Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-
zung ist eröffnet.
Interfraktionell ist verabredet worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Geordnete Insolvenz – Die Haltung der Bun-
desregierung
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme
der Bundeswehr an der Friedensmission der
Vereinten Nationen in Sudan
– Drucksache 17/7000 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Rede
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
– Drucksachen 17/6298, 17/7057 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
tzung
21. September 2011
3.01 Uhr
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 13 und 16 werden abge-
setzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Op-
positionsfraktionen rücken entsprechend vor. – Damit
sind Sie einverstanden. Ich sehe und höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Waldstrategie 2020 – Inter-
nationales Jahr der Wälder 2011.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesminis-
terium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz, Herr Dr. Gerd Müller.
Dr
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Werte Gäste auf der Tribüne! Halten Sie den Atem an –text
und atmen Sie weiter. Den Atem zu kontrollieren undfrische Luft in die Lungen aufzunehmen, ist etwas, wasman etwa 20 000 bis 30 000 Mal im Jahr macht. DasSauerstoffvorkommen in der Luft und somit das Überle-ben von Mensch, Tier und Umwelt werden von unserenWäldern in der Welt gesichert. Sie sorgen aber nicht nurfür den lebensnotwendigen Sauerstoff. Auch viele an-dere wichtige Faktoren wie beispielsweise das Wasserund der Klimaschutz hängen mit dem Erhalt unsererWälder weltweit eng zusammen. Ich möchte Ihnen dasan einer Zahl verdeutlichen: 20 Prozent des weltweitens Klimagases CO2 gelangen durch Brandro-tmosphäre.t das Internationale Jahr des Waldes ausge-Ausstoßes dedung in die ADie VN harufen. Die Bundesregierung hat sich daher heute in der
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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Kabinettssitzung mit der Bundeswaldstrategie beschäf-tigt und diese verabschiedet. Danach sollen Maßnahmenzur Stärkung der nachhaltigen Bewirtschaftung, Erhal-tung und Entwicklung aller Arten von Wäldern zumNutzen heutiger und zukünftiger Generationen durchge-führt werden.Wir stellen auch in Deutschland leider fest, dass im-mer mehr Menschen – nicht nur in den städtischen Ge-bieten – den Bezug zum Ökosystem Wald verlieren. Füruns ist er Heimat und Refugium unzähliger Tiere undPflanzen. Er schützt das Klima, das Wasser und den Bo-den. Er liefert Energiequellen wie den nachwachsendenRohstoff Holz. Er bietet außerdem Erholung, Arbeit undNaturerlebnis.Der Wald in Deutschland wird nachhaltig bewirt-schaftet. Der Begriff der Nachhaltigkeit, der heute in un-ser aller Munde ist – das gilt für viele Politik- undLebensbereiche –, hat seinen Ursprung in der Forstwirt-schaft. Hans Carl von Carlowitz, sächsischer Oberberg-hauptmann, gilt als wesentlicher Schöpfer des Nachhal-tigkeitsbegriffs. Er schrieb 1713 das erste geschlosseneWerk zum Thema Forstwirtschaft. Unser Ministerium istnun der Aufforderung der VN gefolgt und hat die bun-desweite Kampagne „Waldkulturerbe“ ins Leben geru-fen. Sie haben richtig gehört: Wir verstehen den deut-schen Wald – ein Drittel der Landfläche – als Kulturerbe,das es nachhaltig zu schützen und weiterzuentwickelngilt. An dieser Kampagne haben sich bisher 1 000 Part-ner beteiligt – Bund, Länder und Verbände. Diese habenüber 6 000 Veranstaltungen eingebracht.Heute haben wir im Kabinett die Waldstrategie 2020beraten und beschlossen. Dahinter steckt eine über zwei-jährige Diskussion mit allen betroffenen Verbänden, aberauch mit allen politischen Ebenen. An dieser Stelle möchteich auch den 2 Millionen Waldbesitzern in Deutschland– den kleinen und großen Forstwirtschaften – herzlich fürihre häufig sehr mühsame und aufopferungsvolle Arbeitdanken.Die Bundesregierung steht in diesem Spannungsfeldin der Verantwortung, den Gleichklang von Ökologie,Ökonomie und Sozialem zum Nutzen und Wohle künfti-ger Generationen zu erhalten. Für Deutschland heißt das,das bewährte Prinzip einer nachhaltigen, multifunktiona-len Forstwirtschaft als Grundlage weiterzuentwickeln.In Deutschland hat sich der Wald entgegen dem welt-weiten Trend positiv entwickelt. Während wir weltweitjährlich rund 13 Millionen Hektar Wald verlieren,wächst der Wald in Deutschland dank nachhaltigerForstwirtschaft jährlich zu. In den letzten vier Jahrzehn-ten nahm die Waldfläche in Deutschland um 1 MillionHektar auf über 11 Millionen Hektar zu. Für die Zuhöre-rinnen und Zuhörer möchte ich das erläutern: Es darfnicht mehr geschlagen werden, als nachwächst. Wir ha-ben eine positive Bilanz. Zwischen den Waldinventurenin den Jahren 1987 und 2002 ist der Holzvorrat um700 Millionen Kubikmeter gestiegen. Deutschland ist inEuropa das Holzland Nummer eins.Die Waldstrategie 2020 zeigt auf, wie in der Gemen-gelage – von Biodiversität bis zur Holznutzung, vom Kli-mawandel bis zur Kohlenstoffspeicherung – jetzt zahlrei-che Schrauben justiert werden müssen, um unsere Zielezu erfüllen. Die Strategie ist als Leitlinie angelegt, ausderen Empfehlungen in neun Handlungsfeldern Maßnah-men auf unterschiedlichster Akteursebene abgeleitet wer-den müssen. So fordern die Beschlüsse der Bundesregie-rung zur Energiewende beispielsweise eine stärkereNutzung nachwachsender Rohstoffe. Holz hat hier großesPotenzial – Stichwort Biomasse. Holz spielt aber auch beider energetischen und stofflichen Nutzung eine großeRolle.Diese Anforderungen muss und wird die Waldstrate-gie mit den ebenfalls steigenden Anforderungen des Na-turschutzes in Einklang bringen. Dabei setzt sie dieNachhaltigkeit und den Erhalt der Produktionskraft derWälder als obersten Grundsatz. Die Waldstrategie zeigtdamit erstmals in einer Gesamtbetrachtung Wege zu ei-ner tragfähigen Balance zwischen den steigenden An-sprüchen an den Wald – auch seitens der Gesellschaft:Tourismus, Begehungsgebot – und seiner nachhaltigenLeistungsfähigkeit.Der heutige Beschluss der Bundesregierung über dieWaldstrategie 2020 ist daher ein sehr starkes Signal imInternationalen Jahr der Wälder. Ich sage zusammenfas-send: Es gibt viele tagesaktuelle schwierige Probleme,die wir zu bewältigen haben; aber eine echte Überle-bensfrage für Menschheit, Tier und Natur sind der Erhaltund die nachhaltige Pflege unserer Wälder in Deutsch-land und weltweit.Herzlichen Dank.
Bevor ich die erste Frage aufrufe, will ich Sie daran
erinnern, dass wir vor der Sommerpause ein neues Ver-
fahren etabliert haben, nämlich dass sich alle Fragestel-
ler und alle Antwortenden auf eine Minute beschränken.
Danach erklingt hier ein wunderbares Signal, das Sie da-
rauf aufmerksam macht.
Herr Caesar, bitte.
Zunächst einmal darf ich der Bundesregierung herz-lich danken, dass sie mit der Waldstrategie Zeichen setzt.Ich darf den Parlamentarischen Staatssekretär fragen, ober mit mir einig darüber ist, dass die Waldstrategie insbe-sondere auf die Bedeutung des Waldes sowie der Forst-wirtschaft verweist, bei der die Wertschöpfung vor allemvor Ort erfolgt, und dass unsere Forstwirtschaft aufgrundihrer Nachhaltigkeit weltweit ein Vorbild ist. Der Roh-stoff Holz wird umweltfreundlich erzeugt; gleichzeitigwächst die energetische Bedeutung des Rohstoffes Holz.Vielleicht kann die Bundesregierung ergänzend erläu-tern, wie groß die wirtschaftliche Bedeutung der Forst-wirtschaft ist und welche Bedeutung den Waldbesitzernund Forstleuten zukommt, die zu der entsprechendenEntwicklung beigetragen haben.
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Dr
Herr Kollege, wir haben in Deutschland 2 Millionen
Privatwaldbesitzer sowie 8 000 Staatsforstbetriebe bei
Bund, Ländern und Kommunen; vielfach sind es sehr
kleine Betriebe. Der Wald hat eine herausragende Be-
deutung. Ich möchte dabei auch die Bereiche Schutz-
wald und Bergwald nennen, die in der Region, aus der
ich komme, von Bedeutung sind. Ich habe selber einen
kleinen Waldbesitz und weiß, wie mühsam das ist. Das
ist das eine.
Das andere ist die wirtschaftliche Nutzung. Wir haben
die Holzvorräte in Deutschland seit 1960 durch nachhal-
tige Forstwirtschaft verdoppelt. Der häufig erhobene
Vorwurf, die Forstwirte gingen nur in den Wald, um
kurzfristigen Nutzen daraus zu ziehen, trifft absolut
nicht zu. Forstwirte denken langfristig, nicht in Jahres-
kreisen, sondern auf 30 oder 50 Jahre bezogen. Nachhal-
tigkeit wird in Deutschland umgesetzt. Sie zeigt sich in
vielfacher Weise. Auch der Waldzustand hat sich im ver-
gangenen Jahr weiter verbessert. Er kann selbstverständ-
lich noch besser werden; aber er hat sich weiter verbes-
sert, dank der Forstwirte in der Republik.
Frau Behm.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Bericht. Sie
haben erwähnt, dass der Holzvorrat in den letzten Jahren
um 700 Millionen Kubikmeter gestiegen ist; das ist
durchaus erfreulich. Sie lassen aber auch nicht uner-
wähnt, dass die Ansprüche an den Wald und damit auch
an das Holz gestiegen sind, dass mehr nachgefragt wird.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass ernstzu-
nehmende Experten für 2020 und die folgenden Jahre
eine Holzlücke von 30 Millionen Kubikmetern pro Jahr
prognostizieren. Das ist, bezogen auf die Menge, die
überhaupt nachhaltig produziert werden kann, ein wirk-
lich beträchtlicher Anteil. Sie haben jetzt in Ihrem Vor-
trag gesagt, dass die Waldstrategie die Ansprüche an den
Wald und seine nachhaltige Leistungsfähigkeit in Ein-
klang bringen muss. Ich frage Sie: Welche Konsequen-
zen und Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
in der Waldstrategie daraus für die Energiepolitik?
Dr
Ich betone noch einmal, dass das Prinzip der Nachhal-
tigkeit bedeutet: Schützen durch Nützen. Die Forstwirt-
schaft nutzt den Wald auf vielfältige Weise. Wenn wir
beispielsweise unsere ehrgeizigen Ziele bei der Steige-
rung des Anteils der erneuerbaren Energien erreichen
wollen, kommt dem Holz als Träger der Biomasse he-
rausragende Bedeutung zu. Ich will es einmal an ein paar
Zahlen verdeutlichen: Schon derzeit trägt Holz als
NaWaRo mit einem Anteil von 35 Prozent grundlegend
zur Gewinnung erneuerbarer Energien bei. Der Anteil
des Holzes an erneuerbaren Energien aus Biomasse be-
trägt 60 Prozent; bei der Wärmegewinnung aus erneuer-
baren Energien beträgt der Anteil des Holzes 66 Prozent,
bei der Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien
12 Prozent.
Die Waldstrategie hat das Ziel, das Gleichgewicht
zwischen der Ökonomie, Wertschöpfung aus dem Wald
durch die Pflege, und der Ökologie in vielfältigster
Weise herzustellen. Ich möchte an der Stelle betonen,
dass wir dieses Ziel im engen Schulterschluss mit dem
Bundesumweltministerium verabschiedet haben.
Frau Happach-Kasan.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre Einführung.
Ich bin sehr froh, dass sich die Bundesregierung ent-
schlossen hat, im Jahr der Wälder eine Waldstrategie zu
verabschieden. Sie hat damit viel Kompetenz bewiesen.
Wald ist die natürliche Vegetation in Deutschland.
Das bedeutet, dass wir eine besondere Verantwortung für
den Wald haben. Dieser kommen wir nach. Das Bundes-
amt für Naturschutz zeigt auf, dass die Zahl der gefähr-
deten Arten im Wald geringer ist als in allen anderen
Biotopen.
Holz ist der wichtigste nachwachsende Rohstoff. Des-
wegen stelle ich eine ganz grundlegende Frage: In wel-
cher Weise will die Bundesregierung im Rahmen ihrer
Waldstrategie dafür sorgen, dass Holz in dem für die ver-
schiedenen Verwendungen benötigten Umfang zur Ver-
fügung steht – ich denke an Nadelholz für die Papierher-
stellung oder Eiche für die Möbelherstellung – und
gleichzeitig die Biodiversität bewahrt wird? Welche
konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung,
und in welcher Weise werden insbesondere die Besitzer
kleiner Waldstücke, die über Holzreserven verfügen,
eingebunden?
Dr
Frau Kollegin, die Besitzer kleiner Waldstücke unddie Privatwaldbesitzer liegen uns sehr am Herzen. DieVererbung von kleinen Waldstücken bedeutet ein gewis-ses Problem. Wir wollen insbesondere die forstwirt-schaftlichen Vereinigungen stärken. Ich rufe die Klein-waldbesitzer auf – sie gehören häufig zur städtischenBevölkerung und haben von der Mutter oder Oma einStück Wald geerbt –, mit Waldpflegevereinbarungen andie Waldbesitzervereinigungen heranzutreten.Mit der Waldstrategie reagieren wir auf dieses Pro-blem. Wir haben verschiedene Handlungsfelder festge-legt. Ich nenne das Handlungsfeld „Rohstoffsicherungund Effizienz“. Es geht dabei um den Waldbau. Dasheißt, die Waldfläche soll erhalten bleiben. Es geht umdie Verbesserung der Wertschöpfung. Ich nenne Ihnendie Zahlen: 1,2 Millionen Beschäftigte im Cluster Holz-und Forstwirtschaft und ein Umsatz von 170 MilliardenEuro. Das ist also kein Randthema der Gesellschaft. Es
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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ist sowohl in wirtschaftlicher als auch in ökologischerHinsicht von herausragender Bedeutung.
Frau Crone, bitte.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
die Gesellschaft hat viele Ansprüche an den Wald. In der
Waldstrategie werden dementsprechend neue Hand-
lungsfelder formuliert. Wie hat die Bundesregierung die
Ansprüche der Gesellschaft in der Waldstrategie 2020
gewichtet? Welche Waldprodukte und Dienstleistungen
sind aus Sicht der Bundesregierung wichtig, und welche
sind weniger wichtig? Ich denke an ökologische Aspekte
wie Natur- und Artenschutz, an Erholung und an die
Holzproduktion.
Dr
Frau Kollegin, ökonomische, ökologische und soziale
Anforderungen und Aspekte stehen gleichwertig neben-
einander. Deshalb ist es uns wichtig, dass mit der Wald-
strategie in enger Abstimmung mit der Nachhaltigkeits-
strategie und der Biodiversitätsstrategie genau dieser
Ausgleich gesucht wird. Es gibt kein vor- oder nachgela-
gertes Ziel.
Der Kollege Holzenkamp.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär
Müller, vielen Dank für den Bericht und für Ihr persönli-
ches Engagement für den Wald in Deutschland und da-
mit auch für die vielen Waldbesitzer. Sie haben gerade
von dem Wirtschaftsfaktor Holz und Wald gesprochen.
Wie kann man die Wirtschaftskraft und die Wettbe-
werbsfähigkeit dieses Bereichs erhalten bzw. stärken?
Was tut die Bundesregierung dafür? Welche Rolle spielt
in diesem Zusammenhang die Forschung?
Dr
Vielen Dank. Ich danke auch dem Deutschen Forst-
wirtschaftsrat, insbesondere dem Kollegen Schirmbeck
– er ist anwesend –, der wesentliche Vorschläge dazu
eingebracht hat.
Das Maßnahmenbündel macht deutlich, dass die For-
schungsförderung einen hohen Stellenwert hat. Im Zuge
des Umbaus unserer Wälder unter dem Aspekt der Kli-
matauglichkeit gibt es viele Fragen, die wir angehen
müssen. Die Fachleute wissen, was damit gemeint ist.
Ich nenne das Stichwort „Waldklimafonds“. Mit dem
Bundesumweltministerium kamen wir überein, einen
Haushaltsansatz von 35 Millionen Euro jährlich festzule-
gen – wir hätten uns mehr vorstellen können –, wobei
wir insbesondere die von Ihnen genannten Ziele und die
Forschungsförderung im Auge hatten. Ich sage noch ein-
mal: Die privaten Kleinwaldbesitzer stärkt man insbe-
sondere durch eine Stärkung der Forstbetriebs- und
Waldbauernvereinigungen.
Frau Tackmann.
Vielen Dank auch von mir. Wir sind froh, dass die
Waldstrategie nun endlich vorliegt, nachdem sie bereits
im Januar angekündigt war. Nach dem ersten Querlesen
muss ich Respekt zollen. Das eine oder andere in der
Diskussion ist offensichtlich angekommen und eingear-
beitet worden. Über die Details können wir sicherlich
noch streiten.
Meine Frage geht in folgende Richtung. Sie themati-
sieren auch die Jagd. Das ist bei der Frage, wie wir den
Waldumbau angesichts der historisch hohen Schalen-
wildbestände schaffen, ein wichtiges Thema. Sie fordern
sozusagen die Beteiligten, also Jäger, Waldbesitzer und
Bauern, zu einer intensiven Kommunikation auf, um ein
Leitbild der „Jagd im Wald“ zu entwickeln. Mich würde
interessieren: Welche Vorstellungen hat die Bundesre-
gierung vom Leitbild der „Jagd im Wald“, und wie will
sie diesen Kommunikationsprozess, der, wie ich weiß,
emotional und schwierig ist, begleiten und fördern?
Dr
Zum Wald gehören natürlich das Wild und damit auch
der Jäger und die Jagd. Es gibt keinen Konflikt zwischen
Wald- und Forstwirtschaft und Jagd bzw. Jäger. Hier gibt
es regionale Unterschiede. Ich nenne einmal das Stich-
wort „Brandenburg“. Dort gibt es aktuell eine Diskus-
sion darüber, ob zu wenig gejagt wird, was zu einem
starken Verbiss und weniger Aufwuchs führt. An ande-
ren Stellen im Lande wird die Klage geführt, es werde zu
viel gejagt. Das können und werden wir nicht national
regeln. Dazu gibt es Jagdgesetze, Landesgesetze und
Kreisbehörden, die das im Einvernehmen zwischen
Holz- und Forstwirtschaft, Jagdgenossen und Jägern
sehr erfolgreich festlegen. Wir stellen deutschlandweit
eine nachhaltige Jagdausübung fest.
Herr Gerig.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ih-ren Bericht. Ich freue mich, dass wir mit der Novellie-rung des Waldgesetzes in 2010 und mit der baldigenVerabschiedung der Waldstrategie in 2011 zwei ganzwichtige Marksteine zum Wohle unserer Wälder setzen.Meine einfache Frage lautet: Welche Strategien verfolgtdie Bundesregierung konkret zur Anpassung unsererWälder an den Klimawandel?
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Dr
Wir werden die vorhandenen Mittel aus dem Waldkli-
mafonds vor allem in die Forschung investieren, um wei-
tere Probleme zu lösen. Eine zentrale Frage ist: Was ist
der optimale Waldbestand, welche Mischung aus Laub-
und Nadelwald sollte es an welchem Standort geben? Ich
kann zu meiner Freude feststellen, dass es durch die hohe
fachliche und forstliche Praxis, die vor Ort praktiziert
wird, in den vergangenen 30 Jahren zu einem natürlichen
Umbau weg von diesen reinen Monokulturen, zum Bei-
spiel mit Fichten oder Tannen, hin zu einer Mischbewal-
dung gekommen ist. Wir haben heute – insgesamt gibt es
11,1 Millionen Hektar Wald – einen Mischwaldanteil von
70 Prozent und einen Laubbaumanteil von 40 Prozent.
Wir unterstützen die Länder, aber auch die Kommunen
bei der Forschung zu der Frage, wie wir dieses Verhältnis
in Zukunft optimal auf die jeweilige Region bezogen wei-
terentwickeln.
Frau Maisch, bitte.
Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf die
EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie. Im Kapitel zum Schutz
von Boden und Wasserhaushalt in der Waldstrategie steht
ja deutlich, dass die Bundesregierung eine solche Richt-
linie ablehnt. Wir sind für eine solche Richtlinie. Deshalb
frage ich Sie: Wie wird die Ablehnung dieser Richtlinie
forstpolitisch begründet?
Dr
Das wird EU-politisch so begründet: Die EU soll sich
um die Fragen kümmern, für die sie die Rechtszustän-
digkeit hat.
Für den Boden im Forst gilt das nicht.
Herr Schirmbeck, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben aus meiner Sicht richti-
gerweise ausgeführt, dass der deutsche Wald, was Quan-
tität und Qualität betrifft, in den vergangenen Jahrzehn-
ten erheblich gewachsen ist. Es hat also eine sehr
positive Entwicklung stattgefunden. Da wir uns im Zeit-
alter der Biomasse befinden, frage ich Sie: Strebt die
Bundesregierung pauschale Flächenstilllegungen an?
Dr
Ich habe mir die entsprechenden Unterlagen noch ein-
mal genau angeschaut. Wir streben keine pauschalen
Flächenstilllegungen an. Ich weise aber darauf hin: Im
neuesten Indikatorenbericht der Bundesregierung zur na-
tionalen Strategie zur biologischen Vielfalt wird festge-
stellt, dass wir mit einem Indikatorwert von 81 Prozent
den höchsten Teilindikator haben. Das heißt, Nachhaltig-
keit wird in hohem Maße umgesetzt.
Schon heute stehen sage und schreibe 75 Prozent der
Waldfläche unter Schutz. Der Anteil der Naturschutzge-
biete der durch die FFH-Richtlinie und Natura 2000 ge-
schützten Gebiete und nach Bundesnaturschutzgesetz
etc. geschützten Biotope beträgt 23 Prozent. Zudem sind
120 000 Hektar Bannwald ausgewiesen, die nun bundes-
einheitlich kartiert und aufgenommen werden sollen.
Wir gehen davon aus, dass die 5 Prozent, von denen die
Rede ist, längst erreicht sind. Es wird keine pauschale
Ausweisung einer Schutzgebietszone in Höhe von 5 Pro-
zent geben.
Herr Kelber, bitte.
Herr Staatssekretär, wir freuen uns, dass Sie die Wald-
strategie nach drei Jahren vorgelegt haben. Der Praxis-
check ist allerdings etwas ernüchternd. Wenn man sich
§ 11 des Bundeswaldgesetzes anschaut, stellt man fest,
dass zum Schutz des Waldes genau zwei Punkte festge-
legt sind: Kahlgeschlagene Flächen sollen in angemesse-
ner Frist wieder aufgeforstet werden, wenn keine andere
Nutzung genehmigt wird, und die Kulturgeschichte des
Waldes soll berücksichtigt werden. Ist die Bundesregie-
rung jetzt bereit, die gute fachliche Praxis, die Sie gerade
erwähnt haben, ins Bundeswaldgesetz aufzunehmen und
damit ökologische und soziale Mindeststandards gesetz-
lich festzulegen?
Dr
Wir haben das Bundeswaldgesetz im vergangenen
Jahr novelliert. Es steht keine weitere Novellierung des
Bundeswaldgesetzes an. Es besteht aus ökologischer
Sicht und auf der Basis der von mir vorgetragenen Er-
kenntnisse kein Anlass, an der guten fachlichen Praxis in
den Ländern zu zweifeln. Auch ihre Umsetzung und ihre
Kontrolle sind gewährleistet.
Herr Fischer, bitte.
Herr Staatssekretär, in der Vergangenheit galt derGrundsatz „Wald und Wild“. Meine Frage: Wird dieserGrundsatz durch die Waldstrategie verdrängt, oder wirder beibehalten? Besteht das Risiko, dass der Grundsatz„Wald vor Wild“ in den Ländern wieder verstärkt zumTragen kommt?
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14794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
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Dr
„Wald und Wild“ ist ein tragfähiger Grundsatz, an
dem wir festhalten. Eines unserer Handlungsfelder be-
steht darin, für Aufklärung und Information zu sorgen
und zu verhindern, dass Feindbilder in die Gesellschaft
getragen werden. Die Jägerinnen und Jäger in Deutsch-
land leisten herausragende Arbeit. Sie leisten auch einen
Beitrag zum Schutz und zur Erhaltung des Ökosystems
Wald. Das funktioniert in den allermeisten Fällen in her-
vorragender Zusammenarbeit und im Zusammenspiel
mit den Forstwirten. Wir fordern alle Beteiligten auf,
auch in Zukunft gemeinsam für die Erhaltung des Öko-
systems Wald und für den Schutz von Natur und Tieren
einzutreten.
Herr Süßmair.
Herr Staatssekretär, meine Frage knüpft an die eben
erwähnte Stilllegung von Waldflächen an. Sie haben ge-
sagt, es soll keine pauschalen Stilllegungen geben, und
die bestehenden Flächen genannt. Mich würde interes-
sieren: Was plant die Regierung für den Fall, dass zum
Beispiel private Waldbesitzer im Rahmen der Biodiver-
sitätsstrategie Flächen stilllegen? Wird der finanzielle
Ausfall ersetzt? Werden Entschädigungen gezahlt? Zur-
zeit ist in den Bundesländern leider die Tendenz zu be-
obachten, dass vor allem Staatsforste stillgelegte Flä-
chen bzw. ökologische Vorrangflächen zur Verfügung
stellen, mit der Folge, dass diese Einnahmen den öffent-
lichen Haushalten fehlen.
Dr
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir bereits
75 Prozent des deutschen Waldes als Sondergebiete bzw.
als Schutzgebiete ausgewiesen haben und dass es jetzt
keine Notwendigkeit gibt, darüber hinaus mit gesetzli-
chen Regelungen zu agieren.
Ich darf Sie noch auf eine interessante Studie des
Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hinweisen; denn
mit Ihrer Frage wird ja suggeriert, stillgelegte Waldflä-
chen seien ökologisch wertvoller als genutzte Wälder.
Dem wird durch die Ergebnisse der Wissenschaftler in
der Studie widersprochen. Sie sagen: Die Biodiversität
wird durch wirtschaftlich genutzte Wälder nicht mehr
oder nur sehr wenig mehr als durch absolut nicht ge-
nutzte, verrottende Wälder beeinträchtigt. Ich kann Ih-
nen das am Beispiel der Käfer- und Vogelarten darstel-
len: Während es im Naturwald 451 Käferarten und
30 Vogelarten gibt, sind es im Wirtschaftswald 423 Kä-
ferarten und 32 Vogelarten.
Wir haben das in einem Monitoring ganz genau wis-
senschaftlich untersucht. Deshalb sind wir nicht für eine
weitere gesetzliche Festlegung einer 5-Prozent-Schutz-
zone.
Herr Caesar, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben zu Recht formu-
liert, dass es auf eine nachhaltige Bewirtschaftung an-
kommt. Sind Sie der Auffassung, dass dem durch die
Waldstrategie Rechnung getragen wird, und zwar vor
dem Hintergrund, dass aufgrund der umweltfreundlichen
Erzeugung dieses Rohstoffes und der energetischen Ver-
wertung zusätzliche Anforderungen an den Wald gestellt
werden?
Gerade mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wollen
wir bestimmte Ziele erreichen, um der Bedeutung des
Klimaschutzes und natürlich auch der erneuerbaren
Energien Rechnung zu tragen. Was besagt also die Wald-
strategie hinsichtlich der Tatsache, dass auch dem ener-
getischen Bedarf Beachtung geschenkt werden muss?
Das würde bedeuten, dass man in der Lage ist, dort ent-
sprechend ausreichende Holzmassen bereitstellen zu
können.
Dr
Ich habe den Istzustand genannt. Holz spielt eine he-
rausragende Rolle. Wenn wir die Bioenergieziele, die
sich die Bundesregierung gesetzt hat, erreichen wollen,
wird Holz eine weiter steigende Bedeutung haben müs-
sen – auch unter dem Gesichtspunkt des aktiven Klima-
schutzes.
Der Wald speichert ja nicht nur CO2 und gibt Sauer-
stoff ab – das sind seine herausragenden Funktionen –,
sondern durch die stoffliche und energetische Nutzung
ist der Kohlenstoff gebunden. Er wird nicht in die Atmo-
sphäre abgegeben. Es gibt also viele Gründe dafür, den
Bereich Holz sowohl für die energetische als auch für
die stoffliche Nutzung – als Baustoff für den Hausbau
und somit als Alternative zu Beton – weiter zu stärken.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen
Punkt kurz ansprechen: Wir haben nicht nur national ein
Zertifizierungssystem, das der Deutsche Forstwirt-
schaftsrat begründet hat – die Forstwirte haben dies ein
Stück weit freiwillig entwickelt –, sondern wir sind da-
neben intensiv dabei, solche Regeln auch international
umzusetzen.
Herr Ebner, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben die wichtigevolkswirtschaftliche Bedeutung der Holzwirtschaft er-wähnt. Der Waldumbau weg von Nadelholzmonokultu-ren hin zu Mischwäldern wird angesichts des Klimawan-dels auch von der Bundesregierung – so haben Sie dasvorhin auch ausgeführt – wenn nicht als alternativlos, sodoch als Ziel angesehen. Gleichzeitig ist die Holzwirt-schaft in weiten Teilen des Landes nicht auf die Verwer-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14795
Harald Ebner
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tung von Laubholz, sondern überwiegend auf die Ver-wertung von Nadelholz eingestellt.Daher lautet meine Frage: Welche Strategie verfolgtdie Bundesregierung, um holzwirtschaftlich und insbe-sondere auch forschungspolitisch auf diese Herausforde-rung reagieren zu können? Das Thema Baustoffverwen-dung haben Sie ja schon angesprochen.Danke.Dr
Ich habe die Zahlen genannt: 70 Prozent Mischwälder
mit einem Anteil von 40 Prozent Laubbäumen. In die-
sem Zusammenhang nenne ich auch die Themen Auf-
wuchs und Buche. Außerdem verzeichnen wir einen Zu-
wachs bei 80-jährigen Wäldern. Dies zeigt, dass durch
die fachliche forstwirtschaftliche Praxis in den Ländern
und vor Ort eine Nachhaltigkeit beim Umbau unseres
deutschen Waldes erreicht wird, sodass der Klimaschutz
erhöht werden kann. Mit dieser positiven Entwicklung
sind wir sehr zufrieden. Die Holzwirtschaft muss sich,
was die Verarbeitung betrifft, sicherlich ein Stück weit
darauf einstellen. Ich sehe derzeit keine Notwendigkeit,
dass vonseiten der Bundesregierung hier der Holzwirt-
schaft Hilfen geboten werden.
Frau Crone, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich am Anfang unter
anderem für die Zusammenarbeit mit den Waldbesitzern
bedankt. Schon zu Beginn des Jahres wurde ein Entwurf
präsentiert, der dann aber zurückgezogen werden
musste, weil von den Naturschutzverbänden, Umwelt-
verbänden und auch Forstverbänden sehr viel Kritik ge-
übt wurde. Man hatte nicht den Eindruck, dass da sehr
viel Partizipation vorhanden war. Wie sehen Sie das?
Wie sehen Sie den Informationsfluss zwischen dem Um-
weltministerium und dem BMELV?
Dr
Bundesminister Röttgen und Bundesministerin Aigner
haben diese Waldstrategie im Einvernehmen beschlos-
sen. Auf fachlicher Ebene gab es vorher einen zweijähri-
gen Informationsaustausch; das ist selbstverständlich.
Die Fachkompetenz aller Ressorts wird hier eingebracht.
Meine Kollegin Staatssekretärin Heinen haben wir
leider an das Bundesumweltministerium abgeben müs-
sen.
Damit ist der Einfluss unseres Hauses und die Kompe-
tenz dort in diesen Fragen gewachsen. Dies hat sich in
der Abstimmung und in der Zusammenarbeit als sehr
positiv herausgestellt. Die ökologischen und wirtschaft-
lichen Themen sind zu einer Gesamtstrategie zusam-
mengewachsen, wie es in einer funktionierenden Bun-
desregierung vielleicht beispielgebend sein könnte.
Frau Behm.
Es ist schön, dass ich noch einmal das Wort be-
komme. – Der Kollege Fischer hat die Jagd angespro-
chen. In Ihrer Strategie stellen Sie selbst nun fest, dass
sich die Jagdausübung in Deutschland ändern muss, da-
mit es möglich ist, dass sich Wälder überall in Deutsch-
land ohne kostenaufwendige Einzäunung, die für die
Waldbesitzer wirklich ein Problem ist, naturverjüngen.
Da frage ich mich ganz besorgt, warum Sie nicht die
Schlussfolgerung ziehen, das Jagdrecht, also den rechtli-
chen Rahmen, zu ändern; denn schließlich ist es der
rechtliche Rahmen, mit dem dafür gesorgt werden soll,
dass wir in allen Teilen Deutschlands waldgerechte
Wilddichten haben.
Dr
Frau Kollegin Behm, ich bin Herrn Fischer sehr dank-bar dafür, dass er dieses Ehrenamt übernommen hat unddiese Grundsätze in den Deutschen Jagdschutzverbandhineinträgt. Den bundesgesetzlichen Rahmen für dieJagd in Deutschland bilden das Bundesjagdgesetz, dieBundesjagdzeitenverordnung sowie die Bundeswild-schutzverordnung.Nun sage ich Ihnen Folgendes aus der Praxis: Vor einpaar Wochen, mittags um 12 Uhr, war ich zu Hause, lagauf der Terrasse und sah, wie ein Fuchs vorbeiging. Stel-len Sie sich das einmal vor!
Er machte sich an meinem Kompost zu schaffen undschlich sich dann wieder davon.Das verdeutlicht das Problem. Wir haben beispiels-weise in meiner Region das Problem der Fuchsbejagung;denn viele Jäger sagen: Das mache ich nicht, weil es sichnicht mehr lohnt. – Viele meinen noch immer, dass mitder Jagd etwas verdient wird. Vielmehr müssen wir denJägern dankbar sein, dass sie für diesen notwendigenAusgleich sorgen.Die Abschusszahlen für Wild – das ist wichtig – wer-den jeweils vor Ort, also regional, festgelegt. Es wäreUnsinn, wenn wir in Berlin oder auf Landesebene festle-gen würden, was in der Region wie in welchem Ausmaßbejagt werden muss.
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14796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(C)
(B)
Wir bedanken uns beim Herrn Staatssekretär aus-
drücklich für den Einblick in das Leben eines Staatsse-
kretärs.
Dr
Ich lebe halt naturnah.
Das ist wunderbar. – Herr Rief hat noch eine Frage.
Se
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wissen um
die Zusammenhänge im Wald und um den Wald herum
ist bei der ländlichen Bevölkerung teilweise noch vor-
handen, bei der städtischen entsprechend weniger. Wel-
chen Beitrag kann die Waldstrategie leisten, um hier ein-
fach Abhilfe zu schaffen?
Dr
Wir führen in diesem Jahr mit vielen Partnern im
Rahmen des Waldkulturerbes 6 000 Veranstaltungen
durch. Das darf aber kein einmaliges Strohfeuer sein,
sondern der Wald gehört als Unterrichtsfach in die Schu-
len. Kinder und Jugendliche müssen den Naturraum
Wald erleben. Auch manchem Abgeordneten würde es
guttun,
wenn er am Sonntag keine Presseerklärungen abgeben,
sondern im Wald spazieren gehen würde.
Frische Luft schafft freie und gute Gedanken.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Weitere Fragen zur heutigen Kabinettssitzung und
auch andere Fragen an die Bundesregierung liegen uns
nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Tagesord-
nungspunktes.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 17/6994, 17/7019 –
Die dringliche Frage 1 des Kollegen Thierse wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen auf Drucksache 17/6994.
Auch hier wollen wir es so halten, wie wir das eben be-
reits praktiziert und auch vor der Sommerpause verabre-
det haben, dass jeweils nach einer Minute bei Fragen
und Antworten ein Signal ertönt. Ich bitte Sie, schon im
Vorfeld darauf zu achten, dass Sie Ihre Redezeit nicht
überziehen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische
Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Christian Lange
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 3 der Abgeordneten Ute
Kumpf:
Wie ist der aktuelle Sachstand zum Ausbau der 27 Ne-
ckarschleusen, und gehört dieser Ausbau, wie er von der letz-
ten Bundesregierung im Investitionsrahmenplan 2006 bis
2010 zugesichert wurde, nach wie vor trotz der neuen Katego-
risierung dieses Streckenabschnittes südlich von Heilbronn
durch die Bundesregierung als Ergänzungs- und Nebennetz zu
den prioritären Investitionsprojekten?
Herr Staatssekretär.
J
Frau Präsidentin, die Antwort lautet: Mit erforderli-
chen vorbereitenden Instandsetzungsmaßnahmen an den
Schleusenanlagen wurde begonnen. Zurzeit laufen Vor-
untersuchungen und Planungen zur Grundinstandset-
zung bzw. zur Verlängerung von Schleusenkammern,
zum Bau von Fischaufstiegsanlagen sowie zum Ausbau
und zur Sicherung von Liegestellen und Vorhäfen.
Für die zu verlängernden Schleusenkammern sollen
die Planungen bis zum Jahr 2012 so weit vorangebracht
werden, dass anschließend mit dem Bau begonnen wer-
den kann. Die Reihenfolge der Maßnahmen wird anhand
zustandsbedingter verkehrlicher und planerischer Krite-
rien festgelegt. Hierbei sollen unter Berücksichtigung
der verkehrlichen Auslastung der einzelnen Streckenab-
schnitte die Maßnahmen zur Schleusenverlängerung,
flussaufwärts betrachtet bis Heilbronn, prioritär voran-
getrieben werden, um möglichst frühzeitig den Hafen
Heilbronn mit 135 Meter langen Schiffen erreichen zu
können. Zugleich soll im Abschnitt Heilbronn–Plochin-
gen jeweils eine der beiden Zwillingskammern instand
gesetzt werden, damit die Schifffahrt auch in diesem Ab-
schnitt den Neckar weiterhin sicher und leicht verkehren
kann.
Der Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 stellt, wie
der Name besagt, einen Rahmenplan für die in diesem
Zeitraum vorgesehenen Infrastrukturinvestitionen dar.
Dabei wurde im Hinblick auf eine mögliche zeitliche
Verzögerung bei einzelnen Projekten bewusst eine Pla-
nungsreserve einkalkuliert. Keinesfalls kann und konnte
zu irgendeinem Zeitpunkt aus dem Investitionsrahmen-
plan eine Realisierungszusage in einem festgelegten
Zeitraum abgeleitet werden.
Frau Kumpf, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14797
(C)
(B)
Herr Staatssekretär, erst einmal herzlichen Dank da-
für, dass mit Ihrer Antwort ein bisschen mehr Licht ins
Dunkel gebracht wurde. Trotzdem gibt es noch einige
offene Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte.
Haben Sie auch schon mit der baden-württembergi-
schen Landesregierung Kontakt aufgenommen, um die-
sen Zeitplan und die Zeitschiene entsprechend zu erläu-
tern und darüber zu diskutieren? Haben Sie Ihr Wissen,
das Sie uns heute präsentiert haben, auch an den Ober-
bürgermeister der Stadt Stuttgart und an die Region wei-
tergegeben, die Sie dringend gebeten haben, bei diesen
Ausbauplänen zu bleiben? Es geht also nicht nur um die
Renovierung, sondern auch um den Ausbau und die Ver-
längerung der Schleusen. Haben Sie diesen Sachstand an
die entsprechenden Stellen weitergegeben?
J
Geschätzte Frau Kollegin, wir sind in ständigem Kon-
takt mit allen Landesregierungen,
selbstverständlich auch mit der in Baden-Württemberg.
Wie Sie wissen, sind wir gerade dabei, einen neuen In-
vestitionsrahmenplan zu erarbeiten. Auch in diesem Zu-
sammenhang wird die Landesregierung von Baden-
Württemberg beteiligt werden.
Wir haben schon seit dem Jahr 2007 mit der Landes-
regierung in Baden-Württemberg einen intensiven Aus-
tausch über den Ausbau. Ich bin mir sicher, dass die von
Ihnen geforderte Informationsweitergabe an die jeweili-
gen kommunalen Verantwortungsträger in bewährter
Weise erfolgen wird.
Ist der Eindruck richtig, dass Sie eine zweite Nach-
frage haben, Frau Kumpf? – Bitte schön.
Genau, ich habe eine zweite Nachfrage und muss
noch einmal insistieren. Denn ich muss die Briefe beant-
worten, die mir geschrieben werden, aber eigentlich an
Sie gerichtet sein müssten.
In der Großen Koalition ist verabredet worden, die
Sanierung und Verlängerung innerhalb von zehn Jahren
zu bewerkstelligen. Das ist schon ein relativ langer Zeit-
raum, und wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie
das noch weiter strecken. Das heißt, dass die ersten
Schiffe von 135 Metern Länge wahrscheinlich nicht erst
2021, sondern erst 2025 den Neckar passieren können,
woraus sich eine Belastung für den Straßengüterverkehr
ergibt. Wie ist das, was Sie gesagt haben, genau zu inter-
pretieren? Vielleicht können Sie das konkret sagen.
J
Das kann ich leider nicht, weil ich natürlich nicht vor-
hersehen kann, wie die einzelnen Planungsverfahren
ausgehen werden, ob es möglicherweise Klagen dagegen
gibt und in welchem Rahmen uns der Deutsche Bundes-
tag, also Sie als Haushaltsgesetzgeber, die finanziellen
Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um die Maßnahmen
baulich umzusetzen. Das alles wird nur dann funktionie-
ren, wenn wir einen ausreichend großen Verkehrsetat be-
kommen.
Da ich nicht über hellseherische Fähigkeiten verfüge,
kann ich Ihnen schlecht darüber Auskunft geben, wann
wir genau damit beginnen werden. Ich habe gesagt, dass
wir anstreben, zumindest im Planungsbereich bis zum
Jahr 2012 fertigzuwerden. Ich denke, dass wir uns dann
auf Grundlage der zur Verfügung gestellten Haushalts-
mittel mit der Realisierung befassen müssen.
Wir haben ein großes Interesse daran, den Verkehr,
der jetzt noch über die Straße läuft, möglichst auf andere
Verkehrsträger zu verlagern. Das ist eine sinnvolle Poli-
tik. Denn wir werden in den nächsten Jahren einen ge-
waltigen Anstieg des Güterverkehrs erleben. Wir haben
ein eigenes Interesse daran, einen Teil dieses Verkehrs
über den Neckar zu bewältigen.
Es gibt eine Nachfrage der Kollegin Roth zu dieser
Frage.
Verehrter Herr Staatssekretär Mücke, bei den 27 Neckar-
schleusen geht es um ein großes Thema, was Investition
und Planung betrifft. Daher haben wir in der Großen Ko-
alition ein besonderes Amt eingerichtet, das unter ande-
rem diese Planung vorbereitet. Das ist Ihnen bekannt.
In Ihrer Antwort sind Sie auf die Planungen bis Heil-
bronn eingegangen. Das sollte auch in dem vorgesehenen
Zeitraum erfolgen. Darüber hinaus waren auch die Pla-
nungen der Baumaßnahmen von Heilbronn bis Plochin-
gen eingetaktet. Sie haben in diesem Zusammenhang ei-
nen interessanten Satz gesagt, nämlich dass die oberhalb
von Heilbronn notwendigen Sanierungsmaßnahmen er-
folgen. Das hört sich zwar gut an, ist aber zu wenig.
Denn die Beschlussfassung sieht klar vor, neben der Sa-
nierung auch gleichzeitig den Ausbau für Schiffe von
135 Metern Länge zu erreichen. Sind Sie in der Lage,
mir heute zu bestätigen, dass Sie auch das planen, oder
ist nur die Sanierung vorgesehen?
J
Frau Kollegin, das kann ich Ihnen heute nicht sagen.
Denn wir sind, wie Sie wissen, mitten in einer WSV-Re-form. Wir nehmen gerade eine Netzkategorisierung vor,und zwar auf Anforderung des Haushaltsausschusses desDeutschen Bundestages. Zunächst einmal sind die Er-gebnisse dieser Reform der Wasser- und Schifffahrtsver-waltung und der damit verbundenen Netzkategorisierungabzuwarten. Aus dieser Netzkategorisierung ergibt sichdann, ob wir in Neubaumaßnahmen investieren könnenoder ob wir zunächst in den Erhalt der bestehenden In-frastruktur investieren.
Metadaten/Kopzeile:
14798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
Diese Kategorisierung und Priorisierung von Maß-nahmen ist auch angesichts der Sparzwänge, die wir allegemeinsam im Bundeshaushalt haben, notwendig; denndie Steuerbürger erwarten zu Recht von uns, dass wir mitdem Geld, das sie uns zur Verfügung stellen, ganz beson-ders sorgsam umgehen und deshalb zuerst an den Stelleninvestieren, wo der volkswirtschaftliche Nutzen ganz be-sonders hoch ist.
Damit kommen wir zu Frage 4 der Kollegin Ute
Kumpf:
Bis wann und nach welchen Modalitäten – Anforderungs-
profil, Kriterien, Abgabe, Entscheidung – schreibt die Bun-
desregierung die „Schaufenster Elektromobilität“ aus?
Herr Mücke, bitte.
J
Ziel der Bundesregierung ist es, der innovativen Elek-
tromobilitätstechnologie in Deutschland branchenüber-
greifend und branchenverknüpfend in konstruktiver Zu-
sammenarbeit mit den Bundesländern Schaufenster zu
bieten. Die deutsche Technologiekompetenz soll in etwa
drei bis fünf Großprojekten demonstriert werden, damit
die Öffentlichkeit die Elektromobilität erleben und buch-
stäblich erfahren kann. Vor allem die Offenheit neuen
Technologien gegenüber soll in diesen Schaufenstern ak-
tiv unterstützt werden.
In den Schaufenstern können Mobilitätskonzepte so-
wie ordnungspolitische Rahmenbedingungen erprobt
werden. Durch die erfolgreiche und sichtbare Demon-
stration sollen Impulse für die internationale Nachfrage
generiert werden, was auch den Gedanken der Leitanbie-
terschaft für Elektromobilität fördern soll. In den Schau-
fenstern werden die gewonnenen Erkenntnisse und Er-
fahrungen aus den im Rahmen des Konjunkturpakets II
der Bundesregierung initiierten Programmen zur Förde-
rung der Elektromobilität, also aus den Modellregionen
und Modellprojekten, die Ende 2011 auslaufen, weiter-
entwickelt.
Die Bekanntmachung zur Förderung von Forschung
und Entwicklung der „Schaufenster Elektromobilität“
wird im Herbst 2011 herausgegeben. Nach einer Bewer-
bungsfrist von zehn Wochen wird für Interessenten nach
jetziger Planung im Winter eine Fachjury tagen. Sie er-
stellt eine Rangfolge der ausgewählten Projekte und
schlägt diese den Bundesministerien BMVBS, BMWi,
BMU und BMBF zu deren abschließenden Entscheidung
der Auszuwählenden vor. Die Bundesregierung, vertre-
ten durch diese vier beteiligten Bundesministerien, ent-
scheidet auf Basis der eingereichten und bewerteten
Konzepte unabhängig, unter Berücksichtigung der Aus-
wahlvorschläge.
Frau Kumpf, eine Nachfrage.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Das hilft
schon etwas weiter; denn die Modellregionen warten auf
eine Entscheidung, wann sie ihre Bewerbungen einrei-
chen können. Der Herbst hat allerdings, so glaube ich,
mit dem heutigen Tag, dem 21. September, schon begon-
nen und geht bis Dezember. Dieser Zeitraum, den Sie
mir genannt haben, ist also sehr ungenau. Deswegen
frage ich nach: Wann ist mit dieser Ausschreibung zu
rechnen? Die Vorbereitungen laufen bereits in den Mo-
dellregionen und den Ländern. Wer wird diese Auswahl
konkret treffen? Wie ist die Jury zusammengesetzt?
Handelt es sich wieder überwiegend um Vertreter aus
den Unternehmen wie bei der Nationalen Plattform
Elektromobilität? Sind die Verbraucher eingebunden?
Sind vielleicht auch ein paar Damen dabei? Bislang ist
das ein sehr herrenlastiger Verein. Wie stellen Sie sich
die Zusammensetzung dieser Fachjury vor?
J
Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich leider kein konkrete-
res Datum als den Herbst nennen. Da Sie wissen, wann
der Herbst endet, können Sie abschätzen, wann spätes-
tens eine Entscheidung fallen wird bzw. die Partner in
der Region wissen, bis zu welchem Zeitpunkt sie sich
bewerben können.
Wir gehen davon aus, dass in der Fachjury natürlich
Vertreter der Industrie, aber auch der Wissenschaft sein
werden. Ich habe Ihnen vorhin erläutert, dass es nicht
nur um technische Aspekte geht, sondern auch um Fra-
gen des Ordnungsrechts. Das alles soll dort erprobt wer-
den. Deshalb wäre es sicher ein falscher Ansatz, aus-
schließlich auf die Industrie zu setzen. Die Fachjury
wird insofern breit aufgestellt sein. Ich kann jetzt
schlecht vorhersagen, ob auch Frauen dabei sein werden.
Ich wünsche mir das jedenfalls. Ich werde Sie rechtzeitig
über die Zusammensetzung der Fachjury schriftlich in-
formieren, wenn Sie das wünschen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Bitte schön.
Ich möchte nachfragen: Die Schaufenster sind hof-
fentlich so gedacht, dass sie an den Modellregionen an-
setzen und dass keine Projektruinen in den Modellregio-
nen zurückbleiben. Nach ersten Informationen, die uns
erreichten, war nur von einem Schaufenster die Rede,
und zwar in Berlin. Dann wurde die Region Stuttgart er-
wähnt. Vielleicht gibt es noch ein Schaufenster in Bay-
ern. Wie hoch ist die Zahl der Schaufenster? Sind auch
ländliche Räume und grenzüberschreitende Aspekte be-
rücksichtigt?
J
Wir planen, wie ich vorhin schon erwähnt habe, mitdrei bis fünf Schaufenstern. Über grenzüberschreitendeZusammenarbeit ist noch nicht entschieden worden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14799
(C)
(B)
Die Frage 5 des Abgeordneten Volker Beck und die
Frage 6 der Abgeordneten Silvia Schmidt werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Pronold auf:
Wann wird die Bundesregierung den bundesweiten Feld-
versuch mit Gigalinern im Jahr 2011 mit welcher Laufzeit
starten?
Herr Staatssekretär, bitte.
J
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, aufgrund der
Vielzahl der eingegangenen ausführlichen Stellungnah-
men der Verbände und der Verlängerung der Stellung-
nahmefrist für die Bundesländer bis zum 16. September
2011 kann eine Aussage zum genauen Starttermin des
Feldversuchs mit langen Lkw zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht getroffen werden. Der Feldversuch soll je-
doch noch in diesem Herbst starten. Er soll auf eine
Laufzeit von fünf Jahren ausgelegt sein.
Herr Kollege Pronold, Sie haben eine Nachfrage? –
Bitte sehr.
Mich würde interessieren, ob das Rechtsgutachten,
das von dem renommierten Professor Battis ist und das
die Allianz pro Schiene vorgelegt hat, Auswirkungen auf
die Überlegung der Bundesregierung hat. Wenn ja, in
welcher Form? Wie bewerten Sie vor allem die recht-
lichen Ausführungen, die besagen, dass der Bundestag
und die Bundesländer bei dieser Frage zwingend zu be-
teiligen sind, was von der Bundesregierung bislang un-
terlassen worden ist?
J
Wir kennen das Gutachten von Professor Dr. Battis
und gehen davon aus, dass Professor Battis hier einen
eigenständigen Regelungsgehalt einiger Vorschriften der
Ausnahmeverordnung annimmt. Diese Auffassung teilen
wir nicht. Wir gehen davon aus, dass es sich vielmehr
um Bedingungen und Auflagen zu den Ausnahmetat-
beständen handelt und deshalb eine Eigenständigkeit der
Regelung, wie sie Professor Battis ansieht, nicht gege-
ben ist.
Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage? – Bitte
schön.
Ich habe die Nachfrage, worin denn die Verlängerung
der Frist, die Sie angesprochen haben, begründet liegt.
Hat das etwas mit dem Rechtsgutachten zu tun? Hat das
etwas mit dem Verhalten einiger Bundesländer zu tun?
Warum hat die Bundesregierung den Herbst, in dem sie
loslegen will, sozusagen noch kürzer gemacht und die
Anhörungsfrist um zwei Wochen verlängert?
J
Es ist generell eine gute Übung, dass wir uns und den
Bundesländern die Zeit geben, um dieses anerkannter-
maßen schwierige Problem vernünftig abzuwägen. Des-
halb ist, so glaube ich, eine zusätzliche Frist von zwei
Wochen zur Stellungnahme für die Bundesländer kein
Nachteil, sondern ein Vorteil. Ich glaube, dass das ange-
sichts der von uns vorgesehenen Zeit von fünf Jahren für
diesen Versuch kein Zeitraum ist, der das Voranbringen
des Projekts wesentlich beeinträchtigen wird. Wir gehen
davon aus, dass diese zwei Wochen dazu genutzt wur-
den, dass die Bundesländer ihre Stellungnahmen uns de-
taillierter zur Kenntnis geben konnten. Es ist sicher in ih-
rem Interesse, dass das in vernünftiger Weise erfolgt.
– Eine Anhörung ist eine Form der Beteiligung.
Eine Nachfrage des Abgeordneten Burkert. Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf den
Feldversuch. Können Sie bestätigen, dass das Bundes-
land Hessen aus dem Feldversuch ausgestiegen ist? Ist
Ihnen bekannt, dass die großen Speditionsfirmen in
Deutschland – ich nenne beispielsweise Kühne + Nagel,
aber auch andere – kundgetan haben, dass dann, wenn
Hessen nicht mehr bei dem Feldversuch mitmacht und
auch Gefahrgut in den Gigalinern nicht transportiert
werden darf, der Feldversuch obsolet und völlig über-
flüssig ist?
J
Diese Frage ist ähnlich wie die Frage 8 des Kollegen
Pronold gelagert. Uns ist ein Ausstieg des Bundeslandes
Hessen aus dem Feldversuch bisher nicht bekannt. Wir
haben gelesen, was dazu in der Presse zu finden war.
Aber richtig ist, dass es seitens des hessischen Verkehrs-
ministers noch offene Fragen gegeben hat. Durch eine
entsprechende Anpassung in der Begründung der Aus-
nahmeverordnung konnte eine Lösung gefunden wer-
den. Deshalb gehen wir davon aus, dass das Bundesland
Hessen am Feldversuch teilnehmen wird.
Dann sind wir jetzt bei der Frage 8 von HerrnPronold:Was sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Gründedes Bundeslandes Hessen, sich nicht an dem bundesweitenFeldversuch mit Gigalinern in Deutschland zu beteiligen?
Metadaten/Kopzeile:
14800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(C)
(B)
J
Das ist dieselbe Antwort: Uns ist ein Ausstieg des
Bundeslandes Hessen nicht bekannt.
Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Unabhängig von der Situation des Landes Hessen gibt
es aus vielen Bundesländern Widerstand, insbesondere
aus Baden-Württemberg, das sich auch zurückgezogen
hat. Wie bewertet die Bundesregierung diesen massiven
Widerstand, und hält sie es bei einem solchen Thema für
sachlich geboten, mit einer Ausnahmeverordnung zu
agieren?
J
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein verkehrspoli-
tisch umstrittenes Thema von den Bundesländern sehr
unterschiedlich bewertet wird. Sie selber kennen die Ge-
schichte der langen Lkw, die mit sehr unterschiedlichen
Bezeichnungen versehen worden sind, sehr gut. Es läuft
darüber schon sehr lange eine verkehrspolitische Diskus-
sion. Deshalb ist es für die Bundesregierung geradezu
zwangsläufig, dass es einzelne Bundesländer gibt, die
sich dazu anders verhalten, eine andere Position einneh-
men. Das respektieren wir selbstverständlich. Aber das
heißt nicht, dass wir für einen Versuch nicht eine Aus-
nahme von der gültigen Verordnung zulassen können.
Wir sehen ja, dass in einigen europäischen Ländern diese
langen Lkw zugelassen sind. Deutschland ist ein großes
Transitland. Es ist aus meiner Sicht auch durchaus zuläs-
sig, dass wir uns angesichts steigender Frachtzahlen, an-
gesichts von Prognosen, die einen 70-prozentigen Zu-
wachs des Güterverkehrs vorhersagen, auch Gedanken
darüber machen, wie wir diesen Güterverkehr mit ande-
ren Mobilitätskonzepten bewältigen können.
Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte
schön.
Dann will ich deutlicher nachfragen. Warum gehen
Sie angesichts der Umstrittenheit dieses Themas in der
Verkehrswelt und in der Öffentlichkeit über eine Aus-
nahmeverordnung? Trauen Sie Ihren eigenen Argumen-
ten nicht zu, zu überzeugen, sodass Sie Bundestag und
Bundesrat bei dieser Frage ganz normal beteiligen könn-
ten?
J
Ich glaube, dass die Ausnahmeverordnung das rich-
tige Instrument für einen Versuch ist. Es wird ein Feld-
versuch und keine Regelanwendung sein. Deshalb ist die
von uns vorgesehene Regelung über eine Ausnahmever-
ordnung in der Tat der richtige Weg. Wir wollen die fünf
Jahre nutzen, eine ergebnisoffene Evaluierung des Ver-
suchs vorzunehmen, um dann möglicherweise weitere
verkehrspolitische Schlüsse zu ziehen. Jetzt kommt es
uns darauf an, den Versuch ausnahmsweise möglich zu
machen, und ich glaube, dass das auch der richtige Weg
ist.
Jetzt noch einmal der Kollege Burkert.
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist das im Feldver-
such schon berücksichtigt? Sind darin Bahnübergänge
mit Schranken enthalten? Wenn ja, wer trägt die Kosten?
Ist man mit der Deutschen Bahn schon zu einer Einigung
darüber gekommen?
J
Wir gehen davon aus, dass die langen Lkw auf spe-
ziell definierten Strecken unterwegs sein werden. Das
sind natürlich in allererster Linie Autobahnen und damit
kreuzungsfreie Strecken. Es geht uns ausdrücklich nicht
darum, dass die langen Lkw auf Kreis- oder Landesstra-
ßen fahren dürfen, auf denen es üblicherweise Bahn-
übergänge gibt. Uns geht es vor allem um den Verkehr
von Güterverkehrszentrum zu Güterverkehrszentrum
über leistungsfähige Bundesstraßen.
Über eine konkrete Absprache mit der Deutschen
Bahn AG kann ich Ihnen heute nichts berichten.
Noch eine Nachfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, es gehe hauptsächlich
um Autobahnen und nicht um nachgeordnete Straßen.
Wenn es Ihnen hauptsächlich um Autobahnen geht, frage
ich mich: Warum sind denn auf der Liste, die in dem von
Ihnen verteilten Papier enthalten ist, sehr viele Straßen
aus dem nachgeordneten Bereich bis hin zu Kreisstraßen
verzeichnet?
J
Es ist ganz klar, dass der größte Teil der benutztenStraßen Bundesautobahnen sein werden. Ich habe nichtdavon gesprochen, dass ausschließlich diese benutztwerden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in dem einenoder anderen Fall auch nachgeordnete Straßen benutztwerden. Jedenfalls werden nur solche Straßen benutztwerden dürfen, die einen solchen baulichen Zustand ha-ben – das wird uns von der Auftragsverwaltung, also vonden Bundesländern, mitgeteilt –, dass die Straßenprofilemit den Dimensionen langer Lkw harmonieren. Sie wis-sen, dass lange Lkw beispielsweise andere Schleppkur-ven haben und sie deshalb bestimmte Kurven, Kreisver-kehre und Kreuzungsbauwerke nicht benutzen können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14801
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
Wir vertrauen ganz darauf, dass die Bundesländer mituns zusammenarbeiten und uns Straßen benennen, damittrotz des Einsatzes langer Lkw flüssiger Verkehr mög-lich sein wird.
Frau Gottschalck.
Herr Staatssekretär Mücke, können Sie ausschließen,
dass Bahnschranken betroffen sein werden?
J
Das kann ich nicht ausschließen, weil ich nicht die
ganze Liste der Straßen vor mir habe und damit auch
keine Auflistung der möglicherweise betroffenen Eisen-
bahnkreuzungen. Das kann ich Ihnen aber sehr gerne
nachliefern.
Das wäre schön. Danke.
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Beckmeyer
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Groß:
Ist für den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung und das dazugehörige Haus die Einführung einer
Vignette oder einer anders ausgestalteten Art der Maut-
einnahme für Pkw eine Alternative, wenn es wie zu erwarten
keine Haushaltsmittelerhöhung für den Verkehrsetat gibt, um
das Defizit von 2,5 Milliarden Euro auszugleichen?
J
Lieber Herr Kollege Groß, Herr Bundesminister
Dr. Ramsauer hat zuletzt in der Haushaltsdebatte des
Deutschen Bundestages vom 9. September 2011 zum
Einzelplan 12 bekräftigt, dass zielgerichtete Budgeterhö-
hungen für das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung notwendig sind. Ich möchte Sie auf
das Plenarprotokoll 17/125 verweisen. Da die Einfüh-
rung einer jeglichen nutzerorientierten Abgabe entspre-
chende Umsetzungszeit benötigen würde, könnte diese
Alternative jedoch nicht zur kurzfristigen Schließung der
Finanzierungslücke im Bundesfernstraßenbau beitragen.
Herr Groß, eine Nachfrage. Bitte schön.
Vielen Dank. – Herr Mücke, ich frage Sie: Gibt es
schon Erkenntnisse, wie hoch bei der Einführung einer
Vignette die Kosten für Anschaffung und jährliche Erhe-
bung wären?
J
Nein.
Gibt es nicht. – Ich habe eine zweite Frage. Sie haben
ja die Vignette nicht ausgeschlossen. Erhoffen Sie sich
von der Einführung einer Vignette eine Lenkungswir-
kung bezogen auf das Verkehrsaufkommen und vor allen
Dingen eine ökologische Wirkung?
J
Da niemand konkret über die Einführung einer Vig-
nette nachdenkt, sondern nur allgemeine politische Dis-
kussionen über eine mögliche Nutzerfinanzierung ge-
führt werden, liegen solche Zahlen selbstverständlich
nicht vor.
Herr Pronold, bitte.
Jenseits von dem, was der Verkehrsminister hier er-
klärt, gibt es ja auch viel in den Zeitungen zu lesen. Da-
her würde mich interessieren, ob Sie für die Bundesre-
gierung oder für das Verkehrsministerium sprechen, was
die Pkw-Maut angeht, und wie ich damit umgehen soll,
dass die Kanzlerin eine solche klar ablehnt, der Herr
Verkehrsminister aber die unterschiedlichsten Aussagen
hier im Plenum bisher dazu gemacht hat. Was gilt denn
nun: Wird es eine Pkw-Maut geben oder nicht?
J
Ich vertrete den Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung gerade hier in dieser Fragestunde, um
diese Frage zu beantworten.
Des Weiteren hatte ich Ihnen gerade erläutert, dass es
eine allgemeine politische Diskussion über das Thema
„Einführung einer Pkw-Maut“ gibt. Wenn man sich poli-
tisch entscheidet, diesem Gedanken nahezutreten, würde
eine Umsetzung, gleich welchen Modells – Vignette,
streckenabhängige Maut oder wie auch immer –, min-
destens einen Zeitraum von drei Jahren erfordern, also
über diese Legislaturperiode hinaus dauern. Die Frau
Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt, dass sie die Ein-
führung einer Pkw-Maut in dieser Legislaturperiode aus-
schließt. Deshalb handelt es sich um eine Diskussion, die
sich vor allen Dingen auf den Zeitraum nach dieser Le-
gislaturperiode bezieht.
Herr Herzog.
Metadaten/Kopzeile:
14802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(C)
(B)
Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Hinweis,
dass wir das dann in der nächsten Legislaturperiode ent-
sprechend zu bearbeiten haben.
J
Das habe ich nicht gesagt.
Nachdem Sie uns nicht sagen konnten, was es kostet
und welche Einnahmen erzielt werden, jetzt die Frage an
den Vertreter des Verkehrsministers bzw. der Bundes-
regierung: Erwarten Sie denn von einer Vignette eine
bessere ökologische Lenkungswirkung als von der bis-
herigen Kfz-Steuer?
J
Ich glaube, dass man da zu sehr unterschiedlichen Er-
gebnissen kommen kann. Es kommt sehr darauf an, auf
welche Art und Weise eine solche Pkw-Maut erhoben
werden würde. Ob es technische Lösungen dazu über-
haupt schon gibt, ist höchst zweifelhaft. Es gibt in den
allgemeinen politischen Diskussionen Überlegungen,
das ähnlich zu gestalten wie bei der jetzt in Deutschland
erhobenen Lkw-Maut. Ich glaube, dass man hier zu-
nächst einmal die allgemeine politische Diskussion und
die Entscheidung dazu abwarten sollte. Dann muss man
sich alle Fragen, die daraus entstehen, nämlich ob es eine
ökologische Lenkungswirkung gäbe oder nicht, neu stel-
len. Aber zunächst einmal geht es hier um eine allge-
meine politische Diskussion über das Thema „Nutzer-
finanzierung im Straßenbau“. Hier sind alle Aspekte mit
zu betrachten, natürlich die Systemkosten, so wie wir sie
bei der Lkw-Maut schon kennen. Ich kann Ihnen nur sa-
gen: Das ist eine Diskussion, die noch sehr lange dauern
wird. Sie wird keinesfalls in dieser Legislaturperiode
eine Rolle spielen.
Herr Hacker.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, dass die
Überlegungen in Ihrem Hause weiter gediehen sind, als
dass man sie nur als rein theoretische Überlegungen be-
zeichnen könnte; denn sonst würde der Bundesminister
das Thema Pkw-Maut nicht von Zeit zu Zeit immer wie-
der einmal in der deutschen Öffentlichkeit ansprechen.
Deswegen frage ich Sie: Welche Entlastungswirkungen
für Pkw-Fahrer im ländlichen Bereich haben Sie eigent-
lich in diese Überlegungen mit einbezogen? Wie sollen
die möglichen Einnahmen aus der Pkw-Maut verwendet
werden? Sollen sie also konkret für den Bau und den Er-
halt von Straßen verwendet werden? Welche Überlegun-
gen gibt es dazu in Ihrem Hause?
J
Lieber Herr Kollege Hacker, ich muss Sie sehr enttäu-
schen. Es gibt leider kein fertiges Mautkonzept. Auch
wenn Sie oder einer Ihrer Kollegen noch 20-mal nach-
fragen, bleibt es dabei: Es ist leider nicht existent.
Ich kann Ihnen weder etwas zu möglichen Aus-
gleichsmaßnahmen für Autofahrer im ländlichen Raum
noch etwas zu anderen damit im Zusammenhang stehen-
den Fragen sagen, da es bisher kein konkretes Konzept
dazu gibt. Es gibt eine allgemeine politische Diskussion
über die Einführung einer Nutzerfinanzierung, bezogen
auf die Bundesstraßen, auch für den Pkw-Bereich –
mehr nicht.
Herr Burkert, bitte.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie reden darüber, aber ohne
Plan; so könnte man es auch übersetzen. Würden Sie uns
und den Zuhörerinnen und Zuhörern sagen, wie viele
ausländische Pkw von einer solchen Maut betroffen wä-
ren?
J
Dazu gibt es unterschiedliche Schätzungen. Ich will
mich hier auf keine Zahl festlegen. Ich kenne Zahlen von
5 bis 8 Prozent. Aber das sind alles Schätzungen, die
man im Moment nur wenig konkret vornehmen kann,
weil wir dazu keine Zählstellen oder ähnliche Erfas-
sungsmöglichkeiten haben. Das wäre also im Bereich
der Schätzung, und es ist immer noch eine rein spekula-
tive Frage, ob es jemals eine Pkw-Maut geben wird. Wir
befinden uns im Stadium einer allgemeinen politischen
Diskussion zum Thema Nutzerfinanzierung.
Herr Pronold.
Ich hoffe, dass ich nicht in die Tiefen und intimenAngelegenheiten des Verkehrsministeriums eindringe,wenn ich folgende Frage stelle: Der Herr Ramsauer hathier vor über eineinhalb Jahren erklärt, es gebe keineDenkverbote und in seinem Haus werde intensiv darübernachgedacht, ob und wie eine Pkw-Maut einzuführen ist.Jetzt, eineinhalb Jahre später, wäre doch der Zeitpunktgekommen, eine Idee davon zu haben, was aus diesenDenkprozessen herausgekommen ist. Daher möchte ichSie inständig bitten, einmal ein paar Eckpunkte zumin-dest dieses Denkprozesses hier zu nennen und uns nichtauf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder auf die nächsteWahlperiode zu vertrösten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14803
(C)
(B)
J
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich kann Ihr Inte-
resse sehr gut verstehen. Dass es im Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung keine Denkver-
bote gibt, ist doch etwas sehr Gutes. Ich finde es gut,
dass da allgemein verkehrspolitisch nachgedacht werden
kann,
genauso wie Sie und sehr viele Interessenverbände es
machen. Die Logistiker, der ADAC, sehr viele Men-
schen in diesem Land machen sich Gedanken darüber,
wie wir möglicherweise eine Nutzerfinanzierung gestal-
ten können. Ob dadurch ein zusätzliches Aufkommen im
Verkehrshaushalt entsteht oder ob dies aufkommensneu-
tral ist, wie viele ausländische Fahrzeuge davon betrof-
fen wären – all das sind allgemeine politische Fragen,
über die jeder diskutieren kann.
Ich kann Ihnen nur so viel sagen:
Es gibt kein Konzept im Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung, das Ihnen vorzulegen wäre.
Deshalb kann ich Ihnen leider auf diese Frage keine Ant-
wort geben. Sie werden von uns kein Konzept bekom-
men.
Frau Lühmann, bitte.
Eigentlich wollte ich eine ähnliche Frage stellen.
J
Das habe ich mir gedacht.
Ihre Antwort bringt mich aber zu einer anderen Fra-
ge. – Der Minister hat mehrfach – nicht nur vor einein-
halb Jahren – in der Presse dargestellt, dass er seinem
Haus den Auftrag gegeben hat, über die Einführung ei-
ner Pkw-Maut nachzudenken und ihm das Ergebnis vor-
zulegen. Sie sagen jetzt, Sie können uns das Ergebnis
dieser Überlegungen nicht darlegen. Stimmen Sie mir
zu, dass Sie den Anweisungen Ihres Ministers nicht ge-
folgt sind?
J
Es gibt keine Anweisung.
Dann sagt der Minister die Unwahrheit?
J
Selbstverständlich hat der Minister völlig recht, wenn
er sagt, dass es keine Denkverbote gibt. Aber wenn der
Denkprozess noch nicht abgeschlossen ist, dann kann Ih-
nen schlechterdings nichts vorgelegt werden. So einfach
ist die Welt.
Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Groß auf:
Kann das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung die Berichte der Süddeutschen Zeitung bestäti-
gen, in denen dargestellt wird, dass im Zusammenhang mit
dem Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 mehrere Projekte,
wie der für den Wirtschaftsraum Nordrhein-Westfalen hoch-
wichtige Rhein-Ruhr-Express, RRX, nicht aus dem Vorgän-
gerplan übernommen werden?
J
Lieber Herr Kollege Groß, ich kann Ihnen darüber re-
lativ wenig Auskunft geben, weil es keinen neuen Inves-
titionsrahmenplan 2011 bis 2015 gibt.
Herr Groß, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte schön.
Können Sie mir dann erklären, warum in der Presse
deutlich und definitiv beschrieben wurde, dass der RRX
– eines der wichtigsten Projekte im Ruhrgebiet, um die
Mobilität der Menschen dort zu verbessern – bis 2015
nicht finanziert werden wird?
J
Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich gehe davonaus, dass die Grundlage für all das, was innerhalb undaußerhalb des Verkehrsausschusses öffentlich diskutiertwird, ein Arbeitspapier ist, das nicht abgestimmt wordenist, und zwar weder mit der Leitung des Hauses noch mitden Bundesländern, die zwingend zu beteiligen sind.
Metadaten/Kopzeile:
14804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
Deshalb ist all das, was im Moment öffentlich diskutiertwird, reine Spekulation.
Herr Groß, Sie haben eine zweite Nachfrage?
Stimmen Sie mir denn zu, dass der RRX ein so wich-
tiges Projekt ist, dass Sie alles Notwendige tun werden,
um das Projekt in den nächsten vier Jahren umzusetzen?
J
Jedes Verkehrsprojekt in Deutschland ist unheimlich
wichtig.
Herr Herzog, bitte.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die sehr wichtige
Aussage, die Sie eben getroffen haben. Es lässt Rück-
schlüsse auf die Arbeit des Verkehrsministeriums zu,
wenn deutlich wird, dass alle Projekte als gleichermaßen
wichtig angesehen werden.
Meine Frage zielt auf Ihre Aussage ab, dass sich die
Arbeitspapiere, von denen wir heute Morgen im Ver-
kehrsausschuss gehört haben, noch in der Abstimmungs-
phase befinden. Herr Ramsauer kennt sie wahrscheinlich
gar nicht. Könnten Sie unsere Ungeduld begrenzen, in-
dem Sie uns sagen, wann der Deutsche Bundestag von
diesen Papieren offiziell Kenntnis erhalten wird?
J
Wenn der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung diesen Plan offiziell aufgestellt hat, wird er
vorgestellt. Das wird erst dann passieren, wenn es eine
Abstimmung innerhalb des Hauses, aber auch mit den
Bundesländern gegeben hat; denn die Bundesländer sind
für uns im Wege der Auftragsverwaltung beispielsweise
im Straßenbau tätig. Deshalb ist eine Abstimmung mit
den Bundesländern gerade beim Investitionsrahmenplan
eine sehr wichtige Angelegenheit. Ich gehe davon aus,
dass Sie noch in diesem Jahr darüber informiert werden.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Hacker auf:
Wie ist der Stand der Erarbeitung eines neuen Investitions-
rahmenplanes, IRP, für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes,
nachdem der bisherige IRP 2010 ausgelaufen ist?
Bitte schön, Herr Mücke.
J
Das ist ein ähnliches Thema. Derzeit wird der Ent-
wurf des Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 für die
Verkehrsinfrastruktur des Bundes erarbeitet. Der Refe-
rentenentwurf befindet sich gegenwärtig in der Abstim-
mung.
Herr Hacker, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie hatten das Thema vorhin
schon gestreift. Meine konkrete Nachfrage lautet: Wie
weit sind Sie denn im Hinblick auf die Abstimmungen
mit den Ländern? Kann man sagen, dass Sie den Ent-
wurf für einen neuen Investitionsrahmenplan inhaltlich
und auch projektbezogen mit den Ländern verbindlich
abgestimmt haben?
J
Wir werden diesen Investitionsrahmenplan zunächst
im Haus fertig abstimmen und dann den Bundesländern
in sehr kurzer Frist offiziell übergeben. Offensichtlich
existieren Arbeitsfassungen, die sich noch ändern kön-
nen. Das aber, was offiziell abgestimmt ist, wird den
Bundesländern zur Stellungnahme zugeleitet werden.
Nach dieser Abstimmung wird es auch eine offizielle
Vorstellung des Investitionsrahmenplans geben.
Sie haben eine zweite Nachfrage. Bitte schön.
Im mittlerweile abgelaufenen Investitionsrahmen-
plan 2006 bis 2010 war eine ganze Reihe von Verkehrs-
projekten enthalten, die nicht zu Ende geführt worden
sind bzw. gar nicht erst begonnen wurden. Welche Prio-
ritätskriterien sind eigentlich maßgeblich für die Erarbei-
tung des neuen Investitionsrahmenplans, der bis 2015
gelten soll, und wie gehen Sie mit den nicht fertiggestell-
ten Verkehrsprojekten um?
J
Wir sind gerade dabei, zunächst einmal die Projektefertigzustellen, die sich aktuell im Bau befinden. Es istvernünftig, so vorzugehen, und zwar unabhängig davon,ob sie im Investitionsrahmenplan enthalten sind odernicht. Im Moment werden auch einige Maßnahmen fer-tiggestellt, die nicht im Investitionsrahmenplan veran-kert wurden.Ich kann hier zu einzelnen Verkehrsprojekten keineAuskunft geben, weil es noch keinen abgestimmten In-vestitionsrahmenplan gibt. Ich muss Sie an dieser Stelleum Geduld bitten. Sie alle kennen das Verfahren. Zu-nächst einmal sind wir durch die Ausbaugesetze sowohlin Bezug auf die Schienenwege als auch in Bezug auf dieBundesstraßen verpflichtet gewesen, eine Bedarfsplan-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14805
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
überprüfung vorzunehmen. Diese hat im letzten Jahrstattgefunden. Auf Grundlage dieser Bedarfsplanüber-prüfung, bei der das Nutzen-Kosten-Verhältnis der einzel-nen Maßnahmen untersucht wurde, ist der neue Investi-tionsrahmenplan in die Bearbeitung gegangen.Ein weiteres wichtiges Kriterium sind die in diesemJahr zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel, die ge-planten Haushaltsmittel für das nächste Jahr und die Mit-tel, die uns im Rahmen der mittelfristigen Finanzpla-nung zugesagt werden. Das alles sind die Rahmen-bedingungen, auf deren Grundlage Ihnen dieser Investi-tionsrahmenplan dann letztendlich vorgestellt wird.
Herr Groß hat noch eine Frage.
Herr Mücke, Sie haben vorhin gesagt, alle Projekte
seien wichtig. Können Sie mir erklären, nach welchen
Kriterien die Bundesregierung Projekte umsetzt? In Bay-
ern wurde zum Beispiel der Kirchholztunnel gebaut.
Das war ein Projekt aus dem Weiteren Bedarf, Kosten
168 Millionen Euro für eine Strecke von 5 Kilometern.
Andere Projekte wie zum Beispiel der RRX werden da-
gegen nicht in den Investitionsrahmenplan aufgenom-
men.
J
Wie Sie wissen, arbeiten wir sehr eng mit den Bun-
desländern zusammen; denn wir haben eine Auftragsver-
waltung. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestag über
den Straßenbauplan beschlossen hat, gehen wir auf die
Bundesländer zu und besprechen ein Ausbauprogramm.
Wenn wir wissen, wie viel Geld zur Verfügung steht,
können wir auch mit den Bundesländern besprechen,
was wir konkret umsetzen. Anhand dieser Abstimmun-
gen mit den Bundesländern werden dann die einzelnen
Maßnahmen umgesetzt. Das ist ein partnerschaftliches
Verfahren mit den Bundesländern, das sich sehr bewährt
hat.
Herr Burkert, bitte.
Herr Staatssekretär, ein Projekt des Vordringlichen
Bedarfs in Bayern ist die Elektrifizierung der Strecke
von Nürnberg nach Marktredwitz und die Weiterführung
nach Tschechien bzw. Prag. Können Sie uns sagen, ob
die dafür notwendigen 460 Millionen Euro im Investi-
tionsrahmenplan vorgesehen sind oder ob sie dem Rot-
stift des Ministers zum Opfer fallen?
J
Auch wenn Sie nach weiteren einzelnen Projekten
fragen, bleibe ich bei meiner Antwort: Solange es keinen
abgestimmten Investitionsrahmenplan gibt, kann ich zu
einzelnen Verkehrsprojekten nicht Stellung nehmen.
Wir kommen jetzt zur Frage 14 des Kollegen Hacker:
Welche im derzeit gültigen Investitionsrahmenplan 2006
bis 2010 verankerten Bauprojekte haben derzeit Baurecht,
können aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel des Bun-
J
Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts des
gegenwärtigen Arbeitsstandes derzeit noch nicht mög-
lich.
Herr Hacker, Sie haben eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, wir haben bei der Erarbeitung des
Investitionsrahmenplans Projekte für Straße, Schiene
und Wasserwege, konkret bezogen auf die Länder, defi-
niert. Diese sollten nach bestimmten Vorrangigkeiten ab-
gearbeitet werden. Für diese Projekte wurden in diesem
Planungszeitraum auch Finanzmittel eingestellt. Inso-
fern verwundert mich Ihre Aussage, dass Sie die im In-
vestitionsrahmenplan 2006 bis 2010 konkret benannten
Projekte hinsichtlich der Baureife und der künftigen
Überführung in den neuen Investitionsrahmenplan nicht
konkret bestimmen können.
J
Das kann ich verstehen. Wir reden über ungelegte
Eier. Es gibt noch keinen Investitionsrahmenplan 2011
bis 2015. Deshalb kann ich Ihnen zu einzelnen Verkehrs-
projekten keine Auskunft geben.
Herr Hacker bitte, eine zweite Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich muss auf meine schriftliche
Frage verweisen. Ich habe gefragt:
Welche im derzeit gültigen Investitionsrahmenplan
2006 bis 2010 verankerten Bauprojekte haben der-
zeit Baurecht, können aber aufgrund fehlender fi-
nanzieller Mittel des Bundes nicht begonnen wer-
den …?
Da hatte ich um eine länderscharfe Darstellung gebe-
ten.
J
Ich kann Ihnen keine Auskunft geben zu Projekten,die möglicherweise im künftigen Investitionsrahmen-plan mit berücksichtigt werden.
Metadaten/Kopzeile:
14806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
– Ich kann Ihnen diese Liste gerne zukommen lassen; ichhabe sie jetzt nicht dabei.
Ich weiß aber nicht, was das mit dem Investitionsrah-menplan für 2011 bis 2015 zu tun haben soll.
Herr Herzog, Sie hatten sich nicht gemeldet, sondern
sich nur körpersprachlich geäußert?
Herr Beck, bitte.
Ich frage Sie, ob den Staatssekretären der Bundesre-
gierung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts aus der letzten Wahlperiode zu ihren Antwort-
pflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag bekannt
ist. Ich finde es eine Ungezogenheit, wenn Sie hier auf
eine im Rahmen der Fragestunde schriftlich eingereichte
Frage – wenn hier mündlich nach etwas gefragt wird,
was nicht vorbereitet werden konnte, habe ich Verständ-
nis –, in der präzise nach Sachverhalten gefragt wird
– im vorliegenden Fall, welche Bauprojekte Baurecht ha-
ben und welche Rangfolge sie in diesem Plan einnehmen –,
keine Antwort parat haben. Dazu müssen Sie im Minis-
terium einen Stehsatz haben.
Ich erwarte, dass die Staatssekretäre der Bundesregie-
rung die Antworten mitbringen und hier vortragen und
dass entsprechend nachgefragt werden kann. Sie schnei-
den dem Parlament jede Nachfragemöglichkeit ab, wenn
Sie die Antworten nur schriftlich zuschicken.
Dafür haben wir ein anderes Instrument in der Ge-
schäftsordnung, nämlich die schriftliche Frage; dort
funktioniert das so.
Ist Ihnen diese Rechtsprechung bekannt, und geruht
die Bundesregierung, sich in Zukunft daran zu halten?
J
Herr Kollege Beck, diese Rechtsprechung ist mir be-
kannt. Ich kann nur darauf verweisen, dass der Kollege
Hacker nicht nur nach diesen Projekten gefragt hat. Viel-
mehr ist die Zielrichtung, dass die Projekte, die in dem
alten Investitionsrahmenplan enthalten waren und nicht
umgesetzt worden sind, möglicherweise im neuen Inves-
titionsrahmenplan mit verankert werden müssten.
Da der Investitionsrahmenplan für die nächste Periode
aber noch nicht vorliegt, kann ich zu einzelnen Verkehrs-
projekten keine Auskunft geben.
Ich habe dem Kollegen Hacker gerade eben zugesagt,
dass er eine solche Liste bekommt. Ich bin gerne bereit,
in der nächsten Fragestunde zu einzelnen Projekten Stel-
lung zu nehmen. Das ist kein Problem.
Frau Lühmann, bitte.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie eben dem
Kollegen gesagt haben, dass Sie den derzeit gültigen In-
vestitionsrahmenplan 2006 bis 2010 und die dort veran-
kerten Bauprojekte, nach denen gefragt wurde, jetzt
nicht dabeihaben, ihn dann aber zuschicken werden?
Habe ich das so richtig verstanden?
J
Das haben Sie richtig verstanden, ja.
Dann sind wir jetzt bei Frage 15 des Kollegen Ernst
Dieter Rossmann.
Welche Nutzungsausfälle nach Gesamtdauer und Anzahl
der Tage durch welche Ursachen gab es nach Kenntnis der
Bundesregierung bei den beiden Großschleusen in Brunsbüt-
tel und Kiel-Holtenau jeweils in den vergangenen drei Jahren
2008, 2009 und 2010 und im bisherigen Verlauf des Jahres
2011?
J
Die summierten Ausfallzeiten der rund um die Uhrbetriebenen beiden großen Schleusenkammern in Bruns-büttel und Kiel-Holtenau sind in nachfolgender Tabelleals Jahresstunden angegeben. Da die Ausfälle nicht im-mer ganze Tage betreffen, ist eine Statistik nach Kalen-dertagen in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen.Der summierte Ausfall der Nord- oder Südkammer dergroßen Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal betrug in Stun-den in Brunsbüttel im Jahr 2008 775, 2009 994, 20102 724 und im Jahr 2011 bis zum 31. August 1 225 Stun-den. Die Zahlen für Kiel-Holtenau lauten: 114 Stundenim Jahr 2008, 309 Stunden im Jahr 2009, 235 Stundenim Jahr 2010, 220 Stunden bis Ende August 2011.Die Ursachen für die Ausfälle sind außerplanmäßigebetriebstechnische Störungen, Schiffshavarien – insbe-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14807
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
sondere durch Torkollisionen und besondere Witterungs-lagen, also Elbsturmfluten und Eisgang – sowie planmä-ßige Wartungen, Instandsetzungen und Inspektionen.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Rossmann. Bitte
schön.
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus
der von Ihnen dargelegten Situation, dass es, wenn man
allein Ihre Zahlen für 2008 bis 2010 und das erste Halb-
jahr 2011 nimmt, einen drastischen Zuwachs an Stunden
gibt, an denen die Schleusen nicht zugänglich waren?
J
Wir sehen den Bedarf an einer umfassenden, mehr-
jährigen Grundinstandsetzung, einer Sanierung. Wir
werden die dazu vorliegenden Vorplanungen in den
nächsten Wochen aktualisieren und mögliche Varianten,
sowohl mit als auch ohne den vorlaufenden Neubau ei-
ner fünften Schleusenkammer, prüfen. Dies gilt im wei-
teren Verlauf auch für die großen Schleusenkammern in
Kiel-Holtenau.
Herr Rossmann, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte
schön.
Weil Sie es so darstellen, dass Sie jetzt prüfen, möchte
ich nachfragen: Wie kann es angehen, dass ein Staats-
sekretär Ihres Hauses, Klaus-Dieter Scheurle, im Lande
erklärt hat, dass es nicht sinnvoll und notwendig ist, im
Bundeshaushalt 2012 Investitionsmittel für den Bau
einer fünften Schleusenkammer zur Verfügung zu stel-
len? Der Aufwuchs bei den Stunden der nicht störungs-
freien Zugänglichkeit zeigt doch deutlich, dass in Zu-
kunft durchaus die Situation auftreten kann, dass die
beiden vorhandenen großen Schleusenkammern parallel
ausfallen. Der Kanal wäre dann dicht, sofern es keine
dritte Schleusenkammer gäbe, über die man große
Schiffe durch den Kanal in Brunsbüttel leiten könnte.
J
In der jetzigen Situation sind notwendige Notrepara-
turen aus den aktuellen Haushaltsmitteln zu bestreiten.
Ich will darauf verweisen, dass wir uns im Stadium der
Vorplanung für mögliche Sanierungsmaßnahmen an die-
sen Schleusen befinden. Solange wir keine Ausfüh-
rungsplanung haben, macht ein Einplanen im Bundes-
haushalt, also die Zurverfügungstellung von Mitteln,
keinen Sinn. Bevor das, was gebaut werden soll, umge-
setzt werden kann, muss es zunächst eine Planung ge-
ben.
Herr Rix, bitte.
Ich gehe davon aus, dass bei diesen Planungen – es
gibt hier schon eine Planfeststellung – die Landesregie-
rung mit im Boot ist. Auf welche Art und Weise binden
Sie die Landesregierung ein? Welche Forderungen stellt
die Landesregierung an Sie, wenn Sie mit ihr in Kontakt
sind?
J
Anders als im Fernstraßenbau haben wir im Bereich
der Bundeswasserstraßen keine Auftragsverwaltung der
Bundesländer; hier besteht eine eigene Zuständigkeit des
Bundes. Deshalb erfolgt eine Information der Landesre-
gierung, aber keine verwaltungstechnische Abstimmung.
Wir kommen zur Frage 16 des Kollegen Rossmann:
Wie bewertet die Bundesregierung den baulichen und be-
trieblichen Zustand der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und
Kiel-Holtenau?
J
In den letzten Wochen waren beide großen Schleusen-
kammern in Brunsbüttel wechselseitig von technischen
Störungen betroffen. Die dafür ursächlichen Schäden an
den Führungsschienen der Schleusentore werden derzeit
schnellstmöglich repariert. Die großen Schleusenkam-
mern in Brunsbüttel bedürfen darüber hinaus aufgrund
ihres Alters – ich erwähnte es schon – einer umfassen-
den, mehrjährigen Grundinstandsetzung. Die hierzu vor-
handenen Vorplanungen werden in den nächsten Wo-
chen aktualisiert; mögliche Varianten werden geprüft.
Herr Rossmann, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, dass es in Bezug auf
den Neubau einer dritten großen Schleusenkammer eine
Planfeststellung gibt? Weshalb gehen Sie in Ihren Ant-
worten nicht auf die Möglichkeit ein, auf Grundlage der
Planfeststellung für eine zusätzliche Schleusenkammer
in eine Investitionsfinanzierung einzutreten?
J
Das Problem ist, dass wir hier eine wirtschaftlicheLösung finden müssen. Es ist durchaus denkbar, dass dievorhandenen Vorplanungen eine nicht so wirtschaftlicheLösung vorsehen. Es muss uns möglich sein, preiswer-tere Alternativen zu prüfen. Ich habe Ihnen schon erläu-tert, dass der Verkehrshaushalt dramatisch unterfinan-ziert ist; das ist kein Geheimnis. Deshalb suchen wirnach möglichst wirtschaftlichen Lösungen, um hiereinen Schleusenbau bzw. die Sanierung eines Schleusen-baus voranzutreiben.
Metadaten/Kopzeile:
14808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(C)
(B)
Herr Rossmann, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Bitte sehr.
