHans-Joachim Hacker
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Es war deshalb bereits das Ziel der rot-grünen Bun-desregierung, den täglichen Flächenverbrauch inDeutschland deutlich zu reduzieren. Danach sollten bis2020 weniger als ein Drittel der heute täglich ver-brauchten Fläche in Anspruch genommen werden: nurnoch 30 Hektar pro Tag. Dies war ein ambitioniertesZiel und ist auch heute Teil der Nachhaltigkeitsstrategieder Bundesregierung – zugleich ist es nicht unumstrit-ten. So kritisieren nicht nur Wohnungsunternehmen,sondern auch der Städte- und Gemeindebund das Re-duktionsziel.Mit dem Gesetz zur Erleichterung von Planungsvor-haben für die Innenentwicklung der Städte haben wir inZeiten der Großen Koalition bereits konkrete Beschlüsseim Interesse der Reduzierung des Flächenverbrauchsgefasst. Dadurch kann im städtischen Bereich schnellund unbürokratisch bei Investitionsvorhaben gehandeltwerden, um die Planungen vor allem auf die Innenent-wicklung zu konzentrieren und eben nicht auf die „grüneWiese“. Ausdrückliches Ziel dieses Gesetzes ist es, dieInanspruchnahme von Flächen außerhalb des bereitsbesiedelten Raumes zu mindern. Wer auf der „grünenWiese“ bauen will, muss dagegen zunächst eine einge-hende Umweltprüfung für das Vorhaben durchlaufen.Ziel des Gesetzes ist es, dass brachliegende innerstädti-sche Grundstücke wieder nutzbar gemacht werden. Dasdient auch dem Prozess eines sinnvollen Umbaus vonStadtquartieren, die damit besser erhalten, erneuert undweiterentwickelt werden können.Es war für uns als SPD-Bundestagsfraktion ein gro-ßer Erfolg, dieses Gesetz mit auf den Weg gebracht zuhaben und einen konkreten Beitrag zur Senkung der Flä-cheninanspruchnahme zu leisten. Dieser Ansatz mussauch bei der bevorstehenden Novelle des Baugesetzbu-ches weiterverfolgt werden, im Interesse der Stärkungder Innenstädte und der Reduzierung des Flächenver-brauches.Die Länder und Kommunen stehen in der Frage derFlächeninanspruchnahme besonders in der Verantwor-tung. Wir Sozialdemokraten haben deshalb vorgeschla-gen, in einem Pilotverfahren das Konzept von Flächen-zertifikaten zu erproben. Die Kommunen könnenFlächenzertifikate erhalten, nachdem eine Verständi-gung auf Obergrenzen für jährliche Siedlungsauswei-tungen erfolgt ist. Diese Flächenzertifikate können dieKommunen dann untereinander handeln. Aber auchdiese Obergrenze muss jedes Jahr sinken, um den Flä-chenverbrauch nachhaltig zu reduzieren. Ein solchesKonzept kann nur gemeinsam mit den Kommunen, nichtgegen sie gelingen. Deshalb ist hier noch Überzeu-gungsarbeit notwendig.Erinnert sei daran, dass auf Länderebene kontroversüber das Thema debattiert wird. Auf der für Raumord-nung zuständigen Ministerkonferenz wurde 2010 enga-giert über eine gemeinsame Positionierung gerungenund immerhin in vier Punkten ein Konsens erreicht.Demnach befürworten die Länder, die Nachfrage nachneuen Flächen künftig stärker auf besiedelte Flächen zulenken, die Erfassung der Flächeninanspruchnahmestärker an der tatsächlichen Umwidmung, VersiegelungZu Protokollund Zerschneidung von Landschaften zu orientieren undvorhandene Planungsinstrumente konsequenter anzu-wenden. Dagegen wurde der Vorschlag interkommunalhandelbarer Flächenausweisungsrechte abgelehnt.Ich möchte deshalb die Koalition an ihren Koalitions-vertrag erinnern, in dem sie versprochen hat,einen Modellversuch zu initiieren, in dem Kommu-nen auf freiwilliger Basis ein überregionales Han-delssystem für die Flächennutzung erproben.Dies sollte auch nach der Positionierung der Länder auffreiwilliger Basis möglich sein. Die für Raumordnungzuständigen Landesminister haben sich – ausdrücklichals Ergänzung zu dem im Koalitionsvertrag genanntenModellvorhaben – für ein weiteres Modellvorhaben zurMöglichkeit des interkommunalen Austauschs von Flä-chenreserven und der Option zu Neuausweisungen aus-gesprochen. Auch hier warten wir auf entsprechende Ak-tivitäten der Bundesregierung.Wir sollten dabei auch auf die Ergebnisse des Tech-nikfolgenabschätzungsprojektes „Reduzierung der Flä-cheninanspruchnahme – Ziele, Maßnahmen, Wirkun-gen“ zurückgreifen. Der entsprechende Bericht wurdeuns Anfang 2007 übergeben. Demnach hält das Büro fürTechnikfolgenabschätzung die planungsrechtlichen In-strumente zur Reduzierung der Flächeninanspruch-nahme für ausreichend und geeignet, empfiehlt aber ei-nige Ergänzungen für das Bauen im Außenbereich,Änderungen bei der Gültigkeitsdauer von Bauleitplänenund bei Mindestdichten für Baugebiete und schlägtschließlich eine Reform der Baunutzungsverordnungvor. Ziel ist es dabei, Nutzungsmischungen zu erleich-tern. Auf der fiskalischen Seite werden eine Diskussionüber Reformen bei Grundsteuer, Gewerbesteuer undGrunderwerbssteuer empfohlen, andererseits auch neueAbgaben für Neuerschließungen, Baulandausweisungenund Bodenversiegelungen. Entscheidend bleibt nach An-sicht der Technikfolgenabschätzer die freiwillige inter-kommunale Kooperation, bei der die Position der Kom-munen gestärkt werden muss.Als Bund können und müssen wir ganz konkret unsereBeiträge leisten: mit einer entsprechenden Wohneigen-tumsförderung, die den Erwerb von Bestandsgebäudenfördert oder den Neubau auf Brachflächen bevorzugt,sowie mit einer gestärkten Städtebauförderung mit denSchwerpunkten Altbauförderung und von Gebieten mithohen Leerständen. Gerade bei der Städtebauförderungist durch die aktuelle Bundesregierung in den letztenJahren durch die verheerende Kürzungspolitik viel zer-stört worden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Flä-cheninanspruchnahme, weil nicht die notwendigen Im-pulse für die Innenentwicklung gegeben wurden.Es ist auch unverständlich, dass die Bundesregierungdie Vorschläge in dem von ihr in Auftrag gegebenenGutachten zur Altschuldenproblematik in den neuenLändern nicht aufgreift. Danach werden konkrete Emp-fehlungen unterbreitet, die Entlastung der ostdeutschenWohnungsunternehmen von Altschulden – im wesentli-chen im Plattenbaubestand – direkt mit dem Erwerb vonImmobilienbeständen im Innenbereich der Städte zu ver-
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15804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenHans-Joachim Hacker
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binden. Das würde einen direkten Beitrag zur Aufwer-tung des Innenbereiches leisten und über Rückbau einenBeitrag zur Reduzierung des Flächenverbrauches brin-gen.Wir werden die Vorschläge der Länder und Kommu-nen zusammen mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungdiskutieren. Uns eint das Ziel, den zunehmenden Flä-chenverbrauch weiter zu begrenzen. Dabei sollten wirjedoch nicht neue bürokratische Hürden errichten. Einüberzogener Bürokratismus wird uns an dieser Stellenicht weiterhelfen. Viele in dem Antrag der Fraktion ge-nannten Vorschläge wurden in der Vergangenheit bereitsdiskutiert. Jetzt muss es darum gehen, geeignete undpraktikable Instrumente zu finden, wie in Deutschlanddie Flächeninanspruchnahme tatsächlich reduziert wer-den kann. Das Patentrezept hat dafür noch niemand ge-funden. Eine gemeinsame Diskussion zwischen Bund,Ländern und Kommunen lohnt sich zu diesem Themaaber allemal, um sich am Ende mindestens im Konsensauf die Umsetzung und Bewertung der bereits angedach-ten Modellvorhaben zu verständigen – und dies nochmöglichst vor dem Jahr 2020.