Haben Sie Verständnis dafür, dass parteiübergreifend
alle politischen Gremien im Norden Deutschlands, in
Schleswig-Holstein und in Hamburg, ebenso wie die
Wirtschaft und die Menschen in der Region erwarten,
dass die Bundesregierung die Sicherheit und nicht die
Wirtschaftlichkeit als oberstes Kriterium bei der Bewer-
tung dieser Frage heranzieht? Mit welcher Expertise sind
Sie ausgestattet? Glauben Sie, dass Ihre aktuellen Pla-
nungen, mit denen Sie marode Schleusen notdürftig
sichermachen wollen, dem Kriterium einer dauerhaften
Sicherheit im Betrieb gerecht werden?
J
Ich bin sicher, dass die Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung nur Sanierungen vornimmt, die den Sicherheits-
anforderungen genügen. Alles andere wäre ja auch grob
fahrlässig. Wir gehen davon aus, dass das die richtige
Reaktion ist. Ich habe aber viel Verständnis dafür, dass
der Zustand der Schleusen in den norddeutschen Bun-
desländern, insbesondere in Schleswig-Holstein, große
Besorgnis hervorruft. Deshalb wird die Bundesregierung
die Vorplanungen überprüfen. Wir wollen, dass dieses
Problem gelöst wird. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass
wir eine mehrjährige Sanierung dieser Schleusen anstre-
ben. Das ist ein klares Signal an die Region, dass wir
dieses Thema sehr ernst nehmen. Dieses Thema ist nicht
nur für dieses Bundesland entscheidend, sondern für die
gesamte Seeverkehrswirtschaft im Norden Deutschlands
von enormer Bedeutung.
Herr Kollege Rix hat eine Nachfrage.
Wie sehen die Zeitplanungen genau aus? Habe ich Sie
richtig verstanden, dass Sie von dem Vorhaben abgegan-
gen sind, dort eine dritte Schleuse zu bauen?
J
Nein, ich habe Ihnen gesagt, dass wir zurzeit die Vor-
planungen überprüfen und mögliche Varianten erarbei-
ten. Das kann bedeuten, dass diese Schleusenkammer
gebaut wird. Es kann aber auch sein, dass wir zu anderen
Ergebnissen kommen. Ich darf Sie bitten, diese Überprü-
fung abzuwarten. Wir werden Sie selbstverständlich, wie
Sie das gewohnt sind, vollständig informieren.
Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Thönnes
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Rix auf:
Wie ist der Stand der aktuellen Planungen für die Ertüchti-
gung der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau,
und wie begründet die Bundesregierung die Verzögerungen
gegenüber den ursprünglichen Zeitplänen?
J
Die Fragen 19 und 20 werden wegen ihres Sachzu-
sammenhangs gemeinsam beantwortet.
Dann rufe ich auch die Frage 20 des Kollegen Rix
auf:
Aus welchen Gründen favorisiert das Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nach Medienberichten
„eine kleine Lösung“, wonach anstelle des geplanten und
planfestgestellten Neubaus einer dritten Großschleuse die ur-
sprünglich ab 2014 geplante Grundinstandsetzung der beiden
vorhandenen großen Schleusenkammern vorgezogen werden
soll ?
J
Die Spielräume für Investitionen in Wasserstraßen
werden durch die Finanzierungsmöglichkeiten des Bun-
deshaushalts im Rahmen der dringend notwendigen
Haushaltskonsolidierung begrenzt. Da demnach auf
absehbare Zeit nur ein kleiner Teil der erwogenen hoch-
wirtschaftlichen Projekte in vertretbaren Zeiträumen
realisiert werden kann, müssen konsequent sparsame
Lösungen gesucht werden.
Die großen Schleusenkammern in Brunsbüttel bedür-
fen aufgrund ihres Alters einer umfassenden und mehr-
jährigen Grundinstandsetzung. Vor dem oben genannten
Hintergrund werden in den nächsten Wochen die vorhan-
denen Vorplanungen aktualisiert und mögliche Varianten
sowohl mit als auch ohne vorlaufenden Neubau einer
fünften Schleusenkammer geprüft. Erst nach Vorlage der
Ergebnisse dieser Prüfung können hierzu weitere Aussa-
gen getroffen werden.
Für den Neubau einer dritten großen Schleuse in
Brunsbüttel besteht vollziehbares Baurecht. Für die
Schleusengruppe in Kiel-Holtenau wird derzeit ein In-
standsetzungskonzept erarbeitet.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Rix.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Situation an den
Schleusen bekannt ist. Deshalb frage ich nach Ihrem
politischen Willen. Sind Sie bereit, wenn die benötigten
Mittel zur Verfügung gestellt werden können, eine dritte
Schleuse zu bauen?
J
Der politische Wille ist hier nicht entscheidend. Ent-scheidend ist, dass wir mit den Haushaltsmitteln sparsamund wirtschaftlich umgehen müssen. Ich habe erläutert,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14809
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
dass der Verkehrshaushalt unterfinanziert ist, und zwarseit vielen Jahren. Wir haben eine Erblast übernommen.
Der Zustand der Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal ist janicht erst seit Kurzem so schlecht. Daran möchte ich Siegern erinnern.
Herr Rix, Sie haben eine weitere Nachfrage. Sie ha-
ben, wenn Sie möchten, danach noch zwei weitere Mög-
lichkeiten zur Nachfrage, weil beide Fragen gleichzeitig
beantwortet wurden.
Das kommt auf die Antworten an; so fair will ich sein.
Ich stelle noch einmal die Frage, die ich vorhin bereits
gestellt habe. Auch wenn die Landesregierung bei der
Planung von Wasserstraßen nicht direkt zu beteiligen ist,
sondern nur informiert wird, gehe ich davon aus, dass
Sie einen intensiven Kontakt mit der Landesregierung
pflegen. Mich würde interessieren, ob Forderungen der
Landesregierung bei Ihnen aufgelaufen sind und wie
diese lauten.
J
Wir wissen, dass die Landesregierung Wert darauf
legt, dass diese Schleusen möglichst zügig und vollstän-
dig instand gesetzt werden. Wir kennen die Forderung
aus der Region, aber wir müssen uns an das Wirtschaft-
lichkeitsgebot halten. Deshalb versuchen wir, gemein-
sam mit dem Land zu Lösungen zu kommen, die vor Ort
akzeptiert werden können. Aber zunächst einmal ist für
uns wichtig, dass wir für die Wasserstraßenverwaltung in
eigener Verantwortung tätig sind, und das wird auch
künftig so sein.
Herr Rix hat noch eine weitere Frage.
Sie haben nun zum wiederholten Male die Wirtschaft-
lichkeit an erste Stelle gestellt. Ich möchte Sie fragen, an
welcher Stelle die Sicherheit bei Ihnen steht.
J
Wirtschaftlichkeit und Sicherheit sind kein Gegen-
satz. Nicht jede wirtschaftliche Lösung ist automatisch
unsicher. Es ist doch ganz klar, dass wir für die Sicher-
heit und Leichtigkeit des Verkehrs im Wasserstraßenbe-
reich Sorge tragen. Sie können beruhigt sein: Wir wer-
den der Sicherheit selbstverständlich genauso unser
Augenmerk widmen wie der Wirtschaftlichkeit.
Herr Rossmann hat eine Nachfrage, bitte.
Um es etwas anschaulicher zu machen: Die Dauer
einer Sanierung der Großschleusen wird von den Fach-
leuten auf zwei bis zweieinhalb Jahre geschätzt, die
Dauer des Neubaus einer dritten Großschleuse auf fünf
und mehr Jahre. Aktuell wird in den Schleusen Hartholz
eingebaut, damit sich die Schleusentore überhaupt noch
bewegen lassen. Können Sie uns vor diesem Hinter-
grund die Zeitachse für den großen Bypass über die
dritte Schleuse, also die Kapazitätserweiterung, für die
Sanierung der beiden Großkammern und für die aktuel-
len notdürftigen Maßnahmen darstellen? Es ist doch ei-
gentlich logisch, dass man, weil es um Sicherheit geht,
keine Maßnahmen ergreifen darf, bei denen nicht ausge-
schlossen ist, dass es am Ende zu einer Totalblockade
kommen könnte. Von daher stelle ich die Frage: Welche
Rolle spielt für Sie die Sicherheit in dem Gesamtkonzept
mit diesen drei möglichen Maßnahmen?
J
Für uns geht es bei diesen Notmaßnahmen – ich
kenne das Problem mit den Holzbalken – zunächst ein-
mal darum, die Schleusentore gängig zu halten, damit
die Schleusen überhaupt arbeiten können und der sichere
Fluss des Verkehrs sichergestellt wird. Bei der Frage
nach den Varianten, Sanierung oder Neubau, muss ich
Sie auf das verweisen, was ich vorhin gesagt habe. Wir
überprüfen dies im Moment. Ich darf Sie bitten, diese
Überprüfung abzuwarten. Wir werden Sie rechtzeitig
darüber informieren, für welche der beiden Lösungen
wir uns entschieden haben. Dabei spielen die Aspekte
Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs genauso eine
Rolle wie die Wirtschaftlichkeit.
Herr Rossmann kann keine weitere Nachfrage stellen,
weil er nicht der ursprüngliche Fragesteller ist.
Die Frage 21 der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm,
die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Hans-Peter
Bartels sowie die Fragen 24 und 25 der Kollegin Bettina
Hagedorn werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 26 des Kollegen Gustav
Herzog:
Kann die Bundesregierung den Standort und den Personal-
stand des Wasser- und Schifffahrtsamtes Hannoversch Mün-
den zusichern?
J
Im Rahmen der laufenden Organisationsuntersuchungwerden unter anderem die im zweiten Bericht zur Re-form der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an denDeutschen Bundestag dargestellte mögliche Zielstrukturfür den Außenbereich, die Ämter und die Direktion in-tensiv überprüft. Über die notwendigen Anpassungender Personalstruktur und der Aufbauorganisation kannerst nach Abschluss der Untersuchung entschieden wer-den. Die Organisationsüberprüfung erfolgt ausdrücklichergebnisoffen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt keine de-
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Parl. Staatssekretär Jan Mücke
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taillierten Aussagen zur zukünftigen Aufbauorganisationmöglich sind.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Herzog? Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, dass Sie mir die
Antwort auf meine Frage 08/439 vorgelesen haben, die
mir Ihr Kollege Ferlemann bereits gegeben hatte. Ich
war in der Zwischenzeit fleißig und habe mich etwas
umgehört. Ich frage Sie jetzt, wie Sie im Hinblick da-
rauf, dass Sie gesagt haben, alles werde ergebnisoffen
geprüft, dem Deutschen Bundestag, den Abgeordneten
könne man keine Informationen geben, zu dem Brief ste-
hen, den Ihr Kollege Ferlemann mit Datum vom 12. Mai
dieses Jahres an den Landrat Schermann im Landkreis
Göttingen geschrieben hat? Ich zitiere aus diesem Brief:
Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang ver-
sichern, dass die Aufgabe des Standortes
Hann.Münden nicht geplant ist. Ferner wird es im
Zuge der WSV-Reform weder zu einem zusätz-
lichen Personalabbau noch zu betriebsbedingten
Kündigungen in der WSV kommen.
J
Ich kenne dieses Schreiben nicht. Ich kann Ihnen nur
sagen, dass die gesamte Untersuchung zur WSV-Reform
noch läuft. Wir wollen den Entscheidungen des Haus-
haltsausschusses und des Deutschen Bundestages insge-
samt nicht vorgreifen. Ganz klar ist, dass der Haushalts-
ausschuss unser Haus beauftragt hat, eine Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu prüfen und Re-
formvorschläge vorzulegen. Wir sind dabei, in der be-
währten Systematik – zunächst einmal Netzkategorisie-
rung und dann Aufbau der Verwaltung – Vorschläge zu
erarbeiten. Es gibt noch keine fertige Aufbauorganisa-
tion, weil wir noch mitten im Reformprozess stecken.
Deshalb möchte ich Sie bitten, sich bis zum Abschluss
dieser Arbeiten zu gedulden. Ich bin mir sehr sicher,
dass wir Ihnen dann schnell eine Auskunft geben kön-
nen.
Sie haben eine weitere Nachfrage, Herr Herzog?
Ja.
Bitte sehr.
Her
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie erklären Sie sich, dass auch die Bun-
destagskollegen Hartwig Fischer und Lutz Knopek, Ab-
geordnete Ihrer Koalition, mit Datum vom 16. April
2010 in der Mündener Rundschau mit der Aussage, dass
die WSV in Hannoversch Münden sicher ist, zitiert wer-
den? Geben Sie den Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages unterschiedliche Auskünfte?
Das wäre vielleicht auch eine Frage an die Präsiden-
tin: Warum bekommen wir hier keine Auskunft, wäh-
rend Abgeordneten der Koalition und Landräten schrift-
lich mitgeteilt wird, dass ihre Ämter erhalten bleiben?
J
Ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Ich weiß
nicht, auf Basis welcher Datenlage die betreffenden Kol-
legen diese Aussagen getroffen haben; das müssten Sie
die Kollegen selbst fragen. Für das Bundesverkehrs-
ministerium kann ich Ihnen nur sagen, dass die Reform
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung noch nicht abge-
schlossen ist und Organisationsfragen noch offen sind.
Herr Pronold.
Der Kollege hat aus einem Brief Ihres Ministeriums,
in dem schon Auskünfte zur WSV-Reform erteilt wer-
den, zitiert. Dieser Brief wurde von Ihrem Kollegen
Ferlemann unterzeichnet. Hat er dem Landrat etwas Fal-
sches geschrieben?
J
Das weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die
Prüfung ergebnisoffen durchgeführt wird.
Niemand kann heute Aussagen dazu treffen, ob der
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die Re-
formvorschläge des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung billigen wird
und ob er die Vorschläge zur Aufbauorganisation für
richtig hält. All das sind Fragen, die noch offen sind.
Deshalb kann ich Ihre Frage nicht beantworten.
Frau Gottschalk.
Herr Staatssekretär, auch ich finde das in der Tat et-was merkwürdig; da schließe ich mich dem Kollegen
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Ulrike Gottschalck
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Pronold an. Aber: In Niedersachsen fanden Kommunal-wahlen statt. Vielleicht ist das eine Erklärung.
Sehr geschätzter Herr Mücke, auch ich habe eineFrage. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass lautIhrem Ablaufplan zur Modernisierung der WSV bereitsInvestitionsentscheidungen getroffen wurden, obwohlSie gerade wieder gesagt haben, dass alles offen ist, dasses bisher noch keine Kriterien zur Prüfung der Katego-rien gibt und dass es auch keine Prüfungen der Ablaufor-ganisation der WSV als Entscheidungshilfe gibt? Wiekönnen Sie mir diese Diskrepanz erklären?J
Das lässt sich dadurch erklären, dass wir uns noch
mitten in diesem Reformprozess befinden.
Sie stellen heute sehr viele Fragen zu wichtigen ver-
kehrspolitischen Zukunftsentscheidungen. Aber das sind
Entscheidungen, die noch nicht endgültig getroffen sind
und bei denen wir uns noch mitten im Arbeitsprozess be-
finden.
Ich kann Ihren Ärger darüber, dass sich der eine oder an-
dere Kollege aus diesem Haus zu diesem Thema schon
öffentlich geäußert hat, verstehen.
Aber ganz klar ist, dass die gesamte Reform der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung noch in Arbeit ist und dass
deshalb heute noch kein endgültiges Ergebnis vorliegen
kann. Wenn ich Ihnen heute sage, dass beispielsweise
die Prüfung der Aufbauorganisation der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung ergebnisoffen durchgeführt wird,
dann ist das so. Niemand kann dazu eine andere Aussage
treffen. Diese Prüfung wird ergebnisoffen durchgeführt.
Der Deutsche Bundestag hat zu Recht einen An-
spruch darauf, dass er über den Haushaltsausschuss von
uns die Informationen bekommt, die er verlangt. Wir
sind aufgefordert worden, diese Reform vorzulegen. Ge-
nau das tun wir. Wir sind mitten in der Arbeit, und Sie
werden die Ergebnisse vorgelegt bekommen. Bis dahin
werden noch keine Entscheidungen getroffen worden
sein.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Herzog auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der deut-
schen Binnenschifffahrt im europäischen Wettbewerb, und
mit welchen Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung
diese zu verbessern?
J
Die Bundesregierung schätzt die Lage der Binnen-
schifffahrt mittel- und langfristig positiv ein. Die
Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Binnen-
schifffahrt noch über erhebliche Wachstumspotenziale
verfügt. Die aktuelle Lage der Binnenschifffahrt ist noch
von Überkapazitäten gekennzeichnet. Dies gilt ganz be-
sonders für die Tankschifffahrt. Die Gütermenge und die
Verkehrsleistung der Binnenschifffahrt sind in den letz-
ten Jahren aber deutlich angestiegen.
Nach der aktuellen Kurzfristprognose – Sommer 2011 –
wird die Binnenschifffahrt im Jahr 2011 das Vorkrisen-
niveau wohl noch nicht erreichen. Erst im Jahr 2012
wird die Gütertransportleistung das Topniveau von 2008
übertreffen.
Die Bundesregierung fördert die Wettbewerbsfähig-
keit der Binnenschifffahrt durch zahlreiche infrastruktu-
relle, finanz- und ordnungspolitische Maßnahmen, zum
Beispiel durch die Ausbildungsförderung, die Weiterbil-
dungsförderung, die Terminalförderung und die Entfris-
tung des § 6 b Einkommensteuergesetz. Daneben enga-
gieren wir uns im Forum Binnenschifffahrt und Logistik,
und wir haben ein nationales Hafenkonzept entwickelt.
Herr Herzog, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank für diese Antwort, Herr Staatssekretär. –
Sie fördern ja auch die Umrüstung von Motoren, damit
die Binnenschifffahrt ihren ökologischen Vorteil noch
stärker untermauern kann. Können Sie sich vorstellen,
dieses Programm auch über das Jahr 2012 hinaus zu er-
halten und die Mittel eventuell sogar aufzustocken?
J
Das liegt nicht in meinem Ermessen; denn es ist die
Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, zu entscheiden, wie
viele Mittel uns für dieses Programm zur Verfügung ge-
stellt werden. Ich bin immer für eine Aufstockung des
Verkehrsetats zu haben, ganz egal, an welcher Stelle. Die
Mittel können wir gut gebrauchen.
Sie haben aber völlig recht: Die Umrüstung von
Schiffsdieseln in der Binnenschifffahrt ist ein wichtiges
Ziel. Wir würden uns freuen, wenn wir vom Haushalts-
gesetzgeber mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet
werden.
Herr Herzog, Ihre zweite Nachfrage, bitte.
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Herr Staatssekretär, es freut mich, dass Sie so viel
Respekt vor dem Haushaltsgesetzgeber haben. Vielleicht
kann sich die Bundesregierung aber doch dazu aufraffen,
den Vorschlag zu machen, dies entsprechend fortzuset-
zen, und das auch in die Entwürfe, die dem Parlament
vorgelegt werden, hineinzuschreiben.
J
Wie Sie wissen, befinden wir uns im Status der Haus-
haltskonsolidierung. Die gesamte Bundesregierung
– alle Häuser – muss dazu beitragen, dass wir eines Ta-
ges einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen kön-
nen. Das heißt, dass wir alle unter erheblichen Spar-
zwängen stehen und vieles Wünschenswerte gerne im
Verkehrshaushalt vorfinden würden, das wir im Moment
nicht ausreichend finanzieren können. Ganz klar ist
nämlich, dass wir uns als Gesamtstaat nicht übernehmen
können; denn wir sehen ja an einigen europäischen Part-
nerländern, wohin es führen kann, wenn man sich zu
sehr verschuldet.
Frau Lühmann.
Herr Staatssekretär, es geht jetzt einmal nicht um die
Zukunft, sondern um die Vergangenheit, nämlich um die
Schleuse Kleinmanchow. Es gibt einen Planfeststel-
lungsbeschluss aus dem Jahr 2002. Die Bundesregierung
hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage – Druck-
sache 17/511 – festgestellt, dass der Ersatz der Schleuse
Kleinmalchow aufgrund ihres Zustandes zwingend er-
forderlich ist und dass das nichts mit irgendwelchen Ver-
kehrszahlen zu tun hat.
Ich frage Sie, warum Sie diesen Planfeststellungsbe-
schluss im Dezember 2010 zurückgenommen haben, ob-
wohl Sie in der Antwort auf die Kleine Anfrage gesagt
haben, dass der Ersatz zwingend erforderlich ist.
J
Frau Kollegin, ich gehe davon aus, dass Sie nicht die
Schleuse Kleinmalchow und auch nicht die Schleuse
Kleinmanchow, sondern die Schleuse Kleinmachnow
meinen.
– Wie bitte?
– Ich korrigiere die Kollegin ja nur ungern, aber ich
finde, das ist die pure Wahrheit, und das muss hier ge-
sagt werden. Das ist also die Schleuse Kleinmachnow.
Der Ausbau dieser Schleuse war ursprünglich vorge-
sehen. Wir haben diesen Planfeststellungsbeschluss
nicht vollzogen, weil wir einen erheblichen Druck aus
der Region und den Zweifel gespürt haben, dass dieses
Projekt so einfach umsetzbar wäre.
Die Frau Kollegin Behm lächelt mich die ganze Zeit
interessiert an. Sie ist beispielsweise eine der Kollegin-
nen, die massiv gegen den Ausbau dieser Schleuse zu
Felde gezogen sind.
Zum Bedarf dieser Schleuse gibt es durchaus sehr unter-
schiedliche Einschätzungen. Bundesminister Peter
Ramsauer hat entschieden, dass dieser Planfeststellungs-
beschluss zunächst nicht vollzogen wird.
Ich glaube, dass wir im Sinne einer Priorisierung von
Maßnahmen, gerade bei den Bundeswasserstraßen, die-
jenigen Maßnahmen umsetzen sollten, die ganz beson-
ders hochwirtschaftlich sind.
Ich erteile Herrn Burkert zur nächsten Nachfrage das
Wort.
Herr Staatssekretär, wie kommt es eigentlich, dass
Binnenschiffe auf dem deutschen Binnenwasserstraßen-
netz unter maltesischer Flagge fahren, obwohl wir keine
Binnenwasserstraße erdacht haben und, soweit ich weiß,
noch keine Wasserstraße Deutschland und Malta verbin-
det?
J
Diese Frage kann ich Ihnen so aus dem Hut nicht be-
antworten. Ich nehme sie aber gerne mit und werde Ih-
nen gerne eine Antwort zukommen lassen.
Frau Gottschalk.
Herr Staatssekretär, unter welchen Tarifbedingungenarbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bin-nenschifffahrtsunternehmen – damit meine ich dieSchwarze und die Weiße Flotte – mit Sitz in Deutschlandim Vergleich zu Unternehmen mit Sitz im europäischenAusland? Welche Maßnahmen unternimmt die Bundes-
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Ulrike Gottschalck
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regierung gegen Dumpinglöhne in der Binnenschiff-fahrt?J
Die Binnenschifffahrt ist wie jeder andere Wirt-
schaftszweig vollständig frei, mit den Tarifpartnern ge-
meinsam einen Tarifvertrag auszuhandeln. Die Bundes-
regierung wird sich in die Findung von Tarifen ganz
sicher nicht einmischen. Das liegt nämlich nicht in unse-
rer Zuständigkeit.
Herr Pronold, bitte schön.
Auch mir geht es um die Binnenschifffahrt und die
Fahrgastschifffahrt. Zum 31. Dezember läuft die gel-
tende Regelung zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz
aus. Ist denn daran gedacht, das fortzusetzen? Ergän-
zend: Was ist, wenn Übernachtungsmöglichkeiten auf
dem Schiff sind, werden sie dann wie Hotels bewertet?
Es läuft noch eine Diskussion darüber, die vor allen
Dingen von den Finanzpolitikern zu entscheiden ist. Das
Bundesverkehrsministerium wird dazu keine Stellung
nehmen.
Noch eine Nachfrage, Frau Kressl. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, mich würde interessieren, wie Sie
die Aussage bewerten, die wir heute von der Bundes-
regierung im Finanzausschuss gehört haben, dass die
Bundesregierung keinen Vorschlag zur Verlängerung des
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorlegen will.
J
Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Ich habe Ihnen
vorhin gesagt, was ich darauf antworte. Das ist eine
Frage, die selbstverständlich der Gesetzgeber zu ent-
scheiden hat. Die Bundesregierung hat ihre Position
deutlich gemacht.
Wir kommen zur Frage 28 der Kollegin
Schwarzelühr-Sutter:
Wann beginnt die Bundesregierung mit der im Koalitions-
vertrag zwischen CDU, CSU und FDP vorgesehenen schritt-
weisen Reduzierung des Schienenbonus, und wann wird das
Ziel erreicht, ihn ganz abzuschaffen?
J
Frau Kollegin, die Antwort auf Ihre Frage lautet: Der
Koalitionsvertrag sieht vor, den Schienenbonus schritt-
weise zu reduzieren mit dem Ziel, ihn ganz abzuschaf-
fen. Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an,
differenzierte Aspekte der Lärmcharakteristik, der kon-
kreten schutzbedürftigen Situation und der Wirkung auf
den Menschen zu betrachten und auch die finanziellen
Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung erarbeitet derzeit den Entwurf einer Ände-
rungsverordnung zur 16. BImSchV, der voraussichtlich
bis Ende 2011 vorgelegt wird und danach innerhalb der
Bundesregierung abzustimmen ist.
Sie haben eine Nachfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, könnten Sie uns schon die Eck-
punkte dieses Entwurfs mitteilen? Die Hälfte der Legis-
laturperiode ist schließlich schon vorbei.
J
Sie sind in der Tat sehr ungeduldig. Dieses Projekt be-
findet sich noch in der Erarbeitung. Ich darf Sie bitten,
sich bis zum Ende des Jahres 2011 zu gedulden.
Dann werden wir Ihnen einen Entwurf vorlegen.
Ich möchte eine ähnliche Situation wie beim Investi-
tionsrahmenplan vermeiden, bei dem in der Öffentlich-
keit über sehr vieles spekuliert wird, obwohl es noch kei-
nen fertigen Investitionsrahmenplan gibt. Ich möchte
vermeiden, dass uns bei der schrittweisen Reduzierung
des Schienenbonus ein ähnliches Schicksal ereilt.
Sie haben eine zweite Nachfrage? Bitte schön.
Halten Sie es für möglich, dass die Umsetzung noch
in dieser Legislaturperiode erfolgt?
J
Wenn wir die Verordnung jetzt auf den Weg bringen,dann gehe ich davon aus, dass wir –
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– ja, Ende 2011 – das Projekt innerhalb der Bundesregie-rung zeitnah abstimmen können und innerhalb dieser Le-gislaturperiode, die bis September 2013 andauert, umset-zen werden.
– Ich bin sehr optimistisch.
Wir sind damit bei Frage 29 der Kollegin
Schwarzelühr-Sutter:
Wann wird die Bundesregierung einen lärmabhängigen
Trassenpreis einführen, und wie steht sie zu der Forderung der
Deutschen Bahn AG eines öffentlich finanzierten Wagen-
bonussystems?
J
Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung hat mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deut-
schen Bahn AG am 5. Juli 2011 eine Eckpunkteverein-
barung abgeschlossen, nach der die DB Netz AG zum
9. Dezember 2012 ein lärmabhängiges Trassenpreissys-
tem mit achtjähriger Laufzeit einführen soll. Dabei ist
vorgesehen, dass der Bund zur Mitfinanzierung eines
Bonussystems aus den für die Lärmsanierung vorhande-
nen Haushaltsmitteln eine Zuwendung ausreicht.
Erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Inwieweit gedenkt die Bundesregierung eine Harmo-
nisierung im Zusammenhang mit der Abschaffung des
Schienenbonus bei den lärmabhängigen Trassenpreisen
einzuführen?
J
Das sind unterschiedliche Regelungskreise; denn der
Schienenbonus bezieht sich auf neu zu bauende Ver-
kehrsinfrastrukturen im Schienenbereich, während das
Trassenpreissystem auf allen Trassen Anwendung findet,
insbesondere auf den heute schon vorhandenen. Deshalb
gibt es keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Re-
gelungskreisen. Sie ergänzen sich gegenseitig und sollen
dazu führen, dass es im Eisenbahnverkehr insgesamt zu
geringeren Lärmbelastungen kommt. Sehr viele Men-
schen in unserem Land sind von Eisenbahnlärm betrof-
fen, wodurch insbesondere die Akzeptanz des Güterver-
kehrs sinkt. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran,
diese Akzeptanz zu erhöhen. Dazu sind beide Instru-
mente sehr wichtig.
Frau Kollegin, haben Sie noch eine Nachfrage? –
Nein. Dann stellt der Kollege Herzog eine Frage. Bitte
schön, Kollege Herzog.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Bundesverkehrsminister und der Chef des
DB-Konzerns haben eine Eckpunktevereinbarung be-
schlossen. Ich frage Sie: Darf das der Konzernchef über-
haupt? Ist es nicht Sache der DB Netz AG, eine solche
Vereinbarung zu beschließen? Schließlich gibt es eine
klare Trennung zwischen Konzern und Netz. Wenn es
tatsächlich nur Eckpunkte waren: Wird dann irgendwann
ein Vertrag mit der DB Netz notwendig sein?
J
Wenn ich richtig informiert bin, ist es Ihre Partei ge-
wesen, die immer an einem integrierten Konzern festge-
halten hat. Das heißt, der Vorstandsvorsitzende der Hol-
ding kann für ein Tochterunternehmen natürlich Verträge
abschließen. Ihr Ansinnen wundert mich ein bisschen.
Ich habe dazu eine andere politische Auffassung. Ich
glaube, dass man diese Bereiche durchaus stärker tren-
nen sollte, als das bisher der Fall ist.
Herr Dr. Grube ist durchaus berechtigt gewesen, sol-
che Eckpunkte zu vereinbaren. Diese Eckpunkteverein-
barung wird dazu führen, dass wir ein Trassenpreissys-
tem bekommen werden, und zwar mit der Umstellung
auf den Winterfahrplan 2012/2013, so wie ich es Ihnen
beschrieben habe. Eine weitergehende Vereinbarung be-
nötigen wir dafür nicht. Wir haben volles Vertrauen in
unser eigenes Unternehmen, sowohl in die DB ML AG
als natürlich auch in die DB Netz AG.
Dazu gibt es keine weitere Nachfrage.
Wir kommen zur Frage 30 des Kollegen Martin
Burkert:
Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit, dass
das prognostizierte steigende Güterverkehrsaufkommen ver-
mehrt auf die Schiene verlagert wird?
J
Die Bundesregierung beantwortet die Frage wie folgt:
Ziel der Bundesregierung ist es, zum Erreichen der Um-
welt- und Klimaschutzziele sowie zur Entlastung der
Straße die Verlagerung auf Schiene und Wasserstraße zu
fördern, wo immer dies sinnvoll ist. Die Bundesregie-
rung geht davon aus, dass die von ihr vorgesehenen in-
vestitions- und ordnungspolitischen Maßnahmen zur
Stärkung des Schienenverkehrs eine Verlagerung von
Güterverkehren auf die Schiene ermöglichen werden.
Herr Burkert, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Meine erste Nachfrage lautet: Welche Neu- und Aus-baumaßnahmen werden konkret in den nächsten fünfJahren für das steigende Güterverkehrsaufkommen anden deutschen Nord- und Ostseehäfen durch die Bundes-regierung realisiert?
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(B)
J
Das ist eine versteckte Nachfrage nach dem Investi-
tionsrahmenplan. Ich habe dazu vorhin bereits ausführ-
lich Auskunft gegeben. Zu konkreten Projekten des
künftigen Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 kann
ich Ihnen aufgrund des Arbeitsstands heute leider keine
Auskunft geben.
Sie haben eine weitere Frage, diesmal keine ver-
steckte, sondern eine direkte.
Ich habe immer direkte Fragen. – Wie sieht die Bun-
desregierung den Abfluss der Güter aus der Schweiz
nach Fertigstellung des Tunnelsystems und des Gott-
hardtunnels auf deutscher Seite im Jahr 2019? Werden
dafür Vorbereitungen getroffen? Wie sehen die Pläne für
den Brenner Basistunnel auf der österreichischen Seite
aus?
J
Wir werden hierzu im Investitionsrahmenplan Aussa-
gen treffen. Sie wissen, dass das für uns ebenso wie die
Rheintalbahn oder auch die Fehmarnbelt-Querung eines
der sehr wichtigen internationalen Schienenverkehrsvor-
haben ist. Das alles sind internationale Projekte. Zum
einzelnen Sachstand, was die Planung und Umsetzung
angeht, würde ich Ihnen gerne schriftlich Informationen
nachliefern.
Vielen Dank. – Sie haben noch eine Nachfrage, Frau
Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade bestimmte Stre-
cken wie die Rheintalbahn genannt, zu der die Bundesre-
gierung eine vertragliche Verpflichtung mit der Schweiz
eingegangen ist. Die Schweiz ist noch einmal verstärkt
auf die Bundesregierung zugegangen und hat diese Ver-
pflichtung eingefordert. Mit Blick auf den IRP, der schon
mehrmals angesprochen worden ist, frage ich Sie: Wel-
che Mittel werden im IRP eingestellt? Sind es weniger
als bisher? Was ist bei der Rheintalbahn der nächste
Schritt?
J
Wir möchten den Vertrag mit der Schweiz erfüllen.
Die Voraussetzung dafür ist, dass das Baurecht für die
einzelnen Abschnitte vorliegt, die realisiert werden sol-
len. Im neuen Investitionsrahmenplan werden Sie keine
Projekte finden, für die bis zum Jahr 2015 vermutlich
kein Baurecht vorliegen wird. In der Regel sind diese
Vorhaben zeitlich relativ anspruchsvoll. Bei Neubeginn
einer Planung muss man mit mindestens fünf bis sechs
Jahren bis zum Vorliegen eines Planfeststellungsbe-
schlusses rechnen.
Wir werden versuchen, die Maßnahmen auch im Dia-
log mit der Region schnell umzusetzen. Das ist nicht
ganz einfach, wie Sie wissen, weil sehr viele Bürgerin-
nen und Bürger beispielsweise wegen der Lärmbelas-
tung, die bereits angesprochen wurde, diese Strecke kri-
tisch hinterfragen. Gleichwohl ist für uns der Ausbau der
Rheintalbahn von enormer volkswirtschaftlicher Bedeu-
tung. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, dass
wir ihren Ausbau gemeinsam mit der Region hinbekom-
men.
Aber was den Investitionsrahmenplan anbetrifft, gilt
das, was ich vorhin gesagt habe. Ich bitte um Verständnis
dafür, dass ich zu einzelnen Projekten aus dem Investi-
tionsrahmenplan heute keine Auskunft geben kann. Bitte
gedulden Sie sich, bis dieser vorliegt.
Eine weitere Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär Mücke, es gibt aber auch an der
Rheintalbahn baureife Projekte wie den Rastatter Tun-
nel. Wann wird mit dem Bau begonnen? Denn die
Rheintalbahn hat eine wichtige volkswirtschaftliche Be-
deutung, wie Sie gerade gesagt haben. Dieser Tunnel hat
schon mehrere Jahre die Baureife.
J
Dazu kann ich heute keine Aussage treffen. Wir wer-
den die Priorisierung der Projekte im IRP vornehmen
und Sie im Anschluss an die Erarbeitung des IRP da-
rüber informieren, welches Projekt wann umgesetzt
wird.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Wir kommen jetzt
zu Frage 31 unseres Kollegen Martin Burkert:
Wie will die Bundesregierung Einfluss auf die Deutsche
Bahn AG und Hersteller von Güterwagen nehmen, um einen
festen Bestand von in Gebrauch befindlichen Güterwagen zu
gewährleisten?
Bitte schön, Herr Mücke.
J
Der Güterverkehr und damit auch die Beschaffung
und Vorhaltung von Güterwagen liegen in der unterneh-
merischen Verantwortung der Eisenbahnverkehrsunter-
nehmen und somit auch der Deutschen Bahn AG. Es ist
eigenverantwortliche Aufgabe der Deutschen Bahn AG,
für einen ausreichenden Bestand an Fahrzeugen zu sor-
gen. Die Bundesregierung nimmt hierauf keinen Ein-
fluss.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege.
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(B)
Herr Staatssekretär, was unternimmt die Bundesregie-
rung, um die 600 000 Güterwagen in Europa, davon
180 000 in Deutschland, auf die Kunststoffbremssohle
umzurüsten und die Akzeptanz in der Bevölkerung im
Hinblick auf Schienenlärm zu verbessern?
J
Wir haben ein Förderprogramm ausgereicht, um die
Umrüstung der Güterwagen voranzubringen. Ich will an
meine Auskunft von vorhin erinnern: Wir setzen mit
dem lärmabhängigen Trassenpreissystem einen betriebs-
wirtschaftlichen bzw. marktwirtschaftlichen Anreiz, Gü-
terwagen umzurüsten. Jemand, der mit besonders alten
und lauten Güterwagen fahren wird, wird ab Dezember
2012 besonders hohe Trassenpreise zahlen. Es gibt also
einen wirtschaftlichen Anreiz, Güterwagen umzurüsten.
Wir haben mit unserem Förderprogramm zur Umrüstung
von Güterwagen gute Erfahrungen gemacht. Mit reinen
Subventionen kann das Problem nicht behoben werden.
Wir sind der Meinung, dass das lärmabhängige Trassen-
preissystem ausreichend Anreize bietet, Güterwagen
umzurüsten.
Ihre zweite Nachfrage, bitte schön, Kollege Martin
Burkert.
Herr Staatssekretär, gibt es in Ihrem Hause Über-
legungen, DB Schenker Rail aus dem DB-Konzern he-
rauszulösen und zu privatisieren, um den Haushalt zu
konsolidieren?
J
Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, weil die Beteili-
gungsverwaltung im BMF angesiedelt ist. Ich selber bin
nicht Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn
AG. Das müssten Sie den Bundesfinanzminister fragen.
Bitte schön, Kollege Pronold, eine Nachfrage.
Ich bin überrascht, dass die sonst so gut zusammenar-
beitende und untereinander bestens verknüpfte Bundes-
regierung nicht weiß, ob es entsprechende Pläne gibt.
Dem Verkehrsministerium muss doch bekannt sein, ob
Privatisierungspläne bezüglich Schenker vorhanden
sind. Falls Sie das wirklich nicht wissen – ich will Ihnen
nichts Böses unterstellen –: Könnten Sie es herausfinden
und es uns dann mitteilen?
J
Wir reden nur über Entscheidungen, die wir getroffen
haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig Vermutungen
vorhalten. Sie erwarten doch sicherlich, dass Ihnen die
Bundesregierung zutreffende Antworten zu Entschei-
dungen gibt, die sie getroffen hat. Wir haben hier eine
ähnliche Diskussionslage wie schon bei einigen anderen
Themen, die heute besprochen wurden. Es gibt eine all-
gemeine politische Diskussion über mögliche Privatisie-
rungen. Eine Entscheidung dazu ist jedenfalls nicht ge-
troffen.
Vielen Dank. – Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann,
eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich richtig verstanden, dass
Sie der Meinung sind, dass die lärmabhängigen Trassen-
preise ausreichend sind, um alle europäischen Güterwa-
gen, die eine sehr lange Lebensdauer haben, zeitnah um-
zurüsten? Wie kommen Sie zu dieser Auffassung, da
doch die DB und andere augenscheinlich anderer Auf-
fassung sind?
J
Ich glaube, dass wir mit dem lärmabhängigen Tras-
senpreissystem einen wirtschaftlichen Anreiz setzen,
eine entsprechende Umrüstung vorzunehmen. Es wird
für die Unternehmen sehr viel teuer werden, mit alten
Güterwagen zu fahren. Wir werden laufend überprüfen,
ob die Umsetzung des Trassenpreissystems funktionie-
ren wird. Ich gehe davon aus, dass dieser Anreiz ausrei-
chen wird, eine entsprechende Umrüstung vorzunehmen.
Wir können das selbstverständlich nicht für alle Gü-
terwagen, die in Europa fahren, veranlassen, aber wir
können ganz sicher ein Anreizsystem auf unseren Stre-
cken einführen, die natürlich auch von ausländischen
Güterwagen befahren werden. Es spielt dabei keine
Rolle, wer dort entlangfährt. Entscheidend ist, dass der-
jenige mit altem Wagenmaterial mehr zahlen muss als
jemand, der modernes Wagenmaterial verwendet. Des-
halb gehen wir davon aus, dass damit eine spürbare Ent-
lastung der Bevölkerung stattfinden wird.
Eine weitere Zusatzfrage von Frau Kollegin
Schwarzelühr-Sutter.
Herr Staatssekretär, gibt es Initiativen der Bundes-
regierung, den kombinierten Verkehr und den Einzel-
wagenverkehr im Schienengüterverkehr zu stärken und,
wenn ja, welche?
J
Wir haben schon in den letzten Jahren viele MillionenEuro aus dem Bundeshaushalt aufgewandt, um den kom-binierten Verkehr zu unterstützen. Auch hierzu muss ichsagen, dass wir leider unter dem Druck der Haushalts-konsolidierung stehen und Kürzungen vornehmen muss-ten. Es bleibt aber richtig, dass wir in diesem Prozess
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Parl. Staatssekretär Jan Mücke
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weiter vorangehen werden; denn wir werden keine sub-stanzielle Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene erle-ben, wenn wir den kombinierten Verkehr nicht weiterunterstützen. Es gibt eine Reihe von Neubaumaßnah-men, beispielsweise den Bau eines neuen Rangierbahn-hofs in der Nähe von Halle durch die Deutsche Bahn. Ichgehe davon aus, dass wir im Bereich des Güterverkehrseine ganz neue und wirtschaftlichere Struktur bekom-men werden. Das wird insgesamt dazu beitragen, dassdie Verkehre pünktlicher und schneller erfolgen und derGüterverkehr auf der Schiene insgesamt attraktiver wird.
Wir kommen zur Frage 32 der Frau Kollegin Elvira
Drobinski-Weiß:
Wie bewertet die Bundesregierung die Berechnungen der
IG BOHR, dass die 2008er-Variante mit vier Gleisen an der
Autobahn und der Belassung der Rheintalbahn für den Perso-
nennahverkehr 124 Millionen Euro weniger kosten würde als
die Bündelungstrasse, und welche Konsequenzen für die wei-
tere Planung zieht sie aus diesem Ergebnis?
J
Sehr geehrte Frau Kollegin, der Bundesregierung sind
entsprechende Ergebnisse einer Berechnung der Interes-
sengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hoch-Rhein
nicht bekannt. Der Projektbeirat, in dem die IG BOHR
mit mehreren Personen vertreten ist, hat auf seiner fünf-
ten Sitzung am 8. Februar 2011 zu dieser sogenannten
Kernforderung Folgendes beschlossen:
Der Projektbeirat begrüßt die Bereitschaft der Deut-
schen Bahn AG, zum Vergleich mit der An-
tragstrasse vertiefende Untersuchungen für eine au-
tobahnparallele Trassenführung von Offenburg bis
Riegel vorzunehmen. Er dankt der Bundesregierung
und der Landesregierung für ihre Zusage, die hier-
für erforderlichen Mittel in Höhe von 550 000 Euro
zur Verfügung zu stellen.
Der Projektbeirat erwartet von der Deutschen Bahn
AG, dass sie die entsprechenden Untersuchungen
auf der Grundlage des von der Arbeitsgruppe Clus-
ter 3 einvernehmlich erarbeiteten Pflichtenhefts in
der Fassung der Diskussion des heutigen Projekt-
beirats zeitnah und in enger Abstimmung mit dieser
Arbeitsgruppe durchführt. Bei der Prüfung der Be-
lange des Emissionsschutzes soll auf der Grundlage
des Gutachtens von Herrn Dr. Wendler auch die
maximale Kapazität berücksichtigt werden.
Herr Staatssekretär, das „Glockenspiel“ ist aus be-
stimmten Gründen eingeführt worden.
J
Ich würde gerne vollständig antworten.
Wir machen keine Zeitbegrenzung. Es ist in Ordnung.
Herr Staatssekretär, fahren Sie fort. Alle Kolleginnen
und Kollegen sind froh, wenn sie umfassende Auskunft
erhalten. Bitte schön.
J
Dementsprechend ist die sogenannte Kernforderung 2
– also Bundesautobahntrasse – als Tagesordnungspunkt 7
auf der nächsten Sitzung des Projektbeirats am 26. Sep-
tember dieses Jahres im Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung, Berlin, eines der zu diskutie-
renden Themen. Dabei wird die Deutsche Bahn AG über
den in der Arbeitsgruppe bisher erreichten Sachstand be-
richten. Abschließende Beschlüsse oder Empfehlungen
in dieser Frage werden aber voraussichtlich nicht getrof-
fen werden.
Erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Erst einmal vielen Dank, dass der Herr Staatssekretär
genügend Zeit bekam, so ausführlich zu antworten, auch
wenn uns diese Antwort nicht zufriedenstellt.
Ich möchte wissen, ob die Bundesregierung auch an
der Rheintalbahn die fahrplantechnische Zahl und die
Bahnhöfe für eventuelle Überholvorgänge hat feststellen
lassen, ob das gegebenenfalls in die Planungen einge-
flossen ist und was das an Kosten verursachen würde.
J
Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben, weil das
eine Angelegenheit ist, die im Projektbeirat beraten wer-
den müsste. Mir liegen dazu keine Untersuchungen vor.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen nach der Projektbeirats-
sitzung am 26. September eine Auskunft dazu gegeben
werden kann. Aber im Moment kann ich Ihnen in dieser
Frage nichts mitteilen.
Es gibt keine weitere Nachfrage, sodass wir zur Fra-
ge 33 unserer Kollegin Nicolette Kressl kommen:
Wie beurteilt die Bundesregierung die von der Deutschen
Bahn AG ermittelten Ergebnisse, dass als Alternative zur
Bündelungstrasse im Rheintal der Bau zweier Gütergleise an
der Autobahn plus die Ertüchtigung der Rheintalbahn auf
250 km/h rund 16 Millionen Euro mehr kosten würde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
J
Der Bundesregierung sind entsprechende Ergebnisseeiner Untersuchung der Deutschen Bahn AG nicht be-
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14818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
kannt. Der Projektbeirat zur Rheintalbahn hat auf seinerfünften Sitzung am 8. Februar 2011 zu der sogenanntenKernforderung 2 das beschlossen, was ich vorhin schonverlesen habe. Ich gehe davon aus, dass diese Kernforde-rung 2 Thema der nächsten Sitzung des Projektbeiratsam 26. September im BMVBS in Berlin sein wird unddie Deutsche Bahn AG dann über den bis dahin erreich-ten Sachstand berichten wird.
Erste Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, können wir aus
Ihrer Antwort schließen, dass die Bundesregierung die
verschiedenen Berechnungen nach eigenen Kriterien be-
werten wird?
J
Wir haben zugesagt, dass wir gemeinsam mit der
Landesregierung 550 000 Euro zur Verfügung stellen,
um diese Frage untersuchen zu lassen. Zunächst einmal
ist das Ergebnis dieser Untersuchung abzuwarten. Dann
werden wir eine Bewertung vornehmen können. Vorher
macht eine Aussage über mögliche Bewertungen keinen
Sinn.
Weitere Nachfrage, Frau Kollegin.
Das war eine sehr vage Antwort. Mich würde interes-
sieren, welchen Ablauf der einzelnen Schritte in der Zu-
sammenarbeit und der Bewertung Sie jetzt vorsehen und
ob die Bundesregierung irgendwann zu einer eigenen
Bewertung kommen wird.
J
Frau Kollegin, der Sinn des Projektbeirats ist ja, ge-
meinsam mit den betroffenen Anwohnerinnen und An-
wohnern, mit den Bürgerinitiativen eine Lösung zu fin-
den, die alle tragen können. Deshalb macht es, glaube
ich, wenig Sinn, wenn die Bundesregierung mit eigenen
Positionen vorprescht. Sinn des Projektbeirats ist ja ge-
rade, dass wir in einem iterativen Prozess zu einer ge-
meinsamen Lösung kommen. Deshalb kann ich Sie nur
auf die nächste Sitzung des Projektbeirats verweisen.
Wir wollen hier gemeinsam mit der Region eine Lösung
finden, die für alle akzeptabel ist. Wenn diese Untersu-
chungen vorliegen, wird die Bundesregierung dazu Stel-
lung nehmen. Gegenwärtig liegen uns die Untersuchun-
gen noch nicht vor, und deshalb ist es schwierig, heute
dazu Stellung zu nehmen.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage, nämlich unserer
Kollegin Schwarzelühr-Sutter.
Projektbeirat hin oder her – es gibt unterschiedliche
Berechnungen, nämlich die Berechnungen der Bahn und
die Berechnungen verschiedener Bürgerinitiativen. Die
Frage ist einfach: Wer überprüft die Berechnungen?
Rechnen Sie auch nach?
Als Anhang noch: Sie sagen, dass Sie auf das Ergeb-
nis des runden Tisches warten. Heißt das, dass die Bun-
desregierung dieses Ergebnis dann auch akzeptiert und
die Umsetzung finanziert?
J
Es obliegt dem Eisenbahn-Bundesamt, letztendlich zu
überprüfen, ob die Kosten realistisch geschätzt worden
sind oder nicht. Deshalb ist es keine Angelegenheit des
Ministeriums an sich, dazu Stellung zu nehmen. Ich
glaube, dass wir am Ende eine verträgliche Lösung fin-
den müssen, mit der alle leben können. Es macht ja kei-
nen Sinn, eine besonders preiswerte Lösung zu realisie-
ren, die in der Region aber keine Akzeptanz findet. Wir
sollten uns schon bemühen, im Projektbeirat zu gemein-
samen Ergebnissen zu kommen. Dann wird das Eisen-
bahn-Bundesamt als zuständige Behörde die notwendi-
gen Berechnungen vornehmen. Es wäre aber viel zu
früh, heute schon dazu Stellung zu nehmen; denn zu-
nächst einmal muss der Projektbeirat seine Position fin-
den.
Wir kommen jetzt zur Frage 34 des Kollegen Erler so-
wie zur Frage 35 des Kollegen Paula. Sie werden schrift-
lich beantwortet.
Jetzt sind wir bei der Frage 36 unserer Kollegin
Dr. Marlies Volkmer:
Was sind die Gründe für die verschiedenen Medien zu ent-
nehmenden Streichungen im Fünfjahresplan des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, nach
denen die gesamte zweite Ausbaustufe des Dresdner Haupt-
bahnhofs aus dem Finanzplan entfallen ist, und welche Kon-
sequenzen hat dies für die Infrastruktur des Bahnhofs und die
Anbindung an den Schienenverkehr?
J
Frau Kollegin Volkmer, Sie hatten ebenfalls nach In-
halten aus dem Investitionsrahmenplan gefragt. Auch
hier muss ich Ihnen die Antwort geben, dass derzeit der
Entwurf für diesen Investitionsrahmenplan erarbeitet
wird. Der Entwurf befindet sich noch in der Abstim-
mung. Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts
des gegenwärtigen Arbeitsstandes noch nicht möglich.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Volkmer.
Für alle, die das jetzt nicht wissen: Es geht in meinerFrage um die Ausbaustufen des Dresdner Hauptbahn-hofs. Der Dresdner Hauptbahnhof hat vor fünf Jahrenein neues Dach für über 90 Millionen Euro, geplant vom
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14819
Dr. Marlies Volkmer
(C)
britischen Stararchitekten Norman Foster, erhalten.
Halten Sie es für gerechtfertigt und für sinnvoll, wenn
ein Bahnhof mit einem solchen architektonischen
Kleinod als Dach nicht weiter gebaut und dann praktisch
als Dauerbaustelle bestehen würde?
J
Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie sind ja in demselben
Wahlkreis wie ich tätig. Deshalb kennen Sie den Dresd-
ner Hauptbahnhof mindestens genauso gut wie ich
selbst. Die Behauptung, dass der Hauptbahnhof eine
Baustelle sei, ist nun definitiv falsch. Es sind ja schon
mehrere Baustufen am Hauptbahnhof umgesetzt wor-
den. Er ist einer der schönsten erneuerten bzw. sanierten
Bahnhöfe in den neuen Bundesländern, vielleicht sogar
in Deutschland insgesamt geworden.
Bei der von Ihnen angesprochenen Baustufe geht es
um die verbleibende Sanierung einiger weniger Bahn-
steige. Das ändert nichts an der guten Qualität des Bahn-
hofs insgesamt. Insofern möchte ich Sie auf meine schon
einmal gegebene Antwort verweisen: Bitte warten Sie
die Fertigstellung des Investitionsrahmenplans ab.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Volkmer.
Meine Nachfrage lautet: Wie würden Sie die Zu-
stände auf einem Bahnhof bezeichnen, der in Teilen
weiträumig abgesperrt ist, auf dem Bauarbeiten stattfin-
den und von dem aus Durchbrüche zum Beispiel zur
Bayrischen Straße geschaffen werden, wenn Sie das
nicht als Baustelle bezeichnen wollen?
J
Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Es handelt sich um
die Erneuerung einiger weniger, noch nicht sanierter
Bahnsteige. Alle anderen sind schon saniert. Das Ge-
bäude ist in einem hervorragenden Zustand. Ich bin si-
cher, dass wir auch diese zweite Baustufe noch umsetzen
werden. Die Frage ist nur, zu welchem Zeitpunkt das
passieren wird. Das ist eine Frage, die erst nach den noch
zu erfolgenden Abstimmungen über den Investitionsrah-
menplan beantwortet werden kann.
Vielen Dank. – Ich komme jetzt zur Frage 37 unserer
Kollegin Kirsten Lühmann:
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu Plänen der
Europäischen Kommission, im Oktober 2011 einen Entwurf
zur Neuformulierung der Richtlinie zur Marktöffnung der Ab-
fertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft im
Rahmen eines Flughafenpaketes vorlegen zu wollen, und wie
plant die Bundesregierung hierauf zu reagieren?
J
Auf Ihre Frage, Frau Lühmann, möchte ich antwor-
ten: Für eine öffentliche Positionsbestimmung der Bun-
desregierung zu Plänen der Europäischen Kommission
zur Neuformulierung der Richtlinie 96/67/EG zur Markt-
öffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der
Gemeinschaft im Rahmen eines Flughafenpaketes ist es
mangels Kenntnis konkreter Vorstellungen der Europäi-
schen Kommission noch zu früh. Bisher ist lediglich ein
inoffizieller Entwurf bekannt. Hier ist unklar, ob dieser
auch so an die Mitgliedstaaten gehen wird. Letztendlich
ausschlaggebend kann jedoch nur der offiziell übermit-
telte Entwurf der Europäischen Kommission sein. Die
Bundesregierung wird den offiziellen Vorschlag der
Europäischen Kommission nach Eingang eingehend prü-
fen und sodann ihre Vorstellungen der Europäischen
Kommission übermitteln.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Die Bundesregierung hat in der Drucksache 17/6622
festgestellt, dass aufgrund der letzten Liberalisierung die
Kosten im Bereich der Abfertigung gesunken sind. Herr
Kallas hat Anfang dieses Jahres, am 5. Januar, festge-
stellt, eine weitere Veränderung der Richtlinie könne nur
mit dem Ziel vorgenommen werden, dass Kosten gespart
werden und sich die Qualität erhöht.
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir, da die
Bundesregierung jetzt festgestellt hat, dass die Kosten
schon deutlich gesunken sind, eine weitere Liberalisie-
rung gar nicht mehr benötigen?
J
Dieser Auffassung bin ich nicht. Ich kann Ihnen zu
möglichen Absichten der Kommission oder von Herrn
Kallas keine Auskunft geben. Das Prinzip, dass ständig
auch diese Fragen überprüft werden sollen, kann ich nur
bestätigen. Möglicherweise gibt es auch noch Wirt-
schaftlichkeitsreserven. Wir werden abwarten, welchen
Entwurf uns die Kommission vorlegen wird. Die Bun-
desregierung kann dazu noch keine Position beziehen,
weil wir den Entwurf noch nicht kennen.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.
Eigentlich müsste die Bundesregierung eine Meinungdazu haben, ob sie eine Veränderung für nötig befindetoder nicht. Aber ich nehme zur Kenntnis, dass die Bun-desregierung die nicht hat.Dann versuche ich es einmal andersherum. Bei der of-fenen Konsultation – ich hoffe, dass die Bundesregie-rung die verfolgt hat – haben verschiedene Akteure fest-gestellt, dass es aufgrund der Liberalisierung angezeigtist, in der geänderten Richtlinie auch die Arbeitsbedin-
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14820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Kirsten Lühmann
(C)
(B)
gungen festzulegen. Wie steht die Bundesregierung zudiesem Ansinnen, sollte sie das zur Kenntnis genommenund sich da schon eine Meinung gebildet haben, wasschön wäre?J
Wir kennen die Kritik, dass die Liberalisierung der
Bodenabfertigungsdienste zu Lohndumping und ähnli-
chen Schwierigkeiten geführt haben soll. Wir können
das nur eingeschränkt nachvollziehen. Ich glaube, dass
die Vereinbarung von Sozialstandards die Sozialpartner
klären sollten. Wir werden dennoch vorurteilsfrei und
offen prüfen, was uns die EU-Kommission zu dieser
Frage vorlegen wird.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 38 unserer
Kollegin Kirsten Lühmann:
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu den Befürch-
tungen von Gewerkschaften und Betriebsräten, die die Inte-
ressen der Beschäftigten in Deutschland und Europa vertre-
ten, wonach die Pläne der EU-Kommission bezüglich der
Marktöffnung der Abfertigungsdienste zu einem ruinösen
Preisverfall der Dienstleistung führen würden und dadurch
eine Abwälzung auf die Beschäftigten stattfinden würde, was
insbesondere zu einer Gefahr für die Sicherheit, aber auch
zum Verfall des Gehaltsgefüges und damit zu Lohndumping
führen würde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
J
Es handelt sich bei der Richtlinie 96/67/EG um ein
Regelwerk für den Verkehrssektor. Die Bundesregierung
wird abwarten, inwiefern die Europäische Kommission
in das Regelwerk sozial- und arbeitsmarktpolitische Fra-
gen einbindet, und sodann auch hier in eine eingehende
Prüfung eintreten.
In der Sache ist die Bundesregierung der Auffassung,
dass prioritär sichergestellt werden sollte, dass die be-
reits geltende Richtlinie in den europäischen Mitglied-
staaten gleichmäßig angewandt wird.
Nachfrage, Frau Kollegin.
Das höre ich gern. Kann ich das dahin gehend inter-
pretieren, dass die Bundesregierung sich, insbesondere
im Zusammenhang mit der Sicherstellung von Arbeits-
bedingungen, auch dafür einsetzen wird, dass es bei der
Beschränkung der Anzahl der Dienstleister bleiben
wird?
J
Wir haben noch keine Position dazu erarbeitet. Zu-
nächst warten wir den Kommissionsvorschlag ab.
Noch eine Nachfrage? – Bitte.
Ich versuche es noch einmal; ich bin ja hartnäckig. Ist
die Regierung im Lichte der Feststellung der Gewerk-
schaften, dass es schon nach der letzten Liberalisierung
1996 zu einer deutlichen Verringerung der Sozialstan-
dards gekommen ist, insbesondere zu einer Erhöhung des
Umfangs der Zeitarbeit und der Zahl befristeter Arbeits-
verträge aufgrund von häufig wechselnden Anbietern, der
Meinung, dass man zum Beispiel die Möglichkeiten aus
Art. 18 und 19 der Richtlinie, nämlich innerstaatlich Vor-
schriften zum Schutz der Beschäftigten zu erlassen, nut-
zen sollte?
J
Ich glaube nicht, dass das in Deutschland im Moment
relevant ist. Ich glaube, dass die Verhandlung über diese
Standards den Tarifpartnern überlassen werden sollte. Im
Übrigen sind aus Sicht der Bundesregierung befristete
Arbeitsverträge oder Leiharbeitsverhältnisse nichts, was
wir zu kritisieren hätten; vielmehr gibt es diese Instru-
mente zu Recht auch im deutschen Arbeitsmarkt. Sie
sollen dazu beitragen, dass Arbeitgeber flexibler auf eine
bestimmte Nachfrage reagieren können. Wir können da-
ran nichts Kritikwürdiges finden.
Ich habe noch die Nachfrage des Kollegen Martin
Burkert.
Herr Staatssekretär, im Verkehrsrecht sollen die Maß-
nahmen, was einen Notstand angeht, so weit aufgewertet
werden, dass das Streikrecht in Deutschland dadurch
massiv beeinflusst würde. Wird die Bundesregierung das
Streikrecht in Deutschland verteidigen?
J
Das Bundesverkehrsministerium ist nicht für die Be-
urteilung von Fragen des Streikrechts zuständig. Ich
möchte Sie bitten, sich mit Ihrer Frage an das zuständige
Ministerium zu wenden.
Noch eine Nachfrage?
In den Anhängen ist neben dem Streikrecht auch die
Rede davon, dass beispielsweise Lokführer Schadener-
satz leisten sollen, wenn die Züge Verspätung haben.
Wird die Bundesregierung sich dagegenstellen?
J
Einen entsprechenden Vorschlag kenne ich nicht. Wirwerden das prüfen. Ich hielte es für sehr ungewöhnlich,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14821
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
wenn das Usus werden sollte. Es kommt immer auf dieUrsache einer Verspätung an. Ich glaube nicht, dass da-für der Lokführer haftbar gemacht werden kann.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Sie werden es nicht
glauben, aber wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Ursula
Heinen-Esser steht zur Beantwortung der Fragen zur
Verfügung.
Frau Kollegin Vogt ist nicht anwesend. Mit ihren Fra-
gen 39 und 40 wird verfahren, wie in der Geschäftsord-
nung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
In welcher Form wird die Bundesregierung die im Rah-
men der Waldkonferenz „Bonn Challenge“ am 2. September
2011 unter anderem vom Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, angekün-
digte Wälder-Weltinitiative, die in den Jahren 2011 bis 2020
weltweit 150 Millionen Hektar Wald wieder aufbauen will, fi-
nanziell und organisatorisch unterstützen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Ur
Sie fragen nach der Konferenz „Bonn Challenge“, die
vor kurzer Zeit in Bonn stattgefunden hat. Es handelt
sich um einen Austausch verschiedener Akteure über
Möglichkeiten, Länder auf der Grundlage bestehender
Prozesse beim Wiederaufbau von Wäldern und Land-
schaften zu unterstützen und dadurch Synergien zwi-
schen dem Erhalt der Biodiversität und dem Klima-
schutz zu nutzen. „Bonn Challenge“ – vorher gab es eine
Konferenz in London, die mich persönlich sehr beein-
druckt hat – soll ein Bindeglied zwischen dem Klima-
schutzprozess und dem Biodiversitätsprozess sein, et-
was, was dringend notwendig ist.
Im Rahmen unserer Internationalen Klimaschutzini-
tiative unterstützen wir viele Länder bei der Umsetzung
wichtiger Maßnahmen im Bereich Waldschutz und beim
Wiederaufbau von Waldökosystemen. Wie wir die
„Bonn Challenge“ weiterhin finanziell und organisato-
risch unterstützen können, wird zurzeit geprüft. Das
kann beispielsweise auch im Rahmen der internationalen
Klimaschutzprojekte erfolgen. Wie das aussehen kann,
wollen wir in Kürze entscheiden.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Ich finde, es ist
eine hervorragende und auch wichtige Initiative, die
weltweit auf den Weg gebracht wurde. Die Rede ist da-
von, dass etwa 2 Milliarden Hektar Waldfläche aufge-
forstet werden könnten. 150 Millionen Hektar hat sich
die Wälder-Weltinitiative vorgenommen. Es stellen sich
folgende Fragen: Weiß man, in welchem Eigentum sich
diese 2 Milliarden Hektar befinden? Wird es möglich
sein, den Zugang zu den 150 Millionen Hektar zu ge-
währleisten, um die Aufforstung durchzuführen?
Ur
Die Zahl 2 Milliarden Hektar hat man erst in jüngster
Zeit errechnet. Man konnte durch neue Methoden berech-
nen, wie viel Waldfläche tatsächlich zur Wiederauffors-
tung bzw. zur Wiederherstellung zur Verfügung steht. Die
150 Millionen Hektar sind teilweise in Landesbesitz. So
wird beispielsweise das Land Ruanda den Wiederaufbau
seiner Wälder auf insgesamt 2,6 Millionen Hektar unter-
stützen.
Eine weitere Nachfrage?
Man weiß also noch nicht im Detail, in welchem Ei-
gentum diese Flächen sind.
Einige Fragen sind allerdings noch offen – wahr-
scheinlich sind sie noch im Diskussionsprozess –: Wie
wird die Aufforstung finanziert? Will die Wälder-Welt-
initiative Unternehmen gewinnen, die das Vorhaben fi-
nanzieren? Wird die Wälder-Weltinitiative selber Mittel
zur Finanzierung aufbringen? Man hat errechnet, dass
die geplante Aufforstung weltweit Gewinne in Höhe von
85 Millionen Dollar pro Jahr abwerfen könnte. Wer wird
die Gewinne letzten Endes einstreichen?
Ur
Was das Gewinneeinstreichen angeht: So weit sind
wir noch lange nicht. Das ist ein sehr langer Prozess. Es
geht zunächst einmal darum, die ersten Schritte zu ma-
chen. Sie haben zu Recht angesprochen: Wie wird das
Ganze finanziert? Es gibt auch privatwirtschaftliche Ini-
tiativen, bei der „Bonn Challenge“ beispielsweise eine
Initiative eines Wirtschaftsverbandes. Das Unternehmen
Airbus hat sich engagiert. Es wollen sich also verschie-
dene private Initiativen am Wiederaufbau der Wälder
beteiligen. Darüber hinaus prüfen wir – das habe ich als
Antwort auf die erste Frage bereits gesagt –, inwieweit
wir solche Initiativen unterstützen können. Denn der
Wiederaufbau der Wälder ist Kernstück unserer gesam-
ten Klimaschutzpolitik.
Vielen herzlichen Dank.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie sindeinverstanden, keinen neuen Fragenkomplex mehr auf-zurufen, sodass wir jetzt am Ende dieser Fragestundesind. Alle weiteren Fragen werden schriftlich beantwor-tet.
Metadaten/Kopzeile:
14822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENGeordnete Insolvenz – Die Haltung der Bun-desregierungErster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist derKollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bun-desminister der Finanzen hat letzte Woche eine zutref-fende Feststellung gemacht:Denkverbote sind zutiefst freiheitswidrig. Aber dasGegenteil von Denkverboten sind nicht unbedingtRedegebote.
Gemeint war Herr Rösler. Und in der Tat: Hätte er liebergeschwiegen!
Es ist fahrlässig, angesichts des von der eigenen Regie-rung eingeleiteten Umtauschs von griechischen Staats-anleihen von einer geordneten Insolvenz zu reden undsomit diesen Umtausch auszubremsen und das Minimuman Gläubigerbeteiligung, das Sie auf den Weg gebrachthaben, noch geringer ausfallen zu lassen. Damit habenSie nicht Schaden vom deutschen Volk abgewendet, son-dern ihn gemehrt.
Wenn man die Möglichkeit einer geordneten Staatsin-solvenz in Betracht zieht, wie kann man dann – 25 vonIhnen bei der letzten Probeabstimmung – gegen die er-weiterte EFSF sein? Diese schafft doch erst die Voraus-setzung dafür, dass so etwas wie eine Insolvenz über-haupt möglich wird.
Wenn man von geordneter Insolvenz redet, wie kannman dann eine Urabstimmung in den eigenen Reihen da-gegen organisieren, dass dieses Instrument zur Vermei-dung von Krisen dauerhaft Bestandteil Europas wird?Das ist doch organisierte Schizophrenie und nicht Libe-ralität, was Sie da praktizieren.
Es ging Ihnen ja auch gar nicht um Europa. Es gingIhnen darum, in Berlin über die 5-Prozent-Hürde zukommen. Diese Wette ist grausam danebengegangen.Die Wählerinnen und Wähler haben Sie auf Ramsch-niveau runtergeratet.
Frau Bundeskanzlerin, Ihr Koalitionspartner befindetsich in einer mittlerweile ungeordneten Insolvenz. InKreuzberg, meine Damen und Herren von der FDP, ha-ben Sie sich ein heftiges Kopf-an-Kopf-Rennen mit derTierschutzpartei geliefert. Mit 0,7 Prozent haben Sienoch nicht einmal halb so viele Stimmen bekommen wieDie Partei von Ihrem Freund Martin Sonneborn, der mitdem Plakat „Inhalte überwinden!“ Ihren Wahlkampf in-haltlich getoppt hat.
Sie sind mittlerweile der größte Leerverkauf in derPolitik. Wann haben wir das das letzte Mal gehabt, dasssich eine Regierungspartei, eine liberale zumal, ent-schlossen hat, aus Gründen der Wählermaximierung aufHaiders Spuren statt weiter auf den Wegen von Hans-Dietrich Genscher zu laufen?
Die Bundeskanzlerin kann einem an dieser Stelleschon fast leidtun. Herr Schäuble sagte in der Bild amSonntag: Eine Koalition mit einer euroskeptischen Parteikann ich mir nicht vorstellen. – Ja, warum sitzt denn dieFDP noch am Kabinettstisch? Warum darf HerrDobrindt noch in den Koalitionsausschuss? Das müssenSie von der Union, die sich mal Europa-Partei genannthaben, einmal beantworten.
Sagen Sie nicht, am Ende würden Sie sich als gute Euro-päer in der Union immer gegen die Euro-Skeptiker vonFDP und CSU durchsetzen.
Wir müssen darüber reden, was dieses Durchsetzen amEnde kostet. Über ein Jahr haben Sie sich diesem erwei-terten Rettungsschirm verweigert, weil Sie gegen denAnkauf von Anleihen waren. Mittlerweile muss das dieEZB machen. Das ist es, wozu Ihre innere Blockadeführt. Das ist es, was die Krise verlängert und sie im Üb-rigen für die Steuerzahler verteuert.Weil Sie sich nicht einig waren, weil Sie die Euro-Skeptiker in den eigenen Reihen haben – wie ich weiß,sehen das bei Ihnen viele haargenau so, der Finanzminis-ter eingeschlossen –, weil Sie diese Skeptiker nicht aufLinie bringen konnten, kommen die Instrumente für denRettungsfonds zu spät. Bis heute ist es nicht sicher, dassSie zu dieser Frage über eine eigene Mehrheit verfügen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14823
Jürgen Trittin
(C)
(B)
Heute Morgen habe ich in der Berliner Zeitung eineinteressante Überschrift gelesen. Sie lautet: Schäublevertraut auf Rot-Grün.
Es muss schon ziemlich schlimm in Ihren Reihen bestelltsein, wenn es so weit kommt, dass der Bundesfinanz-minister auf Rot-Grün vertrauen muss.
Meine Damen und Herren, wo sind Sie als überzeugteEuropäer eigentlich geblieben? Ich sage Ihnen: In dernächsten Woche wird hier nicht nur über den europäi-schen Stabilisierungsfonds abgestimmt. In der nächstenWoche wird hier auch über Ihre Zukunft abgestimmt. Ja,Sie können sich darauf verlassen: Wir sind für die EFSF.Aber wir sagen Ihnen auch: Wenn Sie keine eigeneMehrheit haben, dann hat Schwarz-Gelb fertig.
Die geordnete Insolvenz Ihrer Traumkoalition – dasheißt Neuwahlen.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert
Barthle.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wir nehmen zur Kenntnis, dass dieGrünen-Fraktion eine Aktuelle Stunde zu einem Themabeantragt hat, das in der Öffentlichkeit nur schwer ver-ständlich ist.
Denn erklären Sie einmal den Menschen, worin der Un-terschied besteht zwischen einem Staat, der illiquide ist,einem Staat, der insolvent ist, oder einem Staat, der zah-lungsunfähig ist, und worin in dem Zusammenhang derUnterschied besteht zwischen einer geordneten Insol-venz und einer ungeordneten Insolvenz. Das verstehendie Bürger – von den Fachleuten einmal abgesehen –nicht.
Wenn Sie aufgrund dieser terminologischen Differen-ziertheiten nun einen Keil in die Koalition treiben wol-len,
dann ist das mehr als lächerlich. Verehrter Herr Trittin,Ihr Auftritt soeben hat Sie für das Berliner Kabarett qua-lifiziert, nicht aber für dieses Haus.
Noch eines muss man Ihnen sagen: Herr Trittin, wennich mich recht erinnere, ist doch Ihre Kollegin, FrauKünast, angetreten, um in Berlin Regierende Bürger-meisterin zu werden. Was wir hier erleben, ist dochnichts anderes als die Fortsetzung des Berliner Wahl-kampfes. Wenn Sie darüber sprechen wollen, können wirdas gerne tun. Wo sind denn die Höhenflüge der Grünengeblieben?
Ich wollte eigentlich die Grünen-Fraktion loben; dennwährend der Beratungen zur EFSF und zur Frage derparlamentarischen Beteiligung an Fragen dieses neuenRettungsinstruments hat sich die Grünen-Fraktion aus-gesprochen konstruktiv verhalten.
Das ist sehr lobenswert.Was Sie aber hier abliefern, konterkariert dieses Bildtotal. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen zu müssen. Eineim Kern vernünftige Fraktion führt sich hier in unwürdi-ger Art und Weise auf.
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Über die Frage, obein Euro-Mitgliedsland in eine geordnete oder ungeord-nete Insolvenz gerät, entscheidet weder die Bundeskanz-lerin noch der Vizekanzler, darüber entscheidet nicht dieFDP-Fraktion, auch nicht die CDU/CSU-Fraktion
und auch nicht die Grünen oder die SPD oder gar dieLinken. Über diese Frage entscheidet einzig und alleindas betreffende Land. Darüber muss man sich immer imKlaren sein.Denn wenn ein Land sich so aufstellt, dass es wettbe-werbsfähig und kreditwürdig ist, dann kann es sich aufden Kreditmärkten bedienen. Andernfalls muss sich indem betreffenden Land etwas ändern. Dass sich in den
Metadaten/Kopzeile:
14824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Norbert Barthle
(C)
(B)
betreffenden Ländern etwas ändert, daran arbeiten wir,insbesondere mit dem jetzt aufzustellenden neuen Ret-tungsschirm, mit den erweiterten Möglichkeiten derEFSF, der neuen Finanzmarktstabilisierungsfazilität.Diese soll in der Lage sein, vorausschauend helfen zukönnen in den Fällen, in denen Ansteckungsgefahrenvon einem Lande ausgehen, wovon womöglich die ge-samte Europäische Union, insbesondere aber der Euro,betroffen wäre.Wir entwickeln jetzt gerade ein Programm, um in Fäl-len, in denen Ansteckungsgefahren drohen, prophylak-tisch einwirken zu können. Wir machen ein Programm,das dafür sorgt, dass die mit den Rettungsmaßnahmenverbundene Konditionalität, also die Auflagen, die einLand erhält – ein Land, dem geholfen wird, muss selbsttätig werden, sich verändern, sich neu aufstellen undwettbewerbsfähig werden –, wirksam werden kann. DieKonditionalität wird erst durch das Instrumentarium, daswir jetzt entwickeln, wirksam. Es lohnt sich viel mehr,darüber zu sprechen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesemHause haben in dieser Woche eine wichtige Aufgabe zuerfüllen: Wir haben zu regeln, wie der Rettungsmecha-nismus und die parlamentarischen Beteiligungsrechtekünftig ausgestaltet sein sollen. Diese Aufgaben betref-fen das ganze Hohe Haus in besonderem Maße. Es lohntsich, dafür den Gehirnschmalz einzusetzen, sich zusam-menzusetzen, miteinander zu streiten und zu ringen – dastun wir gerade auch im Haushaltsausschuss intensiv –, umeine Lösung zu finden. Da ist der Klamauk, den Sie hierveranstalten, ausgesprochen kontraproduktiv; denn erlenkt von den eigentlichen Themen ab.
Sie produzieren Klamauk dort, wo wir ihn nicht gebrau-chen können. Das ist eine Tendenz, die dem Thema nichtangemessen ist – im Gegenteil.
Sie machen aus einem wirklich ernsten europäischenThema, das man mit großer Seriosität behandeln muss,ein Klamaukthema. Es tut mir leid, Ihnen das so sagenzu müssen.Danke.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Joachim Poß.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Barthle, Sie können einem nun wirklichleidtun, weil hier Sie zum wiederholten Male Ausputzersein und eine Ablenkungsrede halten müssen. Denn ma-chen wir uns nichts vor: Bei aller Leichtigkeit Ihrer For-mulierungen ist das, was wir in der letzten Woche erlebthaben, ein verdammt ernster Vorgang, der von Ihrer Re-gierung, vom Vizekanzler, ausgegangen ist. Es ist wirk-lich kein Grund, Witzchen zu machen; denn die europäi-schen und internationalen Reaktionen – Sie können es inden internationalen Medien nachvollziehen – sind ein-fach erschreckend: Die Menschen sind entsetzt. Sie fra-gen: Was ist mit der Regierung des wirtschaftsstärkstenLandes Europas los, wo doch – so wurde es in einer Zei-tung formuliert – die ganzen Hoffnungen sozusagen aufden Schultern von Frau Merkel ruhen? Das ist der Vor-gang, um den es hier geht. Sie werden Ihrer Verantwor-tung – Sie wurden gewählt, um sie wahrzunehmen – inkeiner Weise gerecht; das ist das Erschreckende.
Wir sehen eine total zerstrittene Bundesregierung mitgrenzenlosem Misstrauen untereinander, die offen ge-geneinander arbeitet,
einen Vizekanzler, der zum wiederholten Male in einerzentralen Frage der deutschen Politik offen eine anderePosition als die Bundeskanzlerin und der fachlich zu-ständige Bundesfinanzminister einnimmt. Frau MerkelsAppelle in Richtung Rösler und FDP verhallen ohneWirkung. Wolfgang Schäuble kann sich nur noch in Sar-kasmus flüchten; ich kann das nachvollziehen. Wir se-hen eine Bundesregierung und eine Regierungskoalitionin Chaos und Auflösung; das ist der Tatbestand, mit demwir es zu tun haben.
Nebenbei tritt Frau Merkels Machtverfall immer offe-ner zutage. Das heißt, die Regierung des wirtschafts-stärksten europäischen Landes legt sich in der Staats-schuldenkrise selbst lahm. Gerade jetzt ist doch die volleHandlungsfähigkeit der deutschen Regierung gefragt.Die Probleme sind so groß, dass sie schon bei vollerHandlungsfähigkeit kaum zu bewältigen sind. Es fehltan Überzeugungsarbeit. Wie will denn diese Regierungbei dem Durcheinander, das sie produziert, Überzeu-gungsarbeit leisten? Wir alle, Vertreter aller Fraktionen,wissen doch, wie schwer es ist, diese Überzeugungsar-beit zu leisten.Wir alle wissen es: Die Befindlichkeiten der eigenenPartei sollten mit den Äußerungen von Herrn Rösler be-dient werden. Rösler ging es von Anfang an um die Sta-bilisierung der FDP. Das ist misslungen. Es ging ihm umSignale in eine bestimmte Richtung, nicht um die Stabi-lisierung des Euro. Wie auch immer er seine Äußerun-gen begründen mag: Er nahm billigend die Verunsiche-rung der Märkte und derjenigen in Kauf, die sich aktuellum Lösungen der Probleme bemühen; das ist der Tatbe-
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Joachim Poß
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stand. Das ist nicht tolerabel bei jemandem, der in derRegierungsverantwortung steht. Er gehört da gar nichthin. Herr Rösler hat sich als total überfordert gezeigt;das muss man einmal sagen. Damit ist er nicht der Ein-zige in dieser Regierung.
Die Kanzlerin sagte zu Recht, jeder müsse seine Worte„vorsichtig wägen“, richtet aber nichts aus, und imSchatten von Herrn Rösler und der FDP schwimmt eineimmer nervöser werdende CSU.
Aus ihren Reihen kommen Äußerungen, die in ebensol-cher Weise unverantwortlich sind. Das, was HerrSeehofer abliefert, müssen Herr Waigel und andere, dieman nun wirklich als überzeugte Europäer bezeichnenkann, voller Ingrimm betrachten. Das, was von der CSUzu hören ist, hat nichts mehr mit europäischer Traditionzu tun.
Unterm Strich – Herr Trittin hat das angedeutet –: Dasganze Gerede über mögliche Alternativen zu den existie-renden und erweiterten Rettungsschirmen und die Si-gnale, die damit gesetzt wurden, können uns noch sehrteuer zu stehen kommen. Wenn das ökonomisch wenigs-tens Sinn machen würde; das Gegenteil ist aber der Fall:Auch ökonomisch schaden Sie.
Das war nicht nur an einem Tag zu beobachten. HerrRösler hat zum Beispiel nicht erklärt, was er mit seinerÄußerung zur „geordneten Insolvenz“ gemeint hat. DieFolgen, die mit einem solchen Vorgehen verbunden wä-ren, müssten von ihm einmal beschrieben werden. In denMedien werden solche Szenarien beschrieben. Das Er-gebnis ist: Mit seinen Beiträgen macht sich der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler mit jenen in der FDP, derCDU und der CSU gemein, denen die ganze Richtungder Euro-Stabilisierung nicht passt. Das gilt leider auchfür einige deutsche Ökonomen, die, wie Sie, viel zuleichtfertig und abgehoben mit Begriffen wie „Insol-venz“ und „Austritt aus dem Euro“ umgehen, ohne derenImplikationen und Konsequenzen auszuleuchten.
Im Unterschied zu Herrn Rösler tragen diese Ökonomenaber keine politische Verantwortung.Herr Rösler hat in den letzten Wochen wirklich ein-drucksvoll bewiesen, wie überfordert er mit dieser Auf-gabe ist. Er sollte sich überlegen, ob er sich selbst undseiner Partei nicht möglicherweise einen Gefallen damittut, wenn er sich aus dieser Aufgabe zurückzieht.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Christian Lindner.
Bitte schön, Kollege Christian Lindner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Der Bundeswirtschaftsminister hat vor der Berlin-Wahleine Position bezogen, und er wird auch nach der Berlin-Wahl diese Position weiter vertreten, weil er aus staats-politischer Verantwortung heraus argumentiert hat undnicht mit Rücksicht auf parteipolitischen Interessen.
Herr Poß, ausgerechnet Sie erheben den Vorwurf desPopulismus und der Parteitaktik. Ausgerechnet die So-zialdemokraten, die die erfolgreiche Agenda 2010 ausblankem Opportunismus rückabwickeln wollen,
ausgerechnet die SPD, deren Vorsitzender die fleischge-wordene Pirouette ist,
ausgerechnet die SPD, die sich drei Tage vor der nord-rhein-westfälischen Landtagswahl beim ersten Grie-chenland-Rettungspaket enthalten hat, ausgerechnetdiese SPD wirft uns Populismus vor. Von Ihnen brau-chen wir uns den Vorwurf wirklich nicht gefallen zu las-sen!
Im Übrigen ist das alles nur ein Trick – das gilt auchfür die Argumentation von Herrn Trittin –, um von derAuseinandersetzung in der Sache abzulenken. Deshalberheben Sie den Vorwurf der Parteitaktik und des Popu-lismus.
– Regen Sie sich doch nicht so auf.
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Christian Lindner
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Europa ist – das ist, glaube ich, unsere gemeinsameÜberzeugung – die Garantie für Frieden und Wohlstandauf diesem Kontinent. Die Idee der europäischen Inte-gration ist liberal; es ist die Idee der Freiheit des Arbei-tens, des Lebens, des Handelns und des Wirtschaftensauf unserem gemeinsamen Kontinent. Die Währungs-union ist eine Errungenschaft, von der Deutschland pro-fitiert. Für uns Liberale ist die europäische Integrationim Übrigen auch das politische Erbe von Walter Scheel,Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel. Deshalbwerden wir sie mit Entschiedenheit verteidigen.
Europa ist aber gegenwärtig in einer Krise, und nurwenn man die Krise analysiert, kann man die richtigenSchlüsse ziehen.
Die Ursachen bzw. Verursacher der Krise sitzen hier imRaum;
sie sitzen in Ihren Reihen. Sie haben seinerzeit unter derRegierung Schröder/Fischer die Maastricht-Kriterien ge-brochen
und das dann auf europäischer Ebene auch noch zumProgramm erklärt.
Sie haben hier im Jahre 2004 einen Antrag verabschie-det, in dem zu lesen ist – ich zitiere –, der Stabilitätspaktsei „zu starr auf die kurzfristige Einhaltung quantitativerVorgaben ausgerichtet“.
Das war die Einladung, Europa zu einer Schuldenunionzu machen.
Nachdem Sie uns einen Scherbenhaufen hinterlassenhaben, stören Sie jetzt auch noch die Aufräumarbeiten.
Das Ergebnis ist heute zu sehen. Ihre Antworten auf dieSchuldenkrise sind neue Schulden, europäische Gemein-schaftsschulden.
Sie haben nichts gelernt. Sie haben im nationalstaatli-chen Rahmen, in Deutschland, nichts gelernt; denn keineRegierungskonstellation in den Ländern bekommt soviele Ohrfeigen wegen zu hoher Verschuldung von Ver-fassungsgerichten und von Rechnungshöfen wie die Zu-sammenarbeit von Roten und Grünen. Sie haben auchauf europäischer Ebene nichts gelernt; denn Sie setzensich für Euro-Bonds ein. Damit wollen Sie nichts ande-res als die Vergemeinschaftung von Schulden. EineSchuldenkrise löst man aber nicht, indem man das Ver-schulden noch günstiger macht.
Was wir brauchen, ist eine Stabilitätskultur in Europa.
Zu einer Zeit, als die europäische Linke – klatschen Sienicht zu früh – in Europa noch schuldenfinanzierte Kon-junkturprogramme gefordert hat, haben wir auf Stabilitätgesetzt. Jetzt sehen wir, dass in Spanien eine nationaleSchuldenbremse in die Verfassung aufgenommen wird.
Auch das ist ein Erfolg der deutschen Außen- und Euro-papolitik. Sie wollen Schulden importieren, wir wollenStabilität exportieren.
Wir brauchen eine Wirtschaftsverfassung, die auf kla-ren Regeln basiert und Stabilität befördert. Lassen Sie esuns klar sagen: Es geht auch um geordnete staatliche In-solvenzverfahren, wenn sie im Extremfall erforderlichsind. Der Bundeswirtschaftsminister hat damit eine Not-wendigkeit ausgesprochen. Er hat damit das klare Signalan all diejenigen, die Nothilfe beanspruchen, gesendet,dass das Prinzip von Leistung und Gegenleistung nichtgebrochen werden kann. Er hat dafür von den 16 führen-den Ökonomen in Deutschland Unterstützung erfahren,
unter ihnen die Chefberater von Wolfgang Schäuble,ehemals von Peer Steinbrück. Er hat eine verantwortli-che Position bezogen.
Das war eine Notwendigkeit. Der Bundeswirtschafts-minister hat damit einen Auftrag des Deutschen Bundes-tages vom Oktober 2010 angenommen. Ein Minister, dersich an Beschlüsse des Deutschen Bundestages hält,sollte von Ihnen nicht kritisiert, sondern unterstützt wer-den. Das ist zumindest unser Verständnis von Parlamen-tarismus.
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Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist un-
sere Kollegin Sahra Wagenknecht. Bitte schön, Frau
Kollegin Sahra Wagenknecht.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Fangen wir einmal mit dem Positiven an. Ich denke, ineinem Punkt hat Herr Rösler tatsächlich recht: Griechen-land ist pleite. Anderthalb Jahre nach Beginn der Ret-tung sind die Staatsschulden Griechenlands – trotz an-geblicher Rettungsmilliarden – höher als zuvor,
während die Wirtschaft unter den drakonischen Sparpro-grammen regelrecht kollabiert ist.
Das ist die Situation. Wenn man sich die Lage in Grie-chenland ansieht, dann wird völlig klar: Was diesemLand diktiert wurde, war kein Hilfs-, sondern ein Killer-programm. Das ist das Grundproblem.
Unter solchen Konditionen ist die Wahrscheinlichkeit,dass Griechenland seine Schulden zurückzahlen kann,natürlich noch geringer als vorher. Das weiß die Kanzle-rin. Das weiß auch Herr Schäuble. Das weiß im Grundejeder, der sich mit dieser Materie einigermaßen intensivbefasst hat. Mindestens so verantwortungslos wie wahl-taktisch motiviertes Insolvenzgerede ist die offensichtli-che Bereitschaft der Bundesregierung, die Kosten einerabsehbaren Griechenland-Pleite bis zum letzten Eurodem Steuerzahler aufzubürden. Das ist der Kern, um denes geht.
Die Frage ist doch längst nicht mehr, ob Griechenlandzahlungsunfähig wird. Die einzige Frage, um die es nochgeht, ist, wann Griechenland zahlungsunfähig wird. Dasist die 100-Milliarden-Euro-Frage. Je später der Schul-denschnitt kommt, umso teurer wird er für die Steuer-zahler und umso billiger wird er für die Banken, Hedge-fonds und Spekulanten. Das ist der Kern des Problems.
Heute würde ein 50-prozentiger Schuldenschnitt dendeutschen Staat bzw. den Bund etwa 14 Milliarden Eurokosten, die deutschen Banken und Versicherungen abernur 6 Milliarden Euro. Diese Relation hätte vor andert-halb Jahren noch ganz anders ausgesehen.
Es ist geplant, im Oktober dieses Jahres die nächsteKredittranche freizugeben. Vor allem will man das„großartige“ sogenannte Gläubigerbeteiligungsprogrammstarten,
das in Wirklichkeit eine Gläubigersanierung und keineGläubigerbeteiligung zur Folge haben wird.
Es ist doch kein Zufall, dass der Masterplan dafür ausder Giftküche des internationalen Bankenverbandes un-ter Vorsitz von Herrn Ackermann stammt.
Wenn man dieses Programm ohne Rücksicht auf Ver-luste durchzieht, dann heißt das, dass die Kosten eineskünftigen Zahlungsausfalls Griechenlands vollständigvom Steuerzahler in Europa zu tragen sind und dass dieFinanzmafia keinen Euro beisteuern muss.
Es gibt kein Rettungsprogramm für den Euro. Was esgibt, ist ein Rettungsprogramm für die Finanzmafia. Inderen Taschen wird am Ende jeder einzelne Euro, der imRahmen der Hilfskredite freigegeben wird, landen. Dasist das Problem.Ich verstehe völlig, dass Leute wie Ackermann eingroßes Interesse daran haben, diese staatliche Milliar-denpipeline flüssig zu halten; das ist völlig nachvollzieh-bar. Aber eine Bundesregierung, die sich zum willenlo-sen Erfüllungsgehilfen solcher Interessengruppen macht,hat offensichtlich ihren Amtseid vergessen.
Man muss aber auch feststellen: Eine Opposition, die siedabei unterstützt, wie SPD und Grüne es tun, ist ein Ar-mutszeugnis für die Demokratie.Warum reden eigentlich alle immer nur über Schul-den? Nicht nur die Schulden sind in den letzten Jahreneskaliert, sondern auch die Vermögen, und zwar beidesaus dem gleichen Grunde: langfristig wegen des europa-weiten Steuerdumpings und kurzfristig wegen der Ban-kenrettung. Die Schulden der Staaten sind die Vermögender reichen Leute. Die Linke fordert eine europaweitekräftige Vermögensabgabe zur Reduzierung der Schul-den. Das wäre der richtige Weg; drakonische Sparpro-gramme, die immer die Falschen treffen, sind es nicht.