In Europa wird in jedem Jahr für den Siedlungsneu-bau, für Gewerbegebiete und Infrastrukturmaßnahmeneine Fläche verbraucht, die der Größe Berlins ent-spricht. Auch in Deutschland verharrt der tägliche Flä-chenverbauch auf einem hohen Niveau. Ein Ziel derdeutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist es, bis 2020 dentäglichen Flächenverbrauch auf maximal 30 Hektar zureduzieren. Dieses Ziel werden wir mit Sicherheit ver-passen, wenn wir nicht gegensteuern. Die Diskussionum die nachhaltige Entwicklung ist kein Selbstzweck. Esgeht darum, die vorhandenen Ressourcen so einzuset-zen, dass nachfolgenden Generationen ein angemesse-ner Handlungsspielraum bleibt.Die Ursachen für den Flächenverbrauch sind über-einstimmend erkannt. Nun müssen wir den Mut aufbrin-gen, effektiver zu handeln und die Vorgaben der Nach-haltigkeitsstrategie ernsthaft anzugehen.Es ist richtig, dass wir insbesondere intakte und vorallem leistungsfähige Böden ins Zentrum einer vorsor-genden Stadt- und Regionalpolitik stellen, wie es dieGrünen in ihrem Antrag fordern. Das bedeutet in derKonsequenz aber auch, dass wir die potenziellen Kom-pensationsflächen, die wir für Flächeninanspruch-nahme zukünftig nutzen wollen, anhand modifizierterBewertungskriterien auswählen sollten. Meiner Auffas-sung nach sollten Ausgleichsflächen zukünftig und inerster Linie nach ihrer ökologischen Wertigkeit ausge-sucht werden. Wir sollten vorrangig die ökologischwertvollsten Flächen und nicht die produktivsten alsAusgleichsflächen nutzen. Die SPD setzt sich dafür ein,dass die Flächeninanspruchnahme in Deutschland nichteinseitig die Landwirtschaft belastet. Wir müssen alleberechtigten Flächennutzungsinteressen abwägen. VorOrt müssen Lösungen gefunden werden, die niemandeneinseitig belasten.Zu ProtokollIn diesem Zusammenhang müssen wir uns auch kri-tisch mit den zusätzlichen Anforderungen auseinander-setzen, die sich aus dem Ausbau der erneuerbaren Ener-gien ergeben. Wenn ich so manche Mitteilung zumThema Biomasseproduktion lese, kann ich mich nichtdes Eindrucks erwehren, dass mancher Hektar wertvol-len Acker- oder Grünlandes schon mehrmals als poten-zielle Anbaufläche für Energiepflanzen verrechnetwurde. Es muss aber klar sein, dass die Fläche, die dielandwirtschaftlichen und Forstbetriebe für die Ener-giewende zur Verfügung stellen können, begrenzt bleibt.Bereits heute werden knapp 18 Prozent der landwirt-schaftlichen Nutzfläche für den Anbau nachwachsenderRohstoffe genutzt. Das heißt aber auch: Wir benötigeneine nachhaltige Biomassestrategie. Diese muss selbst-verständlich die Interessen des Naturschutzes berück-sichtigen.Wir dürfen nicht zulassen, dass wir weiterhin wert-volle Flächen durch die Ausweisung von Baugebietenund Infrastrukturflächen versiegeln und damit dem Na-turkreislauf wie auch der Landwirtschaft entziehen. Wirmüssen aufpassen, dass durch einseitige Überförderungbestimmter Produktionsrichtungen nicht weitere Flä-chen für die erforderliche Nahrungsmittelproduktionverloren gehen. Das führt zwangsläufig auch zu struktu-rellen Brüchen im land- und forstwirtschaftlichen Be-reich. Das müssen wir im Interesse unserer leistungsfä-higen Land- und Ernährungswirtschaft vermeiden.Ich schließe mich daher ausdrücklich der Forderungdes Deutschen Bauernverbands und des Bundes für Um-welt und Naturschutz in Deutschland an, die in seltenerÜbereinstimmung fordern, dass die Prinzipien „Innen-entwicklung vor Außenentwicklung“ und „Ausbau vorNeubau“ und die Stärkung des Grundsatzes der Flä-chenschonung gelten müssen. Dies sollte sowohl für denWohnungsbau als auch für Industriegebiete gelten.Das heißt, dass die zukünftige Stadtentwicklung wei-testgehend eine Entwicklung im Bestand sein wird.Brachgefallene oder mindergenutzte Flächen in Städtenund im ländlichen Raum müssen revitalisiert werden. Ge-meinden brauchen dafür wirkungsvolle Instrumente, umdiese Strategie umzusetzen. Wir wollen Kommunen in dieLage versetzen, zu prüfen, ob tatsächlich neue Bauvorha-ben und Flächenausweisungen erforderlich sind. Dafürwollen wir mehr Mittel im Rahmen der Städtebauförde-rung einsetzen.Wir benötigen aktuelles Datenmaterial zum Flächen-verbrauch auf kommunaler Ebene. Nur mit exakten Da-ten können Kommunen Flächennutzungsmöglichkeitenin ihrem Gebiet besser kontrollieren und ein gutes Flä-chennutzungsmonitoring betreiben.Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwick-lung in Dresden weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass die Zahl von 100 Hektar, die täglich versiegeltwerden, keine präzise Zahl darstellt. Die amtliche Flä-chennutzungsstatistik, die auf Einträgen in den Liegen-schaftsbüchern basiert, gibt den Flächenverbrauchnicht ganz genau wieder. Teilweise sind die Angaben imLiegenschaftskataster veraltet. Dies macht sich vor al-lem bei großflächigen Renaturierungs- und Straßenbau-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15805
gegebene RedenRita Schwarzelühr-Sutter
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projekten bemerkbar. Die Folge: Die Einhaltung des2020-Ziels kann auf diese Art nicht exakt gemessen wer-den.Die Verantwortlichen des Leibniz-Institutes schlagendaher vor, ihr IÖR-Monitor zu Grundlage der Berech-nung zu machen. Der regelmäßig aktualisierte IÖR-Mo-nitor liefert Informationen zur Flächenstruktur und de-ren Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschlandauf der Grundlage des amtlichen topografisch-karto-grafischen Informationssystems. Die Berechnungs-grundlage sind genaueste topografische Geodaten. DieEntscheidungsträger auf kommunaler Ebene erhaltenInformationen für ein besseres Flächennutzungsmonito-ring. Die Kommunen sind aufgefordert, sich dieses In-struments zu bedienen.Die SPD unterstützt die Ziele der Nachhaltigkeits-strategie. Dabei müssen wir auch ein Hauptaugenmerkauf die Sicherung wertvoller Produktionsflächen für dieNahrungs- und Energiepflanzenproduktion legen.
In Ihrem Antrag monieren Bündnis 90/Die Grünen,dass Deutschland noch weit vom 30-Hektar-Ziel beimtäglichen Flächenverbrauch entfernt sei. Das stimmt.Sie verschweigen aber auch, woher wir bei der Umwid-mung von Freiflächen in Siedlungs- und Verkehrsflä-chen kommen: Seit 2004 nimmt diese Quote Jahr fürJahr ab. Lag sie vor sieben Jahren noch bei etwa140 Hektar pro Tag, sank sie 2005 auf knapp unter120 Hektar, 2006 auf rund 100 Hektar, 2007 auf 96 Hek-tar. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lagdie Quote für 2008 bei 78 Hektar pro Tag und erreichtedamit einen vorläufigen Tiefpunkt. Wir sind uns einig,dass diese starke Absenkung im Jahr 2008 vor allemFolge der konjunkturellen Schwäche infolge der welt-weiten Banken- und Immobilienkrise war. Trotzdembleibt festzuhalten, dass seit Einführung des 30-Hektar-Ziels im Jahre 2002 Erfolge zu verzeichnen sind und einzunehmendes Bewusstsein für die ökologischen, sozialenund kulturellen Gefahren der Flächenzersiedlung ge-schaffen wurde.In themenangemessener Abwandlung des Bildes istfür uns Liberale das Glas daher bereits halb leer undnicht mehr halb voll. Wir sind auf dem richtigen Wegund halten am Ziel des kontinuierlich geringeren Flä-chenverbrauchs fest. Daher bedeutet Ihre Aufforderungan uns und die Bundesregierung, am 30-Hektar-Zielfestzuhalten, Eulen nach Athen zu tragen. Wir haltenselbstverständlich daran fest und dafür braucht es auchkeinerlei Nachhilfe durch Bündnis 90/Die Grünen.So wohlmeinend ist Ihr Antrag politisch betrachtetdenn auch nicht. Denn Forderungen zu stellen ohne sub-stanziellen Bedarf, kann doch wohl nur als Durchhalte-parole an die eigenen Reihen gemeint sein. Mit Infra-struktur- und Bauplanungspolitik hat die grüne Partei jaso manchen Schiffbruch in den vergangenen Monatenerlitten: Eine geplatzte Koalition in Hamburg wegenMoorburg. Rolle rückwärts bei der Moseltalbrücke inRheinland-Pfalz. In Berlin scheiterte sie an 3,2 Kilome-ter Autobahn, und wie es nach dem Volksentscheid umZu ProtokollStuttgart 21 mit der grünen Partei weitergeht, das war-ten wir mal noch ab. Alles nichts, womit man sich einengrünen Verdienstorden anheften lassen könnte. Dascheint es nur verständlich, wenn hier Anträge einge-bracht werden, die sich innerparteilich gut verkaufenlassen, die politisch aber den Innovationsfaktor Null be-sitzen.Nichtsdestotrotz freut es mich erstens, dass wir unsüber die Fraktionsgrenzen dieses Hohen Hauses hinwegmal einig sind. Zweitens möchte ich zu gern die gebo-tene Möglichkeit nutzen, die Position der FDP zur wei-teren Reduzierung des Flächenverbrauchs in Deutsch-land zu erläutern: Auch wir sehen, dass Sinken undSteigen der Flächenverbrauchszahlen heute noch zustark von der konjunkturellen Entwicklung beeinflusstwird statt vom Willen der politischen und bauplanendenAkteure. Hier werden wir weiter an der Stärkung desrahmenpolitischen Hebels arbeiten, ohne die zur wirt-schaftlichen Entfaltung notwendigen Freiheitsrechteund Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken. Demrichtigen und notwendigen Ziel der Stärkung der Innen-entwicklung fühlen wir uns verpflichtet – aus demogra-fischen Gründen ebenso wie im Rahmen der Erreichungder Klimaschutzziele.Wesentliche Kristallisationspunkte der aktuellenFortentwicklung der Städtebauförderung durch diechristlich-liberale Koalition sind die Stärkung der In-nenstadtkerne und Ortsteilzentren, die Nachverdichtungund Wiedernutzung von Brachflächen. Alles Maßnah-men, die dem Flächenverbrauch im Außenbereich bzw.der Erschließung neuer Flächen entgegenwirken.Ebenso arbeitet die Koalition intensiv an der Novellie-rung des Baugesetzbuches und wird auch in diesem Be-reich dem Anspruch auf nachhaltige Entwicklung ge-recht werden. Wir wollen die Beschränkung desAnwendungsbereichs des Rückbaugebots für Bebau-ungsplangebiete aufheben und so das Rückbaugebot zueinem vollwertigen Rechtsinstrument fortentwickeln.Damit erhielten die Kommunen eine effektive Hand-lungsmöglichkeit der Eingriffsverwaltung, zum Beispielim Umgang mit verwahrlosten Gebäuden oder Schrott-immobilien. Das ist echte Innovationspolitik.Die beschriebenen Ziele und Notwendigkeiten unse-rer zukünftigen Infrastruktur- und Raumplanung sindanspruchsvoll und eine politische wie ökonomische wiesoziale Herausforderung. Wohl wissen wir, dass das30-Hektar-Ziel zum Jahre 2020 praktisch kaum noch zuerreichen ist. Das liegt vor allem an der Vielzahl derAkteure und der Komplexität von Entscheidungsprozes-sen und Nachteilsabwägungen. Trotzdem ist es undbleibt es ein richtiges und wichtiges Ziel. Das formuliertauch die Gemeinsame Erklärung „Institutionalisierungvon Nachhaltigkeitsbewertungsverfahren in der Flä-chenpolitik stärken“ des Helmholtz-Zentrums für Um-weltforschung. Dort heißt es:Unambitionierte Ziele können keine Visionen tra-gen, sondern neigen im Gegenteil dazu, nach derZielerreichung aus dem Auge verloren zu werden,so dass ein „Roll back“ auf nicht nachhaltige Zu-stände droht.