Wer einer isolierten Insolvenz Griechenlands dasWort redet, der muss natürlich auch die Konsequenzenbedenken; der Dominoeffekt ist bereits angesprochenworden. Das spricht nicht gegen einen Schuldenschnitt.Das spricht gegen das heutige absurde System, in demeine Handvoll Investmentbanker und einige Quartalsirrein den Ratingagenturen, die mit ihren chronisch falschenBewertungen schon für den letzten großen Finanzcrashwesentlich mitverantwortlich waren,
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14828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sahra Wagenknecht
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darüber entscheiden, wie groß die Spielräume, die Staa-ten haben, sind. Das ist, wie gesagt, ein völlig absurdesSystem.
Die gleiche Zockerbande, die die eskalierende Staats-verschuldung letztlich mit auf dem Gewissen hat,schwingt sich jetzt zum Richter auf und diktiert denStaaten die Konditionen. Ein solches System treibt nichtnur immer mehr Länder in den Bankrott, sondern führtauch – das ist schon geschehen – zum Bankrott der De-mokratie in Europa. Wer Demokratie will, der muss dieStaaten endlich vom Diktat der Finanzmärkte befreien,
indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, sich übereine öffentliche Bank direkt bei der EZB zu niedrigenZinsen Geld zu beschaffen. Wer Demokratie will, dersollte sich endlich auch darauf besinnen, dass die Regie-rung nicht in erster Linie von Ackermännern gewähltwurde, sondern von der großen Mehrheit der Bevölke-rung in diesem Land. Andernfalls – das muss ich Ihnensagen – verdienen Sie alle in Zukunft bundesweit solcheWahlergebnisse, wie sie die FDP in Berlin gerade ver-dientermaßen eingefahren hat.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Steffen Kampeter.
S
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die derzeitige Herausforderung, vor der Europasteht, die währungs- und wirtschaftspolitische Integra-tion dieses Kontinents, ist eigentlich viel zu groß undviel zu wichtig, als dass sie im parteipolitischen Kla-mauk untergehen sollte.
Was wir heute von Herrn Trittin vorgetragen bekommenhaben, war eigentlich nur eine Illustration seines neuenSelbstbewusstseins, nachdem er gegen Frau Künast ob-siegt hat. Dies hat er uns hier mit dem ihm eigenen fle-gelhaften und machohaften Auftreten vorgeführt, dasmanche an ihm schätzen. Daneben haben wir vulgär-marxistische Analysen derjenigen gehört, die gerade inBerlin aus der Regierung geflogen sind. Europa ist aberviel zu wichtig und die Aufgaben sind viel zu ernst, alsdass wir sie in parteipolitischer Polemik untergehen las-sen sollten.
Was sind die Dinge, um die es geht? Es geht ganzdringlich und vordergründig um die Lage in Griechen-land, und übergeordnet stellt sich die Frage, wie wir dieSchuldenkrise in der Euro-Zone überwinden und dieEuro-Zone als Ganze stärken können.Die letzten Tagen haben verdeutlicht: Die Lage anden Märkten für Staatsanleihen ist nach wie vor ange-spannt. Dazu haben zuletzt und vor allem die Unsicher-heiten bezüglich der Umsetzung des Anpassungspro-gramms für Griechenland, die Diskussion um dieitalienischen Sparbeschlüsse und die Herabstufung deritalienischen Bonität durch eine Ratingagentur beigetra-gen. Hinzu kommen – das muss uns ein bisschen aufrüt-teln – eine globale Abschwächung der Konjunkturdyna-mik und die damit verbundene Sorge um den Erfolg desKonsolidierungskurses. In der vergangenen Woche hatdie EU-Kommission eine neue Schätzung für die wirt-schaftliche Entwicklung vorgelegt. Danach wird in die-sem Halbjahr eine deutliche Abschwächung der kon-junkturellen Entwicklung zu beobachten sein. Natürlichstellen wir uns vor diesem Hintergrund die Frage, ob esGriechenland schaffen kann, die enormen Anpassungs-anstrengungen zu erbringen, die dieses Land nach demstrukturellen Umbruch wird leisten müssen.Derzeit wird die Umsetzung der Programmvorgabendurch die Troika in Griechenland geprüft. Das Ergebnisder Prüfung ist die Grundlage, auf der die Fortsetzungdes Hilfsprogramms für Griechenland auch hier imDeutschen Bundestag zu diskutieren sein wird. DieTroika hatte ihre Überprüfung am 2. September unter-brochen. Ein wesentlicher Grund war, dass GriechenlandZeit brauchte, um Maßnahmen vorzulegen, mit denenAbweichungen bei der Realisierung der Programmzieleausgeglichen werden können.Ohne weitere Maßnahmen würde das Staatsdefizit inGriechenland in diesem Jahr voraussichtlich bis zu 1,5 Pro-zentpunkte über den vereinbarten Zielwerten liegen.Dies wollen und werden wir nicht akzeptieren. Die aber-malige Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwick-lung ist aber nur ein Teil des Problems. Der größere Teilresultiert offenbar aus der Wirkung der umgesetztenMaßnahmen. Die fiskalischen Wirkungen wurden nichtin dem Maße erreicht, wie man es sich versprochenhatte. Auch die Privatisierungsfortschritte liegen deut-lich unter den Erwartungen. Griechenland muss und willdaher im Rahmen der Aufstellung des Budgets für 2012kompensierende Maßnahmen ergreifen.Ein positives Ergebnis der Überprüfung durch dieTroika – es ist mir wichtig, das festzustellen – ist die un-abweisbare Voraussetzung für die Auszahlung der sechs-ten Tranche in Höhe von 8 Milliarden Euro im Rahmendes hier im Deutschen Bundestag schon mehrfach disku-tierten ersten Hilfspakets. Deutschland wird darauf be-stehen, dass Griechenland die Vereinbarungen und dieAuflagen des Anpassungsprogramms einhält. Das ist dieklare Botschaft, die heute von hier ausgehen muss.
Ich sage dies ganz bewusst vor dem Hintergrund vonStimmen aus der SPD und von den Grünen, die offenbarder Meinung sind, man müsse die Zügel lockern, um diegriechische Wirtschaft mit noch mehr Schulden wieder
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Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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ein Stück weit zu dopen. Schuldendoping hat ausgedient.Griechenland hat erst einmal keine Konjunkturkrise.Aber das System ist wirtschaftlich in Schwierigkeitenund kann nur durch die Umsetzung massiver strukturel-ler Konsolidierungsmaßnahmen wieder auf einen tragfä-higen Wachstumskurs zurückgeführt werden.
Nur so ist es gegenüber den europäischen Steuerzahlernverantwortbar, die Risiken für einen Ausfall eines Teilsder griechischen Staatsschulden auf die europäischeEbene und damit auch auf uns zu verlagern, wie wir es indem aktuellen Hilfsprogramm getan haben.Ich betone ebenso klar: Die eigentliche und letztlicheEntscheidung über Erfolg und Misserfolg liegt bei denGriechen selbst. Mit dem Beitritt zum Euro sind großewirtschaftliche Verbesserungen verbunden gewesen.Aber ein stabiler Euro setzt eine solide und nachhaltigeFinanzpolitik voraus. Eine gemeinsame Währung setztalle Volkswirtschaften unter einen sehr viel strengeren,auch internationalen Wettbewerb. Mit der Erhebung ei-ner zusätzlichen Immobiliensteuer und weiteren Maß-nahmen hat Griechenland deutlich gemacht, dass es wie-der auf Kurs kommen will. Im Augenblick kommt esalso auf aktives Handeln in Griechenland an. Wir solltennicht über den weiteren Fortgang der Hilfe für Griechen-land spekulieren, bevor die Daten und damit die Ent-scheidungsgrundlage für uns im Deutschen Bundestagauf dem Tisch liegen.Auch sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dasswir in diesem Sommer ganz wesentliche Schritte zur Lö-sung der Staatsschuldenkrise getan haben; denn eines istklar: Den Vertrauensverlust, den wir in der Euro-Zoneund an den Märkten derzeit spüren, werden wir nicht al-lein mit Programmen für Griechenland, Irland und Por-tugal lösen. Im Übrigen geht schon fast verloren, dassdie Entwicklung in Irland und Portugal außerordentlicherfreulich ist, weil Fortschritte über den gefordertenKonsolidierungs- und Programmbeitrag hinaus erzieltwerden.
Es ist schon erstaunlich, dass die Opposition heuteverschwiegen hat, wo sie anders als die Regierung han-deln würde. Auch eine Vergemeinschaftung der Schul-den, wie es in den Kreisen der Opposition gefordert wird– beispielsweise durch Euro-Bonds –, kann zum gegen-wärtigen Zeitpunkt keinen Beitrag zur Lösung der struk-turellen Probleme in den Programmländern leisten undwürde den deutschen Bundeshaushalt durch explodie-rende Zinslasten vor unüberwindbare Herausforderun-gen stellen. Das kann doch nicht allen Ernstes verant-wortbare nationale Politik für heute sein.
Das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichenHaushalte werden wir nur dann wiederherstellen kön-nen, wenn klar ist, dass die Euro-Zone handlungsfähigbleibt und alle Mitgliedstaaten in der Euro-Zone ver-pflichtet sind, ihre Haushalte tragfähig zu gestalten. Diessind die beiden Konzeptelemente, die wichtig sind:Handlungsfähigkeit auf der einen Seite und glaubwür-dige Konsolidierungspolitik auf der anderen Seite.Was die Handlungsfähigkeit angeht, beraten wir ge-rade in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages dienotwendige Ertüchtigung der Stabilisierungsfazilität. Ichbin sicher und zuversichtlich, dass wir das in der nächs-ten Woche mit breiter parlamentarischer Mehrheit zu ei-nem guten Abschluss führen werden.
– Um das einmal deutlich zu machen, weil gerade einZwischenruf gemacht wurde: Wenn wir diese Fazilitätzum Europäischen Stabilitätsmechanismus ausbauen,dann werden wir Ihnen auch eine Regelung vorlegen, diedie Beteiligung des privaten Sektors umfassend regelt.Dazu gibt es klare Aussagen sowohl auf der Ebene derStaats- und Regierungschefs als auch durch eine Festle-gung innerhalb der Koalitionsfraktionen. Wir werden dieLasten nicht nur bei den Steuerzahlern abladen, sondernwir werden auch die private Gläubigerbeteiligung – ge-gen erhebliche Widerstände in ganz Europa – vorantrei-ben.
Das zweite Element ist ebenso wichtig. Wir müssenin Europa wieder zu glaubwürdigen nationalen Konsoli-dierungspolitiken zurückkommen. Die Reform des Sta-bilitätspaktes ist am vergangenen Wochenende bei demTreffen der Finanzminister in Breslau einen guten Schrittvorangekommen. Wir haben den Stabilitätspakt weiter-entwickelt; wir haben ihn wieder verschärft und sindüber die eigenen Waigel’schen Vorgaben hinausgegan-gen. Diese Stabilitätskultur wollen wir von Deutschlandaus nach Europa exportieren. Auf diesem Weg sind wirdurch den Kompromiss von Breslau auch mit dem Euro-päischen Parlament einen Riesenschritt vorangekom-men. Die Stabilitätskultur sollte sich nicht nur in Solida-rität, sondern auch in nationaler glaubwürdiger undnachhaltiger Finanzpolitik widerspiegeln. Ich glaube,dass dies richtig und notwendig ist und dass dies weiter-hin unsere Unterstützung haben sollte.
Dass es an dieser Stelle keinen Beifall der Oppositiongibt, ist mir klar; denn Sie waren es, Rot-Grün war es,die den Stabilitätspakt schrottreif geschossen hat. Dasmuss man an dieser Stelle vielleicht noch einmal erwäh-nen.
Wir als deutsche Bundesregierung, aber auch alsDeutscher Bundestag stehen jetzt in der Verantwortung,die Fehler, an denen wir unter anderen Mehrheitsverhält-nissen in der Vergangenheit mitgewirkt haben, ein Stückweit zu korrigieren. Europa muss jetzt wieder Fahrt auf-nehmen. Das bedeutet: Konsolidierung und Handlungs-
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14830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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fähigkeit müssen durchgesetzt werden. Das ist die Ge-staltungsaufgabe, nicht Klamauk aus der Opposition.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion der Sozialdemokraten unser Kollege Werner
Schieder.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich sage hier nichts Neues, wenn ich darauf verweise,dass die deutsche Politik die jahrzehntelange Traditionhat, Motor der europäischen Einigung zu sein. Sie ver-stand es klugerweise über Jahrzehnte hinweg, jedwedechauvinistischen Ambitionen zu vermeiden.
Das ist jetzt offenbar Geschichte, das ist offenbar vorbei.Es ist doch geradezu fatal, dass die gegenwärtigedeutsche Regierung nicht fähig ist, an diese Tradition an-zuknüpfen und in dieser dramatischen Krise der Wäh-rungsunion zielführende Lösungen zu präsentieren.Stattdessen ist diese Regierung ein Brandbeschleunigerin der Krise.
Wenn die Währungsunion auseinanderbricht – diese Ge-fahr ist keineswegs gebannt –, dann wird diese Bundes-regierung vor allen Europäern einen erheblichen Anteilan Verantwortung dafür zu tragen haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum sage ichdas? Alle Vorschläge in den vergangenen anderthalbJahren, die einen Beitrag zur Stabilisierung der Wäh-rungsunion leisten können, kamen nicht von dieser Bun-desregierung, sondern von anderen. Sie wurden nicht aufBetreiben dieser Bundesregierung umgesetzt, sondernsie wurden immer erst nach anhaltendem Widerstanddieser Bundesregierung und dieser Koalition verwirk-licht.
Diese Bundesregierung und die Koalition waren – daswissen wir im Grunde genommen alle – monatelang ge-gen einen Rettungsschirm für Griechenland.
Dann waren sie endlich dafür, aber nur für den Fall Grie-chenlands. Eine Woche später waren sie dann auch füreinen allgemeinen Rettungsschirm, aber nur als befris-tete Maßnahme. Dann waren sie gegen die Finanztrans-aktionsteuer, um sie dann jetzt doch gewissermaßen mitangezogener Handbremse zu fordern. Dann haben siegegen jede ökonomische Vernunft hohe Strafzinsen fürdie Rettungskredite an die Krisenländer durchgedrückt.Jetzt mussten sie doch wieder klein beigeben und denZinserleichterungen zustimmen. Der im Übrigen durch-aus richtige Vorschlag, dass es der makroökonomischenAnpassung sowohl der Defizit- als auch der Überschuss-länder bedarf, kommt natürlich nicht von ihnen. Auchhaben sie diesen Ansatz bis zur Stunde nicht begriffen,obwohl der IWF in seinem gestern ganz aktuell vorge-legten Report genau das fordert; Sie können das im Ori-ginal nachlesen. Schließlich haben sie vor Monaten ih-ren Widerstand gegen einen dauerhaften Rettungsfondsaufgegeben, aber sie waren gegen die Aufstockung underweiterte Handlungsmöglichkeiten. Wir wissen alle,dass das nun doch alles kommt. Aber die Ideen dazukommen nicht von ihnen. Diese Regierung ist in der eu-ropäischen Krisenbewältigung nicht Motor, sondernBremser.
Weil die Spekulationen hier eine entscheidende Rollespielen, ist es fatal, dass Bundesregierung und Koalitionmit diesem Hin und Her bzw., wie heute WolfgangMünchau in der Financial Times Deutschland schreibt,dem ewigen deutschen Nein, genau diesen Spekulatio-nen immer wieder neue Nahrung gibt und die Krise ver-tieft und beschleunigt. Anstatt Sicherheit für die Euro-Zone und verlässliche Garantien zu präsentieren, sind sieselber – mit Verlaub – ein Haufen von Spekulanten.
Rösler, Seehofer und wie sie alle heißen haben keinKonzept. Wenn sie eines hätten, dann würden wir eskennen. Sie haben nicht den Hauch eines Konzepts; abersie gefallen sich darin, die Insolvenz oder den AustrittGriechenlands aus der Währungsunion verbal politischherbeizuspekulieren und damit einem billigen Chauvi-nismus in die Hände zu spielen.
Wer das tut, ohne die Folgen zu bedenken, handelt ver-antwortungslos.
Ein Konkurs Griechenlands, was immer das sein mag,oder ein Austritt aus der Währungsunion nähme denGriechen – das sind 10 Millionen Europäer – für vieleJahre jede vernünftige Lebensperspektive und riskiertevielleicht sogar bürgerkriegsähnliche Zustände in Grie-chenland. Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt: Ei-nen Konkurs oder Austritt Griechenlands gibt es nichtisoliert. Wenn Griechenland fällt, dann brennt das ganzeeuropäische Haus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14831
Werner Schieder
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Das ist der Ernst der Lage. Deswegen habe ich eingangsgesagt: Es ist mehr als fatal, dass diese deutsche Bundes-regierung nicht fähig ist, an die guten Traditionen deut-scher Europapolitik anzuknüpfen.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing.
Bitte schön, Kollege Dr. Wissing.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass Sie, Herr Trittin, hier ein Oppositionstheater auf-führen, sei Ihnen zugebilligt.
Aber dass Sie der Öffentlichkeit das Märchen von denGrünen als der Partei der Finanzstabilität in Deutschlandund Europa erzählen, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Als es in Deutschland um die Frage ging, ob der Sta-bilitäts- und Wachstumspakt eingehalten oder eingeris-sen wird, waren es die Grünen, die zusammen mit denSozialdemokraten die Maastricht-Kriterien verletzt undden Einstieg in die europäische Schuldenunion eröffnethaben.
Als in diesem Hohen Hause darüber abgestimmt wordenist, ob wir eine Schuldenbremse in unsere Verfassungaufnehmen, waren es die Grünen, die dazu Nein gesagthaben. Damit lagen Sie wieder falsch; denn die Schul-denbremse ist heute das Modell für ganz Europa.
Europa steht an einem Scheideweg. Die Stabilitätsar-chitektur ist weitgehend eingestürzt, auch weil Sozialde-mokraten und Grüne sie massiv verletzt haben. Vor unsliegt kein leichter Weg. Die Welt blickt auf uns und war-tet gespannt, wohin sich Europa entwickelt.Herr Kollege, weil Sie sich darüber lustig gemachthaben, dass Deutschland an bestimmten Stellen auf eu-ropäischer Ebene Nein sagt, sage ich Ihnen deutlich: Esist richtig und wichtig, dass Deutschland mit seiner star-ken Stimme verhindert, dass in Europa der falsche Wegeingeschlagen wird. Weder Transferunion noch Euro-Bonds sind die Zukunft eines glücklichen Europas, son-dern eine neue Stabilitätsarchitektur. Das ist der richtigeWeg.
Deswegen sagen wir an der richtigen Stelle Nein; wir sa-gen Ja zu Europa.Was Sie den Menschen erzählen, sind alles Irrwege.Es hilft nichts, den Menschen zu sagen, man könne dieKrise bewältigen, indem man Euro-Bonds einführt. Spä-testens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts ist doch jedem klar, dass diese Idee von SPD undGrünen nicht viel wert ist.Es hilft auch nichts, wenn man der Öffentlichkeitsagt, man müsse jetzt über alles schweigen, was auf eu-ropäischer Ebene von der Politik entschieden wird. Wirdebattieren nicht über eine Kleinigkeit, sondern über diefundamentale Frage: Was ist uns wichtiger, die Bedürf-nisse der Finanzmärkte oder das offene und ehrlicheWort in einer freiheitlichen Demokratie?
Sie glauben, man müsse die freie Rede den Finanzmärk-ten unterordnen. Wir glauben, das kommt in einer De-mokratie nicht in Betracht. Es gibt viele ökonomischeGründe, weshalb die Politik schnell handeln und öffent-lich schweigen sollte. Aber es gibt in einer Demokratieauch das Recht auf Transparenz. Die Menschen wollenwissen, wie sich ihre Regierung die Entwicklung derEuro-Zone vorstellt.
Wird es eine Transfergemeinschaft, wie es SPD undGrüne wollen, oder wird es eine starke Stabilitätsge-meinschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung,wie es die Regierungsfraktionen wollen? Deshalb ist esnicht nur richtig, sondern es war auch notwendig, dassder Wirtschaftsminister in einer solchen Situation ord-nungspolitisch klargestellt hat, wo wir stehen.
Wenn Sie das ernsthaft kritisieren, ordnen Sie die Demo-kratie den Bedürfnissen der Märkte unter. Wir tun dasnicht.
Sie wollen die Probleme lösen, indem Sie die Verant-wortung für die Schulden anderer Länder auf unser Landverlagern. Das haben Sie der Öffentlichkeit hinreichenddeutlich gemacht. Wir wollen das nicht. Deshalb unter-stützen wir in der Krise den Weg der Hilfe zur Selbst-hilfe. Deshalb sagt der Bundesfinanzminister deutlich,dass Griechenland nur mit weiteren Hilfen rechnenkann, wenn es seine Auflagen erfüllt. Deshalb sagt der
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14832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Volker Wissing
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Bundeswirtschaftsminister ganz klar, dass künftig dieMöglichkeit einer geordneten Insolvenz geschaffen wer-den muss, weil nur dann die Erpressbarkeit der Politikein Ende hat.
Wer Euro-Bonds als Lösung anstrebt, braucht all dasnicht. Ich fände es nur ehrlich und fair, wenn Sie denMenschen in Deutschland, den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern, dann auch klar sagen würden, welcheKonsequenz das hat; denn höhere Zinsen für Deutsch-land führen zu weniger Geld in den Kassen des Sozial-staats.
Nicht alles, was seit Beginn der Finanzkrise von Poli-tikern öffentlich gesagt worden ist, war klug. Weil aberausgerechnet die SPD glaubt, den Zeigefinger heben zumüssen, möchte ich Ihnen die Äußerungen Ihres ehema-ligen Finanzministers in Erinnerung rufen. Der angeb-lich so versierte Krisenmanager Peer Steinbrück hat alsFinanzminister im Februar 2009 – das war über ein Jahrvor der Zuspitzung der Griechenland-Krise – öffentlichgesagt: Es gibt zwar vertragliche Regelungen, nach de-nen sich die Euro-Länder in Schwierigkeiten nicht ge-genseitig helfen. Wenn eines der Euro-Länder aber ingravierende Schwierigkeiten gerät, wird die Gesamtheitbehilflich sein. – Übersetzt war das die Einladung vonPeer Steinbrück an die Finanzmärkte: Gebt Griechen-land ruhig weiter Geld. Wenn es schiefgeht, hauen wireuch mit Steuergeldern heraus.
Damit sollten Sie sich einmal auseinandersetzen. Dashilft vielleicht auch bei der Beantwortung der Frage, obPeer Steinbrück ein geeigneter Kanzlerkandidat für IhrePartei ist. Philipp Rösler erinnert die Gläubiger an ihreVerantwortung und fordert deren Haftung.
Peer Steinbrück hat die Finanzmärkte zum Spekuliereneingeladen und Steuergelder versprochen.Wer zu Europa steht und es zum Glück unseres Lan-des weiterentwickeln möchte, muss einen ehrlichen Weggehen. Ein solcher Weg setzt klare, gemeinsame Stabili-tätsregeln, die konsequente Umsetzung und Achtung derVerträge und die Eigenverantwortung der Mitgliedstaa-ten in einer marktwirtschaftlichen Ordnung voraus.Dazu gehört ganz selbstverständlich – auch wenn Sie dasnicht hören wollen – die Regelung einer Insolvenz. Derklare ordnungspolitische Zwischenruf des Bundeswirt-schaftsministers war nicht nur richtig. Er war im Inte-resse eines starken Europas auch außerordentlich wich-tig.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Manuel
Sarrazin. Bitte schön, Kollege Sarrazin.
Sehr geehrte Damen und Herren! Entschuldigung,aber meinten Sie das, was Sie zum Stabilitätspakt gesagthaben, wirklich ernst? Wir saßen vor ein paar Monatenmit Vertretern aus dem BMF zusammen – ich weißnicht, ob von diesen jemand zufällig im Saal ist – undhaben gefragt, warum kein einziger Punkt von dem, was2004 von Rot-Grün und den Franzosen eingebracht wor-den war, von ihrer Regierung in den laufenden Verhand-lungen über die Reform rückgängig gemacht wird, wa-rum es noch nicht einmal einen entsprechenden Antraggibt. Die Antwort lautete: weil die meisten sinnvoll sind.
Das ist Stand Ihrer Regierungskoalition. Sie reden seitanderthalb Jahren über den Stabilitätspakt. Mir hängt dasfast schon zum Hals heraus.Herr Kampeter, Sie haben das Treffen der Finanz-minister in Breslau in der letzten Woche angesprochen.Ich darf Sie daran erinnern: Seit anderthalb Jahren wurdeversucht, das Prinzip der umgekehrten Mehrheit durch-zusetzen. Ihr Finanzministerium hat das EuropäischeParlament bei der Durchsetzung dieses Prinzips ausge-bremst. Was ist als Kompromiss auf dem Treffen inBreslau herausgekommen? Die einfache Mehrheit stattder umgekehrten Mehrheit. Und Sie wollen uns etwasvom Stabilitätspakt erzählen! Sie versündigen sich heuteam Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Herr Lindner, Ihre Sonntagsreden haben wir satt. Zei-gen Sie doch endlich, dass Sie Europäer sind! HelmutKohl hat gesagt: Was hinten herauskommt, ist entschei-dend. – Es ist entscheidend, dass Sie liefern, um mitHerrn Rösler zu sprechen.
Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne wollen nicht, dass Sieund die CSU in der Krise den proeuropäischen Grund-konsens aufgeben. Wir wollen weiterhin einen proeuro-päischen Grundkonsens in diesem Parlament. Wir habenkein Interesse daran, dass die CSU und die FDP in dieEcke der Linkspartei gehen, in der man gegen Europa istund immer antieuropäisch hetzt.
Wir wissen um die Größe der Aufgabe, die vor unssteht und die auf Europa zukommt. Die großen Fragender europäischen Integration stehen auf der Tagesord-nung. Wir als Deutschland werden mit einem Streit vonpro- gegen antieuropäische Parteien dieser Verantwor-tung nicht gerecht werden. Darum: Schreiben Sie nicht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14833
Manuel Sarrazin
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solche Artikel wie den, den Herr Rösler in der Welt ge-schrieben hat!
Es kommt gerade jetzt so sehr auf Deutschland an.Das lässt mich so fassungslos vor dieser Regierung ste-hen. Sie werden der Verantwortung dieses Landes in Eu-ropa nicht gerecht. Sie spielen die populistische Karte,und damit zerstören Sie das Vertrauen der Bürgerinnenund Bürger, aber auch das unserer Partner in Deutsch-lands Ernsthaftigkeit in dieser Krise.
Sie schaden auch dem europapolitischen Grundkon-sens in diesem Hause. Es ist ein Treppenwitz für mich,dass das von der Regierungsbank kommt. Aber was istso unintelligent an Ihren Zwischenrufen? Herr Röslerund Herr Seehofer sind unterkomplex und unehrlich. Siewaren es doch, die monatelang genau die Maßnahmenverhindert haben, die Ansteckungsgefahren vermeidenund Gläuberbeteiligung ermöglichen können. HerrRösler und Herr Seehofer dürfen über alles nachdenken,aber: Beschweren Sie sich nicht über Kritik an Vorschlä-gen, die schlichtweg nicht durchdacht sind
und gleichzeitig Spekulanten einladen, auf die Euro-Zone zu zocken, und damit die Steuergelder der Steuer-zahler anderer Euro-Länder letztlich Kapitalisten in denHals werfen.
Europa steht mitten in der größten Krise seit seinerGründung. Genau zu diesem Zeitpunkt brauchen wireine starke Bundesregierung, die entscheidet, die Abge-ordneten und die Bevölkerung mitzunehmen, die sichentscheidet, die notwendigen Lehren aus der Krise zuziehen, und die sich entscheidet, das tägliche Krisenma-nagement zu betreiben, aber darüber hinaus auch euro-päische Institutionen und Strukturen zu stärken. Wirbrauchen eine Bundesregierung, die deutsche Interessenin Europa verteidigt, indem sie mitgestaltet, nicht eine,die nur bremst.Und welche Regierung haben wir? Sie haben keineHaltung in dieser Krise. Das entzieht Ihnen die Legitimi-tät Ihres Handelns in der Krise. Darum sind Sie nichtglaubwürdig.
Wenn Herr Rösler von der Insolvenz Griechenlandsquatscht, aber dann drei Wochen später mit deutschenInvestoren, die ihre Euros dort investieren sollen, nachGriechenland fahren will, um die Wirtschaftskraft zustärken, dann ist das unredlich, sonst nichts.
Eine schwache Regierung ohne eine Haltung zu Eu-ropa kann sich Deutschland in dieser Krise nicht leisten.Sie können nicht weiterhin eigentlich dafür, aber doch ir-gendwie dagegen sein. Der Fraktionsvorsitzende der Li-beralen im Europäischen Parlament sagt über Sie, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Die FDPmuss sich entscheiden. – Recht hat er.Danke.
Der nächste Redner in unserer Aktuellen Stunde ist
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Rüdiger
Kruse. Bitte schön, Kollege Kruse.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Manuel Sarrazin, das war zumindest eine en-gagierte Rede, aber zielführend in Sachen Europa warsie nicht.
Du hast uns leider auch nicht gesagt, was deiner Mei-nung nach der richtige Weg wäre. Du hast gesagt, dieGedanken seien frei; auch das ist richtig. Jeder Fraktionsteht es frei, Debatten oder Aktuelle Stunden zu beantra-gen. Dafür unterbrechen wir gerne die Beratungen desHaushaltsausschusses, der sich genau um die europäi-schen Fragen kümmert. Angesichts der Debatte frage ichmich aber: Warum haben Sie diese Debatte angemeldet?Der Wahlkampf in Berlin ist vorbei. Es mag sein, dassman sich freut, wenn sich der Vertreter einer gegneri-schen Partei so äußert, dass man die Äußerung zumin-dest missverstehen kann.
Wenn man klug ist, überlässt man Kommentare derZeitung oder jemandem, der in der Talkshow auftritt,und das war es. Aber nun extra hier eine Aktuelle Stundezu beantragen, um mäßige Witze aus dem ThüringerWald aufzuwärmen, Herr Trittin, finde ich nicht sinn-voll. Das fällt voll auf Sie zurück.
Herr Trittin, Sie haben uns hier Presseüberschriftenfür Realität vorgeben wollen. Ich habe in der Presse aucheiniges gelesen. Vor wenigen Wochen war zu lesen:Renate Künast wird Berliner Bürgermeisterin, undJürgen Trittin wird Kanzlerkandidat. – Ich fürchte, Siehaben beides geglaubt.
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14834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Rüdiger Kruse
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Sie haben in einer der letzten Debatten sehr richtig ge-sagt: Deutschland geht es gut, dieser Regierung nicht. –Das widerlegt den Vorwurf des Populismus, den ebender Kollege Sarrazin gemacht hat.
Was ist an der Haltung dieser Regierung populistisch?
Gar nichts. Warum? Wenn wir den populistischen Weggehen würden, dann würden wir uns hier im Hause unterUmständen Positionen annähern, die vielleicht amStammtisch mehrheitsfähig sind. Uns geht es aber da-rum, den europäischen Gedanken zu erhalten und wei-terzuentwickeln.Sie haben gesagt, wir seien bei den vielen Maßnah-men, die vorgeschlagen worden sind, die Bremser gewe-sen. Ja. Weil es keine Gegenleistung gegeben hätte! Al-les, was jetzt beschlossen worden ist, ist früher schoneinmal vorgeschlagen worden, aber als Hilfe ohne Ge-genleistung – nach dem schönen alten sozialdemokra-tisch-sozialistischen Prinzip: Geht es jemandemschlecht, gebe ich ihm Geld. – Das muss nicht unbedingthelfen.Wir haben jetzt sicherlich bewirkt, dass nicht alle inGriechenland Freudentränen in den Augen haben, wennsie von Deutschland reden, aber wir haben induziert,dass in Griechenland Maßnahmen ergriffen werden, wo-bei wir alle froh darüber sind, dass wir sie nicht ergreifenmüssen. Wir haben bewirkt, dass Nachbarländer eineSchuldenbremse nach deutschem Vorbild einbauen, zumGlück nach bundesdeutschem Vorbild, nach dem Vor-bild, das Union und FDP gegeben haben und auch prak-tizieren, und nicht wie in Nordrhein-Westfalen.Sie müssen doch auch einmal etwas eingestehen.Wenn Euro-Bonds so eingeführt worden wären, wie Siesie wollten, und wenn es gut ausgegangen wäre, alsonicht so, wie die Ratingagenturen prognostizieren, dann– damit haben Sie selbst gerechnet – wären die vonDeutschland zu zahlenden Zinssätze um 2 Prozentpunktegestiegen. Das macht 47 Milliarden Euro.
– Das können Sie ja einmal nachrechnen! – Haben Sieschon einmal überlegt, wie Sie diese Zinsmehrkosten inunserem Haushalt heraussparen wollen?
Sie können den Menschen doch nicht nur erzählen, Siehätten ein Allheilmittel, nämlich Euro-Bonds. Ich würdegern über einen Vorschlag von Ihnen reden, wie Sie diezusätzlichen Zinskosten aus dem Haushalt heraussparenwollen. Sie haben natürlich keinen gemacht. Das ist,finde ich, unehrlich.
Das geht in Richtung von Populismus, zu erzählen, manhabe etwas, was wirkt, und noch nicht einmal die offen-sichtlichen Nebenwirkungen einzuräumen.
Es ist ganz einfach: In Griechenland regnet es massivrein.
Wenn das so ist, dann fängt man an, das Haus abzude-cken und den Dachstuhl zu erneuern. Es sieht einen Mo-ment nicht hübsch aus, aber dann kann man die Substanzwieder neu aufbauen. Das ist der nächste Schritt, den wirgehen müssen. Wir müssen gemeinsam mit den andereneuropäischen Partnern Programme entwickeln, die,wenn durch die Schritte der Haushaltskonsolidierung dieGrundlagen geschaffen worden sind, einem Land einenAufschwung ermöglichen. Wir haben selber gezeigt,dass auch aus ganz schwierigen Situationen heraus einwirtschaftlicher Aufschwung für ein Land, das Kraft undWillen hat, möglich ist. Das ist die neue europäischeAufgabe, für die wir jetzt die Grundlage schaffen.Wir sind in der günstigen Situation, dass wir dieGrundlage in der Mitte der Legislatur schaffen. Dasheißt, Sie können noch zwei Jahre herumblödeln, aberSie werden uns auf diesem Weg nicht aufhalten. In zweiJahren werden wir die Ernte einfahren.Danke.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt
Duin. Bitte schön, Kollege Garrelt Duin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Eine kurze Vorbemerkung inRichtung FDP. Herr Lindner und Herr Wissing, wenndas, was Sie hier heute selbstgefällig aufgeführt haben,Demut sein soll – davon haben Sie am Sonntagabend ge-sprochen –, dann ist Ihr Weg nach unten mit Berlin nochlange nicht vorbei; dann geht es weiter, ich füge hinzu:in die richtige Richtung.
Wie haben Zeitungsredakteure, wie haben Topökono-men auf das, was der Vizekanzler und Wirtschaftsminis-ter in seinem Gastbeitrag geäußert hat, reagiert? Sie ha-ben in Ihren Verteidigungsreden ja mehrfach daraufhingewiesen, dass sich eine Reihe von Fachleuten posi-tiv geäußert hätten. Ich will Ihnen einmal in Erinnerung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14835
Garrelt Duin
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rufen, was Herr Hüther gesagt hat, immerhin Direktordes Instituts der deutschen Wirtschaft:In der gegenwärtigen Situation kann Politik nichtöffentlich über alles philosophieren, was einem soeinfällt …Er sagt zu dem Beitrag von Herrn Rösler, dieser sei un-verantwortlich. Das ist genau der Punkt.
Es ist ja nicht das sozialdemokratische Organ Vor-wärts gewesen, sondern es ist das Handelsblatt gewesen,das diesen Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland,das diesen deutschen Wirtschaftsminister als „Pinocchiodes Tages“ tituliert hat, weil er das Gegenteil von demerzählt, was er noch vor wenigen Wochen erzählt hat.
Das ist wirklich sehr dramatisch; denn Europa stehtam Scheideweg. Es steht deswegen am Scheideweg, weiles um die Frage geht, ob wir auch in zehn Jahren nocheine Wohlstandsregion sind, ob wir auch in zehn Jahrennoch Vorbild für andere Regionen in der Welt sein kön-nen. Vor allen Dingen stellt sich jetzt die Frage, ob dieBürgerinnen und Bürger den Institutionen auf europäi-scher Ebene Vertrauen schenken. Dafür ist es aber not-wendig, Folgendes zu beherzigen: Europa gelingt dann,wenn man mit Klarheit und Glaubwürdigkeit die politi-schen Debatten führt. Dabei muss dann auch gesehenwerden, dass das deutsche Gewicht in der ganzen Euro-päischen Union von entscheidender Bedeutung ist. Aberdas, was wir hier seit anderthalb Jahren erleben, ange-führt von der Bundeskanzlerin, begleitet von dem ehe-maligen Vizekanzler, dem Außenminister Westerwelle,und jetzt eben auch durch den Wirtschaftsminister undden heutigen Vizekanzler Rösler, ist das Gegenteil vonKlarheit, ist das Gegenteil von Glaubwürdigkeit.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist diese Krise inder Euro-Zone auch eine Führungskrise und eine Glaub-würdigkeitskrise. Die Verantwortung dafür trägt dieseRegierung.Wir haben in anderen Debatten hier schon mehrfachfestgestellt, dass wir besser durch die Krise gekommensind als andere usw. Aber Deutschland, also uns, geht esnur dann in Europa gut, wenn es unseren Nachbarn gutgeht. Davon sind wir abhängig. Wir sind keine Insel derGlückseligen, und es geht nicht an, dass wir uns nichtum unsere Partnerinnen und Partner kümmern. Das giltinsbesondere für Griechenland.Herr Kampeter, Sie haben es immer noch nicht ver-standen:
Natürlich sind die Sparmaßnahmen, die Griechenland imMoment auferlegt werden, unglaubliche Zumutungen.Wenn wir uns das Volumen anschauen, das dort geradezur Debatte steht oder schon verwirklicht wurde, könnenwir uns nur eingestehen, dass wir darüber in Deutsch-land noch nicht einmal ansatzweise hätten reden können.Wir müssen aber auch sehen, was dort real geschieht:Die wirtschaftliche Entwicklung verzeichnet ein Minus-wachstum, also eine Rezession. Es fing an bei minus1 Prozent und beträgt mittlerweile minus 5 Prozent. Das,was dort gemacht wird, ist sicherlich notwendig, aberdas alles verschlimmert die Lage und verbessert sienicht. Deswegen brauchen wir begleitende, intelligenteMaßnahmen.
Dazu haben Sie aber in Ihren neun Minuten hier keineinziges Wort gesagt.20 Milliarden Euro hat Griechenland bei der EU nichtabgerufen, weil es die Kofinanzierung nicht hinbekam.Viele Investitionen finden nicht statt, weil die entspre-chende Begleitmusik fehlt. Da nützt es nichts, wenn HerrRösler im Sommer zu einem Gipfel einlädt und danneinmal für 24 Stunden mit denen, die er zum Gipfel ein-geladen hat, in der übernächsten Woche nach Griechen-land fährt. Vielmehr muss man auf der europäischenEbene aufstehen und sich fragen, wie man diesen Län-dern, insbesondere Griechenland, helfen kann, damit siewieder eine wirtschaftliche Wachstumsperspektive er-halten. Durch Sparen allein wird das nicht gelingen.
Deswegen ist die Diskussion so fatal, die der Wirt-schaftsminister mit seinem Gastbeitrag angestoßen hat.Ein letzter Punkt: Der Wirtschaftsminister hat dann jadiesen Pappkameraden „Denkverbot“ aufgebaut. Es gibtkein Denkverbot, aber es gibt ein Gebot für einen Vize-kanzler und einen Wirtschaftsminister, nämlich die Sa-chen, die er sagt, zu Ende zu denken. Das hat er in dieserSituation vermissen lassen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege
Dr. Georg Nüßlein.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Darfman offen über die Staatsinsolvenz Griechenlands nach-denken? Die Opposition sagt deutlich Nein. Ich fragemich: Was haben Sie eigentlich dagegen? Gegen das Of-fensein können Sie ja vermutlich nicht sein, weil Sie jaimmer einfordern, man müsse Politik erklären.
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14836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Georg Nüßlein
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Gegen das Nachdenken können Sie aus meiner Sichtdoch auch nicht sein; denn wir haben, als wir den EFSFeingerichtet haben, klar gesagt, dass wir eine Insolvenz-ordnung für Staaten machen wollen. Damit ist dochklipp und klar gesagt, dass man auch über diesen – ausmeiner Sicht gar nicht so unwahrscheinlichen – Fallnachdenken muss.Staatssekretär Kampeter hat vorhin ganz deutlich zuverstehen gegeben, dass dann, wenn die Anforderungen,die an Griechenland gestellt werden, nicht erfüllt werdenoder nicht erfüllbar sind, die sechste Tranche nicht aus-gezahlt wird. Wenn zum Beispiel der IWF auf derGrundlage seiner Richtlinien zu dem Ergebnis kommt,dass er nicht mehr mitfinanziert, dann ist die sechsteTranche nicht auszuzahlen. Dann haben wir den Fall ei-ner staatlichen Insolvenz, mit dem wir dann umgehenmüssen.Da ist es doch verantwortlich, meine Damen und Her-ren, auch einmal darüber nachzudenken: Wo ist dieBrandmauer? Wie sieht sie aus? Was kann der EFSF beidieser Gelegenheit leisten? Wie wollen wir mit der Frageumgehen? Was heißt das denn – Kollege Barthle hat dasheute auch schon diskutiert –, „Insolvenzordnung fürStaaten“? Wie kann eine geordnete Insolvenz ablaufen?Wie erreicht man, dass man die Gläubiger letztendlich ineiner angemessenen Art und Weise beteiligt? Das sindalles Dinge, die ein Wirtschaftsminister aus meiner Sichtauf der Agenda haben muss. Politik läuft nun einmalnicht im Hinterzimmer, so wie Sie sich das vorstellen,meine Damen und Herren, sondern Politik läuft mit gro-ßer Offenheit und Klarheit. Deshalb muss man das denLeuten auch sagen. Ich sage Ihnen auch klipp und klar:Die Märkte kalkulieren das ja auch ein.
Selbstverständlich kalkulieren sie auch einen solchenFall ein. Sonst hätten wir die Diskussion an dieser Stelleüberhaupt nicht.Ich bin auch der Meinung, dass wir hier im DeutschenBundestag den deutschen Bürgern, insbesondere dendeutschen Steuerzahlern, verpflichtet sind und dass einesolche Pauschalzusage – egal was passiert, egal waskommt, der deutsche Michel zahlt immer – erstens nichtgegeben werden kann. Zweitens würde es auch ver-dammt teuer, wenn man es so machen würde, wie Sieuns das vorschlagen.Die gesamtschuldnerische Haftung über Euro-Bonds,wie Sie sie gerne hätten, ist nicht nur verfassungswidrig,wie das Verfassungsgericht deutlich klargestellt hat, son-dern auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko für denbundesdeutschen Haushalt. Wenn man in einer Situation,in der man andere zum Sparen veranlassen will, auf Kos-ten der Bonität Dritter dafür Sorge trägt, dass sie in Zu-kunft niedrigere Zinsen haben, dann ist das sicher nichtdie Motivation, die wir an dieser Stelle brauchen.Ich erinnere daran, dass genau in dem Jahr, als derEuro eingeführt worden ist, der Realzinsvorteil, der denGriechen plötzlich zugekommen ist, nicht dazu genutztworden ist, um die Wirtschaft in Griechenland zu ertüch-tigen. Nein, meine Damen und Herren, der Staat hat ineinem großen Umfang Schulden gemacht. Das erinnertmich an die Politik, die Sie ganz gerne vor sich hertragenund betreiben würden; denn Sie sind diejenigen, die denStabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht haben.
– Ich sage das nicht, weil ich so viel Spaß daran habe,immer zu wiederholen, dass Sie das infrage gestellt ha-ben, sondern weil man auch sagen muss, was die Moti-vation dahinter war. Sie haben damals gemeint, Siekönnten auch in einer nicht krisenbehafteten Zeit Kon-junkturpolitik über staatliche Schulden machen.
Das haben Sie in dieser Art und Weise betrieben. Des-halb ist die Motivation das Entscheidende, was man un-terstreichen muss.
Im Zusammenhang mit dem Vorwurf, der heute schonmehrfach erhoben wurde, nämlich dass Sie dafür verant-wortlich sind, dass Griechenland dem Euro beitretenkonnte, möchte ich noch einmal unterstreichen, dass dasauch wider besseres Wissen geschehen ist. Hören Sie aufmit der Haltet-den-Dieb-Debatte und damit, zu sagen,die Griechen hätten Sie mit falschen Zahlen betrogen.Dass die Zahlen falsch waren, ist richtig. Aber dass Siees gewusst haben, meine Damen und Herren, ist auchwahr.Am 29. Juni 2000 hat der Kollege Eichel als damali-ger Finanzminister eine Regierungserklärung abgege-ben. Da hat er den Beitritt Griechenlands zum Euro ge-feiert. Unser Kollege Gerd Müller hat damals für dieCSU ganz klipp und klar gesagt: Erstens. Das war einschwerer Fehler. Zweitens. Die Zahlen sind manipu-liert. – Also, wenn ein einfacher Abgeordnetenkollegeübersehen konnte,
dass das, was die Griechen seinerzeit vorgelegt haben,falsch war, dann gehe ich davon aus, dass Sie, die dama-lige Bundesregierung, das auch gewusst haben und dassSie ganz bewusst in Kauf genommen haben, dass manmit falschen Zahlen dem Euro beitritt.
– Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Poß.
Das steht im Protokoll des Deutschen Bundestages vom29. Juni 2000. Lesen Sie es! Das sind manipulierte Zah-len. Sie haben es besser gewusst oder müssten es bessergewusst haben. Es ist eine Schande, wenn Sie jetzt sotun, als ob Sie das nicht gewusst hätten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14837
Dr. Georg Nüßlein
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Ziehen Sie sich nicht aus der Affäre! Arbeiten Sie mituns an der Beseitigung bzw. Begrenzung eines Scha-dens, für den Sie massiv die Verantwortung tragen.
Ich meine, das sollte Sie veranlassen, an dieser Stellenicht so große Töne zu spucken.Vielen herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Bettina
Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin Bettina Kudla.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Als 13. und damit letzte Rednerin dieserAktuellen Stunde habe ich nun die Aufgabe, die ganzeDebatte etwas zusammenzufassen.
In der Diskussion über den Euro geht es vor allem umzwei Themen. Das erste Thema. Wir sprechen über dieVerschuldung von Staaten. Wir haben es mit einerStaatsschuldenkrise zu tun. Der Staat ist das, worauf sichdie Menschen verlassen können. Der Staat ist der Rah-men, der den Menschen die Freiheitsrechte garantiert.Deswegen müssen die Staaten solide finanziert werden.Das zweite Thema. Wir hantieren mit dem Geld derBürger. Wir stehen in der Pflicht, mit dem Geld der Bür-ger verantwortungsvoll umzugehen. Gleichzeitig habenwir die Aufgabe, die Währung, nämlich das Geld derBürger, stabil zu halten. Deswegen ist die Stabilität desEuro unser zentrales Thema.
Anlass der Aktuellen Stunde war der Vorwurf, dassder Bundeswirtschaftsminister ausgesprochen hatte, esdürfe keine Denkverbote geben. Es ist selbstverständ-lich, dass die Bundesregierung über gewisse Szenariennachdenken muss. Sie muss handlungsfähig sein,
und sie muss immer auf alles vorbereitet sein.Meine Damen und Herren von der Opposition – ichspreche besonders Sie an, Herr Trittin; seit Frau Künastbei 18 Prozent gelandet ist, scheinen Sie um 18 Zentime-ter gewachsen zu sein –, mich würde es freuen, wenn Sieetwas mehr über die Problemlösungen nachdenken wür-den. Die Vorschläge, die Sie als vermeintliche Alterna-tive machen, beispielsweise die Einführung von Euro-Bonds, hören sich vordergründig gut an, aber ich bitteSie: Sagen Sie unserer Bevölkerung, was die Konse-quenzen sind!
Sagen Sie: Wir wollen, dass das Schuldenmachen in Eu-ropa erleichtert wird! Sagen Sie: Wir wollen, dass derBund und vor allem die Kommunen höhere Zinsen zah-len! Sagen Sie: Wir sollen für andere ohne Konditionenhaften! Das kann doch nicht die Lösung sein. So vielEhrlichkeit verlange ich Ihnen ab.
Sie haben ferner der Bundesregierung vorgeworfen,
sie wäre europafeindlich. Ich darf Sie daran erinnern,wie Sie in den letzten Tagen die höchsten Einrichtungender Europäischen Union bezeichnet haben. Ich möchtedas nicht wiederholen. Ich möchte Sie aber an unserengemeinsamen Besuch des Europaausschusses in Frank-furt am Main erinnern.
Vonseiten der Linken wurde uns vorgeworfen, wir gin-gen mit den Exportüberschüssen nicht richtig um. Ichbitte, zu bedenken, dass die Forderung, weniger zu ex-portieren, für unsere Wirtschaft völlig kontraproduktivist.
Das löst die Probleme anderer Staaten nicht. BedenkenSie: Wenn nicht aus Deutschland importiert wird, dannwird eben aus Asien oder aus anderen Ländern impor-tiert. Das kann nicht die Lösung für unsere Wirtschaftsein.
Der Euro ist ein zentrales Thema in den Medien undin der Öffentlichkeit. Es ist verständlich, dass die Bürgerdaran interessiert sind. Aber ich denke, wir sollten versu-chen, das Thema wieder in verantwortungsvolle Bahnenzu lenken. Denn uns muss bewusst sein, dass die Be-schlüsse, die wir gefasst haben, erst langfristig Wirkungzeigen werden. Die Schulden, die man über Jahrzehnteangehäuft hat, und die Probleme, die daraus resultieren,werden nicht kurzfristig verschwinden. Hierzu brauchtman Geduld.
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14838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Bettina Kudla
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Speziell zu Griechenland wurde im Mai 2010 einHilfspaket beschlossen. Jetzt gilt es, den Fahrplan diesesProgramms unaufgeregt umzusetzen. Wir sollten uns– das wurde mehrfach erwähnt – auf die Experten derTroika verlassen. Wir dürfen nicht leichtfertig zu unter-schiedlichen Ergebnissen kommen. Das Ergebnis derExperten in den nächsten Wochen muss abgewartet undangehört werden. Dann muss Schritt für Schritt nachdem ESM-Vertrag verfahren werden.Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam verantwortungs-voll mit diesem schwierigen Thema umgehen, und zwarim Interesse der Stabilität des Euro und im Interesse desVertrauens der Bürger in ihre Währung.
Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Diana Golze, Dr. Petra Sitte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fachkräfteprogramm – Bildung und Erzie-
hung – unverzüglich auf den Weg bringen
– Drucksachen 17/2019, 17/7007 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Marianne Schieder
Sylvia Canel
Dr. Rosemarie Hein
Priska Hinz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie
sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Marcus Weinberg. – Bitte
schön, Kollege Marcus Weinberg.
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich mache es zwar selten und ungerne, aberfür einen Punkt muss man die Fraktion Die Linke einmalloben: Sie hat für die Kernzeit ein bildungspolitischesThema angemeldet. Das verschafft auch uns zum Erstendie Möglichkeit, die Themen zu besprechen, die aktuellwichtig sind, zum Beispiel das Thema der pädagogi-schen Fachkräfte. Zum Zweiten können wir bei dieserGelegenheit allgemein über die Bildungsrepublik spre-chen und den einen oder anderen Punkt im Hinblick aufden OECD-Bildungsbericht etwas ausführlicher darstel-len. Zum Dritten – damit komme ich zum wichtigstenPunkt – gilt es, sich gerade unter dem Gesichtspunkt derZukunft der pädagogischen Fachkräfte einmal bei denMenschen zu bedanken, die in den letzten Jahren sehrviel für die Bildung geleistet haben: die pädagogischenFachkräfte. Es ist richtig und wichtig, diesen Menschenzu signalisieren, dass ihre Arbeit für unser Land wertvollund gut ist.
Lassen Sie mich auch einige Sätze zu den aktuellenDebatten über den Stand der Bildungsrepublik Deutsch-land vor dem Hintergrund der OECD-Berichterstattungin der letzten Woche sagen. Ich sage es ganz offen: Ichund viele von uns waren wieder einmal massiv verärgert.Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland imBildungsbereich weiterhin Herausforderungen. Natür-lich müssen wir diese Herausforderungen – jeder in sei-ner Verantwortung und Kompetenz – angehen. Trotzdemist es ärgerlich, wenn in Berichterstattungen über denOECD-Bildungsbericht lediglich Äpfel mit Birnen ver-glichen werden, gesamte Ausbildungsteile wie die her-vorragende duale Ausbildung in Deutschland nahezuausgeblendet werden, die Erfolge seit 2001 und insbe-sondere seit 2005 völlig unbeachtet bleiben und der poli-tischen und wissenschaftlichen Verantwortung nichtnachgekommen wird.
Empirisch nachweisbar und belegt ist, dass sich dasBildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland ver-ändert hat. Ich möchte in der Kürze der Zeit nur zweiÜberschriften als Beispiel für die falsche Berichterstat-tung über den OECD-Bericht zitieren. Da schreibt dasHamburger Abendblatt:Schlechte Noten fürs Bildungssystem – Deutsch-land hat zu wenig Uniabsolventen und gerät inter-national ins Abseits …Die Rheinische Post schreibt:Deutschland bildet zu wenig kluge Köpfe aus –Eine neue internationale Bildungsstudie der OECDkommt zu einem miserablen Ergebnis für Deutsch-land: Demnach hat sich hierzulande bei der Ausbil-dung von Top-Leuten in den vergangenen 50 Jahrenkaum etwas getan.Der Kollege Gehring, den ich ansonsten sehr schätze,geht gleich auf solche Behauptungen ein und sagt, dasOECD-Zeugnis enthülle die Bildungsrepublik alsSchönfärberei und Wunschdenken. Deshalb muss manhier einmal zwei oder drei Dinge klarstellen.
– Zu dem Antrag komme ich gleich; meine Ausführun-gen stehen in einem engen Zusammenhang damit. Einesolche Berichterstattung bedeutet nämlich eine Fehl-interpretation der Ergebnisse der Bildungsberichte, unddas betrifft besonders die pädagogischen Fachkräfte.Es ist tatsächlich so – das hat der OECD-Bericht be-wiesen –, dass wir in den letzten Jahren im Bildungsbe-reich deutlich zugelegt haben. Die Zahl der Studien-anfänger ist von 26 Prozent auf 46 Prozent gestiegen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14839
Marcus Weinberg
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Viel wichtiger: Die Zahl der Hochschulabsolventen ei-nes Altersjahrgangs ist von 14 Prozent auf 28 Prozentgestiegen.Bei der Frage nach der Beliebtheit des deutschen Sys-tems – möglicherweise interessant für junge Menschen,die überlegen, einen Lehrer- oder Erzieherberuf anzu-streben – ist Deutschland bei den Studierenden aus demAusland das viertbeliebteste Land und belegt Platz fünfim Bereich der Promotionsvorhaben.
Ich möchte noch ein Wort zum Thema Jugendarbeits-losigkeit sagen – dann beende ich das gerne, Frau Kolle-gin –:
Deutschland liegt mit einer Quote von 9,5 Prozent deut-lich unter den OECD-Werten mit 20 Prozent und deut-lich hinter den USA mit 17 Prozent. Das sind Erfolge derletzten Jahre, auf die man einmal stolz zurückblickenkann,
bei allen Herausforderungen, die Sie in Ihrem Antragentsprechend aufgegriffen haben.Lassen Sie mich hierzu einige Bemerkungen machen.Hier ist zunächst die Bildungsbeteiligung zu nennen, diegerade in diesem Bereich massiv zugenommen hat. Sogibt es bei der Bildungsbeteiligung der unter Dreijähri-gen eine Zunahme von 7 Prozent; hier wurden in denletzten drei Jahren 100 000 Plätze geschaffen.Richtig ist, dass es in den nächsten Jahren einen ver-stärkten Bedarf an pädagogischen Fachkräften – Lehrer,Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Erzieher – ge-ben wird. Richtig ist aber auch – und das hat der Bil-dungsbericht 2010 bewiesen –, dass in diesem Bereich42 000 Personen mehr tätig sind. Man muss erneut daranerinnern – ich weiß, Sie hören es nicht gerne –: Das isteine Frage der Kompetenzverteilung in diesem Land.Es ist so, dass weiterhin in allererster Linie die Länderfür die Ausbildung von Erziehern und Lehrern zuständigsind.
Da muss man einmal schauen, liebe Kollegen von denLinken, wer wo welche Verantwortung hat. Ich als Ham-burger erinnere mich gerne daran – das sage ich ganz of-fen –, dass es vor etwa zwei Jahren eine Riesendiskus-sion über junge Lehrer gab, die Berlin, wo sieausgebildet worden waren, verlassen haben, um nachHamburg zu gehen. Denn ein schwarz regiertes Ham-burg hat diesen jungen Menschen eine vernünftige Per-spektive sowie eine vernünftige Bezahlung und vernünf-tige Verträge geboten, während man sie in Berlin nichtangestellt hat. Hier müssen Sie sich als Linke fragen:Was haben Sie in der damaligen Regierungsverantwor-tung dazu beigetragen, dass junge Lehrer in Berlin blei-ben? Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob und wieSie Ihrer eigenen Verantwortung gerecht geworden sind.
Was der Bund aber macht und was er machen kann,ist, die Länder zu unterstützen. Ich erinnere an denHochschulpakt I und II, und ich erinnere insbesonderean den Qualitätspakt für Lehre: Das sind 200 MillionenEuro, die den Ländern jährlich zukommen. Über dieseMaßnahmen des Bundes werden die Länder entlastet.Sie werden insbesondere deshalb entlastet, weil derBund Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmenanbietet und finanziert, die gerade in diesem Bereichwichtig sind.In dem Zusammenhang nenne ich beispielsweise das„Haus der kleinen Forscher“ mit dem SchwerpunktNaturwissenschaften, die Weiterbildungsinitiative Früh-pädagogische Fachkräfte, die mit 5,3 Millionen Eurounterstützt wird, die Medienerziehung, BIBER – dasNetzwerk Frühkindliche Bildung – oder auch die Aus-weitungen im Rahmen von WiFF im Forschungsbereich.Das heißt: Der Bund gibt viele Millionen Euro stetigaufwachsend aus, um Verantwortungsbereiche der Län-der abzudecken. Das macht er, weil er sich in der Verant-wortung der Bildungsrepublik sieht. Er macht es auch,um die Länder zu entlasten.Ich sage aber auch ganz deutlich – die Kolleginnenund Kollegen aus den Ländern mögen das im Protokollnachlesen –: Es gibt eine klar geregelte Kompetenzver-teilung. Es ist gut, dass sie klar geregelt ist. Der Bund hatin seiner Verantwortung mehr übernommen, aber letzt-lich bleibt die Verantwortung bei den Ländern.
Das, was wir sagen können – –
Kollege Weinberg, Sie können leider gar nichts mehr
sagen. Sie sind eine Minute über der Zeit.
Frau Präsidentin, ein letzter Satz: Das, was wir in
Bundesverantwortung übernommen haben, haben wir
gerne übernommen, und wir tragen auch in den nächsten
Jahren dazu bei, dass dieses Thema weiter entsprechend
bearbeitet wird.
Herzlichen Dank.
Auch das Abdecken der Uhr schützt Sie nicht davor,dass die Uhr weiter vorrückt.
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14840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Vizepräsidentin Petra Pau
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Das Wort hat die Kollegin Marianne Schieder für dieSPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass der Fach-
kräftemangel in Deutschland, der in den nächsten Jahren
nahezu alle Arbeitsbereiche treffen wird, auch vor Kitas
und Schulen nicht haltmachen wird. Wir alle wissen
auch, dass jetzt wirklich rechtzeitig gegengesteuert wer-
den muss, wenn wir auch in Zukunft genügend und gut
ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher in unseren Ki-
tas sowie genügend und gut ausgebildete Lehrerinnen
und Lehrer an unseren Schulen haben wollen. Insofern
ist der vorliegende Antrag wirklich zu begrüßen; er
greift ein wichtiges Anliegen auf.
Allerdings halten wir den Weg, den Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Linken, beschreiten wollen,
nicht für geeignet. Denn selbst wenn das Kooperations-
verbot, das all Ihren Vorschlägen zunächst einmal entge-
gensteht, fallen sollte – ich darf Ihnen versprechen, dass
auch wir, die sozialdemokratischen Bildungspolitikerin-
nen und -politiker, dafür kämpfen –,
wird die Lehrerbildung und Lehreranstellung immer Sa-
che der Länder bleiben; dasselbe gilt für die Ausbildung
von Erzieherinnen und Erziehern.
Ich bin mir auch sicher, dass die Länder keine Mo-
dellberechnungen brauchen, um ihren jetzigen und zu-
künftigen Lehrerbedarf zu kennen. Es fehlt da nicht am
Wissen, schon eher am Wollen oder an Finanzierungs-
möglichkeiten. In meinem Heimatland Bayern – wenn
ich davon einmal berichten darf – kenne ich den Grund
dafür, dass zu wenig Lehrer in den Schulen sind und
stattdessen viele junge und gut ausgebildete Lehrerinnen
und Lehrer auf der Straße stehen.
Der Grund liegt nicht in der mangelnden Kenntnis der
Zahlen, sondern im Desaster um die Landesbank. Denn
wer das Geld der Steuerzahler in Österreich oder sonst
wo versenkt, hat später keines mehr, um zu Hause aus-
reichend Lehrerinnen und Lehrer einstellen zu können.
Selbstverständlich gibt es trotz der Länderhoheit ein
weites Feld von Möglichkeiten, um als Bund im Kampf
gegen den Fachkräftemangel im Bereich der Bildung
sinnvoll tätig zu werden. Es wäre an der Zeit, dringend
nötige Diskussionen anzustoßen und längst überfällige
Annäherungen und Angleichungen bei den Länderakti-
vitäten auf den Weg zu bringen. Aber außer vollmundi-
gen Ankündigungen ist hier seitens der Bundesregierung
noch nicht viel passiert. So kündigt die Ministerin seit
langer Zeit einen Vorschlag zur Abschaffung des Koope-
rationsverbotes an. Die Abschaffung wäre ein richtiger
und wichtiger Schritt, um in der Sache einmal grundsätz-
lich etwas voranzubringen; doch eine konkrete Gesetzes-
initiative gibt es nicht. Es gibt aber Initiativen der Oppo-
sitionsfraktionen.
Seit Monaten kündigt die Ministerin eine Exzellenz-
initiative für die Lehrerbildung an. Das ist ein wirklich
begrüßenswerter Ansatz; denn wir alle wissen doch, dass
es der Lehrerbildung insgesamt guttäte, grundsätzlich in
den Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussionen
gerückt zu werden.
Kollegin Schieder, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
gen Kretschmer?
Gerne.
Frau Kollegin, Sie haben jetzt mehrfach über die Län-
der und die Frage der Vereinbarkeit gesprochen. Können
Sie uns ein Beispiel für ein SPD-geführtes Bundesland
nennen, in dem es eine Initiative für mehr Vergleichbar-
keit zwischen den Bundesländern im Bereich der Bil-
dung gibt? Können Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass
es die Länder Bayern und Sachsen waren, die die Initia-
tive für einen Staatsvertrag zu einem gemeinsamen
Deutschland-Abitur ergriffen haben? Sie stellen es hier
so dar, als würde es das nicht geben. Mir ist aber keine
SPD-Initiative dazu bekannt.
Herr Kollege, falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ichspreche hier über einen drohenden Fachkräftemangel imKita- und Schulbereich.
Da gibt es keine Initiativen seitens des Bundes, um nö-tige Diskussionen anzustoßen und rechtzeitig gegenzu-steuern.Ich sprach vom begrüßenswerten Ansatz einer Initia-tive seitens des Bundes zur Lehrerbildung. Ich glaube,dass eine solche Initiative vor allen Dingen deswegennotwendig wäre, weil die Lehrerbildung an vielen Uni-versitäten – wir alle wissen das – eine eher nachrangigeBedeutung hat und aus diesem Grunde alles getan wer-den muss, damit ihr ein höherer Stellenwert beigemessenwird.
Wir können nicht darauf warten, dass sich die Kultus-ministerkonferenz dieses Themas annimmt; denn man
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Marianne Schieder
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gewinnt den Eindruck, dass die Unterschiede in der Kul-tusministerkonferenz von Jahr zu Jahr größer und nichtkleiner werden. Deshalb brauchen wir eine Initiative desBundes.Heute muss aber auch erneut festgestellt werden, dassSchwarz-Gelb den Kommunen und den Ländern zuneh-mend die finanzielle Basis entzieht, die sie brauchen, umausreichend Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherin-nen und Erzieher beschäftigen und angemessen entloh-nen zu können.Wir Sozialdemokraten wollen Bildungspolitik aus ei-nem Guss, von der Kita bis zur Universität. Wir wollenBildung von möglichst hoher Qualität. Wir wollen guteBildung für alle Kinder und jungen Menschen, und zwarunabhängig von der Herkunft und unabhängig vomGeldbeutel ihrer Eltern.
Dazu gehört für uns nicht nur, dass Kinder und jungeMenschen kostenlos teilnehmen können, sondern auch,dass sie von qualifizierten Fachkräften möglichst gutund möglichst individuell gefördert werden. Laut einerAntwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der SPDwerden bis 2013 bis zu 40 000 Erzieherinnen und Erzie-her fehlen. Trotz dieser Erkenntnis wird nahezu nichtsgetan.Wir wissen auch, dass die Anforderungen an die Er-zieherinnen und Erzieher in Bezug auf Ausbildung undPraxis ständig steigen. Wir wissen, dass mittlerweile einDrittel aller Kinder im Vorschulalter einen Migrations-hintergrund hat. Wir wissen, dass wir gerade im Bereichder Sprachförderung vor großen Herausforderungen ste-hen, und zwar sowohl, was die Kinder mit Migrations-hintergrund betrifft, als auch, was die Kinder betrifft, de-ren Muttersprache Deutsch ist. Insgesamt stellt sichzunehmend die Frage, ob die Ausbildung von Erziehe-rinnen und Erziehern nicht als Hochschulausbildung an-gelegt werden sollte und das bisherige Ausbildungssys-tem umgebaut werden muss, um den steigenden Anfor-derungen gerecht werden zu können.Ein weiteres Problem, das bewältigt werden muss, istdas niedrige Einkommensniveau der Fachkräfte in denKitas und in den anderen erzieherischen Einrichtungen.Nicht nur Männer werden dadurch davon abgehalten,sich für entsprechende Berufe zu entscheiden. In beidenFällen vermisse ich das Engagement der Bundesregie-rung.Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir dringendtragfähige Konzepte brauchen, um den zukünftigen Fach-kräftebedarf in Kitas und Schulen decken zu können.Dazu muss der Bund endlich einen konkreten Beitragleisten.Was den Antrag der Fraktion Die Linke betrifft: Wirwerden uns aufgrund der bereits dargelegten Bedenkenenthalten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undliebe Kollegen! Frühkindliche Bildung ist heute unserThema. Ich kann nur sagen: Endlich ist das wiederThema. Wir sprechen viel zu wenig darüber. DiesesThema ist viel zu wenig in den Köpfen verankert, undwir haben es viel zu selten in den Mittelpunkt unserespolitischen Arbeitens gestellt.
Warum machen wir das eigentlich so? Hier wird dochder Grundstein für die individuelle Bildungsbiografiegelegt. Hier, wo individuelle Förderung, Integration undsozialer Ausgleich am allerbesten gelingen, müssen dieBesten unterrichten und die besten Rahmenbedingungenherrschen. Trotzdem haben wir alle es bisher nicht ge-schafft, dafür zu sorgen.Defizite bei der Qualität der Kindertagesstätten, Stun-denausfälle in den Grundschulen, Probleme bei der Leh-rergewinnung und der Lehrerversorgung sind alltäglicheProbleme. Alle, die hier sitzen, können ein Lied davonsingen; denn alle haben das selber erlebt. Diese Situationführt dazu, dass die Eltern unzufrieden, die Kinder zumTeil frustriert und die Lehrer überlastet sind. Der Fach-kräftebedarf in den Kindertagesstätten ist nicht von derHand zu weisen; er ist tatsächlich sehr hoch. Die Situa-tionsbeschreibung und die Bedarfsprognose in dem An-trag, über den wir heute hier beraten, ist stichhaltig. Aberleider – das sage ich auch aus persönlichen Gründen –sind die Schlüsse die völlig falschen; denn die Ländersind für die Ausbildung der Pädagogen zuständig. Dasheißt, die Länder stehen in der Pflicht. Sie müssen das,was vom Grundgesetz als Kernaufgabe formuliert wird,verantwortungsvoll wahrnehmen. Sie müssen ganz of-fensichtlich genau in diesem Gebiet, das uns so wichtigist, nachlegen. Investitionen sind möglich, sie müssennur gewollt sein.
Anders ist die Spannbreite von mehreren TausendEuro zwischen den Investitionen der Bundesländer fürunter sechsjährige Kinder überhaupt nicht zu erklären.Schleswig-Holstein investierte 2007 nicht einmal 2 000Euro pro Kind, ein Drittel weniger als Hamburg mit3 400 Euro. Ähnlich ist der Unterschied zwischen Bran-denburg mit 2 800 Euro und Berlin mit fast 4 200 Euro.Laut Ländermonitor investieren die alten Bundesländerdurchschnittlich viel weniger als die neuen Bundeslän-der. Die Spannbreite der Nettoausgaben für frühkindli-che Bildung und Betreuung in den gesamten Ausgabenöffentlicher Haushalte reicht von 3,1 Prozent in Bremenbis zu 7 Prozent in Sachsen. Mehr ist möglich. Die Län-der haben die Verantwortung, in frühkindliche Bildung
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14842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sylvia Canel
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zu investieren. Aus dieser Verantwortung können wir sienicht entlassen.
Die in der vergangenen Woche vorgestellte OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“, die hier schon viel zi-tiert wurde, bestätigt, dass ausgerechnet in den wichtigs-ten Bildungsbereich, die Zeit vor der Schule und in derGrundschule, am wenigsten investiert wird. Ich habe mireinmal herausgesucht, was in der Studie zu den Drei- bisSechsjährigen in Deutschland steht. Laut Studie werdenin Deutschland 6 887 Dollar pro Kind pro Jahr investiert.Italien – auch aufgrund einer anderen Debatte zurzeit inden Köpfen – investiert hingegen 8 187 Dollar. Dasmöchte ich nur am Rande bemerken.Insgesamt ist es beschämend niedrig. Die Länder ver-zetteln sich in ihren Aufgaben. Wir können es nicht wei-ter dulden, dass nachrangige Politikfelder hochgepäppeltwerden und dass der Bund genau da, wo Länder versa-gen, ergänzen und nachsteuern soll. Wo ein Wille ist, istauch ein Weg. Es kann nicht sein, dass die Länder jetztvom Bund die Mittel einfordern, die sie selber nicht ein-zusetzen bereit sind.
Bundesmittel sind keine Kompensationsmittel. Bun-desmittel sollen Investitionen und Bildungsausgaben derLänder sinnvoll ergänzen. Genau das tun wir vom Bundher. Der Bund investiert schon jetzt tatkräftig. Wir habenbis 2013 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschungvorgesehen. Das ist eine bislang unerreichte Summe. Siezeigt deutlich, dass diese Koalition eine eindeutige Prio-rität in genau diesem Gebiet gesetzt hat.
Ich denke, wenn wir das im Bund schaffen, schaffen dieBundesländer das auch.Mit der Weiterbildungsinitiative FrühpädagogischeFachkräfte unterstützt der Bund die Länder beim Aufbaueiner Qualifizierungsinitiative für Erzieherinnen und Er-zieher. Sie haben hier schon gehört, dass sie nicht gutausgebildet sind; aber Sie haben vielleicht noch nicht ge-hört, dass manche so wenig verdienen, dass sie verheira-tet sein müssen, weil sie auf das Einkommen des Ehe-partners angewiesen sind. Das muss sich ändern; denn esgeht um den wichtigsten Bildungsabschnitt eines jedenMenschen.
Der Hochschulpakt läuft weiter und sichert den Aus-bau von Studienplatzkapazitäten. Bis zum Jahresende2010 wurden statt 90 000 180 000 Studienplätze ge-schaffen. Der Qualitätspakt Lehre führt zu einer Verbes-serung der Studienbedingungen; dort haben wir 2 Mil-liarden Euro vorgesehen.
Das BAföG wurde erhöht und das Stipendienprogrammeingeführt. Ich weiß, dass Sie das sehr kritisieren, aberbedenken Sie, dass das vor allem für Lehrer ganz wich-tige Mechanismen sind; denn Lehrer sind meist die ers-ten Akademiker in ihren Familien.
Diese einmalige und zuvor noch nie unternommeneKraftanstrengung darf jedoch nicht dazu führen, dass wirdies in den Ländern immer wieder vernachlässigen. Dasgilt insbesondere mit Blick auf die Kitas. Es muss dortinvestiert werden, wo es am wichtigsten ist.Die Länder müssen auch besser kooperieren. Es kanndoch nicht sein, dass die Lehrerausbildung so zersplittertist, dass in dem einen Bundesland die Lehrerausbildungaus dem anderen Bundesland nicht anerkennt wird. Ge-nauso wie ein ausgebildeter Jurist oder Arzt in jedemBundesland arbeiten kann, muss auch ein Lehrer in je-dem Land arbeiten dürfen. Er darf daran in Zukunft nichtmehr aufgrund von Bildungsmauern und -barrieren ge-hindert werden.
Gute, verlässliche Rahmenbedingungen sind für er-folgreiche Lernprozesse erforderlich. Damit geben wirden Einrichtungen auch größere Freiheiten, Entschei-dungen vor Ort treffen zu können. Wir brauchen einengemeinsamen und national abgestimmten Rahmen fürdie Bildung, eine regionale Qualitätssicherung undselbstständige Bildungseinrichtungen, die gute Ergeb-nisse erzielen können. Wir behindern uns doch selbst,wenn die Ländergrenzen weiterhin Bildungsbarrierendarstellen und wenn die Länder ihre größten Konkurren-ten in den anderen Bundesländern statt in anderen Indus-trienationen sehen. Aufgrund der vorhandenen Bil-dungsbürokratie erzielen wir in Deutschland im Momentnicht so gute Ergebnisse, dass wir mit Indien und Chinakonkurrieren könnten.
Kollegin Canel, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Ja, gern.
Das Licht, das vor Ihnen aufleuchtet, ist ernst ge-
meint.
Meine Damen und Herren, berücksichtigen Sie: Diesist das wichtigste Themenfeld in diesem Bereich. In denBundesländern, in denen Sie an der Regierung beteiligtsind, können Sie sich selbst dafür einsetzen, dass genauhier investiert und das getan wird, was im vorliegendenAntrag gefordert ist.Danke sehr.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14843
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Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kolle-
gin Hein für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauCanel, es hilft nichts, wenn wir hier „Schraps hat denHut verloren“ spielen.
Wir müssen überlegen, welche Verantwortung der Bundtatsächlich hat.
– Das kennt man dort nicht? Ich erkläre es Ihnen nach-her.
Der Bund hat zu Recht im Gesetz festgeschrieben,dass ab 2013 jedes Kind vom ersten Lebensjahr an einenRechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindereinrich-tung oder in der Kindertagespflege hat. Bundesweit sol-len insgesamt 750 000 Plätze zur Verfügung gestelltwerden. Zwei Drittel davon hat man bereits geschaffen.Wir bezweifeln allerdings, dass 750 000 Plätze ausrei-chen werden. Für eine gute Qualität in Bildung und Be-treuung, sowohl in Kindereinrichtungen als auch in derTagespflege, bedarf es – das ist unstrittig – gut ausgebil-deter pädagogischer Fachkräfte. Das sehen alle in die-sem Haus so, auch die Bundesregierung.Die Bundesregierung und dieses Haus haben zwarden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geschaf-fen, ein Investitionsprogramm aufgelegt und sogar Hil-fen bezüglich der Betriebskosten der Einrichtungen aufden Weg gebracht. Dass man in solchen Einrichtungenauch Personal braucht, hat die Koalition, haben die Re-gierenden aber jedes Mal übersehen.
Deswegen haben wir nun dieses Dilemma.Der Fachkräftebedarf ist groß. Die Standards bei derKinderbetreuung in den Einrichtungen der Länder sindschon heute unbefriedigend. Insbesondere im Osten istdas leider so. In Sachsen-Anhalt mussten wir den Be-treuungsschlüssel in den letzten 20 Jahren, meistens üb-rigens aufgrund von Druck aus dem Westen und auf-grund von Geldmangel, permanent verschlechtern, so-dass die Bundesregierung ihn heute zu Recht als bedenk-lich einstuft. Zudem werden im Bundesland Sachsen-Anhalt in den nächsten Jahren Tausende Erzieherinnenin den Ruhestand gehen. Für ausreichend Nachwuchs istnicht gesorgt. Das liegt auch daran, dass die in Sachsen-Anhalt ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher gern inBayern und Hessen aufgenommen werden, wo es eben-falls nicht genügend Fachkräfte, aber mehr Geld gibt.
Den jüngsten Zahlen zufolge hatten im Jahre 2009bundesweit etwa 20 Prozent des pädagogischen Perso-nals in Kindereinrichtungen keine pädagogische Ausbil-dung. Bei den Tagespflegepersonen sah es noch schlech-ter aus: Nur etwa 36 Prozent von ihnen hatten überhaupteine entsprechende Ausbildung. 160-Stunden-Programme,Orientierungskurse und Schnellkurse reichen nicht aus,um in den Kindereinrichtungen die Qualität, die wir er-reichen wollen, zu sichern. Meine Damen und Herren,der Erziehungsberuf ist doch kein Anlernberuf!
Auch für die noch fehlenden etwa 250 000 Plätze sinddie nötigen Fachkräfte nicht in Sicht. Allein dafür wür-den bis 2013 wenigstens 50 000 Erzieherinnen und Er-zieher gebraucht. Wenn wir hier nicht etwas tun, dannläuft dieser gut gemeinte Rechtsanspruch ins Leere, weilsich niemand dafür interessiert, wenn er es nicht bei-spielsweise wegen der Aufnahme einer Arbeit muss. Wirwollen, dass diese Kindereinrichtungen auch Bildungs-programme anbieten. Davon müssen auch die Elternüberzeugt werden.
Bei der Behandlung unseres Antrages hat man unsauch hier wieder zugestanden, wir hätten gut recher-chiert, aber man könne ihm aus grundsätzlichen Erwä-gungen nicht folgen. Das ist zwar richtig, aber es gibt ei-nen Ausweg. In § 83 SGB VIII, einem Bundesgesetz, istfestgelegt, dass der Bund „die Tätigkeit der Jugendhilfeanregen und fördern“ soll, soweit sie von überregionalerBedeutung ist und die Länder das allein nicht schaffenkönnen. Ich finde, diesen Passus könnte man auch nut-zen, um ein Bund-Länder-Programm zu entwickeln.
Ich will auch noch etwas zum zweiten Teil unseresAntrages sagen. Damit beziehen wir uns auf die Lehr-kräftesituation an den Schulen. Auch das ist hier schongesagt worden. Hier droht nach unserer Auffassung trotzdes Schülerrückgangs – im Osten wieder deutlich stärkerals im Westen – ein dramatischer Lehrermangel. Eigent-lich gibt es ihn schon, aber er wird sich in allen Ländernnoch wesentlich verstärken, weil derzeit fast die Hälfteder Lehrinnen und Lehrer in den Schulen über 50 Jahrealt ist.Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat vor einigerZeit vorgerechnet, dass mittelfristig ein Bedarf von etwa35 000 Lehrerinnen und Lehrern pro Jahr besteht. Nunhat die Kultusministerkonferenz im Sommer eine neueBerechnung vorgelegt. Danach soll es angeblich nurkurzzeitig und punktuell zu Engpässen kommen. Ichhabe mich gefragt, warum das plötzlich so ist. Die sin-kende Schülerzahl allein kann der Grund nicht sein. Ichbin dann darauf gekommen: Im Westen ist der Übergangzum berühmten G 8, also zum verkürzten Abitur, natür-lich auch ein Sparmodell gewesen, wodurch Stunden
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14844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Rosemarie Hein
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eingespart wurden. Das hat zu einer Veränderung desLehrkräftebedarfs geführt.
Selbst wenn alle Berechnungen stimmen würden, waswir bezweifeln, sage ich: Wir wollten die Schule dochbesser machen! Das wird aber, wenn man auf diese Be-rechnungen aufbaut, nicht zu erreichen sein. Mit denneuen Berechnungen macht die KMK nur darauf auf-merksam, dass man eigentlich gar nicht genau sagenkann, wie viele Lehrerinnen und Lehrer am Ende tat-sächlich in den Schulen ankommen. Das hat mit demÜbergang zum Bachelor-Master-System im Studium zutun. Deshalb müssten wir als Bund eigentlich etwas tun.Das entsprechende Instrument, das es ja schon gibt, istheute hier schon genannt worden, nämlich der Hoch-schulpakt. Warum kann man in diesen Hochschulpaktnicht die Säule „Studienplätze für Lehramtsanwärterin-nen und Lehramtsanwärter für die Schulen in den Län-dern“ einbauen? Das könnte man von hier genauso finan-zieren, wie man die anderen Studienplätze mitfinanziert.
Es hilft eben nicht, nur bildungspolitische Sonntags-reden zu halten – das Gleiche gilt für die Presseerklärungvon Herrn Weinberg und Herrn Rupprecht – und deut-lich zu machen, dass die Lehrerinnen und Lehrer daswichtigste Potenzial in der Bildungslandschaft sind, son-dern wir müssen auch etwas dafür tun. Wir sind als Bundzwar nicht zuständig,
aber verantwortlich, und diese Verantwortung müssenwir wahrnehmen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Koalition, können hier soschöne Reden halten, wie Sie wollen, es hilft aber nichts:Wir haben einen Fachkräftemangel, und zwar in denKindergärten, in den Kinderkrippen und in den Schulen.Wir können die Zahlen drehen, wenden, interpretierenund noch einmal neu berechnen: Es ist so, und wir müs-sen uns damit auseinandersetzen. Die Linke hat schlichtund einfach recht, wenn sie dies hier feststellt. Es hilftnichts, darum herumzuschwadronieren.Das ist übrigens überhaupt nicht neu und war langevorhersehbar. Die Argumente dafür liegen offen auf derHand: Es gibt immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, aberauch viele Erzieherinnen und Erzieher, die aus Alters-gründen ausscheiden werden. Wir brauchen weitere An-gebotsausweitungen in den Kindergärten und Krippen,wir wollen Ganztagsschulen bzw. Ganztagseinrichtun-gen,
wir wollen aber natürlich auch mehr Qualität – genau so,wie Sie das in Ihrem Zwischenruf gesagt haben. Dasgeht aber nicht ohne mehr Fachpersonal. Das ist ein zen-trales Qualitätskriterium.Das Kinderförderungsgesetz legt fest: Im Jahr 2013soll eine bestimmte Quote verbindlich erfüllt werden.Dafür brauchen wir das entsprechende Personal, das bisdahin schon ausgebildet worden sein müsste. Es reichtnicht, wenn wir erst dann konstatieren, dass wir Personalbrauchen. Die Regierung handelt im Moment ein biss-chen nach dem Prinzip Hoffnung und setzt darauf, dassalles funktionieren wird und dass alles so kommt, wieman es sich vorstellt. Aber bekanntlich kommt es anders,als man denkt. Daher ist es richtig, das jetzt auf der Ta-gesordnung zu haben.Der Antrag der Linken hat zwei Schwachpunkte, überdie man reden muss. Der erste Schwachpunkt ist, dassunberücksichtigt ist, dass es bei der Personalausbildungeine Länderzuständigkeit gibt. Da kommen wir nichtdrum herum; das ist richtig. Im ganzen Bereich der Bil-dung haben wir vielfältige Aufträge. Ich finde es aller-dings ein bisschen schwierig, dass Sie versuchen – dasist der zweite Schwachpunkt –, eine solche große Auf-gabe mit Kleinstlösungen und vereinzelten Programmenzu meistern; denn auf diese Weise verzetteln Sie sich.Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Sie haben gerade imZusammenhang mit dem KJHG vorgeschlagen, einBund-Länder-Programm aufzulegen. Wenn Sie aberschon das KJHG dazu nutzen wollen, dann machen Siebitte kein Klein-Klein-Programm, dessen Wirkung nachein, zwei Jahren verflogen ist, sondern dann müssen Siedas machen, was die Grünen vorschlagen, nämlich Qua-litätskriterien rechtsverbindlich hineinschreiben, sodasssich tatsächlich etwas ändern muss. Aber mit einem Pro-gramm wird sich das Ganze in Schall und Rauch auflö-sen und folglich keine Wirkung haben.
Als zweites Beispiel nenne ich Ihre Forderung, imHochschulpakt ein Sonderprogramm für mehr Lehramts-studienplätze aufzulegen. Der Hochschulpakt bedarfaber bereits schon der Nachbesserung. Wenn wir ihnjetzt mit neuen spezifischen Aufgaben beladen, dannwird das weder die Gesamtsituation an den Hochschulenin irgendeiner Form verbessern, noch wird es eine Wir-kung entfalten.
Denn ein Programm, das nur schwer umzusetzen ist,wird nicht besser, indem man es verschlimmbessert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14845
Ekin Deligöz
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Die Knackpunkte, die genannt worden sind, müssenwir in der Tat angehen. Ich nenne zum Beispiel das Ko-operationsverbot. Ich fand es heute im Bildungsaus-schuss wirklich dramatisch, dass wir auf die Frage, wasgetan wird, um ein Kooperationsverbot zu verhindern,von der Ministerin lediglich die Antwort erhalten haben:Ich muss erst einmal meine eigene Partei von der Ab-schaffung der Hauptschule überzeugen.
Wir wollen das Bildungssystem in Deutschland verän-dern, und die Ministerin ist damit beschäftigt, ihre Parteivon etwas Selbstverständlichem zu überzeugen. Daskann doch nicht die Aufgabe einer Bildungsministerinfür ganz Deutschland sein. Ich bitte Sie! Eigentlich ist espeinlich, so eine Antwort in einer Ausschusssitzung zubekommen.
Jetzt komme ich noch zu einem anderen Punkt. Wirhaben eine ganz klare Kompetenz im Bereich der Wei-terbildung. Hier können wir wirklich etwas machen, an-gefangen beim Erwachsenen-BAföG bis hin zu vernünf-tigen Weiterbildungsmöglichkeiten zum Beispiel fürSeiteneinsteiger. Warum tun Sie da nichts? Da haben wireine ganz klare Verantwortung, um tatsächlich etwas zuverändern. Aber Sie drücken sich ein wenig davor. Dasbetrifft übrigens nicht nur diesen Bereich, sondern auchden Bereich der Fachkräfte.Vor kurzem wurde durch eine Kleine Anfrage derGrünen der Blick auf ein großes Handlungsfeld gelenkt,nämlich auf die Qualifizierung von Tagespflegeperso-nen, den sogenannten Tagesmüttern. Wir wissen: DieMenschen, die dort arbeiten, sind oft nicht nur unterbe-zahlt, sondern auch fehlqualifiziert. Wenn wir wirklichBildung und Förderung wollen, wenn wir Tagespflege inDeutschland tatsächlich etablieren wollen, dann habenwir die Verantwortung, in diesem Bereich für Qualität zusorgen. Da gibt es Defizite. Auch da hat der Bund eineZuständigkeit. Teile Ihres Konzepts und Ihrer Gesetzeberuhen auf den Tagesmüttern, aber Sie schauen weg.Das Einzige, was Sie von der Regierung getan haben,war, die Tagesmütter durch eine steuerrechtliche Rege-lung noch mehr zu belasten. Damit haben Sie auch dieletzte Tagesmutter vergrault. Das ist Ihre Antwort. Aberdas wird nicht reichen.
Also: Lassen Sie uns das Problem anpacken, bevor esuns überholt. Wenn Sie wirklich das Beste für unsereKinder tun wollen, dann müssen Sie mehr tun, als nurschönen Reden halten, dann müssen Sie handeln. Auchdie besten Sätze helfen nicht, wenn Ihr Handeln am tat-sächlichen Bedarf vorbeigeht.
Das Wort hat die Kollegin Ewa Klamt für die Unions-
fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Ja, wir haben einen Fachkräftemangel. – Die Kol-legin müsste jetzt eigentlich zuhören, aber sie hat auchschon bei der Ministerin nicht zugehört, sonst hätte siesie richtig zitiert.
Frau Kollegin, diese Koalition tut hier etwas, wasman von Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 nicht ge-rade behaupten kann.
Es macht aber Sinn, einmal genau hinzuschauen, wer inunserem föderalen System was in diesem Bereich geleis-tet hat und wer noch eine Bringschuld hat.Allein beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat derBund einen Finanzierungsbeitrag von 4 Milliarden Eurogeleistet. Offen bleibt die Finanzierung in den Ländern.Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Das stelle nichtnur ich fest. Auch der Deutsche Städtetag fordert vonden Ländern größere finanzielle Anstrengungen, um denRechtsanspruch auf Betreuung bis 2013 umzusetzen.
Rund 6 Milliarden Euro an Investitionskosten sind hiervon den Ländern noch nicht finanziert.Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, ichgebe Ihnen recht: Bei der Kinderbetreuung geht es nichtallein um Quantität, sondern auch um Qualität. Doch IhrAnsatz geht in die falsche Richtung. Sie verwechseln dieZuständigkeiten. Anders als im sozialistischen Einheits-staat
ist es im föderalistischen System der BundesrepublikDeutschland – man muss Sie ja immer wieder aufklären,weil Sie es anscheinend nicht wissen – aus gutem GrundAufgabe der Länder, mit konkreten Maßnahmen auf denregionalen Bedarf zu reagieren.
Anstatt jedoch in den Ländern, in denen Sie bis vor kur-zem noch mitregieren konnten – ich nenne nur einmalBerlin –, diese Probleme zu beheben, rufen Sie jetzt denBund auf, Ihre bildungspolitischen Negativhinterlassen-schaften – schauen wir nur einmal in den Grundschulbe-reich – aufzuräumen. Das ist nicht Aufgabe des Bundes.
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14846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Ewa Klamt
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Wir, die Koalition, haben mit einer Vielzahl von Pro-grammen und einem immensen finanziellen Aufwandverbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bil-dung und Erziehung geschaffen. Etliche Initiativen wur-den bereits genannt. Wichtig ist für mich die Initiative„Offensive Frühe Chancen“. Frau Schieder, Sie sinddoch auch im Ausschuss. Sie wissen doch ganz genau,was wir da beschlossen haben.
Wir haben bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfü-gung gestellt, um in Deutschland 4 000 Kitas mit demSchwerpunkt Sprache und Integration zu fördern. Ichsage das, weil Sie die Migrationskinder und die Kindervon deutschen Eltern, die der deutschen Sprache nichtrichtig mächtig sind, ansprachen.