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15806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenPetra Müller
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In diesem Sinne verstehen Sie unsere Zielsetzung alsunbedingten Willen zur Nachhaltigkeit, nicht als Weg-marke, von der wir annehmen, sie morgen oder Endenächsten Monats erreichen zu können. Sarkastischkönnte man an die Adresse der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen sagen: Auch Weltfrieden zu fordern, bleibt einrichtiges und wichtiges Ziel. Sich aber allenthalben op-positionell zu entrüsten, die Regierung habe dieses Zielnicht erreicht, wirkt dann doch reichlich armselig – wieihr Antrag zum Flächenverbrauch.
Gerade vor dem Hintergrund des demografischenWandels ist der tägliche Flächenverbrauch in Deutsch-land immer noch erschreckend hoch. Das Ziel einer Re-duzierung des Flächenverbrauchs auf 30 Hektar pro Tagliegt in weiter Ferne, ist jedoch im Hinblick auf die öko-logischen Konsequenzen in naher Zukunft nach unsererMeinung unbedingt umzusetzen. Gerade deswegen istdem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen rundherum zu-zustimmen, wenn auch einige Ansatzpunkte noch weiterausgebaut und weitere Planungs- und Steuerungsinstru-mente hinzugefügt werden müssen.Voraussetzung für eine strategische Planung ist eineeinheitliche Normierung der Terminologie. Denn was isteigentlich gemeint mit Flächenverbrauch? Sprechen wirvon einer Umnutzung natürlicher Flächen und dem Neu-bau von Siedlungen und Infrastruktur? Flächenverbrauchmeint hier Flächenversiegelung, agrarwirtschaftlich ge-nutzte Flächen gelten dem Antrag der Grünen zufolgenicht als Verbrauchsflächen. In Bezug auf großflächigeMonokulturen stellt sich allerdings die Frage nach derGültigkeit dieser Definition.Auch objektive Maßstäbe hinsichtlich der Kategorisie-rung von Flächen fehlen, sind allerdings als einheitlichePlanungs- und Bewertungsgrundlage zwingend notwen-dig. Derzeit obliegt die Flächenbewertung den jeweiligenKommunen. So gilt der ehemalige Truppenübungsplatz inKommune A als Brachfläche, während Kommune B den-selben aufgrund seines natürlichen Erscheinungsbildesund fehlender Altlasten als Naturfläche klassifiziert. Da-durch hat Kommune A einen deutlich größeren Bestandan potenziellen Renaturierungsflächen bei gleicher Aus-gangslage. Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendig-keit einer einheitlichen Terminologie und damit verbun-denen gemeinsamen Bewertungsmaßstäben.Die aktuelle Gesetzeslage sieht die Schaffung vonAusgleichsflächen im Gegenzug zum Flächenverbrauchvor. Doch nur die Schaffung von Ausgleichsflächen isthierbei nicht genug. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen wird gefordert, dass alle nicht privilegierten Vorha-ben im Außenbereich nur zulässig sein sollen, wenn aneiner anderen Stelle der Gemeinde Flächen entsiegeltund renaturiert werden. Das befürwortet die Linke. DieRenaturierung und Entsiegelung ist unserer Meinungnach ein wesentlich besseres Planungs- und Steuerungs-instrument als die bloße Schaffung von Ausgleichsflä-chen und muss aufgrund dessen viel stärker in den Fo-kus kommunaler Planung gerückt werden. Für jedesBauvorhaben, jeden Flächenverbrauch sollten im Ge-Zu Protokollgenzug, wenn vorhanden, andere Flächen entsiegelt undrenaturiert werden.Auch die öffentliche Förderung muss sich viel stärkerauf Brachflächen fokussieren, bevor neue Flächen ver-siegelt werden. Trotz einer stagnierenden Bevölkerungs-zahl nimmt das Siedlungswachstum weiterhin zu. Damitnimmt die Flächenversiegelung zu. Die Nutzung bereitsversiegelter und brachliegender Flächen, sprich eine ef-fiziente Flächennutzungspolitik und Konversion vonFlächen, muss somit viel mehr in den Vordergrund ge-stellt werden, als neuen Flächenverbrauch zuzulassen.So können auch dem Deutschen Bauernverband,DBV, seine Sorgen um den Schutz und Erhalt landwirt-schaftlicher Böden genommen werden. Denn die Art undWeise der Reduzierung des Flächenverbrauches ist da-bei ausschlaggebend. Der Ausgleich von Flächen darfnicht auf Kosten der Landwirtschaft gehen. Bei Schaf-fung von Ausgleichsflächen nach Ausweisung eines Ge-werbegebietes verliert die Landwirtschaft nicht nur Pro-duktionsfläche, sondern soll gleichzeitig auch nochFläche für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Ver-fügung stellen. Ein Beispiel: Um die neuen Reihenhäu-ser wird eine artenreiche Hecke gepflanzt; weil diesaber noch nicht ausreicht, um den Eingriff angemessenauszugleichen, wird in der Nähe noch ein Ackerrand-streifen angelegt. Auf allen drei Flächen kann der Bauernicht mehr ackern. Der Grundsatz muss also gelten, wieauch vom DBV gefordert, dass bei Versiegelung land-wirtschaftlicher Flächen durch Siedelung und Verkehran anderer Stelle eine gleich große Fläche entsiegeltund zur Verfügung gestellt werden muss.Bodenschutzgebiete mit einer hohen Bodenqualitätmüssen ausgewiesen und unter besonderen Schutz ge-stellt werden. Gleichzeitig sollte durch Ausgleichs- undErsatzmaßnahmen nicht auch noch auf die Agrarflächezugegriffen, sondern möglichst gebündelt im Rahmenkommunaler Ökokonten Entsiegelungen und Dekonta-mination vorgenommen werden, zum Beispiel auch in-nerhalb eines Stadtgebietes als grüne Lunge. Um solcheZiele zu schaffen, müssen neben gesetzlichen Regelun-gen auch Anreize da sein; Anreize, den Flächenver-brauch oder vielmehr die Flächenversiegelung zu redu-zieren und schon versiegelte Flächen besser zu nutzen.Ein mögliches Instrument zur Beeinflussung derNachfrage ist zum Beispiel die Anpassung der Grund-erwerbsteuer, sodass der Erwerb von Brachflächenfinanziell lohnender ist als der Erwerb zuvor ungenutzterFlächen. Tatsächlich ist sogar der Wegfall der Grund-erwerbsteuer für Brachflächen, insbesondere Flächen inNähe des Siedlungskerns, vorstellbar. Für bereits versie-gelte Flächen wird damit ein viel höherer Kaufanreiz ge-setzt als für Naturflächen im Außenbereich. Dagegengilt die Anpassung der Grundsteuer, wie im Antrag vonBündnis 90/Die Grünen gefordert, unter Experten alsungeeignetes räumliches Steuerungsinstrument. DieGrünen fordern eine Reform der Grundsteuer, die mehrSteuergerechtigkeit schafft und Fehlanreize zum Flä-chenverbrauch vermeidet. Da die Grundsteuer als Ver-mögensteuer jedoch auf potenzielle Mieter umgelegtwerden kann, beeinflusst sie dadurch nicht die Auswei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15807
gegebene RedenHeidrun Bluhm
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sung neuer Siedlungsgebiete, sondern vielmehr dieMiete in den bereits besiedelten Gebieten. Als Anreiz-instrument für einen geringeren Flächenverbrauch istdamit die Grunderwerbsteuer zu reformieren.Eine weitere Anreizmöglichkeit ist die Belohnung vonGemeinden über den kommunalen Finanzausgleich füreine niedrige Neuversiegelungsquote. Grundlage dafürist, wie schon vorher erläutert, eine einheitliche Klassi-fizierung und Terminologie über auszuweisende Flä-chen.Es geht hier nicht darum, Wirtschaftswachstum undEntwicklung einzugrenzen oder zu stoppen. Aber derFlächenverbrauch innerhalb Deutschlands ist immernoch zu hoch, um ökologisch hinnehmbar zu sein. Ge-rade dem Trend, eine reichliche Verfügbarkeit preis-günstiger Flächen in wirtschaftlich schwachen Gebietenzu suggerieren, muss entgegengewirkt werden. Bereitsim Jahre 2009 hat die Kommission Bodenschutz beimUmweltbundesamt einen umfangreichen Bericht mitEmpfehlungen zur konsequenten Flächenverbrauchsre-duzierung herausgebracht. Bis jetzt ist die Bundesregie-rung darauf aber nicht eingegangen, geschweige dennhat sie entsprechende Maßnahmen eingeleitet.
Wir bringen heute unseren Antrag zur Reduzierungdes Flächenverbrauchs ein. Wir wollen mit diesem An-trag das Ziel, den Flächenverbrauch bis 2020 auf30 Hektar pro Tag zu reduzieren, endlich mit wirkungs-vollen Maßnahmen unterlegen. Das 30-Hektar-Ziel istein wichtiges Zwischenziel für eine nachhaltige Stadt-entwicklungspolitik. Das eigentliche Ziel ist jedoch, per-spektivisch Siedlungsentwicklung ohne zusätzlichenFlächenverbrauch anzustreben.In der Diskussion um den Flächenverbrauch wirdgerne der Mythos verbreitet, dass der Flächenverbrauchdoch eigentlich gar kein Problem mehr sei. Belegt wirddie These mit sinkenden Flächenverbrauchszahlen inder Mitte des letzten Jahrzehnts. Doch die Statistikerwarnen, dass mit anziehender Konjunktur auch der Flä-chenverbrauch wieder zunehmen wird. So ist zum Bei-spiel in Bayern der Flächenverbrauch 2010 im Vergleichzum Vorjahr um 27 Prozent gestiegen. Damit werdenallein in Bayern jeden Tag 21 Hektar Fläche verbraucht.Nimmt man das 30-Hektar-Ziel ernst, bleiben noch9 Hektar für den Rest der Republik.Auch eine aktuell vom Ministerium für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung veröffentlichte Studie kommt zuder Schlussfolgerung, dass das 30-Hektar-Ziel der Na-tionalen Nachhaltigkeitsstrategie auch bei fortschrei-tendem demografischen Wandel kein Selbstläufer ist.Obwohl die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, istes nicht ohne Weiteres möglich, das Flächenwachstumauf unter 40 Fußballfelder am Tag zu beschränken.Die Studie räumt auch auf mit dem Mythos, der Flä-chenverbrauch benachteilige periphere Räume nicht. ImGegenteil: Legt man einen gerechten Verteilungsschlüs-sel zugrunde, so entsteht für die peripheren Räume eindeutlich geringerer Anpassungsdruck als für andere Re-Zu Protokollgionen. Die suburbanen Gebiete werden den höchstenReduktionserfordernissen ausgesetzt.Wenn man also ehrlich über den Flächenverbrauchdebattieren will, muss man auch über die Konsequenzeneiner flächensparenden Politik sprechen. Dabei liegennatürlich zuerst die positiven Konsequenzen auf derHand. Eine Reduktion des Flächenverbrauchs schütztwertvolle Böden, gerade für die Landwirtschaft. Weni-ger neue Verkehrsfläche bedeutet auch weniger Zer-schneidung zusammenhängender Lebensräume. Da-rüber hinaus ist zunehmender Flächenverbrauch ineiner schrumpfenden Gesellschaft auch ökonomischfragwürdig. Unterausgelastete Infrastrukturen müssenaufwändig betrieben und instand gehalten werden. EineReduzierung des Flächenverbrauchs geht deshalb auchmit einer Reduzierung neuer Infrastrukturfolgekosteneinher. Diese Zusammenhänge finden in der Planungs-praxis noch zu wenig Beachtung. Wir Grüne forderndeshalb, eine fiskalische Wirkungsanalyse in das Bauge-setzbuch aufzunehmen, die der Erhebung langfristigerInfrastrukturfolgekosten für die kommunalen Haushaltedient. Auch obligatorische Demografiechecks sind einhilfreiches Instrument im Rahmen von Planungsverfah-ren.Dennoch kann bei einer Verknappung von Bauland inangespannten Märkten eine Verteuerung von Wohnraumdrohen. Die Strategie flächensparsamer Siedlungsent-wicklung im Außenbereich muss von flankierenden Maß-nahmen der Baulandmobilisierung im Innenbereich be-gleitet werden, um so den Preisdruck abzufedern. Dasbestätigt auch die aktuelle Studie des Ministeriums. Bis-lang hat uns die Regierung keine Vorschläge unterbrei-tet, wie die Baulandmobilisierung im Innenbereich for-ciert werden soll. Leider machen auch die aktuellenDiskussionen zur Novellierung des Baugesetzbuch we-nig Hoffnung auf Hilfestellung vom Bund für die Kom-munen.Wir Grüne fordern deshalb in unserem Antrag, eineNachweispflicht fehlender Innenentwicklungspoten-ziale in das Baugesetzbuch aufzunehmen, um so der re-gelmäßigen Abwägung zuungunsten des Flächensparensentgegenzuwirken. Außerdem sollte der § 200 des Bau-gesetzbuchs zu einem verpflichtenden Flächenmonito-ring, das Informationen über den ökologischen und so-zialen Wert der Flächen enthält, weiterentwickeltwerden. Potenziale müssen systematisch erfasst werden,um reduzierten Flächenverbrauch sozialgerecht zu ge-stalten. Damit die Stadtentwicklung den komplexen An-forderungen einer nachhaltige Planung gerecht werdenkann, fordern wir die Wiedereinführung der Revisions-pflicht für Flächennutzungspläne im 10-Jahres-Rhyth-mus in das Baugesetzbuch.Auch die Kürzungen bei der Städtebauförderung ge-fährden Projekte der Innenentwicklung. Wir fordern, dieStädtebauförderung des Bundes von weiteren Kürzun-gen auszunehmen und auf das für 2010 ursprünglichvorgesehene Niveau von 610 Millionen Euro anzuhebensowie perspektivisch auf einem Volumen von 700 Millio-nen Euro zu verstetigen.
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15808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15809
Bettina Herlitzius
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Ordnungsrechtliche Vorgaben und Förderung alleinwerden nicht reichen, um das 30-Hektar-Ziel zu errei-chen. Der Tatsache, dass Bauland auf der grünen Wiesefür jeden Einzelnen erst einmal viel günstiger als inner-städtische Brachen ist, muss begegnet werden. Wir for-dern, die Einführung einer Flächenverbrauchsabgabeim Modellprojekt analog zu handelbaren Flächenaus-weisungsrechten zu prüfen. Dabei ist besonders in denBlick zu nehmen, wie die Einnahmen aus Flächenaus-weisungsrechten oder einer Flächenverbrauchsabgabeder Innenentwicklung dienen könnten. Wichtige Ansätzedafür, wie Innenentwicklung wirksam betrieben werdenkann, liefern schon heute Flächenrecylingfonds.Abschließen möchte ich mit einem Punkt aus der Stu-die, bei dem ich mir besonders wünsche, dass das BMVBSseinen eigenen Erkenntnissen auch Taten folgen lässt. Daheißt es: „Die politischen Entscheidungsträger in Bundund Ländern sind darüber hinaus gefordert, das 30-ha-Ziel zeitlich, räumlich und sachlich zu konkretisieren.“Vor der räumlichen Konkretisierung des 30-Hektar-Zielsscheut sich die Politik schon seit Jahren. Das 30-Hektar-Ziel ist so schön nebulös, man kann es nicht wirklich fas-sen. Kaum jemand kann sich etwas darunter vorstellen.Sagt man, der Flächenverbrauch liege bei 30 Hektar,fragt der Laie: Pro Jahr? In Europa?Mit einem solche Ziel trifft man keine Befindlichkei-ten, weil sich niemand direkt betroffen fühlt. Erst wennman anfängt, das 30-Hektar-Ziel kleinräumlich zu ver-orten, wird klar, wo wirklich die Anstrengungen getätigtwerden müssen. Hier ist die Bundesregierung in der Ver-antwortung. Das Leugnen des Flächenverbrauchs mussenden. Die Regierung muss einen Plan erstellen, wie das30-Hektar-Ziel erreicht werden kann: sowohl räumlichund zeitlich als auch beinhaltend, welche Instrumentesie den Gemeinden zur Bekämpfung des Flächenver-brauchs zur Seite stellen möchte. Packen Sie es an!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6502 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verbot der Einfuhr, des Handels und der Ver-
wendung von Steinprodukten, die durch aus-
beuterische Kinderarbeit hergestellt wurden
– Drucksachen 17/5803, 17/7150 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss
Karin Roth
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
Niema Movassat
Thilo Hoppe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar der Kollegin-
nen und Kollegen Sabine Weiss, Karin Roth, Christiane
Ratjen-Damerau, Harald Weinberg und Uwe Kekeritz.