Kollegin Klamt, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Golze?
Nein. – Nehmen wir das Aktionsprogramm Kinderta-
gespflege. Hier konnte der Anteil der Tagespflegeperso-
nen ohne absolvierten Qualifikationskurs auf 14 Prozent
gesenkt und der Anteil der erfolgreichen Abschlüsse im
Jahr 2009 um 16 Prozent gesteigert werden.
Im Übrigen wird auch die Anerkennung ausländi-
scher Bildungsabschlüsse einen wichtigen Beitrag dazu
leisten, dass auch pädagogische Fachkräfte in der früh-
kindlichen Bildung tätig werden können. Auch hier ist
der Bund für die bundesgesetzlich geregelten Berufe be-
reits aktiv geworden. Es liegt erneut an den Ländern,
Anerkennungsverfahren und berufsrechtliche Regelun-
gen, wie zum Beispiel für Lehrer und Erzieher, in ihrem
Zuständigkeitsbereich zu ändern.
Richtigerweise stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass
wir in Zukunft eine große Anzahl von Lehrerinnen und
Lehrern benötigen. Deshalb haben Bundesregierung und
Länder, und zwar nicht erst seit heute, mit dem Hoch-
schulpakt die Voraussetzung für die Aufnahme neuer
Studierender an den Hochschulen geschaffen.
– In der ersten Programmphase – die Zahl lese ich Ihnen
gerne vor; wir haben sie hier schon einmal gehört – wur-
den von 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzliche Stu-
dienmöglichkeiten geschaffen – zusätzliche Studienmög-
lichkeiten! Das heißt doppelt so viele wie ursprünglich
vereinbart.
– Bei diesem Thema sind wir jetzt gerade. Frau
Schieder, hören Sie doch einfach einmal zu, auch wenn
es für Sie schwierig ist. Ich habe Ihnen auch zugehört.
Bis zum Jahr 2015 – das ist die zweite Programm-
phase – hat die Bundesregierung 320 000 bis 335 000
zusätzliche Studienmöglichkeiten zugesichert. Wenn es
einen größeren Bedarf geben sollte, dann wird auch die-
ser vom Bund finanziert. Um es noch einmal in aller
Deutlichkeit zu sagen: 600 Millionen Euro erhielten die
Länder 2011 vom Bund für den Ausbau der Studienan-
gebote. 2012 werden es 1,14 Milliarden Euro sein.
– Ja, Sie haben recht. 25 Prozent all dieser Kosten finan-
ziert der Bund schon, aber Sie fordern immer noch ein
bisschen mehr. Sie müssen aber auch einmal da liefern,
wo Sie in der Verantwortung sind. Da passiert nämlich
überhaupt nichts.
Uns ist aber auch die Qualität der Ausbildung wich-
tig. Der Qualitätspakt Lehre ist schon angesprochen
worden. Auch hierbei gilt – das kann nicht oft genug
klargestellt werden –: Länder und Hochschulen müssen
ihren Beitrag zur Verbesserung von Studium und Lehre
leisten. Auch die Zuständigkeit für die Erzieherinnen
und Erzieher liegt bei Ländern und Kommunen. Darum,
liebe Linke, können wir Ihrem Antrag sicher nicht zu-
stimmen.
Danke schön.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Sönke
Rix.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In fast jeder Rede,zumindest vonseiten der Regierungskoalition, ist bisherangeklungen: Wir sind eigentlich gar nicht zuständigsind. Dafür sind die Länder zuständig. Wir können nurein paar kleine Programme machen. Was soll das ganzeGerede? – Wenn wir mit dieser Einstellung an den Aus-bau der Ganztagsschulen oder der Krippenplätze heran-gegangen wären, dann hätten wir uns in diesem Bereichnicht bewegt.
Ich finde – das sage ich insbesondere an die Adresse derKollegen der Unionsfraktion –, das hat dieses Thema
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14847
Sönke Rix
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nicht verdient. Man kann auch mit den Ländern gemein-sam Großes bewegen. Das haben Sie bisher versäumt.
Wir haben nicht nur unter Rot-Grün das Ganztags-schulprogramm auf den Weg gebracht, sondern wir ha-ben auch in der Großen Koalition das 4-Milliarden-Euro-Programm zum Ausbau der Krippenplätze voran-gebracht, obwohl wir auf Bundesebene eigentlich nichtdie Zuständigkeit dafür hatten. Wir haben uns aber mitden Ländern zusammengesetzt und gemeinsam in einemausgetüftelten Verfahren dafür gesorgt, dass wir Geld fürden Ausbau der Krippenplätze in die Hand nehmenkonnten. Sie aber sagen nun, da die nächsten Schrittefolgen sollen: Damit haben wir nichts zu tun; das müs-sen die Länder alleine machen. – So geht es nicht.
Dass wir in den Bereich Kindertagesstätten investierthaben, war wahrscheinlich schon ein zäher Akt von Frauvon der Leyen mit Blick auf die CDU/CSU-Fraktion undinsbesondere die CSU-Landesgruppe. Aber wir haben esgeschafft. Nun fehlen, wie gesagt, die weiteren Schritte.Der Ausbau stockt quantitativ und qualitativ. Wir brau-chen vor allem mehr und besser ausgebildetes Personal.Deshalb brauchen wir eine andere Ausbildung der Erzie-herinnen und Erzieher. Denn die Ansprüche und Anfor-derungen an frühkindliche Bildung – das haben die letz-ten Jahre deutlich gezeigt – sind zu Recht gestiegen.Der Kindergarten ist nicht mehr das, was er vor 20oder 30 Jahren in einer rein konservativen Ära war, näm-lich ein Aufbewahrungsort für Kinder, deren Eltern ge-rade nicht auf sie aufpassen konnten. Die Kindertages-stätte ist inzwischen ein Ort der frühkindlichen Bildung.Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir die Erzieher-ausbildung reformieren und vorantreiben und den Erzie-herberuf aufwerten.
Ein Blick auf andere europäische Staaten wie die Be-neluxstaaten und Skandinavien – Norwegen ist ein gutesBeispiel – zeigt, welchen Stand der Erzieher oder die Er-zieherin dort hat: Er steht ungefähr auf derselben Ebeneder beruflichen Hierarchie – wenn man es so sagenkann – wie die Lehrerin oder der Lehrer. In Schleswig-Holstein verdient ein Erzieher mit einer Ganztagsstelleetwa 1 800 Euro netto. Im Vergleich zum Lehrergehaltist das eine Katastrophe; denn wir erwarten von den Er-zieherinnen und Erziehern mindestens genauso viel wievon den Lehrerinnen und Lehrern.
Es bedarf nicht nur einer Initiative der Länder, son-dern einer Bund-Länder-Initiative, um den Erzieherberufaufzuwerten, und zwar durch eine bessere Bezahlung,mehr Aufstiegschancen und eventuell durch eine stär-kere Akademisierung dieses Berufsstands.Ich habe mich lange gefragt, woran es liegt, dass dasaufseiten der Regierungskoalition nicht erkannt wird.Wenn ich mir Ihre Vorschläge genau anschaue – leiderist niemand vom Familienministerium anwesend, ob-wohl Fachkräfte im Krippenbereich ein Thema für die-ses Ministerium wäre; offenbar hat man dort anderes zutun –, dann vermute ich, dass das am Rollenbild liegt.Nehmen wir als Beispiel das Programm für mehr männ-liche Erzieher in Kindertagesstätten. Ihrer Ansicht nachbrauchen männliche Arbeitslose – von denen gibt esgenügend – offenbar noch nicht einmal eine volle Aus-bildung, sondern nur eine Umschulung bzw. Weiterqua-lifizierung, um anschließend als Erzieher in Kinderta-gesstätten arbeiten zu können. Dieses Rollenbild führtdazu, dass der Erzieherberuf noch immer nicht den Stel-lenwert hat, den er eigentlich verdient.In diesem Zusammenhang muss man sich auch Ihr Fa-milienbild anschauen. Die bayerische Familienministerinhat gerade ein Betreuungsgeld in Höhe von 500 Euro ge-fordert. Das Geld, das dafür ausgegeben werden soll,sollte lieber in den Ausbau von Krippenplätzen und in dieQualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern inves-tiert werden. Wenn Sie Ihre Rollenbilder nicht verändern,dann verändern Sie auch nichts an der Qualität von Erzie-hung und Bildung. Daran sollten Sie als Erstes arbeiten.Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Florian Hahn für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der vorliegende Antrag spricht das Problemder Überalterung der Gesellschaft und – damit einherge-hend – auch des Lehrkörpers an. Dieses Problem habenwir schon längst erkannt.Die Bundesregierung scheut keinen finanziellen Auf-wand, um verbesserte Rahmenbedingungen in den Be-reichen Bildung und Erziehung zu schaffen. Das habenmeine Vorredner Ewa Klamt, Marcus Weinberg und an-dere bereits ausführlich dargestellt. Der in der letztenSitzungswoche präsentierte Haushalt des BMBF ist Zei-chen genug, dass der Bund seine durch den Föderalis-mus vorgegebene Verantwortung für die Bildungspolitikwahrnimmt. Aber auch für den Bildungsbereich gilt,dass all diese finanziellen Leistungen immer im Kontextmit dem finanziell Machbaren gesehen werden müssen.Damit haben die Antragsteller traditionell ein Problem.Das wissen wir alle, spätestens wenn wir auf die Haus-halte schauen, die Sie in den von Ihnen mitregiertenLändern verantworten.
Frühkindliche Bildung, Qualifizierung der Erziehe-rinnen und Erzieher, Schulen stärken, gehaltvolles Stu-
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Florian Hahn
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dium sichern – das sind unsere Ziele. Genau so steht esim Koalitionsvertrag. Trotz rückläufiger Kinderzahlenwird nicht weniger, sondern mehr Geld in Bildung ge-steckt. Mit Blick auf den vorliegenden Antrag ist festzu-halten, dass gerade die Bildungshoheit eine der wesentli-chen Gestaltungsräume der Länder ist. Der Bund wirddaher die Länder nicht aus ihrer – auch finanziellen –Verantwortung für das Bildungssystem entlassen.
Sie müssen selbst entscheiden, welche konkreten Maß-nahmen sie für ihre Region, für ihr Land brauchen.Ich komme genauso wie Frau Schieder aus Bayern,und wir in Bayern stehen hinter dem Föderalismusge-danken und dem Wettbewerb um die besten Konzepteund Ergebnisse unter den Ländern. Das ist Kern unsereserfolgreichen föderalen Systems; das wollen wir auchnicht antasten.
– Zu den Lehrern komme ich gleich, Frau Schieder. –Auffällig ist aber, dass im Vergleich immer wieder dieCDU/CSU-geführten Länder in den Rankings, bei PISAoder im Bildungsmonitor, besser abschneiden als die üb-rigen. Bayern hat derzeit – ich komme jetzt zu IhremEinwand, Frau Schieder – die höchste Lehrerzahl seitüber 60 Jahren. Noch nie haben in Bayern so viele Lehr-kräfte – hören Sie zu, Frau Schieder! – an staatlichenSchulen unterrichtet wie heute.
Trotz weiter rückläufiger Schülerzahlen – allein vomletzten auf dieses Jahr waren es 50 000 Schüler weniger –investiert Bayern in Lehrerstellen. Allein mit dem Dop-pelhaushalt 2011/2012 schafft die Landesregierungschulartübergreifend 3 873 neue Lehrerstellen. Das sindim Übrigen netto mehr als 2 000. Schaut man auf das bisletzten Sonntag rot-rot regierte Berlin, so stellt man fest,dass Berlins Schulen in den PISA-Studien immer zielsi-cher auf den unteren Plätzen landen.Dass in Berlin „arm, aber sexy“ das generelle Mottovon Rot-Rot unter Wowereit war und daraus resultierenddie Lehrer mit wesentlich weniger Geld nach Hause ge-hen als in anderen Bundesländern
– hören Sie einmal zu! –, wirkt sich natürlich auf dieMotivation der Lehrer aus. Hier muss eine neue Regie-rung in Berlin aufräumen, am besten unter CDU-Beteili-gung,
und richtige Anreize setzen, bevor Sie diese vom Bundfordern.Für uns zählen Qualität und individuelle Förderung.Deshalb halten wir von einem Bildungseinerlei nichts. Je-des Talent muss bestmöglich gefördert werden. Wichtigdabei ist die Durchlässigkeit des Systems. In Bayernschaffen wir übrigens zwei Dinge gleichzeitig: einen aus-geglichenen Haushalt – das schon seit sieben Jahren – undsteigende Investitionen in die Bildung unserer Kinder.
Natürlich werden zukünftig mehr Lehrerinnen undLehrer gebraucht. Die Zahlen der anstehenden Pensio-nierungen in den nächsten Jahren sind uns bekannt.
Die Hochschulen in Deutschland sind derzeit mit mehrals 2 Millionen Studienanfängern so attraktiv wie nie zu-vor. Deshalb ist es umso wichtiger für den Beruf desLehrers, des Pädagogen oder des Erziehers, die dafür be-fähigten Studenten zu finden und entsprechend auszubil-den. Ein Pädagogikstudium muss aus Berufung ergriffenwerden und darf nicht nur eine Notlösung darstellen,weil sonstige Karrierewege nicht eingeschlagen werdenkönnen.
Hier geht Qualität über Quantität. Daher geht die For-derung der Linken, 10 000 Lehrerinnen und Lehrer zu-sätzlich pro Jahr zur Verfügung zu stellen, völlig an derRealität vorbei. Wir brauchen kein neues Fachkräftepro-gramm, sondern eine konsequente Umsetzung der beste-henden Programme, Bildungsbündnisse, Bildungskettenund die Weiterentwicklung des Ausbildungspakts.
Die Länder erhalten für den Ausbau des Lehramts be-reits Unterstützung vom Bund aus dem Hochschulpakt.Ebenfalls bekommen sie Mittel vom Bund für die Erzie-herausbildung an Hochschulen.Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung mitihren Programmen von der frühkindlichen Erziehungüber die Betreuung in Kindergärten bis hin zu einer mitden Ländern abgestimmten Bildungspolitik die richtigenWeichenstellungen vorgenommen hat. Die Umsetzungliegt allerdings bei den Ländern. Der vorliegende Antragist daher abzulehnen.Vielen Dank.
Bei aller Kontroverse – eine Übereinstimmung hatdas Präsidium festgestellt: Die Redezeiten wurden vonallen Fraktionen ausgeschöpft.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel„Fachkräfteprogramm – Bildung und Erziehung – unver-züglich auf den Weg bringen“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7007,
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Vizepräsidentin Petra Pau
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den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/2019 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derUnionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die FraktionDie Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Bericht des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den DeutschenBundestagDie Tätigkeit des Petitionsausschusses desDeutschen Bundestages im Jahr 2010– Drucksache 17/6250 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwal-tung, die dem Petitionsausschuss das ganze Jahr über zurSeite stehen, aus diesem Anlass herzlich hier begrüßen.
Die fraktionsübergreifende Begrüßung gibt uns dieGelegenheit, die notwendigen Umgruppierungen hier imSaal so vorzunehmen, dass wir der ersten Rednerin zu-hören können.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsit-zende des Petitionsausschusses, die Kollegin KerstenSteinke.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Aus-schussdienstes! Meine Damen und Herren! In § 48 der„Geschäftsordnung für die constituirende Nationalver-sammlung“ in der Paulskirche 1848 hieß es – ich zitie-re –:Dem Petitions-Ausschusse ist ein bestimmter Tagin jeder Woche zur Vorlegung seiner Berichte ein-zuräumen. Erst nach völliger Erledigung dieser Be-richte kann zur anderweitigen Tagesordnung über-gegangen werden.Stellen Sie sich nur einmal einen Moment vor, dieserParagraf wäre in die Geschäftsordnung des DeutschenBundestages aufgenommen worden!
Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, meine liebenKolleginnen und Kollegen?
Aber keine Angst! Ich will bei weitem keine Eins-zu-eins-Übernahme fordern. Aber würde es wirklich scha-den, wenn wir uns in jeder Sitzungswoche eine StundeZeit nähmen, Petitionen im Plenum inhaltlich zu disku-tieren? Diese eine Stunde könnte manche nachfolgendePlenardebatte anders und nachdenklicher verlaufen las-sen.
Heutzutage stimmen wir im Parlament über soge-nannte Sammelübersichten ab, die die Beschlussem-pfehlungen des Petitionsausschusses enthalten. Für rund16 000 bis 18 000 Petitionen im Jahr ist das sicher einezeitsparende Lösung. Aber werden wir damit dem Herz-stück des Parlamentarismus, dem Art. 17 des Grundge-setzes, wirklich gerecht?
Immer wieder stellen wir fest, dass unsere Bürgerin-nen und Bürger sehr sensibel auf politische Maßnahmenund Reformen reagieren und sich an das Parlament wen-den. Die zahlreichen Briefe und Mails beweisen: VonPolitikverdrossenheit und Vertrauensverlust ist da wenigzu spüren. Diesem Vertrauensvorschuss könnten wirnoch besser gerecht werden, wenn wir Petitionen auchim Plenum diskutieren würden.Doch zurück zum Jahresbericht 2010. Im Durch-schnitt gingen 66 Zuschriften und Mails pro Werktagbeim Petitionsausschuss ein. Insgesamt waren es 16 849Petitionen. 5 780 davon, also mehr als ein Drittel, kamenauf elektronischem Weg – und das mit steigender Ten-denz. 15 993 Petitionen hat der Ausschuss im vergange-nen Jahr abschließend behandelt, inklusive einiger Über-hänge aus dem Vorjahr.Seit der Eröffnung der Internetplattform des Petitions-ausschusses im Jahr 2005 finden unsere Seiten einenständigen Zuspruch. Täglich wird auf diese rund150 000-mal zugegriffen, was einer monatlichen Klick-rate von über 4 Millionen entspricht. Das größte Inte-resse bei den Nutzerinnen und Nutzern der Internetseitengilt natürlich den öffentlichen Petitionen. Davon gab eseinige im vergangenen Jahr. Erinnern möchte ich an soerfolgreiche Petitionen wie die gegen die Einführung derambulanten Kodierrichtlinien mit fast 500 000 Unter-stützerinnen und Unterstützern oder die gegen die unzu-reichende Vergütung der Hebammen mit über 190 000Unterzeichnungen. Besonders im Herbst 2010 erhieltenwir viele Petitionen und Unterschriften gegen die Lauf-zeitverlängerung der AKW.Im Jahr 2010 haben sich 380 831 neue Nutzerinnenund Nutzer angemeldet. Sie haben sich aktiv in die Dis-kussion der verschiedenen Themen eingebracht, habenPetitionen mitgezeichnet oder kommentiert oder aber ei-gene Bitten und Beschwerden eingereicht. So weist dieStatistik die unglaubliche Zahl von 1 754 579 Mitzeich-nungen auf. Das ist mehr als eine Verdreifachung imVergleich zum Vorjahr und, ich denke, sehr beachtlich.Im Jahr 2010 tagte der Petitionsausschuss viermal öf-fentlich. Diese Sitzungen wurden im Parlamentskanal
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14850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Kersten Steinke
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und im Internet live übertragen. In den vier Sitzungenwurden zehn Petitionen beraten. Die Themen waren un-ter anderem die Sperrung von Internetseiten, das bedin-gungslose Grundeinkommen, der Verzicht auf weiterePrivatisierung von Gewässern, eine Reform der GEMAund die unzureichende Vergütung sowie die hohen Haft-pflichtprämien für Hebammen. Großen Zuspruch erhieltauch die Petition, welche die Verankerung eines Grund-rechts auf berufliche Ausbildung im Grundgesetz zumZiel hatte. Ihr haben sich 77 946 Unterzeichnerinnen undUnterzeichner angeschlossen.Doch wie so oft im Leben finden sich gegenteiligeMeinungen zu einem Thema auch in Petitionen. Hier einBeispiel: Eine Sammelpetition zur Verschärfung desWaffenrechts fand 15 584 Unterstützerinnen und Unter-stützer. Andererseits schlossen sich der Forderung nacheiner Liberalisierung des Waffenrechts 7 386 Mitzeich-nerinnen und Mitzeichner an.Meine Damen und Herren, kommen wir nun zu deneinzelnen Ressorts und den Themenschwerpunkten:Obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-les den größten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr zuverzeichnen hatte, nahm es dennoch mit 3 344 Petitionenweiterhin den ersten Platz ein. Erneut war die Grund-sicherung für Arbeitsuchende das Hauptthema, gefolgtvon Eingaben zum Bereich der gesetzlichen Rentenver-sicherung.
Das Justizministerium steht mit 2 067 Eingaben anzweiter Stelle. Themen waren hier beispielsweise dasUnterhalts- und Scheidungsrecht, das Sorgerecht beinichtehelichen Kindern und das Recht bei Vertragsab-schlüssen über das Internet. Gerade zu diesem Bereichgehen auch immer wieder Schreiben ein, in denen dieRevision von gerichtlichen Entscheidungen gefordertwird. Hier sind dem Ausschuss allerdings die Hände ge-bunden; denn Art. 97 des Grundgesetzes garantiert dierichterliche Unabhängigkeit. Somit liegen gewisse Ent-scheidungen außerhalb des Einflussbereiches des Peti-tionsausschusses.Beim Bundesministerium der Finanzen führen tradi-tionell die Eingaben zum Steuerrecht die Liste an. DasThema der Einkommensteuer steht nach wie vor an ers-ter Stelle. Es gab allerdings weniger Eingaben zur Kraft-fahrzeugsteuer, zum Bereich des Kredit- und Bankenwe-sens und zum Bereich des Wertpapierhandels.Beim Gesundheitsministerium dominiert das Thema„Beiträge zu den gesetzlichen Krankenkassen“, gefolgtvon Einwänden zu Leistungen der gesetzlichen Kran-kenkassen. Gestiegen ist die Zahl der Eingaben zum Be-reich des Arzneimittelwesens.Auch das Bundesministerium des Innern verzeichneteeinen Rückgang bei den Eingaben, und zwar von 1 952im Jahr 2009 auf 1 606 im vergangenen Jahr. Das Auf-enthalts- und Asylrecht mit rund 280 Eingaben bleibtaber weiterhin das Schwerpunktthema, gefolgt von Fra-gen zur Versorgung der Beamten oder zu dem neu einge-führten elektronischen Personalausweis.Ein großer Anteil entfiel auf Vorschläge zur Ände-rung des Wahlrechts und zur Einführung von Volksent-scheiden. Eine Reihe von Petitionen gab es auch zur Än-derung des Grundgesetzes, zum Beispiel die Forderungennach Einführung eines Grundrechtes auf Arbeit odernach Verankerung der Rechte von Kindern.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitglie-der des Ausschusses machen ihre Entscheidungen nichtnur von den ihnen vorliegenden Akten abhängig, son-dern sie verschaffen sich auch vor Ort einen persönli-chen Eindruck. So ging es bei zwei Ortsterminen um denLärmschutz an Schienenwegen und in einem weiterenFall um die Forderung nach Schließung eines Luft- undBodenschießplatzes der Bundeswehr.Ich möchte die heutige Debatte dazu nutzen, mich beiallen Ausschussmitgliedern zu bedanken, die sich mitviel Engagement in die immer wieder neue und sehr dif-ferenzierte Materie der einzelnen Anliegen einarbeitenmüssen. Es sind teilweise sehr tragische Einzelschick-sale, die die Ausschussmitglieder – das darf ich hier si-cherlich für alle Mitglieder des Petitionsausschusses sa-gen – vor schwerwiegende Entscheidungen stellen.Wenn wir dann gemeinsam den Petenten helfen können,sind wir auch gemeinsam froh. Wenn wir allerdings trotzAusschöpfens aller Möglichkeiten nicht helfen können,ist es für alle eine bittere Erfahrung. Die oft sehr ange-regten Diskussionen über die einzelnen Eingaben unddie Entscheidungen bezüglich des weiteren Vorgehensführen nicht immer zu einstimmigen Entscheidungen,aber sie sind dennoch ausschließlich von dem Ziel be-stimmt, das Beste für die Petentinnen und Petenten zuerreichen.Darüber hinaus möchte ich die Gelegenheit nutzen,mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern desPetitionsausschussdienstes für ihre fleißige Arbeit zu be-danken.
Sie sorgen dafür, dass mit einer dünnen Personaldeckebei stetiger Fluktuation auf der Sachbearbeiter- wie auchReferatsleiterebene kontinuierlich die vielen Eingabenund Akten bearbeitet, Stellungnahmen bewertet, Bericht-erstattergespräche, Ortsbesichtigungen und Obleute-gespräche vor- und nachbereitet werden. Das ist nichtimmer einfach, aber sie machen es fast ausnahmslos mitBravour. Dafür unseren herzlichen Dank.
Diesem Dank muss ich aber auch eine kritische An-merkung anschließen. Daran, dass ich in meiner nun-mehr sechsjährigen Amtszeit bereits den dritten Unter-abteilungsleiter verabschieden musste, habe ich michfast gewöhnt. Nicht gewöhnen kann und will ich michallerdings daran, dass wir als Petitionsausschuss binneneines Tages des Unterabteilungsleiters beraubt wurden,der für 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwort-lich ist, nach einer Woche dann eine Ausschreibung miteiner Frist von zwei Wochen erfolgte und wir im güns-tigsten Fall nach vier Wochen die Stelle neu besetzt be-kommen. Dieses Verfahren zeugt in meinen Augen vonwenig Achtung gegenüber der Arbeit des Petitionsaus-
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Kersten Steinke
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schusses und macht mich genauso unzufrieden wie diejährliche Platzierung der Debatte zum Jahresbericht aufder Tagesordnung des Deutschen Bundestages.Danke schön.
Der Kollege Günter Baumann hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auf die soeben gestellte Frage unserer Vor-sitzenden, ob wir mit unserem jetzigen VerfahrenArt. 17 Grundgesetz gerecht werden, möchte ich sehrgern antworten, und zwar mit einem ganz klaren Ja. Ichbin der festen Überzeugung, dass wir unserem Auftraggerecht werden.
Stellen Sie sich einmal vor, wir antworteten auf indi-viduelle Probleme und persönliche Anliegen, mit denensich die Bürger an uns wenden, im Rahmen einer Plenar-debatte. Bei den Sonntagsreden, die hier manchmal ge-halten werden, wäre das auf keinen Fall möglich, wobeiwir vom Thema Datenschutz überhaupt nicht reden wol-len. Ich glaube also, dass man das so nicht machen kann.Nicht umsonst tagen auch unsere Fachausschüsse in derRegel nichtöffentlich.Worum es bei der Arbeit im Petitionsausschuss gehtund welche Erfolge wir erreichen können, lässt sich ambesten anhand eines Beispiels darstellen. Eine Petentinhat sich 2005 an den Deutschen Bundestag gewandt undbegehrt, dass bei der Anrechnung einer Verletztenrenteaus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Renteaus der gesetzlichen Rentenversicherung keine unter-schiedlichen Freibeträge in Ost und West mehr ange-rechnet werden sollen – ein durchaus vernünftiges An-liegen. In der Stellungnahme hat das Ministerium fürArbeit und Soziales dem 2006 zunächst nicht Rechnungtragen können. Wir haben als Petitionsausschuss den Be-schluss gefasst, die Petition der Bundesregierung zur Be-rücksichtigung zu überweisen. Das ist das höchste Vo-tum, das es gibt. Wir haben die Petition weiter intensivverfolgt, haben Schreiben verfasst und Gespräche ge-führt. Seit dem 1. Juli 2011 ist das Thema erledigt. DasBundesversorgungsgesetz und andere Vorschriften wur-den geändert. Das heißt, die Freibeträge sind nunmehr inOst und West gleich.Dieses positive Beispiel zeigt, dass Petitionsarbeit er-folgreich sein kann, dass es manchmal aber viel Zeit undauch Hartnäckigkeit braucht. Wir müssen einfach dran-bleiben. Dann können wir für die Petentinnen und Peten-ten ein gutes Ergebnis erreichen. Als Abgeordneter ausden neuen Bundesländern freue ich mich natürlich überdiese Petition ganz besonders, weil es auf einem weite-ren Gebiet gelungen ist, den Unterschied zwischen Ostund West abzubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun-destag ist für jedermann auf direktem Wege zugänglich.Nach Art. 17 Grundgesetz hat jedermann das Recht, sichmit Bitten und Beschwerden an den Petitionsausschussdes Deutschen Bundestages zu wenden. Neben demWahlrecht und dem individuellen politischen Engage-ment, zum Beispiel in Parteien, bietet das Petitionsrechtdie Möglichkeit, sich direkt in die Politik einzubringen.Politische Beteiligung – darauf möchte ich besonderenWert legen – ist damit für die Menschen leicht erreich-bar. Wenige Mausklicks oder ein einfacher Brief reichenaus, um sich zu beteiligen.Von dieser Beteiligungsmöglichkeit haben 2010knapp 17 000 Bürgerinnen und Bürger Gebrauch ge-macht. Rechnet man Massenpetitionen, übergebene Un-terschriftenlisten und die elektronische Unterstützung imInternet hinzu, stellt man fest, dass sich etwa 1,8 Millio-nen Bürgerinnen und Bürger an unserem Petitionswesenbeteiligt haben. Ich denke, das ist ein sehr gutes Ergeb-nis.Die Zahlen belegen aus meiner Sicht eindrucksvoll:Erstens. Das Petitionswesen ist in unserem Land be-kannt und wird von den Bürgerinnen und Bürgern ge-nutzt.Zweitens. Die Menschen vertrauen uns, wenn es umdie Unterstützung bei individuellen Bitten und Be-schwerden und um die Lösung persönlicher Fragen geht.Drittens. Wir sind ständig aufgefordert, noch nicht ge-löste Probleme in der Politik anzupacken und zu bearbei-ten.Nach wie vor kommen, prozentual auf die Einwoh-nerzahl bezogen, die meisten Petitionen aus den neuenBundesländern. Auch wenn die Zahlen abnehmen, mussman sagen: Das Bild des „meckernden Ossis“ ist nochnicht ganz verblasst, aber es wird zumindest schwächer.Das Petitionswesen ist im vereinten Deutschland inzwi-schen auf beiden Seiten angekommen.
Es gibt bei Petitionen aber immer noch ganz spezielleOstthemen, zum Beispiel Rentenprobleme oder auch of-fene Vermögensfragen.Oft wird gefragt, wie erfolgreich wir sind. Auf dieseFrage möchte ich klipp und klar antworten: 2010 sind43 Prozent der eingegangenen Petitionen positiv für denPetenten ausgegangen. Das ist ein großer Erfolg, auf denwir stolz sein können.
An dieser Stelle möchte ich mich, genau wie die Vor-sitzende, im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
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Günter Baumann
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bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Aus-schussdienstes ganz herzlich für ihre Arbeit bedanken.
Ohne ihre sachliche Vorarbeit wäre eine Bearbeitungdurch uns nicht möglich. In manchen Fällen muss derAusschussdienst zwar aushalten, dass die Abgeordnetendann doch eine andere Meinung haben als der Aus-schussdienst; das gehört aber nun einmal dazu.Ich möchte mich auch bei meinen Kollegen in der Ar-beitsgruppe der CDU/CSU ganz herzlich bedanken. Wirsind eine dufte Truppe. Man merkt: Jedem macht esSpaß, jeder bringt sich ein. Das Anliegen, den Bürgerin-nen und Bürgern zu helfen, ist jedem eine Herzenssache.Mein herzlicher Dank gilt auch allen Mitgliedern imAusschuss, über Fraktionsgrenzen hinweg. Leider mussteich in den letzten Monaten jedoch feststellen, dass dieOpposition das Petitionsrecht zunehmend als politischePlattform nutzt. Das sollte so nicht sein.
– Kollege Lemme, das muss man schon einmal sagen. –Ich habe kein Verständnis für die teilweise eklatant ho-hen Voten der Opposition. Durch diese hohen Voten wer-den den Petenten falsche Hoffnungen gemacht. Ich habekein Verständnis dafür, dass Sie sehr oft Anträge aufDarlegung des Votierverhaltens stellen. Das ist nichtSinn der Sache. Bei über 90 Prozent der allein heute frühim Ausschuss behandelten Petitionen wurden von denOppositionsfraktionen Anträge auf Einzelausweisungnach 8.2.2 unserer Verfahrensregeln gestellt. UnsereVerfahrensgrundsätze sagen eigentlich etwas anderesaus.
– Bringen Sie es ein; dann reden wir darüber. – Das Pe-titionsrecht ist nicht für Populismus oder politische Pro-filierung da; das muss man eindeutig sagen.
Für uns in der CDU/CSU-Arbeitsgruppe ist ganz klar:Das Problem des Petenten steht im Mittelpunkt. Wirmöchten uns um die ganz konkreten Fälle kümmern undsie realistisch bewerten. Wir wollen dem Bürger helfen,soweit dies möglich ist. Der Petitionsausschuss ist keinFachausschuss, das muss deutlich gesagt werden.Ich möchte zum Schluss ein Beispiel aus unserer Ar-beit nennen. Wir hatten vor kurzem einen Ortstermin aneiner Bahnstrecke in Boizenburg. Dort stand das ThemaLärmschutz im Mittelpunkt. Es ging um Wohnhäuser, diedirekt an einer Bahntrasse mit 179 Zugfahrten pro Tagstehen. Das führte natürlich zu einer enormen Lärmbeläs-tigung. Wir haben dort erreicht, dass die Priorisierungs-kennziffer auf 3,198 erhöht wurde. Das Umsetzungs-zeitfenster der Lärmschutzmaßnahme wurde außerdemwesentlich verkürzt. Wir haben also konkret geholfen,wenn auch nicht sofort gebaut wird.Der größte Lohn für unsere Arbeit war ein Schreibender Petenten, in dem zu lesen war – ich darf zitieren –:Vielen Dank für Ihren Einsatz und Ihre Bemühungen,dass sich unsere Lage in Bezug auf den Bahnlärm ver-bessert, vor allen Dingen, dass Sie sich persönlich vonder Wichtigkeit einer Schallschutzmaßnahmen über-zeugt haben.Fazit: Wir haben Vertrauen gewonnen, Politikverdros-senheit abgebaut und sind der Lösung des Problems nä-her gekommen. Diesen erfolgreichen Weg möchten wirweiter beschreiten.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Sonja Steffen hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterdes Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Die meisten von uns Mitgliedern des Petitionsaus-schusses können inzwischen auf zwei Jahre Tätigkeit zu-rückblicken. Vermutlich geht es Ihnen so wie mir: DieArbeit in diesem Ausschuss macht viel Freude, weil siekonkrete Einzelfälle und Lebensschicksale betrifft. Esgeht um Themen, die mitten aus dem Leben unserer Bür-gerinnen und Bürger kommen. Uns Parlamentariern wirdüber die Petitionen der Unmut über bestimmte politischeEntscheidungen vor Augen geführt. Wir werden aufMissstände in der Verwaltungspraxis und auf Fehler undLücken in Gesetzen aufmerksam gemacht. Diese Rück-koppelung ist für uns als Kontrollinstanz gegenüber derBundesregierung und als Gesetzgeber von großer Be-deutung.Heute Morgen haben wir im Petitionsausschuss da-rüber debattiert, ob wir bei Gesetzentwürfen mitberatendtätig werden sollten. In diesem Zusammenhang lag unseine Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vor. Lei-der haben Sie sich, meine Kolleginnen und Kollegen vonder Regierungskoalition, geweigert, ein mitberatendesVotum abzugeben, mit der Begründung, Herr Baumann– ich zitiere –: Das hat der Petitionsausschuss noch niegemacht.
Ich muss Ihnen hier deutlich widersprechen. Geradedurch die Einsicht in konkrete Einzelfälle können wir inbestimmten Bereichen einen wichtigen und kompetentenBeitrag leisten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14853
Sonja Steffen
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Das Wissen, das wir durch Petitionen gewinnen, dieRückkoppelung zur Bevölkerung darf im parlamentari-schen Verfahren nicht unberücksichtigt bleiben.
Kollegin Steffen, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
gen Kauder?
Ja.
Bitte.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Frau Kollegin Steffen, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass wir uns nicht verweigert haben, sondern
dass wir prüfen lassen werden, ob wir in diesem Fall zu-
ständig sind? Wenn Sie es besser gewusst hätten, hätten
wir gerne mit abgestimmt. Aber wir wussten es alle
nicht.
Herr Kollege Kauder, ich gebe Ihnen darin recht.
So war es. Wir lassen die Zuständigkeit prüfen. Aber Siewerden mir recht geben, dass Ihr Kollege Baumannvorab gesagt hat, dass es im Petitionsausschuss nicht üb-lich sei, dass wir bei Gesetzentwürfen mitberatend tätigwerden können.
Das Petitionsrecht ist das einzige Mittel der direktenBeteiligung des Volkes auf der Bundesebene. Wir müs-sen diesem Recht auch an dieser Stelle die ihm zukom-mende Bedeutung beimessen.Wir haben heute Morgen außerdem über eine öffentli-che Petition mit 1 400 Unterstützerunterschriften bera-ten, die sich erneut gegen Niedriglöhne und sittenwid-rige Gehälter wendete; Sie werden sich erinnern. Unserreichen sehr viele Petitionen, die einen gesetzlichenund flächendeckenden Mindestlohn fordern. Sie sehen,meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungs-koalition, auch diese Forderung kommt mitten aus demVolk. Wir hoffen, dass sie in absehbarer Zeit auch in Ih-ren Köpfen ankommt,
damit endlich eine gesetzliche Umsetzung erfolgenkann.Auch dieser Jahresbericht zeigt wieder, dass die ver-hältnismäßig meisten Petitionen aus den neuen Bundes-ländern kommen. Brandenburg steht hinsichtlich derZahl der eingereichten Petitionen auf Platz eins, gefolgtvon allen anderen neuen Bundesländern auf den Rängenzwei bis sechs. Den letzten Platz unter den Bundeslän-dern nimmt übrigens Baden-Württemberg ein. Spiegeltsich in der Zahl der Eingaben aus den einzelnen Bundes-ländern vielleicht auch die Zufriedenheit der Bürgerin-nen und Bürger wider? Ich denke, Herr Baumann, wirsind uns einig: Es liegt nicht am meckernden Ossi. Aberich glaube, dass wir im Osten besondere, spezifischeProbleme haben, die bisher nicht gelöst werden konnten.
Gerade im Bereich der Ostrenten erreicht uns einegroße Zahl von Petitionen. Sie haben vorhin auf ein Bei-spiel hingewiesen, das wir lösen konnten. Aber die Pro-bleme sind immer noch vielfältig und die gefühlte Unge-rechtigkeit ist hier besonders groß.
Ich denke, viele von uns sind sich darin einig, dass wirdas nicht einfach so stehen lassen können.
20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschenEinheit ist ein Unterschied zwischen Ost- undWestrenten nicht mehr erklärbar und auch nicht mehrhinnehmbar. Ich möchte Sie, meine Kolleginnen undKollegen von der Koalition, wieder einmal an Ihren Ko-alitionsvertrag erinnern. Sie haben dort vereinbart, sichdes Themas anzunehmen. Es muss eine gerechte Anglei-chung der Renten noch in dieser Legislaturperiode ange-stoßen werden; das haben Sie formuliert. Im Petitions-ausschuss können wir mit unseren Voten in dieserHinsicht einen ersten Schritt tun.
Ich muss leider ein bisschen auf die Uhr schauen. Ichhatte vor, noch einige Ausführungen zum Bereich Visa-vergabepraxis, Aufenthaltsrecht und Asylrecht zu ma-chen. Aber ich denke, Herr Dr. Ott, Sie werden sich die-ses Themas annehmen. Ich meine, dass wir auf diesemGebiet noch eine Menge tun könnten und tun sollten,und glaube, dass wir gerade in diesem Bereich mit unse-rer Hartnäckigkeit einen wichtigen Teil zu guten Ent-scheidungen beigetragen haben.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich uns alle lo-ben. Es gab Petitionen, bei denen wir alle gemeinsam
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Sonja Steffen
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und fraktionsübergreifend auf Einzelfälle erfolgreichEinfluss nehmen konnten. Ich möchte mich deshalb andieser Stelle bei allen Ausschusskollegen ausdrücklichfür die kooperative Zusammenarbeit bedanken.
Es sind auch und gerade solche schwierigen Einzelfälle– darauf haben Sie schon hingewiesen, Frau Vorsitzen-de –, die uns durch einen erfolgreichen Abschluss für dieintensive und sehr zeitaufwendige Arbeit im Petitions-ausschuss belohnen.Mein besonderer Dank – wir haben das vorhin schongehört; die Vorsitzende hat es bereits ausgesprochen, Sieauch, Herr Baumann, und ich möchte mich anschlie-ßen – gilt an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern des Ausschussdienstes. Durch ihre hervorra-gende und gründliche Arbeit können sie viele Eingabender Bürgerinnen und Bürger bereits im Vorfeld lösen. Sienehmen uns eine Menge Arbeit ab und stehen uns immerzur Verfügung, wenn es Rückfragen gibt und eine ge-nauere Aufklärung erforderlich ist.Der konkrete Einsatz für die Menschen und ihre An-liegen macht den Petitionsausschuss so bedeutend. Ichhoffe auch weiterhin auf eine gute Zusammenarbeit unddanke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als Nächster spricht nun der Kollege Dr. Peter
Röhlinger für die FDP-Fraktion.
Ich bin es als früherer OB gewohnt, nach einem Kon-
sens zu suchen. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir – so
wie auch heute – einen ganzen Teil der Beschlussvorla-
gen sehr schnell einstimmig beschließen können. Im
Bundestag ist das sonst durchaus nicht üblich; aber in
unserem Ausschuss kommt es mehrheitlich vor.
Im Übrigen werden einige Petitionen an die zuständi-
gen Ministerien weitergeleitet, und zwar, wenn wir den
Inhalt für so wichtig halten, dass er weiter bearbeitet
werden sollte, wir jedoch keine Abhilfe leisten können.
Petitionen machen uns Abgeordnete darauf aufmerk-
sam, mit welchen Problemen Bürgerinnen und Bürger
manchmal zu kämpfen haben, wo sie Ungerechtigkeiten
erfahren, wo Gesetze unzulänglich sind, wo sie sich über
wuchernde Bürokratie ärgern oder sich von Behörden im
Stich gelassen fühlen. In vielen Fällen – auch das muss
gesagt werden – können wir allerdings nicht helfen. Zum
Beispiel entscheidet natürlich nicht der Bundestag da-
rüber, welche Medikamente von der Krankenversiche-
rung bezahlt werden und welche nicht. Die Fristen, die
die Bundesagentur für Arbeit setzt, wenn es zum Bei-
spiel um den Leistungsbezug geht, kann der Deutsche
Bundestag nicht in jedem Einzelfall individuell anpas-
sen.
Wichtig ist mir aber, dass jeder Beschluss so gut wie
möglich erklärt und so verständlich wie möglich begrün-
det wird.
Jeder Petent soll merken, dass sein Anliegen verstanden
worden ist. Auch wenn wir dem Anliegen nicht abhelfen
können, soll er zumindest verstehen, warum wir nicht
helfen können. Ich bin von Beruf Tierarzt und damit ei-
ner der wenigen Nichtjuristen im hochheiligen Petitions-
ausschuss. Ich verstehe die vielen Zuschriften von Men-
schen, die ein Papier sehen und das Gefühl haben, sie
bräuchten jemanden, der ihnen das übersetzt.
Ich gebe mir also Mühe. Wenn ich es verstehe, gehe ich
davon aus, dass es auch der Empfänger versteht.
Mir fällt aber auf, dass das Wissen darüber, wie unser
demokratischer Rechtsstaat, zum Beispiel die Gewalten-
teilung, funktioniert, manchmal etwas lückenhaft ist. Es
ist Petenten manchmal nicht bewusst, dass der Petitions-
ausschuss weder Gerichtsurteile beeinflussen noch Be-
hörden Anweisungen geben kann. Hier gibt es noch viel
Aufklärungsbedarf. Wir sind dabei, die Öffentlichkeits-
arbeit des Ausschusses weiter zu verbessern.
Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass wir 2010
zehn Petitionen in öffentlicher Sitzung beraten haben.
Auch dadurch erhalten wir eine gewisse Aufmerksam-
keit. Etliche Petitionen haben über einen längeren Zeit-
raum mehr als 50 000 Unterstützer gefunden. Der Peti-
tionsausschuss ist dadurch bekannter geworden. Wir
sollten diese Möglichkeiten also durchaus nutzen.
Ich sehe, dass mich die Präsidentin mahnen will, mich
kurz zu fassen.
Die Präsidentin ist schon ganz glücklich, dass die
Rednerinnen und Redner das bei diesem Tagesordnungs-
punkt zur Kenntnis nehmen; das ist ein Fortschritt.
Ich will noch zwei Gedanken äußern:Erstens. Ich freue mich, dass sich nicht nur Bundes-bürger an uns wenden können, sondern alle, die in derBundesrepublik Deutschland zu Hause sind und in unse-rem Lande leben.Zweitens. Das deutliche Wachstum bei den Onlinepe-titionen zeigt, dass wir eine neue Generation erreichen.Wir brauchen nicht zu fürchten, dass eine Facebook-Ge-neration die Regierung stürzt. Denn sie kann sich vollerVertrauen an uns wenden. Dadurch können wir ein Stückweit Frust abbauen.
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Dr. Peter Röhlinger
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Ich bedanke mich bei Ihnen herzlich für die Aufmerk-samkeit, aber zuvörderst bei Ihnen, Frau Steinke, derVorsitzenden des Petitionsausschusses, für die nach mei-ner Ansicht wohltuende Atmosphäre – ich hoffe, wirkönnen das so fortsetzen –
und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für diefleißige Unterstützung.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Dr. Hermann Ott das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Geehrte Mitglieder des Ausschuss-dienstes! Heute Morgen erst hatten wir unsere Sitzung.So sehr ich mich auch freue, Sie alle hier wiederzusehen,muss ich doch sagen: Eigentlich würde ich hier gerne einpaar Leute mehr sehen. Eigentlich müsste das Plenumjetzt rappelvoll sein,
wenn auch nicht so voll wie bei der Elefantenrunde – dasist klar –; denn natürlich können wir bei der Debatte überden Jahresbericht des Petitionsausschusses keine impo-santen Großtiere aufbieten, keine Merkels, Steinmeiers,Gysis oder Trittins, die mit viel Getöse aufeinander los-gehen. Die Bude müsste aber trotzdem voll sein, weil alleMitglieder des Bundestages an unserer Debatte interes-siert sein müssten; denn der Petitionsausschuss deckt dengesamten Bereich, das gesamte Spektrum des Bundesta-ges und der Politik ab. Wir, die wenigen Mitglieder desAusschusses, vertreten die fachlichen Interessen all unse-rer mehr als 600 Kolleginnen und Kollegen.Die doch recht überschaubare Zahl unserer Zuhörerim Plenum versinnbildlicht deshalb ein kleines Problem:Unserem Ausschuss fehlt es an Glanz; er gilt nicht alscool. Umso wichtiger ist es, Ihnen zuallererst für diegute Zusammenarbeit zu danken. Dazu gehört natürlichauch der Dank an diejenigen, ohne die wir überhauptnicht arbeitsfähig wären, an die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter des Ausschussdienstes, in den Fraktionenund in unseren Büros. Danke für Ihren hervorragendenEinsatz im letzten Jahr!
Dadurch konnten wir die nicht unbeträchtliche Arbeitdes Ausschusses bewältigen. Ich bin ja im „Nebenberuf“auch klimapolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion undfreue mich deshalb, dass sich der Bereich der Umwelt-politik so gut entwickelt hat: Die Anzahl der umweltrele-vanten Petitionen ist um 15 Prozent gestiegen. Die An-zahl der Petitionen, die sich auf den Bereich desVerbraucherschutzes und der Landwirtschaft beziehen,ist sogar um 45 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass dieMenschen Umwelt- und Verbraucherschutz ernst neh-men, und das ist auch gut so.Aber es gibt natürlich viel Raum für Verbesserungen,viel Raum, um dem Petitionsausschuss mehr Glanz undBedeutung zu verleihen, um an die Anfangsbemerkunganzuschließen, zum Beispiel durch Verbesserungen inBezug auf die öffentlichen Petitionen. Eine der wichtigs-ten Fragen ist natürlich: Wie lang sollte die Zeichnungs-frist für die 50 000 Unterschriften sein, die man braucht,damit eine Petition öffentlich im Ausschuss beraten wird?Im Moment stehen dafür gerade einmal drei Wochen zurVerfügung. Das ist zu schaffen, wie die Petition zur Inter-netsperre und vor ein paar Tagen die Petition zur Vorrats-datenspeicherung gezeigt haben, aber nur mit einem sehrgut organisierten Netzwerk im Hintergrund; denn es istdoch so, dass die Menschen auch im Zeitalter der elektro-nischen Kommunikation eine gewisse Zeit brauchen, umauf öffentliche Anliegen zu reagieren. Es macht deshalbSinn, diesen Zeitraum zu verlängern. Wir haben acht Wo-chen vorgeschlagen. Die Kolleginnen und Kollegen vonder FDP können sich anscheinend einen ähnlichen Zeit-raum vorstellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassenSie uns das zusammen machen. Verbessern wir die demo-kratische Mitwirkung für alle Menschen in Deutschland.
Dieser Aufruf richtet sich natürlich vor allem an dieKolleginnen und Kollegen von der Union. Ja, Sie hörenrichtig. Diesmal ist es nicht Ihr Koalitionspartner, dereine sachgerechte Politik erschwert, sondern Sie selbst.Arbeiten Sie mit an der Schaffung eines demokratischenPetitionsrechts.
Auf Ihrer Webseite klingt das anders – ich zitiere –:Allerdings ist immer wieder darauf hinzuweisen,dass der Petitionsausschuss … kein Instrument zurdirekten Demokratie ist.
Zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn mandie Entwicklung des Petitionsrechts nicht wahrhabenwill. Es stimmt: Im Mittelalter war dieses Recht als Gna-denrecht ausgestaltet. Aber – meine Damen und Herrenvon der Union, Sie wissen, was jetzt kommt – wir lebennicht mehr im Mittelalter.
Vielmehr haben wir durch die öffentlichen Petitionendie Möglichkeit geschaffen, dass Einzelne, aber auchGruppen von Bürgerinnen und Bürgern Gesetzesinitiati-
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Dr. Hermann Ott
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ven anstoßen können. Dieses Instrument nutzen sie inScharen.
Kollege Ott, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Kauder?
Nein, danke.
Das Volk setzt sich über das Instrument der elektroni-
schen Petition direkt für eine bessere Politik ein – erin-
nern Sie sich an einige unserer Beratungen –: Sie setzen
sich zum Beispiel für ein bedingungsloses Grundein-
kommen ein und dafür, den Klimaschutz ins Grundge-
setz aufzunehmen. Wenn das kein Instrument der direk-
ten Demokratie ist, dann weiß ich nicht, was das sein
soll. Wir geben den Menschen die Möglichkeit, ihre An-
liegen mit öffentlicher Unterstützung direkt hier im Bun-
destag vorzutragen. Wir fördern das Interesse und die
Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger an der Politik
und an der Demokratie. So soll es sein.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, werbe ich für etwas mehr Mannesmut und natür-
lich auch Frauenmut vor Königsthronen. Helfen Sie mit,
alle Fraktionen vom Wert dieses demokratischen Instru-
ments zu überzeugen und es zu verbessern. Damit tun
wir einen großen Dienst an der Demokratie und an den
Menschen, und nebenbei verleihen wir dem Petitions-
ausschuss und seinen Mitgliedern etwas mehr Lametta,
wie der Berliner sagt. Das ist, so meine ich, unser aller
Anstrengung wert.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kauder das
Wort.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Herr Kollege Ott, wenn Sie es uns nicht gesagt hätten,
wären wir fast geneigt gewesen, zu meinen, wir seien im
Mittelalter. Sie haben so argumentiert. Für uns ist die
Verfassung maßgeblich. Wenn Sie Art. 17 des Grundge-
setzes lesen, wissen Sie, warum wir damit keine direkte
Demokratie einführen, sondern ein Beschwerderecht:
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Ge-
meinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die
Volksvertretung zu wenden.
Es geht nicht um Volksbefragung, sondern um ein Be-
schwerderecht. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu neh-
men.
Sie haben das Wort zur Erwiderung, Kollege Ott.
Lieber Herr Kollege Kauder, Sie zitieren natürlich
ganz richtig, aber dort steht nicht, dass die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes nicht Anregungen zur Gesetz-
gebung geben dürfen. Um nichts anderes geht es in die-
sem Fall. Man wendet sich mit Anliegen an den Petitions-
ausschuss und weist auf eine Lücke in der Gesetzgebung
hin oder auf etwas, das falsch geregelt ist und verbessert
werden sollte. Der Petitionsausschuss kann sich dies an-
hören und dann sagen: Ja, das finden wir auch, wir schla-
gen vor, dass eine entsprechende Gesetzesregelung im
Bundestag getroffen wird. Es kann auch sein, dass er es
nicht so sieht wie der Petent. Auch das ist das gute Recht
des Petitionsausschusses. Es geht hier nicht um direkte
Entscheidungen des Volkes, sondern um Anregungen,
was – das möchte ich betonen – nicht wenig ist. Ich
denke, wir sind in diesem Lande auf diesem Gebiet ein
gutes Stück vorangekommen.
Vielen Dank.
Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Paul Lehrieder für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Herr Dr. Ott, am Schluss Ihrer Ausfüh-rungen, als Sie sich den Petitionsausschuss mit Lamettavorgestellt haben, musste man schmunzeln. Der Bürgererwartet von uns aber kein Lametta, keinen vordergrün-digen Glanz, er erwartet die Lösung seiner Probleme. Ichglaube, wir sollten uns nicht mit Lametta behängen, son-dern wir sollten Probleme lösen.
Die Mitglieder des Petitionsausschusses mögen zwarweniger im Rampenlicht stehen als die Mitglieder ande-rer Ausschüsse, jedoch kann ich aus meiner nunmehrfast sechsjährigen Tätigkeit im Petitionsausschuss bestä-tigen, dass es keinen anderen Ausschuss gibt, in demman als Volksvertreter eine so unmittelbare Berührungmit den Anliegen der Wählerinnen und Wähler erfährt.Getreu unserem Grundsatz „Näher am Menschen“ ver-
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Paul Lehrieder
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stehen wir uns als Anwälte der Menschen. Im verfas-sungsrechtlich verankerten Petitionsausschuss, demSeismografen des Parlaments, erfahren wir als Erstes,wo den Wählerinnen und Wählern der Schuh drückt undwas sie beschäftigt, und erhalten so das notwendigeFeedback und Antworten auf die Frage, wo Korrekturbe-darf besteht.Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dasssich immer mehr Bürger dieses grundlegenden Rechtsbewusst werden, es anwenden und sich von uns Hilfeversprechen. Wie Sie sich sicherlich denken können, istdies besonders im Bereich „Arbeit und Soziales“ derFall, für den ich im Petitionsausschuss schwerpunktmä-ßig Bericht erstatten darf. Das Ressort „Arbeit und So-ziales“ ist, wie auch in den letzten Jahren, mit etwa20 Prozent der Eingaben – im letzten Jahr waren es3 344 – das Ressort mit den meisten Zuschriften. ZumAufschrei von einigen Kollegen aus der Linkspartei, lie-ber Kollege Birkwald, liebe Kollegin Kipping, das seienso viele, muss ich sagen: Dies indiziert nicht, dass es einAnwachsen gibt bzw. dass die Probleme in diesem Be-reich zugenommen haben. Diese Regierungskoalitionhat eine gute Arbeit gemacht. Deshalb gibt es hier einenRückgang um 20 Prozent.
Von den Themen her bildet mit etwa 1 000 Petitionenerneut die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach demSGB II das Schwergewicht der Eingaben. Erlauben Siemir ein konkretes Beispiel. In einer Petition im Berichts-jahr 2010 kritisierte der Petent, dass die ALG-II-Emp-fänger im Rahmen der ihnen zustehenden Geldleistun-gen einen Zuschuss zur Krankenversicherung erhielten,der jedoch nicht den Tarif der privaten Krankenversiche-rung abdeckte. Aufgrund der für den Leistungsempfän-ger weiterhin bestehenden Pflicht, Beiträge für die Kran-kenversicherung zu zahlen, sammelten sich für dieDauer der Hilfsbedürftigkeit in zunehmender HöheSchulden an, die er in keiner Weise vermeiden könne.Der Petitionsausschuss war hier bereits lange vor dementsprechenden Urteil des Bundessozialgerichtes derAuffassung, dass diese Rechtslage unhaltbar ist, und sahdie Petition als begründet an, und zwar parteiübergrei-fend; einige Redner haben bereits darauf hingewiesen.Wir sind ja an vernünftigen Ergebnissen orientiert. Es istwirklich wohltuend – auch das kann ich bestätigen –,dass die offizielle Parteidoktrin hier in der Regel keinegroße Rolle spielt, sondern dass man wirklich um sach-orientierte Lösungen bemüht ist.
Wie gesagt: Der Petitionsausschuss sah die Petitionals begründet an. Auf Empfehlung des Ausschussesüberwies der Deutsche Bundestag die Eingabe der Bun-desregierung zur Berücksichtigung und verband hiermitdie Aufforderung, Abhilfe zu schaffen. Dies bestätigteauch das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom18. Januar 2011, wonach ein privat krankenversicherterBezieher von ALG-II-Leistungen die Übernahme seinerunterhalb des hälftigen Höchstbetrages zur gesetzlichenKrankenversicherung liegenden Beiträge zur privatenKrankenversicherung im Wege einer analogen Anwen-dung der für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversi-cherung versicherte Personen geltenden Regelung vondem SGB-II-Träger beanspruchen kann. Damit ist dasBundessozialgericht konsequenterweise dem Votum desPetitionsausschusses gefolgt.
An diesem Beispiel können Sie sehen, dass der Peti-tionsausschuss in konkreten Fällen Probleme zu lösenund Abhilfe zu schaffen vermag.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie am vorange-gangenen Beispiel deutlich wurde, münden die Anlie-gen, die die Bürger gegenüber dem Bundestag vortragen,häufig in konkrete Entscheidungen und Korrekturen. Fürden Petenten ist wichtig, zu sehen, dass das Petitions-recht nicht, wie so oft behauptet, ein stumpfes Schwertin der Hand des Bürgers ist, sondern durch die Befas-sung des Petitionsausschusses direkt zu einem öffentli-chen Anliegen wird.Ich darf Ihnen, Frau Kollegin Steinke, bestätigen: Siehaben sich auch im vergangenen Jahr redlich bemüht,den Ausschuss sachlich sowie fachlich korrekt und neu-tral zu führen. Dafür ein herzliches Wort des Dankes!
Ebenfalls darf ich mich sehr herzlich bei den Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschusses bedan-ken. Wir machen es Ihnen nicht immer leicht; aber ichglaube, im Großen und Ganzen können Sie mit uns Ab-geordneten ganz gut leben. Ich darf mich auch bei denKolleginnen und Kollegen meiner Fraktion bedanken.Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit und darauf,dass wir den Bürgern als ihre Anwälte auch in dennächsten Jahren helfen können!Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Remmers für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterdes Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Dies ist nun meine zweite Rede zu einem Jahresbe-richt des Petitionsausschusses. Ich kann sagen: Dieser
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Ingrid Remmers
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Ausschuss ist nach wie vor so lebendig wie kein anderer.Wir sind schließlich diejenigen, die anhand der oft sehrumfangreichen Akten einen Eindruck davon bekommen,welche tatsächlichen Auswirkungen Bundesgesetze inder Umsetzung haben und welche daraus entstehendenZustände unhaltbar sind. Ich freue mich immer dann be-sonders, wenn auch die Regierungskoalition ein Einse-hen hat und bereit ist, ihren Ministerien mal auf die Füßezu treten. Anerkennen möchte ich, dass in unseren Be-richterstattergesprächen fast immer eine sehr konstruk-tive Atmosphäre herrscht und oft Lösungen für die Pe-tentinnen und Petenten gefunden werden können.Ganz im Gegensatz dazu habe ich mich in der Ver-gangenheit sehr darüber geärgert, wie in den öffentlichenAusschusssitzungen manchmal mit den anwesenden Pe-tentinnen und Petenten umgegangen wird. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wir alle in diesem Ausschuss soll-ten uns darüber im Klaren sein, dass die Petentinnen undPetenten hier ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrneh-men und einen Anspruch darauf haben, dass über ihreAnliegen sachlich diskutiert wird.
Den Bürgerinnen und Bürgern ist mit reinen Ab-sichtserklärungen nicht geholfen. Solange die Forderun-gen im Kern nicht erfüllt sind, ist dem Anliegen nichtentsprochen worden. Ein Beispiel dafür ist die Forde-rung nach Einführung einer Finanztransaktionsteuer– dafür wurden mehrere Zehntausend Unterschriften ge-sammelt –, auch wenn inzwischen erfreulicherweise et-was Bewegung in die Diskussion über diese so wichtigeFrage gekommen ist. Es zeigt sich, dass öffentliche Peti-tionen tatsächlich wichtige Anstöße geben und einewichtige Unterstützung darstellen können.Ein weiteres Beispiel ist die öffentliche Petition derHebammen, über die ich bereits im letzten Jahr gespro-chen habe; sie hatte über 190 000 Unterstützerinnen undUnterstützer.Die freiberuflichen Hebammen wehren sich noch im-mer gegen die astronomisch gestiegenen Prämien für dieBerufshaftpflichtversicherung und gegen die viel zuniedrige Vergütung ihrer Arbeit durch die Krankenkas-sen. Sowohl im Ausschuss als auch durch die anwesen-den Vertreter des Ministeriums wurde Verständnis ge-heuchelt. Passiert ist nichts!
Immer mehr freiberuflich tätige Hebammen müssendie Betreuung von Hausgeburten aufgeben, ganze Ge-burtshäuser müssen schließen. Wenn wir hier nicht end-lich etwas tun, dann ist die Wahlfreiheit für die werden-den Mütter künftig eben nicht mehr gewährleistet.
Der zu der öffentlichen Ausschusssitzung geladenedamalige Staatssekretär Bahr hat diese Problematik imZuge seiner Beförderung offensichtlich erfolgreich ver-drängt.
Er kann sich aber sicher sein, dass wir ihn auch in seinerneuen Aufgabe als Gesundheitsminister an die Hebam-men erinnern werden.
Besonders hervorheben möchte ich noch eine Peti-tion, die ich im letzten Jahr als Berichterstatterin vorlie-gen hatte und die mich sehr berührt hat. Die Petentinnenund Petenten aus NRW sind sogenannte Kontingent-flüchtlinge, also ehemals sowjetische Staatsbürger jüdi-schen Glaubens. Sie erhalten in Deutschland die Grund-sicherung im Alter.Diese Petenten, die noch die Schrecken des Krieges,unter anderem im belagerten Leningrad, erleben muss-ten, bekommen von der russischen Regierung einekleine Entschädigungsrente von rund 80 Euro im Monat.Diese Kriegsentschädigung wird ihnen von deutschenSozialämtern nun plötzlich auf die Grundsicherung an-gerechnet. Mit der fadenscheinigen Begründung, mankönne im Bescheid ja nicht erkennen, ob es sich tatsäch-lich um eine Entschädigungszahlung handelt, kürzen So-zialämter die Grundsicherung um 80 Euro. Menschenjüdischen Glaubens, die unter dem deutschen Angriffs-krieg gelitten haben, werden von deutschen Sozialäm-tern um ihre Kriegsentschädigung gebracht. Dass dieseUnterschlagung nicht überall angewandt wird, sondernüberwiegend in besonders armen Kommunen, macht dieSache nicht wirklich besser. Sie ist und bleibt ein Skan-dal!
Neben diesen Einzelpetitionen erfreuen sich die öf-fentlichen Petitionen im Internet – wir haben es ebenmehrfach gehört – mittlerweile einer derartigen Beliebt-heit, dass der Ausschuss beschlossen hat, seine Verfah-rensgrundsätze anzupassen und entsprechend zu verbes-sern.Wir als Linke begrüßen dabei ganz besonders denVorschlag der FDP-Fraktion – wem Lob gebührt, dersoll Lob haben –, ab 100 000 Unterstützungsunterschrif-ten innerhalb von zwei Monaten das Anliegen zumThema einer Bürgerstunde im Plenum zu machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mitdiesem Vorgehen würde bewiesen, dass die Politik ebennicht taub und blind für die Anliegen von großer gesell-schaftlicher Relevanz ist.Auch wenn hier eben die Diskussion darüber entstan-den ist, ob das im Petitionsrecht ursprünglich vorgese-hen war: Wir haben diese Regelung geschaffen, und wirmüssen der Realität, dass die Menschen dieses Instru-ment nutzen, jetzt auch ins Auge sehen. Deswegen un-
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Ingrid Remmers
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terstützen wir als Linke auch den Vorschlag, diese Anlie-gen anschließend in die Fachausschüsse zu überweisenund daraus konkrete Anträge und Gesetzentwürfe zu ent-wickeln. Ich hoffe sehr, dass diese hervorragende Initia-tive – ehrlich: die Linke hätte es kaum besser machenkönnen – von allen Regierungsparteien mitgetragenwird. Sie wäre ein echter Schritt zu mehr Demokratie inunserem Land.
Zu guter Letzt möchte auch ich mich im Namen mei-ner Fraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterndes Ausschussdienstes für ihre engagierte, kompetenteund zuverlässige Arbeit bedanken.Herzlichen Dank.
Der Kollege Andreas Mattfeldt spricht nun für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DerParlamentarische Rat hat das Petitionsrecht 1949 richti-gerweise in die Verfassung geschrieben. Seit 1975 hatder Petitionsausschuss sogar einen festen Platz imGrundgesetz. Nicht viele Ausschüsse in diesem HohenHaus haben Verfassungsrang. Deshalb sage ich deutlich:Der Petitionsausschuss ist etwas ganz Besonderes.
Trotz dieser Vorbemerkung muss ich allerdings zuge-ben, dass ich am Anfang skeptisch war, als mir gesagtwurde, ich solle nicht nur Mitglied im Haushaltsaus-schuss, sondern auch noch Mitglied im Petitionsaus-schuss sein. Viele dienstältere Kolleginnen und Kollegensagten mir: Herrje, du Armer. Na ja, Mattfeldt, da musstdu durch, das mussten andere neue Abgeordnete auch.
Ich wusste nicht, was mich erwartet. Aber prinzipiellwar ich schon davon überzeugt, dass das Petitionsrechtein richtiges, vor allem aber auch ein wichtiges Recht fürunsere Bürger ist.Gerade in meiner vorangegangenen Tätigkeit als Bür-germeister habe ich vielen Menschen dort, wo mir per-sönlich in meiner Tätigkeit die Hände gebunden waren,geraten, sich an den Petitionsausschuss des DeutschenBundestages zu wenden.
Ich habe ihm also Arbeit beschert.Auch ich würde mir wünschen, Herr Ott, dass die Ar-beit des Ausschusses sowohl nach außen als auch nachinnen, also innerhalb des Parlaments, mehr Gehör findet.Ihre Vorschläge werden dazu allerdings nicht beitragen.
Ich denke, gerade mit der Arbeit, die wir im Petitions-ausschuss leisten, können wir die Politikverdrossenheitin der Bevölkerung ein Stück weit mildern.
So können wir in diesem Ausschuss doch direkt und un-mittelbar den Bürgern helfen, die ungerecht behandeltwurden oder uns auf eine Gesetzeslücke aufmerksammachen.Von den knapp 17 000 im letzten Jahr eingereichtenPetitionen klang so manche Petition, um es vorsichtig zuformulieren, etwas seltsam. Zahlreiche waren – lassenSie mich das durchaus kritisch formulieren – parteipoli-tisch ambitioniert und betrafen reine Fachpolitik, diedurch die Fraktionen in den Fachausschüssen abgearbei-tet gehört und nicht in den Petitionsausschuss, der ohne-hin schon mit großer Arbeit belastet ist.
Ich sage das deshalb, weil eine Vielzahl der Petitionen esmehr als wert ist, viel Arbeit in sie zu investieren. DieseZeit darf nicht geklaut werden.So haben wir beispielsweise vor einigen Wochen imAusschuss eine Petition beraten, die gefordert hat, dassunsere Soldaten, die im Auslandseinsatz für unser allerSicherheit sorgen, kostenlos mit ihren Familien telefo-nieren können und das Internet kostenfrei benutzen dür-fen. Nach meinem Dafürhalten sind wir unseren Solda-tinnen und Soldaten das schuldig. Ich hoffe sehr, dassunser in diesem Fall sehr hohes Votum umgesetzt wird;denn das Geld, das wir hier mehr ausgeben, kommtwirklich bei den Menschen an. So können wir unserenSoldatinnen und Soldaten sowie deren Familien ein Si-gnal geben, dass wir ihr Engagement im Auslandsein-satz, insbesondere in Afghanistan, würdigen und ihnenden notwendigen Kontakt in die Heimat ermöglichen.
Dieser Fall steht stellvertretend für viele andere Fälle.Er lässt uns eine positive Bilanz unserer gemeinsamenArbeit im Petitionsausschuss im Jahr 2010 ziehen undzeigt, dass wir konkret den Menschen helfen können.Lassen Sie mich als ehemaligen Hauptverwaltungsbe-amten aber ein wenig Wasser in den Wein gießen; dennfür mich wird die Bilanz ein wenig dadurch getrübt, dasseinige Kolleginnen und Kollegen der Opposition unsereVerwaltungen auf kommunaler, landes- oder auch bun-despolitischer Ebene bei Petitionen von Bürgern nahezuunter Generalverdacht stellen.
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14860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Andreas Mattfeldt
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Meine Kolleginnen und Kollegen, ein wenig mehr ge-sunde Kritik gegenüber einigen Petenten und ein wenigmehr Vertrauen in unsere Verwaltungsmitarbeiter wärenfür mich wünschenswert und angebracht.
Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Masseder Verwaltungsmitarbeiter oder Vollzugsbeamten indiesem Land eine hervorragende Arbeit leistet und dievom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmenbedingungenumsetzt.Es gibt kaum Nationen, die über eine derart fachlichgute wie effektive Mitarbeiterschaft verfügen – das trifftauch auf die Mitarbeiter des Ausschussdienstes zu – wiewir in Deutschland. Ich denke, das darf und sollte bei al-lem Wohlwollen gegenüber Petenten gesagt werden.Deshalb mein Rat, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition: Bitte benutzen Sie die Petitionennicht als parteipolitische Spielbälle! Ich denke, dannwird es uns auch weiterhin sehr viel Spaß machen, indiesem Ausschuss gemeinsam für die Menschen etwaszu bewegen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Steffen-Claudio Lemme für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte die Debatte dazu nutzen, um aufder Grundlage meiner Erfahrungen der letzten zweiJahre als Mitglied im Petitionsausschuss zu sagen, wieich diese Arbeit empfinde.Ich kann sagen, dass der Petitionsausschuss eine ArtSeismograf meiner politischen Arbeit geworden ist, dassdie Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürgerdirekt in mein politisches Handeln einfließen. Dies trifftinsbesondere natürlich auf die fachpolitische Arbeit imGesundheitsausschuss zu.In den Fachausschüssen bestimmt in der Regel dasgroße Ganze unser politisches Handeln. Wir richten un-sere Positionen und Entscheidungen sehr sachorientiertaus. Symbolisch ist hierfür die Verwendung des Prädi-kats „alternativlos“ anzuführen, das im vergangenen Jahrzum Unwort des Jahres gekürt wurde. Seien wir docheinmal ehrlich: Jeder von uns hat dieses Wort sicherlichmehr als einmal in den Mund genommen.Hier eben droht Gefahr. Immer wieder ist von Politik-verdrossenheit und von der Realitätsferne der Politik dieRede, wird der Vorwurf der Distanz zwischen Bürgerin-nen und Bürgern und Abgeordneten erhoben. Uns, liebeKolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses, diewir das tägliche Klein-Klein der Menschen beim Lesenjeder einzelnen Petitionsakte vor uns haben, kommt indieser Frage eine besondere Verantwortung zu. Wir ha-ben die unmittelbare Aufgabe, die Anliegen der Men-schen in die fachpolitischen Debatten einzubringen undletztlich auch in konkretes politisches Handeln mündenzu lassen.
Jüngst hat mir gegenüber die Vertreterin eines Betrof-fenenverbandes ihr Unverständnis darüber zum Aus-druck gebracht, dass sich die Fraktionen bei vielen The-men im Großen und Ganzen einig seien, es aber zukeinem gemeinsamen politischen Handeln komme.Auch hier gehen wir im Petitionsausschuss mit gutemBeispiel voran. Es freut mich jedes Mal, wenn ein Votumzu einer Petition über die Fraktionsgrenzen hinweg Zu-stimmung findet.
– Das liegt auch im Besonderen an den Koalitionsfrak-tionen, Herr Baumann.
Lassen Sie uns doch an der guten Praxis festhalten.Sorgen wir gemeinsam für ein höheres Maß an Öffent-lichkeit unserer gemeinsamen Entscheidungen. Das kannsich nur positiv auf die Arbeit des Parlaments auswirken.Gerade weil Petitionen nach wie vor das einzige Instru-ment direkter Mitgestaltung auf Bundesebene sind, schla-gen wir Sozialdemokraten vor, den Weg der Modernisie-rung des Petitionsrechts konsequent fortzusetzen.
Ziel muss es sein, die Transparenz der Petitionsver-fahren weiter zu erhöhen und erweiterte Mitwirkungs-rechte, insbesondere mit Blick auf die Beteiligung imInternet, zu schaffen. Ich bekräftige vor diesem Hinter-grund die Forderung meiner Fraktion nach deutlich mehröffentlichen Beratungen des Petitionsausschusses sowieeiner Verlängerung der Zeichnungsfrist von Petitionenauf acht Wochen.
Darüber hinaus sollten wir die Möglichkeit schaffen,dass Petitionen künftig einfach per E-Mail eingereichtwerden können, und das Recht zur Mitzeichnung vonPetitionen sollte auch ohne Registrierung im Onlinepor-tal des Deutschen Bundestages möglich sein.Ein weiterer Punkt ist uns wichtig. Die Diskussionenvon Bürgerinnen und Bürgern im Petitionsforum solltenin den Empfehlungen des Ausschussdienstes zwingendBerücksichtigung finden. Letztlich liegt es an den Koali-
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Steffen-Claudio Lemme
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tionsfraktionen, gemeinsam mit uns das Petitionsrechtbürgernäher zu gestalten.
Mir bleibt nur noch, mich für die gute Zusammenar-beit zu bedanken, insbesondere bei Ihnen, Frau Steinke,weil Sie als Vorsitzende Ihre Arbeit unparteiisch erledi-gen. Herzlichen Dank auch an den Ausschussdienst.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck , Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf
Eheschließung für Personen gleichen Ge-
schlechts
– Drucksache 17/6343 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf unsererFraktion zur Einführung des Rechts auf Eheschließungfür Personen gleichen Geschlechts. Warum tun wir das?Allen Menschen steht die gleiche Würde und der glei-che Respekt vor ihren Rechten zu: Homosexuellen wieHeterosexuellen. Wenn diese Grundannahme richtig ist,die auch in Art. 3 unserer Verfassung verankert ist, derdie Gleichheit vor dem Gesetz vorsieht, dann gibt es kei-nen Grund, für Menschen unterschiedlicher geschlechtli-cher Orientierung verschiedene Rechtsinstitute bereitzu-halten.Wir haben mit der eingetragenen Lebenspartnerschaftdamals unter Rot-Grün Neuland betreten. Wir waren daserste große Land in Europa, das etwas für die rechtlicheAnerkennung und Gleichstellung homosexueller Part-nerschaften getan hat. Wir sind bis heute noch nicht beider vollständigen Gleichstellung angekommen, aber eswar damals ein großer Schritt. Wir waren Vorreiter indieser Entwicklung. Heute haben wir die rote Laterne.Inzwischen ist die Zeit vorangegangen, und es gibtkeinen Grund und keine Akzeptanz mehr in der Gesell-schaft für die Benachteiligung und Diskriminierung ho-mosexueller Partnerschaften.
Deshalb schlagen wir vor, bei dem Sonderweg der Le-benspartnerschaft, der ein historischer Kompromiss miteiner Sozialdemokratie war, die damals noch nicht soweit gehen und denken wollte, die Konsequenzen zu zie-hen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öff-nen. Denn es gibt keinen Grund für eine weitere Unter-scheidung. Das würde uns von all den quälendenDiskussionen entbinden, die auch Sie als FDP in der Ko-alition leidvoll mit Ihrem Koalitionspartner führen müs-sen: Wie machen wir es beim Adoptionsrecht und beimSteuerrecht? Nächste Woche reden wir über das Vertrie-benengesetz. Es wäre ein Beitrag zur Entbürokratisie-rung und ein massiver Beitrag zur Gleichstellung derSchwulen und Lesben in unserer Gesellschaft.
Die Frage, ob die Ehe für gleichgeschlechtliche Paaregeöffnet werden muss, hat bereits 1993 aufgrund derAktion Standesamt des Lesben- und Schwulenverbandsdas Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Das Bundes-verfassungsgericht hat damals gesagt, der Gesetzgebersei nicht gezwungen, die Ehe für gleichgeschlechtlichePaare zu öffnen, weil die Beschwerdeführer noch keinehinreichenden Anhaltspunkte für einen grundlegendenWandel des Eheverständnisses in dem Sinne vorgetragenhätten, dass der Geschlechtsverschiedenheit keine prä-gende Bedeutung mehr zukäme. Sie haben diesen Wan-del aber ausdrücklich für möglich gehalten. Ich meine,dass einige Argumente darauf hindeuten, dass dieserWandel inzwischen stattgefunden hat.
Die Menschen draußen im Lande sagen: „Was wolltihr denn? Die Homosexuellen können doch heiraten. Ichkenne welche, die auf dem Standesamt geheiratet ha-ben.“ Sie unterscheiden nicht zwischen Verpartnerungund Verheiratung, zwischen Lebenspartnerschaft undEhe, obwohl die Rechte noch unterschiedlich sind, wasunfair ist und vom Bundesverfassungsgericht hinrei-chend gerügt wurde.Die Menschen in unserem Land sind inzwischenüberwiegend für die Öffnung der Ehe. Eine Studie derFriedrich-Ebert-Stiftung ist zu dem Ergebnis gekommen,dass 60,3 Prozent der Bevölkerung der Aussage zustim-men: Es ist gut, Ehen zwischen zwei Frauen bzw. zweiMännern zu erlauben. Das heißt, der Einstellungswandelin unserer Gesellschaft ist durch die Lebenspartnerschafterheblich vorangeschritten.
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Volker Beck
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Das Bundesverfassungsgericht selbst und der Gesetz-geber, dieses Hohe Haus, messen der Geschlechtsver-schiedenheit bei der Ehe keine entscheidende Bedeutungmehr zu. Im Transsexuellenurteil hat das Bundesverfas-sungsgericht gesagt, dass sich jemand nicht scheiden las-sen darf, bevor er eine Geschlechtsumwandlung vor-nimmt, und dem Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben,die Geschlechtsverschiedenheit zu verteidigen. Davonhaben wir keinen Gebrauch gemacht. Wir lassen dieLeute verheiratet und transponieren sie nicht in eingleichwertiges Ersatzinstitut. Das zeigt: Wir glauben sel-ber nicht mehr an die Geschlechtsverschiedenheit derEhe. Ihr kommt inzwischen weder verfassungsrechtlichnoch einfachrechtlich eine prägende Bedeutung zu.Zahlreiche Länder haben sich auf den Weg gemacht undhaben – das ist die internationale Entwicklung im Fami-lienrecht – die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ge-öffnet. Erst diese Woche hat die britische Regierung er-klärt, bis 2015 diesen Weg zu gehen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Andere Länder wie die Niederlande, Belgien, Spa-
nien, Kanada, Südafrika, Norwegen, Schweden, sechs
Bundesstaaten der USA, Mexiko-Stadt –
Herr Kollege!
– ich komme zum Schluss; so viele Länder sind es
dann doch nicht –,
Portugal, Island und Argentinien haben diesen Weg be-
schritten. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass sich
Deutschland ebenfalls auf den Weg macht und sagt:
Gleiche Rechte für Lesben und Schwule! – Das sind wir
den Bürgerinnen und Bürgern aus Respekt schuldig. Öff-
nen wir die Ehe! Nach zehn Jahren Lebenspartnerschaft
ist die Gesellschaft reif für die Ehe von gleichge-
schlechtlichen Lebenspartnern.
Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichkönnte jetzt die Liste der Länder in Europa, die über-haupt keine Regelungen zu Lebenspartnerschaften oderdie gleiche Rechtslage wie wir in Deutschland, also ein-getragene Lebenspartnerschaften, haben, beliebig ergän-zen. Herr Kollege Beck, eines sollten Sie zur Kenntnisnehmen. Das materielle Recht ist noch immer Angele-genheit der Nationalstaaten.
Zur Sache. Wir haben in den letzten zehn Jahren im-mer wieder diese Thematik besprochen, zuletzt vor runddrei Monaten. Sie haben erwähnt, dass die eingetrageneLebenspartnerschaft 2001 eingeführt wurde. In der Fol-gezeit gab es immer wieder Anpassungen, zum Beispielbei den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Wo Pflichtenbegründet werden, müssen auch Rechte dahinterstehen.Wir haben alle Änderungen sukzessive vorgenommen.Der letzte Antrag der SPD auf eine entsprechende An-passung des öffentlichen Dienstrechts hatte sich über-holt, weil es auf Bundesebene bereits angepasst wurde.Auch die Rechtslage bei der Schenkungsteuer und derErbschaftsteuer wurde entsprechend angepasst. Sie ha-ben gesagt, dass die ewige Diskussion über eine Anpas-sung des Adoptionsrechts beendet sei, wenn gleichge-schlechtliche Lebenspartner die Ehe eingehen könnten.In dieser Wahlperiode wird es weder die Ehe noch einAdoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partner geben.
– Seien Sie tolerant, und lassen Sie mich ausreden! – Zu-mindest in dieser Wahlperiode wird es das alles nicht ge-ben.Da Sie das Bundesverfassungsgericht bemüht haben,Herr Kollege Beck, möchte ich aus der Entscheidung desBundesverfassungsgerichts zu diesem Thema aus demJahr 2002 zitieren:Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des ge-sellschaftlichen Wandels und der damit einherge-henden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung be-wahrt und durch das Grundgesetz seine Prägungbekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung ei-nes Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer ange-legten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiemEntschluss unter Mitwirkung des Staates …
Das hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblickauf Art. 6 des Grundgesetzes klar und deutlich beschrie-ben. Auch die Entscheidung vom Januar 2011 zum Trans-sexuellenrecht besagt nichts anderes. Das Bundesverfas-sungsgericht hat noch bis vor wenigen Monaten mitkeinem Wort beanstandet, dass die Ehe Heterosexuellenvorbehalten ist. Gleichgeschlechtliche Lebenspartner er-leiden dadurch keinerlei Nachteile und werden auchnicht diskriminiert. Für sie gibt es die eingetragene Le-benspartnerschaft. Sie haben weiter die Ungleichbe-handlung beim Einkommensteuerrecht angesprochen.Sie reklamieren, dass das Ehegattensplitting auf die Le-benspartnerschaften nicht angewendet wird. Gleichzeitigkritisieren Sie aber in jeder Debatte das Ehegattensplit-ting. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie möch-ten.
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Ute Granold
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Des Weiteren geht es um das Adoptionsrecht. Fürmich ist die Volladoption ein wichtiges Anliegen. DieStiefkindadoption wurde inzwischen gesetzlich geregelt.Das haben wir als Union mittlerweile akzeptiert. Aberdie Fremdkindadoption ist ein Thema, über das wir nichtdebattieren werden.
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Die Kollegin lässt keine Zwischenfrage zu.
Es geht hier nämlich nicht darum, dass Rechte für Er-
wachsene begründet werden, um irgendwelche politi-
schen Ziele durchzusetzen, sondern es geht um das Wohl
der Kinder.
Die Kinder sind zu schützen; denn die Kinder haben
keine Lobby. Kinder, die keine Mutter und keinen Vater
mehr haben und die zur Adoption freigegeben werden,
haben schon eine Vorbelastung. Wenn sie dann noch in
eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft gegeben wer-
den, gegen die es Vorurteile gibt, dann kann es zu weite-
ren Belastungen für die Kinder kommen. Im Zweifel
muss sich der Gesetzgeber schützend vor die Kinder
stellen.
Es gab eine Anhörung im Rechtsausschuss zu diesem
Thema. Wenn man im Protokoll der Sitzung die Äuße-
rungen der Sachverständigen nachliest, dann stellt man
fest
– ich war bei der Anhörung dabei; viele von Ihnen hier
waren nicht da –, dass gerade bei der Fremdkindadop-
tion das Kindeswohl absolut im Vordergrund stehen
muss.
Deshalb wird es mit uns eine solche Adoption nicht ge-
ben, auch nicht über den Umweg einer Änderung des
§ 1353 BGB.
Die eingetragene Lebenspartnerschaft hat nahezu alle
Rechte, die auch Ehepaare haben. Es gibt also für Ihr Be-
gehren keinen sachlichen Grund. Der Verfassungsgeber
hat seinerzeit in der Verfassung festgeschrieben, dass die
Ehe privilegiert ist. Es geht um die Verbindung zwischen
Mann und Frau und die Gründung einer Familie. Die
Privilegierung soll den Müttern und Vätern vorbehalten
bleiben; sachliche Gründe, das zu ändern, gibt es nicht
und sind auch nicht vorgetragen worden. Wir haben uns
in den letzten zehn Jahren mit keinem Thema so oft und
so intensiv wie mit diesem Thema befasst, zuletzt vor
drei Monaten. Es gibt keinen Grund, dass wir die
Rechtslage zur Adoption nun über den Umweg der Ehe
ändern. Das birgt verfassungsrechtliche Probleme, das
bedarf nämlich einer Verfassungsänderung. Sie kennen
die Mehrheitsverhältnisse.
Mit uns wird es diese Änderung nicht geben, auch
wenn Sie in drei Monaten erneut einen entsprechenden
Antrag stellen. Es wird dabei bleiben, dass die Ehe, also
die Verbindung von Mann und Frau, für die Union privi-
legiert ist und bleibt. Es wird auch keine Fremdkind-
adoption geben.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Deut-sche Bundestag hat im Jahr 2001 das Rechtsinstitut dereingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich einge-führt. Damit haben gleichgeschlechtliche Paare erhebli-che Verbesserungen ihrer rechtlichen Situation erhalten.Die Entscheidung eines Menschen für eine Ehe oder eineLebenspartnerschaft ist kaum trennbar von seiner sexuel-len Identität. Frauen und Männer müssen Wahlmöglich-keiten bezüglich ihrer Lebensbegleitpersonen haben.Eine daraus resultierende Ungleichbehandlung ist nichtgerechtfertigt.
Gleichstellung muss jedoch in vielen Bereichen auchnach der Einführung der Lebenspartnerschaften noch ge-richtlich erkämpft werden. Es bestehen nach wie vorzwischen der eingetragenen Lebenspartnerschaft und derEhe Unterschiede, die die Lebenspartner erheblichschlechter stellen. Dies betrifft in erster Linie das Steuer-recht und das Adoptionsrecht. Wir haben vorhin schongehört: Es ist bis zum heutigen Tag nicht möglich, dassgleichgeschlechtliche Paare gemeinsam ein Kind adop-tieren. Im Rahmen der öffentlichen Anhörung desRechtsausschusses des Deutschen Bundestages am6. Juni 2011 vertrat die Mehrzahl der Sachverständigen– Frau Granold, da haben Sie wahrscheinlich nicht zuge-hört, oder Sie haben das Protokoll nicht gelesen –
die Auffassung, dass die derzeitige Ungleichbehandlungvon Lebenspartnern und Eheleuten gerade aus Gründendes Kindeswohls nicht gerechtfertigt ist.
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14864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sonja Steffen
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Dennoch ist eine Änderung des Gesetzes bislang nichterfolgt. Auch steuerlich ist eine Gleichstellung der Le-benspartnerschaft bislang nicht vorhanden.Vielleicht können sich einige von Ihnen noch erin-nern: Bereits bei der Einführung des Lebenspartner-schaftsgesetzes im Jahr 2001 bedurfte es eines politi-schen Schachzuges. Es wurden damals nämlich zweiTeile beschlossen. Der eine Teil war das nicht zustim-mungsbedürftige Lebenspartnerschaftsgesetz, und derandere Teil war ein von der Zustimmung des Bundes-rates abhängiges Ergänzungsgesetz. Das erste regelt dasZusammenleben der Partner in zivilrechtlicher Hinsicht.Das zweite sah damals schon Gleichstellungen imSteuer- und Beamtenrecht vor. Dieses Ergänzungsgesetzist seinerzeit im Bundesrat letztlich am WiderspruchBayerns gescheitert.Seitdem sind viele gerichtliche Entscheidungen indiesem Zusammenhang ergangen. Herr Beck hat vorhinschon einige genannt. Ich will das gern ergänzen. 2009hat das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligungder Lebenspartnerschaft bei Betriebsrenten im öffentli-chen Dienst für verfassungswidrig erklärt. 2010 hat dasBundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung auchauf das Erbschaftsteuerrecht ausgeweitet. Schließlichhaben wir alle im Jahressteuergesetz 2010 die Gleich-stellung von Ehegatten und Lebenspartnern im Erb-schaftsteuerrecht, im Schenkungsteuerrecht und imGrunderwerbsteuerrecht eingeführt. Sie sehen: DieRechtsprechung hat uns gezeigt, dass es so, wie es imAugenblick ist, verfassungsrechtlich schwierig ist.Die einkommensteuerrechtliche Gleichstellung vonEhe und Lebenspartnerschaft steht immer noch aus. Ehe-gatten können ihr Einkommen zusammen veranlagen.Sie können ihre Steuerklasse wählen. Das ermöglicht ih-nen niedrige Steuersätze. Aber Lebenspartner haben die-ses Recht nicht. Sie können nur nach Steuerklasse I be-steuert werden. Damit werden sie genauso besteuert wieLedige oder Menschen in nichtehelichen Lebensgemein-schaften. Begründet wird diese unterschiedliche Be-handlung von den Finanzgerichten bis zum heutigenTage stets mit dem Verweis auf Art. 6 Abs. 1 Grundge-setz – Sie haben es vorhin erwähnt –; sie argumentieren,diese Vorschrift vom besonderen Schutz der Ehe und Fa-milie erlaube es dem Gesetzgeber, die Ehe gegenüberanderen Formen des Zusammenlebens steuerlich zu pri-vilegieren. Aber das Grundgesetz gibt das nicht her.Auch ist das Vorhandensein gemeinsamer Kinder nichterforderlich, um als Ehepaar den Splittingvorteil in An-spruch nehmen zu können.Meine Damen und Herren, diese Ungerechtigkeit istin der heutigen Zeit nicht mehr tragbar.