115 Millionen Kinder weltweit zwischen 5 und17 Jahren müssen tagtäglich unter ausbeuterischen undextrem gefährlichen Bedingungen arbeiten. Sie schuftenschwer – häufig unter Einsatz ihre Lebens – für einenHungerlohn. Viele von ihnen erhalten noch nicht mal ei-nen Lohn.115 Millionen Kinder werden um ihre Kindheit betro-gen, weil sie nicht mehr Kind sein dürfen. Sie stehenvielmehr schon viel zu früh in der harten Pflicht, ihrenBeitrag zum Familieneinkommen leisten zu müssen. Ineinem Alter, in dem ihre Altersgenossen hier bei uns inder Regel eine unbeschwerte und sorglose Kindheit erle-ben dürfen, lernen sie die harte Arbeitsrealität kennenund dass ohne ihren Lohn häufig das Essen noch knap-per als sonst ist. Sie werden beraubt um das, was fürviele die schönste und unbeschwerteste Zeit im Lebenist.115 Millionen Kinder werden jeden Tag ohne Rück-sicht auf gesundheitliche oder seelische Konsequenzenausgebeutet. Nur zum zahlenmäßigen Vergleich: MehrKinder müssen sich jeden Tag unter ausbeuterischen Be-dingungen den Rücken krumm schuften, als Deutsch-land, Belgien, die Niederlande und die Slowakei insge-samt Einwohner haben. Ich glaube, bei diesen Zahlenwird die Dimension der ausbeuterischen Kinderarbeiterst so richtig deutlich.Weltweit müssen sogar rund 215 Millionen Kinderzwischen fünf und 17 Jahren nach Schätzungen der In-ternationalen Arbeitsorganisation arbeiten. 115 Millio-nen davon eben unter Bedingungen, die ihre seelischeund körperliche Unversehrtheit so extrem negativ beein-trächtigen und gefährden, dass von ausbeuterischerKinderarbeit gesprochen wird.Kinder müssen unter sklavenähnlichen Bedingungenvon früh bis spät in Haushalten ihren Lebensunterhaltverdienen. Sie arbeiten ohne Schutz vor Pestiziden undDüngemitteln auf Feldern, sie müssen sich prostituierenoder sie werden als billige Arbeitskräfte ohne jeglichenSchutz in Steinbrüche geschickt. In einigen Ländern istausbeuterische Kinderarbeit gar zu einem grenzüber-schreitenden Geschäft geworden, so werden beispiels-weise Tausende junge Mädchen jährlich von Nepal nachIndien verschleppt und gezwungen, dort als Prostituiertezu arbeiten.Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung können vieleKinder keine Schule besuchen und sind damit mehr oderweniger von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Kin-der, die zumindest stundenweise eine Schule besuchen,können häufig dem Unterricht nicht folgen, weil sie vonder vielen und körperlich anstrengenden Arbeit ermüdetsind. Ohne Schulbildung allerdings haben sie auch inihrem späteren Erwachsenenleben so gut wie keineAussicht auf einen Job, der es ihnen ermöglicht, ihre Fa-Sabine Weiss
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milie mit ihrem Einkommen zu ernähren. In der Konse-quenz müssen dann häufig auch ihre eigenen Kinderschon in jungen Jahren Geld für das Familieneinkom-men erarbeiten. Damit setzt sich der Teufelskreis aus Ar-mut und mangelnder Bildung fort.Zwar ist die Kinderarbeit in den letzten Jahren leichtzurückgegangen, dies gilt aber leider nicht für alle Re-gionen, in Afrika südlich der Sahara beispielsweisenimmt sie weiter zu.Das Problem der ausbeuterischen Kinderarbeit istvielschichtig und zwar so vielschichtig, dass es leiderkeine einfachen Lösungen gibt. Allein mit einem Import-verbot, wie in dem Antrag der Linken gefordert, ist esbedauerlicherweise nicht getan. Abgesehen davon, dasses zweifelhaft ist, ob Importverbote einer WTO-rechtli-chen Prüfung überhaupt standhalten, hat ein solches, inden USA erlassenes Importverbot beispielsweise keineWirkung gezeigt. Selbst UNICEF ist der Auffassung,dass „undifferenzierte Handelssanktionen und Boykottekontraproduktiv sein können und dazu führen, dass Fir-men Kinder in ihren Betrieben einfach entlassen und sodie Familien noch tiefer ins Elend stürzen.“ Da manProdukten zudem nicht ansehen kann, ob sie durch aus-beuterische Kinderarbeit hergestellt wurden oder nicht,wäre insbesondere bei längeren Lieferketten eine wirk-same Überprüfung eines solchen Importverbotes prak-tisch sehr schwierig.Wir können die ausbeuterische Kinderarbeit nurdurch einen wirksamen Maßnahmenmix erfolgreich undnachhaltig eindämmen. Die zentrale Ursache für Kin-derarbeit ist bittere Armut, die die Eltern zwingt, ihreKinder arbeiten zu schicken, damit die Familie ernährtwerden kann. Kinderarbeit ist nur in den Griff zu bekom-men, wenn wir die Wurzel des Problems beseitigen. Dienachhaltige Armutsbekämpfung und der Zugang zu Bil-dung ist eine zentrale Aufgabe deutscher Entwicklungs-zusammenarbeit, und damit packt die Bundesregierung– anders als die Linken mit ihren Forderungen – dasProblem genau an der richtigen Stelle an.Deutschland hat in den 90er-Jahren das ILO-Pro-gramm „International Programme on the Elimination ofChild Labour“ mit initiiert und ist seitdem mit rund55 Millionen Euro einer der wichtigsten Geber. DasBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung fördert zudem zahlreiche Projekte, mitderen Hilfe Kinderarbeit bekämpft wird und wirtschaft-liche Alternativen für die Kinder und ihre Familien ge-schaffen werden. Deutschland bekämpft damit die sozia-len Ursachen von Kinderarbeit.Importverbote oder Boykotte hören sich zwar gut anund mögen auch den Konsumenten ein gutes Gewissensuggerieren, sie beseitigen jedoch nicht allein die sozia-len Ursachen von Kinderarbeit und werden deshalbauch – so bedauerlich es ist – wenig Wirkung erzielen.Die Instrumente, die die christlich-liberale Koalition zurEindämmung der Kinderarbeit einsetzt, sind sehr vielzielführender und effektiver als Importverbote.Eine weitere wichtige Maßnahme zur erfolgreichenBekämpfung von Kinderarbeit ist die SensibilisierungZu Protokollund Bewusstseinsschärfung der Konsumenten. Es darfnicht immer nur der günstigste Preis kaufentscheidendsein. Vielmehr muss auch die Frage, unter welchen Be-dingungen ein Produkt hergestellt wurde und ob dasProdukt nur durch ausbeuterische Kinderarbeit so preis-günstig angeboten werden kann, bei der Verbraucher-entscheidung einen größeren Stellenwert erhalten. Fir-men, Privatpersonen und Kommunen müssen ihrenEinfluss geltend machen und die Durchsetzung von Min-deststandards – wie die Ächtung von Kinderarbeit – ein-fordern. Mit der Kaufentscheidung hat es jeder Konsu-ment selbst in der Hand, zu entscheiden, welcheProdukte er aus welchem Grund kauft und auf welche er– auch bei einem noch so günstigen Preis – verzichtet. Jemehr fair gehandelte Produkte wir nachfragen, destomehr werden auch angeboten – das ist eine einfacheRechnung.Das Problembewusstsein dafür, dass viele Produktenur so günstig sind, weil sie unter menschenunwürdigenBedingungen hergestellt wurden, ist erfreulicherweise inden letzten Jahren enorm gestiegen. Kommunen undBundesländer berücksichtigen bei der öffentlichen Be-schaffung in immer größerem Maß soziale Kriterien.Mehr als 250 Gebietskörperschaften machen bei dervom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung geförderten Kampagne „Aktivgegen Kinderarbeit“ mit. Fair-Trade-Produkte erfreuensich bei den Konsumenten immer größerer Beliebtheit.Es gilt nun, den Anteil von fair gehandelten Produktennoch weiter zu steigern.Die Bundesregierung setzt sich sowohl internationalals auch national mit einem erfolgreichen Instrumenten-mix für die Bekämpfung von Kinderarbeit ein. Armuts-bekämpfung und der Zugang zu Bildung sind zentraleAufgaben deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Aufeuropäischer Ebene hat sich Deutschland unter ande-rem für die Verlängerung des APSplus-Instruments aktiveingesetzt. Die APSplus-Regelung gewährt Herstellernaus Drittländern attraktive Zollvergünstigungen, wenndie ILO-Konventionen zur Beseitigung der schlimmstenFormen der Kinderarbeit und zum Mindestbeschäfti-gungsalter effektiv umgesetzt werden. Zudem setzt sichDeutschland dafür ein, dass bei Verhandlungen überEU-Freihandelsabkommen Regelungen zu Sozial- undArbeitsstandards verankert werden. Die Bundesregie-rung unterstützt das Ziel, dass durch Kinderarbeit her-gestellte Produkte nicht länger verkauft oder genutztwerden. Die Länder, in denen Kinder ausgebeutet wer-den, bedürfen der Unterstützung bei der wirksamen Um-setzung der beiden ILO-Konventionen zur Beseitigungder ausbeuterischen Kinderarbeit. Sie müssen unter-stützt, aber auch konsequent angehalten werden, sichstärker im Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit zuengagieren.Die Ursachen von Kinderarbeit sind vielschichtig,und es gibt leider keine einfachen Lösungen dafür. Im-portverbote allein sind kein wirksames Mittel zur nach-haltigen Eindämmung von Kinderarbeit. Wir lehnendeshalb den Antrag der Linken ab. Ein Importverbotmag zwar gut klingen und den Konsumenten ein ruhigesGewissen suggerieren, es beseitigt jedoch nicht die so-
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15810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenSabine Weiss
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zialen Ursachen von Kinderarbeit und greift deshalb zukurz.
Vor zwei Wochen – am 7. Oktober 2011 – hat der Baye-rische Verfassungsgerichtshof eine von der breiteren Öf-fentlichkeit weitgehend unbemerkte, aber dennoch umsowichtigere Entscheidung getroffen. Die Richter gaben ei-ner Verfassungsbeschwerde der Stadt Nürnberg recht, diesich damit erfolgreich gegen eine Klage eines Steinmetz-betriebs zu Wehr gesetzt hat. Der Auslöser: Die StadtNürnberg hat in ihrer Bestattungs- und Friedhofssatzungfestgelegt, dass auf städtischen Friedhöfen nur Grabmaleaufgestellt werden dürfen, „die nachweislich in der ge-samten Wertschöpfungskette ohne ausbeuterische Kinder-arbeit hergestellt werden.“ Dagegen hatte der Steinmetzgeklagt. Das Verfassungsgericht gestand mit seiner Ent-scheidung jetzt der Stadt Nürnberg das Recht zu, im Rah-men der kommunalen Selbstverwaltung derartige Rege-lungen, zu denen auch die Ächtung von in Kinderarbeithergestellten Produkten gehört, zu treffen. Auch wenn die-ser Fall noch nicht endgültig entschieden ist, so macht erdoch deutlich, dass die geltende Rechtslage zur öffentli-chen Vergabe unter Einbeziehung internationaler Stan-dards wie den ILO-Konventionen 138 und 182 zur Be-kämpfung der Kinderarbeit Möglichkeiten bietet, auchhier bei uns gegen Kinderarbeit in der Welt vorzugehen,ganz nach dem Prinzip: Global denken – lokal handeln.Wie dramatisch die Lage nach wie vor ist, zeigt auchder aktuelle Jahresbericht des US-Arbeitsministeriumszu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit, der EndeSeptember dieses Jahres vorgestellt wurde und durch dieaktuellen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorga-nisation, ILO, bestätigt wird. Danach arbeiten tagtäglichrund 215 Millionen Kinder weltweit, mehr als die Hälftevon ihnen unter gefährlichen und ausbeuterischen Be-dingungen. 53 Millionen dieser Kinder sind jünger als14 Jahre. Der höchste Anteil von Kinderarbeit in der hei-mischen Produktion ist in Indien, Bangladesch und aufden Philippinen festzustellen. In Indien arbeiten Kinderin Steinbrüchen, in Ziegeleien, in der Landwirtschaft; siestellen Feuerwerkskörper und Fußbälle her. In Bangla-desch werden Kinder – vor allem Mädchen – in der Tex-til- und Schuhindustrie ausgebeutet. Auf den Philippinenmüssen Kinder in der Tabakernte und -verarbeitung ar-beiten. Eine der am weitesten verbreitete Form von Kin-derarbeit ist die Arbeit in privaten Haushalten. Sie ist zu-dem besonders problematisch, weil Zwangsarbeit undMissbrauch hier sehr schwer nachzuweisen sind. DieILO schätzt die Zahl der Hausangestellten auf mindes-tens 53 Millionen. Experten gehen davon aus, dass dieDunkelziffer bei bis zu 100 Millionen liegt. 83 Prozentaller Hausangestellten sind Frauen und Mädchen.UNICEF zufolge ist in Bangladesch jedes fünfte in priva-ten Haushalten beschäftigte Kind erst zwischen fünf undzehn Jahren alt.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb aus-drücklich, dass die Internationale Arbeitskonferenz imJuni dieses Jahres die neue ILO-Konvention 189 übermenschenwürdige Arbeitsbedingungen für Hausange-stellte beschlossen hat. Damit ist es erstmals gelungen,Zu ProtokollArbeitsstandards für den informellen Sektor festzulegen.Ich fordere die Bundesregierung auf, die Konventionschnellstmöglich dem Deutschen Bundestag zur Ratifi-zierung vorzulegen und so ein international wichtigesSignal zu setzen. Klar ist: Armut ist die Hauptursachefür Kinderarbeit. Die wirtschaftliche Not lässt Familienoft keine andere Wahl: ihre Kinder müssen mitverdienen,um die Existenz zu sichern. Viele Familien sind auch zuarm, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Schul-geld und Schulmaterial sind für ihre Eltern oft unbezahl-bar. Damit beginnt ein Teufelskreis: Ohne schulischeund berufliche Ausbildung bekommen sie später auchkeine bessere Arbeit. Sie bleiben arm und können oftauch ihren Kindern kein besseres Leben ermöglichen.Für Mädchen gilt dies besonders. Sie bleiben ohne Bil-dung, werden oft früh verheiratet und können auch ihrenKindern nur wenig Wissen weitergeben.Um die Armut als wesentliche Ursache für Kinderar-beit wirksam und nachhaltig zu bekämpfen, muss vor al-lem die wirtschaftliche Situation der Familien verbessertwerden. Dazu gehört es, dass soziale Grunddienste wieBildung und Gesundheitsversorgung auch die ärmstenFamilien erreichen. Dem Auf- und Ausbau von Systemender sozialen Sicherung – vor allem im Gesundheitsbe-reich – kommt dabei besondere Bedeutung zu. Denn nachwie vor ist Krankheit das größte Verarmungsrisiko. Jahrfür Jahr sind rund 150 Millionen Menschen ruinierendenGesundheitsausgaben ausgesetzt, und 100 MillionenMenschen fallen unter die Armutsgrenze alleine deswe-gen, weil sie Krankheitsbehandlungen direkt aus eigenerTasche zahlen müssen. Ziel sozialer Sicherungssystememuss es daher sein, dieses Armutsrisiko zu beseitigenund eine Mindestversorgung mit Medikamenten und Ge-sundheitsdienstleistungen diskriminierungsfrei für allezu garantieren. Die ILO-Initiative eines Social-Protec-tion-Floors und das Konzept der Weltgesundheitsorgani-sation, WHO, für eine universelle Absicherung imKrankheitsfall bieten dafür die systematische Grundlage.Der Social-Protection-Floor ist zudem der zentrale An-satz zur Bekämpfung von Armut und Kinderarbeit, da ernicht nur die Gesundheitsversorgung sicherstellt, son-dern auch staatliche Transferleistungen für Kinder ga-rantiert und so Kinderarbeit direkt verhindert.Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher die Bun-desregierung auf, die Partnerländer multi- und bilateralbeim Aufbau solidarisch finanzierter Systeme der sozia-len Sicherung aktiv zu unterstützen. Außerdem fordernwir, dass das Verbot und die Abschaffung von Kinderar-beit bei allen EU-Handelsabkommen verpflichtend ver-einbart wird. Sollte ein Land diese Verpflichtung nichteingehen wollen, darf es kein Handelsabkommen geben.Die Bundesregierung hat deshalb im Rat und gegenüberder Kommission dafür Sorge zu tragen, dass dieserGrundsatz in der europäischen Handelspolitik verankertwird. Das Gleiche gilt für die Gewährung von Zollpräfe-renzen.Ich erwarte daher ganz konkret von der Bundesregie-rung, dass sie gemeinsam mit der EU-Kommission imRahmen der laufenden Verhandlungen über ein Han-delsabkommen mit Indien auf die Einhaltung internatio-nal verbindlicher Sozialstandards – vor allem das Ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15811
gegebene RedenKarin Roth
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bot von Kinderarbeit – besteht. Dass dies möglich ist,zeigen das in Kraft getretene Handelsabkommen mitSüdkorea und die ausverhandelten Handelsabkommenmit Kolumbien und Peru. Und ich sage es ganz deutlich:Die Kinderrechte, die in indischen Steinbrüchen Tag fürTag mit Füßen getreten werden, sind nicht verhandelbarund dürfen keinesfalls wirtschaftlichen Profitinteressenuntergeordnete werden. Aber es ist nicht nur die Auf-gabe der Politik, der Ausbeutung von Kindern entgegen-zuwirken. Auch Unternehmen und Konsumenten könnenihren Teil dazu beitragen, Kinderarbeit zu bekämpfen.Die neuen Leitsätze der OECD für multinationale Un-ternehmen bieten dafür einen international anerkanntenHandlungsrahmen und beschreiben die Sorgfaltspflichtder Unternehmen für die eigenen Beschäftigten und dieBeschäftigten in den Zulieferfirmen. Danach sind sieverpflichtet, „ zur wirksamen Abschaffung der Kinder-arbeit beitragen und unverzügliche und wirksame Maß-nahmen zur Gewährleistung des Verbots und der Besei-tigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit zuergreifen.“Ich erwarte von den Unternehmen, dass sie sich andie OECD-Vorgaben halten und darüber hinaus inSelbstverpflichtungen ein klares Bekenntnis gegen Kin-derarbeit abgeben. Konkret bedeutet dies: Internationaltätige Unternehmen legen in ihren Verträgen mit Produ-zenten und Zulieferern einen Verhaltenskodex, mit demKinderarbeit ausgeschlossen wird, zugrunde. Die Ein-haltung des Kodex muss jedoch auch überprüft werden.Auch beim Einkauf von Gütern und Dienstleistungenmuss darauf geachtet werden, dass die Zulieferer dieRechte der Kinder respektieren und Schutzmaßnahmengegen Ausbeutung ergreifen. Ziel ist ein verbindlichesZertifizierungssystem entlang der gesamten Produk-tions- und Lieferkette. Damit schaffen wir Transparenzüber Herstellung der Waren und Dienstleistungen. Diesist ein zentraler Schlüssel für die Sicherung fairer Ar-beitsbedingungen und eine Voraussetzung für die Be-kämpfung der weltweiten Kinderarbeit.Besonders begrüße ich in diesem Zusammenhang dieaktuellen Initiativen der Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, IG BAU, und Erziehung und Wissenschaft,GEW. Die IG BAU macht deutlich, dass in vielen – ins-besondere indischen – Steinbrüchen Kinder unter skla-venähnlichen Zuständen ausgebeutet werden. Die dorthergestellten Natursteine werden anschließend auf deut-schen Baustellen verarbeitet. Deshalb fordert dieIG BAU, beim Kauf von Natursteinen stärker auf dieHerkunft der Materialien zu achten. Die Gewerkschaftfordert ein unabhängiges Gütesiegel, mit dem die Kom-munen bei der Auftragsvergabe auf Nummer sicher ge-hen können. Die GEW hat die Stiftung Fair Childhoodins Leben gerufen und will so dem Verbot von Kinderar-beit Geltung verschaffen. Neben der Bildungsarbeit inDeutschland in Schulen und anderen Bildungseinrich-tungen sollen in den Ländern des Südens Projekte ini-tiiert und gefördert werden, die zur Befreiung von Kin-derarbeitern und zu deren Schulbildung führen.Dies zeigt: Die Bekämpfung der Kinderarbeit könnenwir nur gemeinsam schaffen. Politik, Wirtschaft, öffent-liche Hand und die Verbraucherinnen und VerbraucherZu Protokollhaben es in der Hand, und alle zusammen tragen Verant-wortung. 215 Millionen Kinder, die teilweise unter men-schenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, damitsie und ihre Familien überleben können, haben einRecht darauf, dass wir unsere Verantwortung endlichwahrnehmen.