Es steht zu erwarten, Frau Granold, dass diese überholteAuffassung beim Bundesverfassungsgericht keinen Be-stand haben wird. Dort sind einige Verfassungsklagenanhängig. Wir werden sehen, was bei der Einkommen-steuer geschieht.Ehe und Lebenspartnerschaft sind beide auf Dauerangelegt. Sie begründen eine gegenseitige Einstands-pflicht. Die gesetzlichen Unterhaltspflichten von Ehe-leuten und Lebenspartnern sind vergleichbar. Die Öff-nung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts wirdweitere langwierige Prozesse verhindern und zu einerendgültigen Gleichstellung führen. Die gegenwärtigePraxis diskriminiert immer noch Homosexuelle und istaus rechts- und gesellschaftspolitischer Sicht nicht mehrzeitgemäß.
Herr Kollege Beck, Sie haben schon die Länder ge-nannt, in denen die Eheschließung von Homosexuellenbereits Normalität ist.
– Genau! Ich hätte Ihnen vielleicht die Zeitnot ersparenkönnen. Ich belasse es dabei, will an dieser Stelle abernoch einmal auf Großbritannien hinweisen. Dort gibt eseine konservative Regierung. Selbst diese Regierung hatangekündigt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paarenoch in der laufenden Legislaturperiode zu öffnen. Da-mit entscheidet sich übrigens das zwölfte Land Europasfür die Öffnung der Ehe.Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass Deutsch-land damals beim Lebenspartnerschaftsgesetz Vorreiterwar. Ich denke, wir laufen jetzt Gefahr, dass wir bei die-sem wichtigen Schritt für Gerechtigkeit und gegen Dis-kriminierung hinterherhinken.
Unsere Fraktion begrüßt daher den Gesetzentwurf derFraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ziel der Öff-nung der Ehe für Homosexuelle.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wir beraten einen Gesetzentwurf der Grünen zurEinführung des Rechts auf Eheschließung für Personengleichen Geschlechts. In der Gesetzesbegründung ist zulesen, dass ein gewandeltes Verständnis von Ehe und Fa-milie in der Gesellschaft mit tragend für diesen Gesetz-entwurf ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14865
Stephan Thomae
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Das sehen auch wir so. Wie soeben zu hören war, zeich-net auch die Rechtsprechung diesen Weg nach.Ich will einmal wiederholen, was in dieser Legislatur-periode von dieser Regierung in der Sache bereits getanund erreicht worden ist. Zum einen haben wir beimThema Grunderwerbsteuer erreicht, dass die Übertra-gung von Grundstücken unter Lebenspartnern steuerfreigeschieht, so wie das auch unter Eheleuten der Fall ist.Das ist ein Punkt, bei dem Sie zugestehen werden, dasser in dieser Legislaturperiode umgesetzt worden ist.
– Ja, das wüssten Sie gern, wie wir das gemacht haben.Ein zweiter Punkt ist das Thema Erbschaftsteuer. Dagelten seit dieser Legislaturperiode für Lebenspartnerwie für Eheleute gleiche Freibeträge. Auch das ist einPunkt, von dem wir sagen können: Das haben wir in die-ser bürgerlichen Regierung umgesetzt.
Ein dritter Punkt – Herr Kollege Lischka, ich kommegleich dazu, wie es weitergeht – ist das Thema Beamten-recht. Da haben wir zwei Punkte umgesetzt. Der eine be-trifft die Beamtenbesoldung. Für verheiratete und ver-partnerte Beamte gilt die gleiche Besoldung. Wir habenbei der Hinterbliebenenversorgung und den Krankenkos-ten für Lebenspartner von Beamten eine Verbesserungerreichen können. Das sind drei Punkte, bei denen wir indieser bürgerlichen Regierung Verbesserungen durchge-setzt haben.Jetzt fehlen noch ein paar Dinge; da haben Sie völligRecht. Man kommt in solchen Dingen eben nur Schrittfür Schritt voran. Das ist einmal das Thema Einkom-mensteuer. Hier wollen wir darauf hinarbeiten, dassSplittingregeln, die für Ehepartner gelten, auch auf Le-benspartner Anwendung finden. Da ist zum anderen dasThema, das gerade schon unentspannt diskutiert wordenist, nämlich das Thema Adoptionsrecht. Wie bereits ge-sagt wurde, ist die Adoption von Stiefkindern möglich.Aber es gibt kein Adoptionsrecht für Paare. Nun, das se-hen wir in der FDP etwas entspannter als vielleicht unserKoalitionspartner. Aber ich sagte schon: Man muss insolchen Dingen Schritt für Schritt vorangehen. SteterTropfen höhlt den Stein.
– Wir wollen das. Aber, wie gesagt, man muss sich daauch ein bisschen Zeit geben.Wir haben in dieser Angelegenheit also bereits Fort-schritte erzielt. Wir haben uns für die Rechte gleichge-schlechtlicher Paare erkennbar eingesetzt, haben Erfolgeerzielen können. Das sollten Sie auch einräumen. Wirwerden beharrlich weiter daran arbeiten. Ich wiederhole:Gutta cavat lapidem, sagt der Allgäuer: Steter Tropfenhöhlt den Stein. Wir arbeiten weiter an der völligenGleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Ir-gendwann wird man sagen – vertrauen Sie darauf –: DieSache riecht wie eine Ehe. Sie schmeckt wie eine Ehe.Sie hört sich an wie eine Ehe. Sie schaut aus wie eineEhe. Warum soll man nicht auch Ehe dazu sagen?Vielen Dank.
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indieser Debatte geht es nicht nur um die Öffnung der Ehefür Lesben und Schwule. Es geht darum, ob alle Men-schen die gleichen Rechte haben – unabhängig von ihrersexuellen Orientierung.
Kardinal Ratzinger sagte 2003, dass die römisch-ka-tholische Kirche standfest sein müsse und nicht derMode individueller Bedürfnisse nachgeben solle. Diesführe zu einer Diktatur des Relativismus. – Kurz gesagt:Die Kirche verharrt in ihren Dogmen.
Der Kardinal bezeichnete die Homosexualität alsschwere Verirrung. Politiker – er nannte nur die männli-che Form –, die Gesetzen zu homosexuellen Lebensge-meinschaften zustimmten, würden an einer Legalisie-rung des Bösen mitwirken. – Diese Haltung ist völliginakzeptabel. Ich weiß nicht, warum die CDU das heutenoch so vertritt.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabedes Staates ist es, die Grundrechte der Bürgerinnen undBürger zu garantieren. Auch in Deutschland war es einlanger Weg bis zur Beseitigung der Strafbarkeit der Ho-mosexualität und ihrer Entdiskriminierung. Von der völ-ligen Gleichstellung sind wir aber noch immer weit ent-fernt, sowohl was die Gesetzeslage als auch was dastägliche Leben betrifft.
Der § 175 richtete sich gegen schwule Männer. In derBundesrepublik galt dieser Paragraf in der von den Na-tionalsozialisten verschärften Fassung bis 1969. Infolge-
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14866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Barbara Höll
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dessen wurden 100 000 Männer strafrechtlich verfolgt;50 000 wurden verurteilt. Die katholische Kirche übte inden 50er-Jahren enormen Einfluss auf die Strafrechtsdis-kussion um den § 175 aus. So verfasste der katholischeVolkswartbund in dieser Zeit im Auftrag der Bischofs-konferenz Schriften gegen die Entkriminalisierung dermännlichen Homosexualität. Ich zitiere aus einer dieserSchriften:Was soll man mit einem Baum tun, dem die Frucht-barkeit versagt ist?Diese Metapher stammt aus der Bibel, die die darauf fol-gende Antwort gibt: den Feuertod.
Wir haben erst 1994 in einem gemeinsamen Deutschlandden sogenannten Schandparagrafen 175 überwunden.Trotz alledem tritt die katholische Kirche auch heutenoch gegen die Rechte von Schwulen und Lesben auf.
Erzbischof Tomasi, der Ständige Vertreter des HeiligenStuhls beim Büro der Vereinten Nationen in Genf, be-tonte im März dieses Jahres in einer Aussprache zur se-xuellen Orientierung, dass die menschliche Sexualitätein Geschenk sei, bestimmt für eine lebenslange Ehezwischen Mann und Frau.
Dies widerspricht meiner Auffassung von der Würde desMenschen, zu der die sexuelle Identität untrennbar ge-hört.Sieben Jahre nach der Abschaffung des § 175 wurdedie eingetragene Lebenspartnerschaft für Lesben undSchwule ermöglicht. Der deutsche Gesetzgeber öffnetedamit eine Tür für die Gleichbehandlung lesbischer undschwuler Lebensweisen. Damals war Deutschland, wieschon mehrfach unterstrichen, ein Vorreiter in Europa.Doch seitdem tut sich in der rechtlichen Gleichstellungzu wenig. Herr Thomae, die entscheidenden Impulse,überhaupt noch etwas zu ändern, kamen danach immervom Bundesverfassungsgericht, und erst dann haben Siegehandelt.
Inzwischen haben sieben Staaten in Europa die Ehefür Lesben und Schwule geöffnet, unter anderem die ka-tholisch geprägten Länder Spanien und Portugal. Wir alsLinke haben bereits im vergangenen Jahr einen Antragzur Öffnung der Ehe in den Bundestag eingebracht. Erwurde damals mit den Mehrheiten von CDU/CSU undFDP abgelehnt.Die Grünen unternehmen einen neuen Versuch, derunsere Unterstützung findet, weil er der richtige Schrittzur Legalisierung bzw. zur Beendigung der Diskriminie-rung und zur tatsächlichen Gleichstellung gleichge-schlechtlicher Lebensweisen ist. Es ist an uns, die Dis-kriminierung zu beenden.
Die Ehe für Lesben und Schwule ist eben keine Lega-lisierung des Bösen, wie der heutige Papst 2003 betonte,sondern ein notwendiger Schritt zur Akzeptanz unter-schiedlichster Lebensformen, unabhängig von sexuellerOrientierung. Alle Menschen müssen gleiche Rechte ha-ben, so auch das Recht auf Eheschließung. Dogmatismussteht nicht über den Grundrechten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich möchte vorausschicken: Es gehtnicht um die Angleichung der Lebensform gleichge-schlechtlicher Lebensgemeinschaften an die Ehe,
sondern im vorliegenden Gesetzentwurf geht es um dieFrage der Identifizierung von gleichgeschlechtlichen Le-bensgemeinschaften mit der Ehe. Das ist etwas anderes.Das ist ein viel weiter gefasstes Thema.
Hier wird ständig über Gleichstellung gesprochen. Dasist eine andere Frage. Man kann sich über sie streiten,aber sie steht heute nicht zur Debatte.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. FrauSteffen, Sie haben eben aus der Anhörung des Rechts-ausschusses zitiert. Für diesen Rechtsausschuss wurdenvon der CDU/CSU drei Sachverständige benannt: einSachverständiger für öffentliches Recht, ein Verfas-sungsrechtler und ein Psychologe bzw. Kinderarzt. Alledrei haben gesagt, dass es nicht dem Wohl des Kindesdient, wenn wir die Volladoption einführen. Ich bitte Sie,das zu respektieren. Es gibt auch andere Meinungen, undSie dürfen es uns nicht übelnehmen, wenn wir uns nachdiesen Meinungen richten.
Ich komme zum eigentlichen Thema. – Herr Beck,lassen Sie mich einige Sätze sagen; Sie nehmen mirsonst nur die Zeit weg. – Ich bin der Auffassung, dass esum die Identifizierung geht. Es kann keinerlei Zweifelgeben: Wenn wir die Regelungen des Römischen Rechtszu Ehe und Familie mit einbeziehen, worauf ja unser
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14867
Norbert Geis
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Recht basiert – das weiß jeder Jurist –, dann sehen wir:Wir haben seit über 2 000 Jahren in unserer Kultur dieVorstellung, dass eine Ehe aus Mann und Frau besteht.
Das ist Fakt. Wer sich dagegen wehrt, dem kann ichnicht helfen, der kennt die Geschichte nicht.
Wenn das so ist, stellt sich natürlich die Frage – die auchHerr Beck gestellt hat; Sie behaupten das auch in IhremGesetzentwurf –,
ob sich ein Wandel vollzogen hat, sodass man sagenmüsste: Ehe ist sowohl die Verbindung von Mann undFrau als auch die gleichgeschlechtliche Lebensgemein-schaft.
Daran möchte ich doch Zweifel anmelden. Erstens, sa-gen Sie, sei dies grundgelegt durch die Einführung dergleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft durch dasGesetz aus dem Jahr 2001 und die Folgegesetze. Ichgebe zu, dass durch die Folgegesetze eine weitgehendeAngleichung an die Ehe erfolgt ist.
Das kann auch niemand leugnen. Aber trotz aller Geset-zesakrobatik wird in keinem der Gesetze die Ehe sowohlfür beide Geschlechter,
Mann und Frau, als auch für die gleichgeschlechtlichePartnerschaft vorgesehen. Aus allen Gesetzen geht klarhervor, dass die Ehe allein Mann und Frau vorbehaltenist.
Das können Sie nachlesen. Genau das Gleiche finden Siein der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.Wir haben zwei entscheidende Urteile des Bundesver-fassungsgerichts, einmal das Urteil vom 17. Juli 2002.Frau Granold hat es schon zitiert. Ich darf einen weiterenSatz zitieren:Die Ehe ist im Verhältnis zur gleichgeschlechtli-chen Lebensgemeinschaft ein Aliud.Es ist etwas ganz anderes. Die Juristen wissen, was manunter einem Aliud versteht.
Das zweite maßgebliche Urteil zu diesem Thema istdas Urteil vom 7. Juli 2009. Hier wird die Gleichstellungder gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft mit derEhe angemahnt, aber nicht aufgrund des Art. 6 desGrundgesetzes, sondern aufgrund des Art. 3. Das ist et-was anderes. Für beide Institute besteht jetzt schon na-hezu der gleiche Rechtsrahmen, aber beide Institute sindsowohl für die Rechtsprechung als auch für die Gesetzezwei voneinander unterschiedene Institute. Das mussman einfach so sehen. Das muss man anerkennen. Werdas nicht tut, geht an der Wirklichkeit vorbei.
Nun stellt sich die entscheidende Frage, die HerrBeck gestellt hat: Ist denn im Bewusstsein der Menschenein Wandel vollzogen worden?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich mussSie enttäuschen: Genau das Gegenteil ist richtig.
Kein Ehepaar wird sich mit einer gleichgeschlechtlichenLebensgemeinschaft gleichsetzen lassen.
Sie werden ihre Lebensform immer deutlich von der an-deren Lebensform unterschieden wissen wollen, ohnedie andere Lebensform zu diskriminieren.
Es ist einfach ein Unterschied. Wer das nicht sieht, kanneinem nur noch leidtun.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dörner?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Es wird mirhier zu laut geschrien.
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14868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Norbert Geis
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Ein weiterer Punkt, den ich Ihnen noch nennenwollte: Die Shell-Studie sagt ganz eindeutig, dass dreiViertel der Jugendlichen sich eine Zukunft wünschen
in einer Ehe von Mann und Frau und in einer Familie mitKindern. Das ist eine ganz klare Aussage der Shell-Stu-die. Drei Viertel der Jugendlichen sagen dies. Wenn diesaber so ist, meine sehr verehrten Damen und Herren,kann man nicht behaupten, dass im Bewusstsein der Be-völkerung eine Identität zwischen Ehe und gleichge-schlechtlicher Lebensgemeinschaft entstanden sei.
Der entscheidende Unterschied zwischen Ehe undgleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft besteht nuneinmal darin, dass die Ehe für Kinder offen sein mussund damit die Generationenfolge sichert und dass sie dasHumanvermögen – darunter ist die Daseinskompetenz,die Sozialkompetenz zu verstehen, die eine Gesellschaftzusammenhält – am ehesten weitergeben kann, nämlichnur durch Vater und Mutter im Verhältnis zum Kind.
Dort werden die Regeln weitergegeben, die sich in unse-rer Kultur entwickelt haben. Deswegen kann die Ehe miteiner gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft niegleichgesetzt werden, nie identifiziert werden.
Deswegen wird die Ehe vom Grundgesetz geschützt, auskeinem anderen Grund. Deswegen kann die gleichge-schlechtliche Lebensgemeinschaft jedenfalls nicht imSinne des Art. 6 des Grundgesetzes ebenso geschütztwerden.Danke schön.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Volker Beck.
Ich weiß nicht, Herr Kollege Geis, in welcher WeltSie leben.
In meiner realen Welt – das war lange, bevor wir dasGesetz gemacht haben; das war im Jahr 1992, als wir dieAktion Standesamt gemacht haben – haben bei uns inKöln vor dem Rathaus die Leute zusammen mit denSchwulen und Lesben gefeiert, die nicht ins Standesamtgehen konnten, um zu heiraten. Die Ehepaare haben ge-sagt: Wir feiern heute unsere Hochzeit, wir trauen uns;wir wünschen euch, dass ihr das auch bald dürft. – Dasist reale Liberalität in der deutschen Gesellschaft, unddas ist nicht die Enge, die Sie gerade predigen.
Sie haben den Ansatz dieser parlamentarischen Initiativenicht verstanden. Natürlich ist heute die Lebenspartner-schaft ein Aliud gegenüber der Ehe. Das hat auch dasBundesverfassungsgericht 2001 in seiner Entscheidunggesagt. Dort heißt es: Alle Prüffragen – etwa: Verstößtdas gegen Art. 6? – fallen weg, weil es einen anderenNormadressatenkreis gibt. Das wollen wir mit dieser Ini-tiative ändern.
Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öff-nen und Schluss machen mit den Extrawürsten.Herr Geis, Sie sind ja ein geschickter Rhetoriker. Siehaben auch gegen jeden Schritt der rechtlichen Anerken-nung der Lebenspartnerschaft gekämpft. Das haben Sieheute verschwiegen! Seit den 90er-Jahren waren wir injeder Fernsehsendung zu diesem Thema. Sie haben stetsgesagt: Diese rechtliche Anerkennung soll den Homo-sexuellen nicht zustehen. In diesem Punkt sind Sie einErzkatholik. Sie behaupten, Sie wollten nicht diskrimi-nieren; Sie diskriminieren aber ständig.Ich habe den Verdacht, dass Sie inhaltlich gar nicht soweit weg sind von dem Schreiben der Kongregation fürdie Glaubenslehre. Ich nenne nur die „Anmerkungen be-züglich der Gesetzesvorschläge zur Nichtdiskriminie-rung homosexueller Personen“. Dort heißt es, dass„keine Gesetzgebung eingeführt werden dürfe, welcheein Verhalten schützt, für das niemand ein irgendwie ge-artetes Recht in Anspruch nehmen kann“. – Das habenSie an jedem Punkt so gehalten. Sie haben bei jedemSchritt verhindert, dass Schwule und Lesben zu ihremRecht kommen, genau so, wie diese Schreiben es Ihnenaufgeben.Das steckt letztendlich dahinter. Deshalb sind Sieauch in diesem Fall dagegen. Wenn Sie ernsthaft sagen,Sie wollten die Ehe für gleichgeschlechtliche Partner-schaften nicht, dann stellen Sie aber wenigstens – zu-sammen mit Herrn Kauch und mit dieser christlich-libe-ralen Koalition, die ja so wunderbar funktioniert
und sozusagen die Traumvorstellung einer Ehe darstellt –beim Steuerrecht und beim Adoptionsrecht die Lebens-partnerschaft gleich. Gönnen Sie doch der FDP mal ei-nen kleinen politischen Erfolg!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14869
Volker Beck
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Das wäre gut für die Schwulen und Lesben im Lande.Das mit der Ehe machen wir nach der nächsten Bundes-tagswahl zusammen mit den Sozialdemokraten.
Dann wäre das Ganze glaubwürdig. Ansonsten zeigt esnur, dass Sie es nicht wirklich ernst meinen.
Kollege Geis, bitte schön.
Lieber Herr Beck! Sehr verehrter Herr Präsident! Ich
habe lediglich versucht, darzulegen, weshalb Art. 6
Grundgesetz nach der heutigen Fassung und nach dem
heutigen Verständnis – auch des Verfassungsgerichts und
der gesamten Gesetzgebung – nicht die gleichge-
schlechtliche Lebenspartnerschaft der Ehe gleichstellt.
Das kann man so nicht machen.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass man das allmäh-
lich durch die Gesetzgebung bewirken kann.
Dann würde eine Verfassungsänderung durch ein einfa-
ches Gesetz erfolgen. Wenn Sie wollen, lieber Herr Beck
und meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Opposition, dass die gleichgeschlechtliche Lebensge-
meinschaft in Art. 6 Grundgesetz hineingeschrieben
wird, dann müssen Sie eine Verfassungsänderung vor-
nehmen. Die ist nach Art. 79 Abs. 2 Grundgesetz nur
möglich mit einer Zweidrittelmehrheit. Die werden Sie
nicht hinbekommen.
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Meine Damen und Herren! Wir können sicherlichtrefflich über die juristischen Fragestellungen streiten.Ich glaube aber, dass in der Bevölkerung eine deutlichentspanntere Situation vorherrscht, als es diese Debattesuggeriert.Ich bin verpartnert; aber alle meine Freunde sagen:Ihr seid ja verheiratet, und das ist dein Mann; das istnicht dein Lebenspartnerschaftsring, sondern es ist derEhering. – Das ist die Herangehensweise, wie die Bürge-rinnen und Bürger inzwischen mit diesem Thema umge-hen. Deshalb müssen wir uns Gedanken machen überangemessene Regelungen angesichts der Pflichten, dieeingetragene Lebenspartner füreinander eingehen – mitdenen sie im Übrigen auch den Sozialstaat und die So-zialkassen entlasten, indem sie füreinander einstehen.
Diese Koalition hat die eingetragene Lebenspartner-schaft in wesentlichen Punkten vorangebracht – HerrThomae hat das angesprochen –: bei Erbschaftsteuer,Grunderwerbsteuer, BAföG, Beamtenrecht, Richterrechtund Soldatenrecht. In diesen Bereichen hat die Koalitioneine Gleichstellung vorgenommen. Wir sind nicht bei al-len Punkten von den Gerichten dazu gezwungen gewe-sen. Im Gegenteil: Wir hatten im Koalitionsvertrag dieentsprechende Vereinbarung zu Änderungen im Beam-tenrecht bereits festgelegt, bevor das entsprechende Ur-teil gefällt wurde. Das Lebenspartnerschaftsrecht ist füruns Teil der Bürgerrechtspolitik. Da gibt es Punkte, dieSie nicht auf die Reihe bekommen haben. Zum Beispielhat das Kabinett im letzten Monat die Einrichtung derBundesstiftung Magnus Hirschfeld beschlossen. Sie ha-ben es zehn Jahre lang versprochen; wir haben es ge-macht. Auch das ist ein Erfolg der christlich-liberalenKoalition.
Meine Damen und Herren, es gibt Bewegung: FrauWinkelmeier-Becker – sie ist hier – hat Anfang Augustzusammen mit Frau Fischbach für die Unionsfraktioneine Presseerklärung im Zusammenhang mit dieser De-batte veröffentlicht, in der sehr deutlich gemacht wurde,dass die Union beim Adoptionsrecht zwar nicht bereitist, unseren Vorstellungen zu folgen, es aber angesichtsgleicher Einstandspflichten sehr wohl gute Gründe gibt,beim Splitting bei der Einkommensteuer für eingetra-gene Lebenspartnerschaften voranzukommen. Deshalbbin ich zuversichtlich, dass es noch in dieser Legislatur-periode gelingen wird, an dieser Stelle zu einem gutenErgebnis zu kommen.
– Frau Fischbach ist stellvertretende Fraktionsvorsit-zende. Ich denke, die stellvertretende Fraktionsvorsit-zende der Unionsfraktion macht Presseerklärungen nichtins Blaue hinein, sondern weil die Union an dieser Stelleeine entsprechende Haltung hat.Wir werden den Weg der Gleichstellung konsequentweitergehen, weil wir uns hier auf sicherem, verfas-sungsgemäßem Terrain bewegen. Niemand bestreitet,dass der Staat die Lebenspartnerschaft gleichstellenkann; das zeigen alle Urteile. Deswegen sind wir hier aufeinem sicheren Weg; wir sollten ihn weitergehen.Wenn die Lebenspartnerschaft am Ende anders heißt,dann werde ich mich als Erster freuen. Denn dann muss
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14870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Michael Kauch
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man nicht bei jeder Personenstandsangabe offenbaren,welche sexuelle Orientierung man hat; man will dasnicht jedem offenbaren, weil es auch mit Nachteilen ver-bunden sein kann. Insofern ist es durchaus ein Ziel, daszu ändern. Der wesentliche Weg, über den wir dahinkommen, ist die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft;wir müssen ihn bis zum Ende gehen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/6343 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Faire Teilhabechancen von Anfang an –
Frühkindliche Betreuung und Bildung för-
dern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks,
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Frühkindliche Bildung und Betreuung ver-
bessern – Für Chancengleichheit und Inklu-
sion von Anfang an
– zu dem Antrag der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Katja Dörner, Fritz Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung reali-
sieren – Kostenkalkulation für Kinderbe-
treuung überprüfen
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kin-
der unter drei Jahren für das Berichtsjahr
2008
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kin-
der unter drei Jahren für das Berichtsjahr
– Drucksachen 17/3663, 17/1973, 17/1778,
16/12268, 17/591 Nr. 1.7, 17/2621, 17/4249 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Caren Marks
Florian Bernschneider
Heidrun Dittrich
Katja Dörner
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
– Drucksache 17/5900 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben dieÜberweisung des Zweiten Zwischenberichts zur Evalua-tion des KiföG an den Deutschen Bundestag zum Anlassgenommen, heute erneut über unseren Antrag zu einemgesellschaftspolitisch wichtigen Thema zu debattieren,nämlich über die frühkindliche Bildung im Elternhausund in Kindertagesstätten als entscheidenden Faktor fürmehr Chancengerechtigkeit. Wir sind uns in der Koali-tion einig – wir haben das in unserem Antrag festge-schrieben –, dass der Grundstein für die Entwicklungund Teilhabe an unserer Gesellschaft in der Familie ge-legt wird.In der Familie erfahren Kinder Zuwendung, Vertrauenund Geborgenheit und erlernen vor allem ein sozialesMiteinander und – das ist ganz entscheidend – bauenBindungen auf. Auch in der Wissenschaft ist es unbe-stritten, dass Bindung der Bildung vorausgeht. Die ersteBindung eines Kindes ist nun einmal in der Regel die anseine Eltern. Deswegen ist für Kinder die familiäre Be-
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Dorothee Bär
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treuung der institutionellen mindestens gleichwertig; ichglaube sogar, sie ist ihr überlegen.Natürlich verschließen wir unsere Augen nicht davor,dass manche Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder über-fordert sind. Aber wir wollen als Konsequenz darausnicht dem Staat die Elternrolle zuweisen, sondern mitunserem Antrag klarmachen, dass Eltern in dieser Situa-tion niederschwellige Begleitung und Unterstützungbrauchen; wir wollen sie ihnen gewähren.Kindertagesstätten können eine wichtige Ergänzungzum Bildungsort Familie sein. Damit sie das tatsächlichsein können, brauchen wir aber nicht nur einen Ausbauin quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativerHinsicht. Deswegen muss meines Erachtens die Grup-pengröße in den deutschen Kitas teilweise drastisch re-duziert werden.
– Kollegin Gruß sagt gerade zu Recht: „Wie wir es inBayern gemacht haben!“ Daran können sich andere Bun-desländer ein Beispiel nehmen. – Qualität hat aber nichtnur etwas mit der Gruppengröße zu tun. Ein andererQualitätsaspekt ist, dass feste Bezugspersonen vorhan-den sind. Oft ist es so, dass ein Kind, nachdem es einge-wöhnt wurde, aufgrund der schlechten Rahmenbedin-gungen in der Kindertagesstätte wechselnde Bezugsper-sonen hat. Das liegt zum Teil auch daran, dassErzieherinnen vielleicht nur halbtags arbeiten. So musssich das Kind ständig dem Stress aussetzen, dass es eineneue Bezugsperson hat. Das ist für die unter Dreijähri-gen natürlich wesentlich schwieriger als für die Kinder-gartenkinder über drei Jahren. Der Kitabesuch soll natür-lich kein Stress sein; denn sonst wäre er kontraproduktiv.Neben den Kindertageseinrichtungen haben wir dieKindertagespflege. Das ist der erste Bildungsort außer-halb der Familie und die zweite prägende Station füreine erfolgreiche Bildungsbiografie. Als wir vor ziem-lich genau drei Jahren das Kinderförderungsgesetz imDeutschen Bundestag verabschiedet haben, war das derStartschuss für den Aus- bzw. Aufbau eines bedarfsge-rechten und qualitativ hochwertigen Betreuungs-, Bil-dungs- und Erziehungsangebots für die unter Dreijähri-gen. Bei dieser großen Zukunftsaufgabe unterstützt derBund die eigentlich zuständigen Länder und Kommunensehr großzügig. Wir beteiligen uns mit 4 Milliarden Euroan den Kosten in der Ausbauphase und ab 2014 mit jähr-lichen Zuschüssen in Höhe von 770 Millionen Euro anden Betriebskosten. Das Ganze trägt Früchte. Nachdemder Bund seinen zugesagten Beitrag zum Ausbau der Be-treuungsplätze geleistet hat, brauchen wir jetzt aber eineverlässliche Anschlussfinanzierung durch die Länder.Diese ist dringend erforderlich, um den Ausbau weitervoranzubringen.Über diese finanzielle Unterstützung des Krippenaus-baus hinaus investiert der Bund weiteres Geld in diefrühkindliche Bildung. Wir haben ein ganz großartigesProgramm aufgelegt, das Programm Offensive „FrüheChancen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“.
Der Bund stellt dafür bis 2014 400 Millionen Euro zurVerfügung, um in bis zu 4 000 Einrichtungen, insbeson-dere in Brennpunkten, zusätzliche Sprachförderung zuermöglichen. Wer von uns sich das schon einmal in sei-nem Wahlkreis angeschaut hat, weiß, dass das ein tollesProgramm ist und es hervorragend angenommen wird.Wir können gar nicht oft genug darüber sprechen. Wennwir uns die entsprechenden Einrichtungen anschauen,müssen wir sagen: Das war eine ganz wichtige und sinn-volle Investition.Wir haben auch noch das Programm „Elternchance istKinderchance“. Es bietet in örtlicher Nähe zu diesen Ki-tas haupt- und ehrenamtliche Elternbegleiter. Wenn El-tern Hilfe suchen, finden sie hier einen Stützpunkt, anden sie sich wenden können. Da es leider so ist, dass esdie Großfamilie, die man von früher kennt, nicht mehrgibt, dass die Familie nicht mehr unbedingt an einem Ortzusammenlebt, dass oft keine Großeltern oder Urgroßel-tern mehr vorhanden sind, vielleicht nicht einmal Tantenoder Onkel, haben viele niemanden, dem sie eine einfa-che Frage stellen können. Sie benötigen daher ein nie-derschwelliges Angebot. Deshalb haben wir dieses Pro-gramm „Elternchance ist Kinderchance“ aufgelegt. JedeFamilie, die auf der Suche nach Hilfe ist, soll diese be-kommen.Wir haben ein Aktionsprogramm „Kindertages-pflege“, in dem Bund, Länder und Kommunen gemein-sam daran arbeiten, die Qualität der Kindertagespflegezu sichern und zu verbessern, das Personalangebot zu er-weitern und mehr Transparenz zu gewährleisten. Die El-tern sind heutzutage extrem kritisch, und zwar zu Recht.Sie schauen sich genau an, wer sich um die Kinder küm-mert, wer für einen Teil des Tages Verantwortung über-nimmt. Natürlich möchte man nicht nur wissen, dass dasKind sauber gehalten wird und etwas zu essen bekommt,sondern man möchte auch wissen, dass eine Förderungstattfindet und eine Bindung entsteht, ohne die die spä-tere Bildung gar nicht möglich ist.Das sind nur einige wenige Beispiele für das großeEngagement des Bundes und für das große Engagement,das die christlich-liberale Koalition in dieser Frage anden Tag legt. Es gibt noch weitere Forderungen an dieBundesregierung. Die wird mein Kollege Weinberg vor-stellen.Wir sind auf einem guten Weg. Ich warne aber davor,nur auf die Quantität zu achten. Ich sage das, weil ichmir sicher bin, dass heute noch einige Kolleginnen undKollegen mit Zahlen um sich schmeißen werden. Füruns ist die Qualität von allergrößter Bedeutung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
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14872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuersteinmal: Frau Ministerin, schön, dass Sie wieder da sind.Wir von der SPD-Fraktion wünschen Ihnen gutes Gelin-gen für eine partnerschaftliche Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf; das ist ja für alle nie einfach.
Die aktuelle bildungspolitische Studie der OECD haterneut deutlich gemacht, dass Deutschland mehr in Bil-dung investieren muss. Im deutschen Bildungssystemwerden immer noch Kinder aussortiert. Damit mussSchluss sein.
Ist es hinnehmbar, dass Kinder aus Familien mit Migra-tionshintergrund oder aus armen Familien schlechtereChancen haben? Die Ausgaben für Bildung liegen mit4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weit unter demDurchschnitt der OECD-Länder; er liegt bei 5,9 Prozent.Das macht eine riesige Summe in unserem Haushalt aus.Deutschland hat ganz besonders bei der frühkind-lichen Bildung großen Nachholbedarf; auch das wird inStudien immer wieder deutlich. Kann man die Kanzlerinnoch ernst nehmen, wenn sie von der „BildungsrepublikDeutschland“ spricht? Gute Angebote der frühkind-lichen Bildung, Erziehung und Betreuung, das machenwir als SPD-Fraktion in unserem Antrag deutlich, sinddas Fundament für Chancengleichheit, für Teilhabe vonKindern in unserer Gesellschaft. Wir alle wissen, dassVersäumnisse im frühkindlichen Alter zu einem späterenZeitpunkt gar nicht mehr bzw. nur ganz schlecht aufge-holt werden können.
Gute Krippen und gute Kitas fördern Kinder – ichnenne die Stichworte: Sprache, Ernährung, Bewegungund natürlich auch Sozialverhalten – und geben ihnenneben dem Elternhaus wichtige Erfahrungen mit auf denWeg. Hier lernen Kinder im wahrsten Sinne des Wortesspielend, und zwar umfassend. Nach wie vor gibt es inDeutschland zu wenig Krippenplätze, das heißt, zu we-nig Bildungsangebote für Kleinkinder und zu wenig Be-treuungsangebote für berufstätige Eltern, die diese drin-gend brauchen und häufig händeringend danach suchen.Rot-Grün hat vor Jahren den Ausbau der frühkind-lichen Bildung – damals noch unter Protest vonSchwarz-Gelb – auf den Weg gebracht. Da sind wir jetztschon durchaus weiter. Der Krippengipfel 2007 hat unterMitwirkung des damaligen Bundesfinanzministers PeerSteinbrück dazu geführt, dass der Bund die Länder mitBundesmitteln dauerhaft unterstützt. Diese Politik, diewir damals gemeinsam in der Großen Koalition auf denWeg gebracht haben, zeigt Erfolge; gar keine Frage. Jahrfür Jahr werden Tausende Plätze neu geschaffen. Das istgut; das brauchen Kinder und Eltern.Vor allem in den alten Bundesländern, wo der Nach-holbedarf besonders groß ist, ist die Betreuungsquotekontinuierlich gestiegen. Dennoch ist der Abstand zwi-schen den alten und den neuen Bundesländern immernoch sehr groß; es gibt einige ganz besonders gravie-rende regionale Unterschiede. Eine bundesdurchschnitt-liche Betreuungsquote von circa 23 Prozent, wie wir siejetzt haben, ist nicht ausreichend. Das macht auch derjüngste Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderför-derungsgesetzes sehr deutlich.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, vordiesem Hintergrund und auch angesichts des aktuellenZwischenberichts zur Evaluation des Kinderförderungs-gesetzes ist es unseres Erachtens fatal und in keinerWeise nachvollziehbar, dass die Regierungskoalition im-mer noch an dem unsinnigen Betreuungsgeld festhält.
Vorgestern kam eine Meldung über den Ticker, dass FrauHaderthauer statt der bisher diskutierten 150 Euro sogar500 Euro Betreuungsgeld fordert.
Heute ist sie bereits ein Stück weit zurückgerudert undsagte, das solle nicht jetzt sofort so sein, sondern sei eineZukunftsvision.
Für uns ist das keine Zukunftsvision. Es würde ungefähr6 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Dieses Geld würdebeim weiteren Ausbau der frühkindlichen Bildung drin-gend fehlen.
Vielleicht erinnern Sie sich, Frau Bär, noch an diejüngste Mahnung der OECD, die ich eingangs erwähnte.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den wir in unseremAntrag „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbes-sern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfangan“ ansprechen, ist der enorme Bedarf an Erzieherinnenund Erziehern. Nach einer Studie des Deutschen Ju-gendinstituts fehlen allein in Niedersachsen – das ist dasBundesland, aus dem ich komme – mehr als 5 000 Fach-kräfte. In anderen Bundesländern ist die Situation ver-gleichbar. Fachkräfte fehlen überall. Weil der Erzieher-mangel den Ausbau zu bremsen droht, müssen wirhandeln. Die Gewerkschaften weisen zu Recht daraufhin, dass dieser Beruf aufgewertet und besser bezahltwerden muss. Darüber herrscht grundsätzlich Einigkeit;das war auch heute im Ausschuss der Fall. Nur: Wir dür-fen es nicht beim Benennen der Problematik belassen.Wir müssen auch handeln.Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit über einemJahr, dass Sie, Frau Schröder, als zuständige Ministerinden Ausbau der frühkindlichen Bildung auf die Agenda
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14873
Caren Marks
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setzen und einen neuen Krippengipfel einberufen, zumalauch zahlreiche Expertinnen und Experten davon ausge-hen, dass der Bedarf an Krippenplätzen deutlich höherausfällt als bislang angenommen. Insbesondere in städti-schen Regionen wächst der Bedarf kontinuierlich. Dieangestrebte 35-Prozent-Quote für 2013 wird nicht aus-reichen. Auch dies haben das Deutsche Jugendinstitutund andere Expertinnen und Experten immer wiederdeutlich gemacht.Wir brauchen ganz dringend eine aktuelle und regio-nal differenzierte Analyse des tatsächlichen Bedarfs anKrippenplätzen. Hier brauchen wir endlich Klarheit undTransparenz. Erst dann können wir, was die angestrebtenZahlen im Hinblick auf Plätze, Fachkräfte und Finanzie-rung angeht, gezielt nachsteuern. In einem nächstenSchritt brauchen wir einen nationalen Bildungspakt.Bund und Länder müssen gemeinsam Vereinbarungentreffen, wie sie beispielsweise die Zahl der Ganztags-plätze erhöhen und – auch dies ist angesprochen wor-den – die Qualität in Krippen und Kitas steigern wollen;das ist ganz dringend erforderlich. Wir brauchen eineFachkräfteoffensive, die ihren Namen wirklich verdient.Das alles sind keine Kleinigkeiten. Das alles brauchtKraft und Mut aller Beteiligten, und zwar auf allen poli-tischen Ebenen.Wer Familien heute und in Zukunft besser fördernwill, kommt am Ausbau der frühkindlichen Bildungnicht vorbei. Es ist deshalb unerlässlich, auch die Ausga-ben für frühkindliche Bildung zu steigern. Das Vorha-ben, ein Betreuungsgeld einzuführen, sollte die Bundes-regierung endlich begraben.
Ich kann nicht verstehen, warum sich die Bundesfa-milienministerin unseren Forderungen nicht anschließt.Diese Woche haben Sie, Frau Ministerin, ein neues Ser-viceprogramm zur frühkindlichen Entwicklung von Kin-dern gestartet. Ich sage Ihnen: Solche befristeten Initiati-ven, die in ein paar Jahren wieder eingestampft werden,reichen nicht aus. Ein nationaler Bildungspakt, wie wirihn fordern, wäre hingegen eine nachhaltige und not-wendige Strategie.Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Frau Schröder, eswäre gut, wenn Sie bei diesem wichtigen Thema mit derArbeit beginnen würden. Es hilft den Kindern und denFamilien in unserem Land nicht, wenn in Reden die Be-deutung der frühkindlichen Bildung und der besserenVereinbarkeit von Familie und Beruf betont wird. Siemüssen entsprechend handeln. Ich hoffe, dass dies dem-nächst passieren wird.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich darf Wilhelm von Humboldt zi-tieren. Er hat einst gesagt:So wichtig und auf das ganze Leben einwirkendauch der Einfluß der Erziehung sein mag, so sinddoch noch immer wichtiger die Umstände, welcheden Menschen durch das ganze Leben begleiten.Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermagdiese Erziehung allein nicht durchzudringen.Ja, es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Um-stände für Familien zu gewährleisten. In diesem Punktist Humboldt ganz aktuell.
Wir wurden vorwurfsvoll gefragt, welche Umständewir schaffen. Diese schwarz-gelbe Koalition investiertinsgesamt 12 Milliarden Euro mehr in die Bildung. Dasfängt bei der frühkindlichen Bildung an und geht bis zurHochschulfinanzierung. In diesem Punkt lassen wir unsnichts vorwerfen.
Welche Umstände schaffen wir noch? Klar, im euro-päischen Vergleich könnten wir beim quantitativen undauch beim qualitativen Ausbau besser sein. Dafür habenwir im europäischen Vergleich die geringste Jugendar-beitslosigkeit und eine der geringsten Arbeitslosigkeiteninsgesamt. Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Situa-tion der Familien schaffen wir Umstände, die für ein gu-tes und gesundes Aufwachsen von Kindern notwendigsind.
Die Maßnahmen, die wir hier ergriffen haben, sind ebennicht befristet.Ich habe es gesagt: Andere Länder sind uns voraus.Der Monitor Familienleben 2011 bestätigt: 72 Prozentder Deutschen wünschen sich, dass wir in der Familien-politik vor allen Dingen die Vereinbarkeit von Beruf undFamilie verbessern. Ja, wir müssen die Quantität stei-gern, aber hier sind auch die Länder gefordert, ihren Teilbeizutragen; das habe ich in der letzten Rede hier im Ple-num schon gesagt. Baden-Württemberg ist mit nur 57 Pro-zent an abgerufenen Mitteln Schlusslicht; bei Bremensind es 65 Prozent und bei Brandenburg und Sachsen 66 Pro-zent. Wir von Bundesseite tragen unseren Teil bei undstehen auch in schwierigen Haushaltszeiten dazu, aberauch die Länder müssen hier ihren Beitrag leisten.Wir investieren auch in die Qualität der Betreuung.Das ist äußerst wichtig; Frau Bär hat das bereits ange-sprochen. Dies gilt aufgrund der Herausforderung durchdie vielen Kinder mit Migrationshintergrund gerade fürdie Sprachförderung. Deswegen ist es ein richtiger An-satz, mit der Offensive Frühe Chancen insgesamt 4 000Kitas zu unterstützen und Kinder von klein auf sozial
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14874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Miriam Gruß
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und sprachlich zu fördern. Diese 400 Millionen Eurosind bestens investiertes Geld; denn wir alle wissen: Waswir in den frühen Jahren investieren, zahlt sich spätertausendfach aus.Unser Ziel ist ganz klar: Wir möchten es den Familienin den unterschiedlichsten Lebensmodellen ermögli-chen, sich zu entfalten und ihren Weg zu gehen. Dafürstellen wir die Infrastruktur und die Qualität zur Verfü-gung – ganz im Sinne Humboldts.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! „Millionenloch bei Kinderbetreuung“, „Ganz-tagsbetreuung mit Hindernissen“, „Der Krippenplatz alsLottogewinn“, das sind Schlagzeilen aus Tageszeitungender letzten 14 Tage. Sie beschreiben knallhart die Situa-tion knapp zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Rechts-anspruches auf einen Kindertagesbetreuungsplatz abdem ersten Lebensjahr. Das ist Alltag, vor allem im Wes-ten der Bundesrepublik.Vor diesem Hintergrund kann man sich bei der Lek-türe der drei vorliegenden Berichte zum Stand des Aus-baus der Kindertagesbetreuung nur verwundert die Au-gen reiben; denn bei aller positiven Entwicklung beimAusbau der Betreuungslandschaft scheint die Bundesre-gierung die Realität der Familien mit kleinen Kindernnoch immer nicht ernst genug zu nehmen.
Sicher, im letzten Bericht der Bundesregierung wurdeder Bedarf auf 38 Prozent nach oben korrigiert und sogarals erreichbares Ziel beschrieben. Ob das aber für allejungen Eltern ausreicht, die in den ersten Lebensjahrenihrer Kinder ein Betreuungsangebot brauchen, ist mehrals zweifelhaft.Das Familienministerium zieht seit Jahren statistischeHochrechnungen zurate, die die Bevölkerungsentwick-lung der nächsten Jahrzehnte abbilden. Mich interessie-ren aber die Familien vor Ort und ihre Probleme, die Fa-milien, die es direkt betrifft. Wenn laut einer Forsa-Umfrage fast 66 Prozent der Frauen zwischen 18 und40 Jahren ihr Kleinkind außer Haus betreuen lassen wol-len, kann man die Zielstellung des Ministeriums wohlnicht zu Unrecht infrage stellen. Sie planen an den realenBedarfen vorbei. Dabei besagt selbst die Statistik, dieSie, Frau Dr. Schröder, heranziehen, dass es Ende 2013circa 1,97 Millionen Kinder unter drei Jahren gebenwird. Bei angestrebten 750 000 Kitaplätzen dann nochvon einem garantierten Rechtsanspruch zu sprechen, hältmeine Fraktion weiterhin für Etikettenschwindel.
Dies geht zulasten der Kommunen, weil genau dort imSommer 2013 die Klagewellen der Eltern aufschlagenwerden. Nicht im Kanzleramt oder im Familienministe-rium, sondern an den Rathaustüren und bei den Kitalei-terinnen wird sich der Frust der Eltern entladen. Das istein Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Auf ein weiteres Problem hat das Deutsche Jugendin-stitut im August dieses Jahres in sehr nachdrücklicherWeise hingewiesen: Die Bundesregierung verabschiedetein Gesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung, ohnedabei zu bedenken, dass man für mehr Kitaplätze natür-lich auch mehr Erzieherinnen und Erzieher braucht. Ja,wir haben zur Kenntnis genommen, dass das Familien-ministerium hier seit dem vergangenen Jahr investiert.Aber auch Ihr Modellprojekt – wie sollte es anderssein – „Mehr Männer in Kitas“ wird die Probleme, dieSie seit Jahren vor sich herschieben, nicht lösen. DasGeld für dieses Projekt wird in den nächsten Jahren ge-nauso tröpfchenweise verdampfen, wie Sie es auszahlen,weil Sie die Hinweise der Wissenschaft, der Gewerk-schaften und der Opposition seit Jahren ignorieren. Be-reits 2007 fragte meine Fraktion die Bundesregierung,ob sie die Einschätzung der GEW teile, dass der Perso-nalbedarf ab 2013 die Zahl der vorhandenen und in Aus-bildung befindlichen Fachkräfte weit übersteige. DieAntwort der Bundesregierung damals:Der Bedarf an Fachkräften wäre damit rein rechne-risch gedeckt.Das Deutsche Jugendinstitut belegt nun das Gegenteil.Die Einlösung des Rechtsanspruches droht auch daranzu scheitern, dass es nicht genügend qualifiziertes Perso-nal in den Kindertagesstätten geben wird und dass da-rüber hinaus Tagespflegepersonen in großem Umfangfehlen.Die Bundesregierung treibt hier ein ganz geschmack-loses Spiel auf dem Rücken vor allem der Frauen, dieseit Jahren in Kindertagesstätten und in der Tagespflegefür einen Jammerlohn arbeiten. Vielleicht sollte undmuss man das Ministerium und die Ministerin noch öfterdaran erinnern, dass eines der Fs im Titel des Ministe-riums für „Frauen“ steht.Wir wiederholen unsere Forderungen: Erhöhen Sieden Anteil des Bundes an den Kosten für den Ausbauder Kindertagesbetreuung! Verständigen Sie sich mit denLändern auf ein tragfähiges Konzept zur Aus- und Wei-terbildung von pädagogischem Fachpersonal für diefrühkindliche Bildung! Helfen Sie den Kommunen da-bei, den Beschäftigten in diesem extrem wichtigen Be-reich endlich gerechte Löhne zu zahlen! Lassen Sie dieEltern und die Kinder nicht länger im Regen stehen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14875
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Das Wort hat nun Katja Dörner für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Ich komme mir heute Abend ein biss-
chen vor wie bei Dinner for One, wenn der Butler sagt:
„The same procedure as last year, Miss Sophie.“ Wir dis-
kutieren den diesjährigen KiföG-Bericht. Die Problem-
lagen, die wir schon in den vergangenen Jahren identifi-
ziert haben, haben sich faktisch nicht verändert. Die
Bundesregierung hat sich ihrer nicht angenommen, und
das, obwohl der Termin des Rechtsanspruchs immer nä-
her rückt und der Handlungsbedarf immer dringlicher
wird.
Der Knackpunkt ist die Festlegung auf einen Ausbau
für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren. Es ist glas-
klar, dass 35 Prozent nicht ausreichen werden. Es ist
schon gesagt worden – dies kann ich nur unterstrei-
chen –, dass die Kommunen im Regen stehen bleiben,
wenn der Bedarf über die 35 Prozent hinausgeht. Die
Bundesregierung lenkt im KiföG-Bericht mit dem Hin-
weis auf die demografische Entwicklung von diesem
Problem ab. Dazu kann man nur sagen: Achtung, ganz
böse Falle! Das DJI belegt nämlich sehr eindrücklich,
dass der Bedarf jährlich um 1 Prozent steigt. Das heißt,
wir müssen davon ausgehen, dass 2013 ein Bedarf von
rund 42 Prozent besteht. Auf diese Dynamik müssen wir
uns endlich einstellen. Hier ist aus unserer Sicht der
Bund in der Pflicht, seine finanzielle Beteiligung endlich
den realistischen Bedarfszahlen anzupassen.
Auch der Qualitätsaspekt bleibt weiterhin unterbe-
lichtet. Wir brauchen dringend einen besseren Personal-
schlüssel. Wir stellen an die Kitas hohe Anforderungen,
was die frühkindliche Bildung angeht. Damit die Ein-
richtungen diese hohen Anforderungen und auch die
Hoffnungen, die man zu Recht in sie setzt, überhaupt er-
füllen können, brauchen wir einen besseren Personal-
schlüssel. Auch hier bleibt die Bundesregierung jede
Antwort schuldig.
Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktio-
nen mit einem langen Katalog wichtiger und, wie ich
finde, auch richtiger Forderungen, aber man muss darauf
hinweisen, dass alles unter Finanzierungsvorbehalt ge-
stellt ist. Im Haushalt werden dafür keine Mittel zur Ver-
fügung gestellt; das ist auch nicht angedacht. Ich möchte
es ein bisschen härter formulieren: Ich ärgere mich da-
rüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Dieser An-
trag ist aus meiner Sicht reine Makulatur. Damit wird
den Leuten Sand in die Augen gestreut, weil Aktivitäten
suggeriert werden, die nicht stattfinden. Bei den Kin-
dern, den Familien und den Einrichtungen kommt nichts
an.
Ich möchte den Blick noch auf die Kindertagespflege
richten. Hier sind die Herausforderungen riesig: nicht
nur, dass rund 30 000 Tagespflegepersonen fehlen, um
2013 die Betreuungsquote von 35 Prozent erfüllen zu
können. Vielmehr ist im Gesetz auch fixiert, dass die Ki-
tabetreuung und die Tagespflege gleichwertig nebenei-
nander stehen sollen, und zwar gleichwertig mit Blick
auf Bildung, Betreuung und Erziehung. Nun ist es aber
Fakt, dass rund 35 Prozent der heutigen Tagespflegeper-
sonen keinerlei pädagogische Qualifikation oder eine
Qualifikation haben, die unter dem liegt, was eigentlich
als Standard gelten sollte, nämlich der 160-Stunden-
Kurs nach dem DJI-Standard. Das ist auf Dauer über-
haupt nicht akzeptabel. Ich finde es unfair, wenn die
Bundesregierung, wie in der Antwort auf unsere Kleine
Anfrage, die Verantwortung dafür komplett den Kom-
munen zuweist.
„The same procedure as last year“ ist an Silvester
ganz lustig. Angesichts der Herausforderungen im Be-
reich der Kinderbetreuung ist es beim KiföG-Bericht
und bei den Anträgen, die wir heute behandeln, absolut
unangemessen und nicht zu verantworten.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Vorweg zwei Bemerkungen.Erste Vorbemerkung. Frau Marks, Sie haben aus demOECD-Bericht richtig zitiert. Es ist tatsächlich so, dasswir in Deutschland für die Primarschulbildung und dievorschulische frühkindliche Bildung im internationalenVergleich der OECD zu wenig Geld ausgeben. Sie müs-sen aber auch betonen, was ein Parlament, eine Bundes-regierung machen sollte. Wir als Fraktion, die die Bun-desregierung stützt, haben den Etat im Bereich Bildungum 54 Prozent im Vergleich zum letzten rot-grünen Etatgesteigert. Das ist eine hervorragende Leistung undzeigt, dass wir richtigerweise in Bildung investieren.
Zweite Vorbemerkung. Es geht um die ewige Debattedarüber, wo man ideologisch steht, wenn man für odergegen den Kitaausbau ist. Unsere Position ist klar: Wirwollen den Familien Entscheidungs- und Wahlfreiheitermöglichen. Ihre Position ist eine andere. Bei Ihnen istes schon so, dass man Ihrem politischen Ansatz der Fa-milienpolitik deutlich ein ideologiebehaftetes Gesell-schaftsbild anmerkt.
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14876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Marcus Weinberg
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– Moment, ich habe Sie schon verstanden.
Noch einmal: Sie haben einen Absolutheitsanspruch,wie Familien ihre Lebensplanungen in den ersten Jahrendes Kindes zu gestalten haben.
Das machen wir nicht mit. Wir setzen auf die Vereinbar-keit von Familie und Beruf. Wir sind für den Ausbau derKindertagesbetreuung. Sie brauchen mir nicht zu erklä-ren, wie frühkindliche und vorschulische Bildung undderen Ausgestaltung auszusehen hat. Aber bitte lassenSie die Familien entscheiden,
wie ihre Kinder in den ersten Jahren aufwachsen sollen.
Ich finde Ihre Haltung diffamierend und despektierlichden Familien gegenüber, die sich in den ersten Jahren ih-res Kindes entschieden haben, sich selbst um die Betreu-ung und Bildung der Kinder zu kümmern. Diesen An-spruch auf Absolutheit können Sie nicht erheben; dassollten Sie den jeweiligen Familien überlassen.
– Nein, ich bin nicht stehen geblieben. Aber es gibt be-stimmte Forschungsergebnisse, die sich auch einmal dieKolleginnen und Kollegen der SPD vertieft anschauensollten, gerade im Bereich der Bindungsforschung, diedazu führen, dass man durchaus zu anderen Überlegun-gen kommen kann. Trotzdem sagen wir als Regierung– da sind wir im Kern einer Meinung –:
Wir sind für den Ausbau der Kindestagesbetreuung, weilwir Respekt vor den persönlichen und familiären Ent-scheidungen haben. Sie müssen den Familien, denen Siein der Frage des Betreuungsgeldes kritisch gegenüber-stehen, aber auch Antworten darauf geben, wie Sie dieLeistung dieser Eltern entsprechend würdigen wollen.Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist völlig rich-tig.
Dazu gab es damals auch das Übereinkommen mit denLändern und Kommunen. Was die Vorgabe von 33 Pro-zent angeht, die auf dem Barcelona-Gipfel im Jahr 2002verabredet wurde, glaube ich, dass eine Diskussion, obes 45 oder 55 Prozent sein sollen, uns derzeit sicherlichnicht weiterbringt. Wir sollten uns vielmehr mit derFrage befassen, wo wir zum jetzigen Zeitpunkt stehen.Die aktuellen Daten des zweiten KiföG-Berichts bele-gen im Vergleich der Jahre 2008 und 2010, dass wir inweiten Teilen gut vorangekommen sind. Im März 2008wurde in den westlichen Ländern noch jedes achte Kindund in den ostdeutschen Ländern jedes fünfte Kind in ei-ner Kindertageseinrichtung oder in Tagespflege betreut;wir hatten eine Betreuungsquote von 17,8 Prozent. ImJahr 2010 lag die Quote bundesweit bereits bei 23 Pro-zent. Das heißt, es wurde mehr als jedes fünfte Kind be-treut; es waren 55 000 Kinder mehr als im Jahr 2009.
An dieser Stelle sei auch daran erinnert, wer mindes-tens Mitverantwortung für den Ausbau der Kindertages-betreuung hat: Das sind die Kommunen, die seit 1992– das ist im KJHG verankert – Kitaplätze nach Bedarfschaffen sollen. Man muss den Blick auf jedes einzelneBundesland richten: Was hat das Bundesland geleistet?Ich komme aus Hamburg und sage gerne, dass wir alsCDU den Etat für den Ausbau der Kindertagesbetreuungnach der Regierungsübernahme 2001 um 60 Prozent er-höht haben, und zwar auch mit der Verwirklichung vonRechtsansprüchen. Ich glaube, dass man genau prüfenmuss, wo die Länder und Kommunen innerhalb ihrerVerantwortung entsprechende Ergebnisse erzielen.Mit der derzeitigen Ausbaudynamik und aufgrund desdemografischen Wandels wäre eine Quote von 38 Pro-zent zu erreichen. Ich will aber nicht die Frage vertiefen,ob es 38, 35 oder 45 Prozent sein sollen.
Es geht vielmehr darum, dass das, was Eltern brauchen,vom Staat abgedeckt werden muss. Wenn Eltern ihrKind in einer Kindertagesstätte betreuen und bilden las-sen wollen, dann muss der Staat dies leisten. Die Frageist, ob dieser quantitative Ausbau tatsächlich gewährleis-tet ist. Wir werden das in den nächsten Jahren weiter ver-tieft überprüfen und Druck erzeugen, dass dies zu pas-sieren hat.Dann kommt ein Punkt, der für uns von entscheiden-der Bedeutung ist. Frau Dörner hat unseren Antrag nichtrichtig interpretiert. Es geht nicht nur um die Quantität,sondern um die Qualität von frühkindlicher und vorschu-lischer Bildung.
Das bedeutet zum Beispiel auch den qualitativen Ausbauder Kindertagespflege. Seit dem Start des Aktionspro-gramms Kindertagespflege ist das Qualifikationsniveauin der Kindertagespflege bereits von 8 auf 22 Prozent an-gestiegen. Der Anteil des Personals ohne Qualifizierunghat sich dagegen auf rund 14 Prozent reduziert. Der An-stieg ist noch zu niedrig und der Anteil des Personalsohne Qualifizierung noch zu hoch, aber die Bundesre-gierung ist dabei, auch hier die richtigen Maßnahmen zutreffen.Ein Programm wurde bereits erwähnt, nämlich dieOffensive „Frühe Chancen zur Sprachförderung an Ki-tas“, für die 400 Millionen Euro zur Verfügung gestelltwerden. Ich kann das, was Kollegin Bär bereits gesagt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14877
Marcus Weinberg
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hat, nur bestätigen. Schauen Sie sich in den Wahlkreisenan, wie Sprachförderung auch anders entwickelt werdenkann!
Wir haben heute Morgen im Ausschuss auch sehr in-tensiv über die Frage diskutiert und gestritten, welcheVerantwortung Männern und Jungen zukommt. Ichglaube, die Initiative „Mehr Männer in Kitas“ ist vor die-sem Hintergrund richtig.Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zur Bil-dungsimplikation. Nicht nur das Familienministerium,sondern auch das Bildungsministerium ist dafür zustän-dig. Ich will im Stakkato nur einige Maßnahmen nennen:„Haus der kleinen Forscher“, die Weiterbildungsinitia-tive Frühpädagogische Fachkräfte, die Medienqualifizie-rung für Erzieherinnen und Erzieher oder das BIBER-Netzwerk frühkindliche Bildung. Ich glaube, dass dieMaßnahmen nur in Abstimmung zwischen Familienmi-nisterium und Bildungsministerium gestaltet werdenkönnen.Wir haben in unserem Antrag deutlich die Frage nachder Qualität gestellt, Frau Dörner. Aber das können wirin Teilen nicht alleine machen. Wenn wir Standards fürKitas einführen wollen, dann brauchen wir die Länder.
Wenn wir Zertifizierungsmaßnahmen wollen, dann brau-chen wir die Länder. Wenn wir Eckpunkte oder einenStrategiekreis schaffen wollen, um die Qualität zu über-prüfen, dann müssen wir das gemeinsam mit Kommunenund Ländern entwickeln.
Das haben wir in unserem Antrag definiert. Denn esmacht keinen Sinn, nur über den quantitativen Ausbauvon Kindertagesbetreuung zu diskutieren; es muss ver-lässlich und verbindlich – damit komme ich wieder zumOECD-Bericht – auch ein qualitativer Ausbau damit ein-hergehen.Was die Bundesregierung leisten kann, hat sie geleis-tet. In den nächsten Wochen und Monaten gilt es, diesenAusbauprozess intensiv zu begleiten und möglicher-weise auch Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.Ich denke insbesondere an die, die in den Kommunenund Ländern Verantwortung übernommen haben. Ichglaube, dann haben wir den richtigen Weg eingeschla-gen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildungentscheidet über die Zukunft eines jeden Menschen.Frühkindliche Bildung ist deshalb für mich eine sozialeFrage. In dem Ziel, frühkindliche Bildung zu stärken,sind sich alle Fraktionen hier einig. Es gibt allerdings aufdem Weg dorthin Unterschiede. Die SPD hat vorrangigKitas im Blick. Auf die Tagespflege gehen Sie in IhremAntrag gar nicht ein. Dabei hat die Tagespflege in denletzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Deshalb ge-hört sie unbedingt dazu.
Ohnehin geht es in allen Ihren Forderungen um Geld.Frühkindliche Bildung ist für mich nicht nur eine Sachedes Geldes und schon gar nicht ausschließlich Sache desStaates, sondern immer sind auch die Eltern gefordert.Die FDP-Fraktion setzt grundsätzlich darauf, Vielfalt zufördern – ich betone: Vielfalt –, aber auch auf Eigenver-antwortung von Kindern und Eltern. Im SPD-Antrag istzum Beispiel von einem Bildungssoli die Rede. Nochein Soli? Da machen wir auf keinen Fall mit.Bei der frühkindlichen Bildung hat es seit der Regie-rungsübernahme durch die christlich-liberale Koalitiondeutliche Fortschritte gegeben. Allein in diesem Jahr in-vestiert das Bundesbildungsministerium gemeinsam mitdem Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familieund Jugend zusätzlich 100 Millionen Euro in die früh-kindliche Bildung. Der Ausbau der Kinderbetreuung inDeutschland macht gute Fortschritte. Allein bei mir vorOrt haben wir mittlerweile beim Krippenbau einen An-teil von 42 Prozent. Seit dem Inkrafttreten des Kinder-förderungsgesetzes ist das Betreuungsangebot in den Ta-geskindereinrichtungen und in der Kindertagespflegedeutlich größer geworden. Der Bund unterstützt denqualitätsorientierten Ausbau der Betreuung maßgeblich,und zwar freiwillig; denn für die Kinderbetreuungsinfra-struktur sind bekanntlich die Länder zuständig.Die Koalition setzt aus zwei Gründen neue Maßstäbebei der frühkindlichen Bildung. Erstens. Wir wollenChancengleichheit für alle Kinder von Anfang an, alsoallen Kindern gute Startchancen verschaffen. Zweitens.Wir wollen Väter und Mütter unterstützen, sich ihrenWunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf zuerfüllen. Da ist es ganz wichtig, dass die Eltern sich da-rauf verlassen können, dass ihr Kind nicht nur verwahrt,sondern gut betreut wird. Das Kinderförderungsgesetzlegt deshalb einen Schwerpunkt auf die Verbesserungder Betreuungsqualität. Frühkindliche Bildung bedeutetauf der einen Seite Sprach- und Wissensvermittlung.Allein in Berlin sind in diesem Sommer 4 500 Kindereingeschult worden, die unzureichende Sprachkennt-nisse haben. Viele von ihnen sind Migrantenkinder.Deutschlandweit hat mittlerweile ein Drittel aller Kinderim Vorschulalter einen Migrationshintergrund. Das istnicht das Problem, wohl aber die Tatsache, dass bei ei-nem Drittel dieser Kinder zu Hause und da, wo gespieltwird, kein Deutsch gesprochen wird. Aber auch die Zahlder Kinder aus sozialen Brennpunkten mit nur geringemWortschatz nimmt ständig zu. Ein Kind, das bei uns auf-
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14878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Nicole Bracht-Bendt
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wächst, muss bei der Einschulung die deutsche Sprachebeherrschen. Mit der Offensive „Frühe Chancen:Schwerpunkt-Kitas & Integration“ setzt sich die Bundes-regierung dafür ein, dass jedes Kind von Anfang an faireChancen hat. 4 000 Schwerpunkt-Kitas fördert die Bun-desregierung seit März dieses Jahres bis zum Ende 2014.Dafür stellt der Bund die beträchtliche Summe von400 Millionen Euro zur Verfügung.Frühkindliche Bildung umfasst aber nicht nur Spra-che und Integration, sondern auch die Vermittlung vonsozialen Kompetenzen. Hinter diesem hochtrabendenWort stehen Werte, die heute leider nicht mehr selbstver-ständlich sind: Respekt, Toleranz, aber auch Verantwor-tungsbewusstsein und Verlässlichkeit. Das ist mir einwichtiges Anliegen.Die meisten Eltern ermöglichen ihren Kindern guteStartbedingungen. Wir dürfen aber nicht ignorieren, dasses immer mehr verunsicherte Eltern gibt, die in der Er-ziehung und bei der Betreuung überfordert sind. Auchhier hat die Koalition vieles auf den Weg gebracht.Stichworte sind Elternkurse, Familienhebammen, Pro-jekte von Stadtteilmüttern, Familienzentren usw.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Unser Antrag hat zum Ziel, bei der frühkindlichen
Bildung weiter voranzukommen. Dazu gehört zum Bei-
spiel die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der
Frühpädagogen. Bei allen Zielen setzen wir auf ver-
stärkte Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und
Kommunen in Form des Qualitätsprogramms für früh-
kindliche Bildung, –
Frau Kollegin, das war ernst gemeint. Sie müssen
zum Schluss kommen.
– sofort –, unter Mitwirkung der Kommunen, Kir-
chen, freien Wohlfahrtsverbände und anderer Anbieter in
freier Trägerschaft.
Ganz herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufDrucksache 17/4249 zu den Unterrichtungen durch dieBundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein be-darfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung fürKinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2008 sowiefür das Berichtsjahr 2009 und zu weiteren Vorlagen zurKinderbetreuung. Unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis dergenannten Unterrichtungen die Annahme des Antragsder Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache17/3663 mit dem Titel „Faire Teilhabechancen von An-fang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung för-dern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungs-fraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak-tionen angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/1973 mit dem Titel„Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – FürChancengleichheit und Inklusion von Anfang an“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltungder Grünen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/1778 mit dem Titel „Rechtsanspruch auf Kinderbe-treuung realisieren – Kostenkalkulation für Kinderbe-treuung überprüfen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linkenund Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenom-men.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6 b. Interfrak-tionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-che 17/5900 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPDFür eine bessere Bildungssituation weltweit– Drucksache 17/6484 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile KolleginBärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14879
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es ist vom Zeitpunkt her sehr passend, dass wir uns nachder Debatte über Defizite und Versäumnisse in der inner-deutschen Bildungspolitik mit der Bildung weltweit aus-einandersetzen. Wir als SPD-Fraktion haben einen An-trag mit dem Titel „Für eine bessere Bildungssituationweltweit“ vorgelegt, mit dem wir die Bedeutung desThemas in den Mittelpunkt stellen und die Notwendig-keit des Handelns unterstreichen möchten.Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinaus in eini-gen Punkten einig. Diese betreffen die Situationsbe-schreibung. Fast 70 Millionen Kinder weltweit habenkeinen Zugang zu Schulbildung und keine Möglichkeit,ihr verbrieftes Menschenrecht auf Bildung wahrzuneh-men. Das ist ein Skandal und eine Schande. Ich glaube,diese Einschätzung teilen wir über die Fraktionsgrenzenhinaus. Wir sind uns vielleicht auch in einigen anderenPunkten einig. Handlungsbedarf besteht auf zwei Ebe-nen. Ich habe gerade gesagt, dass knapp 70 MillionenKinder noch keinen Zugang zu Schulbildung haben.Deshalb muss, was die Einschulungszahlen betrifft, ver-stärkt auf der quantitativen Ebene gehandelt werden. Esmuss aber auch in Qualität investiert werden. DieUNESCO legt uns dazu ganz eindeutige Zahlen vor.Wenn wir nur die universelle Grundbildung sicherstellenwollen – wir sprechen noch gar nicht von großen Quali-tätssprüngen –, sind 1,9 Millionen Lehrer nötig. Nurdann haben alle Kinder die Möglichkeit auf einen Zu-gang zu Schulbildung. Wir müssen gemeinsam mit unse-ren Partnerländern in die Lehrerausbildung, aber auch indie Bezahlung der Lehrer investieren. Nur dann, wenndie Bezahlung der Lehrer stimmt, werden wir erreichen,dass die Unterrichtszeiten, die in vielen Ländern auf demPapier stehen, tatsächlich eingehalten werden.Es geht um den Zugang zu Lehrmitteln, um Qualität,um Ausstattung, um Klassenräume. Das sind Punkte, dieviele Kollegen teilen. Wenn man in den verschiedenenLändern unterwegs ist, sieht man sich oft der Situationgegenüber, dass Schüler zu Hundert in einer Klasse sit-zen, dass sich drei Schüler eine Schulbank teilen, dassSchüler am Boden sitzen. Dabei geht es auch darum, obdas, was unterrichtet wird, überhaupt aufgenommenwerden kann. Das hat viel mit Qualität zu tun.Ein entscheidender Punkt für uns ist, den Fokus stär-ker auf die Frage zu richten: Was verhindert eigentlich,dass viele Kinder in die Schule gehen können? EinenPunkt möchte ich noch einmal ganz deutlich unterstrei-chen: Kinderarbeit ist eines der größten Hemmnisse fürden Schulzugang von Jungen und Mädchen, insbeson-dere aber – wir haben es heute im Ausschuss gelernt –von Mädchen. 100 Millionen mehr Mädchen als Jungenmüssen Kinderarbeit leisten und werden deshalb nocheinmal explizit benachteiligt, wenn es um den Schulzu-gang geht. Das Verbot der Kinderarbeit und damit auchdie Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen sind ganzentscheidend, wenn wir an dieser Stelle vorankommenwollen.
Weil es bei diesen Themen manchmal harmonisch zu-geht und wir gemeinsame Ansätze haben, möchte ichzwei Punkte herausgreifen, bei denen ich deutliche Un-terschiede sehe oder das Ministerium sehr dringend auf-fordern möchte, bei seiner Strategie nachzubessern.Der erste entscheidende Punkt ist das Thema „Mäd-chen und Frauen“. Ich finde es traurig, dass in der Bil-dungsstrategie, die vom Ministerium vorgelegt wurde,dem Thema „Mädchen und Frauen“ in keiner Weise ad-äquat Rechnung getragen wird. Unter den zehn Punkten,die Sie explizit als Handlungsfelder definieren, gibt eskeinen einzigen, der sich mit Frauen und Mädchen be-schäftigt.
Das kann so nicht bleiben.
Sie hätten heute die Gelegenheit, das zu heilen, indemSie einfach unserem Antrag zustimmen; denn wir legenden Fokus explizit auf das Thema Mädchenbildung, aufdas Thema Frauenbildung.Uns ist heute im Ausschuss von Expertinnen nocheinmal sehr deutlich vorgetragen worden: Es gehen welt-weit weniger Mädchen als Jungen zur Schule. Wenn siezur Schule gehen, gehen sie kürzere Zeit zur Schule, ab-solvieren also weniger Schuljahre. 100 Millionen mehrMädchen als Jungen – ich habe es schon erwähnt – sindvon Kinderarbeit betroffen. Die Folge davon ist: Die Ar-mut weltweit ist weiblich. Zu 70 Prozent sind von extre-mer Armut Frauen betroffen.Wenn wir hier mit unserer Bildungsstrategie eingrei-fen würden, dann – auch das ist uns heute vom Kinder-hilfswerk Plan noch einmal sehr deutlich gemacht wor-den – hätte das positive Auswirkungen auf die gesamteEntwicklung der Länder, der Menschen und insbeson-dere der Frauen, aber auch auf die ökonomische Situa-tion der Länder. Wir haben gelernt: Sieben Jahre undmehr Schulbesuch für Mädchen hätte positive Effekteauf die Geburtenrate; sie würde sinken. Die Kindersterb-lichkeit würde abnehmen. Das Einkommen der Frauenwürde sich ganz deutlich erhöhen. Das Wirtschafts-wachstum – darauf legt die FDP immer so großen Wert –würde um bis zu 3 Prozent steigen, wenn nur 10 Prozentder Mädchen in den Entwicklungsländern eine Sekun-darschule besuchen würden. Diese Zahlen muss mansich einmal vor Augen halten und in den Mittelpunktstellen. Ich verstehe nicht, dass diesem wesentlichen undzentralen Punkt in der Strategie keine Aufmerksamkeitgeschenkt wird.
Manchmal würden einfache Maßnahmen dazu beitra-gen, dass mehr Mädchen auch die höheren Klassen besu-chen. Ich denke etwa an getrennte Schultoiletten für Jun-
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14880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Bärbel Kofler
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gen und Mädchen. Mit ganz einfachen Maßnahmenkönnte man manchmal große Erfolge erzielen.Einen zweiten Punkt wollen wir im Zusammenhangmit der Bildungsstrategie ganz deutlich anmahnen. Esgeht um die Frage: Was ist eigentlich die Rolle des Staa-tes in der Bildung, und was ist die Rolle der Privaten inder Bildung? Wir haben im letzten Jahr in einer Anhö-rung des Ausschusses zum Thema Millenniumsziele vonder Vorsitzenden der Global Campaign for Education,Frau Assibi Napoe, gehört: Bildung muss öffentlich undkostenlos sein. – Es geht also darum, staatliche Akteurein ihrer Verantwortung zu begleiten, zu unterstützen undzu stärken, damit in den Partnerländern Bildungssystemeaufgebaut werden können, die für alle zugänglich sind.Es geht auch darum, das Schulangebot für die Kinderkostenlos zur Verfügung zu stellen.Wenn ich mir die Punkte der Strategie des BMZ an-schaue, stelle ich fest: Zwar wird an der einen oder ande-ren Stelle auf die Verantwortung der staatlichen Akteureverwiesen, aber dass wirklich in einen Kontext gestelltwird, wie wir gemeinsam mit den Ländern eine Strate-gie, auch eine finanzielle Strategie, dazu entwickeln, wiewir vorankommen, sodass die staatliche KernaufgabeBildung ernst genommen wird, sehe ich in diesem Papierleider nicht. Ich denke, auch da besteht dringenderHandlungsbedarf, dringender Nachbesserungsbedarf.
Dieser besteht auch deshalb, weil wir damit Signale indie Partnerländer aussenden. Wenn in einem Punkt ex-plizit die Privatindustrie und die privaten Träger als Ak-teure angesprochen werden, die staatlichen aber nichtzumindest in demselben Maße, dann, denke ich, sendenwir falsche Signale in die Partnerländer.Das hat natürlich auch etwas mit der Frage zu tun:Wie gehen wir mit einer gemeinsamen Bildungsfinan-zierung nicht nur in Deutschland, sondern auch mit an-deren Partnerländern um? Wenn man sich anschaut, dassin der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Be-darf und die Finanzanforderungen für den Bereich Bil-dung explizit gestiegen sind, dann wird auch hierandeutlich, dass hier nachgelegt werden muss. Seit 2002hat sich die internationale Unterstützung für Grundbil-dung verdoppelt. Es gibt auch Erfolge in diesem Be-reich, wenn es um Einschulungen geht. Aber seit 2008stagnieren diese Zahlen international auf einem Niveauvon 4,7 Milliarden Dollar. Im südlichen Afrika sankendie Ausgaben für Bildung in den letzten Jahren um4 Prozent. Das ist, glaube ich, etwas, was wir gemein-sam so nicht hinnehmen können; denn genau in diesenRegionen ist der erhöhte Bedarf, wenn es um einen Zu-gang zu Bildung für alle geht, ganz evident.
Ich habe daher die dringende Bitte auch an die Bun-desregierung, bei der Wiederauffüllung des sogenanntenCatalytic Funds im Herbst oder Winter dieses Jahres, beidem es gerade um die Initiative „Education for All“,„Bildung für alle“, geht, eine klare Zusage seitensDeutschlands zu machen und sich ordentlich zu beteili-gen, wie es unseren Möglichkeiten als Staat entspricht,um wirklich Bildung für die Ärmsten der Armen in die-ser Welt organisieren zu können.Ich glaube, Bildung international ist ein Bereich, indem wir viele Gemeinsamkeiten haben. Aber ich bitteSie noch einmal dringend: Denken Sie an die Mädchen!Denken Sie an die staatlichen Akteure! Das ist ein ganzzentraler Punkt. Stellen Sie sich auch der Herausforde-rung der Bildungsfinanzierung! Das wären die ganz we-sentlichen Punkte.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Anette Hübinger für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Kolleginnen von der SPD, ichhabe mich eigentlich gefreut, als Ihr Antrag auf meinenSchreibtisch kam. Ich habe gedacht: Nun kämpfen wireinmal wieder gemeinsam in der Entwicklungszusam-menarbeit für die Bildung. Aber leider musste ich fest-stellen, dass nichts Neues drinstand. Ich muss sagen, ir-gendwie scheint Ihnen in der Opposition der Bissverloren gegangen zu sein; denn all das haben wir in un-serem Antrag schon aufgeführt. Frau Kofler, wenn ichSie daran erinnern darf: All das, was Sie jetzt schreiben,steht in unserem Antrag drin,
– doch! –, und den wollten Sie eigentlich in die Tonnetreten.
Sie haben auch die Gelegenheit verpasst, öffentlich zuden vorgelegten Eckpunkten der neuen Bildungsstrate-gie des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung Stellung zu nehmen und – wasnoch viel wichtiger ist – durch Ideen den Prozess zurFindung einer neuen Bildungsstrategie, den das Ministe-rium angestoßen hat, zu unterstützen und zu befruchten.Stattdessen listen Sie davon losgelöst bekannte Pro-bleme und Herausforderungen im Bildungsbereich vonEntwicklungsländern auf. Dazu gehört auch die Mäd-chenfrage. Aber in dem Weltbankbericht, über den ges-tern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtetwurde, wird aufgeführt, dass in 45 Entwicklungsländernheute mehr Mädchen die Sekundarschule besuchen alsJungen und dass in 60 Entwicklungsländern mehrFrauen die Universität besuchen als Männer. Ich selbsthabe auf meiner Reise gemeinsam mit Hartwig Fischerin Lesotho feststellen können: In den Schulklassen, dieuns mit Gesang erfreuten, waren fast nur Mädchen. Wa-rum? Weil die Jungen die Schafe hüten mussten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14881
Anette Hübinger
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Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit ist einzentrales Thema der christlich-liberalen Koalition. Des-halb haben wir bereits im Herbst des vergangenen Jahres– ich habe es schon erwähnt – einen Antrag mit Vor-schlägen und Kritikpunkten eingebracht.Bildung ist für uns das zentrale Thema, damit dieMenschen ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmenkönnen. Bildung und Wissen sind Nahrung für den Auf-bau von demokratischen und rechtsstaatlichen Struktu-ren. Das haben wir nicht zuletzt in Nordafrika und in derarabischen Welt in diesem Frühjahr und Frühsommer er-lebt. Viele der jungen Männer und Frauen, die dort aufdie Straße gegangen sind und für Veränderungen undReformen kämpfen und eintreten, gehören zur Bildungs-elite dieser Länder. Auch deshalb ist es richtig und wich-tig, dass wir den Bildungsbereich in der Entwicklungs-zusammenarbeit zu einem Schwerpunkt machen. Dabeimüssen wir passgenaue Bildungskonzepte für und mitunseren Partnerländern entwickeln und umsetzen, wobeieine Fokussierung auf bestimmte Bereiche – sei es auffrühkindliche Bildung, Grund- und Sekundarbildung bishin zur beruflichen Bildung und dem lebenslangen Ler-nen – in den einzelnen Partnerländern sicherlich zu mehrEffizienz führt.Gerade weil im Bereich Bildung ein umfassender An-satz erforderlich ist, ist das Thema Arbeitsteilung umsobedeutender. Frau Kofler hat darauf zu Recht hingewie-sen. Eine bessere internationale Arbeitsteilung unter denGebern muss endlich angegangen werden, und Befind-lichkeiten müssen zugunsten einer höheren Wirksamkeitvon Entwicklungszusammenarbeit zurückstehen.
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden internationaleArbeitsteilung, den sogenannten Code of Conduct, wei-ter vorantreiben. Für unsere Entwicklungszusammenar-beit wird das letztendlich auch heißen, dass wir uns auseinigen Bereichen zugunsten anderer Geber zurückzie-hen und zu mehr Kooperation mit anderen Gebern bereitsein müssen.Ich hoffe sehr, dass wir dabei auf dem High Level Fo-rum IV zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenar-beit in Busan Ende November ein großes Stück voran-kommen werden. Die Verringerung der Fragmentierungder Entwicklungszusammenarbeit wird für unseren Er-folg entscheidend sein. Gerade wir als Europäer stehenin einer besonderen Pflicht. Liebe Kollegen der SPD-Fraktion, da Sie das in Ihrem Antrag auch so sehen,hoffe ich, dass wir gemeinsam weiterkommen und Sieuns unterstützen.Des Weiteren müssen wir im Bildungsbereich unsereFähigkeiten und Kapazitäten, in denen wir am erfolg-reichsten sind, ausbauen und so andere Geber ergänzen.Es muss letztendlich darum gehen, den Menschen in un-seren Partnerländern durch gute und erreichbare Bil-dungsangebote neue Lebensperspektiven zu eröffnen.Deshalb war es auch der richtige Schritt, dass das Bun-desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung unter Minister Niebel sich dafür entschie-den hat, den Bildungssektor allgemein zu stärken unddie Investitionen für den Bildungsbereich in Afrika – einKontinent mit vielen Defiziten – bis 2013 zu verdoppeln.
Die vorgelegten Eckpunkte für eine neue Bildungs-strategie des Bundesministeriums gehen aus unsererSicht in die richtige Richtung, nämlich einen stärkerenFokus auf die Qualität der Bildungsangebote zu legensowie eine bedarfsgerechte Ausrichtung und die Berück-sichtigung eines ganzheitlichen Bildungsansatzes zu ver-folgen.Ein Hauptaugenmerk der neuen Bildungsstrategie mitdem Namen „Mehr Bildung. Mehr Wachstum. Mehr Ge-rechtigkeit.“ ist es, die Qualität von Schulen, Ausbil-dungsstätten und Bildungsangeboten in unseren 58 Part-nerländern zu verbessern. Darüber waren sich auch dieTeilnehmer der Auftaktveranstaltung im März, als derEntwurf der Bildungsstrategie vorgestellt wurde, einig.Denn leider stellen wir immer wieder fest, dass Mädchenund Jungen trotz Schulbesuch oft weniger lernen, als sieeigentlich könnten. Einer Studie von 2009 zufolge warenin Indien nur 38 Prozent der Viertklässler auf dem Landin der Lage, einen Text auf dem Lernniveau der zweitenKlasse zu lesen. In Malawi und Sambia konnten mehrals ein Drittel im sechsten Schuljahr nicht flüssig lesen.Oft fehlt es an einfachem Lernmaterial; und überfüllteSchulen – Frau Kofler hat es erwähnt – bieten keine guteLernatmosphäre. Hinzu kommt, dass die Qualität derLehrerausbildung oft nicht ausreichend ist. Abhilfe isthier dringend geboten und erforderlich. Die ersten Pro-jekte wurden bereits gestartet. So wurde beispielsweisedie GIZ in Kabul damit beauftragt, das dortige KabulMechanical Institute, eine Berufsschule mit 100 Lehrernund 1 200 Auszubildenden, zu unterstützen. Die dortigenLehrer erhalten nun ein fundiertes und regelmäßigesFort- und Weiterbildungsangebot.Erschreckend ist auch, dass Schulen in vielen Bürger-kriegsländern in Afrika und Asien häufig Ziel von An-griffen sind. Die UN-Organisation für Bildung, Wissen-schaft, Kultur und Kommunikation registrierte im Jahr2009 in Afghanistan 613 Attacken auf Schulen. ImNordjemen wurden 220 Schulen bei Kämpfen zerstört.Im Kongo gehen viele Mädchen nicht zum Unterricht,aus Angst, dass sie auf dem Weg zur Schule oder in denKlassenräumen von Milizionären überfallen und verge-waltigt werden könnten.Vielen Regierungen in den armen Staaten, in den Ent-wicklungsländern, sind Soldaten wichtiger als Lehrerund Schulen nicht so wichtig wie Panzer. 21 Entwick-lungsländer geben mehr für Rüstung aus als für die Bil-dung und für die Schulen. Deshalb muss von den Regie-rungen der Entwicklungsländer immer wieder eingefor-dert werden, für die Bildung ihrer Bürger zu sorgen. So-lange dies von staatlicher Seite und von staatlichen Stel-len ungenügend wahrgenommen wird, müssen privateTräger als Alternative im Bildungsbereich unterstütztwerden. Gerade Kirchen schließen in ganz besondererWeise diese Lücke.
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Anette Hübinger
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Zum Schluss möchte ich auf ein weiteres Erfordernishinweisen. Wir brauchen eine stärkere Analyse der Pro-bleme, aber auch von Ergebnissen und Erfolgen, um inder Entwicklungspolitik im Allgemeinen wie auch imBildungsbereich im Besonderen voranzukommen. Auchdas hat die Regierung aufgegriffen. Die vom BMZ ge-wählte Form, gemeinsam mit Hilfsorganisationen, Uni-versitäten, Stiftungen, unabhängigen Experten und allenan der Thematik Interessierten eine Strategie zu erarbei-ten, ist innovativ und bündelt das gesamte Fachwissen.Ich hoffe, dass viele ihre Ansichten und Meinungen imBereich Bildung eingebracht haben, und bin auf die Vor-stellung der Ergebnisse durch das Ministerium gespannt.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ha-ben die Chance meines Erachtens nicht so genutzt, wiesie hätte genutzt werden können. Ich hoffe aber, dass wirin der Bildung auch zukünftig auf einen guten Konsenskommen, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr Niema Movassat für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nel-son Mandela, der ehemalige Präsident Südafrikas, hateinmal gesagt:Das größte Problem in der Welt ist Armut in Ver-bindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafürsorgen, dass Bildung alle erreicht.Wo Bildung fehlt, fehlt auch der Ausweg aus Armut,Hunger und Krankheit. Wie man sich etwa vor HIVschützen kann, müssen Menschen lernen. Bildung ist da-für existenziell. Deshalb ist Bildung ein Menschenrecht.Nur ein Kind, das Bildung erhält, hat als Erwachsenerdie Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Nur durchBildung kann es seine Rechte kennenlernen und geltendmachen. 72 Millionen Kinder in den Entwicklungslän-dern, die heute nicht lesen und schreiben lernen, werdenum diese Chancen betrogen. Das ist ein unhaltbarer Zu-stand.
Entscheidend für die Bildungschancen von Kindernsind aus meiner Sicht vier Punkte.Erstens brauchen wir Kostenfreiheit. Der vorliegendeAntrag der SPD hat den Kern getroffen: gebührenfreierSchulbesuch, kostenlose Lernmittel. Ich möchte hinzu-fügen: keine Studiengebühren. Die große Mehrheit derEltern in den Entwicklungsländern kann es sich schlichtnicht leisten, für den Schulbesuch ihrer Kinder zu bezah-len. Wer sagt, er möchte allen Kindern weltweit dieChance auf Bildung geben, muss deshalb Ja zur Gebüh-renfreiheit sagen.
Das muss auch Herr Niebel endlich zur Kenntnis neh-men. Denn der Entwurf einer Bildungsstrategie des Ent-wicklungsministeriums spricht das Problem von Schul-und Studiengebühren nicht einmal an.
Ich hoffe nicht, dass dies aus irgendwelchen niederenideologischen Motiven heraus so ist, nach dem Motto:Als Koalition sind wir in Deutschland für Studiengebüh-ren; deshalb erteilen wir auch international Gebührenkeine klare Absage. Das wäre verantwortungslos Millio-nen Kindern gegenüber, die ohne Zugang zu Bildungsind.
Zweitens. Wir brauchen ein hochwertiges staatlichesSchulsystem. In vielen Entwicklungsländern ist das Bil-dungssystem stark privatisiert. Es gibt eine fast schonunüberschaubare Anzahl von privaten Trägern. Die Bun-desregierung will aber laut dem Konzeptentwurf nochmehr nichtstaatliche Kräfte ins Boot holen. So soll dieKooperation mit der deutschen Privatwirtschaft ausge-baut werden.Ich sage Ihnen noch einmal: Bildung ist ein Men-schenrecht. Das Profitinteresse, das Unternehmen natur-gemäß haben, deckt sich nicht mit dem Erfordernis, allenMenschen Zugang zu Bildung zu bieten. Bildung darfnicht von wirtschaftlichen Interessen abhängen.
Bildung ist eine öffentliche Aufgabe. Darauf sollte sichdie Bundesregierung auch international konzentrieren.Drittens. Wir brauchen echte Bildungspartnerschaftenmit den Entwicklungsländern statt westlicher Arroganz.Die Bildungsstrategie des Ministeriums zeugt leidernicht von der vielbeschworenen Kommunikation aufAugenhöhe. Sie unterstellt, dass viele Länder schlichtnicht ernsthaft gewillt sind, ihren Bildungssektor selbstausreichend zu finanzieren. Das ist nicht nur eine Unver-schämtheit, sondern in dieser Absolutheit auch einfachfalsch.
Viertens. Falsch ist es insbesondere deswegen, weilspätestens seit dem UNESCO-Weltbildungsbericht be-kannt ist, dass mehr Geld gebraucht wird. Rund 16 Mil-liarden US-Dollar fehlen, um das Ziel „Bildung für alle“durchzusetzen. Für diesen Geldmangel sind auch Sievon der Bundesregierung verantwortlich. Sie haben dasZiel aufgegeben, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonatio-naleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeitauszugeben, und dies, obwohl Sie für Bankenrettungenohne Weiteres jederzeit Milliarden zur Verfügung stel-len. Das ist ein Armutszeugnis für Ihre Entwicklungszu-sammenarbeit.
Partnerschaft auf Augenhöhe im Bildungssektor be-deutet nicht, den Partnerländern westliche Lernkonzepteüberzustülpen. Stattdessen müssen wir die Experten ausden Ländern selbst befähigen, eigene Konzepte auf
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Niema Movassat
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Grundlage ihrer Bildungstradition zu entwickeln. Dazubraucht es mehr Budgethilfe im Bildungssektor. Wir ha-ben das Vertrauen, dass die Partnerländer am besten wis-sen, wie man das Geld erfolgreich einsetzt. Partnerschaftauf Augenhöhe funktioniert nur durch Vertrauen undnicht durch Unterstellung.Danke.