Im September hat die vietnamesische Polizei bei einerRazzia in einer Bekleidungsfirma 23 Kinder und jungeErwachsene, die dort als Arbeitssklaven festgehaltenwurden, befreit. Die Opfer sind zwischen 10 und21 Jahre alt. Der zwölfjährige Trang, einer der befreitenArbeitssklaven, sagte, er sei aus einem kleinen Dorf mit35 Haushalten nach Saigon gebracht worden, wo erStoffe zuschneiden musste und regelmäßig geschlagenwurde. Wie viele Stunden er täglich arbeiten musste,wusste er nicht: Er kann die Uhr nicht lesen.Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dassweltweit 215 Millionen Kinder ähnliche Schicksale er-leiden müssen wie Trang. 115 Millionen von ihnen sollengezwungen sein, einer gefährlichen oder einer ihre Ent-wicklung behindernden Arbeit nachzugehen. 5,7 Millio-nen Kinder müssen moderne Formen von Zwangsarbeitleisten oder befinden sich aufgrund von Schuldknecht-schaft in einer modernen Form von Sklaverei, um dieSchulden ihrer Eltern abzuarbeiten. Vor allem Subsa-hara-Afrika ist von Kinderarbeit betroffen – dort mussjedes dritte Kind arbeiten.Diese Zahlen können für einen deutschen Politikernicht hinnehmbar sein. Die Frage ist allerdings, welcheMaßnahmen gegen die Kinderarbeit helfen. Schnellkann das Verbot von Produkten gefordert werden, diemit den Händen von Kindern hergestellt werden. Mankönnte meinen, damit löse sich das Problem, da nun kei-ner in Deutschland die Produkte abnehmen kann. Soeinfach ist es jedoch nicht. Der kleine Trang wurde vonseinen Eltern verkauft. Man hatte ihnen versprochen,dass ihre Kinder gut bezahlte, angenehme Arbeit bekom-men. Erst nachdem sie fast kein Geld erhalten hatten,haben sich die Eltern an die Behörden gewendet.Ausbeuterische Kinderarbeit wird in erster Liniedurch die soziale und wirtschaftliche Situation in denHerkunfts- und Produktionsländern hervorgerufen. Hiermüssen wir ansetzen. Und genau das tun wir: Die Ko-alition hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet,Kinderarbeit zu ächten und international zu verbieten.Wir haben die Übereinkommen 138 und 182 der Interna-tionalen Arbeitsorganisation dazu unterschreiben. ImMärz letzten Jahres wurde ein Antrag der Koalitions-fraktionen mit dem Titel „Menschenrechte weltweitschützen“ verabschiedet. Darin wurde das Thema be-handelt. Die Bundesregierung setzt den Antrag um, in-dem sie die Ursachen der Kinderarbeit, die vor allem inder Armut der Eltern begründet liegen, entschieden be-kämpft.Doch wir sollten nicht glauben, dass wir Länder vonaußen entwickeln können. In China ändert sich nichts,weil wir hier etwas verbieten. Aber wenn wir von Staa-ten eine gute Regierungsführung einfordern, ihnen bei
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15812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene RedenDr. Christiane Ratjen-Damerau
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der Erneuerung von staatlichen Strukturen helfen undnicht zuletzt die Kinder unterstützen, indem wir einennoch stärkeren Fokus auf Bildung und Gesundheit le-gen, dann können wir etwas bewirken – kurz- und lang-fristig.Es wäre jedoch zu einfach, zu sagen, dass wir hiergar nichts tun könnten. In den vergangenen Jahren sinddurch Natursteinimporteure, Agenturen und Organisa-tionen eine Vielzahl von Initiativen entwickelt worden,die das Thema der Zertifizierung und Standardentwick-lung für den Natursteinsektor angehen. Öffentliche Auf-traggeber haben schon heute das Recht, in Ausschrei-bungen festzulegen, dass eine Ware nachweisbar nichtdurch Kinderarbeit hergestellt wurde.Wir müssen das Problem an den Wurzeln anfassen.Die Lebensbedingungen in den betroffenen Ländernmüssen sich verbessern und die Menschenrechte für je-dermann anerkannt werden. Im Fall Trang wurden Kin-der und junge Erwachsene durch die lokalen Behördenbefreit. Dass diese in Vietnam sehr hart gegen Kinder-handel und -arbeit kämpfen, ist eine gute Nachricht.Jetzt muss dort noch die Gesetzgebung insgesamt refor-miert werden. Dabei kann die Bundesrepublik helfen.Der vorliegende Antrag dient lediglich dem gutenGewissen der Konsumenten. Das Bundeministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unddie Regierungskoalition im Bundestag hingehen arbei-ten intensiv und konsequent daran, die weltweite aus-beuterische Kinderarbeit zurückzudrängen – durch dieFörderung sozialer, wirtschaftlicher und rechtsstaatli-cher Strukturen. Daher kann die FDP den vorliegendenAntrag nicht unterstützen.
Es ist gut, wenn die verheerenden Auswirkungen undUrsachen von Kinderarbeit ins öffentliche Bewusstseingerückt werden, auch diese Debatte leistet ihren Beitragdazu. Der Antrag meiner Fraktion, über den wir heutediskutieren, beinhaltet aber keinen allgemeinen Plan zurweltweiten Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit,wie es ihm einige Redebeiträge bei der ersten Lesungabverlangten. Selbstverständlich gehört zu einer sol-chen Strategie die Bereitstellung kostenfreier Bildung inallen Weltregionen, und selbstverständlich lässt sichausbeuterische Kinderarbeit nur beseitigen durch einenkonsequenten Kampf gegen die Ursachen von Armut –nicht im Kampf gegen die Armen, wie er der derzeit bei-spielsweise von der Europäischen Union an den Außen-grenzen geführt wird.Das Anliegen unseres Antrages ist, wie gesagt, keineumfassende Strategie gegen ausbeuterische Kinderarbeit –so notwendig und dringend diese auch ist. Es geht um ei-nen konkreten, praktischen Schritt auf dem Weg dorthin.Von einer Bundesregierung, die, wie ihre Vorgängerre-gierungen, nicht den politischen Willen aufbringt, die zu-gesagten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für dieEntwicklungszusammenarbeit auszugeben, und die aucheinen erheblichen Teil der eigenen Kinder und Jugendli-chen zu Armut und Perspektivlosigkeit verdammt, sindZu Protokollallerdings keine umfassenden oder gar tragfähigen Kon-zepte in diese Richtung zu erwarten.Deswegen will ich zum konkreten Anlass für unserenAntrag kommen: In den letzten Jahren gab es in ver-schiedenen Kommunen und im Saarland Initiativen, umgegen die Verwendung von Grabsteinen vorzugehen, diedurch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden.Durch Regelungen in den Friedhofssatzungen wolltenKommunen die Aufstellung von Grabsteinen verbieten,bei denen kein Nachweis dafür vorliegt, dass alleSchritte der Wertschöpfung ohne ausbeuterische Kin-derarbeit erbracht wurden. Eine solche Regelung wirdauch von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Hu-man Rights Watch oder Terre des Hommes Deutschlandgefordert. Die kommunalen Beschlüsse wurden aller-dings sowohl vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz wie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof auf-gehoben. Der bayerische Fall wurde auch vom Bundes-verwaltungsgericht bestätigt. Das Bundesverwaltungs-gericht geht davon aus, dass die Kommunen in diesemPunkt über keine Gesetzgebungskompetenz verfügen.Die Gerichte sind der Ansicht, dass hier Fragen des Wa-renverkehrs mit dem Ausland berührt werden. Hierfürweist das Grundgesetz dem Bund die alleinige gesetzge-berische Kompetenz zu.Es geht bei einem solchen Importverbot um die kon-sequente Umsetzung des Übereinkommens 182 der In-ternational Labour Organization, ILO, in dem notwen-dige Maßnahmen zur Abschaffung von ausbeuterischerKinderarbeit vereinbart sind. Ein Bundesgesetz, dasEinfuhr, Handel und Verwendung von Steinproduktenaus ausbeuterischer Kinderarbeit verbietet, wäre einwichtiger Schritt zu ihrer Ächtung im Sinne der benann-ten ILO-Konvention. Außerdem würde es die kommuna-len und zivilgesellschaftlichen Initiativen stärken, dieeine solche Ächtung anstreben, denen aber die Rege-lungskompetenz hierfür fehlt. Es wäre auch ein ersterSchritt, um im Rahmen der Europäischen Union ein sol-ches Verbot anzustoßen.Die Bundesregierung hat erklärt, dass keine rechtli-chen Möglichkeiten vorlägen, um ein Importverbot fürsolche Produkte zu erwirken, weder im Rahmen der EU,noch auf Ebene der WTO. Union und FDP setzen statt-dessen einseitig und blauäugig auf die gesellschaftlicheSelbstverantwortung von Unternehmen und sogenanntepositive Handelsanreize, bei denen Zollvergünstigungenauf Produkte gewährt werden, die nachweislich ohneausbeuterische Kinderarbeit erzeugt worden sind. Diestaatlichen Möglichkeiten zur konsequenten Regulie-rung fallen dabei unter den Tisch. Solche Maßnahmenwürden sich auch gegen die Profitinteressen großer Un-ternehmen richten, die von „günstigen Produktionsbe-dingungen“ der Kinderarbeit ebenso profitieren wie dieEndverbraucher in den Industriestaaten.Die Würde großer Unternehmen und des uneinge-schränkten freien Handels wiegen für die Bundesregie-rung offenbar schwerer als die „unteilbaren und univer-sellen Werte der Würde des Menschen“, wie sie in derGrundrechtecharta der Europäischen Union festgehal-ten sind und die auch ein Verbot von Kinderarbeit be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15813
gegebene RedenHarald Weinberg
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inhalten. Wer in der Grundrechtecharta und nicht imIdeal liberalisierter Märkte den geeigneten politischenKompass für den Kampf gegen Kinderarbeit sieht, solltefür diesen Antrag stimmen.
Es sind unvorstellbare Zahlen: Etwa 250 MillionenKinder zwischen 5 und 14 Jahren sind weltweit als„Kinderarbeiter“ tätig. Und diese Zahl steigt erneut.Viele von ihnen leben und arbeiten unter unwürdigen,sklavenähnlichen Bedingungen und sind hemmungslo-ser Ausbeutung ausgesetzt. Bei diesen Kindern zeichnetsich unweigerlich ab, dass sie nie lesen oder schreibenlernen werden und keine Zeit zum Spielen und zur per-sönlichen Entwicklung haben. Ihre grundlegenden Be-dürfnisse und Menschenrechte werden von klein auf mitFüßen getreten.Die Versklavung und Ausbeutung von Kindern, vonjungen Menschen, die sich kaum wehren können, ist einebesonders abstoßende Form von Menschenrechtsverlet-zungen. Es muss ein zentrales Ziel unserer Politik sein,ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen!Daher teilen wir die Auffassung der Linken: Es mussetwas unternommen werden, damit in Zukunft keinerleiHandel mit Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeitstattfindet. Ganz so einfach, wie es sich die Linke vor-stellt, ist es jedoch nicht. Die erste Forderung des Antra-ges überrascht, da sie doch recht unrealistisch und un-überlegt ist. Hat die Linke nicht mitbekommen, dass dieHandelspolitik vergemeinschaftet wurde? Handelsver-bote können nicht von der Bundesregierung erlassen,sondern nur über die EU oder gar die WTO durchgesetztwerden!Es mag berechtigte Kritik an der Politik dieser beidenInstitutionen geben – solange diese jedoch in ihrer heu-tigen Form bestehen, müssen wir einen Prozess bei derEU bzw. der WTO anstoßen, um etwas zu erreichen. Da-rüber hinaus ist ein Handelsverbot in diesem Fall reinpraktisch bei Weitem nicht so leicht umsetzbar wie imFall von Handelsverboten bei anderen Produkten. DieKontrolle ist nicht so leicht wie bei seltenen Tieren, El-fenbein oder dem Handel von leicht nachweisbaren Gift-stoffen.Ein internationales Handelsverbot ist daher schlichtein sehr umständlicher und langsamer Weg, auch wenndieser so verlockend entschlussfreudig erscheinen mag.Wenn ich den Antrag lese, dann zweifle ich an der Be-reitschaft der Linken, sich ausreichend mit dem komple-xen Thema der Kinderarbeit auseinanderzusetzen.Dringend muss sich die Bundesregierung verstärktdafür einsetzen, dass der ausbeuterischen Kinderarbeitweltweit ein Ende gesetzt wird. Ein unreflektiertes „Wei-ter so, alles ist auf dem rechten Wege“, wie es seit die-sem Frühjahr auf mehrfache Nachfrage von der Bundes-regierung zu hören war, ist nicht akzeptabel. Wirbrauchen Konzepte, die sofort beginnen, ihre Wirkungzu entfalten. Die ausgebeuteten Kinder brauchen jetztunsere Unterstützung!Zu ProtokollHäufig wird auf die rund 174 Staaten verwiesen, wel-che bereits das ILO-Übereinkommen gegen dieschlimmsten Formen der Kinderarbeit unterzeichnet ha-ben. Das ist ein wichtiger Impuls. Beschlüsse wie dieILO-Norm 182 stellen jedoch nur einen ersten Schritt imKampf gegen die ausbeuterische Kinderarbeit dar. Denndas Abkommen muss auch umgesetzt werden, und dasmuss in erster Linie in den betroffenen Ländern und Re-gionen erfolgen. Ich will mich dafür einsetzen, dass wirim Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit ernsthaftvorankommen, und dafür brauchen wir konkrete Maß-nahmen, die an der Situation der Kinder etwas ändern,das Problem also an der Wurzel packen.In nahezu allen Fällen ist Armut die tieferliegendeUrsache für die Ausbeutung von Kindern. Armut könnenwir jedoch nicht verbieten. Nur mit guter Entwicklungs-zusammenarbeit können wir sowohl das Symptom derausbeuterischen Kinderarbeit lindern als auch die da-hinter stehende Armut bekämpfen. Soziale Absicherungist hierbei ein Schlüsselfaktor. Das Überleben der Fami-lien darf nicht von der Arbeit der Kinder abhängen,auch nicht, wenn die Eltern arbeitslos oder krank sindoder schlicht nicht genug einnehmen. Wir müssen aktivden Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung in Ent-wicklungs- und Schwellenländern vorantreiben.Hier in Deutschland kann und muss die Bundesregie-rung über die Beschaffung Verantwortung übernehmen.Indem nicht nur Produkte aus ausbeuterischer Kinder-arbeit vom Import ausgeschlossen werden, sondernauch alle weiteren ILO-Kernarbeitsnormen generell imEinkauf berücksichtigt werden müssen, kann die Bun-desregierung unmittelbar handeln. Ein solcher Schritt,mit dessen Umsetzung die Bundesregierung prompt undnahezu eigenständig beginnen kann, führt implizit undauf eine praktikable Weise auch unmittelbar zu fairerenAußenhandelsbeziehungen.Zudem ist die Bundesregierung in der Position, Ge-setze zu erlassen, welche innerhalb Deutschlands deut-lich machen, wie Länder und Kommunen gegen die welt-weite Armut und die daraus resultierende Kinderarbeitvorgehen können. Indem die Bundesregierung Länderund Kommunen jedoch im Unklaren lässt, unterbindetsie, anscheinend bewusst, sinnvolle Beiträge von aktivenGruppen und Initiativen. Die Bayerischen Verfassungsrichter haben das indieser Woche sehr deutlich gemacht: Sie haben klar fest-gestellt, dass es unsere Verfassung gebietet, aktiv gegendie schlimmsten Formen der Kinderarbeit vorzugehenund dass verwaltungstechnische Vorbehalte diesem Zieluntergeordnet sind. Zuvor hatte das oberste Verwal-tungsgericht wegen einer unklaren Gesetzeslage einerNürnberger Gemeinde untersagt, nur Grabsteine aufzu-stellen, die nachweislich frei von ausbeuterischer Kin-derarbeit sind. Diese Unklarheit ist nun ausgeräumt,und auch die Bundesregierung muss dieser Vorgabeendlich folgen!Auch unsere deutschen transnationalen Unternehmenmüssen künftig mehr Verantwortung übernehmen. DieOECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen wur-den erst im Frühsommer 2011 in überarbeiteter Form
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15814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2011 15815
Uwe Kekeritz
(C)neu vorgestellt. Das Problem ist die Umsetzung: Sank-
tionen für Unternehmen, die die Leitsätze verletzen, gibtes überhaupt nicht. Das einzige Mittel ist, Menschen-rechtsverletzungen öffentlich anzuprangern. Doch da-ran zeigt die Bundesregierung kein Interesse.Die Staaten sind verpflichtet, eine sogenannte „Na-tionale Kontaktstelle“ einzurichten, die die Verbreitungund Umsetzung der Leitsätze fördert und Beschwerdenentgegennimmt. Im Konfliktfall soll sie vermitteln undeine Lösung finden. Leider ist die deutsche Kontaktstellewenig konstruktiv. Sie ist im Bundeswirtschaftsministe-rium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen ange-siedelt. Ein Interessenkonflikt ist damit vorprogram-miert. Leider will die Bundesregierung diesenWiderspruch nicht erkennen. Ohne politischen Willensind die Leitsätze nicht das Papier wert, auf dem sie ste-hen.Wir Grüne fordern auch hier klare Regelungen:Transnationale Unternehmen müssen über die Auswir-kungen ihrer Tätigkeiten auf die Menschenrechtssitua-tion zunächst verpflichtend Bericht erstatten. Es mussTransparenz über die Folgen des weltweiten unterneh-merischen Handelns geschaffen werden. Sollten Unter-nehmen Menschenrechte, Arbeits- und Umweltstandardsnicht einhalten, sollte unser wirtschaftlicher Erfolgdurch die Arbeit von Kindern erwirtschaftet werden,muss dies öffentlich gemacht werden, und Unternehmenmüssen von jeglicher öffentlicher Förderung, ebensowie von öffentlichen Aufträgen, ausgeschlossen werden.All das sind klare Konzepte, die weit über bloße Han-delsverbote hinausgehen. Wir müssen das Thema Kin-derarbeit umfassend angehen, und wir können morgendamit beginnen. Die Bundesregierung muss endlich Ver-antwortung übernehmen. Die Selbstgefälligkeit, mit derSchwarz-Gelb die vielen Probleme abtut und Lösungenkonstant verweigert, muss endlich ein Ende haben.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/7150, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/5803 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen ange-
nommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. Oktober 2011,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen freundlichen Abend
und eine gute Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.