Das Wort hat nun Christiane Ratjen-Damerau für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Ich freue mich, dass die SPD-Fraktion sich unserenKoalitionsvertrag, die Arbeit des Bundesministeriumsfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungund die Arbeit der Regierungskoalition zum Vorbild ge-nommen hat. Mit Ihrem Antrag für eine bessere Bildungweltweit wiederholen Sie die Arbeit, die wir bereits inden letzten zwei Jahren geleistet haben.
Die christlich-liberale Koalition hat die Forderungnach einer weltweit besseren Bildungssituation aus-drücklich als einen der Schlüsselsektoren der Entwick-lungszusammenarbeit im Koalitionsvertrag festgeschrie-ben.
Ausformuliert haben wir in der Regierungskoalitiondiese Forderung des Koalitionsvertrages im Juni letztenJahres in dem Antrag „Bildung in Entwicklungs- undSchwellenländern stärken – Bildungsmaßnahmen anpas-sen und wirksamer gestalten“. Verabschiedet wurde derAntrag im November letzten Jahres. Sie hätten bereits zudiesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, unseren For-derungen zuzustimmen. Die Grünen haben sich derStimmen enthalten; SPD und Linke stimmten dagegen.
Mädchenförderung, Förderung der beruflichen Bil-dung, Ausbau der Sekundarschulen und der weiterfüh-renden Bildungsangebote, Verbesserung der Qualität derBildung, Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Interna-tionalen Arbeitsorganisation etc.: All diese Forderungenfinden Sie in unserem Antrag ausgeführt.Sie haben der Grund- und Sekundarbildung eine zen-trale Stellung in Ihrem Antrag eingeräumt. Damit sindSie genau auf der Linie der christlich-liberalen Koali-tion. Grundbildung ist und bleibt ein fundamentales An-liegen für uns. Eine zentrale Frage in den Entwicklungs-ländern ist jedoch: Was wird den Grundschulabgängernals Perspektive geboten? Deshalb haben wir schon voreinem Jahr zusätzlich zur Grundbildung vor allem An-strengungen in der Sekundarbildung gefordert.Eine große Herausforderung bleibt das Erreichen ei-ner Grundschulbildung für alle Kinder weltweit. AberSie müssen anerkennen, dass sieben Staaten in Subsa-hara-Afrika das zweite Millennium-Entwicklungszielbeinahe erreicht haben. Die Förderung von Sekundar-schulen ist deshalb unerlässlich. Hier wird noch einigeszu tun sein.In den nächsten zwei Monaten wird der Bundesminis-ter die Bildungsstrategie seines Ministeriums vorstellen.
Der erste Entwurf dieses Strategiepapieres wurde bereitsim März dieses Jahres veröffentlicht. Alle von Ihnen imvorliegenden Antrag gestellten Forderungen finden Sieim Wesentlichen bereits in diesem Entwurf. An einigenStellen geht der Entwurf des Bundesministeriums überIhre Forderungen hinaus. So erkennt der Minister, dasses in den Entwicklungsländern einer stärkeren Förde-rung der Hochschulbildung bedarf. Außerdem soll dieWirksamkeit der eingesetzten Mittel überprüft und er-höht werden. Beides ist richtig.In der rot-grünen Regierung hatte man bewusst ent-schieden, keine Mittel für Projekte in der Hochschulbil-dung bereitzustellen. Wir unterstützen bereits jetzt diePanafrikanische Universität als ein Leuchtturmprojekt;andere werden folgen.
Trotz des Sparzwangs aller Bundesetats sollen dieBildungsausgaben für Afrika im Vergleich zum Jahre2009 bis zum Jahre 2013 verdoppelt werden. Ebensowird die Zahl der Partnerländer mit dem SchwerpunktBildung erhöht. Dies zeigt, welche Bedeutung die christ-lich-liberale Koalition der weltweiten Bildung zumisst.Der Minister hat seit Veröffentlichung des Strategie-papieres in einem transparenten und umfangreichen Pro-zess Konsultationen mit allen beteiligten Akteurengeführt. Es gab darüber hinaus sechs Dialogveranstal-tungen zur Diskussion des Entwurfes der neuen BMZ-Bildungsstrategie.In unserem Ausschuss waren sich die Vertreter allerFraktionen mit den Nichtregierungsorganisationen da-rüber einig, dass die Mädchenförderung ein größeresGewicht und eine stärkere Betonung erhalten muss. Wirhaben dies immer wieder und nachhaltig in unseren Stel-lungnahmen zum Entwurf der Bildungsstrategie deutlichgemacht. Das Ministerium hat bereits Zustimmung dazusignalisiert, die Mädchenförderung in der Bildungsstra-tegie deutlicher hervorzuheben.
Auch wir bekennen uns dazu, dass in erster Linie derStaat Bildung zur Verfügung stellen muss. Angesichtsstark unterfinanzierter Bildungshaushalte in den Ent-wicklungsländern und generell knapper Mittel spielendie Leistungen der Nichtregierungsorganisationen, Kir-
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Dr. Christiane Ratjen-Damerau
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chen und Stiftungen jedoch eine wichtige Rolle; diesesoll ausgebaut werden.
Die von der Koalition geforderte Verstärkung der Zu-sammenarbeit mit der Privatwirtschaft sollte nicht ausideologischen Gründen abgelehnt werden. Besonders imBereich der beruflichen Bildung können Unternehmeneinen bedeutenden Beitrag leisten.Bildung ist nicht nur ein entscheidendes Feld in derEntwicklungspolitik, sondern auch ein Menschenrecht.Unser Antrag aus dem letzten Jahr und die kommendeBildungsstrategie aus dem Ministerium bilden den bes-ten Weg, um Bildung als Menschenrecht durchzusetzen.Es freut mich außerordentlich, dass Sie das nach so lan-ger Regierungszeit, in der Sie das BMZ geführt haben,nun genauso sehen wie wir. Sie stimmen sogar bei derFrage der Umsetzung der Ziele im Großen und Ganzenmit Union und FDP überein. Lassen Sie uns daher ge-meinsam an einer Verbesserung der Zukunftschancenvon Menschen in Entwicklungsländern arbeiten.
Wir können Ihrem Antrag jedoch nicht zustimmen;denn wir haben vieles von dem, was Sie in Ihrem Antragfordern, bereits erreicht.
Danke schön.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Ute Koczy vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Warum muss man eigentlich immer noch aufdie Bedeutung der Bildung hinweisen? Ist das nichtlängst ein Selbstläufer? Wir kennen die Antwort: Nein,Bildung ist kein Selbstläufer; sie ist und bleibt ein Politi-kum. Wir vom Ausschuss für Entwicklungszusammen-arbeit wissen: Wenn wir die Bildungsziele wirklich bis2015 erreichen wollen, dann müssen massiv Mittel nach-gelegt werden. Frau Kollegin Ratjen-Damerau, das ist– anders als Sie es ganz am Ende Ihrer Rede gesagt ha-ben – noch nicht erreicht. Da muss noch viel mehr kom-men; deswegen diskutieren wir heute darüber.
Das BMZ hat im März dieses Jahres eine Bildungs-strategie vorgelegt, doch sie verdient den Namen „Stra-tegie“ nicht wirklich; denn es bleibt unklar, durchwelche Maßnahmen die Ziele erreicht und wie diese fi-nanziert werden sollen. Es gibt keine Indikatoren undkeine konkreten Zahlen. Auch im Hinblick auf die Zieleder Strategie stellen wir fest, dass wesentliche Elementefehlen. Jetzt haben wir gehört, dass nachgebessert wird;denn – man höre und staune – das Ministerium hat ver-gessen, das Gender Gap zu thematisieren. Mädchen- undFrauenförderung ist – das wird wahrscheinlich noch biszum Herbst so sein – kein eigenständiges Ziel der BMZ-Bildungsstrategie. Deswegen hat die SPD recht, wennsie das kritisiert.
Ich frage: Wie will das Ministerium ohne ein solches Be-kenntnis dafür sorgen, dass Mädchen und Frauen geför-dert werden? Diese Chance ist vertan worden. Es freutmich natürlich, zu hören, dass das BMZ an dieser Stellenachbessern will; denn wir brauchen eine klare Gender-perspektive im Bildungssektor.Dieses Problem besteht nicht nur in der Grundbil-dung, sondern setzt sich in der Sekundarbildung fort.Wir sehen, dass das BMZ Wert auf die Grundbildunglegt. Es legt auch Wert auf Hochschulbildung und Wis-senschaft. Der Fokus wird aber nicht auf die Sekundar-bildung gerichtet. Das heißt, dass auch hier massiv nach-gebessert werden muss. Ich erwarte vom Ministerium,dass auch diese eklatanten Mängel ausgebessert werden.Ein weiterer Punkt: Es fehlt der Bezug zur Fast-Track-Initiative. In der Bildungsstrategie des BMZ wirdangekündigt, dass Deutschland diese Reform vorantrei-ben will. Das ist angesichts der strukturellen Schwächenund Verschleißerscheinungen der Fast-Track-Initiativenatürlich zu begrüßen. Klar ist aber auch, dass es finan-zielle Engpässe gibt. In der Strategie findet man abernichts darüber, wie man im Rahmen des Haushaltsent-wurfs diese Lücken schließen will. Das kritisieren wir.Anfang September, anlässlich des Weltbildungstages,konnten wir von Minister Niebel hören, Deutschland seider zweitgrößte Geber im Bildungsbereich. Gucken wirdoch einmal genauer hin: Kommt die Bundesregierungihren internationalen Verpflichtungen tatsächlich nach?Wir stellen fest, dass ein großer Teil der deutschenODA-Quote aus Studienplatzkosten für Studierende ausEntwicklungsländern besteht. Das begrüßen wir zwargrundsätzlich; das heißt aber auch, dass dieses Geldnicht in die eigentliche Bildungsförderung geht. Das istfalsch. Das ist verkehrt.
Zum Antrag der SPD: Sie hätten aus den zuvor ge-nannten Gründen in Ihrem Antrag deutlicher Kritik ander Bildungsstrategie des BMZ üben können. Das istaber kein Grund, den Antrag jetzt abzulehnen. Weil wirhinsichtlich Analyse und Forderungen übereinstimmen,werden wir zustimmen.Der Zugang zu Bildung weltweit und insbesonderedie Qualität der Bildung müssen verbessert werden. Dasind wir uns, glaube ich, einig. Sie müssen aber mehr für
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Ute Koczy
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die Mädchen und die Frauen tun. Im Ausschuss wurdenheute Morgen einige Beispiele aus der Praxis genannt,zum Beispiel getrennte Schultoiletten. Es wurde auchdarauf hingewiesen, dass – es war erschreckend, dasfestzustellen – die Menstruation ein Hindernis für dieMädchen darstellt, die Sekundarschule zu besuchen,weil sie keine Möglichkeit haben, in diesem Zustand indie Schule zu gehen. Es gibt Vorschläge, wie man diesesProblem lösen kann.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie sehen: Es gibt viele Chancen, mehr zu tun. Fakt
ist: Wir müssen sie nutzen. Packen Sie es an! An das
BMZ gerichtet, sage ich: Im Herbst haben Sie noch eine
Chance. Setzen Sie das, was Sie versprochen haben,
auch um.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6484 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Weltmädchentages der Ver-
einten Nationen
– Drucksache 17/7021 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Sabine Weiss von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Wochen-ende bin ich in meinem Freundeskreis gefragt worden,welche Initiativen aus meinem Bereich, der Entwick-lungspolitik, als Nächstes anstehen. Ich habe dann vonunserem gemeinsamen Antrag zur Einrichtung einesWeltmädchentages der Vereinten Nationen berichtet. Ichhabe geschildert, wie desolat und schlimm die Lebens-bedingungen vieler Mädchen und junger Frauen in Tei-len dieser Welt sind, wie sie benachteiligt werden undwie groß die Gewalt ihnen gegenüber ist. Ich habe vonZwangsverheiratung, von fast 15 Millionen Teenager-schwangerschaften, von mangelndem Zugang zu Bil-dung und zu Gesundheitsversorgung berichtet. Ich habeauch davon berichtet, dass 150 Millionen Mädchen unter18 Jahren ihre ersten sexuellen Kontakte unter Anwen-dung von Gewalt erleben müssen.Meine Schilderungen der Situation von Mädchenwurden mit Entsetzen und der Aufforderung „Da mussaber dringend etwas getan werden“ aufgenommen. Dannwurde mir aber die Frage gestellt: Was wird sich an derLebenssituation von Mädchen ändern, wenn es nun – ne-ben all den anderen Tagen – auch noch einen UN-Mäd-chentag gibt? Wir können uns nicht vorstellen, dass auchnur ein Mädchen mehr aufgrund eines solchen Tages zurSchule geht. Das ist doch wieder alles nur Symbolpoli-tik. – Bei dieser Bemerkung habe ich angesichts der Of-fenheit erst einmal geschluckt. Im Kern ist etwas Wahresdaran. Ein UN-Tag für die Rechte von Mädchen darfnicht zu reiner Symbolik verkommen. Wir brauchenohne Zweifel einen UN-Mädchentag, aber als erstenSchritt. Seine bloße Existenz allein wird nicht das Endedes Leidens von vielen jungen Frauen und Mädchenmarkieren.Ich hoffe sehr, dass es gelingt, den 22. September zumUN-Mädchentag zu deklarieren.
Es wäre ein erster und wichtiger Sieg im Sinne von mehrAufmerksamkeit für die sehr schwierige Lebenssituationvieler Mädchen. Aber nur wenn wir es schaffen, diesenTag mit Leben zu füllen, wird er sein eigentliches Zielerreichen. Das Bewusstsein weltweit muss geschärftwerden, damit sich im Leben vieler Mädchen etwas zumGuten verändern kann. Wir können hier im DeutschenBundestag keine Gesetze erlassen, die Genitalverstüm-melung weltweit verbieten oder Zwangsverheiratungvon Mädchen in anderen Ländern unter Strafe stellen.Aber wir können dafür sorgen, dass die Rechtlosigkeitund die Unterdrückung von Mädchen ein Stück mehr insZentrum der Aufmerksamkeit rücken. Das tun wir heuteund hier mit unserer Debatte und der Forderung nach ei-nem UN-Mädchentag.Ich habe leider nicht die Zeit, auf alle im Antrag ge-schilderten Missstände und Benachteiligungen von Mäd-chen weltweit einzugehen. Damit würde ich wohl – sehrzum Missfallen des Präsidenten – meine Redezeit um einVielfaches überschreiten. Daher möchte ich heute Abendeinen Punkt herauspicken. Weltweit sind schätzungs-weise 150 Millionen Frauen genitalverstümmelt. JedesJahr kommen 3 Millionen Mädchen hinzu. Genitalver-stümmelung ist eine furchtbare Menschenrechtsverlet-zung, unter der die Opfer physisch und psychisch ihrLeben lang leiden. Viele Mädchen überleben diese Pro-zedur erst gar nicht.Ich habe vor einiger Zeit einen Aufklärungsfilm überGenitalverstümmelung gesehen. Der Film zeigt diesestagtäglich an Mädchen begangene Verbrechen mit scho-
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Sabine Weiss
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nungsloser Offenheit. In einer Szene wird ein Mädchenvon seiner eigenen Mutter festgehalten, damit eine Frau,bewaffnet mit einer schmutzigen Rasierklinge, ihr bluti-ges Geschäft vollenden kann. Danach näht diese Fraudas Mädchen wie ein Stück gerissenen Stoff zu. Die insMark gehenden Schreie dieses Mädchens verfolgenmich noch heute. Diese barbarische Tortur müssen jedesJahr 3 Millionen Mädchen erleiden. Wenn ich mir dasvorstelle, dann finde ich, dass es höchste Zeit ist, durcheinen UN-Mädchentag mehr Aufmerksamkeit auf diesefurchtbare Praxis zu richten.
Da muss der Finger in die Wunde gelegt werden, undzwar permanent, damit das Bewusstsein für das, wasman Töchtern und Ehefrauen durch Genitalverstümme-lung antut, wächst. Es gibt noch viel zu viele Länder, indenen diese grausame Menschenrechtsverletzung auf-grund irgendwelcher Traditionen an der Tagesordnungist. Wenn ein UN-Mädchentag helfen kann, dieses Be-wusstsein zu schärfen, dann brauchen wir diesen Tageher heute als morgen.Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an dieMitglieder des Parlamentarischen Beirats für Bevölke-rung und Entwicklung der Deutschen Stiftung Weltbe-völkerung. Dieser Beirat beschäftigt sich mit Themenwie der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und denRechten von Frauen und Mädchen. In diesem überfrak-tionellen Beirat wurde auch die Idee zu diesem Antraggeboren. Meine geschätzte Kollegin Frau Roth hat danneinen ersten Entwurf erarbeitet. Auch dafür meinenherzlicher Dank!Dass es dieser Antrag hier und heute ins Plenum desDeutschen Bundestages geschafft hat, freut mich sehr.Es wundert mich aber auch nicht; denn in dem Beirat ar-beiten wir überfraktionell sehr gut und konstruktiv zu-sammen. Die unterschiedlichen Fraktionen sind ja sonstin manchen bis vielen Dingen unterschiedlicher Mei-nung; das zeigt sich auch in entsprechend kontroversenDiskussionen hier im Plenum. Aber unser gemeinsamerAntrag zeigt, dass wir auch an einem Strang ziehen undgemeinsam für eine Sache eintreten können.Die Einrichtung eines UN-Mädchentages ist ein er-strebenswerter erster und wichtiger Schritt und damitkeine Symbolpolitik. Es ist an uns allen, diesen Tag,sollte er – hoffentlich – kommen, mit Leben und Auf-merksamkeit zu füllen; denn nur so kann er sein Ziel er-reichen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth von der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten heute einen gemeinsamen Antrag zur Einrich-tung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen.Kollegin Weiss hat gerade sehr eindrücklich geschildert,wie wichtig es ist, dass wir hierzu eine gemeinsame Ver-abredung treffen. Wir müssen in der Welt deutlich ma-chen, dass wir die unterschiedlichen Initiativen, die esbereits gibt, unterstützen. Ich bin sehr froh, dass es zwi-schen uns – bei allen Unterschieden – viele Gemeinsam-keiten gibt und dass wir dies auch zum Ausdruck brin-gen. Die vorangegangene Debatte, in der deutlich wurde,dass wir das Thema Bildung in den Mittelpunkt rückenund die damit verbundenen Herausforderungen bewälti-gen müssen, war ein Beweis dafür, dass wir noch vieleInitiativen ergreifen müssen, um auf diesem Gebiet vo-ranzukommen.Im Hinblick auf die Frage „Handelt es sich hierbei umSymbolik oder ist das ein notwendiger Schritt?“ solltenwir Frauen uns unsere eigene Situation bewusst machen.Auch wir Frauen haben unsere Erfolge nicht von heuteauf morgen erzielt. Es bedurfte eines Frauentages und ei-ner Frauenbewegung, um erfolgreich zu sein. Wir allehaben uns zusammengeschlossen und gemeinsam ge-kämpft.
Es geht darum, das Bewusstsein der Frauen in den be-treffenden Ländern zu schärfen, Aufklärung zu organi-sieren und den Frauen Mut zu machen, aus ihrem Teu-felskreis herauszukommen. Das gilt nicht nur für dasThema Genitalverstümmelung – hier bin ich voll undganz Ihrer Meinung –, sondern auch auf anderen Gebie-ten. Mit der Einrichtung eines Weltmädchentages ist diegroße Aufgabe verbunden, Aufklärung zu organisieren,den Mädchen Mut zu machen, für ihre Rechte zu kämp-fen und überall dort, wo es brennt, den Finger in dieWunde zu legen.Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, dassdieses Thema viele Facetten hat. In Nepal gibt es Mäd-chen aus dem Stamm der Kamalari, die schon mit sechsJahren verkauft werden. Eines dieser Mädchen schrieb– das möchte ich zitieren –:Meine Kindheit war zu Ende, als ich sechs Jahre altwar. Da verkauften mich meine Eltern per Hand-schlag für 120 Euro nach Kathmandu. Man hattemir versprochen, dass ich zur Schule gehen würde.Aber ich wurde als Dienerin verkauft und nicht alsSchülerin.Mein Arbeitstag beginnt morgens um vier – Putzen,Kochen, Waschen –, und oft werde ich geschlagen.In Nepal ist Kinderhandel verboten – theoretisch.Praktisch findet er dort aber jeden Tag statt. Ich selbsthabe mit Mädchen in Kathmandu gesprochen, die das al-les erlebt haben.Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den Gesetzenund deren Einhaltung. Das kennen wir auch von unserer
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14887
Karin Roth
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Republik. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen An-spruch und Wirklichkeit. Mädchen sind Sklavinnen. Siesind diejenigen, die dienen und die misshandelt und se-xuell missbraucht werden – millionenfach. Allein das istein Grund dafür, einen UN-Tag für Mädchen einzufüh-ren; denn Menschenrechte gelten für alle, für Männerund Frauen gleichermaßen. Die Ausbeutung und Be-nachteiligung von Mädchen geschieht aber, ohne dass eseinen großen Protest gibt.Die Geringschätzung von Mädchen und Frauen hattiefe Wurzeln. Das haben wir heute Morgen auch disku-tiert. Grund dafür sind die kulturellen Denkweisen, dieTraditionen und die religiösen Überzeugungen, nach de-nen Mädchen und Frauen gegenüber Jungen minderwer-tig sind. Diese Schranke zu durchbrechen, diese kultu-relle Barriere zu überwinden, die mehr oder wenigerdazu führt, dass Mädchen in diesen Gesellschaften sobehandelt werden, ist das Komplizierteste, was wir unsmit diesem Weltmädchentag der Vereinten Nationen vor-nehmen.Deshalb verlangen wir nichts weniger als den Ver-such, das Miteinander in diesen Gesellschaften zu verän-dern. Dazu können wir nicht in allen, aber in vielenBereichen beitragen. Es gibt wirklich Dinge, die gleich-zeitig angepackt werden müssen – eben nicht nur dieBildung, sondern vieles zusammen –, und zwar mit ver-einten Kräften.Wir wissen – das haben wir schon gehört –, dass ge-bildete Mädchen später gebären und vor allen Dingenweniger Kinder haben. Wenn sie ausgebildet sind, sindsie produktiver und auch selbstbewusster. Meine Kolle-gin Kofler hat es schon gesagt: Die besser Ausgebildetentragen stärker zum Bruttosozialprodukt bei. Auch auf-grund des Berichtes der Weltbank ist klar: Bildung lohntsich auf jeden Fall – nicht nur für die Mädchen, sondernauch für die Gesellschaft.Wir wissen, dass 70 Prozent der mehr als 1 MilliardeMenschen, die heute hungern, weiblich sind. Auch daszeigt, dass Mädchen besonders betroffen sind.Frau Kollegin Kofler, Sie haben es gesagt: 100 Mil-lionen Mädchen sind von Kinderarbeit betroffen, wes-halb sie gar nicht zur Schule gehen können. Auch dasmuss gesehen werden. Deshalb brauchen wir auch Maß-nahmen dafür, dass Mädchen lernen können und nichtarbeiten müssen.Nicht zu vergessen sind auch die HIV-Infektionen, dieFrauen und insbesondere junge Mädchen betreffen, dieMüttersterblichkeit und die 6 Millionen ungewolltenTeenagerschwangerschaften jedes Jahr, von denen vielemit Abtreibungen und erheblichen gesundheitlichen Fol-gen verbunden sind.Es geht also darum, große Tabus in diesen Ländern zubrechen. Hier müssen wir mithelfen. Wenn Mädchenzum Beispiel nicht aufgeklärt werden, dann führt dasdazu, dass sie keine entsprechende Prävention betreibenkönnen.Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es herrscht einegroße Doppelmoral, wenn man einerseits die MillionenOpfer von HIV/Aids und der Müttersterblichkeit be-klagt, aber andererseits nicht das Notwendige dagegentut. Das Notwendige zu tun, heißt aus meiner Sicht, dasswir im Rahmen unserer Entwicklungspolitik dafür sor-gen müssen, dass die Mädchen trotz der päpstlichen An-weisung einen kostenlosen Zugang zur Aufklärung undzu Verhütungsmitteln haben.
Das ist eine entscheidende Maßnahme; denn es geht da-rum, dass man nicht nur die Zustände beschreibt, son-dern auch die Wege öffnet, statt sie zu verschließen.Deshalb wundert es mich doch schon sehr, Frau Kol-legin Kopp, dass die Bundesregierung die Mittel für denBevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, UNFPA,dessen Schwerpunkt das Thema Familienplanung ist, um9 Prozent reduziert, anstatt wenigstens das zu erhalten,was im vergangenen Jahr in diesem Bereich ausgegebenworden ist.Aber heute geht es um Gemeinsamkeiten. Meine Kol-legin Weiss hat das Thema Genitalverstümmelung ange-sprochen, und es gibt weitere Themen.Ich denke, es kommt darauf an, dass die Würde derMädchen, die Unversehrtheit des Körpers und die Frageder Vergewaltigung von Mädchen genauso in den Blickgenommen werden wie alle anderen Dinge auch. Wirwollen mit diesem Mädchentag dazu beitragen, dass sicham Ende der Blickwinkel in den Ländern verändert.Ich wünsche mir, dass wir uns gemeinsam dafür enga-gieren, dass kein Mädchen auf der Welt mehr ausgebeu-tet, ignoriert, verletzt, unterdrückt, gegen ihren Willenverheiratet, zwangsprostituiert oder verkauft wird. Wennes uns mit diesem Mädchentag gelingt, hier eine stärkereAufmerksamkeit zu erreichen und die Welt ein Stückweit zu verändern, dann lohnt es sich, für diesen Tagnicht nur zu kämpfen, sondern ihn in allen Bereichen mitunserem Geld, unserem Engagement, unserem Wissenund unserer Kompetenz anständig zu unterstützen.Vielen Dank.
Für die FDP hat jetzt die Kollegin Helga Daub das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegenund Kolleginnen! Ein Weltmädchentag der VereintenNationen? Ja, wir halten dies für eine wichtige und guteInitiative – so gut, dass wir einen fraktionsübergreifen-den gemeinsamen Antrag formuliert haben. An dieser
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14888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Helga Daub
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Stelle möchte ich allen ganz herzlich danken, die daranmitgewirkt haben.Einige werden sich natürlich fragen, warum wir einenWeltmädchentag fordern. Es gibt doch schon zu vielenThemen und Anlässen, die Kinder betreffen, besondereTage, entsprechende UN-Konventionen und Resolutio-nen. Wir haben in Deutschland auch eine Kinderkom-mission, was begrüßenswert und sinnvoll ist.Obwohl wir uns Gott sei Dank mittlerweile viel inten-siver mit den Rechten und dem Wohlergehen von Kin-dern beschäftigen, zeigt die Wirklichkeit, dass geradeMädchen und junge Frauen noch stärkerer Beachtungbedürfen.Zwar sind wir in der sogenannten entwickelten Weltin den letzten Dezennien schon ein ganzes Stück voran-gekommen. Frau Roth, Sie haben gesagt, dass noch vielzu tun sei. Das ist richtig. Auch wissen wir, welch wert-volles und letztlich unverzichtbares Potenzial Mädchenund junge Frauen haben und dass sie eine Bereicherungfür die Gesellschaft sind.Bei uns ist es noch gar nicht so lange her, dass eshieß: Mädchen brauchen doch keine höhere Bildung. Sieheiraten am Ende ja doch. – In der Regel führte das danngeradewegs allenfalls in eine Hauswirtschaftsschule.Nicht, dass ich das herabwürdigen möchte, aber die hö-here Bildung blieb den Mädchen dann verschlossen. Ichdenke, dass es auch hier Kolleginnen gibt, die diese Gei-steshaltung wie ich noch miterlebt haben. Heute müssenwir – jedenfalls bei uns – viel eher aufpassen, dass nichtkleine Jungen die Bildungsverlierer sind; das aber nuram Rande. Unser Antrag bezieht sich auf Mädchen, diein Gesellschaften leben, die ein völlig anderes Verständ-nis von der Rolle von Mädchen und jungen Frauen ha-ben. In aller Regel ist dieses Verständnis traditionell be-dingt.Häufig genug finden wir dieses Verhaltensmuster inweniger entwickelten, armen Ländern. Bildung, wennüberhaupt, kommt in diesen Ländern oft genug nur denJungen zugute. Im Bildungsbereich haben wir in einigenLändern schon gute Fortschritte erzielt. Auch bei demanderen Antrag – dies haben meine Vorrednerinnenschon gesagt – ist noch viel zu tun. Das werden wir ma-chen.Bildung bedeutet Aufklärung, Wissen und Bewusst-sein, damit die nächsten Generationen von Mädchen mitmehr Rechten und unter größerem Schutz vor alltägli-cher Unterdrückung und Gräueltaten aufwachsen kön-nen.Es darf nicht einfach hingenommen werden, dassMädchen zum Beispiel zwangsverheiratet werden, zurProstitution gezwungen werden oder sogar – auch davonhaben wir eben gehört – verkauft werden. Mädchen ha-ben genau wie Jungen Rechte und Würde. Sie sind keineWare.
Traditionen sind durchaus oft etwas Gutes, Bewah-renswertes. Es gibt aber Traditionen, die mit unseremVerständnis von Menschenwürde und Menschenrechtenvöllig unvereinbar sind. Genitalverstümmelungen sindein furchtbares Beispiel für eine solche Tradition, dieÄchtung verdient, Ächtung in aller Konsequenz. Es darfnicht reichen, dass Staaten dieses grausame Ritual zwargesetzlich verbieten, eine Mehrheit der Gesellschaft indiesen Staaten es aber duldet, weil es eben Tradition ist.Um dieses und um weitere wichtige Grundlagen wieGesundheit und Familienplanung ins Bewusstsein derMenschen zu bringen, fordern wir die Einrichtung einesWeltmädchentages der Vereinten Nationen am 22. Sep-tember.Wir alle wissen um die gesundheitlichen Problemevon Mädchen und Frauen in vielen Ländern. Sie bekom-men zum Beispiel schon sehr früh Kinder, zu einer Zeit,in der sie selber noch Kinder sind. Neben allen gesund-heitlichen Problemen, die sich daraus ergeben, kommthäufig hinzu, dass sie noch nicht einmal ausreichendNahrung für diese Kinder haben. Die Zahl der HIV-In-fektionen bei Mädchen und jungen Frauen ist sehr vielhöher als bei Jungen und jungen Männern. Deshalb isthier Aufklärung sehr wichtig. Will man den Teufelskreisvon Armut durchbrechen, sind Aufklärung, Bildung unddas Aufbrechen von Geschlechterstereotypen unabding-bar.Die Weltbank hat am Montag in Washington ihrendiesjährigen Weltentwicklungsbericht veröffentlicht.Der Bericht der Weltbank fasst diese Problematik sehrgut und konkret zusammen, zeigt aber auch Beispieleund Wege auf, wie sich die Landschaft der Entwick-lungsländer verändern könnte, wenn es mehr Chancen-gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit gäbe.In den Entwicklungsländern „fehlen“ demnach ge-schätzte 3,9 Millionen Frauen in jedem Jahr, weil Mäd-chen eine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen, weil siewegen einer Präferenz für Söhne nie geboren werdenoder später als Mütter im Kindbett sterben. Der Berichtnennt noch weitere konkrete Beispiele. Ich möchte nurzwei aus der Landwirtschaft ausführen.Wenn Bäuerinnen dieselben Voraussetzungen undMöglichkeiten wie Bauern hätten, könnte die Maiserntein Malawi um 11 Prozent und in Ghana sogar um 17 Pro-zent gesteigert werden. Oder: Die UN-Organisation fürErnährung und Landwirtschaft schätzt, dass die land-wirtschaftlichen Erträge in Entwicklungsländern um 2,5bis 4 Prozent wachsen würden, wenn Bäuerinnen densel-ben Zugang zu Ressourcen wie Bauern hätten. Diese Zu-sammenhänge gilt es, bewusst zu machen. Auch deshalbfordern wir den Weltmädchentag der Vereinten Natio-nen.Natürlich wäre es mit der Ausrufung eines solchenTages allein nicht getan. Wir brauchen Aktionen, undzwar nicht nur bei uns, sondern gerade auch in den Län-dern, in denen wir diese Traditionen aufbrechen wollen.Das ist auf jeden Fall eine schwere Aufgabe. Aber einchinesisches Sprichwort lautet: Auch der längste Wegbeginnt mit einem kleinen Schritt. – Ein Schritt wäre dieEinführung eines Weltmädchentages am 22. September.Danke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14889
Helga Daub
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Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
möchte aus aktuellem Anlass hier erst einmal meinen
Protest äußern. Ich komme gerade von einer Demonstra-
tion am Brandenburger Tor, wo sich viele Menschen ver-
sammelt haben, die gegen die anstehende Hinrichtung
von Troy Davis demonstrieren. Dieser US-Amerikaner
wird, wenn nichts mehr passiert, in wenigen Stunden,
um 1 Uhr unserer Zeit, mit einer Giftspritze hingerichtet
werden. Ich finde es einen Skandal, dass es dazu vom
Bundestag leider keinen Protest gab.
Ich frage auch die Bundesregierung, was sie gemacht
hat, um sich für das Leben von Troy Davis einzusetzen.
Ich fordere für unsere Fraktion die sofortige Aussetzung
der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy Davis.
Für uns ist die Todesstrafe inakzeptabel, egal in wel-
chem Land. Sie ist für uns staatlicher Mord. Wenn wir
hier von Menschenrechten sprechen – es war gerade viel
von Menschenrechten die Rede –, dann ist es unsere
Aufgabe als Bundestag, ein starkes Signal zu geben und
uns dafür einzusetzen, dass diese Hinrichtung nicht statt-
findet. Der Antrag unserer Fraktion, in dem wir die Aus-
setzung der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy
Davis gefordert haben, ist leider von allen anderen Frak-
tionen abgelehnt worden ist.
Weil nur noch wenige Stunden bleiben und momentan
viele Menschen in vielen Ländern weltweit auf die
Straße gehen, um ein letztes Signal gegen die Hinrich-
tung zu setzen, möchte ich aus diesem aktuellen Anlass
auch vom Bundestag ein Signal aussenden: Wir fordern
die Begnadigung und Freilassung von Troy Davis, der
seit mehr als 20 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt.
Auch Amnesty International hat den Prozess kritisiert.
Ich bitte Sie aber, jetzt zum Tagesordnungspunkt zu
sprechen.
Herr Präsident, ich denke, Menschenrechte müssen
im Bundestag einen breiten Raum einnehmen.
Ich komme jetzt zum Weltmädchentag.
Prinzipiell unterstützen wir eine solche Initiative. Ich
muss dazusagen: Es wurde von keiner Fraktion erwähnt,
dass wir nicht angesprochen wurden, an diesem Antrag
mitzuarbeiten. Wir halten auch das für ein völlig unde-
mokratisches Vorgehen. Ich finde, es ist kein Aushänge-
schild für die Grünen und die SPD, dass sie ständig bei
einer solchen Ausgrenzung mitmachen.
Das ist der erste Punkt.
Zweitens. Wir unterstützen im Prinzip die Initiative
für einen Weltmädchentag, aber es steht auch sehr viel
Symbolpolitik dahinter. Ich finde diese Kritik berechtigt.
Wir haben zum Beispiel heute den Internationalen
Tag des Friedens, den Weltfriedenstag der Vereinten Na-
tionen. Wer hat ihn erwähnt, oder wer hat irgendeine Ini-
tiative entwickelt? Das heißt, es handelt sich um Sym-
bolpolitik, wenn Politik nicht konkret gestaltet wird, um
die Rechte von Mädchen durchzusetzen. Das sind grund-
legende Menschenrechte.
An diesem Antrag kritisieren wir genau das, was auch
Sie, Frau Roth und Frau Daub, gemacht haben: Sie he-
ben sehr stark auf die kulturellen und religiösen Traditio-
nen ab, die zur Verletzung von Mädchen- und Frauen-
rechten führen. Das stimmt, aber der zugrunde liegende
Hauptfaktor ist die extreme Armut.
Meinen Sie allen Ernstes, Eltern verkaufen gerne ihre
Kinder? Die extreme Armut zwingt sie dazu. Deswegen
müssen wir eine Politik entwickeln, die Armut be-
kämpft, statt noch mehr Armut zu produzieren.
Für uns sind die sozialen Rechte und ihre Durchset-
zung elementar, weil sie den Zugang zu Bildung und Ge-
sundheit ermöglichen und dadurch viele progressive
Prozesse entstehen, die zur Aufklärung und Emanzipa-
tion führen. Diese sozialen Rechte können nur dann um-
gesetzt werden, wenn es zum Beispiel soziale Siche-
rungssysteme gibt, sowohl in den Entwicklungsländern
als auch in Europa.
Um diesen Kampf geht es. Wir brauchen den Kampf
um die sozialen Rechte weltweit. Sie sind der beste Bei-
trag zur Umsetzung von Frauen- und Mädchenrechten.
Das Wort hat jetzt Uwe Kekeritz für Bündnis 90/DieGrünen.
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Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Ich
möchte kurz auf Frau Hänsel eingehen, die uns gerade
vorgeworfen hat, dass ihre Fraktion nicht involviert war.
Der Vorwurf ist auch speziell gegen die Grünen und die
SPD gerichtet worden. Ich möchte ganz klar betonen,
dass ich sehr wohl einige Mitglieder der Fraktion Die
Linke angesprochen und vorgeschlagen habe, den An-
trag gemeinsam zu machen: Wenn wir das machen, dann
finden wir auch einen Weg und eine Lösung. – Darauf
kam aber keine Reaktion. Deswegen haben wir das dann
anders gemacht.
– Von euch wurde noch nicht einmal ein entsprechender
Versuch unternommen. Das ist natürlich nicht nur Sache
der Grünen oder der Sozialdemokraten, sondern auch
der Linken. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
– Darüber reden wir nachher.
Der Antrag auf Einrichtung eines Weltmädchentages
geht auf eine gemeinsame Initiative zurück. Das macht
mich so entspannt. Es ist schön, einen Antrag vorliegen
zu haben, dem alle zustimmen können. Frau Weiss hat
die Frage gestellt: Bringt denn ein weiterer Tag noch et-
was? Es gibt schon so viele Tage, die wir nicht kennen.
Ist das nicht reine Symbolpolitik? – Ich denke, dass ein
Weltmädchentag durchaus das Potenzial hat, irgendwann
einmal mit dem Internationalen Frauentag verglichen zu
werden. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.
Aber zwischen Mädchen- und Frauenpolitik ist ohnehin
nicht zu trennen.
Ein Weltmädchentag hat auf jeden Fall enormes
Potenzial, gefeiert und zelebriert zu werden. Es wird die
Möglichkeit bestehen, an einem solchen Tag bestimmte
Mädchenthemen anzusprechen. Solche Themen haben
Frau Roth, Frau Weiss und Frau Daub ausreichend ange-
sprochen. Ich möchte nicht noch mehr zum Thema Geni-
talverstümmelung sagen. Dieses Thema kann und wird
aufgegriffen werden. Es wird die Köpfe der Menschen
erreichen und in das Bewusstsein dringen.
Der Fokus muss in Zukunft ganz klar darauf gerichtet
sein, dass Frauen- und Mädchenpolitik zusammengehö-
ren. Die Mädchen müssen schon von klein auf gefördert
werden; denn die Frauen sind – das ist mein Lieblings-
zitat – die Trägerinnen der Entwicklung.
Das ist schon längst statistisch belegt; noch heute Mor-
gen haben wir darüber diskutiert. Es ist klar belegt, dass
Bildung auf den demografischen Faktor und den Lebens-
standard von Familien Einfluss hat, sogar volkswirt-
schaftlich positiv wirkt und die Voraussetzung für die
Zukunftsfähigkeit ist.
Eine junge Frau, die eine grundlegende Schulausbil-
dung hat, wird wesentlich später Kinder bekommen. Sie
wird im Durchschnitt 2,2 Kinder weniger bekommen.
Sie trägt zudem durch ein höheres Einkommen und grö-
ßere berufliche Freiheiten zum volkswirtschaftlichen
Wachstum bei. Dieses Wachstum ist anders zu bewerten
als das Wachstum, welches üblicherweise zugrunde ge-
legt wird. Wenn ein Land Öl verkauft, schießt das
Wachstum natürlich in die Höhe. Aber in der Regel hat
die Bevölkerung nichts davon. Wenn Bildungspolitik bei
Mädchen und Frauen ansetzt, dann verteilt sich das
Wachstum gleichmäßiger; das ist sehr positiv.
Warum Frauen Trägerinnen der Politik sind, ist klar.
Es ist aber absolut negativ zu bewerten, dass die Weltge-
meinschaft zwischen 1960 und 2000 dies im Prinzip
nicht erkannt hat. Das ist der eigentliche Skandal in der
gesamten Entwicklungspolitik. Das ist nicht nur meine
These, sondern auch die der Weltgemeinschaft. Mit den
Millenniumszielen wurde dieses Manko im Prinzip be-
seitigt; denn dort steht die Frauenförderung ganz oben
auf der Agenda. Beim Millenniumsziel 2 geht es um die
besondere Berücksichtigung der Situation der Frauen.
Die Millenniumsziele 4, 5 und 6, bei denen es um die
Gesundheit geht, beinhalten auch Frauenthemen.
Ich möchte zum Schluss noch etwas Positives sagen.
Herrn Niebel stimme ich grundsätzlich nicht zu. Aber
jetzt muss ich ihn loben; Frau Kopp, teilen Sie ihm das
bitte mit. Er hat nämlich inzwischen schriftlich zugesagt,
dass er sich auf UN-Ebene für die Einrichtung eines
Weltmädchentages verwenden wird. Herzlichen Dank.
Ich hoffe, dass er wirklich aktiv dabei ist.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Niema Movassat von der Fraktion Die Linke.
Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kol-legen, eine Richtigstellung sei mir an dieser Stelle ge-stattet; denn das, was Sie gesagt haben, lieber Herr Kol-lege Kekeritz, kann man so nicht stehenlassen. Es istrichtig, dass Sie uns den Vorschlag gemacht haben, eineneigenen wortgleichen Antrag einzubringen und so CDU/CSU und FDP dazu zu bringen, für diesen Antrag zustimmen. Aber das sind Kinderspiele, an denen wir unsnicht beteiligen wollen. Entweder wir werden in ein sol-ches Verfahren vernünftig einbezogen oder gar nicht,aber es gibt kein Zwischending.
Es ist allen hier im Hause bekannt, dass CDU undCSU aus einer ideologischen Verbohrtheit heraus esselbst bei solchen Themen ablehnen, gemeinsame An-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14891
Niema Movassat
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träge zu stellen. Das ist doch die Realität. Solange das soist und Sie von den Grünen und von der SPD sich aufdiese Spiele einlassen, wird es keine gemeinsamen Ini-tiativen des ganzen Hauses geben. Das zeugt letztlichvon Ihrem mangelnden Selbstbewusstsein.Danke schön.
Möchten Sie erwidern, Herr Kekeritz? – Bitte schön.
Ich bin davon überzeugt – jetzt wisst ihr, mit wem ich
gesprochen habe –, dass wir bei diesem Thema durchaus
gemeinsam hätten aktiv werden können. Ich hatte ganz
klar den Eindruck, dass vonseiten der Linken diesbezüg-
lich nichts kommt.
Ich teile grundsätzlich deine Kritik und verstehe dei-
nen Wunsch, dass ihr vernünftig einbezogen werden
wollt, wenn es dafür gute Argumente gibt. Ich teile die
Kritik auch aufgrund der Erfahrung der Grünen. Ich
weiß genau, wie mit den Grünen vor 20, 25 Jahren in
den Parlamenten umgegangen wurde. Wir haben das da-
mals kritisiert, und ich finde, dass auch heute eine Kritik
an dieser Vorgehensweise durchaus berechtigt ist.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkthat nun die Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im Frühjahr hatte ich die Gelegenheit, nachAfghanistan zu reisen, dort mit der Zivilbevölkerung inKontakt zu kommen und mit vielen Menschen zu spre-chen. Was mich dort am meisten beeindruckt hat, warendie Mädchen. Die Erinnerungen an den Besuch einerSchule in Masar-i-Scharif sind das Erste, was mir ein-fällt, wenn ich an die Begegnungen vor Ort zurück-denke. Die Begeisterung, mit der die Mädchen dort inden über 40 Grad heißen Zelten saßen, die als Schulraumdienten, die Art und Weise, wie sie von ihren Zukunfts-plänen berichteten, war überwältigend. Ihre Botschaftwar: Wir wollen lernen, wir wollen unser Leben selbst indie Hand nehmen, und wir wollen eines: Wir wollen un-ser von Kriegen zerfressenes Land gemeinsam aufbauen,in Freundschaft mit anderen Völkern und Nationen. Wir,die Mädchen und Frauen, sind dabei ganz entscheidend.An diese Mädchen wollen wir heute mit unserer De-batte zum Weltmädchentag der Vereinten Nationen den-ken. Ich freue mich sehr, dass wir dieses in großer Ge-schlossenheit mit einem gemeinsamen Antrag tun. Heuteplädiert zumindest der größte Teil des Hauses für einenWeltmädchentag.Was versprechen wir uns davon? Es sind zwei Dinge.Zum einen: Wir wollen auf globaler wie auf nationalerEbene das Bewusstsein für die Situation von Mädchen,für ihre Rechte und Anliegen, die in vielen Gesellschaf-ten keine ausreichende Berücksichtigung finden, schär-fen. Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dassMädchen in vielen Ländern ausschließlich aufgrund ih-res Geschlechts diskriminiert werden, dass sie unter Ge-walt und Unterdrückung leiden. Die Beispiele dafür sindendlos. Gerade gestern wurde in der Nachrichtensen-dung Tagesthemen über die Abtreibungspraxis bei weib-lichen Föten in Indien berichtet. Auch in unserem Landgibt es viel Leid unter Mädchen und Frauen. Auch dasdürfen wir nicht vergessen. An all diese Mädchen wollenwir heute denken.Der Weltmädchentag sollte sich aber in meinen Au-gen nicht nur darauf beschränken, auf die Situation derMädchen als Opfer aufmerksam zu machen. Nein, ge-nauso wichtig erscheint mir, dass wir uns an einem sol-chen Tag ebenfalls vergegenwärtigen, dass Mädchenauch Hoffnung in vielen Ländern sind. Wir sollten unsvergegenwärtigen, dass sie Gestalterinnen und Stützesind, gerade im gesellschaftlich schwierigen Umfeld, ge-rade in von Krisen, Kriegen und Katastrophen heimge-suchten Ländern. Die Mädchen und jungen Frauen inAfghanistan sind die besten Beispiele dafür, dass derWeltmädchentag auch zum Mutmachertag für viele wer-den kann. Damit uns das gelingt, muss dieser neue Tagauch mit Leben erfüllt werden. Dafür tragen viele Ver-antwortung.Deutschland kann dabei schon viele Erfolge vorwei-sen. Wir betrachten Mädchenpolitik weltweit – das giltauch für die Gleichstellungspolitik – aus der Lebensver-laufsperspektive, und mit diesem Ansatz setzen wirStandards. Was heißt das? Gleichstellungspolitik aus derLebensverlaufsperspektive heißt, dass staatliche und pri-vate Akteure sich bei allen Maßnahmen, die sie ergrei-fen, die Frage stellen, welche Auswirkungen diese aufFrauen und Männer in ihrem jeweiligen Lebensabschnittund in den Übergängen zwischen den einzelnen Lebens-phasen haben. Das ist ein ganz moderner Ansatz derGleichstellungspolitik, der seinen Weg mittlerweile indie Dokumente und Strategien der Vereinten Nationengefunden hat.Über diesen Rahmen hinaus sind wir anerkannterma-ßen auf internationaler Ebene sehr aktiv, wenn es um dieRechte von Frauen und Mädchen geht. Beispielgebendist etwa das deutsche Engagement bei der Frauenrechts-kommission der Vereinten Nationen. Deutschland nimmthier traditionell eine führende Rolle ein. Wir sind Vor-bild und anerkannter Partner für viele Staaten. Wir brin-gen uns ein mit Inhalten, mit Veranstaltungen, mit Dia-log und Beratung. Viele von Ihnen, liebe Kolleginnen,waren auch schon selbst dabei.Zu erwähnen ist auch der Ostseerat, dessen VorsitzDeutschland seit wenigen Wochen hat. Hier soll in denkommenden Monaten das Thema Menschenhandel einesder Schwerpunktthemen sein. Die Reihe der Beispieledeutschen Engagements in der Welt ließe sich fortsetzen.Auch auf nationaler Ebene können wir Erfolge vor-weisen. Nur beispielhaft will ich nennen die Verbesse-
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Nadine Schön
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rungen beim Schutz von Mädchen und Frauen vor Ge-walt, zum Beispiel durch das Bundeskinderschutzgesetz,das wir gerade beraten, oder auch durch das 2. Opfer-rechtsreformgesetz von 2009. Ein Meilenstein wird diebundesweite Notrufnummer sein, an der wir gerade ar-beiten.Nicht zuletzt unterstützen wir Nichtregierungsorgani-sationen. So fördert das Bundesfamilienministerium bei-spielsweise – das ist gerade aktuell – den im Oktoberstattfindenden internationalen Kongress von Terre desFemmes zur Stärkung von Mädchenrechten. Wissen-schaftlern und Praktikern wird hier die Möglichkeit ge-boten, sich zu vernetzen und auch mit Politikern undJournalisten zu reden. Es geht darum, Erfahrungen aus-zutauschen und darüber zu diskutieren, wie die Rechtevon Mädchen trotz schwieriger Rahmenbedingungen inverschiedenen Ländern der Welt am besten umgesetztwerden können. Bundespräsident Christian Wulff wirdden Kongress eröffnen. Ich finde, das ist ein gutes, eintolles Zeichen für die Solidarität Deutschlands mit denMädchen und Frauen in aller Welt.
Genau dieses Zeichen der Solidarität wollen wir auchheute mit unserem Antrag zum Weltmädchentag setzen.Auch das wird uns wieder ein Stück voranbringen – imSinne der Mädchen in Afghanistan, in Deutschland, inder ganzen Welt.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7021 mit dem Titel „Einrich-
tung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger
Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
– Drucksache 17/5912 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
1) Anlage 87
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5912 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist ebenfalls der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-
punkt 2 auf:
10 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Südsu-
dan auf Grundlage der Resolution
1996 des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 8. Juli 2011
– Drucksache 17/6987 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme
der Bundeswehr an der Friedensmission der
Vereinten Nationen in Sudan
– Drucksache 17/7000 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am9. Juli wurde Südsudan ein unabhängiger Staat, aller-dings ein Staat noch ohne ausreichende staatliche Ver-waltung, wirtschaftliche und soziale Infrastruktur. DerenAufbau wird intensive und langjährige AnstrengungenSüdsudans erfordern, aber auch aktive Unterstützungdurch die internationale Gemeinschaft.Zudem finden in Teilen Südsudans weiterhin bewaff-nete innerstaatliche Auseinandersetzungen statt, diepolitische, ethnische und wirtschaftliche Hintergründehaben. Südsudan ist somit auf seinem Weg zu einer ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14893
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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ordneten und stabilen Staatlichkeit gleich mit mehrerenBürden belastet.Um Südsudan auf diesem Weg zu unterstützen, habendie Vereinten Nationen auf Bitten der Regierung in Jubaam 8. Juli 2011 ihre Mission im Südsudan, UNMISS, be-schlossen. Kernaufgaben von UNMISS sind die Unter-stützung der Regierung bei der Friedenskonsolidierungund damit längerfristig bei der Absicherung des Staats-aufbaus und der wirtschaftlichen Entwicklung. UNMISSleistet Unterstützung bei der Gewährleistung von Sicher-heit, der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und derStärkung des Sicherheits- und Justizsektors.Die Mission hat ein robustes Mandat. Das heißt, ihreKräfte sind autorisiert, zum Eigenschutz, zur Gewähr-leistung der Sicherheit der humanitären Helfer und zumSchutz der Zivilbevölkerung gegebenenfalls auch Ge-walt anzuwenden.Deutschland ist seit Mandatsbeginn an UNMISS be-teiligt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, liebeKolleginnen und Kollegen, nochmals herzlich dafür zudanken, dass wir mit Flexibilität und gutem Willen in derLage waren, dieses Mandat am 8. Juli, also unmittelbarvor der parlamentarischen Sommerpause, mit einer sehrbreiten Mehrheit zu beschließen. Die Bundesregierunghat ihren Mandatsantrag wegen der besonderen Ent-scheidungssituation auf drei Monate beschränkt. Jetztbitten wir Sie dann um ein Mandat bis zum 15. Novem-ber 2012, auch um im Gleichklang mit den anderen ein-schlägigen Mandaten zu stehen.Vier Fraktionen dieses Hohen Hauses stehen ge-schlossen hinter diesem Mandat. Das ist bemerkenswert.Einzig die Fraktion Die Linke war der Meinung,Deutschland solle sich nicht daran beteiligen, diesen jun-gen, leidgeprüften und immer noch fragilen Staat zu un-terstützen. Auch das ist bemerkenswert.
Das deutsche Engagement bei UNMISS ist Teil derlangjährigen Bemühungen der Bundesregierung um einedauerhafte Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidie-rung im Sudan und Südsudan im Rahmen ihres Sudan-konzeptes. Es ist eingebettet in ein starkes entwicklungs-politisches und diplomatisches Engagement undverdeutlicht erneut, was wir unter dem Begriff „vernetzteSicherheit“ verstehen.Sicherheit und Stabilität, zivile und wirtschaftlicheEntwicklung – all dies muss gemeinsam gedacht undganzheitlich angestrebt werden. Es kann keine Entwick-lung geben, wenn diese nicht abgesichert wird. Es kannkeine Stabilität geben, die nicht auf einer positiven Ent-wicklung der Lebensverhältnisse basiert. Hierfür setzenwir uns ein. Daher haben wir ein starkes Interesse an ei-ner fortgesetzten Präsenz der Vereinten Nationen imSüdsudan.
Derzeit sind 13 deutsche Soldaten vor Ort im Haupt-quartier in Juba und als Verbindungsoffiziere in der Flä-che. Sie leisten damit unter schwierigsten Bedingungeneinen wertvollen Dienst. Dafür möchte ich ihnen auch andieser Stelle unseren Dank aussprechen.
Es sollen weiter bis zu 50 deutsche Soldatinnen undSoldaten auf der völkerrechtlichen Grundlage der Reso-lution des Weltsicherheitsrates eingesetzt werden kön-nen. Da UNMISS jedoch – anders als ursprünglich vor-gesehen – auf absehbare Zeit keine Rolle bei derGrenzüberwachung zwischen Sudan und Südsudan spie-len wird, besteht kein Bedarf mehr für die bislang man-datierte Militärbeobachterkomponente. Diese entfällt da-her im vorliegenden Antrag.Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirwollen einen stabilen Südsudan und konfliktfreie Bezie-hungen zwischen Juba und Khartoum. Wir sind bereit,einen konkreten Beitrag dazu zu leisten. Wir tun dies,weil uns bewusst ist, wie wichtig der Bestand und dasGelingen des jungen Staates Südsudan sind.Es ist dies die erste Staatsneugründung in Afrika seit1993, als sich Eritrea von Äthiopien trennte. Wir erin-nern uns, dass das, was damals zunächst friedlich be-gann, schließlich in einem bitter geführten Krieg endete,der Tausende, ja Zehntausende Menschenleben gekostethat. Bis heute wird der Grenzverlauf zwischen den bei-den Staaten nicht anerkannt, und bis heute stehen sichZehntausende Soldaten schwerbewaffnet an der Grenzegegenüber. Das soll nicht, das darf nicht das SchicksalSudans und Südsudans werden.
Doch trotz der friedlich verlaufenden Trennung dieserbeiden Staaten gibt es immer noch etliche offene Fragen,die hohes Konfliktpotenzial bergen. Der Grenzverlaufund damit auch der Zugang zu Rohstoffen und derenNutzung sind noch immer nicht abschließend geklärt.Die besorgniserregenden Zusammenstöße in den südli-chen Provinzen Sudans ebenso wie das weiterhin schwe-lende Problem Darfur und die Stammeskämpfe imSüdsudan, die in diesem Jahr bereits über 2 000 Todes-opfer gefordert haben – all dies sind Feuer, die es einzu-dämmen und zu löschen gilt, bevor sie übergreifen.Bei allen Problemen, vor denen der junge StaatSüdsudan steht, gilt: Der Süden Sudans hat zu Beginndieses Jahres sein Referendum friedlich und geordnetdurchgeführt. Die Loslösung vom Norden wurde ohnegrößere Verwerfungen vollzogen. Der Präsident der Re-publik Sudan war bei der Proklamation der RepublikSüdsudan als Gast anwesend. Das ist mehr, als viele Be-obachter noch vor einem Jahr angenommen hätten.Die Verhandlungen über die offenen Fragen werdenunter der Beobachtung der internationalen Gemeinschaftin Addis Abeba weitergeführt. Dies wird, so ist zu hof-fen, den Verantwortlichen in Juba ein Ansporn sein, aufdem Erreichten aufzubauen. Dies sollte der internationa-len Gemeinschaft Grund genug sein, ihrer Verantwor-
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Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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tung gegenüber dem Südsudan weiter gerecht zu wer-den.Deutschland wird sich weiter aktiv daran beteiligen.Die Mission ist dabei ein wichtiger Baustein für Friedenund Stabilität in der Region. Deswegen soll das Bundes-tagsmandat hierfür weitgehend unverändert verlängertwerden. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Siehierfür um Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Un-sere Fraktion, die SPD, unterstützt den Antrag der Bun-desregierung zur fortgesetzten Beteiligung an UNMISSauf der Grundlage der Resolution des UN-Sicherheits-rats vom 8. Juli 2011, den sie am 14. September 2011 be-schlossen hat. Wir haben schon damals darüber beraten.Zurzeit sind für UNMISS insgesamt bis zu 7 000 Mili-tärs und 900 Zivilkräfte vorgesehen. Im Kontext der Be-ratung dieser Mission geht es auch um die Frage, welchepolitische Rolle UNMISS aus unserer Sicht spielensollte.Es geht um zwei Aufgaben, die diese Mission zu er-füllen hat und die in einem interessanten Spannungsver-hältnis liegen. Zum einen geht es um die Unterstützungder Regierung des Südsudan beim Aufbau eines funktio-nierenden demokratischen und pluralistischen Staatswe-sens. Zum anderen soll sie – sozusagen als Watchdog –für die Sicherung der Menschenrechte aller Bürger undBürgerinnen sowie aller unterschiedlichen Gruppen undEthnien im neuen 193. Staat sorgen.Leider – das ist eben erwähnt worden – gibt es wegeneiner Weigerung des Nordsudan keine Zuständigkeit vonUNMISS für die Überwachung der Grenze zwischenNord und Süd, was wir ausdrücklich bedauern.Wir freuen uns über die Ernennung von HildeFrafjord Johnson zur Sondergesandten des UN-General-sekretärs, die auch die Zivilleiterin der UN-Mission istund der der sogenannte Force Commander – das ist viel-leicht auch mit Blick auf die Linksfraktion interessant –unterstellt ist. Wir wünschen Hilde Johnson bei derschweren Aufgabe, die sie übernommen hat, allen Er-folg. Sie ist ausgezeichnet auf diese Aufgabe vorbereitet.Sie war die norwegische Entwicklungsministerin und hatlange Jahre in der Leitung von UNICEF gearbeitet. Wirwünschen ihr viel Erfolg für die Aufgabe, die vor ihrsteht.
Wir haben uns alle gefreut, dass das Referendumohne den befürchteten Ausbruch massiver Gewalt statt-gefunden hat. Jetzt haben wir den Ernstfall. Die Bundes-regierung und die Europäische Union dürfen deshalbnach der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan in derweitreichenden Begleitung und Unterstützung der Pro-zesse nicht nachlassen. Es geht schließlich um die Hilfebei einem Staatsaufbau in einem Land, das sich gewalti-gen Herausforderungen gegenübersieht: der Notwendig-keit des Aufbaus einer wachsenden, diversifizierendenWirtschaft, der Frage der Arbeitsplätze, der Verbesse-rung der Ernährungssituation der Menschen; vieleSüdsudanesen haben jahrzehntelang nur Bürgerkrieg er-lebt. Auch der Zugang zu Bildung muss verbessert wer-den. Drei Viertel der Kinder zwischen 7 und 14 Jahrenim Südsudan haben keinen Zugang zu Bildung. ImSüdsudan ist die höchste Müttersterblichkeitsrate welt-weit zu verzeichnen.Das sind die Aufgaben, die in dem großen Kontextder Unterstützung des Südsudan geleistet werden müs-sen. Es geht natürlich auch um den Aufbau staatlicherStrukturen, zum Beispiel durch die Schaffung eines flä-chendeckenden Apparats der Verwaltung, der dezentralorganisiert werden muss. Es geht um die Überwindungvon Klientelstrukturen. Es geht darum, einen Teil derStreitkräfte zu entwaffnen, zu demobilisieren und wiederin die Zivilgesellschaft einzugliedern, und es geht da-rum, sicherzustellen, dass Menschenrechte und rechts-staatliche Standards durch die Sicherheitskräfte tatsäch-lich respektiert und gewahrt werden.Das sind schon an sich Riesenherausforderungen –und das angesichts immer noch ungelöster Fragen desFriedensprozesses.Der erste Punkt betrifft den Grenzverlauf. Er ist nochimmer nicht demarkiert. Es ist allerdings gut – das be-grüßen wir –, dass vereinbart worden ist, dass diesseitsund jenseits der Grenze eine 10 Kilometer breite Demili-tarisierungszone zwischen Nord und Süd geschaffenwerden soll, die gemeinsamer Überwachung unterliegensoll. Auch soll die Möglichkeit der internationalen Be-teiligung vorgesehen werden.Der zweite Punkt betrifft die Aufteilung der Erdölvor-kommen und der Einnahmen. Es hat zwar gewisse Fort-schritte bei der Frage gegeben, wer welche Pipelinesnutzen kann. Aber die Grundfrage ist, wie Vorkommenund Einnahmen aufgeteilt werden. Wenn dies geklärt ist,ist es wichtig, dass die Mittel so in den Haushalt fließen,dass sie für den Aufbau des Staates und für die Hilfe fürdie Menschen genutzt werden und nicht neue Renten-ökonomien entstehen lassen, die die Korruption massivbefördern würden.
Der dritte Punkt. Immer noch ungeklärt ist der Statusder mehr als 100 000 Südsudanesen im Nordsudan. Dasgilt natürlich auch für Nordsudanesen im Südsudan.Der vierte Punkt betrifft die Stabilisierung der Situa-tion in Abyei. Dort soll nach dem Beschluss des UN-Si-cherheitsrats eine weitere UN-Mission mit einem Um-fang von 4 200 Soldaten und 50 Polizisten ihre Aufgabeaufnehmen. In dem Friedensabkommen zwischen Nord
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und Süd ist ein Referendum über die Frage vorgesehen,wohin die Region zugeordnet werden soll.Allein diese vier Punkte, die immer noch ungeklärtsind, bedürfen der massiven Unterstützung durch inter-nationale Verhandlungen. Wir hoffen auch, dass die Ver-mittlungsarbeit, die der ehemalige südafrikanischeStaatspräsident Thabo Mbeki leistet, Erfolg haben wird.Es bedarf aber auch immer wieder der Unterstützungund Begleitung durch den UN-Sicherheitsrat und infol-gedessen auch eines besonderen Engagements der Bun-desregierung als Mitglied des UN-Sicherheitsrats.Wie hat sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, diepolitische Situation nach der Erklärung der Unabhängig-keit entwickelt? Seit dem 1. September gibt es eine neueRegierung, die vor Präsident Salva Kiir ihren Amtseidabgelegt hat. Wir werden sehr genau darauf achten, dasssein Versprechen, dass Kompetenz und nicht ethnischeoder Gruppenzugehörigkeit entscheidende Bedeutunghat, eingelöst wird und dass sich dies auch in der Praxisdes Regierungshandelns widerspiegeln wird. Vor allemmuss verhindert werden, dass Korruption um sich grei-fen kann.Sorgenvoll stimmen uns die Kämpfe der Regierungs-truppen mit oppositionellen Milizen und eine Verschär-fung der humanitären Situation zum Beispiel in Jonglei.Seit dem Referendum über die Unabhängigkeit – auchdas, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird in der öffent-lichen Debatte vergessen – und seit Juli 2011 gab esmehr als 2 300 Opfer. Auch das fordert unser aller Enga-gement. Es macht vor allen Dingen aber auch die Ver-pflichtung der südsudanesischen Regierung deutlich, dieZivilbevölkerung zu schützen.Ein weiterer Punkt, den ich mit UNMISS verbindeund den auch Hilde Frafjord Johnson betont: UNMISSsoll im Rahmen des Kapitel-VII-Mandats dazu beitra-gen, dass durch tägliche Überwachung und militärischePräsenz in den betroffenen Regionen weitere Gewaltverhindert wird. Das kann unter Umständen sogar hö-here Zahlen an Soldaten und Polizisten erfordern. Aberes ist diese Anstrengung wert; denn wir alle könnennicht zulassen, dass Tausende von Opfern die Folge wä-ren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erwartungender Menschen im Südsudan sind an eine Friedens- undan eine Unabhängigkeitsdividende gerichtet. Diese Er-wartungen sind hoch. Wir müssen nun mithelfen, dass inallen Regionen des Südsudan die Entwicklung voran-kommt, dass es Zugang zu Gesundheitsstationen und zuSchulen gibt und dass die Infrastruktur ausgebaut wird.Deshalb: Der Ernstfall ist jetzt. Tragen wir mit dazubei, dass die Aufmerksamkeit auf diese Situation gerich-tet ist und dass der 193. Staat eine glückliche Entwick-lung für die Menschen nimmt, die so lange auf ihn ge-hofft haben.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Kossendey.
T
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitder Unabhängigkeitserklärung des Südsudan hat der Pro-zess der friedlichen Trennung von Nord und Süd einganz wichtiges Zwischenziel erreicht. Wenige Tage spä-ter ist der Südsudan – übrigens unter deutschem Vorsitzim VN-Sicherheitsrat – als 193. Mitglied in die Verein-ten Nationen aufgenommen worden.In den letzten Jahren hat die internationale Gemein-schaft diesen Unabhängigkeitsprozess kontinuierlich un-terstützt. Das kam in vielen Einzelmaßnahmen zum Aus-druck: in vielen entwicklungspolitischen Projekten bishin zur Verifizierung von Waffenstillstandsvereinbarun-gen. Deutschland hat sich, neben vielen anderen wichti-gen Beiträgen, in den vergangenen Jahren auch an derVN-geführten Friedensmission UNMIS beteiligt, zu-letzt mit etwa 30 Offizieren. Die Mission war damalshauptsächlich deshalb mandatiert, um den Nord-Süd-Friedensprozess zu begleiten bzw. seine Entgleisung zuverhindern. Rückblickend können wir feststellen: Das ist– bei allen Schwierigkeiten und dem einen oder anderenMangel – im Wesentlichen gut gelungen.Ich möchte an dieser Stelle das Engagement unsererSoldatinnen und Soldaten ausdrücklich würdigen. BeimWort „Einsatz“ denken viele unwillkürlich an Afghanis-tan oder vielleicht noch an das Kosovo. Darüber hinausdürfen wir aber die Soldatinnen und Soldaten nicht ver-gessen, die in den kleinen Kontingenten arbeiten, unteranderem im Sudan und im Südsudan, und dort unter sehrherausfordernden Bedingungen ihren wichtigen Dienstverrichten.Wer mit Soldatinnen und Soldaten gesprochen hat,die dort ihren Dienst getan haben, wird festgestellt ha-ben, dass es sich dabei um eine ganz besondere Situationhandelt. Das beginnt beim Klima und geht bis hin zur In-frastruktur, in der die Soldatinnen und Soldaten dort le-ben. Dazu gehört übrigens auch – weil die Gruppe dortrelativ klein ist – der mangelnde Kontakt zu einem grö-ßeren Kameradenkreis und der oftmals sehr schwierigeKontakt nach Hause, der schwieriger ist als in anderenEinsatzgebieten.Dennoch arbeiten unsere Soldatinnen und Soldatenim Sudan hochmotiviert. Ihr Engagement, ihre Profes-sionalität, ihre Improvisationsgabe – auch das muss mandeutlich sagen –, aber auch ihre sehr hohe Motivationverdienen höchste Anerkennung.
Ich spreche den Soldatinnen und Soldaten an dieserStelle meine Hochachtung aus. Da wir eben im Zusam-menhang mit der Einrichtung eines Weltmädchentagesder Vereinten Nationen von Frauen und Mädchen gere-
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Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey
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det haben, will ich hinzufügen: Politisch korrekt müssteman sagen, dass bei der alten UNMIS-Mission 445 Sol-daten und eine Soldatin beteiligt waren. Das sollten wirbesonders würdigen.Mit der Unabhängigkeit sind die Herausforderungenan den jungen Staat Südsudan natürlich nicht ver-schwunden. Tatsächlich geht es für das Land jetzt da-rum, die kritische Phase einer extremen Fragilität gut zuüberstehen. Das ist eine Mammutaufgabe in einem Staat,den es erst seit wenigen Wochen gibt, der praktisch übergar keine Infrastruktur verfügt und der sich zahlreichenRisiken im Bereich der Sicherheit und der Stabilität– übrigens auch im Innern und nicht nur von außen – ge-genübersieht.Gerade in den vergangenen Wochen haben uns immerwieder Informationen aus dem Südsudan erreicht, dassan der Grenze bewaffnete Auseinandersetzungen statt-finden. Das ist ein Anlass zur Besorgnis. Wir könnenvom Parlament aus nur an die Beteiligten appellieren,diese Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen undsich darauf zu konzentrieren, Auseinandersetzungen aufdem Verhandlungswege zu regeln.Die Präsenz der Vereinten Nationen – meine Vorred-nerin hat das eben deutlich gemacht – ist deswegen wei-terhin notwendig. Die Präsenz der Sicherheitskräfte, derSoldatinnen und Soldaten, ist notwendig, um dort eini-germaßen friedliche Verhältnisse zu gewährleisten. Des-wegen hat der VN-Sicherheitsrat die FolgemissionUNMISS für den Südsudan mandatiert.Wir werden auch zu dieser Mission unseren konstruk-tiven Beitrag leisten. Deswegen haben wir am 8. Julieine Obergrenze von 50 Soldaten vorgesehen. Das ist zu-gegebenermaßen eine Verringerung gegenüber den75 Soldatinnen und Soldaten, die das alte Mandat vorge-sehen hat. Die geringere Zahl trägt dem Umstand Rech-nung, dass bei dem neuen VN-Mandat die Militärbeob-achter außen vor sind.Wir wollen, wie in der Vergangenheit, unsere Exper-tise vor allem in Spezialbereiche einbringen, etwa beiden Aufgaben der Planung, der Logistik und der Aus-wertung dieser VN-Mission. Damit entsprechen wirletztendlich dem Bedarf der Vereinten Nationen und leis-ten trotz der geringen Größe der Gruppe, die wir dorthinschicken, einen wertvollen Beitrag. Genau das entsprichtunserem Verständnis von internationaler Arbeitsteilungund Kooperation.Wir sollten begrüßen, dass die neue Mission UN-MISS relativ zügig nach der Mandatserteilung mit derWahrnehmung ihrer Aufgaben begonnen hat. Die unver-meidlichen Schwierigkeiten beim Übergang von der al-ten Mission UNMIS zur neuen Mission UNMISS wareninsgesamt nicht so groß, dass die Arbeit beeinträchtigtworden wäre.Wenn wir „internationale Verantwortung“ nicht zu ei-ner Worthülse verkommen lassen wollen, dann musssich diese Verantwortung in greifbaren Maßnahmen iminternationalen Bereich ausdrücken. Die Teilnahme andieser VN-Friedensmission ist ein sichtbares Zeichendafür, dass wir in Deutschland unsere Verantwortungernst nehmen. Diejenigen, für die dieses Mandat tatsäch-lich am konkretesten wird, nämlich für unsere Soldatin-nen und Soldaten vor Ort, brauchen eine breite Unter-stützung des Parlaments. Deswegen bitte ich Sie ganzherzlich darum, dem Antrag der Bundesregierung mitbreiter Mehrheit zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Niema
Movassat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist,vorweggesagt, wirklich ein Unding, dass wir erst zu die-ser späten Uhrzeit und dadurch mit geringer öffentlicherWahrnehmung über die Fortsetzung des Militäreinsatzesdeutscher Soldaten im Rahmen der UN-Mission imSüdsudan, UNMISS, debattieren.
Das zeigt, wie wichtig der Regierung die Debatte überKrieg und Frieden ist bzw. nicht ist.Alle hier, außer der Fraktion Die Linke, haben die Be-teiligung der Bundeswehr am Militäreinsatz im Südsu-dan befürwortet. Dabei müssten Sie, werte Kolleginnenund Kollegen, selbst nach Ihrer Logik gegen diesen Ein-satz sein.
Ihr Argument für den Einsatz ist, dass die Zivilbevölke-rung im Südsudan geschützt werden muss. Fakt ist, dass275 000 Frauen, Männer und Kinder aufgrund von Kämp-fen auf der Flucht sind und seit Januar über 3 000 Men-schen getötet wurden. 2011 ist das verlustreichste Jahrseit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2005. DieseEntwicklungen sind dramatisch. Die Lage ist aber trotzder Stationierung von UN-Soldaten im Rahmen von UN-MISS nicht besser geworden; die Gewalt geht weiter.Das zeigt, dass Militär auch im Südsudan keinen Friedenschafft und sein Einsatz deshalb der falsche Weg ist.
Die UN-Truppen sind schon deshalb unfähig, die Zi-vilbevölkerung zu schützen, weil sie an der Seite dersüdsudanesischen Armee SPLA agieren. Dabei ist dieseselbst Konfliktauslöser. Dies haben mir Entwicklungs-helfer sowie Vertreter von Nichtregierungsorganisatio-nen und der UN, mit denen ich im November vor Ort ge-sprochen habe, bestätigt; dies geht sogar aus dem UN-Mandat hervor. Die SPLA ist an Morden, Vertreibungenund Übergriffen auf Oppositionelle beteiligt. Es gibt nie-manden, der sie dafür anklagt. Allein in der ProvinzJonglei wurden im Juli 1 700 Menschen von der SPLAermordet. Da frage ich Sie, meine Damen und Herren,die Sie diesem Einsatz im Juli zugestimmt haben, wiedie Bundeswehr zusammen mit diesen Menschenrechts-
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Niema Movassat
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verletzern Demokratie aufbauen und Zivilisten schützensoll. Das ist doch völlig abstrus.
Bei den meisten Konflikten im Südsudan geht es umWeideland und Vieh. Allein im August sind bei Kämp-fen wegen Viehdiebstählen in der Provinz Jonglei min-destens 600 Menschen umgekommen, rund 27 000mussten fliehen. Solche Landkonflikte können nicht mi-litärisch gelöst werden. Das zeigt auch die Erfahrung inanderen Ländern.
Genau deswegen sagt die Linke, dass wir zivile Auf-bauhilfe und Konfliktbearbeitung und nicht Militär brau-chen. Es gab bei den Gesprächen im Südsudan, an denenich teilgenommen habe, viel Zustimmung dafür.Die Bundesregierung aber wählt die falschen Mittel.Deutschland hätte das Programm des zivilen Friedens-dienstes zur Konfliktbewältigung – das ist eine wirklichgute Sache – nicht einstellen dürfen.
Richtig wäre es gewesen, unseren Vorschlägen, die wirhier im Juli eingebracht haben, zu folgen. Vier davonmöchte ich nennen:Erstens muss die Zivilgesellschaft gestärkt und müs-sen Dialogprozesse zwischen den gegnerischen Gruppenim Südsudan geschaffen werden. Ein Staat kann nur un-ter Beteiligung der Zivilbevölkerung aufgebaut werdenund nicht von oben nach unten, wie dies jetzt mithilfevon UNMISS geschieht.
Zweitens müssen sich die staatlichen Strukturen anden sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Bevöl-kerung orientieren. Es ist doch paradox, dass es heutebereits 30 Ministerien im Südsudan gibt – teils ohneAufgabenbereich. Da geht es wohl mehr darum, Pöst-chen zu schaffen.Drittens muss der ländliche Raum entwickelt werden.Im Südsudan, einem Land so groß wie Frankreich, gibtes keine hundert Kilometer asphaltierte Straßen.Viertens – das ist wirklich entscheidend – muss dasLand entmilitarisiert werden.
Von den 8 Millionen Einwohnern des Südsudan ist rundeine halbe Million militärisch organisiert. Auf Deutsch-land übertragen wären das 5 Millionen Militärs. Abgese-hen davon, dass wir Rüstungsexporte grundsätzlich ab-lehnen, ist es höchste Zeit, die vielen Waffen einzusam-meln und den bisherigen Waffenträgern zivile Perspekti-ven aufzuzeigen.
Bei UNMISS steht das Militärische und nicht das Zi-vile im Vordergrund. Das ist der falsche Weg. Daherwird die Fraktion Die Linke dieser Mandatsverlängerungnicht zustimmen.Danke.
Für die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Agnes
Malczak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach zweilangen Kriegen und der sechsjährigen Umsetzungsphasedes Comprehensive Peace Agreements hat der SüdenSudans am 9. Juli 2011 seine Unabhängigkeit erklärt.Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zurBeilegung eines Jahrzehnte währenden Konflikts, ausdem einer der brutalsten und längsten Kriege Afrikashervorging. Die internationale Gemeinschaft, wir allesind aufgefordert, diese positive Entwicklung zu unter-stützen.
Die Anerkennung der Unabhängigkeit durch Khar-toum war keine Selbstverständlichkeit und ist eine wich-tige Voraussetzung für die künftig nötige Kooperationder beiden Staaten, die stark voneinander abhängig sind.Eine Konfliktlösung durch Dissoziation, durch eineTrennung aller Verbindungen, ist unter den gegebenenBedingungen keine Option. Es gibt keine Alternative zurZusammenarbeit. Davon sind beide Nachbarn aber nochsehr weit entfernt. Dennoch: Das neue Grenzabkommenbietet eine Chance, die Spannungen zwischen Nord- undSüdsudan abzubauen. Die Einrichtung von Grenzüber-gängen und die Durchführung gemeinsamer Patrouillenkönnen künftig dabei helfen, die Gewalt entlang derGrenze einzudämmen. Wir dürfen diese Fortschritte,diese Schritte in die richtige Richtung nicht verkennen.Es stimmt aber auch, dass wir die Augen vor denGrenzen und Schwierigkeiten dieser UN-Mission nichtverschließen dürfen. In den vergangenen Wochen ent-fachten immer wieder gewaltsame Auseinandersetzun-gen in verschiedenen Regionen beider Länder. In denzum Norden gehörenden Grenzregionen Süd-Kurdufanund Blue Nile State kommt es immer wieder zu Gefech-ten zwischen den Regierungskräften und den Kämpfernder SPLM-N. Auch die erdölreiche und territorial um-strittene Region Abyei kommt nicht zur Ruhe. Frauenund Kinder sind die Hauptleidtragenden dieser Aus-einandersetzungen.Dass die Regierung in Khartoum vergangene Woche17 Parteien verboten hat, die angeblich unter ausländi-schem Einfluss stehen, sorgt für weitere Spannungen.Wir verurteilen die zunehmende Repression durch dasRegime im Nordsudan aufs Schärfste. Sie heizt die Ge-waltkonflikte an und versperrt den Weg für eine friedli-
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Agnes Malczak
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che Regelung der noch zahlreichen Streitfragen, insbe-sondere in den Grenzregionen.Nach seiner Unabhängigkeitserklärung steht derSüdsudan vor kolossalen Herausforderungen. Es bestehtdie Gefahr, dass zwischen den verschiedenen Bevölke-rungsgruppen im Süden neue Konflikte ausbrechen.Große Gruppen werden politisch und ökonomisch vonder Regierung marginalisiert. Zudem verbreiten sichKleinwaffen völlig unkontrolliert. Es muss deshalb drin-gend eine Entwaffnung und Demobilisierung durchge-führt werden.
Der Entwicklungsstand des Landes ist extrem niedrig,die Armut riesengroß. Gleichzeitig gibt es aktuell keineinstitutionelle Infrastruktur, die für ein einigermaßenfunktionierendes Staatswesen, mit dem man diese Pro-bleme angehen könnte, notwendig ist. Es wäre völlig un-verantwortlich und höchst gefährlich, diesen neuen Staatbei all diesen Herausforderungen alleine zu lassen.Die Mission der Vereinten Nationen im Südsudan hatdaher den Auftrag, die südsudanesische Regierung beider Friedenskonsolidierung zu unterstützen und Hilfebeim Staatsaufbau und bei der wirtschaftlichen Entwick-lung zu leisten. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen begrüßt, dass sich Deutschland von Anfangan an dieser Mission beteiligt.
Ich möchte allen Menschen, ob zivil oder in Uniform,ob im staatlichen Auftrag oder im Rahmen einer Nicht-regierungsorganisation, danken, die sich für Stabilitätund Frieden in dieser schwierigen Situation in dieser Re-gion einsetzen.
Um einen günstigen Rahmen für Versöhnung zuschaffen, bedarf es eines breiten Ansatzes, der alle Be-reiche umfasst: Politik, Sicherheit, wirtschaftliche Ent-wicklung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit allen relevan-ten Akteuren. Die militärische Komponente ist ange-sichts der immer wieder aufflammenden Kämpfe für denSchutz der Zivilbevölkerung ein notwendiger Bestand-teil. Der Schlüssel für eine nachhaltige Stabilisierungliegt aber im zivilen Engagement.Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dassDeutschland alle zur Verfügung stehenden Kapazitätennutzt, um die nötige technische, konzeptionelle und fi-nanzielle Unterstützung für die Friedenskonsolidierungsicherzustellen.Ja, es sind große Aufgaben zu bewältigen. Dabeimüssen wir bescheiden sein und realistische Ziele set-zen. Wir dürfen nicht immer gleich morgen ein Wundererwarten, aber wir müssen unser Bestes dafür tun, einenBeitrag zur Stabilisierung des Sudan und der von jahre-langen Kriegen und andauernden schweren Gewaltaus-brüchen geprägten Region zu leisten.Wenn ich mir noch eine Schlussbemerkung – mit ei-nem Blick zurück – erlauben darf: Heute liegt auch derAbschlussbericht zur alten UN-Mission UNMIS vor.Dieser basiert auf einer Regelung des Parlamentsbeteili-gungsgesetzes; sie wird hier zum ersten Mal angewandt.Das ist gut; das wollen wir loben. Gleichzeitig hätten wiruns ein bisschen mehr selbstkritische Evaluierung ge-wünscht. Wir erinnern die Bundesregierung an dieserStelle gerne daran, dass wir ebenso auf einen gründli-chen Abschlussbericht zur Operation Enduring Freedomwarten.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Hartwig Fischer von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung wähle mit diesem Mandat den falschenWeg, hat Kollege Movassat gesagt.
Die Bundesregierung hat nicht einen eigenen Weg ge-wählt, sondern wir beteiligen uns an einer Mission, dieauf einem UN-Mandat nach Kap. VII der UN-Charta ba-siert. Diese Mission soll nach der alten UNMIS-Missiondazu beitragen, dass im 193. Staat Rechtsstaatlichkeithergestellt wird und den Menschen dort, die in den ver-gangenen 25 Jahren keine Perspektive hatten, wiedereine Perspektive gegeben wird.
Deshalb ist es gut, dass die Kollegin Malczak ebennoch einmal darauf hingewiesen hat, dass der Ab-schlussbericht zu UNMIS vorliegt. Wer diesen Berichtgelesen hat, weiß, dass 445 Soldaten und Soldatinneneingesetzt waren, dass Polizisten eingesetzt waren, dasswir ein Programm zur Demobilisierung, zur Entwaff-nung und zur Reintegration aufgelegt haben. Genau dassind Friedensmissionen, die den Menschen wieder einePerspektive geben.Wir haben den Menschen Zugang gegeben und dasUNDP, das OCHA und den UNHCR bei ihren Maßnah-men für die Menschen unterstützt. Wir haben mit dazubeigetragen, dass 300 000 Menschen aus dem Norden inden Süden zurückkehren konnten. Wir haben in den ver-gangenen Jahren mit dazu beigetragen, dass über400 000 Flüchtlinge, die für über 20 Jahre aus dem
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Hartwig Fischer
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Südsudan nach Uganda und nach Kenia gegangen wa-ren, zurückgeführt werden konnten. Wir haben in denvergangenen Jahren gemeinsam mit einer breiten Basisfür das gesorgt, was Sie eben vermisst haben, HerrMovassat. Wir haben mit dafür gesorgt, dass zivileStrukturen geschaffen wurden, dass Straßen, Wasserver-sorgung und Ähnliches aufgebaut wurden. Das alles ver-schweigen Sie.Ich finde es unerträglich, wenn man sich hier als Pazi-fist aufspielt und versucht, aus ideologischen Gründenzu ignorieren, dass dort noch mehr Menschen sterbenwürden, wenn es keinen Militäreinsatz geben würde.
Wenn es im Südsudan, wenn es in Darfur nicht dieseMissionen gegeben hätte, wären Hundertausende vonMenschen mehr gestorben.
Wir haben kürzlich erlebt, wie Herr Baschir mit sei-ner Ignoranz verhindert hat, dass im Rahmen von UN-MISS auch eine Grenzsicherung vorgenommen wird.Wenn diese Grenzsicherung möglich wäre, dann wärenwir heute in Süd-Kurdufan in einer anderen Situation.Sie haben eben gesagt, dass dort in den letzten Tagen600 und in den letzten Monaten bereits 3 000 Menschengestorben sind.Im Rahmen von UNMISS können wir jetzt dafür sor-gen, dass dort wieder staatliche Strukturen aufgebautwerden. Wir wollen auch mit dazu beitragen, einen Dia-log mit dem ehemaligen Zentralstaat Sudan aufzubauen.Die Aufgaben nach Kap. VII der Charta der VereintenNationen bestehen darin, Sicherheit und Bewegungsfrei-heit zu gewährleisten, für die Erlangung der Unabhän-gigkeit zu sorgen und den Schutz der eigenen Bevölke-rung sicherzustellen. Wir helfen außerdem bei derHerstellung rechtsstaatlicher Strukturen.Präsident Salva Kiir hat gegenüber der internationa-len Gemeinschaft angekündigt, nicht nur staatliche Insti-tutionen aufbauen, sondern auch die Menschenrechterespektieren und rechtsstaatliche Strukturen implemen-tieren zu wollen. Mit diesem Mandat und vor dem Hin-tergrund des Einsatzes in der Vergangenheit haben wirdie Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, die Entwick-lung gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaftzu überwachen. Wir werden uns dafür einsetzen, dassdie Menschen eine neue Chance bekommen. Nach ei-nem furchtbaren, langen Krieg, der einer ganzen Genera-tion die Zukunftschancen genommen hat, müssen wirneue Zukunftschancen schaffen. Sie sind aufgefordert,daran mitzuwirken. Dabei sollten Sie allerdings beden-ken, welche Konsequenzen Ihr Handeln für die Men-schen hat.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6987 und 17/7000 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-
punkt 3 auf:
11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Staat Palästina anerkennen
– Drucksachen 17/6150, 17/7056 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
– Drucksachen 17/6298, 17/7057 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
Als Debattenzeit war eine halbe Stunde vereinbart. Es
hat sich aber nur ein Kollege zu Wort gemeldet. Die üb-
rigen Reden nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Ungefähr zur gleichen Zeit, zu der wir hier zu diesemThema hätten debattieren sollen, haben sehr viele Men-schen in Tel Aviv, einige Tausend, und sehr viele Men-schen in Ramallah, auch einige Tausend, für die Auf-nahme Palästinas als Vollmitglied der VereintenNationen demonstriert. Ich habe ihnen versprochen, dassich das, was sie auf ihren Kundgebungen ansprechen,1) Anlage 88
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14900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Wolfgang Gehrcke
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auch hier im Deutschen Bundestag vortragen werde. Ichfinde, es ist ein ganz tolles Zeichen, dass Menschen inIsrael und Menschen in Palästina für die Aufnahme Pa-lästinas als Vollmitglied der Vereinten Nationen auf dieStraßen und auf die Plätze gegangen sind.
Das ist genau das, was ich möchte: dass in dieser Art undWeise Verständigung entsteht.Die Linke will, dass Deutschland in der UNO dafürstimmt, dass Palästina als Vollmitglied aufgenommenwird. Wir sind der Auffassung, das ist deutsche Verant-wortung gegenüber Israel und Palästina. In dieser Fragesind die Differenzen zwischen den Fraktionen des Bun-destages aus meiner Sicht nicht unüberbrückbar.Ich will einige Stichworte nennen: Es geht um zweiStaaten, Israel und Palästina, die friedlich nebeneinanderin Sicherheit und Gerechtigkeit existieren, zwei Staatenauf der Grundlage der Grenze von 1967, Ostjerusalemals Hauptstadt des palästinensischen Staates und eine ge-rechte, einvernehmliche Lösung der Flüchtlingsfrage.Dazu gehört ein Sicherheitsabkommen, das die palästi-nensische Souveränität respektiert und die Besatzung be-endet. Ein solcher Weg kann dem Terrorismus den Bo-den entziehen.
All die gemeinsamen Positionen, die Sie vorgetragenhaben – die Linke teilt sie –, findet man auch in der Er-klärung, die der britische UN-Vertreter im Weltsicher-heitsrat im Namen des Vereinigten Königreiches, Frank-reichs und Deutschlands abgegeben hat. Am Schlussdieser Erklärung heißt es – das zitiere ich wörtlich –:Unser Ziel bleibt eine Vereinbarung über alle Fra-gen des endgültigen Status und die Begrüßung vonPalästina als Vollmitglied der Vereinten Nationenim September 2011.Dieser Text der Abstimmungserklärung ist im Februardieses Jahres auch von der Bundesregierung unterschrie-ben worden. Ich möchte, dass das eingelöst wird,
dass mit den doppelten Standards Schluss gemacht wirdund dass man die Menschen nicht immer wieder ent-täuscht, indem man über die Probleme hinweggeht.Wenn ich mir die Gegenargumente anschaue – ichkann nicht alle nennen –, dann erkenne ich: Das sind we-niger Einreden als vielmehr Ausreden. Ich nenne zweiGegenargumente, die ich für besonders bedeutsam halte:Es wird gesagt, der Gang zur UNO sei eine einseitigeHandlung der Palästinenser. Der israelische Ministerprä-sident Netanjahu und sein Außenminister haben gesagt:Das könnte dazu führen, dass alle Verträge – einschließ-lich des Vertrages von Oslo – hinfällig werden.Ich frage Sie, wieso der Gang zu den Vereinten Natio-nen, dem Weltforum, eine einseitige Handlung ist, ob-wohl sich mittlerweile über 150 Staaten bereit erklärt ha-ben, die Palästinenserinnen und Palästinenser zuunterstützen. Für mich ist es ein Riesenfortschritt, dassdie unbefriedigende Situation nicht mit dem Griff zurWaffe, nicht mit neuer Gewalt, sondern mit dem Gangzur UNO beantwortet worden ist. Das muss man hierdoch auch einmal politisch klarstellen, und die Regie-rung muss sich entsprechend verhalten.
Daneben wird gesagt, dass ein Scheitern der Verhand-lungen zu neuem Aufruhr im Nahen Osten führen kann.Ich sage Ihnen: Wenn Sie das verhindern wollen, dannmuss man den Palästinensern zeigen, dass sie nicht al-leine sind, sondern dass Menschen in aller Welt auf ihrerSeite sind. Man muss ihnen zeigen, dass es eine Mög-lichkeit gibt, zu einem eigenen Staat zu kommen, der ih-nen moralisch und politisch zusteht, und man muss ih-nen zeigen, dass wir nicht wegschauen
und dass wir nicht wollen, dass neue Gewalt gegen sieangewandt wird.
Die Bundesregierung muss sich entsprechend verhal-ten. Ich denke, die Bundesregierung muss in der Vollver-sammlung der Vereinten Nationen und im Weltsicher-heitsrat für die Aufnahme Palästinas als Vollmitgliedeintreten. Ich sehe die Gespräche des Nahostquartetts,die ja auch in New York stattfinden, nicht als konkurrie-rend dazu an. Ich frage mich immer, warum nicht beidesmöglich ist und warum Deutschland nicht endlich mitanderen europäischen Staaten die Initiative dazu ergreift.Ich wollte, dass das hier ausgesprochen wird, und ichwollte die Kolleginnen und Kollegen, die in Tel Avivund in Ramallah demonstriert haben, nicht enttäuschen.Deswegen habe ich hier von meinem Rederecht Ge-brauch gemacht.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-kannt, dass eine persönliche Erklärung nach § 31 unsererGeschäftsordnung der Kollegin Marieluise Beck vor-liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1)Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Den Staat Palästina anerkennen“.1) Anlage 92
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14901
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/7056, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/6150 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Stimmender SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltungder Grünen und von Frau Wieczorek-Zeul von der SPDangenommen.Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDmit dem Titel „Den Nahost-Friedensbemühungen neuenSchwung verleihen“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/7057, den Antrag der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/6298 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-stimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Linkenund der Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-tung einer Visa-Warndatei und zur Änderungdes Aufenthaltsgesetzes– Drucksache 17/6643 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusHierzu ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh-men.1)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/6643 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck ,Volker Beck , weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMilitärischen Abschirmdienst einsparen– Drucksache 17/6501 –Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommenwerden.
Unnötige Doppelstrukturen, zu teure oder fehlende
Kontrolle durch das Parlament sind Vorwürfe, die den
MAD treffen sollen. Nichts anderes ist dem vorliegenden
1) Anlage 89
Antrag der Grünen zu entnehmen. Ich kann zwar jede
Bemühung zur Zusammenlegung von Aufgaben in Zeiten
der Haushaltskonsolidierung verstehen, dieser Vor-
schlag der Grünen-Fraktion hat damit jedoch nichts zu
tun. Keine der Begründungen verfängt bei näherer Be-
trachtung der Materie.
Der MAD ist kein gewöhnlicher Geheimdienst, der
ohne weiteres in anderen Strukturen aufgehen könnte. Er
hat spezielle Aufgaben, die für den Auftrag der Bundes-
wehr maßgeschneidert sind. Er sorgt für die Sicherheit
unserer Soldaten im In- und Ausland. Ich muss nieman-
dem in diesem Hohen Hause erklären, dass die Gefähr-
dungslage unserer Soldaten im Einsatz alles andere als
abstrakt ist. Der MAD ist auf die interne Absicherung
der Bundeswehr, und zwar nur der Bundeswehr, spezia-
lisiert. Andere Dienste wie der BND haben sicher he-
rausragende Fähigkeiten, hier jedoch keine Kompeten-
zen.
Den MAD jetzt zur Auflösung herauszugreifen, halte
ich für unsinnig, ja sogar gefährlich für unsere Soldaten.
Unsere Soldaten verlassen sich auf die Arbeit des MAD,
der mittels personenbezogener Sicherheitsüberprüfun-
gen dafür sorgt, dass eine Unterwanderung der Bundes-
wehr verhindert wird. Eine Einsparung des MAD würde
die Wahrnehmung dieser Aufgabe ernsthaft gefährden.
Es ist zwar richtig, dass aufgrund des Wegfalls der
Wehrpflicht dieser Teilauftrag des MAD seit Juli dieses
Jahres weggefallen ist, die wesentlichen und zentralen
Aufgaben bestehen jedoch unverändert fort. Zum einen
müssen die freiwilligen Bewerber für die Bundeswehr
auf Extremismusverdacht überprüft werden. Wir wollen
schließlich auch in der Freiwilligenarmee Bundeswehr
nicht, dass politische Extremisten Dienst an der Waffe
leisten. Zum anderen bekommt die Abschirmung unserer
Soldaten im Einsatz eine tendenziell größere Bedeutung.
Die jetzige Reform trägt nicht umsonst den Untertitel
„Vom Einsatz her denken“.
Ich kann keine sachliche Begründung erkennen, die
es erfordern würde, den MAD in anderen Diensten auf-
gehen zu lassen. Der Wille zum Sparen alleine ist kein
hinreichender Grund; denn wir können keine Sicher-
heitspolitik nach Kassenlage betreiben. Auch würde eine
Integration in andere Geheimdienste keine großen Ein-
sparungen herbeiführen, da die speziellen Fähigkeiten
des MAD erhalten werden müssten. Synergieeffekte wä-
ren nach unserer Einschätzung so kaum zu realisieren.
Es macht aus meiner Sicht daher wenig Sinn, dieses
Einzelthema herauszugreifen, um sich als angeblicher
Anwalt des Steuerzahlers zu profilieren. Vielmehr muss
ein stimmiges Gesamtkonzept erarbeitet werden, wie die
zersplitterten Zuständigkeiten auf dem Feld der inneren
Sicherheit sinnvoll zusammengeführt werden können.
Der Wildwuchs im Bereich von unterschiedlichen Lan-
des- und Bundesbehörden muss grundsätzlich angegan-
gen werden. Solange hier keine Fortschritte gemacht
werden, gibt es mit der CDU/CSU keine einseitige Auf-
lösung eines erfolgreichen Dienstes, der für die Sicher-
heit unserer Soldaten sorgt.
Ich habe ohnehin den Eindruck, dass es der Opposi-
tion bei der gesamten Debatte weniger um eine effiziente
Bernd Siebert
(C)
(B)
Struktur bei den Geheimdiensten, sondern mehr um das
Schüren von Ressentiments gegen Geheimdienste im All-
gemeinen geht. Es ist meiner Meinung nach unverant-
wortlich, gegen die Geheimdienste als solche zu agitie-
ren. Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe für die Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger. Sie sind keine Gefahr
für die Bürgerrechte, im Gegenteil.
Auch die von interessierten Kreisen immer wieder
verbreiteten Verschwörungstheorien im Zusammenhang
mit dem Kunduz-Untersuchungsausschuss wurden nach-
haltig widerlegt. Es gab keine geheime Operation der
Nachrichtendienste in Kunduz. Wenn die Grünen mei-
nen, dieses Thema einmal mehr mit ihrem Antrag hoch-
ziehen zu wollen, ist das sehr durchsichtig. Es gibt keine
nebulösen Operationen losgelöst von Kontrolle. Es ist
deswegen schlicht nicht notwendig, den MAD zur an-
geblich besseren Kontrolle von Verwaltungshandeln auf-
zugeben.
Der vielleicht wichtigste Grund, die Kompetenzen des
MAD zu erhalten, sind unsere Bundeswehrangehörigen
im Auslandseinsatz. Die Bedrohung in Afghanistan geht
häufig von Tätern aus, die gezielt Attentate und Selbst-
mordanschläge auf Einzelpersonen verüben. Die Bun-
deswehr ist aufgrund der bereits umgesetzten Partne-
ring-Strategie besonders gefährdet. Der Angriff, bei dem
General Kneip verwundet wurde und zwei Bundeswehr-
soldaten gefallen sind, beweist das Potenzial solcher
Aktionen. Auch der folgenschwere Angriff eines afghani-
schen Soldaten auf die Bundeswehr bei Baghlan ist Aus-
druck dieser neuartigen Bedrohung. Für die Abwehr
dieser speziellen und besonders perfiden Gefahr benö-
tigt die Bundeswehr die Fähigkeiten und Erfahrungen
des MAD mehr denn je. Sicherheit im Einsatz ist mehr
als gut geschützte Fahrzeuge und moderne Waffensys-
teme; sie ist elementar abhängig vom frühzeitigen Er-
kennen und Aufklären von Gefahren. Dabei leistet der
MAD einen unschätzbaren Beitrag.
Auch die scheinbar zum Kalten Krieg gehörende Be-
drohung der Spionage ist keineswegs Geschichte. Bis
heute gibt es immer wieder Versuche, die Bundeswehr
auszuspähen, und zwar sowohl von innen wie von außen.
In der heutigen Zeit, die mit Vernetzung und Digitalisie-
rung neue Möglichkeiten eröffnet, dürfen die Gefahren
der technischen Revolution für die militärische Geheim-
haltung einfach nicht unterschätzt werden. Andere Staa-
ten haben erst jüngst Erfahrungen mit dem Ausspähen
von sensibler Militärtechnik gemacht. Ihr Beispiel sollte
uns eine Warnung sein. Die Bundeswehr als Hochtech-
nologiearmee, die mit neuestem Gerät ausgestattet ist,
ist besonders interessant für Ausspähversuche aller Art.
Der MAD soll und muss hier agieren können, mit dem
speziellen Wissen um Bundeswehrinterna und streitkräf-
tespezifische Gepflogenheiten.
Es geht auch um das Thema Verantwortung. Militäri-
sche Führer bis hin zum Minister brauchen Berater, die
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Organisation die not-
wendige Sachkenntnis mitbringen. Verantwortung kann
aber nur übernehmen, wer auch die entsprechenden
Mittel zur eigenen Verfügung hat. Dies ist nur dann der
Zu Protokoll
Fall, wenn der MAD als bundeswehreigene Institution
bestehen bleibt.
Daran knüpft sich unmittelbar das Argument der
schnellen Verfügbarkeit. Zeitlicher Vorsprung ist in un-
serer schnelllebigen Welt eine besonders kritische Res-
source. Es ist eben doch ein Unterschied, ob ich Fähig-
keiten in meinem eigenen Bereich habe oder ob ich sie
von außen erbitten muss. Der unmittelbare Zugriff und
die Weisungsgebundenheit sorgen dafür, dass der MAD
unverzüglich handeln kann. Bei einer Vergabe an Dritte
wird es immer Koordinierungsbedarf geben; im schlech-
testen Fall sind Kapazitäten nicht oder nicht schnell ge-
nug verfügbar. Diese Transaktionskosten müssen bei al-
len Überlegungen zu Einsparungen stets mitbedacht
werden. Sie sind umso schwerwiegender, je sicherheits-
relevanter eine Dienstleistung ist. Für mich spricht das
deutlich gegen eine unüberlegte Auflösung des MAD.
Unzweifelhaft ist, dass im Zuge der Neuausrichtung
der Bundeswehr der MAD nicht völlig unangetastet blei-
ben wird. Die Einschnitte beim militärischen wie beim
zivilen Personal sind derart signifikant, dass sie auch
beim MAD zu spüren sein werden. Niemand bezweifelt,
dass eine deutlich kleinere Bundeswehr auch die eine
oder andere Stelle beim MAD kostet. Das heißt aber kei-
nesfalls, dass der MAD generell überflüssig wäre.
Ich bleibe dabei: Eine neue Architektur im Bereich
der inneren Sicherheit muss koordiniert errichtet wer-
den. Überstürzte Einzelmaßnahmen richten unnötigen
Schaden an und haben zu unterbleiben. Deswegen ist
meine Empfehlung eindeutig: Dieser Antrag der Grünen
ist abzulehnen.
Eine der ethischen Grundstützen innerhalb unsererArmee ist das Bewusstsein der Verantwortung gegen-über der Geschichte. Über ihre Spiegelbildfunktion re-präsentiert sie unsere mündige und freie Gesellschaft.Diese Denkweise innerhalb unserer Armee zu si-chern, ist eine Hauptaufgabe des MAD. Die Sammlungvon Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestre-bungen innerhalb der Bundeswehr fällt somit darunter,ebenso wie die Aufklärung von sicherheitsgefährdendenAktivitäten gegen die Bundeswehr.Der MAD bringt darüber hinaus sein technischesKnow-How bei der Sicherung von Bundeswehrliegen-schaften ein und wirkt mit bei der Ausarbeitung undDurchführung von Maßnahmen zum Geheimschutz.Um es noch deutlicher zu machen: Der MAD ist es,der dafür sorgt, dass sich keine Extremisten in der Bun-deswehr ansiedeln, keine Nazis, Islamisten oder sons-tige Verfassungsfeinde.Diese Aufgaben hat der MAD stets mit großem Erfolgwahrgenommen und hat sich auch in seiner Organisa-tionsform bewährt. Dass er seine Aufgaben stets unauf-fällig für die Öffentlichkeit wahrgenommen hat, ist keineRechtfertigung für eine Auflösung, liebe Kolleginnenund Kollegen der Grünen-Fraktion.
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14902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenFlorian Hahn
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Die anstehende Überführung und Reform unsererBundeswehr verändert das Anforderungsprofil unsererStreitkräfte. Wir führen diese zu einer flexiblen, mobilenund effektiven Armee im Einsatz.Diese angesprochenen Aufgaben des MAD haben vordem Hintergrund der sich allgemein, insbesondere imRahmen unserer Auslandseinsätze verschärften Sicher-heitslage enorm an Bedeutung zugenommen. Der Schutzder Angehörigen der deutschen Einsatzkontingente unddie Überprüfung dort tätiger Ortskräfte sind Beispielefür die zunehmende Auslastung des MAD innerhalb derAuslandseinsätze.Die Bundeswehrreform und die damit verbundenePersonalreduzierung wird anteilig alle Ebenen derStreitkräfte berühren. Folglich kann die genaue Be-trachtung des MAD erst erfolgen, wenn die Struktur derreformierten Bundeswehr festgelegt wurde.Ich möchte auch betonen, dass eine Zusammenlegungoder Integration des MAD in den BND aus Kostengrün-den oder zur Vermeidung von angeblichen Mehrfachzu-ständigkeiten ebenso wenig Sinn machen würde wie eineÜberführung der Aufgaben auf das Bundesamt für Ver-fassungsschutz. Die Aufgaben des MAD beziehen sichimmer konkret auf die Bundeswehr und ihre Angehöri-gen. Sie erfordern spezifische Sachkenntnisse und Er-fahrungen mit den inneren Angelegenheiten der Bundes-wehr. Um diese Aufgaben weiterhin zu gewährleisten,wäre es für die neu geschaffene Institution notwendig,neues Personal anzuwerben oder das alte zu überführen.Beides wäre sicherlich mit mehr und nicht weniger Kos-ten verbunden.Wenn Sie in diesem Zusammenhang von „Mehrfach-zuständigkeiten“ und „Parallelstrukturen“ sprechen,weise ich nachdrücklich daraufhin, dass es solche nichtgibt. Die Nachrichtendienstegesetze sehen zwar die Zu-sammenarbeit in vielen Fällen vor, Zuständigkeiten be-stehen jedoch für jeden der drei Bundesdienste jeweilsexklusiv.Schlicht falsch ist im Übrigen Ihre Annahme, die zivi-len Verfassungsschutzbehörden wären zuständig, „so-bald zum Beispiel ein der Spionage oder als Neonaziverdächtiger Soldat die Kaserne verlässt“. Der MAD istzuständig, sobald ein Angehöriger der Bundeswehr ineinem solchen Verdacht steht – und er bleibt es, solangediese Person Angehöriger der Bundeswehr ist, unab-hängig von ihrem Aufenthaltsort.Die Sicherheitsüberprüfung des Personals und derSchutz der Truppe vor extremistischen und nachrichten-dienstlichen Angriffen sind unverzichtbare Fähigkeitender Bundeswehr. Autorität und Zugriff auf diese Feldermüssen allein schon aufgrund der Ressortautonomieund der effektiven Handlungsfähigkeit beim Bundes-ministerium der Verteidigung verbleiben.Die Auflösung des Militärischen Abschirmdiensteswie hier in dem Antrag der Grünen gefordert, wäre eineGefährdung der Substanz unserer Ziele, die durch dieUmstrukturierung der Bundeswehr erreicht werden sol-len. Daher lehne ich einen solchen Antrag entschiedenab.Zu Protokoll
Der Militärische Abschirmdienst, MAD, ist nebendem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundes-nachrichtendienst der dritte deutsche Nachrichtendienstauf Bundesebene. Er nimmt dabei seine im MAD-Gesetzfixierten Aufgaben eingeschränkt auf Personen und Ein-richtungen im Geschäftsbereich des Bundesministe-riums der Verteidigung wahr. Sein Auftrag besteht imKern darin, zur Sicherung der Einsatzbereitschaft derBundeswehr beizutragen.Nun nimmt der Antrag von Bündnis 90/Die Grüneneine seit Ende letzten Jahres mehr oder weniger öffent-liche Diskussion in der Regierungskoalition auf, undfordert die sofortige Auflösung des MAD und die Über-tragung der noch notwendigen Aufgaben auf Verfas-sungsschutz und BND. Auf den ersten Blick ist dies an-gesichts der anstehenden Veränderungen innerhalb derBundeswehr eine durchaus nachvollziehbare Forde-rung. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt. Damit entfällt diebisherige Aufgabe, extremismusverdächtige Wehrpflich-tige zu überprüfen. Die Bundeswehr wird verkleinert,Standorte werden aufgegeben werden. Damit gibt es we-niger zu tun für den MAD. Auch bei seiner jüngstenKompetenz, der Sicherung von Auslandseinsätzen derBundeswehr, ist der MAD anscheinend überflüssig,übernimmt doch der Bundesnachrichtendienst zum Bei-spiel in Afghanistan die militärische Aufklärung. DieArbeit des MAD beschränkt sich dort sowie im Kosovound in Dschibuti auf die Binnensicherung der Stütz-punkte, womit insbesondere die Sicherheitsüberprüfungausländischer Dienstleister gemeint ist. Aber könntedies nicht auch von der Militärpolizei oder dem Verfas-sungsschutz übernommen werden?Lassen Sie uns doch etwas genauer hinschauen. Kön-nen die Aufgaben, die jetzt noch vom MAD wahrgenom-men werden, tatsächlich ohne große Schwierigkeiten aufandere Sicherheitsbehörden übertragen werden? Ichrate da zur Vorsicht und zu einer Erweiterung der Sicht-weise. Es geht um eine Überprüfung der militärischenNachrichtengewinnung überhaupt.Das „Militärische Nachrichtenwesen der Bundes-wehr“ agiert aus meiner Sicht zurzeit in einer rechtli-chen Grauzone. Der Kunduz-Untersuchungsausschusshat hier aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion einennotwendigen Handlungs- und Regelungsbedarf aufge-zeigt. Vieles spricht dafür, diesen Bereich und vor allemdessen parlamentarische Kontrolle gesetzlich zu regeln.Dies könnte aus unserer Sicht im Rahmen einer Gesamt-reform der nachrichtendienstlichen Architektur inDeutschland geschehen.Insoweit lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vor-liegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf sofor-tige Auflösung des MAD ab. Die von mir angesprochenenotwendige Neuregelung im Bereich des militärischenNachrichtenwesens sollte aber nicht auf die lange Bankgeschoben werden. Ich rate zu einer umfassenden Dis-kussion in geordneten Bahnen und fordere die Bundesre-gierung auf, dem Bundestag möglichst zeitnah Vor-schläge zu unterbreiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14903
gegebene Reden
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Der Militärische Abschirmdienst, abgekürzt: MAD,
ist einer von drei Geheimdiensten unserer Bundesrepu-
blik. Das parlamentarische Kontrollgremium ist das Or-
gan, das diesen Nachrichtendienst kontrolliert. Doch es
ist meiner Meinung die Aufgabe des gesamten Parla-
mentes, sich Gedanken über die Sicherheitsarchitektur
des Bundes zu machen. Das haben wir als FDP-Bundes-
tagsfraktion schon seit längerem intensiv gemacht, und
wir haben unser Positionspapier zur Überführung des
MAD in das Bundesamt für Verfassungsschutz und die
Bundeswehr im Mai dieses Jahres verabschiedet. Die
Grünen fordern dies nun auch in ihrem sehr verkürzten
Antrag, den wir heute hier behandeln.
Jede Regierung tut nicht nur gut daran, sondern sie
ist es auch den Bürgern schuldig, die Sicherheitsorgane
kontinuierlich zu überprüfen. In diesem Fall wollen wir
als Koalition die Prüfung bezüglich der Möglichkeit ei-
ner Aufgabenübertragung vom MAD auf BfV, BND und
Bundeswehr. Diesen Auftrag hat die Bundesregierung
vom Vertrauensgremium erhalten. Auf den Bericht war-
ten die Kollegen des Vertrauensgremiums sehr gespannt.
Auch der Verteidigungsausschuss befasst sich mit der
Materie, weil der MAD zum Geschäftsbereich des BMVg
gehört. Doch auch wir warten die Feinausplanung der
Neuausrichtung der Bundeswehr zunächst ab.
Wir wollen uns einen Gesamtüberblick verschaffen.
Wir wollen uns eine ganz nüchterne Betrachtung leisten;
denn die Umverteilung der Aufgaben und Fähigkeiten
des MAD kann man nicht Hals über Kopf mit einem An-
trag bis Ende des Jahres machen, wie es die Grünen for-
dern.
Der Bericht unseres Prüfauftrages liegt gegenwärtig
noch nicht vor – geschweige denn, dass über diesen in
den Ausschüssen beraten wurde. Die FDP-Fraktion
lehnt diesen Antrag daher ab.
Medien bezeichnen den Militärischen Abschirm-dienst, MAD, immer wieder als den „geheimsten allerGeheimdienste“. Öffentlichkeit und Transparenz sindfür diesen Geheimdienst völlige Fremdworte. Auch beimVerfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienstwerden diese Tugenden nicht großgeschrieben; aber dieÖffentlichkeit hat wenigstens eine vage Ahnung überihre Aufgaben. Der MAD ist mit seinen 1 280 Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern der kleinste deutsche Ge-heimdienst und ist sowohl im Inland als auch im Auslandaktiv – eben überall dort, wo auch die Bundeswehr ist.In seiner bisherigen Geschichte war der MAD immerwieder in Skandale verwickelt. Am bekanntesten war dieKießling-Affäre 1983. Es gab aber auch andere Ab-höraffären. Weil dubiose Quellen den Bundeswehrgene-ral Günter Kießling verdächtigten, schwul zu sein, undweil sie dies für ein Sicherheitsrisiko hielten, wurde erüberwacht und ohne Anhörung sowie ohne Prüfung derVorwürfe in den vorläufigen Ruhestand versetzt. DieserSkandal ist symptomatisch für die Gefahren, die von Ge-heimdiensten für eine demokratische Gesellschaft aus-gehen.Zu ProtokollDie Fraktion Die Linke hat deswegen bereits in ihremBundestagswahlprogramm erklärt, dass sie für eine Auf-lösung der Geheimdienste ist. Folglich begrüßen wirden Vorstoß der Grünen, den MAD aufzulösen. Die Ab-schaffung des MAD kann ein wichtiger Schritt zur Auflö-sung aller Geheimdienste sein. Dies wäre ein bedeuten-der Sieg für die Demokratie in diesem Land. Wennzusätzlich in diesem Bereich Steuergelder eingespartwerden, dann ist dies auf jeden Fall sinnvoll. Leiderschlagen die Grünen jedoch nicht vor, ersatzlos auf denMAD zu verzichten, sondern sie wollen seine Aufgaben„anderen Sicherheitsbehörden“ zuordnen. Das bedeutetkonkret, dass im Inland die Verfassungsschutzbehördendes Bundes und der Länder noch enger mit dem Militärkooperieren werden. Im Ausland wird dann der Bundes-nachrichtendienst noch enger in die Aktionen des Mili-tärs involviert sein. Dies wäre eine bedenkliche Ent-wicklung.Gerade bei Auslandseinsätzen mussten wir in denletzten Jahren feststellen, dass in der Zusammenarbeitzwischen Militär und BND immer mehr unkontrollier-bare Grauzonen entstanden. Dieses Thema hat uns nunschon in mehreren Untersuchungsausschüssen beschäf-tigt. Ich will an dieser Stelle nur auf die Rolle des BNDbei dem Bombardement eines Tanklastzuges am Kunduz-Fluss vor etwas mehr als zwei Jahren erinnern. EineEntscheidung, die ganz wesentlich von der Task Force 47getragen wurde, in der Bundeswehr und BND eng zu-sammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit muss beendetwerden und darf nicht noch institutionell gefestigt wer-den – was zumindest eine Folge des grünen Antragessein könnte.Die Trennung der Aufgaben von Militär und Polizei,aber auch von Militär und Geheimdiensten sind wich-tige Lehren aus dem Dritten Reich. Damit soll die De-mokratie vor möglichen Entwicklungen hin zu einer Dik-tatur geschützt werden. Wenn nun die Bundeswehr, derVerfassungsschutz und der Bundesnachrichtendiensteine institutionell zementierte Zusammenarbeit haben,dann besteht die Gefahr, dass noch weitere unkontrol-lierbare Grauzonen entstehen. Der Antrag der Grünenist leider nicht mutig genug. Sie schlagen zwar vor, das„Problem MAD“ zu lösen, aber durch die von ihnen vor-geschlagenen halbherzigen Alternativen schaffen sieneue Probleme. Die Linke wird sich deswegen bei derAbstimmung enthalten und wirbt dafür, zukünftig mutigdas gesamte Problemfeld Geheimdienste anzugehen.
Brauchen wir einen dritten, extra für die Bundeswehrzuständigen Geheimdienst, also den Bundesnachrich-tendienst, wirklich? Das ist schon lange fraglich. Fürdie Aufklärung und Informationsbeschaffung im Inlandzur Abwehr von Spionage, Terrorgefahren oder verfas-sungsfeindlichen Bestrebungen war und ist das Bundes-amt für Verfassungsschutz zuständig. Für Aufklärungund Informationsbeschaffung im Ausland ist es der Bun-desnachrichtendienst. Nur die Bundeswehr solle vonden Bemühungen dieser beiden Geheimdienste weitge-
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14904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenHans-Christian Ströbele
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hend ausgenommen bleiben. Dafür ist der MAD zustän-dig.Aber lässt sich Aufklärung und Informationsbeschaf-fung für diese Ausnahme so einfach von der sonstigentrennen? Gab es da nicht schon immer zwangsläufigReibungsverluste durch Doppelarbeit, Parallelbefas-sung und gar Konkurrenz, wenn zum Beispiel Agenten-netze ausländischer Mächte von den Inlandsgeheim-diensten in Deutschland aufgeklärt werden?Mit den ersten Auslandseinsätzen der Bundeswehrkam die neue Konkurrenz zum BND hinzu. Wer sollte zu-ständig sein für die Aufklärung des Umfeldes der Truppeim feindlichen Ausland? Den sich anbahnenden Wild-wuchs der Zuständigkeiten hatte das Parlament mit derrot-grünen Mehrheit beschnitten und die Tätigkeit desMAD bei Auslandseinsätzen auf die Unterkünfte undFeldlager der Bundeswehr im Ausland gesetzlich einge-schränkt. Alle Aufklärung und Informationsbeschaffungaußerhalb blieb wie bisher dem BND überlassen. Aberauch diese Trennung bringt Abgrenzungs- und Zustän-digkeitsprobleme. Wir haben deshalb immer wieder gefordert, den Mi-litärischen Abschirmdienst der Bundeswehr sobald wiemöglich aufzulösen. Soweit noch Aufgaben bleiben, dieder MAD bisher wahrnahm, sollen diese künftig durchandere Sicherheitsbehörden wahrgenommen werden: imInland vom Bundesamt für Verfassungsschutz, im Aus-land vom Bundesnachrichtendienst. Das bisherige MAD-Personal soll – soweit personalrechtlich zulässig – dort-hin übergeleitet werden oder im allgemeinen Bundes-wehrdienst tätig bleiben. Wegen Effizienzgewinnen kön-nen viele dieser Stellen vermutlich in Zukunft mitAusscheiden des Stelleninhabers wegfallen. Die Bundes-regierung soll dem Bundestag laufend über den Vollzugdieser Reform berichten.Gründe für unseren Antrag ergeben sich auch ausVeränderungen der Sicherheitslage. Sie hat zur fakti-schen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht inDeutschland geführt. Die Mannschaftsstärke der Bun-deswehr wird stark verringert. Ihre Aufgaben sindandere. Gerade Auslandseinsätze finden unter sehr un-terschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Be-dingungen statt, die jeweils gesondert nicht ausreichendaufgeklärt und verstanden werden können. Gefahrenund Spionageangriffe auf die Bundeswehr können meistnur aus dem Gesamtzusammenhang wie etwa des inter-nationalen islamistischen Terrorismus erkannt werden.Dazu ist aber allenfalls der BND, nicht aber der MAD inder Lage, zumal der MAD der kleinste der drei deut-schen Geheimdienste ist, der circa 1 250 Mitarbeiter,12 Regionaldienststellen und einen jährlichen Etat voncirca 73 Millionen Euro hat.Derzeit werden die Neuausrichtung der Bundeswehrdiskutiert, die Verschlankung ihrer Strukturen sowie dieEinsparung von Einrichtungen und Dienststellen. Weildie Wehrpflicht ab dem 1. Juli 2011 ausgesetzt ist, ent-fällt auch die bisherige Aufgabe des MAD, laufend ex-tremismusverdächtige Wehrpflichtige zu überprüfen.Auch zu den Sparbemühungen kann die Abschaffung desMAD beitragen.Zu ProtokollViele deutsche Sicherheitsbehörden, nicht nur die Ge-heimdienste, befassen sich heute im In- und Ausland mitähnlichen Aufgaben. Dabei kommt es zu teuren Mehr-fachzuständigkeiten, Parallelstrukturen und Doppel-arbeit. Abgrenzungsbemühungen sind bisher unzurei-chend. Solche Überschneidungen der Zuständigkeitendes MAD gibt es nicht nur mit dem Bundesamt und denLandesämtern für Verfassungsschutz sowie mit demBundesnachrichtendienst, sondern auch mit dem Bun-deskriminalamt und dem Zollkriminalamt im In- undAusland.In Deutschland nimmt der MAD in der Bundeswehrbisher Aufgaben des Verfassungsschutzes wahr: Er er-forscht zum Beispiel Extremismus und wehrt Spionageab. Umgekehrt sind die Ämter für Verfassungsschutz mitderlei befasst: zum Beispiel wenn ein der Spionage oderals Neonazi verdächtigter Soldat außerhalb der Kaserneüberprüft werden soll.Auch im Ausland bestehen Überschneidungen: DerMAD wirkt während dortiger Bundeswehreinsätze anpersonellen sowie technischen Sicherheitsüberprüfun-gen mit und analysiert Gefährdungen durch Nachrich-tengewinnung. Das Gleiche tut innerhalb der deutschenAuslandsstützpunkte und in deren Umfeld der BND. Sowar es zum Beispiel im afghanischen Bundeswehr-standort Kunduz. Dort sind MAD-Mitarbeiter tätig.Doch seit 2007 operierte dort parallel die geheime„Taskforce 47“ mit BND-Angehörigen in einem geson-derten Teil des Stützpunktes, die von dort gleichfallsafghanische Aufklärer dirigierte. Das wurde erst Ende2009 durch Zufall bekannt.Besonders dieses Beispiel zeigt nochmals anschau-lich, dass solche Parallelstrukturen und Mehrfachzu-ständigkeiten die Kontrollierbarkeit der dienstlichen Tä-tigkeit verringern. Auch die zuständigen Ausschüsse undGremien des Bundestages können ihre Kontrollaufgabennur schwer wahrnehmen. Auch deshalb sind Parallel-organisationen wie die des MAD aufzulösen.Bisweilen wird gegen unseren Vorschlag eingewen-det, dass allein der MAD seine bisherigen Aufgabenwahrnehmen könne und niemand sonst. Das jedoch istnicht nur unwahrscheinlich und nicht nachvollziehbar.Vielmehr haben die weit größeren Behörden BfV undBND, denen die Aufgaben des MAD übertragen werdensollen, weit größere Erfahrungen mit den entsprechen-den Tätigkeiten.Hinzu kommt, dass schon heute gerade auch im BNDviele ehemalige oder derzeitige Angehörige der Bundes-wehr Dienst tun, nicht nur weil der Geheimdienst unterAngehörigen der Bundeswehr Mitarbeiter wirbt, son-dern weil zudem solche zeitweise für besondere Aufga-ben und beschränkte Zeit dorthin abgestellt werden.Schon bisher findet somit ein personeller Austausch derBundeswehr mit den Nachrichtendiensten statt.Auch andere fordern, den MAD abzuschaffen. Diestun etwa schon seit langem auch mehrere Ämter für Ver-fassungsschutz unter Verweis auf die genannten Aufga-benüberschneidungen. Auch die Haushaltsexperten vonUnion und FDP haben sich im zuständigen Teil des
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14905
gegebene Reden
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14906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Hans-Christian Ströbele
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Haushaltsausschusses des Bundestages 2010 für dieEinsparung des MAD ausgesprochen. Und im Mai 2011hat sogar die Bundesjustizministerin zutreffend festge-stellt: „Die Verteilung der nachrichtendienstlichen Tä-tigkeit des Bundes auf drei verschiedene Dienste führt zuüberflüssigen Doppelstrukturen, darauf beruhender In-transparenz und zu der Gefahr doppelter Grundrechts-eingriffe“. Treffender hätte ich es kaum formulieren kön-nen.Daher fordere ich Sie auf, den Stimmen auch aus Re-gierung und Koalition zu folgen und den MAD abzu-schaffen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6501
mit dem Titel „Militärischen Abschirmdienst einsparen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung
von Kinderpornographie in Kommunikations-
netzen
– Drucksache 17/6644 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll genommen
werden.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6644 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatz-
steuergesetzes
– Drucksache 17/7020 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Reden gehen zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/7020 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
1) Anlage 90
2) Anlage 91
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Erforderliche Bewilligungen von Mutter-/Vater-
Kind-Maßnahmen gewährleisten
– Drucksache 17/6493 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Die Reden gehen zu Protokoll.
Eltern-Kind-Maßnahmen sind ein sinnvolles und
wichtiges Element für eine erfolgreiche gesundheitliche
Prävention und Rehabilitation von Müttern und Vätern,
die aufgrund hoher Mehrfachbelastungen physisch und
psychisch beeinträchtigt sind.
Kindererziehung, Beruf und Haushalt managen, das
ist das Alltagsgeschäft vieler Eltern/Alleinerziehender.
Erschwert wird die familiäre Situation, wenn finanzielle
Sorgen, Partnerschaftsprobleme oder die Pflege eines
Angehörigen hinzukommen. Die steigenden Belastungen
und Erwartungen werden zu Belastungen, die die Ge-
sundheit beeinträchtigen können und krank machen. Er-
schöpfungszustände, Unruhe, Nervosität, Angst, Schlaf-
störungen, Allergien, Magen-Darm-Störungen, Herz-
Kreislauf-Störungen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen
sind typische Beispiele für Gesundheitsprobleme von
Müttern und Vätern in derartigen Situationen. Wenn die
ersten Signale von Körper und Seele ignoriert werden,
weil Eltern weiter für die Familie funktionieren wollen,
können aus Störungen Krankheiten werden, die intensi-
ver Behandlung bedürfen. Um diesen Kreislauf mög-
lichst früh zu unterbrechen und den betroffenen Fami-
lien zu helfen, sind Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen seit
2007 Pflichtleistungen der GKV.
Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde
festgelegt, dass von den gesetzlichen Krankenkassen ne-
ben den bereits erfassten Daten zu Fallzahlen und Aus-
gaben erstmals für das Jahr 2008 auch Daten zur An-
trags- und Bewilligungspraxis von Vorsorge- und
Rehabilitationsmaßnahmen zu erheben sind. Die Ermitt-
lung des Antrags- und Bewilligungsgeschehens der ge-
setzlichen Krankenkassen von Mutter-/Vater-Kind-Ku-
ren hat ergeben, dass in den Jahren 2007 und 2008
sowohl die Zahl der Kuren als auch die Ausgaben der
gesetzlichen Krankenkassen angestiegen sind. In den
Folgejahren waren die Ausgaben hingegen rückläufig.
Sie gingen im Jahr 2009 um 6,01 Prozent gegenüber
dem Vorjahr zurück, im Jahr 2010 sanken sie wiederum
um 9,22 Prozent jeweils im Vergleich zum Vorjahr.
Auch der Bericht des Bundesrechnungshofes hat dazu
beigetragen, dass die Ungereimtheiten in der Bewilli-
Rudolf Henke
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gungspraxis der Leistungsträger zutage gefördert wur-
den. In diesem Bericht wird unter anderem eine fehlende
Transparenz in der Bewilligungs- und Ablehnungspraxis
der Anträge von Mutter-/Vater-Kind-Kuren bemängelt.
Obwohl für alle gesetzlichen Krankenkassen die glei-
chen rechtlichen Voraussetzungen gelten, weichen die
Entscheidungen der einzelnen Kassen bisweilen sehr
deutlich voneinander ab.
Darüber hinaus wird vom Bundesrechnungshof da-
rauf verwiesen, dass Krankenkassen in der Praxis Kur-
anträge mit dem Hinweis auf ambulante Angebote ab-
lehnen. Der Gesetzgeber hat im Falle der Eltern-Kind-
Kuren festgelegt, dass nicht alle ambulanten Maßnah-
men ausgeschöpft sein müssen, um einen entsprechen-
den Kurantrag zu bewilligen. Diese Entwicklung ist
nicht nachvollziehbar und unbefriedigend. Daher hat
der Ausschuss für Gesundheit als Konsequenz einen
Entschließungsantrag beschlossen, der mit Ausnahme
der Linken von allen Fraktionen mitgetragen wird. Mit
dem Beschluss setzen wir uns dafür ein, dass der GKV-
Spitzenverband und der Medizinische Dienst des GKV-
Spitzenverbandes bis spätestens Ende 2011 folgende
Vorkehrungen zu treffen haben:
Die Begutachtungsrichtlinie Vorsorge und Rehabili-
tation ist zu überarbeiten. Die Antragsvordrucke sind zu
verbessern und zu vereinheitlichen.
Es sind verständliche Arbeitshilfen zum Grundsatz zu
erstellen, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme
nicht voraussetzt, dass zuvor ambulante Maßnahmen
ausgeschöpft wurden.
Die Entscheidungen der Krankenkassen müssen
transparent und mit aussagekräftigen und nachvollzieh-
baren Begründungen getroffen werden. Die Kranken-
kassen haben sicherzustellen, dass die Bescheide mit ei-
ner Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden.
Außerdem dürfen Krankenkassen nicht den Eindruck
vermitteln, dass Widerspruchsverfahren ohne Wider-
spruchsbegründung oder Äußerung der Versicherten
nicht fortgeführt oder eingestellt würden.
Der Beschluss des Gesundheitsausschusses gilt und
muss jetzt wirken. Daher dient der Antrag der Linken
nur noch der eigenen Positionierung. Wir lehnen ihn ab.
In einem weiteren Punkt fand der Bundesrechnungs-
hof Mängel. Die Frage der Zuständigkeit des Leis-
tungsträgers ist nach wie vor problematisch in der Klä-
rung. Im Falle der Mutter-/Vater-Kind-Kuren lehnen
Krankenkassen Anträge mit der Begründung ab, der
Rentenversicherer sei zuständig, da es sich nicht um
eine Präventionsmaßnahme handele, sondern um eine
Rehabilitationsmaßnahme.
Anstatt – wie gesetzlich im § 14 SGB IX oder § 40
Abs. 4 SGBV geregelt – die Anträge nach Prüfung und
Feststellung der Nichtzuständigkeit weiter an den ver-
mutlich zuständigen Leistungsträger zu leiten, weisen
einige Kassen die Antragsteller lediglich darauf hin,
dass sie die Maßnahme beim Rentenversicherungsträ-
ger beantragen können.
Zu Protokoll
Im Bereich Prävention und Rehabilitation gibt es eine
Vielzahl von Maßnahmen, die erkrankte Menschen und
Menschen mit Behinderungen dabei unterstützen sollen,
ihren Alltag besser bewältigen zu können, in das Berufs-
leben wieder eingegliedert zu werden oder etwa die
Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Union hat sich in
den letzten Jahren für viele dieser Maßnahmen und ge-
setzlichen Regelungen eingesetzt.
In der Praxis zeigt sich jedoch, dass oftmals diese An-
sprüche zu spät, nur zum Teil oder gar nicht umgesetzt
werden. Noch immer werden Menschen mit Behinderun-
gen und chronisch Kranke bei der Suche nach den zu-
ständigen Kostenträgern entgegen geltender Rechtslage
von einer Stelle zur anderen weitergereicht, ohne die für
sie erforderlichen Leistungen zu bekommen. Fristen für
die Bearbeitung eines Antrags werden nicht eingehalten,
unterschiedliche Leistungen nicht koordiniert. Die soge-
nannten Gemeinsamen Servicestellen, deren Aufgabe
die Beratung und Unterstützung bei der Antragsstellung
ist, sind häufig nicht oder nur wenig bekannt. Zudem
können sie in vielen Fällen ihre Aufgaben aufgrund feh-
lender Ressourcen und Kompetenz nicht zweckmäßig er-
füllen.
Unsere Aufgabe ist es, auch über die Mutter-/Vater-
Kind-Maßnahmen hinaus darauf zu achten, dass diese
Missstände behoben werden.
Die christlich-liberale Koalition unterstützt die Müt-ter und Väter in unserem Land, die aus gesundheitlichenGründen eine Kur mit ihren Kindern benötigen. Ichtreffe diese Feststellung gleich zu Beginn und ohne jedesWenn und Aber; denn es handelt sich bei diesen Kurenum wichtige Maßnahmen zur Prävention und Rehabili-tation, an denen wir keine Abstriche zulassen werden.Als Vertreter meiner Fraktion im Gesundheitsaus-schuss und im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauenund Jugend hatte ich Gelegenheit, an allen diesbezügli-chen Beratungen teilzunehmen. Die Haltung der CDU/CSU-Fraktion ist ganz klar: Wir werden keine Ruhe ge-ben, bis die Krankenkassen ihren gesetzlichen Verpflich-tungen in Sachen Mutter-/Vater-Kind-Kuren zweifelsfreinachkommen.Der Wille des Gesetzgebers ist doch ganz eindeutig:Weil immer mehr Erziehungsberechtigte sich in unseremLand Mehrfachbelastungen ausgesetzt sehen, die ihrerGesundheit abträglich sind, wollen wir dem mit derStärkung und besseren Durchsetzung von Mutter-/Vater-Kind-Kuren entgegenwirken. Um dies sicherzustellen,sind die entsprechenden Leistungen der gesetzlichenKrankenversicherung durch das zum 1. April 2007 inKraft getretene GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, GKV-WSG, von Ermessens- in Pflichtleistungen umgewandeltworden.Zunächst, in den Jahren 2007 und 2008, haben dannja auch die Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen deutlich zu-genommen; das Gleiche galt für die diesbezüglichenAufwendungen der GKV. Seit 2009 beobachten wir hin-gegen einen spürbaren Rückgang der entsprechenden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14907
gegebene RedenErwin Rüddel
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Ausgaben der GKV, der sich im Jahr 2010 sogar nochverstärkt hat.Das ist eine Entwicklung, die uns mit Blick auf dieBedeutung der Mutter-/Vater-Kind-Kuren Sorgen macht,zumal es deutliche Hinweise darauf gibt, dass dieserRückgang ursächlich mit der Bewilligungspraxis der ge-setzlichen Krankenkassen zusammenhängt.Tatsache ist jedenfalls, dass uns aus allen Himmels-richtungen Klagen und Beschwerden über die Genehmi-gungspraxis erreichen. Das Müttergenesungswerk unddie Caritas berichten beispielsweise von stetig steigen-den Ablehnungsquoten, von fadenscheinigen Begrün-dungen und groben Verfahrensmängeln; von Müttern,denen schon drei-, vier-, fünfmal die Kur verweigertwurde, wobei oftmals nur falsche Formulierungen inden Anträgen als Begründung für abschlägige Be-scheide dienen mussten.In einigen Regionen ist zuletzt fast jeder dritte Antragabgelehnt worden, anderswo lehnen manche Kassenüber 50 Prozent der Anträge ab. Der Verdacht drängtsich förmlich auf, dass hier eine willkürliche Praxis amWerke ist, die nichts mit dem Buchstaben des Gesetzes zutun hat – eine Praxis, die leider das Prädikat „familien-feindlich“ verdient.Dabei sollten sich doch alle Beteiligten über denGrundsatz einig sein, dass Vorsorge besser ist als Nach-sorge. Es kann daher nicht angehen, dass Mütter undVäter zu Bittstellern werden müssen, wenn es um den Er-halt ihrer Gesundheit geht. Auch der Bericht, den derBundesrechnungshof in dieser Angelegenheit zwischen-zeitlich dem Haushaltsausschuss vorgelegt hat, sprichteine deutliche Sprache. Wir haben uns in den zuständi-gen Ausschüssen wiederholt mit diesen Erkenntnissenbeschäftigen müssen.Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass sich so-wohl das federführende Bundesministerium für Gesund-heit wie auch das Bundesministerium für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend der Problematik angenom-men haben und gegenüber den Krankenkassen, demGKV-Spitzenverband sowie seinem Medizinischen Dienstauf eine angemessene Entwicklung der Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen drängen.Wir alle erwarten nunmehr von den Krankenkassen,dass diese ihre Bewilligungspraxis überprüfen und ins-besondere für transparente Begutachtungen und nach-vollziehbare Entscheidungen sorgen. MissverständlicheAntragsvordrucke und fehlende Rechtshilfebelehrungenmüssen der Vergangenheit angehören. Menschen, dienach dem Willen des Gesetzgebers Ansprüche aufPflichtleistungen haben, dürfen nicht länger leer ausge-hen. Die Kassen sind verpflichtet, in jedem Einzelfallund bei jeder Untersuchung eine individuell nachvoll-ziehbare und begründete Entscheidung vorzulegen. Wirerwarten, dass jetzt möglichst umgehend die richtigenKonsequenzen aus den umfangreichen Beratungen hierim Hause gezogen werden und dass dem Gesundheits-ausschuss alsbald ein entsprechender Bericht erstattetwird.Zu ProtokollMit unserem vorliegenden Antrag stärken wir dieRechte von Müttern und Vätern, die einen Anspruch ha-ben auf die vom Gesetz gewollte Gesundheitsversor-gung. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aufgefor-dert, ihre bisherige Praxis zügig zu überprüfen, damitdie notwendigen Maßnahmen künftig zeitnah und un-bürokratisch bearbeitet und bewilligt werden können.Mit einem Wort: Wir erwarten, dass dem Willen des Ge-setzgebers Genüge getan wird.
Die Sachlage in dieser Debatte zum Antrag der Frak-tion Die Linke ist für uns Sozialdemokraten eindeutig.Denn wir waren es, die im Rahmen des GKV-Wettbe-werbsstärkungsgesetzes im Jahr 2007 unter Federfüh-rung von Ulla Schmidt dafür gesorgt haben, dass Mut-ter-/Vater-Kind-Maßnahmen von Ermessensleistungenzu Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversiche-rung wurden, und das aus gutem Grund. Wir sindschließlich grundsätzlich der Überzeugung, dass beson-ders jene in der Gesellschaft unseres Schutzes und unse-rer besonderen Förderung bedürfen, die Großes leisten.Die Erziehung von Kindern gehört zu eben jenen anzu-erkennenden und herausragenden Lebensleistungen.Halten wir fest: Es geht hier in erster Linie um die be-troffenen Mütter und Väter. Sie können im Rahmen be-sagter Maßnahmen die notwendige Energie, Kraft undAusgeglichenheit wiederfinden, damit ein harmonischesZusammenleben in der Familie auch in Zukunft weiterbzw. wieder möglich ist. Deshalb haben wir als SPDwährend unserer Regierungsverantwortung auch dieBedeutung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen als einüberaus wichtiges Teilelement einer umfassenden Stra-tegie von Prävention und Rehabilitation unterstrichen.Es ist uns wichtig, dass diese Leistungen die Men-schen erreichen, die sie benötigen. Um die Entwicklun-gen des Leistungsgeschehens beobachten zu können, ha-ben wir die Krankenkassen mit der Umwandlung derMutter-/Vater-Kind-Maßnahmen in Pflichtleistungenauch zur jährlichen Erhebung von Daten über die An-tragsentwicklung und die Bewilligungspraxis gesetzlichverpflichtet. Nach Auswertung der aktuellen Zahlenkönnen wir alles andere als zufrieden sein. Die Bewilli-gungspraxis der Krankenkassen weist erhebliche Defi-zite auf.Die Entscheidungsgrundlagen für die Bewilligungvon Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen sind für die Kran-kenkassen nicht einheitlich geregelt. Es gibt keine ein-heitlichen Antragsvordrucke und die Entscheidungensind oft nicht oder nur schwer nachvollziehbar begrün-det. Auch der Bundesrechnungshof hat diese Defizite inseinem Prüfbericht deutlich aufgezeigt. Hier muss sichschnellstens etwas ändern.Wir haben deshalb – gemeinsam mit den Unionsfrak-tionen, den Liberalen und Bündnis 90/Die Grünen – denGKV-Spitzenverband und den Medizinischen Dienst desGKV-Spitzenverbandes aufgefordert, bis spätestens zumJahresende für ein transparentes Bewilligungsverfahrenbei Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen zu sorgen. Dasschließt die Überarbeitung der „Begutachtungs-Richt-
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14908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenSteffen-Claudio Lemme
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linie Vorsorge und Rehabilitation“ ebenso ein wie dieErstellung von verständlichen Arbeitshilfen zum Grund-satz, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme nicht dasvorherige Ausschöpfen ambulanter Maßnahmen voraus-setzt.Ich stelle für meine Fraktion erneut klar, dass wir die-ses fraktionsübergreifende Vorgehen auch weiterhin fürden richtigen Weg halten. Ich erwarte jedoch vom Bun-desgesundheitsminister und auch von Ihnen, Herr Kol-lege Zöller – in Ihrer Funktion als Patientenbeauftrag-ter –, das Geschehen sehr genau im Auge zu behalten.Appellschreiben an uns Abgeordnete reichen da nicht.Vielmehr müssen Sie und das Gesundheitsministeriumjetzt umso mehr ihrer Verantwortung nachkommen undfür eine verstärkte Öffentlichkeit in dieser Angelegen-heit Sorge tragen.Nach meiner Auffassung können Sie in diesem Fallnicht warten, bis sich die betroffenen Mütter und Väteran Sie wenden. Vielmehr müssen Sie jetzt in die Öffent-lichkeit gehen, um die Betroffenen über ihre Rechte aktivzu informieren, bis letztendlich die notwendigen Anpas-sungen in der Begutachtungspraxis vollzogen sind.Noch ein Hinweis, Herr Kollege Zöller: Das hilft imÜbrigen nicht nur den Betroffenen, es stärkt auch dasAmt und das Ansehen des Beauftragten für Patientinnenund Patienten in Deutschland. Unsere Forderungengegenüber dem GKV-Spitzenverband und dem Medizi-nischen Dienst der Krankenkassen sind unmissver-ständlich. Wir erwarten mehr Transparenz beim An-tragsverfahren und eine korrekte Bewilligungspraxis.Die Betroffenen müssen zu ihrem gesetzlichen Rechtkommen.Ich will an dieser Stelle noch einige Worte zum ei-gentlichen Gegenstand dieser Debatte verlieren, demAntrag der Fraktion Die Linke. Ich für meinen Teil be-dauere ausdrücklich, dass trotz der Tatsache, dass mansich scheinbar im Kern der Sache zu Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen einig ist, von ihnen weitere Forderun-gen erhoben werden. Ich will auf Punkt eins ihres Forde-rungskatalogs zu sprechen kommen. Sicher, mir ist IhreForm des Wirtschaftens wohl bekannt. Nur ist es unsereÜberzeugung, dass insbesondere das Wirtschaftlich-keitsgebot nach § 12 SGB V vor dem Hintergrund derFinanzierungssituation in der GKV unerlässlich ist. Ichwill Ihnen auch nochmals kurz begründen, warum. Die-sem Gebot müssen insbesondere die Leistungserbringerund auch die Kassen bei der Verordnung und der Bewil-ligung Folge leisten. Dies steht jedoch nicht – wie vonIhnen suggeriert – im Widerspruch zum Leistungsgedan-ken der GKV. Im Gegenteil: Diese Regelung kommt imEndeffekt der gesamten Gemeinschaft der Versichertenzugute.
Wieder einmal entsteht angesichts eines Antrags derOpposition der Eindruck, dass trotz eines erkennbar gu-ten Willens die Realität ignoriert und das Kind mit demBade ausgeschüttet wird.Zu ProtokollIn der Tat lässt die derzeitige Praxis im Bereich derMutter-/Vater-Kind-Maßnahmen viele Fragen entste-hen. Diese Präventionsmaßnahmen sind von ganz er-heblicher Bedeutung, um überlasteten Eltern und ge-stressten Kindern eine therapeutisch begleitete „Auszeit“einzuräumen und so dafür zu sorgen, dass physische undpsychische Krankheiten vermieden werden können. In-soweit verwundert es, dass die Krankenkassen etwa einViertel der gestellten Anträge ablehnen und die Ausga-ben für Mutter-/Vater-Kind-Kuren rückläufig sind.Dieser Missstand ist aber allen Beteiligten schonlängst bekannt und hat sich auch im Handeln der Politikniedergeschlagen. Der Bundesgesundheitsminister hatschon vor mehreren Monaten den GKV-Spitzenverbandund dessen Medizinischen Dienst nachdrücklich zum zü-gigen Handeln aufgefordert. Sowohl das BMG als auchdas Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauenund Jugend stehen im Kontakt mit allen Beteiligten, umeine angemessene Entwicklung der Maßnahmen zu for-cieren.Im Mai 2011 fanden im BMG Gespräche mit Kran-kenkassen, dem GKV-Spitzenverband, dem Müttergene-sungswerk und dem Bundesverband Deutscher Privat-kliniken statt. In den Gesprächen wurden genau die-jenigen Punkte bereits thematisiert, um die es in dem An-trag geht, insbesondere eine bessere Transparenz undNachvollziehbarkeit der Entscheidungen der Kranken-kassen.Nicht zuletzt haben sich am 6. Juli im Gesundheits-ausschuss alle Fraktionen – außer der Linken – auf ei-nen Entschließungsantrag geeinigt, in dem der GKV-Spitzenverband und sein Medizinischer Dienst aufgefor-dert werden, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Dazugehören: die Verbesserung der Transparenz der Ent-scheidungsgrundlagen in den Bewilligungsverfahren,die Überarbeitung der Begutachtungs-Richtlinie Vor-sorge und Rehabilitation; die Erstellung von Arbeitshil-fen zum Grundsatz, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maß-nahme keine Ausschöpfung ambulanter Maßnahmenvoraussetzt; die Pflicht, bei der Entscheidung über einesolche Maßnahme aussagekräftige und nachvollzieh-bare Begründungen zu liefern; die Pflicht, Bescheide miteiner Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen; eine Be-richtspflicht an den Deutschen Bundestag bis 31. März2012.All diese Maßnahmen sollen bis spätestens Ende 2011erfolgen – das sind nurmehr etwa drei Monate. Bis da-hin haben betroffene Patientinnen und Patienten dieMöglichkeit, von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch zumachen oder sich an die Unabhängige Patientenbera-tung zu wenden.Man muss sich doch fragen, warum dieses Bündelsinnvoller Maßnahmen in der Ausschusssitzung vom6. Juli von der Linken nicht mitgetragen wurde und sichjetzt, zweieinhalb Monate später, in einem Gesetzesan-trag fast wortwörtlich wiederfindet. Leiden die Kolle-ginnen und Kollegen von der Linken an kollektivem Ge-dächtnisverlust? Wohl kaum. Vielmehr geht es ihnenoffensichtlich darum, wieder einmal eine gesetzliche Re-gelung in einem Bereich zu erlassen, in dem eine solche
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14909
gegebene RedenDr. Erwin Lotter
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nicht nötig ist. Wir sollten die Maßnahmen des GKV-Spitzenverbandes abwarten, statt für alles und jedesnach einem Gesetz zu schreien.Es ist typisch, dass die Fraktion der Linken sich trotzinhaltlicher Übereinstimmungen hiermit von allen ande-ren Fraktionen abgrenzt – um der Abgrenzung willen. Esist typisch für Ihre Regelungswut, meine Damen undHerren von der Linken. Und wenn Sie in Ihrem Antragversuchen, den Schwarzen Peter für die derzeit missli-che Situation dem Wettbewerb zwischen den Kranken-kassen zuzuschieben, so zeigt dies nichts anderes als Ihrgrundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Wettbewerbals solchem. Dass dieser letztlich im wohlverstandenenInteresse der Patientinnen und Patienten liegt, entziehtsich der Verständniswelt Ihrer Fraktion.Ich finde es bedauerlich, dass sich die Linke nicht be-reits im Juli dem gemeinsamen Entschließungsantragangeschlossen hat. Das Ergebnis ist diese völlig über-flüssige Debatte. Aber so etwas kennen wir ja bereits.Das Bundesgesundheitsministerium, das Bundesfa-milienministerium und die Gesundheitspolitiker imDeutschen Bundestag werden sich weiterhin wachen Au-ges um eine transparente und positive Entwicklung imBereich der Mutter-/Vater-Kind-Kuren kümmern. Wenndie Linke meint, sich auf diesem Feld mit untauglichenVorschlägen profilieren zu müssen, so möge sie dies tun.Nützen wird es ihr mit Sicherheit nicht.
Es geht heute um einen Antrag meiner Fraktion zu
Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen. Schon vor einiger Zeit
haben viele Kur- und Rehabilitationseinrichtungen da-
rauf aufmerksam gemacht, dass sich die Bewilligungs-
praxis der Krankenkassen geändert habe. Daraufhin ha-
ben wir im Gesundheitsausschuss einen Bericht des
GKV-Spitzenverbandes mit Daten der Krankenkassen
über die Bewilligungen erhalten: Diese Daten waren
vollkommen inkonsistent. Der Bericht zeigte aber zu-
mindest an, dass die Bewilligungen von Mutter-/Vater-
Kind-Maßnahmen rückläufig sind. Der Bundesrech-
nungshof hat dann zum 7. Juni 2011 einen Untersu-
chungsbericht zur Bewilligungspraxis bei Mutter-/Va-
ter-Kind-Maßnahmen vorgelegt. Dieser Bericht zeigt
deutliche Mängel bei der Bewilligungspraxis der Kran-
kenkassen auf und macht in einer Würdigung Vor-
schläge, wie diesen Mängeln abgeholfen werden kann.
In einem Entschließungsantrag haben die Fraktionen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
den Ball zum Spitzenverband der Krankenkassen und
zum Medizinischen Dienst zurückgespielt, obwohl der
Bericht des Bundesrechnungshofes neben einer Reihe
von weiteren Maßnahmen auch eine gesetzliche Klar-
stellung für notwendig hält. Der Bundesrechnungshof
schreibt eindeutig: „Obwohl ambulante Maßnahmen
vor einer Mutter-/Vater-Kind-Kur nicht ausgeschöpft
sein müssen, können Krankenkassen unter Hinweis auf
das Wirtschaftlichkeitsgebot auf ambulante Maßnahmen
verweisen. Damit entsteht ein Zielkonflikt zu der vom
Gesetzgeber beabsichtigten Stärkung der Mutter-/Vater-
Kind-Kuren, der nur durch eine gesetzliche Klarstellung
Zu Protokoll
beseitigt werden kann.“ Wir wollen nicht vergessen,
dass es Ziel der Gesetzesänderung im GKV-Wettbe-
werbsstärkungsgesetz war, den Rechtsanspruch von
Müttern und Vätern auf medizinische Vorsorge und Re-
habilitation in eine Pflichtleistung zu überführen und
gerade hier den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu
beenden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke enthält neben
weiteren Forderungen diese notwendige Aufforderung
zu einer gesetzlichen Klarstellung, während alle ande-
ren Fraktionen meinen, das Problem auf kurzem Dienst-
weg lösen zu können. Leider bleiben diese Fraktionen
damit hinter der vernünftigen Forderung des Bundes-
rechnungshofes zurück.
Nicht außer Acht lassen möchte ich allerdings, wo die
eigentliche Ursache für den Rückgang der Bewilli-
gungen zu suchen ist: bei der Unterfinanzierung des
Gesundheitsfonds, insbesondere bei der Kopfpauschale
– durch die Hintertür – mit Einführung der Zusatzbei-
träge und beim damit einhergehenden Wettbewerbs-
druck im Gesundheitswesen. Die Krankenkassen versu-
chen um jeden Preis, Zusatzbeiträge zu vermeiden und
damit ihre finanzielle Situation zu stabilisieren. Sie han-
deln letztlich wie privatwirtschaftliche Versicherungs-
unternehmen, minimieren Kosten, schreiben möglichst
viel in Kleingedrucktes, vermeiden Kostenrisiken. Die
Pleite der City BKK mit Versicherten, die bangen muss-
ten, von anderen Kassen aufgenommen zu werden, zeigt
die Auswüchse einer Politik, die meint, im Gesundheits-
system auf knallharten Wettbewerb setzen zu müssen.
Verlierer solcher Politik sind immer die Versicherten
und Kranken, besonders die sozial benachteiligten und
weniger gebildeten Versicherten und Kranken. Wenn wir
solche Verhältnisse wie bei den Mutter-/Vater-Kind-
Maßnahmen nicht überall haben wollen, müssen wir
endlich eine stabile und zukunftsfähige Finanzierung
der Krankenversicherung herstellen. Die solidarische
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wäre ein mehr
als gangbarer Weg.
Mit den Problemen bei der Bewilligung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen beschäftigt sich in regelmäßi-gen Abständen immer wieder der zuständige Gesund-heitsausschuss, und es gibt in den Debatten dazu einesehr große inhaltliche Übereinstimmung aller Fraktio-nen. Dies trifft auch auf den Ausschuss für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend zu, der sich immer wiedermit der Thematik befasst.Der im Antrag zitierte Bericht des Bundesrechnungs-hofs zu den Vorsorgemaßnahmen im Bereich Mutter-Vater-Kind, den § 23 SGB V betreffend, zeigt die beste-henden Probleme deutlich auf. Es wird die hohe Ableh-nungsrate kritisiert. Beanstandet wird, dass die Kran-kenkassen mit Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebotoft auf ambulante Angebote verwiesen, obwohl dies hiernicht zulässig ist. Der Bundesrechnungshof sieht Gleich-behandlungsprobleme bei der Genehmigung von Mut-ter-/Vater-Kind-Maßnahmen und stellt fest, dass die Ent-
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14910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14911
Birgitt Bender
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scheidungspraxis den Versicherten den Eindruck vonWillkür vermitteln kann.Im Juli 2011 haben die Fraktionen CDU/CSU, FDP,SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem Ausschussan-trag kritisch zur aktuellen Situation Stellung bezogenund die Selbstverwaltung zum Handeln aufgefordert.GKV-Spitzenverband und MDK sollen zeitnah das Be-willigungsverfahren verbessern sowie für transparente,nachvollziehbare und belastbare Entscheidungen sor-gen. Die „Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Reha-bilitation“ soll überarbeitet, Antragsvordrucke ver-bessert und vereinheitlicht werden sowie Arbeitshilfenfür die Begutachtungs- und Leistungspraxis erstellt wer-den. Bescheide sollen mit Rechtshilfebelehrungen verse-hen werden und anderes mehr. Die Umsetzung soll Ende2012 überprüft werden.Da es ein gemeinsames Anliegen aller im Bundestagvertretenen Fraktionen ist, dass sich die konkrete Praxisbei der Bewilligung von Mutter-/Vater-Kind-Kuren än-dert, kann das Bundesgesundheitsministerium gutenGewissens „sanften Druck“ auf die Kassen ausüben.Gleichzeitig darf man sich aber nicht erhoffen, dass alleRehabilitationsmaßnahmen nach § 41 SGB V und dieVorsorgemaßnahmen nach § 23 SGB V in Zukunft bewil-ligt werden. Auch bei Pflichtleistungen der Kassen mussfür die Bewilligung eine medizinische Indikation vorlie-gen.Auch wir kritisieren, dass einige Krankenkassen mitHinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12SGB V auf ambulante Angebote verweisen. Es ist ein-deutig geregelt, dass für Mutter-/Vater-Kind-Maßnah-men der Grundsatz „ambulant vor stationär“ nicht gilt.Hier muss durch die Kassen eine rechtskonforme Umset-zung erfolgen. Der Vorschlag der Linken, als Konse-quenz das Wirtschaftlichkeitsgebot bei Mutter-/Vater-Kind-Kuren einzugrenzen, überzeugt mich nicht. Auchhier sollte der Grundsatz „ausreichend, zweckmäßigund notwendig“ gelten.Wir alle gehen davon aus, dass Vorsorge- und Reha-bilitationsleistungen nach den §§ 24 und 41 SGB wich-tige Elemente für eine erfolgreiche Prävention und Re-habilitation sind. Wenn man diese Annahme belegen willund sich auf die Suche nach unabhängigen Studienmacht, wird man kaum fündig. Der ForschungsverbundFamiliengesundheit – ein Zusammenschluss von Mutter-/Vater-Kind-Kliniken und einem wissenschaftlichen Teamder Medizinischen Hochschule Hannover – forscht seiteinigen Jahren praxisbezogen. Diese Ergebnisse lassenauf Verbesserungen des Gesundheitszustandes und derErziehungskompetenz schließen. Gleichzeitig weistdieser Zusammenschluss auf das weite Feld offener For-schungsfragen hin. Genannt werden: aktuelle Daten inBezug auf Belastungen, Beschwerden und Langzeitef-fekte bei Müttern und Kindern, die gesundheitliche Situ-ation der Väter in Vater-Kind-Maßnahmen, indikations-spezifische Effektmessung, Unterscheidung zwischenVorsorge und Rehabilitation, zielgruppenspezifischerBedarf, zum Beispiel Mütter mit Migrationshintergrund,sowie die Effizienz von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen.Hier gibt es viel zu tun und hier könnte, wenn sie eswollte, die Bundesregierung kurz- und langfristig tätigwerden. Gelder für die Versorgungsforschung stehen so-wohl im Haushalt des Gesundheits- als auch des For-schungsministeriums zur Verfügung. Mit etwas politi-schem Willen würde man hier das Thema Vorsorge undReha von Eltern und Kindern gut verorten können.In der politischen Debatte steht die Bewilligung vonEltern-Kind-Maßnahmen im Vordergrund. Das ThemaWirksamkeit und Qualität der Angebote habe ich bereitsangeschnitten. Auf eine weitere offene Baustelle möchteich noch hinweisen: Um Erfolge stationärer Maßnah-men langfristig zu sichern, sind Angebote hilfreich, dieEltern und Kinder nach Ende der Kur zu Hause zur Ver-fügung stehen, um das neu Angeeignete in den Alltag zuintegrieren. Auch hier lohnt es sich, Gelder für die For-schung in die Hand zu nehmen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6493 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze
– Drucksache 17/6764 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Reden sollen zu Protokoll gehen.
Bei der Mehrheit der Änderungen durch das vorlie-
gende Gesetzesvorhaben handelt es sich um technische
Aspekte und um Vorgaben aus dem Europarecht. In den
Sozialgesetzbüchern und im Sozialgerichtsgesetz wird
eine Vielzahl von Regelungen geändert oder angepasst,
um die Verfahren effizienter zu gestalten. Zusätzlich
wird eine Reihe von Einzelfragen der Sozialversiche-
rung geklärt. Ich will die entscheidenden Punkte heraus-
greifen.
Für Ehrenbeamte – zum Beispiel ehrenamtliche Bür-
germeister, Ortsvorsteher –, die eine Aufwandsentschä-
digung und eine vor der Regelaltersgrenze beginnende
Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten und
von der bisherigen Auslegung des Rechts begünstigt wa-
ren, wird bei der Berücksichtigung der Aufwandsent-
schädigung als Hinzuverdienst eine fünfjährige Über-
gangsregelung geschaffen.
Max Straubinger
(C)
(B)
Rentenbezieher erhalten bisher jährlich eine Mittei-
lung über die Anpassung der Leistungen aus der gesetz-
lichen Rentenversicherung. Dies ist bei Änderungen der
Höhe des aktuellen Rentenwerts notwendig, da sich
diese Änderung individuell unterschiedlich auf die Ren-
tenhöhe auswirkt. Die Anpassungsmitteilung gibt Aus-
kunft über den künftig an Rentnerinnen und Rentner
auszuzahlenden Betrag. Entspricht hingegen der auf-
grund der Anpassungsformel ermittelte neue aktuelle
Rentenwert betragsmäßig dem bisherigen aktuellen
Rentenwert, verändert sich die Rentenhöhe nicht und
eine Anpassungsmitteilung ist entbehrlich. Deshalb wird
in diesem Fall künftig auf den Versand verzichtet. Das
hat zuletzt Kosten von 10 Millionen Euro verursacht, ob-
wohl die Rentnerinnen und Rentner über die Medien in-
formiert sind.
Die Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen
Studiengängen soll einheitlich für alle dualen Studien-
gänge und für die gesamte Dauer des Studiengangs ge-
regelt werden.
Im Beitrags- und Meldeverfahren zur Sozialversiche-
rung sollen weitere Vereinfachungen für die Arbeitgeber
eingeführt werden. Die Verfahrensvereinfachungen ge-
hen auf Vorschläge aus der Praxis sowohl vonseiten der
Arbeitgeber als auch vonseiten der Sozialversicherungs-
träger zurück.
Es wird klargestellt, dass eine Erstattungspflicht des
Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger
der Einrichtungen nur für die im Arbeitsbereich einer
anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen
besteht. Im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer
anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen besteht
grundsätzlich keine Erstattungspflicht des Bundes. Mit
der beabsichtigten Änderung der Regelung über die Er-
stattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbei-
träge behinderter Menschen in anerkannten Werkstätten
für behinderte Menschen sollen die Kosten für die ren-
tenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und Berufs-
bildungsbereich tätigen behinderten Menschen rück-
wirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozialver-
sicherungsträger übergehen.
Diese Änderung betrifft weder die behinderten Men-
schen selbst noch die Werkstätten für behinderte Men-
schen. Es geht allein um einen Erstattungsmodus zwi-
schen den betroffenen Sozialversicherungsträgern und
dem Bund. Auch wenn bis 2007 anders verfahren wurde,
gibt es keinen Grund, diese seinerzeitige fehlerhafte
Praxis beizubehalten.
Etwa 4,4 Prozent der schwerbehinderten Menschen
sind von Geburt an behindert. Sofern diese Behinderung
dazu führt, dass sie nur in einer WfbM tätig sein können,
ist im Regelfall die Bundesagentur für Arbeit
zuständiger Leistungserbringer. Sie hat einzutreten,
wenn kein anderer Träger der Rehabilitation zuständig
ist, also in der Hauptsache dann, wenn der behinderte
Mensch nach Beendigung der Schulzeit zur beruflichen
Ersteingliederung in das Arbeitsleben in die Werkstatt
eintritt.
Zu Protokoll
Für die Zeit im Eingangsverfahren und im Berufsbil-
dungsbereich ist die Berufsfindung und Berufsausbil-
dung auch bei von Geburt an behinderten Menschen
Aufgabe der BA. Dies ist nicht anders als bei anderen
Rehabilitanten, unabhängig davon, ob diese von Geburt
an oder später behinderte Menschen werden. Bleiben
diese Personen in der Werkstatt für behinderte Men-
schen, so übernimmt wieder der Bund die Erstattung der
Beiträge, soweit sie nicht als Arbeitsentgelt beitragspfli-
chtig sind. Im Jahr 2008 und 2009 gab es je etwa 24 000
Förderfälle im Zuständigkeitsbereich der BA, circa
6 000 Förderfälle bei der Deutschen Rentenver-
sicherung Bund.
Abschließend will ich auf die zwischen Bundesge-
sundheitsministerium und Verband der privaten Kran-
kenversicherung getroffene Vereinbarung eingehen,
nach der privat versicherten Empfängern von Leistun-
gen der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Bei-
tragsschulden erlassen werden sollen. Die Regelung soll
in den Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf mit
aufgenommen werden.
Zum Hintergrund kurz Folgendes: Seit 2009 gilt auch
für die PKV Versicherungspflicht. Für privat versicherte
Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Ar-
beitsuchende zahlten die Jobcenter seither den im Ver-
gleich zum Basistarif geringeren Satz für gesetzlich Ver-
sicherte. Zu Beginn dieses Jahres entschied das
Bundessozialgericht, dass der PKV-Beitrag voll finan-
ziert werden muss. Die Frage, wer die bis dahin aufge-
laufenen Beitragsschulden säumiger Bedürftiger über-
nimmt, war bislang offen.
Ich begrüße die nunmehr gefundene Lösung außeror-
dentlich, nach der die privaten Krankenkassen säumi-
gen Bedürftigen im Basistarif ihre Beitragsschulden er-
lassen wollen. Ein langwieriger politischer Streit ist
endlich beigelegt. Mehrere Tausend bedürftige privat
Versicherte können endlich aufatmen; sie sind nicht
mehr mit Beitragszahlungsforderungen konfrontiert. Es
wird sichergestellt, dass privat krankenversicherte Be-
zieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II von
den Kosten für eine angemessene Kranken- und Pflege-
versicherung entlastet werden.
Die lautgewordene Kritik an der künftigen Direkt-
überweisung der Beiträge durch die Jobcenter ist nicht
nachvollziehbar: Es geht nicht darum, Arbeitsuchende
gegenüber der Versicherung bloßzustellen. Vielmehr
werden die fristgerechte Beitragszahlung und damit die
dauerhafte Aufrechterhaltung des vollen Versicherungs-
schutzes gewährleistet. Auch die Beitragszahlung von
gesetzlich krankenversicherten Arbeitsuchenden wird
unmittelbar mit dem Versicherer abgewickelt.
Der Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch birgt so-zial- und arbeitsmarktpolitischen Sprengstoff. So harm-los der Titel klingt, so schwerwiegend sind zum Teil diegeplanten Änderungen darin.
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14912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenOttmar Schreiner
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Bereits im letzten Jahr hat die Bundesregierung dasgrößte Sparpaket in der bundesdeutschen Geschichtemit einem Volumen von über 82 Milliarden Euro ge-schnürt, das eindeutig zulasten der sozial Schwachengeht. Die Konsolidierung des Bundeshaushalts wurdeund wird hauptsächlich durch Kürzungen im Arbeits-markt- und Sozialbereich getragen: Mehr als ein Drittelder Einsparmaßnahmen beziehen sich mit insgesamt30,3 Milliarden Euro auf den Sozialbereich. Rund98 Prozent der Sozialkürzungen betreffen den BereichArbeitsmarkt. Das Sparpaket bürdet die Lasten überwie-gend den Arbeitslosen und sozial Benachteiligten aufund verschont gleichzeitig die Wirtschaft. Im Rahmendieses Kahlschlags wurde unter anderem der Rentenver-sicherungszuschuss bei Empfängern von Arbeitslosen-geld II abgeschafft. Wer langzeitarbeitslos ist, erzielt ab2011 keine Anwartschaften in der gesetzlichen Renten-versicherung mehr.Aber damit nicht genug! Die Kürzungsorgie im Sozial-bereich wird fortgeführt. Im Haushaltsentwurf 2012werden im Haushaltsposten Arbeit und Soziales die fi-nanziellen Mittel in den kommenden Jahren stark zu-rückgefahren werden. Die, die sich in den letzten Jahrenbereichert haben, bleiben wieder verschont. Die Bun-desregierung führt mit dem Haushaltsentwurf 2012 alsodie sozialpolitische Umverteilung von unten nach obenfort. Die vermeintliche Konsolidierung des Bundeshaus-halts wird damit hauptsächlich durch Kürzungen im Ar-beits- und Sozialbereich getragen.Die Serie der Kürzungen führt sich mit dem vorlie-genden Änderungsgesetz fort. Technisch gut verpacktfinden sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf Ver-schlechterungen der Einnahmebasis der Sozialversiche-rungen. Dort heißt es in der Begründung zu der Ände-rung des § 179 SGB VI: „Es wird nunmehr ausdrücklichgesetzlich klarstellend geregelt, dass eine Erstattungs-pflicht des Bundes für Beiträge an die Träger der Ein-richtungen im Wesentlichen nur für die im Arbeitsbe-reich einer anerkannten Werkstatt tätigen behindertenMenschen besteht. Im Eingangsverfahrenoder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werk-statt ist eine Erstattungspflicht des Bundes nur vorgese-hen, soweit nicht die Bundesagentur für Arbeit, die Trä-ger der Unfallversicherung oder die Träger derRentenversicherung zuständige Träger der Leistungenzur Teilhabe sind. Diese Kostenträger haben den Trä-gern der Einrichtung die für die dort tätigen behindertenMenschen entrichteten Beiträge nach § 179 Abs. 1Satz 2 zu erstatten. Die Änderung ist sachgerecht. Leis-tungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbe-reich einer Werkstatt für behinderte Menschen sind sol-che Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, bei denendie zuständigen Rehabilitationsträger, also die Bundes-agentur für Arbeit und die Rentenversicherungsträger,daneben auch die Unfallversicherungsträger, Ausbil-dungsgeld oder Übergangsgeld zahlen. Bei diesen Leis-tungen sind die Rehabilitationsträger grundsätzlich im-mer verpflichtet, die darauf entfallenden Beiträge zurRentenversicherung zu erstatten. Für das Eingangsver-fahren und den Berufsbildungsbereich einer Werkstattfür behinderte Menschen wird deshalb ausdrücklichZu Protokollklargestellt, dass die Rehabilitationsträger die gesamtenBeiträge zu erstatten haben.“Worum geht es hier? Die Bundesregierung will diesozialpolitisch unumstrittene rentenrechtliche Regelungfür Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Men-schen, wonach diese Anwartschaften auf Grundlage von80 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versi-cherten erwerben, in der Finanzierung ändern: Für Per-sonen im sogenannten Eingangs- oder Berufsbildungs-bereich einer anerkannten Werkstatt soll die Er-stattungspflicht der höheren Rentenversicherungsbei-träge nicht durch den Bund erfolgen, sondern durch dieRehabilitationsträger, also die Bundesagentur für Arbeitoder die Rentenversicherungsträger. Dabei versucht dieBundesregierung diese Regelung rückwirkend auf den1. Januar 2008 zu korrigieren.Dass die Bundesregierung hier vor Jahren ihreRechtsinterpretation geändert hat, ist schlimm genug.Dass sie nun versucht, durch eine Rückwirkung zum1. Januar 2008 ein Urteil des Bayerischen Landes-sozialgerichtes, das diese Praxis für rechtswidrig er-klärt hat, zu korrigieren, ist nicht nur peinlich, sondern– so steht es in einer Stellungnahme der Deutschen Ren-tenversicherung Bund – auch „verfassungswidrig, dahier in abgeschlossene, der Vergangenheit angehörendeSachverhalte eingegriffen wird“.Durch die Rückwirkung entstehen der Bundesagenturfür Arbeit Mehrausgaben in Höhe von 400 MillionenEuro. Zukünftig muss die Bundesagentur für Arbeit mitjährlichen Mehrausgaben in Höhe von 120 MillionenEuro rechnen. Auch die Rentenversicherung wäre mit130 Millionen Euro rückwirkend und zukünftig mit circa32,5 Millionen Euro jährlich erheblich belastet.Die Bundesregierung will sich also aus der finanziel-len Verantwortung für behinderte Menschen herauszie-hen. Da die Bundesagentur für Arbeit durch die Spar-maßnahmen im Arbeits- und Sozialbereich schon massivbelastet sowie strukturell unterfinanziert ist, halte ichdieses Vorgehen für verantwortungslos. Es überraschtdaher nicht, dass sich der ansonsten sehr moderate Vor-standsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, im zuständigen Bundestagsausschussüber diese Regelung empörte, da sie nicht in der Haus-haltsplanung eingespeist sei. Den Rentenversicherungs-trägern geht es nicht anders. Ihnen diese Kosten aufzu-bürden, ist genauso fahrlässig.Mit der Änderung in der Finanzierung bei der Erstat-tungspflicht der Beiträge zur Rentenversicherung verab-schiedet sich die Bundesregierung von einem tragendenPrinzip bundesdeutscher Sozialpolitik, nach der gesamt-gesellschaftliche Aufgaben systematisch korrekt durchSteuern zu finanzieren sind. Die Änderung in der Finan-zierung würde allein die Beschäftigten und die Arbeitge-ber durch ihre Sozialversicherungsbeiträge belasten.Die SPD-Bundestagsfraktion wird dies nicht mittra-gen. Wir sind der Meinung, dass aus verteilungs- undbeschäftigungspolitischen Gründen die Erstattung derBeiträge an die Rentenversicherung durch Steuern zu fi-nanzieren ist. Nur so werden alle Mitglieder einer Ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14913
gegebene RedenOttmar Schreiner
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sellschaft zur Finanzierung von gesamtgesellschaftli-chen Aufgaben herangezogen.
Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland istsehr positiv. Wir sind besser als jedes andere Land inEuropa durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekom-men. Die jetzige starke Konjunktur wollen wir durchweitere Entlastungen unterstützen. Angesichts des Zielsder Bundesregierung und der Koalitionspartner, dieHaushaltskonsolidierung weiter voranzutreiben, bietetsich hier eine gute Möglichkeit, diese Ziele zu verbin-den: durch Bürokratieabbau, durch Effizienzsteigerung,durch praxisnahe Erleichterungen.Unter dem Titel „Fünf Jahre Bürokratieabbau – DerWeg nach vorn“ wurde gestern der Jahresbericht 2011des Nationalen Normenkontrollrats vorgestellt.Diese Bundesregierung hat den Bürokratieabbau zueinem eigenständigen Politikziel erklärt; denn Bürokra-tie soll die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstumund den Aufschwung nicht bremsen. Der Nationale Nor-menkontrollrat ist ein wichtiger Partner beim Bürokra-tieabbau. Er nahm vor rund fünf Jahren seine Arbeit auf.Der NKR hat die gesetzliche Aufgabe, den Gesetzgeberauf den Gebieten des Bürokratieabbaus und der besse-ren Rechtssetzung zu unterstützen. Schwerpunkte sinddie Vermeidung neuer und die Reduzierung bestehenderBürokratiekosten. Schon wenn neue Gesetze vorbereitetwerden, überprüft der NKR, wie viel Aufwand und Ar-beit bei denen, die die Vorschriften befolgen müssen,entsteht.Das schwarz-gelbe Regierungsprogramm „Bürokra-tieabbau und bessere Rechtssetzung“ hat sich für diedeutsche Wirtschaft bereits jetzt ausgezahlt. Dank redu-zierter bürokratischer Vorschriften haben vor allem mit-telständische Unternehmen in den vergangenen fünfJahren 10,5 Milliarden Euro pro Jahr eingespart.Keine vergleichbare Initiative war bisher so erfolg-reich wie dieses Programm. Mehr als 400 bereits aufden Weg gebrachte Maßnahmen haben insbesondere imMittelstand und bei selbstständigen Freiberuflern ge-zielt Bremsen gelöst und die selbstbestimmte Lebensfüh-rung jedes Einzelnen gestärkt. Dies ist der klugen undmittelstandsfreundlichen Politik von FDP und CDU/CSU geschuldet.Die Regierungskoalition hat den Normenkontrollratals zentrale Institution für Bürokratieabbau und bessereRechtssetzung gestärkt. Der enge Begriff der Bürokra-tiekosten wurde ausgeweitet auf den gesamten messba-ren Zeitaufwand und die Kosten, die bei Bürgern, in derWirtschaft und in der Verwaltung entstehen. Mit der No-vellierung des Normenkontrollrates haben wir die Inte-ressen des Mittelstandes maßgeblich gestärkt.Noch vor fünf Jahren mussten Unternehmen inDeutschland jährlich rund 50 Milliarden Euro für amtli-che Nachweise, Antragsformulare, das Ablegen vonRechnungen und andere bürokratische Arbeiten aufwen-den. Schon bis Mitte 2011 war die jährliche Bürokratie-Zu Protokollbelastung der Wirtschaft um 22 Prozent deutlich gerin-ger als noch 2006. Die Bundesregierung arbeitet mitHochdruck daran, das Ziel zu erreichen, die Bürokratie-kosten bis Ende dieses Jahres um ein Viertel zu verrin-gern. Dazu werden weitere Maßnahmen zur Entlastungder Wirtschaft von Bürokratiekosten verwirklicht.Einen Beitrag leistet der vorliegende Gesetzentwurf.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Rege-lungen, die zum Bürokratieabbau, zu mehr Praxisnäheund zu mehr Effizienz in der Sozialpolitik beitragen.Dazu gehören die Entlastung von Kleinst- und Kleinun-ternehmen durch die freiwillige Teilnahme an der elek-tronischen Betriebsprüfung, die Reduzierung von Mel-dekopien für Unfallversicherungsmeldungen, dieKorrekturen bei der Gewährung von Zuschlägen zurWitwenrente und der Vorschriften zum Rentensplittingsowie die Befreiung der sogenannten „BIWAQ“-Be-schäftigungen von der Versicherungspflicht zur Arbeits-förderung. Diese vorgeschlagenen Gesetzesänderungenentlasten die Sozialversicherungen und erleichtern dieBetriebspraxis. Dies begrüßen wir sehr.Dazu gehört aber auch, dass wir Vorschläge der Jus-tiz-, Arbeits- und Sozialminister der Länder aufgreifen,um der stetig steigenden Zahl von Verfahren vor den So-zialgerichten besser begegnen zu können. Eine funktio-nierende Sozialgerichtsbarkeit ist der Grundstein desVertrauens der Bürger in unseren Rechts- und Sozial-staat. Deshalb ist es auch hier wichtig, effizient zu arbei-ten, ohne das Gerichtssystem durch Kürzungen zu belas-ten.Praxisnähe zeigt auch die Klarstellung des Zuschuss-charakters der Arbeitgeberzahlung an berufsständischeVersorgungswerke, damit die bewährte Beitragseinzugs-praxis der Versorgungswerke beibehalten werden kann.Die FDP-Bundestagsfraktion sieht an der einen oderanderen Stelle noch Klärungsbedarf, aber genau dazudiskutieren wir das Gesetz und mögliche Änderungen jahier im Plenum und im Ausschuss für Arbeit und Sozia-les. Etwa bei der Erstattungspflicht für Rentenversiche-rungsbeiträge an die Träger für anerkannte Werkstättenfür behinderte Menschen bevorzugt unsere Fraktioneine andere Regelung als der hier vorliegende Gesetz-entwurf. Hier sehen wir uns im Einklang unter anderemmit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesländern.Auch bei der Schaffung einer einheitlichen Regelungder Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualenStudiengängen und der Verlängerung des Moratoriumsüber die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträgerfür rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentli-chen Hand sehen wir Liberale noch Diskussionsbedarf.Auch diese Fragen werden wir in Rücksprache mit denBetroffenen klären.So oder so beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurfeine Summe von Einzelregelungen, die eine klare Ten-denz aufweisen und unter dem Strich einen spürbarenBeitrag zur Reformpolitik dieser Bundesregierung undder sie tragenden Fraktionen sind. Daher freue ich michauf spannende Debatten.
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14914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene Reden
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Mit dem vorliegen Gesetzentwurf will die Bundesre-
gierung eine ganze Reihe von Änderungen verschiede-
ner Gesetze durchsetzen. Wir haben es hier mit einem
sogenannten Omnibus-Gesetz zu tun: Aus nahezu jedem
Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts ist etwas dabei.
Deswegen muss und will ich mich nur auf einige wenige
Aspekte konzentrieren.
Der politisch und finanziell bedeutsamste Aspekt des
Gesetzentwurfs ist die Verlagerung von Kosten des Bun-
des auf die Bundesagentur für Arbeit und auf die Deut-
sche Rentenversicherung – also letztendlich auf all jene,
die die Bundesagentur und die Rentenversicherung
durch ihre Beiträge finanzieren. Bereits im Mai dieses
Jahres war in den Zeitungen zu lesen – „FAZ“ vom
22. Mai 2011 –, dass die Bundesregierung plane, die
Beiträge für die Rentenversicherung für Menschen mit
Behinderung, die im Eingangsverfahren oder im Berufs-
bildungsbereich von Werkstätten für behinderte Men-
schen tätig sind, nicht mehr vom Bund, sondern von den
Rehabilitationsträgern DRV und BA an die Träger der
Werkstätten erstatten zu lassen. Diese Neuregelung solle
sogar rückwirkend geltend, hieß es.
Das Bayerische Landessozialgericht hat hingegen
mit Urteil vom 25. Februar 2010 entschieden, dass es
für die Abwälzung der Beitragserstattung vom Bund auf
die Deutsche Rentenversicherung und die BA, also ge-
nau genommen auf die Beitragszahlerinnen und Bei-
tragszahler, rechtlich keinen Raum gebe. Der Chef der
BA hat sich – auch gegenüber dem Ausschuss für Arbeit
und Soziales – empört über diese Planung gezeigt. Ganz
zu Recht – findet die Linke. Denn hier werden die Kosten
gesamtgesellschaftlicher Aufgaben einfach auf die Bei-
tragszahlerinnen und Beitragszahler abgewälzt.
Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu
lassen: Uns Linken geht es gar nicht darum, dass hier
Beiträge geleistet werden sollen. Ganz unbedingt soll das
geschehen. Es handelt sich hier insofern um einen weite-
ren Griff in die Kassen der Sozialversicherungen – insbe-
sondere der BA –, um den Bundeshaushalt zu entlasten.
Uns Linken geht es darum, klarzumachen, dass gesamt-
gesellschaftliche Aufgaben auch von der gesamten Ge-
sellschaft bezahlt werden müssen.
Im Zusammenhang mit der Rente gibt es einen weite-
ren, auf den ersten Blick unscheinbaren, aber bei ge-
nauer Betrachtung bemerkenswerten Aspekt: Immer im
Juli eines jeden Jahres wird die Rente angepasst. In den
vergangenen Jahren ist da nicht viel hinzugekommen –
im Gegenteil: Die Rentnerinnen und Rentner haben
Nullrunden hinnehmen müssen, die in ihren Geldbörsen
als Minusrunden ankamen. Denn wenn die Preise stei-
gen, aber kein Geld hinzukommt, haben die Betroffenen
weniger zum Leben. Die Rentenversicherung soll künf-
tig auf den Versand einer Anpassungsmitteilung ver-
zichten, wenn sich der aktuelle Rentenwert nicht verän-
dert hat. Offenbar ist die Mitteilung über die Anpassung
der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversiche-
rung um null Euro der Regierung zu peinlich. Vorder-
gründig argumentiert Schwarz-Gelb mit den Verwal-
tungskosten von 10 Millionen Euro. Tatsächlich will
Zu Protokoll
Schwarz-Gelb aber nur eines: Die Wahrheit verschwei-
gen. Das nenne ich feige.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen dritten
Aspekt herausgreifen. Die Bundesregierung nimmt mit
ihrem Gesetzentwurf verschiedene Vorschläge zur Ent-
lastung der Sozialgerichtsbarkeit auf. Dagegen ist zu-
nächst einmal nichts einzuwenden. Aber auch hier müs-
sen wir genauer hinsehen. Denn die eigentlich
entscheidenden Punkte für die zahlreichen Verfahren lie-
gen nicht in den Bestimmungen des Sozialgerichtsgeset-
zes, sondern in einem Gesetz, das Armut und soziale
Ausgrenzung verursacht, nicht verfassungskonform und
außerdem handwerklicher Pfusch ist. Darüber hinaus
werden massenhaft rechtswidrige Bescheide ausgestellt.
Wer die Sozialgerichte und ganz besonders auch die
Hartz-IV-Betroffenen entlasten will, muss dafür sorgen,
dass Hartz IV grundlegend überwunden wird. Erste not-
wendige Schritte wären insbesondere die Streichung von
Sanktionen in der Grundsicherung. Das entlastet die
Gerichte und schützt die Leistungsberechtigten vor exis-
tenziellen Gefährdungen.
Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält vieles, aber
nicht unbedingt das Richtige. Die Bundesregierung
greift selbst bescheidene Reformvorschläge wie den der
gemeinsamen Kommission der Justizministerkonferenz
und Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur materiel-
len Reform des SGB II nicht auf. Dazu zählt zum Beispiel
die Einschränkung der Sanktionsregeln bei den unter
25-Jährigen. Vielmehr verschärfen Union und FDP die
Sanktionspraxis durch die aktuelle Gesetzgebung sogar
noch. Das ist typisch Schwarz-Gelb – das muss weg.
Das IV. Buch Sozialgesetzbuch beschreibt diegemeinsamen Vorschriften aller Zweige der Sozialver-sicherung. Hierzu gehören die Gesetzliche Krankenver-sicherung – SGB V –, die Gesetzliche Unfallversiche-rung – SGB VII –, die Gesetzliche Rentenversicherung– SGB VI –, einschließlich der Alterssicherung derLandwirte, und die Soziale Pflegeversicherung– SGB XI. – Eingeschränkt gelten die Regelungen auchfür den Bereich der Arbeitsförderung, SGB III, teilweiseauch für die Grundsicherung für Arbeitssuchende– SGB II –, sowie die Sozialhilfe, SGB XII.Die schwarz-gelbe Bundesregierung verbindet mitdem vorgelegten Gesetzentwurf unter anderem das Ziel,die Sozialverwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren effi-zienter zu gestalten, Vereinfachungen für Arbeitgebereinzuführen sowie die Kosten des Bundeshaushaltes zu-lasten einiger Sozialversicherungsträger zu entlasten.Während viele Änderungen durchaus sinnvoll sind, giltes, im nun folgenden parlamentarischen Beratungspro-zess einige Punkte kritisch unter die Lupe zu nehmen.Schon im Vorfeld ging der Gesetzentwurf mit der Bitteum eine Stellungnahme in den Bundesrat. Sowohl dieAusschüsse für Arbeit und Sozialpolitik, der Ausschussfür Innere Angelegenheiten und der Rechtsausschuss,als auch der Deutsche Richterbund, DRB, sowie derDeutsche Gewerkschaftsbund, DGB, zusammen mit derBundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14915
gegebene RedenMarkus Kurth
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bände, BDA, haben ihre teils kritischen Stellungnahmenabgegeben.Das Gesetz regelt als sogenanntes Omnibusgesetzverschiedene Gesetzesänderungen, angefangen beimSGB IV, SGB III, SGB V, SGB VI, SGB VII über Ände-rungen des Sozialgerichtsgesetzes, des Gesetzes überdie Alterssicherung der Landwirte, des Entschädigungs-rentengesetzes, der Bundesmeldedatenübermittlungs-verordnung bis hin zu Änderungen der Renten ServiceVerordnung und Änderungen der Datenabgleichsverord-nung.Im Folgenden möchte ich auf einige Punkte nähereingehen:Art. 2, Änderung des Dritten Buches Sozialgesetz-buch: Die Bundesregierung möchte künftig Teilnehmervon dualen Studiengängen einheitlich sozialversichern,Nr. 2. Es ist nicht richtig, dass es sich bei diesem Vorha-ben um eine Klarstellung im Sinne einer Rechtssicher-heit handelt. Vielmehr haben die Spitzenorganisationender Sozialversicherung im Nachgang eines Urteils desBundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 zur Sozialver-sicherungsfreiheit „praxisintegrierter dualer Studien-gänge“ im Sommer 2010 Gegenteiliges vollzogen. In ei-nem mühsamen Prozess mit hohem Aufwand haben dieBetriebe nach Angaben der BDA diese Umstellung vor-genommen. Eine erneute Änderung würde zu einem ho-hen bürokratischen Aufwand führen. Im Beratungsver-fahren sollten wir gemeinsam prüfen, wie wir hier zueiner für alle Seiten akzeptablen Lösung kommen.Art. 4, Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetz-buch: Die Bundesregierung beabsichtigt, die Kosten fürdie rentenrechtliche Absicherung der im Eingangs- undBerufsbildungsbereich tätigen Menschen mit Behinde-rungen rückwirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozial-versicherungsträger zu übertragen, Nr. 11, 12 und 14.Dies würde eine jährliche Mehrbelastung der Beitrags-zahler von 120 Millionen Euro – Bundesagentur für Ar-beit – bzw. 32,5 Millionen Euro – Rentenversicherung –bedeuten. Wir finden, dass es eine gesamtgesellschaftli-che Aufgabe ist, behinderte Menschen gegen Altersar-mut abzusichern. Anstatt die Beschäftigungschancenvon Menschen mit Behinderungen zu verbessern, kommtes lediglich zu einer Kostenverschiebung. Menschen mitBehinderung werden so erneut in die Rolle des Kosten-faktors gedrängt. Der Haushalt der Bundesagentur fürArbeit ist ohnehin stark belastet. Die Übernahme derKosten der Grundsicherung im Alter durch den Bundgeht zulasten der BA; ihre Einnahmen werden ab 2014um mehr als 4 Milliarden Euro pro Jahr gesenkt.Die Bundesregierung plant darüber hinaus, Auf-wandsentschädigungen für kommunale Ehrenbeamtesowie für ehrenamtlich in kommunalen Vertretungskör-perschaften Tätige oder für Mitglieder der Selbstver-waltungsorgane, Versichertenälteste oder Vertrauens-personen der Sozialversicherungsträger nach einemBestandsschutz bis zum 30. September 2015 als renten-schädlichen Zuverdienst anzusehen, Art. 4 Nr. 27 und 38des Gesetzentwurfes. Dies gilt zumindest für den steuer-pflichtigen Anteil der gezahlten Aufwandsentschädigungüber 2 100 Euro im Jahr. Mit diesem Schritt folgt dieZu ProtokollBundesregierung ihrer Logik aus dem Rechtskreis desSGB II. Auch dort werden pauschale Aufwandsentschä-digungen oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euroals Einkommen berücksichtigt. Wir halten eine solcheRechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Politischesund ehrenamtliches Engagement ist grundgesetzlich ge-schützt und muss, ob pauschal oder nach tatsächlichem,nachgewiesenem Aufwand, anrechnungsfrei entschädigtwerden.Art. 8, Änderung des Sozialgerichtsgesetzes: Mit demGesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und desArbeitsgerichtsgesetzes wurde zum 1. April 2008 eine so-genannte Fiktion einer Klagerücknahme für das erst-instanzliche Verfahren eingeführt. Diese Regelung ge-mäß § 102 Abs. 2 SGG besagt, dass eine Klage alszurückgenommen gilt, „wenn der Kläger das Verfahrentrotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monatenicht betreibt“. Der Gesetzentwurf erweitert die Klage-rücknahmefiktion auf Berufungen. Das Gesetz ersetztmit dieser fiktiven Klagerücknahme nicht nur die Pro-zesserklärung, wonach ansonsten der Kläger selbst odersein Verfahrensbevollmächtigter die Klage zurückneh-men kann. Das Gesetz unterstellt mit seiner gesetzlichenRücknahmefiktion zudem einen Wegfall des Interessesdes Klägers an der Fortsetzung des Verfahrens. Sozial-verbände machen bei ihren Beratungen hingegen die Er-fahrung, dass es schwierig sein kann, zu vermitteln. Dierichterliche Praxis sieht aufgrund des strengen Ausnah-mecharakters beider Regelungen hingegen wenig Be-denken. Im Gegenteil: Sie hebt auf die verfahrensbe-schleunigende Wirkung der Instrumente ab. Bevor es zueiner Erstreckung der Klagerücknahmefiktion auf Beru-fungen kommt – Art. 8 Nr. 7 des Gesetzentwurfes –,sollte die Regelung einer Rechtstatsachenuntersuchungunterzogen werden.Die Bundesregierung kann ihren Ansprüchen nach ei-ner effizienteren Verwaltungs- und Sozialgerichtspraxismit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht nachkommen.Problematisch bleibt, dass es immer wieder Sozialleis-tungsträger gibt, die, anstatt im Interesse der an-spruchsberechtigten Personen zusammenzuarbeiten undihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, offenbarvorrangig darauf bedacht sind, ihren jeweils eigenenHaushalt möglichst nicht zu belasten. In der Folge kom-men Anspruchsberechtigte nicht zu ihren Rechten undmüssen unweigerlich den Widerspruchs- und Klagewegbeschreiten. Neben zwingend notwendigen Änderungendes materiellen Rechts in den jeweiligen Büchern des So-zialgesetzbuches – siehe hierzu etwa Anträge der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache17/3207 oder 17/3435 – sowie der lang anstehendenNotwendigkeit, ein modernes Patientenrechtegesetz zuerlassen, das die weit verstreuten Rechtspositionen vonPatientinnen und -patienten, Ärztinnen und Ärzten so-wie anderen Heilbehandlerinnen und -behandlern zu-sammenführt – siehe Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6348 –, gilt es gleichzei-tig, die Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechteder Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen sozial-gesetzbuchübergreifend zu stärken. Bündnis 90/DieGrünen werden hierzu in Kürze einen Aufschlag ma-
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14916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14917
Markus Kurth
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chen, der die individuellen und kollektiven Rechte vonNutzerinnen und Nutzern sozialer Leistungen stärkt undmithin zu weniger Streitverfahren führt.Ebenfalls für nicht sinnvoll erachten wir die im Ge-setzentwurf vorgesehene Zuordnung bestimmter Klagengegen Entscheidungen und Richtlinien des Gemeinsa-men Bundesausschusses zum Vertragsarztrecht, Art. 8Nr. 1 des Gesetzentwurfes. Zwar ist es richtig, die um-strittenen Abgrenzungen und Unsicherheiten zwischenden Zuständigkeiten der Kammern für Angelegenheitender Sozialversicherung und der Kammern für Angele-genheiten des Vertragsarztrechts klären zu wollen. Diehierfür im Gesetzentwurf genannten drei Fallgruppenführen nicht zu einer eindeutigen Abgrenzung. Vielmehrsollte, wie es der Deutsche Richterbund vorschlägt, dieEntscheidung des Großen Senats des Bundessozialge-richts abgewartet werden.H
Die Bundesregierung nimmt regelmäßig aktuelle An-
passungen der Regelungen des Sozialgesetzbuches vor,
um den Anforderungen, die die ständigen Veränderun-
gen der Lebenswirklichkeit an die Systeme der Sozial-
versicherung stellen, schnell und praxisnah gerecht zu
werden. Der Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Ände-
rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze enthält eine Vielzahl derartiger Anpassungen,
deren Ziel es ist, größere Rechtssicherheit in den betrof-
fenen Rechtsbereichen zu schaffen.
Lassen Sie mich dafür beispielhaft einige dieser Re-
gelungen darstellen.
Durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichtes
Ende des Jahres 2009 kam es für einen Teil der Teilneh-
merinnen und Teilnehmer an einem dualen Studiengang
zur Versicherungsfreiheit. Diese Entscheidung war und
ist in der Praxis hoch umstritten. Nun wird klar geregelt,
dass in allen Formen der dualen Studiengänge die Stu-
dentinnen und Studenten in der Kranken-, Pflege- und
Rentenversicherung sowie in der Arbeitsförderung für
die gesamte Dauer des Studiengangs versichert sind. Sie
werden damit den zur Berufsausbildung Beschäftigten
gleichgestellt.
Das Gesetz enthält auch eine Reihe kleinerer Anpas-
sungen im Beitrags- und Meldeverfahren für die Arbeit-
geber zur Sozialversicherung. Wir setzen hier Verfah-
rensvereinfachungen um, die auf Vorschläge aus der
Praxis sowohl vonseiten der Arbeitgeber als auch der
Sozialversicherungsträger zurückgehen. Diese Vor-
schläge führen zu einem weiteren Bürokratiekostenab-
bau für die deutsche Wirtschaft von rund 9,3 Millionen
Euro pro Jahr.
Weiterer Regelungsbedarf ergab sich aus der neueren
Rechtsprechung und einem entsprechenden Beschluss
der Deutschen Rentenversicherung Bund. Danach sind
Aufwandsentschädigungen von Ehrenbeamten – zum
Beispiel ehrenamtlichen Bürgermeistern oder Ortsvor-
stehern – in bestimmtem Umfang als Hinzuverdienst bei
Renten der gesetzlichen Rentenversicherung zu berück-
sichtigen. Hier müssen wir das Vertrauen der aktuell Be-
troffenen schützen: Wir schlagen eine fünfjährige Über-
gangsregelung vor, nach der Aufwandsentschädigungen
von Ehrenbeamten, die von der bisherigen Auslegung
des Rechts begünstigt waren, weiterhin nicht als Hinzu-
verdienst berücksichtigt werden.
Des Weiteren wird klargestellt, dass eine Erstattungs-
pflicht des Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an
die Träger der Werkstätten für behinderte Menschen nur
für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt
tätigen behinderten Menschen besteht. Die Änderung
des § 179 SGB VI und die zugehörigen Folgeänderun-
gen stellen den Grundsatz, dass zu den Rehabilitations-
leistungen auch die Beiträge zu den Sozialversiche-
rungszweigen gehören, für den Bereich der Erstattung
von Rentenversicherungsbeiträgen nun auch für die
Maßnahmen im Eingangsverfahren und im Berufsbil-
dungsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte
Menschen gesetzlich klar.
Die vorgeschlagene Änderung des § 179 SGB VI be-
trifft weder die behinderten Menschen selbst noch die
Werkstätten für behinderte Menschen. Es geht allein um
einen Erstattungsmodus zwischen den betroffenen So-
zialversicherungsträgern und dem Bund.
Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren stetig
gestiegenen Zahl sozialgerichtlicher Verfahren sehen
wir außerdem Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes
vor. Verfahren sollen beschleunigt und effizienter durch-
geführt werden. Damit wird die Sozialgerichtsbarkeit
entlastet. Grundlage für die Änderungen sind Vor-
schläge der Länder-Arbeitsgruppe der Justizminister-
konferenz aus dem Herbst 2009 und der Gemeinsamen
Kommission der Justizministerkonferenz sowie der Kon-
ferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder vom
Oktober 2010.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6764 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Dr. Valerie Wilms, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüg-
lich auf den Weg bringen – Internationale Zu-
sammenarbeit zum Schutz der Arktis
– Drucksache 17/6499 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden gehen zu Protokoll.
(C)
(B)
Die Arktis ist ein sensibles Ökosystem – durch den
Klimawandel schmelzen die Polkappen langsam. Da-
durch wird der Zugang zu den begehrten Rohstoffen wie
Öl und Gas einfacher. Dadurch entwickelt sich aber
auch eine vielfältige Problemkulisse. Der Antrag der
Grünen beschreibt diese Probleme weitgehend korrekt.
Der politische Eindruck, den die Grünen jedoch zu
erwecken versuchen, die Bundesregierung vernachläs-
sige die Arktis und müsse erst zu konkretem Handeln
aufgefordert werden, ist falsch. Die Bundesregierung
widmet sich diesem Thema, und zwar sehr verantwor-
tungsbewusst: sowohl mit Blick auf ökonomische Chan-
cen als auch, und zwar vorrangig, mit Blick auf den
Schutz dieses sensiblen Ökosystems.
Wir kommen aber an einer Tatsache nicht vorbei:
Deutschland ist kein Arktis-Anrainerstaat. Das reduziert
unsere Einflussmöglichkeiten. Auch auf europäischer
Ebene ist gemeinsames Handeln schwer, da sich Däne-
mark/Grönland von der EU das Handeln auf eigenem
Territorium nicht vorschreiben lässt, und Russland lässt
sich schon gar nichts sagen.
Dennoch nimmt Deutschland Einfluss, im Interesse
der Arktis und ihres Schutzes: Deutschland ist beobach-
tendes Mitglied im Arktischen Rat, der das gemeinsame
Konsultationsgremium aller acht Staaten mit Gebieten,
Land und Wasser, nördlich des Polarkreises ist. Hier
geht es um die Themen Umweltschutz und nachhaltige
Entwicklung der Polarregion. An den Sitzungen des Ra-
tes nehmen auch regelmäßig Vertreter der indigenen
Völker teil. Gerade Kanada und die USA haben ein ho-
hes Interesse, die einheimische Bevölkerung in die Ent-
wicklung der Polarregion einzubeziehen.
Die fünf Anrainerstaaten – Dänemark/Grönland,
Russische Föderation, Kanada, Norwegen, USA – ver-
treten ihre souveränen Rechte über ihre arktischen Ge-
biete. Obwohl Deutschland international führend ist in
der Polarforschung, verfügt es leider über wenig Mit-
spracherechte in der Polarregion. Der Rechtsrahmen
hierfür ist das Seerechtsübereinkommen der VN von
1982. Daher ist das Ansinnen der Grünen auch überaus
schwierig, hier die Staaten zu zwingen, auf ihrem Terri-
torium gewisse Umweltstandards einzuhalten. Wir müs-
sen anerkennen, dass sich Deutschland auf sehr dünnem
Eis bewegt, wenn es in die Staatenpolitik anderer Län-
dern eingreifen soll.
Viele Forderungen der Grünen zeugen auch von Un-
kenntnis der rechtlichen Situation. Wir in Deutschland
müssen die internationalen Prozesse verstehen und uns
zunächst mit der Beobachterfunktion zufriedengeben.
Die Anrainerstaaten machen in der Arktis ihre Hoheits-
ansprüche geltend; daher ist die Forderung der Grünen
in ihrem Antrag, einen „Arktisvertrag“ ähnlich dem
„Antarktisvertrag“ aus dem Jahr 1959 auszuhandeln,
nicht so einfach per Bundestagsbeschluss zu vollziehen.
Im Gegensatz zur Antarkis, wo kein Staat direkte An-
sprüche angemeldet hat, es keine nennenswerten auszu-
beutenden Rohstoffe gibt und es auch kein Ansinnen auf
Durchfahrten der Schifffahrt und anderer Transportver-
kehre gibt, ist die Arktis bereits jetzt zur Zielscheibe
Zu Protokoll
weitreichender wirtschaftlicher wie auch verkehrspoliti-
scher Interessen geworden.
Dies wurde bereits im März dieses Jahres bei der
Zweiten Internationalen Arktiskonferenz des Auswärti-
gen Amtes deutlich. Hier hielt Außenminister Guido
Westerwelle ein Plädoyer für den freien Zugang aller
Nationen zur Polarregion – nicht nur der Arktisanrai-
ner. Er erklärte, der Arktische Ozean müsse als gemein-
sames Erbe der Menschheit erhalten und die Forschung
dürfe durch eine künftige wirtschaftliche Nutzung der
Arktis nicht eingeschränkt werden. Auch die Probleme
des Klimawandels beträfen alle Staaten. Die Bundesre-
gierung versucht, das Optimum an Schutz der Arktis zu
erzielen.
Das Bundesumweltministerium hat ein Gutachten
zum Thema „Identifizierung deutscher Umweltschutz-
interessen und Entwicklung von Handlungsempfehlun-
gen für die deutsche Umweltpolitik in der Arktis“ öffent-
lich ausgeschrieben. Das konkrete Ziel dieser Aus-
schreibung besteht darin, eine eingehende Analyse der
Umweltsituation in der Arktis sowie deutsche Umwelt-
schutzinteressen – über den Forschungsbereich hinaus –
systematisch zu erfassen. Auf dieser Basis sowie vor dem
Hintergrund der bestehenden Rechtslage sollen die für
Deutschland relevanten Handlungsfelder für den Um-
weltschutz in der Arktis analysiert werden.
Das Bundesumweltministerium will der zunehmenden
politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis
mit einer gesonderten deutschen „Arktisstrategie“ ge-
recht werden. Hierbei stehen die Bereiche Forschung,
Wirtschaft, vor allem auch Umwelt und Sicherheit im
Vordergrund. Eine deutsche Position ist hinsichtlich der
Kernziele Klima- und Umweltschutz der EU-Arktis-
Politik erforderlich. Die ausgeschriebene Studie wird
dafür eine Basis liefern.
Der Schutz der Arktis ist ein wichtiges Thema, mit
dem auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir
ernst nehmen. Nach Überweisung des Antrages in die
entsprechenden Ausschüsse werden wir hierüber in aller
gebotenen Sorgfältigkeit noch einmal beraten können,
und wir werden die Bundesregierung und das Bun-
desumweltministerium in ihren Bemühungen zum Schutz
der Arktis unterstützen.
Das Thema Arktis steht gelegentlich im Schatten an-derer politischer Themen, es ist allerdings ein Thema,das langfristig für die Menschheit von entscheidenderBedeutung ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns heuteim Deutschen Bundestag mit der Arktis, den sich än-dernden klimatischen Verhältnissen und deren Konse-quenzen beschäftigen. Das letzte Mal, dass wir in die-sem Raum über die Arktis diskutiert haben, waranlässlich der Debatte um Tiefseeölbohrungen, die auchin arktischen Gewässern geplant sind.Leider war die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko imletzten Jahr eine Katastrophe ohne Konsequenzen. Aus„Deepwater Horizon“ hätten Konsequenzen gezogenwerden müssen. Das wäre in erster Linie ein Morato-rium für Ölbohrungen in tiefer See gewesen, solange die
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14918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenFrank Schwabe
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Technologien noch nicht verfügbar sind, um auftretendeUnfälle zu beherrschen. Doch nichts dergleichen ge-schah. Dabei hätte ein Unfall wie „Deepwater Horizon“in der Arktis gravierendere Auswirkungen als im Golfvon Mexiko. Der arktische Winter, dickes Eis und diekalte Temperatur lassen jegliche Versuche, einen Ölun-fall schnell einzudämmen, scheitern. Deshalb ist ein so-fortiges Moratorium für neue Tiefseeölbohrungen imOSPAR-Raum notwendig.Umweltminister Röttgen hatte versprochen, dass sichDeutschland für „ein Moratorium, eine Pause für neueBohrungen einsetzen“ wird. Doch der deutsche Antragauf der OSPAR-Konferenz im Jahr 2010 hatte diese For-derung gar nicht mehr enthalten. Röttgen hat sich aber-mals als Meister der schönen Worte erwiesen – Worte,die aber ohne Konsequenzen bleiben. Die Ölkatastropheim Golf von Mexiko zeigt aber auch, dass es richtig war,dass sich die SPD schon vor einigen Jahren für eineStrategie „weg vom Öl“ entschieden hat. Und das nichtnur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern weil das„schwarze Gold“ auf der ganzen Welt dreckige Spurenhinterlässt.Dass es derzeit nicht gut um den Schutz der Arktissteht, zeigt die Entscheidung des Europäischen Parla-ments von letzter Woche. Die Abgeordneten im Europa-parlament haben sich mehrheitlich dagegen ausgespro-chen, Tiefseebohrungen in ökologisch sensiblenGebieten wie der Arktis zu verbieten. Sie lehnten auchdie Einrichtung eines Moratoriums auf Tiefseebohrun-gen bis zur Verabschiedung von schärferen EU-Sicher-heitsstandards ab. Diese Entscheidung wird hoffentlichvon den Europaabgeordneten noch einmal überdacht.Wir können nach „Deepwater Horizon“ nicht einfachweitermachen, als sei nichts geschehen. Hinzu kommt,dass das Ölleck diesen Sommer vor der schottischenKüste gezeigt hat, dass auch in der Nordsee Ölunfällemöglich sind. Da Ölverschmutzungen sich nicht an vomMenschen gezogene Grenzen halten, ist ein gemeinsa-mes Vorgehen wichtig. Solange Unfälle bei Tiefseeboh-rungen nicht beherrscht werden können, ist es absurd,diese Bohrungen zukünftig auch noch auf so sensibleGebiete wie denen in der Arktis auszuweiten.Dennoch hatte die Entscheidung des Europaparla-ments auch positive Seiten. Die verabschiedete Resolu-tion sieht vor, dass neue Öl- und Gasfelder in europäi-schen Meeren künftig nur dann erlaubt werden, wenndie Firma einen dem Bohrort angemessenen Notfallplanvorgelegt hat. Außerdem sprachen sich die Abgeordne-ten erneut dafür aus, dass das Verursacherprinzip unddie Haftung für Schäden auf Meeregewässer und -arten-vielfalt ausgedehnt wird.Der Antrag der Grünen, über den wir heute sprechen,geht jedoch nicht nur auf die Probleme der Ölförderungein. Er beleuchtet die Rolle der Arktis, die sich durch dieKlimaerwärmung wandelt. Durch die fortschreitendeErwärmung und die damit verbundene Schmelze des Ei-ses entstehen Möglichkeiten des Zugangs zum Meeres-grund und zu den dort vorhandenen Rohstoffen. DerRückgang des Eises ermöglicht neue Schifffahrtsrouten,die neuen Zugänge zum Festland werfen sicherheitspoli-tische Fragen auf, und die Politik muss handeln, damitZu Protokollaus dem Streit um die Ressourcen in der Arktis keineSpannungen zwischen den Staaten entstehen.Es mutet schon skurril an, dass der Mensch durch denKlimawandel zunächst den Lebensraum massiv verän-dert und das Eis schmelzen lässt und jetzt nicht mithöchster Kraft dem entgegenwirkt, sondern mehr Enga-gement darin investiert, wie die Ressourcen verteilt wer-den, die jetzt erschlossen werden können. Das ist einBeispiel dafür, wie der Klimawandel Konflikte schürenkann und wie auch für die deutsche Politik die Verzah-nung von Klimapolitik und Außen- und Sicherheitspoli-tik immer wichtiger wird.Wie stark der Klimawandel heute schon die Arktisschädigt, zeigen die dieses Sommers Forschungsergeb-nisse. Das Meereis der Arktis ist in diesem Sommer aufdie kleinste Fläche zusammengeschmolzen, die jemalsgemessen wurde. Es wurde eine Negativmarke mit einerFläche von 4,24 Millionen Quadratkilometern erreicht.Das ist die bisher geringste Eisausdehnung im Nord-polarmeer und hat sogar noch die Ausdehnung des Jah-res 2007 unterboten. Es ist geradezu erschütternd, dassder Klimawandel immer erschreckendere Ausmaße an-nimmt, die internationale Politik zum Schutz des Klimasjedoch auf der Stelle tritt. Auch wenn wir im Dezemberauf der Klimakonferenz in Durban wichtige Schritte wei-terkommen sollten, die uns zu einem internationalen Kli-maschutzabkommen führen können, so sind doch die Zu-sagen, die die Staaten über ihre Anstrengungen zurMinderung ihrer Treibhausgasemissionen gegeben ha-ben, viel zu gering. Mit den jetzigen Zusagen sind wirweit vom Erreichen des 2-Grad-Ziels entfernt. Dieschmelzende Arktis und die zukünftigen Spannungenoder Konflikte über ihre Ressourcen ermahnen uns, end-lich konsequent im Klimaschutz zu handeln.Doch nicht nur die immer kleiner werdende Eis-schicht ist besorgniserregend, sondern auch das seit lan-gem zu beobachtende Tauwetter in der Arktis. Es hat in-zwischen ein Wettrennen um die Ressourcen in derArktis ausgelöst, in der große Vorräte an Erdöl und Erd-gas vermutet werden. Russland, Norwegen, Dänemark/Grönland und Kanada haben eine Ausweitung ihres je-weiligen Hoheitsgebietes um 200 Seemeilen auf Grund-lage der United Nations Convention on the Law of Seaangemeldet. Der Arktisschutz bleibt in der Warte-schleife, solange die Fragen nach wirtschaftlicher Aus-beutung im Vordergrund stehen. Um dem profitorientier-ten Treiben der Anrainerstaaten ein Ende zu setzen,bedarf es internationaler Verhandlungen. Solange eskeinen rechtlich verankerten Schutz für die Arktis gibt,muss ein Moratorium verhängt werden. Verhandlungenfür einen Arktisvertrag nach dem Vorbild des Antarktis-vertrags sind ein Gebot wirksamen Klimaschutzes. Des-halb haben wir in unserem Antrag „Unsere Meere brau-chen Schutz“ die Bundesregierung aufgefordert, sich fürden Abschluss eines internationalen Vertrages zumSchutz der Arktis nach dem Vorbild des Antarktisvertra-ges einzusetzen.Um die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhin-dern, muss sich die Bundesregierung nachdrücklich undunverzüglich für ein Moratorium einsetzen, mit demZiel, sämtliche Gebietsansprüche oder sonstige Ansprü-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14919
gegebene RedenFrank Schwabe
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che im Hinblick auf die arktischen Ressourcen bis zu ei-nem endgültigen Schutzabkommen zurückzustellen.Diese Forderung stellen in ihrem Antrag auch die Grü-nen auf, was ich sehr begrüße.Die Grünen sprechen in ihrem Antrag auch die deut-sche Polarforschung an und betonen die traditionsrei-che und renommierte Arbeit des Alfred-Wegener-Insti-tuts. Aber auch der Wissenschaftsrat hat sich in seinemaktuellen Gutachten „Empfehlungen zur zukünftigenEntwicklung der deutschen marinen Forschungsflotte“mit der deutschen Polarforschung und ihrer Infrastruk-tur auseinandergesetzt und stellt zu Recht fest, dass sichdie deutsche Polarforschung international auf einemsehr hohen Niveau befindet. Dabei spielt die „Polar-stern“ eine maßgebliche Rolle. Mit der „Polarstern“haben wir ein Forschungsschiff, auf das wir stolz seinkönnen. Für den Zeitraum von 2005 bis 2009 konntenallein 530 Fachpublikationen den Forschungsarbeitenvon Expeditionen mit der „Polarstern“ zugeordnet wer-den. Weltweit ist das Forschungsschiff „Polarstern“ da-rüber hinaus der einzige moderne Forschungseisbre-cher, der dezidiert die Arktis befährt. Die im Einsatzbefindlichen Schiffe anderer Staaten weisen hingegennicht durchgängig die notwendigen Spezifikationen auf,um arktisweit und ganzjährig eingesetzt werden zu kön-nen. Die Bedeutung der deutschen Arktisforschung spre-chen wir mit unserem Antrag „Polarregionen schützen –Polarforschung stärken“ an.Auch in diesem Antrag fordern wir Vereinbarungen,die eine Analogie zum Antarktisvertrag aufweisen. DieFreiheit der wissenschaftlichen Forschung in der Arktis-region muss dabei sichergestellt werden. Um aktuelleFragen der Meeresforschung geht es auch in einemWorkshop der SPD-Fraktion, der morgen stattfindet.Dabei werden wir mit Expertinnen und Experten disku-tieren, wie inhaltliche und strukturpolitische Schwer-punkte einer neuen Strategie zur Meeresforschung aus-sehen können.Ich möchte noch einmal betonen: Als Erstes brauchenwir ein Moratorium, das sicherstellt, dass keine vollen-deten Tatsachen geschaffen werden, solange es nochkein endgültiges Schutzabkommen gibt. Die Arktis darfkein Selbstbedienungsladen sein, sie ist das gemeinsameErbe der Menschheit. Der Arktis kommt auch eineSchlüsselrolle für das Klimasystem der Erde zu. DieAusbeutung der arktischen Ressourcen würde jede Maß-nahme zum Schutz der Arktis und die Anerkennung ihrerSchlüsselrolle für das Klimasystem der Erde konterka-rieren. Sei es auf nationaler Ebene, sei es in europäi-schen oder internationalen Verhandlungen – Ziel musssein, den Schutz der Arktis sicherzustellen. Ansonstenverspielen wir leichtfertigt dieses gemeinsame Erbe derMenschheit.
Ein Blick auf ein aktuelles Satellitenbild belegt: DieEisdecke der Arktis nimmt ab. Der Eisrückgang ist ähn-lich drastisch wie in 2007. Damals schrumpfte die Eis-fläche auf eine Fläche von 4,3 Millionen Quadratkilo-metern. 2007 war bislang der Negativrekord. AktuelleZu ProtokollUntersuchungen des Alfred-Wegener-Instituts für Polar-und Meeresforschung zeigen, dass in den vergangenenMonaten ein ähnlicher Rückgang zu beobachten ist. Dieeisfreien Flächen innerhalb der Packeiszone schmolzenim Sommer deutlich ab. Inzwischen hat die eisfreie Flä-che die Größe der Niederlande erreicht. Die Expertendes AWI sehen vor allem die sehr geringe Dicke desMeereises und den steten Transport von Meereis in eis-freie Regionen des Nordpolarmeeres hierfür verantwort-lich. So ist derzeit das Eis im Schnitt 90 Zentimeterstark. 2001 betrug die Meereisdicke im Durchschnittnoch zwei Meter.Je zerklüfteter das Eis, desto mehr steigen die Was-sertemperaturen. Je wärmer das Meer, umso schnellerschmelzen die darin schwimmenden Eisschollen.In diesem Sommer konnten sowohl die Nordostpas-sage als auch die Nordwestpassage befahren werden.Dies bedeutet, dass die Hemmnisse einer kommerziellenNutzung der Arktis weiter sinken. Die Region wird damitvor allem für die Bereiche Schifffahrt, Tourismus, Fi-scherei oder Rohstoffgewinnung interessant.Die Arktis lag bislang im Dornröschenschlaf und warwenig durch den Menschen beeinflusst. In den vergange-nen Jahrtausenden bildeten sich so eine einmalige Floraund Fauna. Viele dieser Tier- und Pflanzenarten sindnur dort beheimatet und deshalb besonders schützens-wert. Dieses Paradies aus Eis ist jedoch gefährdet. DerKlimawandel zeigt zunehmend seine Auswirkungen undbedroht dieses sensible Ökosystem. Nun drohen die ver-stärkten Nutzungsinteressen durch den Menschen alsweitere Belastung hinzuzukommen. Ein vernünftiger undnachhaltiger Umgang mit der Arktis ist deshalb erfor-derlich.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Abkommenzum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen –Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis“hat eine lobenswerte Absicht. Er umfasst ein Bündel äu-ßerst unterschiedlicher Bereiche. Diese reichen vomUmweltschutz über Rohstoff- und Schifffahrtsfragen bishin zu territorialen Ansprüchen. Vieles davon ist gut ge-meint, jedoch jenseits des Umsetzbaren. An einem zen-tralen Punkt möchte ich dies verdeutlichen. Der im An-trag geforderte Arktisvertrag – welcher nach gleichemMuster wie der Antarktisvertrag entwickelt werden soll –wird Wunschdenken bleiben. Die Antarktis ist unbe-wohnt, rohstoffarm und kein Hoheitsgebiet eines Staatesberührt die Region, wohingegen in der Arktis fünf Staa-ten um rohstoffreiche Gebietsansprüche buhlen. Es istnur eine Frage der Zeit, bis die fünf Arktisanrainer ihrInteresse an den Schätzen im Meeresboden anmeldenwerden. Eine internationale Aufsicht über die Arktiswäre hier sicherlich die beste Lösung. Dass sie kommt,ist – trotz allen guten Willens – unwahrscheinlich.1996 wurde der Arktische Rat ins Leben gerufen. Erist die von Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Nor-wegen, Russland, Schweden und den USA gegründeteDachorganisation für zwischenstaatliche Vorhaben inder Nordpolregion.
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14920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenAngelika Brunkhorst
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Der Arktische Rat soll den Umweltschutz, die Durch-führung von Forschungs- und Verkehrsprojekten sowiedie Nutzung von Rohstoffvorkommen koordinieren. DieUreinwohner der Arktis haben darin ein Mitsprache-recht.Der Arktische Rat ist das Forum, in dem sich dieAnrainer auf nachhaltige Schutzbestimmungen einigenkönnen. Vor dem Hintergrund immer knapper werdenderRohstoffe werden sich die USA, Kanada, Norwegen,Russland, Dänemark/Grönland und Deutschland keinevertraglichen Fesseln anlegen lassen. Es liegt in denHänden des Quintetts der Anrainer, die Schutzwürdig-keit anzuerkennen und eine umweltverträgliche Nutzungder Region zu regeln.Mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Mee-resforschung, AWI, bietet Deutschland seit mehr als20 Jahren ein zentrales und führendes Zentrum derPolarforschung, das auch international Gehör findet.Diese Expertise wollen wir weiterhin fördern. Die Libe-ralen stehen für einen Schutz der Arktis. Wir wollen kei-nen „wilden Westen“ am Nordpol. Wir setzen uns dafürein, dass die Nutzung der Ressourcen im Einklang mitder Natur stattfindet. Unrealistische Forderungen, wiesie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gefordertwerden, können wir jedoch nicht mittragen. Deshalblehnen wir den Antrag ab.
Seit die Temperaturen im hohen Norden weiter anstei-
gen und das Eis in einem unvorstellbaren Tempo
schrumpft, zieht die Arktis immer mehr begehrliche Bli-
cke auf sich. Denn sie ist eine Schatzkammer, die lange
vom Eis fest verriegelt blieb; aber das Eisschloss bricht.
Die vermuteten Erdöl- und Erdgasvorkommen wer-
den auf etwa 25 Prozent der weltweit noch vorhandenen
Menge geschätzt. Das ist nicht unumstritten; denn sol-
che Schätzungen fallen gern besonders zweckoptimis-
tisch zugunsten der Rohstoffausbeutung aus, und die
ökologische Bedeutung der Arktis als Lebensraum und
Klimaregulator wird dabei möglichst ignoriert. Unge-
achtet der schon bestehenden ökologischen Schäden und
der weiteren Risiken drängen die Ölfirmen nach Norden.
Der künftig leichtere Zugang zu den Bodenschätzen
durch den Eisrückgang ermöglicht ein gewinnbringen-
des Geschäft. Neben Öl und Gas in der Barentssee vor
Russland, vor Norwegen und Grönland sind in den ka-
nadischen Arktisanteilen auch wertvolle Basismetalle,
wie Gold, Kupfer, Silber und Zink herauszuholen.
Die Anrainerstaaten stecken seit Jahren ihre Claims
ab. Nach der Seerechtskonvention der Vereinten Natio-
nen können die Länder bis zu 200 Seemeilen vor ihren
Küsten die natürlichen Ressourcen nutzen. Dort, wo der
Festlandsockel noch weiter in die Tiefsee reicht, er-
streckt sich der Anspruch der Küstenstaaten auf Ausbeu-
tung der Ressourcen auf bis zu 350 Seemeilen. Genau
darum geht es jetzt. Aber es ist Nutzungsrecht und kein
Anrecht auf Zerstörung, wie wir es jetzt gerade bei den
Meeresfischbeständen erleben.
Zu Protokoll
Neben dem neuen Wirtschaftspotenzial eröffnen sich
auch neue Seewege. Zum ersten Mal in der Geschichte
der Menschheit war im Sommer 2007 die Nordostpas-
sage eisfrei. Vor 100 Jahren bedeutete das für Roald
Amundsen eine mühsame Expedition von zwei Jahren.
Was für Möglichkeiten dagegen heute für die Schifffahrt
– ein Wachstumsmarkt. In den Werften sind bereits eis-
gängige Schiffstypen geordert, und sie sind im Bau.
Doch wie hoch wird der Preis sein? Unabhängig von
den globalen Klimaauswirkungen durch den Eisrück-
gang sind an die extremen Bedingungen des Lebens-
raums Arktis nur spezielle Arten angepasst. Dazu gehö-
ren Meeressäuger genauso wie Gänsearten, die sehr
sensibel auf die Geschwindigkeit der Klimaveränderun-
gen reagieren. Schon heute ist die Biodiversität der Ark-
tis erheblich gefährdet.
Was bewirkt nun die Eisschmelze? Sie kann die glo-
bale Zirkulation in den Weltmeeren verändern, sie ver-
dünnt das Wasser und führt zu einer veränderten Was-
serzusammensetzung, was sich auf den globalen
Wassertransport auswirkt; sie führt zu geringerer Refle-
xion des Sonnenlichts, damit zur Erwärmung und so zum
weiteren Rückgang des Eises auf dem Meer; sie zerstört
den Lebensraum für die an arktische Extrembedingun-
gen angepassten Arten von Flora und Fauna genauso
wie die traditionelle Lebensweise der Inuitbevölkerung.
Beide Perspektiven – Abbau der Bodenschätze und in-
tensiverer Schiffsverkehr – werden mit weiteren Eingrif-
fen in die arktische Umwelt verbunden sein. Die rasante
Zunahme des Energiebedarfs und der internationalen
Handelsströme lassen wenig Hoffnung auf einen maß-
vollen Umgang mit den arktischen Ressourcen und auf
eine Begrenzung des Schiffsverkehrs.
Die Spirale der Zerstörung hat längst Fahrt aufge-
nommen; denn das Geschäft will sich niemand entgehen
lassen. Auch hier treiben Wirtschaftsinteressen die Poli-
tik vor sich her. Die internationale Politik muss die ge-
genwärtige Entwicklung, die in ihrer Geschwindigkeit
dem Tempo der Eisschmelze folgt, fest in den Blick neh-
men und handeln; denn die bisherigen Bemühungen zum
Schutz der Arktis gehen über Umweltbeobachtung und
Informationsaustausch nicht hinaus. Der 1996 gegrün-
dete „Arktische Rat“, dem acht Arktisstaaten und zehn
Beobachterstaaten angehören, ist ein politischer Zu-
sammenschluss, dessen Beschlüsse in keiner Weise
rechtsverbindlich sind. Das zu ändern, ist das Gebot der
Stunde, und dafür soll sich die Bundesregierung konse-
quent einsetzen. Genau so verstehe ich den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den wir als Die Linke
voll und ganz unterstützen
Die Welt braucht die Arktis, und die Arktis braucht
ein rechtsverbindliches Regime. Nur so – da bleibe ich
ganz bescheiden und realistisch – können wir die schäd-
lichen Umweltauswirkungen der kommenden Wirt-
schaftaktivitäten zwar nicht vermeiden, aber auf ein Mi-
nimum begrenzen.
Die sommerliche Eisbedeckung der Arktisregion istseit 1972 um 50 Prozent geschrumpft und hat im Jahr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14921
gegebene Reden
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14922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Hermann Ott
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2011 die geringste Ausdehnung erreicht, wie Forscherder Universität Bremen in diesen Tagen bekannt gege-ben haben. Die Zugangsmöglichkeiten zu bisher unzu-gänglichen Regionen wecken Begehrlichkeiten, neueSchifffahrtsrouten werden möglich, neue Zugänge zumFestland werfen auch sicherheitspolitische Fragen auf.Russlands Präsident Putin sagte Ende August anläss-lich der Unterzeichnung eines milliardenschweren Ab-kommens zwischen russischen und amerikanischen Fir-men zur Erschließung der Öl- und Erdgasvorkommen inder Arktis, es täten sich neue Horizonte auf. Angesichtsdes fortschreitenden Klimawandels und der Notwendig-keit einer massiven Begrenzung der CO2-Emissionendarf man das getrost als Drohung verstehen, zumindestaus klimapolitischer Sicht. Denn der Verlust an Meereis-fläche beschleunigt den Klimawandel gleich doppelt.Die kleiner werdende Eisfläche kann weniger Sonnen-strahlen in die Atmosphäre zurückreflektieren, die grö-ßer werdende Wasseroberfläche dagegen absorbiert dieSonnenstrahlen, wärmt sich dadurch auf und beschleu-nigt wiederum die Eisschmelze. Und nun ist zur befürch-ten, dass die verstärkte Ausbeute fossiler Ressourcenaus der Arktis ebenso den Klimawandel weiter verstärkt.Man muss sich das einmal vorstellen: Ressourcen dieüberhaupt erst durch den Klimawandel verfügbar wer-den, sollen ausgebeutet werden, was wiederum den Kli-mawandel verstärkt. Das ist absurd. Es ist, als führeman wissentlich auf einen Abgrund zu und drückte mehrund mehr aufs Gas, je schneller man wird.Aber nicht nur aus klimapolitischer Sicht ist die Aus-beutung der Arktis eine Bedrohung. Die Arktis ist einerder sensibelsten Lebensräume der Erde, mit hervorra-gend an die Lebensbedingungen angepassten Bewoh-nern. Aber es ist auch gerade diese Anpassung, die dieBewohner dieses Ökosystems so anfällig für Störungenmacht. Die Biodiversität der Polarregion ist bereitsheute ernsthaft gefährdet.Wir haben in Deutschland eine gute Tradition der Po-larforschung und exzellente Wissenschaftler. Diese mussweiter gestärkt werden, und allein daraus ergibt sichauch schon die Verantwortung, eine Arktispolitik zu ver-folgen, die sich nicht von Handels- und Ressourceninte-ressen leiten lässt, sondern den Umwelt- und Klima-schutz in den Mittelpunkt stellt. Die vorhandenenVereinbarungen und Institutionen zum Schutz der Arktisreichen dafür nicht aus. Wir brauchen einen Arktisver-trag, der den Herausforderungen des fortschreitendenKlimawandels und des Schwundes der BiodiversitätRechnung trägt. Dabei kommt auch der indigenen Be-völkerung eine tragende Rolle zu, und die Wahrung ihrerRechte muss ein zentraler Bestandteil der Arktispolitiksein.Will man das 2-Grad-Ziel, also die Begrenzung desglobalen Klimawandels auf maximal 2 Grad Celsius, er-reichen – dazu hat sich die Weltgemeinschaft verpflich-tet –, so kann dies sicherlich nicht dadurch geschehen,dass die gewaltigen fossilen Ressourcen, die in der Ark-tis vermutet werden, nun auch ausgebeutet werden. EinArktisvertrag, der diese wirtschaftliche Ausbeutung ver-hindert, ist für eine erfolgreiche Klimapolitik absolutnotwendig und zum Schutz der arktischen Biodiversitätunabdingbar. Eine Positionierung der Bundesregierungin diesem Sinne gehört nicht zuletzt auch zu einer glaub-würdigen internationalen Klimapolitik. Die Bundes-kanzlerin hat sich vor einigen Jahren vor den EisbergenGrönlands als „Klimakanzlerin“ fotografieren lassen.Es ist endlich an der Zeit, konkret etwas für die Polarre-gion zu tun.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6499 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Be-
setzung der großen Straf- und Jugendkam-
mern in der Hauptverhandlung
– Drucksache 17/6905 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auch diese Reden gehen zu Protokoll.
Am 11. Januar 1993 wurde mit dem Gesetz zur Ent-
lastung der Rechtspflege in § 76 Abs. 2 GVG für die
Großen Strafkammern die Möglichkeit eingeführt, in der
Hauptverhandlung in der Besetzung mit zwei Berufs-
richtern und zwei Schöffen zu verhandeln. Dieses Gesetz
verfolgte ursprünglich das Ziel, die Justiz während des
Aufbaus einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit in den
neuen Bundesländern zu entlasten.
Diese Regelung wurde bisher im Zweijahresrhythmus
verlängert. Nach derzeitiger Gesetzeslage läuft sie am
31. Dezember 2011 aus. Die bisherige Regelung, die die
Möglichkeit eröffnet, mit einer auf zwei Richter redu-
zierten Besetzung zu verhandeln, hat sich bewährt. In
der Praxis hat sich diese Regelung schon seit langem
durchgesetzt. So waren im Jahre 2009 fast 80 Prozent
– in einigen Bundesländern fast 90 Prozent – der Haupt-
verhandlungen vor den Großen Straf- und Jugendkam-
mern mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt.
Durch diese Regelung wurde eine praxistaugliche
und sachgerechte Handhabung eingeführt. Die Möglich-
keit der Besetzungsreduktion ist angesichts der sehr
knappen Personalausstattung unerlässliche Vorausset-
zung für eine funktionierende Strafrechtspflege. So loben
auch die Landesjustizverwaltungen „die Besetzungsre-
duktion durch die flexible Reaktionsmöglichkeit der
Strafkammern auf unterschiedliche Verfahrenskonstella-
tionen und Effektivierungspotentiale …“, wie die Große
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in
ihrem Gutachten zur Besetzungsreduktion feststellt. In
dem Zielkonflikt zwischen Sicherung der Qualität der
Rechtsprechung und Prozessökonomie muss jedoch eine
Dr. Patrick Sensburg
(C)
(B)
Regelung geschaffen werden, die beide Ziele angemes-
sen abwägt und Verhältnismäßigkeit schafft.
Die bisherige befristete Regelung muss folglich durch
eine dauerhafte Regelung ersetzt werden. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf ist ausdrücklich zu begrüßen.
Durch die Schaffung und gesetzliche Normierung von
Ausnahmen, in denen eine Besetzungsreduktion unmög-
lich ist, wird eine stabile Rechtslage geschaffen, die den
Anforderungen an ein faires Verfahren Rechnung trägt.
Diese Ausnahmen sind nach wie vor dann gegeben,
wenn Umfang und Schwierigkeit der Strafsache eine
Verhandlung mit drei Richtern fordern oder das Gericht
als Schwurgericht verhandelt. Bei Zweifel bzw. Unklar-
heit ist die Dreierbesetzung der Zweierbesetzung immer
vorzuziehen. Regelbeispiele der Verhandlung vor drei
Richtern sind sowohl eine erwartete Verhandlungsdauer
von über zehn Tagen als auch die Funktion der Wirt-
schaftskammer als Große Strafkammer.
Letztlich kann eine Reduktion nicht erfolgen, wenn
die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsver-
wahrung, deren Vorbehalt oder die Unterbringung in ei-
nem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Bei
solchen Entscheidungen der Großen Strafkammern, die
als einzige Tatsacheninstanz mit umfassender Strafge-
walt etwa über die Unterbringung in der Sicherungsver-
wahrung zu entscheiden haben, können so das Wissen
und die Erfahrung eines vollbesetzten Richterkollegiums
genutzt werden.
Zu prüfen ist, ob es nicht ausreichend ist, nur die Un-
terbringung in der Sicherungsverwahrung in § 76 Abs. 2
Nr. 2 GVG zu regeln. Für den bloßen Vorbehalt der Si-
cherungsverwahrung und die Unterbringung nach § 63
StGB scheint die Regelung nicht zwingend geboten. An
dieser Stelle besteht noch Beratungsbedarf; ich bin aber
sicher, dass wir auch hier bis zum Abschluss des Gesetz-
gebungsverfahrens zu einer guten Lösung finden wer-
den. Dies gilt vor allem, da im Hinblick auf § 74 f Abs. 4
GVG. Einigkeit besteht, dass in Verfahren, in denen über
die im Urteil vorbehaltene oder nachträgliche Siche-
rungsverwahrung zu entscheiden ist, keine Reduktions-
möglichkeit besteht.
Zusammenfassend kann man Folgendes festhalten:
Die neue Regelung des § 76 Abs. 2 bis 5 GVG verbessert
den Verfahrensablauf, da er eine unbefristet gültige Re-
gelung statuiert. Dies führt zu einer Erhöhung der
Rechtssicherheit und gerade nicht zu einem Entzug des
gesetzlichen Richters, da der Angeklagte jederzeit mit
Rechtssicherheit seinen gesetzlichen Richter bestimmt
weiß.
Denjenigen Rechtspolitikern von Bündnis 90/Die
Grünen, die unsinnigerweise meinen, es liege in der
Festschreibung der bisher befristeten Regelung ein Ver-
stoß des Rechts auf den gesetzlichen Richter vor, emp-
fehle ich einen Blick in die einschlägigen Kommentie-
rungen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Ein Entzug des gesetzlichen Richters liegt nur dann
vor, wenn der gesetzlich bestimmte Richter nicht der ent-
scheidende Richter ist – zum Beispiel durch einen nach-
träglichen Eingriff der Exekutive. Mit der angestrebten
Zu Protokoll
Regelung wird aber gerade im Vorhinein der entschei-
dende Richter klar bestimmt und unter Beibehaltung ei-
nes hohen Qualitätsstandards schließlich Rechtsklarheit
geschaffen.
Die Vorteile der unbefristeten Regelung der Beset-
zung der Großen Straf- und Jugendkammern liegen auf
der Hand. Auch an diesem Gesetzgebungsvorhaben
zeigt sich die stringente Rechtspolitik der christlich-li-
beralen Koalition im Hinblick auf die Gewährleistung
von Rechtssicherheit und Effektivität der Justiz.
Bei dem Entwurf eines Gesetzes über die Besetzungder großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptver-handlung haben wir darüber zu entscheiden, ob eine ge-setzliche Regelung, die bereits 1993 zunächst befristeteingeführt und dann immer wieder verlängert wurde,nunmehr dauerhaft bestehen oder aber wieder abge-schafft werden soll. Eine weitere Befristung ist nach die-sem Vorlauf in der Tat nicht mehr zu vertreten.Gegenstand der Beratung ist die Frage, ob großeStrafkammern und große Jugendkammern an den Land-gerichten auch zukünftig die Gelegenheit eröffnet wer-den soll, in bestimmten Fall- und Verfahrenskonstella-tionen mit zwei statt mit drei Berufsrichtern plus jeweilszwei Schöffen zu verhandeln und zu entscheiden. Vonzentraler Bedeutung für die Entscheidung dieser Fragesind die Ergebnisse der Evaluation, die 2009 in Auftraggegeben wurde. Deren Auswertung wie auch die Gründeaus dem Beschluss des BGH vom 7. Juli 2010 – 5 StR555/09 – bieten eine gute Grundlage für die jetzt anste-henden Debatten im Rechtsausschuss, um eine Regelungzu finden, die weiterhin eine effiziente und qualitativhochwertige Rechtsprechung möglich macht.Im Zuge dieser Evaluation wurden rechtstatsächlicheErkenntnisse erhoben und ermittelt, in welchem Umfangvon der Besetzungsreduktion Gebrauch gemacht wurde.Ziel waren eine Analyse der Besetzungsreduktion in derPraxis und die Erkenntnis, welche Auswirkung sie aufdie Dauer und Qualität des Verfahrens hat. Diese Unter-suchung der Qualität der Rechtsprechung verdanken wirunserem früheren rechtspolitischen Sprecher JoachimStünker, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin dieserPunkt in die Befragungen mit aufgenommen wurde. Nurauf der Basis dieser Evaluation kann also eine sachge-rechte Entscheidung getroffen werden.Die Gutachter sind zu dem Schluss gelangt, dass einekomplette Rückführung zu einer Dreierbesetzung in eini-gen Fällen nicht notwendig ist und mit der aktuellenHaushaltslage auch nicht vereinbar ist, auch wenn ichhinzufügen will, dass im Vordergrund ausdrücklichrechtspolitische Erwägungen zu stehen haben und erstin zweiter Linie fiskalische. Justiz ist keine Unterabtei-lung des Finanzministeriums; ihr Funktionieren ist Be-standteil unserer rechtsstaatlichen Grundordnung.Betrachtet man aber die Zahlen, wie oft die Beset-zungsreduktion in den letzten Jahren der Dreierbeset-zung vorgezogen wurde, so lässt sich feststellen, dassdiese bei vielen Gerichten überwiegt. Der Trend geht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14923
gegebene RedenChristoph Strässer
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demnach zur Zweierbesetzung. Der Schluss, der sich da-raus ziehen lässt, ist, dass die §§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVGund 33 b Abs. 2 JGG zu viele Spielräume lassen. DiesesDefizit wird auch in den Gutachten herausgestellt. DerVersuch der Bundesregierung, des Problems derunbestimmten Tatbestandsmerkmale „Umfang“ und„Schwierigkeit der Sache“ durch einen Absatz 3 Herr zuwerden, erweist sich jedoch als unzureichend. Indem le-diglich beschrieben wird, unter welchen Voraussetzun-gen eine Dreierbesetzung erfolgen muss, kommt es defacto in allen anderen Fällen zu einer Zweierbesetzung.Das Gesetz zur Besetzungsreduktion, das im Dezem-ber 2011 ausläuft, war jedoch nur dazu gedacht, dassgeeignete Fälle in reduzierter Besetzung verhandelt wer-den. Die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesformulie-rung führt jedoch dazu, dass die Besetzungsreduktionnicht mehr nur die Ausnahme sein wird, sondern dieRegel. Aus diesem Grund sollten § 76 II, III GVG und§ 33 b II, III JGG keine Aufzählung für Fälle enthalten,die einen dritten Richter erfordern, sondern die Fällekonkretisieren, die nur zwei Richter erfordern. Nur aufdiese Weise können eine Aushöhlung der §§ 76 VG, 33JGG vermieden und eine Besetzung mit drei Richterndort garantiert werden, wo sie erforderlich ist.Der BGH hat in seinem bereits zitierten Beschlussvom Juli 2010 deutliche Worte gefunden: Die Rechtspra-xis gehe unsensibel mit der Besetzungsreduktion um. Beieinzelnen Landgerichten werde ausschließlich in Zwei-erbesetzung entschieden. Es sei angezeigt, den Begriffdes „Umfangs der Sache“ gesetzgeberisch zu konturie-ren.Es ist also Zeit, dass wir als Gesetzgeber handeln.Der Entwurf der Bundesregierung zeigt in die richtigeRichtung. Ob er auch in den einzelnen Regelungen undgesetzestechnisch so gelungen ist, werden wir uns genauansehen. Wir werden uns auch kritisch mit den Anregun-gen auseinandersetzen müssen, die vom Bundesrat kom-men. Dort ist im Rechtsausschuss beschlossen worden,dass auch in Verfahren, bei denen die Anordnung derUnterbringung in einem psychiatrischen Krankenhauszu erwarten ist, die Zweierbesetzung möglich sein soll.In Berufungshauptverhandlungen soll Zweierbesetzungmöglich sein, auch wenn erstinstanzlich auf eine Ju-gendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde.Diese Anregungen gehen meines Erachtens in die fal-sche Richtung. Je größer der zu erwartende Grund-rechtseingriff, desto wichtiger ist eine gut besetzte Rich-terbank.Eines ist klar: Sowohl die Große Strafrechtskommis-sion des Deutschen Richterbundes als auch der Bundes-gerichtshof gehen davon aus, dass die Dreierbesetzungwegen ihrer strukturellen Überlegenheit der reduziertenBesetzung vorzuziehen ist. Das ist auch meine Ansicht.Zum Schutz der Betroffenen und auch der Richter solltees deshalb bei der Dreierbesetzung bleiben, wenn derGrundrechtseingriff besonders groß ist.Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen undsage für meine Fraktion eine konstruktive Beteiligungzu.Zu Protokoll
Das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- undJugendkammern in der Hauptverhandlung hat das Ziel,eine seit der Wiedervereinigung immer wieder befristetverlängerte Regelung nunmehr ohne zeitliche Begren-zung festzuschreiben. Ausgangspunkt war die damalsgeschaffene Möglichkeit, nach der Strafkammern unterUmständen auch nur mit zwei statt drei Berufsrichternverhandeln durften. Anlass dafür war der seinerzeit be-stehende Mangel an ausreichend qualifizierten Rich-tern. Ein solcher liegt heute zwar nicht mehr vor, jedochhat sich die Verhandlung mit lediglich zwei Berufsrich-tern in vielen Fällen bewährt.Insbesondere in – rechtlich und tatsächlich – einfachgelagerten Fällen soll auch in Zukunft in dieser Beset-zung verhandelt werden können. Dies spart Personal,was anderen Verfahren zugutekommt, und trägt dennochden Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahrenohne Qualitätseinbußen Rechnung. Dies belegt nicht zu-letzt die von den Professoren Dölling und Feltes erarbei-tete Studie, nach der sich kein Anhaltspunkt dafür findenlässt, dass Verfahren in der Besetzung mit zwei Richternhäufiger als andere die Einlegung von Rechtsmitteln zurFolge gehabt hätten. Insofern ist es durchaus sachge-recht, diese Möglichkeit auch weiterhin beizubehalten,was im Übrigen auch von der Bundesrechtsanwaltskam-mer grundsätzlich anerkannt wird.Andererseits gibt es selbstverständlich Verfahren, beidenen die klassische Besetzung mit drei Berufsrichternzwingend ist. Grundsätzlich gilt dies im Umkehrschlussfür alle Prozesse, die besondere Schwierigkeiten inrechtlicher, tatsächlicher oder beider Hinsicht aufwei-sen. Dem trägt der Gesetzentwurf durch die ausdrückli-che Normierung solcher Fälle hinreichend Rechnung.An erster Stelle sind dabei diejenigen Fälle zu nennen, indenen das Gericht als Schwurgericht besonders schwereStraftaten verhandelt, die in der Regel auch mit einer be-sonders langen Freiheitsstrafe geahndet werden. Hierverlangt die einer solchen Straftat immanente Komplexi-tät ebenso wie die mit der hohen Strafandrohung ver-bundene besondere Eingriffsintensität nach dem juristi-schen Sachverstand dreier Richter.Gleiches gilt für Verfahren, die für den Angeklagtenmit einer über die Strafe hinausgehenden Rechtsfolgeverbunden sein können – namentlich die Anordnung derUnterbringung in der Sicherungsverwahrung oder dieAnordnung der Unterbringung in einem psychiatrischenKrankenhaus. Da hier unter Umständen eine tatsächlichlebenslange Verwahrung ausgesprochen werden kann,muss diese Entscheidung besonders sorgsam abgewo-gen und getroffen werden.Schließlich stellt der Gesetzentwurf den Gerichtendurch eine relativ offen gestaltete Regelung in § 76 Abs. 2Nr. 3 GVG-E frei, auch in darüber hinausgehenden wei-teren komplizierten Verfahren eine Besetzung mit dreiRichtern zu wählen. Davon wird im Regelfall bei Verfah-ren mit einer Dauer von mindestens zehn Verhandlungs-tagen ebenso auszugehen sein wie bei Verfahren der gro-ßen Wirtschaftsstrafkammer, denen naturgemäß einvielschichtiger Sachverhalt zugrunde liegt. Diese Bei-
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14924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenMechthild Dyckmans
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spiele sind jedoch keinesfalls abschließend, sodass denGerichten genügend Spielraum bleibt, auch in anderensensiblen Bereichen mit drei Richtern zu verhandeln.Wie bereits eingangs erwähnt, nimmt der Gesetzent-wurf somit die guten Erfahrungen der letzten 20 Jahreauf und statuiert die Verhandlung mit zwei Richtern alsGrundfall. Alle Verfahren, die eine höhere Entschei-dungskompetenz erfordern, können auch in Zukunft mitdrei Richtern durchgeführt werden. Für einen Großteilwird dies sogar zwingend. Damit werden Prozessökono-mie und Rechtsstaatlichkeit in einen angemessenen Aus-gleich gebracht. Ich weiß, dass durchaus auch Bedenkengegen den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf vorgebrachtwerden, und bin mir sicher, dass es uns gelingen wird,diese bei unseren Beratungen auszuräumen.
Wir begrüßen den Versuch, die Notlösung in § 76Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz nicht nochmals zuverlängern. Im Detail können wir dem Einbringer aberzum wiederholten Mal kritische Hinweise nicht erspa-ren.Worum geht es genau? Nach Herstellung der deut-schen Einheit wuchs der Bedarf an Richtern und Staats-anwälten im Beitrittsgebiet kurzfristig stark an. Deshalbentschied sich der Gesetzgeber im Jahre 1993 für einevorübergehende Notlösung. Er erlaubte den GroßenStrafkammern an den Landgerichten, selbst über ihreBesetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern zu entschei-den. Die Rechtsgrundlage bildete § 76 Abs. 2 Gerichts-verfassungsgesetz und war bis zum 28. Februar 1998befristet. Danach sollte die Regelung auslaufen. Manging davon aus, dass nach fünf Jahren genügend geeig-nete Juristinnen und Juristen zur Verfügung stehen. Tat-sächlich war diese Vermutung bereits im Jahre 1998auch eingetreten.Eine völlig andere Lage besteht aktuell. Die Zahl deroffenen Stellen in der Justiz bleibt weit hinter der Zahlbestens geeigneter Juristinnen und Juristen zurück. DieGeschäftsgrundlage für die damalige Sonderregelung,nämlich der Mangel an geeigneten Fachkräften, ist alsolängst entfallen. Dennoch hat die Regierung die Aus-nahmeregelung ohne Not mehrfach, meist im Zweijah-resrhythmus verlängert. Die letzte Frist läuft am 31. De-zember 2011 ab.Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Mo-tiven bei der Besetzung der Großen Strafkammern wei-terhin Sonderrecht gelten soll. Eine Antwort könnte lau-ten: Kosteneinsparung in der Justiz. Durch die Regelungdes § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz wurden in je-dem Bundesland – also nicht nur in den neuen Bundes-ländern – mindestens fünf bis zehn Richterstellen einge-spart. Das hat die Finanzminister der einzelnen Länderoffenbar so sehr gefreut, dass dieser Einspareffekt nunfestgeschrieben werden soll. Damit wird nicht nur dieviele Arbeit auf weniger Köpfe verteilt, es wird auchleichtfertig mit der Qualität des Strafprozesses gespielt.Dieser Einspareffekt muss die Bundesregierung be-wogen haben, den heute zu debattierenden Gesetzent-Zu Protokollwurf vorzulegen und die Regelung nicht einfach am31. Dezember 2011 auslaufen zu lassen. Auch der Justiz-minister der schwarz-gelben Regierung in Schleswig-Holstein fordert für die Großen Jugendkammern eineBesetzung mit drei Berufsrichtern. In einem Antrag fürdie Bundesratssitzung plädiert er für eine Streichung derBesetzungsreduktion bei den Großen Jugendkammern.Er argumentiert mit Qualitätssicherung, der großen Be-deutung von Jugendverfahren und fordert einen hohenStandard in Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Ichhoffe, viele Landesjustizminister werden seinem Beispielfolgen.Daneben bietet die Dreierbesetzung der Großen Ju-gendkammern laut Deutschem Richterbund die Mög-lichkeit der besseren Befassung mit dem Tatgeschehen,der Person des jungen Angeklagten und der erzieherischgebotenen Sanktion. Damit können Rückfälle vermiedenwerden, deren volkswirtschaftliche Kosten die Mehrbe-lastung der Justizhaushalte bei weitem überwiegen.Mit dem vorliegenden Entwurf wollen Sie neben einerVielzahl von Präzisierungen in den Zuständigkeitsrege-lungen den § 76 Gerichtsverfassungsgesetz und analogauch das Jugendgerichtsgesetz ändern. Zwar hat dieBundesregierung mehrere Regelbeispiele aufgenommen,die das Ermessen der Kammern bei der Selbstbestim-mung ihrer Besetzung reduzieren. Es kann dennoch nichthingenommen werden, dass ein Gericht selbst entschei-det, in welcher Besetzung es tätig sein will. Damit be-steht die Gefahr der Ungleichbehandlung verschiedenerAngeschuldigter vor den Großen Straf- und Jugendkam-mern und somit die Verfestigung unterschiedlicher Stan-dards. Eine derartige Ungleichbehandlung würde gegenden Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen.Die Bundesregierung wiederholt hier den Fehler wie beider Änderung des § 522 Abs. 2 und 3 Zivilprozessord-nung. Beide Gesetze öffnen Tür und Tor für eine willkür-liche und ungleiche Behandlung der Beteiligten in denVerfahren.Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus derunterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerich-ten. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Straf-rechtskommission des Deutschen Richterbundes in ei-nem Gutachten: In verminderter Besetzung wurden zumBeispiel im Saarland 9 Prozent der Verfahren verhandeltund in Bayern und Sachsen 90 Prozent. Das heißt, inneun von zehn Verfahren wird im Saarland mit drei Rich-tern verhandelt und in neun von zehn Verfahren wird inBayern nur mit zwei Richtern verhandelt, und das, ob-wohl der angeblich in allen Belangen vorbildliche Frei-staat Bayern bekanntermaßen nicht zu den neuen Bun-desländern mit angeblichem Richtermangel gehört.Dieses Ungleichgewicht vermag auch der vorgelegteEntwurf nicht zu beseitigen, sodass es besser wäre, diebefristete Regelung einfach auslaufen zu lassen und zudem über Jahrzehnte bewährten Rechtszustand vor 1993zurückzukehren.Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fiska-lischen Interessen der Länder unterzuordnen, erteilenwir eine klare Absage.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14925
gegebene Reden
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Das Thema, über das wir heute reden, beschäftigt dieRechtspolitik schon seit 1993. Es geht um die Frage, obeine große Straf- oder Jugendkammer mit nur zwei stattdrei Berufsrichterinnen und -richtern auskommt und,gegebenenfalls, für welche Strafverfahren dies festgelegtwerden sollte. Mit anderen Worten: Es geht um die soge-nannte Besetzungsreduktion. In diesem Zusammenhangwurde zu Recht bereits von einer „fast unendlichen Ge-schichte“ gesprochen; denn die zugrunde liegende Son-derregelung zur Besetzungsreduktion – Gesetz zur Ent-lastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – stammtja bereits aus dem Jahre 1993 und wurde seitdem immerwieder verlängert.Nach § 76 Abs. 1 GVG sind die großen Strafkammernmit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden undzwei Schöffen zu besetzen. Zum 31. Dezember 2011 läuftnun die Regelung aus, wonach die großen Straf- und Ju-gendkammern auch beschließen können, in reduzierterBesetzung von nur zwei Berufsrichtern zu entscheiden.Der Gesetzgeber heute hat verschiedene rechtspoliti-sche Optionen. Wenn sich die Regelung zur Besetzungs-reduktion bewährt hat, kann sie noch einmal verlängertoder sogar entfristet werden. Wenn sich die Regelungaber nicht bewährt hat, kann sie auslaufen, mit derFolge, dass die Kammern wieder – wie vor 1993 – in derBesetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffenverhandeln. Schließlich kann der Sachverhalt auchgänzlich neu geregelt werden.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht die Koali-tion einen Mittelweg zwischen Entfristung und Neurege-lung. Die Koalition legt drei Beispiele für die Besetzungmit drei Berufsrichtern in der Großen Strafkammer fest,die überwiegend an die bisherige Formulierung anknüp-fen. Sie belässt es aber „im Übrigen“ bei der Möglich-keit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln. Siehält also an der Möglichkeit der Besetzungsreduktionfür große Strafkammern und Jugendkammern fest.Dabei ist eine Besetzung mit drei Berufsrichterinnenund -richtern künftig zu beschließen, wenn das Gericht„als Schwurgericht“ entscheidet, die Mitwirkung einesDritten „nach Umfang und Schwierigkeit der Sache“ er-forderlich ist oder – und das ist neu und greift insoweiteine Anregung der Großen Strafrechtskommission auf –die „Anordnung der Unterbringung in Sicherungsver-wahrung oder einem psychiatrischen Krankenhaus“ zuerwarten ist.Für eine Besetzungsreduktion gab es in der mehr als130-jährigen Entwicklungsgeschichte der Strafprozess-ordnung bis 1993 kein Beispiel. Der historische Gesetz-geber hatte damals ursprünglich beabsichtigt, damit nurauf die „Notsituation der Justiz in den neuen Ländern“zu reagieren. Hierzu stellt der vorliegende Gesetzent-wurf zu Recht fest, dass diese wiedervereinigungsbe-dingten Gründe heute nicht mehr gegeben sind.Der Gesetzgeber ist ursprünglich davon ausgegan-gen, dass die Besetzung mit drei Richtern die Ausnahmeund die mit zwei Richtern die Regel sein sollte, im Zwei-felsfalle sollte die Dreierbesetzung aber den Vorzug ver-Zu Protokolldienen. In der Praxis ist die Besetzungsreduktion immermehr zu Regel geworden. Wir Grüne finden diese rechts-politische Entwicklung – Anstieg der Besetzungsreduk-tion von durchschnittlich 43 Prozent im Jahre 1994 bisauf 78 Prozent im Jahre 2009 – bedenklich.So wünschenswert es auch ist, dass man wieder zurursprünglichen Dreierbesetzung zurückkehrt, so un-wahrscheinlich und unrealistisch ist dies angesichts derHaushaltslage in den Ländern. Tatsächlich befürchtendie Justizminister mit dem Auslaufen der bisherigen Re-gelung eine erhebliche zusätzliche Belastung für dieJustiz und wollen deshalb – das haben sie auf ihrerFrühjahrskonferenz 2011 auch so festgehalten – zügigeine gesetzliche Grundlage schaffen, die dauerhaft eineBesetzungsreduktion ermöglicht.Sicher ist: Die Zahl der beteiligten Richterinnen undRichter allein bietet noch keine Gewähr für die Qualitätder Entscheidungen. Aber sie erhöht die Wahrschein-lichkeit richtiger Urteile und damit auch die Rechts-sicherheit. Die Vorteile einer Dreierbesetzung liegen da-bei auf der Hand: Die Überzeugungskraft von dreiBerufsrichtern und das Wissen des Angeklagten darum,dass der Sachverhalt von drei Berufsrichtern und denSchöffen überprüft worden ist, können zur Akzeptanz derEntscheidung und damit auch zum Rechtsfrieden beitra-gen.Der Gesetzgeber darf in Justizangelegenheiten Fi-nanzierungsfragen nicht zum alleinigen Maßstab ma-chen. Gleichwohl gibt es auch in der Justiz, mit einemübrigens vergleichsweise bescheidenen Haushaltspos-ten, einen Finanzierungsvorbehalt und die Justizhoheitder Länder. Der Gesetzgeber muss daher einen Aus-gleich der betroffenen Interessen schaffen. Der vorlie-gende Entwurf wirft eine Reihe von Fragen auf:Zum einen sollten statt der ungenauen und auch im-mer wieder zur Aufhebung von Urteilen durch den BGHführenden Möglichkeit, durch das Gericht selbst eineBesetzungsreduktion vorzunehmen, klare gesetzliche Re-gelungen getroffen werden, wann in Zweier- und wannin Dreierbesetzung zu entscheiden ist. Künftig gibt eszwar gesetzliche Beispiele, aber das Gericht hat nichtmehr nur darüber zu beschließen, dass die Besetzung re-duziert wird, sondern über jede Besetzung. Welche Vor-teile dies gegenüber einer gesetzlichen Anordnung ha-ben soll, lässt die Begründung offen.Zum anderen wird im Gesetzentwurf behauptet, dasskünftig Reduktionsbesetzungen vorgenommen werden,ohne dass „Qualitätseinbußen“ in den Urteilen zu er-warten sind. Die mit der Besetzungsreduktion verbun-dene Gefahr, dass die Qualität der Entscheidungen lei-det, hat der Gesetzgeber schon 1993 gesehen, glaubteaber, sie im Hinblick auf die besondere Lage für eine vo-rübergehende Zeit in Kauf nehmen zu können. Im aktuel-len Gesetzentwurf wird dieser Sorge nun nicht einmalmehr Ausdruck verliehen.Nach Ansicht der Bundesrechtsanwaltskammer wirddie vorgeschlagene Regelung der Bedeutung der Beset-zung der großen Strafkammer mit drei Berufsrichternnicht gerecht. Die Voraussetzungen für eine Verhand-
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14926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14927
Jerzy Montag
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lung mit nur zwei Richtern seien zu vage. Der BRAK-Al-ternativvorschlag geht den umgekehrten Weg: Er defi-niert anhand von Beispielen die Voraussetzungen, unterdenen eine Besetzung mit nur zwei Richtern möglich ist.Dahinter steht wohl die unausgesprochene Annahme,dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung das Regel-Ausnahme-Verhältnis zulasten der Dreierbesetzung zustark ausweitet.Immerhin ist die bisherige Regelung nunmehr seitüber 18 Jahren in Kraft, und es gibt ausreichend For-schungsergebnisse und Rechtspraxis, die zu einer um-fassenden Bewertung und Evaluierung der Regelungherangezogen werden können. Das Bundesjustizministe-rium stützt sich dabei für den aktuellen Gesetzentwurfinsbesondere auf zwei eigens in Auftrag gegebene Gut-achten.Das Forschungsprojekt Dölling und Feltes vom15. März 2011 bestätigt tatsächlich den Eindruck, dassdie Zweierbesetzung in der Praxis stark zunimmt, insbe-sondere wenn man die Entscheidung den Gerichtendurch unbestimmte Rechtsbegriffe weitgehend selbstüberlässt. Interessanterweise gaben drei Viertel der be-fragten Richterinnen und Richter an, dass sie seltenervon der Besetzungsreduktion Gebrauch machen würden,wenn ihr Landgericht personell so gut ausgestattetwäre, dass ihre Kammer problemlos in Dreierbesetzungentscheiden könnte.Das Gutachten der großen Strafrechtskommission desDeutschen Richterbundes, an deren Vorschläge der Ge-setzentwurf ja weitgehend anknüpft, hält zu Recht daranfest, dass die Dreierbesetzung von der Struktur grund-sätzlich Vorteile gegenüber der Zweierbesetzung hat. Al-lerdings verschließt auch sie sich den haushaltspoliti-schen Zwängen nicht. Die Kommission geht davon aus,dass eine Rückkehr zur ausschließlichen Dreierbeset-zung mit der gegenwärtigen Haushaltslage unvereinbarund auch rechtsstaatlich nicht in allen Fällen gebotensei, weil eine Vielzahl von Verfahren ohne durchgrei-fende Bedenken in der Zweierbesetzung bearbeitet wer-den können.Der Gesetzentwurf übernimmt zwar eine Reihe dieserKommissionsvorschläge – zu begrüßen sind insbeson-dere die Beispiele der Unterbringung in Sicherungsver-wahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus –,sieht jedoch davon ab, auch ein bestimmtes Maß an zuerwartender Freiheitsstrafe als Beispiel für eine Dreier-besetzung aufzunehmen. Der Entwurf lässt offen, wa-rum. Eine hohe Freiheitsstrafe, beispielsweise die vonder Kommission vorgeschlagene Freiheitsstrafe vonacht Jahren, stellt für den Angeklagten eine vergleich-bare erhebliche freiheitsentziehende Maßnahme dar wiein den genannten Beispielen. Das allein rechtfertigt es,dass sie in der Regel von drei Berufsrichtern verhängtwerden muss.In vergleichbarer Weise sind ja bereits nach gelten-dem Recht Prognosen des mit der Sache befasstenGerichtes bei der Eröffnung des Hauptverfahrens vorge-sehen, beispielsweise die Zuständigkeit des Schöffenge-richtes bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe vonmehr als zwei Jahren, § 28 in Verbindung mit § 25 Nr. 2GVG, und die Zuständigkeit des Landgerichts bei zu er-wartender Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren, § 74Abs. 1 Satz 2 GVG. Die Prognose zur Zuständigkeit derJugendkammern bei bestimmten Verbrechen und gleich-zeitiger Straferwartung von mehr als fünf Jahren Ju-gendstrafe, § 41 Abs. 1 Nr. 5 1. Alt. JGG, hat der Gesetz-entwurf ja ebenfalls aufgegriffen und sie zu einemzwingenden Grund für die künftige Dreierbesetzung derJugendkammer erhoben, § 33 b Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 JGG-E.Hier greift der Entwurf etwas zu kurz.Wir Grünen sind der Auffassung, dass es hinzuneh-men ist, wenn es auch künftig zu Besetzungsreduktionenkommt. Wir werden aber in den weiteren Beratungen da-rauf dringen, dass der Ausnahmecharakter der Beset-zungsreduktion noch stärker im Gesetz zur Geltungkommt. Zumindest in allen Fällen, in denen es zu erheb-lichen freiheitsentziehenden Maßnahmen kommen kann,sollte auch eine Dreierbesetzung gewährleistet sein. Nurdann werden wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustim-mung geben können.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6905 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz
erweitern
– Drucksache 17/3747 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.
Menschen sind keine Ware! Das sollte nicht nur un-
sere Grundüberzeugung, sondern auch Tatsache sein.
Offiziell ist Sklaverei weltweit abgeschafft.
Die Realität jedoch sieht erschreckend anders aus.
Sklaverei und Menschenhandel florieren heute mehr
denn je! Diese Verbrechen sind nicht weit zurückliegen-
den historischen Zusammenhängen zuzuordnen. Sie ge-
hören zu den drängendsten Problemen unserer Zeit. Sie
spielen sich auch nicht nur in fernen Regionen dieser
Erde ab. Auf und zwischen allen Kontinenten werden
Menschen gehandelt. Auch Europas Staaten sind Her-
kunfts-, Transit- und Zielländer dieses modernen Skla-
venhandels. Auch Deutschland ist Zielland.
Die Zahl der Opfer des Menschenhandels im Bereich
der sexuellen Ausbeutung steigt jährlich. Vorwiegend
Erika Steinbach
(C)
(B)
sind Frauen und Mädchen betroffen. Aber auch als
Zwangsarbeiter, als lebende „Ersatzteillager“ für
menschliche Organe, als Zwangsverheiratete und
Zwangsadoptierte werden Menschen ihrer Rechte und
ihrer Würde beraubt. Die „Ware“, von der hier die Rede
ist, ist immer wieder verwendbar und mit geringem Auf-
wand zu beschaffen. Dieser Gedankengang zeigt, wie
abgrundtief menschenverachtend das Geschäft mit Men-
schen weltweit betrieben wird.
Laut einer Studie der International Labour Organisa-
tion werden jährlich 2,4 Millionen Menschen über Gren-
zen hinweg verkauft, gekauft und gegen ihren Willen in
sklavereiähnlichen Verhältnissen gehalten. Die Verein-
ten Nationen sprechen sogar von bis zu 4 Millionen
Menschen pro Jahr. Nichtregierungsorganisationen, wie
„Anti-Slavery International“, schätzen die Anzahl ge-
handelter Menschen sogar auf 27 Millionen.
Verlässliche Zahlen über das Ausmaß des modernen
Menschenhandels gibt es nicht. Statistiken sind rar, und
die Dunkelziffer ist hoch. Eines aber ist sicher: Niemals
zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es mehr
Sklaven als heute. Interpol spricht vom drittgrößten
grenzüberschreitendem Verbrechen nach Drogen- und
Waffenhandel.
Jedes einzelne dieser Schicksale ist eines zu viel! Es
geht um Menschen, die durch Verführung, Betrug, Täu-
schung oder Zwang in Abhängigkeitsverhältnisse ge-
bracht wurden, die sie brutaler Gewalt aussetzen. Sie
werden eingesperrt, eingeschüchtert und ausgebeutet.
Ihre Rechte auf persönliche Freiheit, auf körperliche
Unversehrtheit, auf ein Leben frei von Sklaverei,
Zwangsarbeit und unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung werden in höchstem Maße verletzt.
Wir müssen Mittel und Wege finden, um den barbari-
schen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Wir
haben es mit einem sehr komplexen Verbrechen zu tun,
dessen Bekämpfung aus drei Dimensionen bestehen
muss: Vorbeugung, Schutz der Opfer sowie Strafverfol-
gung der Täter. Deshalb greift der Antrag, den wir hier
beraten, auch zu kurz. Opferschutz ist einer der drei eng
miteinander verbundenen und wichtigen Ansätze zur Be-
kämpfung des Menschenhandels. Ohne die Verfolgung
der beiden anderen Ziele ist er geradezu wertlos, weil er
die Täter unbehelligt lässt und die potenziellen Opfer
nicht warnt.
Auch über dieses Problem müssen wir dringend nach-
denken. Männer, die als Freier zu Prostituierten gehen,
müssen wissen, dass sie ihr Geld vielleicht mitten hinein
ins organisierte Verbrechen tragen, dass sie möglicher-
weise schwersten Menschenhandel mitfinanzieren, dass
sie das Leid von Menschen mit verursachen. Die Straf-
verfolgung nicht nur der Menschenhändler, sondern
auch dieser Freier ist nötig. Denn ohne Nachfrage gäbe
es kein Angebot!
Staatliche Maßnahmen in den drei Bereichen Präven-
tion, Schutz der Opfer und Strafverfolgung der Täter ha-
ben jüngst Wissenschaftler der Universität Göttingen in
Zusammenarbeit mit Forschern der London School of
Economics and Political Science für 177 Staaten im
Zu Protokoll
Zeitraum von 2000 bis 2009 untersucht. Deutschland er-
reichte die höchstmögliche Punktzahl in allen drei Be-
reichen. Das ist ein Grund zur Freude. Nur sechs weitere
Staaten konnten die gleiche Bewertung erreichen. Eines
der wichtigen Forschungsergebnisse ist, dass positive
„Ansteckungseffekte“ zwischen Nachbarländern zu ver-
zeichnen sind. Staaten verbessern ihre Maßnahmen zur
Bekämpfung des Menschenhandels, wenn ihr Umfeld
mit positivem Beispiel vorangeht. Bei aller Anpassungs-
fähigkeit der transnational organisierten Kriminalität
besteht so Hoffnung, diesen menschenverachtenden
Sumpf doch trockenlegen zu können.
Durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit müssen die
Menschen für das Thema sensibilisiert werden. Auch
Wissen über das Verbrechen Menschenhandel und die
Empörung darüber können treibende Kräfte für Verän-
derungen sein. Prävention, Opferschutz und Strafverfol-
gung der Täter – ein Trio, kein Duo, kein Solo.
Wir beraten heute über einen Antrag der Faktion DieLinke, der sich mit der Bekämpfung des internationalenMenschenhandels und der Stärkung des Opferschutzesbeschäftigt.Menschenhandel stellt eine der schlimmsten undmenschenverachtendsten Formen internationaler Kri-minalität dar. Die sogenannten Beschaffungsmärkte die-ses globalen Phänomens liegen in der Dritten Welt, inEntwicklungsländern und in osteuropäischen Staaten.Bei den Zielländern handelt es sich aber ganz überwie-gend um Länder der sogenannten Ersten Welt. Das trifftleider auch auf Deutschland zu, das als Ziel- und Tran-sitland eine ganz zentrale Rolle im internationalen Men-schenhandel spielt.Die konkreten Zahlen zu Umfang und Profit des Men-schenhandels sind größtenteils ungesichert, da es inso-fern an belastbaren Daten bzw. statistischen Erhebun-gen fehlt. Bei allen Zahlen ist zudem nicht eindeutig, obund inwieweit zwischen freiwilliger Sexarbeitsmigrationund Zwang unterschieden wird. Seriöse Schätzungenzeigen jedoch, dass diese Form der organisierten Krimi-nalität gigantische Ausmaße angenommen hat. Das ge-ringe Aufdeckungsrisiko und die – auch im Vergleich zuanderen kriminellen Geschäftsfeldern – enormen Ge-winnmargen lassen den Schluss zu, dass die Dunkelziffersehr hoch ist und der Menschenhandel im Kontext derGlobalisierung stetig weiter zunimmt.Im Februar 2008 fand im Rahmen der United NationsGlobal Initiative to Fight Human Trafficking das WienerForum gegen Menschenhandel statt, bei dem mehr als1 200 Experten teilgenommen haben, um Strategien ge-gen den internationalen Menschenhandel zu suchen.Nach Schätzung der Experten und der UN wurden imJahr 2008 weltweit 2,5 Millionen Menschen ausgebeu-tet, wovon die große Mehrheit junge Frauen und Kinderwaren. Es wird zudem geschätzt, dass weltweit jedesJahr weitere fast 700 000 Frauen und Mädchen ver-schleppt und zur Prostitution gezwungen werden. DieInternationale Organisation für Migration geht davonaus, dass jährlich allein bis zu 500 000 Frauen und Kin-
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14928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenUte Granold
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der aus Mittel- und Osteuropa nach Westeuropa gehan-delt werden. Ebenso gehen der Bericht der Parlamenta-rischen Versammlung vom Januar 2002 und der Berichtdes United Nations Development Programmes aus demJahr 1999 davon aus, dass die Zahl der Menschenhan-delsopfer in Europa bei bis zu 500 000 jährlich liegt.Der Profit, der im Bereich des internationalen Men-schenhandels weltweit erzielt wird, liegt nach Erkennt-nissen der UN und der Experten des Wiener Forums ge-gen Menschenhandel bei jährlich 32 Milliarden Dollar.Mit Blick auf Europa geht man davon aus, dass alleinhier zwischen 7 und 13 Milliarden Dollar pro Jahr durchFrauenhandel und Zwangsprostitution verdient werden.Die Profite sollen nach Angabe des Europarates in denvergangenen zehn Jahren um 400 Prozent gestiegensein.Das unendliche Leid, das die Opfer dieser Taten er-fahren müssen, wird allerdings in keiner dieser Statisti-ken erfasst. Gespräche mit Beratungsstellen und Opfer-hilfen lassen aber ansatzweise erahnen, was den Opfernund hier insbesondere den Frauen in Deutschland undanderswo auf dieser Welt täglich widerfährt. Auf uns alsGesetzgeber lastet eine große Verantwortung, den Op-fern zu helfen und Menschenhandel künftig effektiver zubekämpfen. Dies erfordert gleichermaßen die Forcie-rung von Repression mit Blick auf die Täter und Präven-tion, Hilfe und Unterstützung mit Blick auf die Opfer.Nur der Vollständigkeit halber möchte ich an dieserStelle darauf hinweisen, dass der deutsche Gesetzgeberin den vergangenen Jahren bereits eine Reihe von Maß-nahmen im Kampf gegen Menschenhandel und zumSchutz der Opfer ergriffen hat: Dazu zählt beispiels-weise die umfassende Neuregelung der Strafvorschriftengegen Menschenhandel. Demzufolge sind nunmehr derMenschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutungoder der Ausbeutung der Arbeitskraft, aber auch dieFörderung des Menschenhandels explizit unter Strafegestellt. Des Weiteren haben wir im Jahr 2007 die Richt-linie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Men-schenhandelsopfer aus Drittstaaten, die sogenannte Op-ferschutzrichtlinie, in nationales Recht umgesetzt. Siedient der Bekämpfung des Menschenhandels und ver-pflichtet die Mitgliedstaaten zu einer Reihe von Maß-nahmen zugunsten jener Opfer, die bereit sind, mit denStrafverfolgungsbehörden und Strafgerichten zusam-menzuarbeiten und sich als Zeugen zur Aufklärung undVerfolgung entsprechender Straftaten zur Verfügung zustellen. Hierzu zählen insbesondere die Einräumung ei-nes Aufenthaltsrechts zumindest für die Dauer des Straf-verfahrens, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungs-angeboten sowie die medizinische Versorgung, Beratungund Betreuung.Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben zeitnaheins zu eins umgesetzt. Nach geltendem Recht steht denOpfern aus Drittstaaten ein Recht zum vorübergehendenAufenthalt für die Zeitdauer der Mitwirkung im Strafver-fahren unter Befreiung von allgemeinen Erteilungsvo-raussetzungen zu. Zudem wurde im Aufenthaltsgesetzeine Ausreisefrist von mindestens vier Wochen als Be-denkzeit für eine Kooperation mit den zuständigen Be-Zu Protokollhörden festgelegt. Darüber hinaus wird den Betroffenenfür die Dauer des Aufenthaltstitels der Zugang zum Ar-beitsmarkt und zu Bildungsangeboten eröffnet. Schließ-lich gewährleistet das Asylbewerberleistungsgesetz einehinreichende medizinische Versorgung sowie Betreuungund Beratung.Keineswegs werden wir uns aber mit der Erfüllungder europarechtlichen Vorgaben zufriedengeben. So ste-hen wir im regelmäßigen Austausch mit Opferhilfen, Be-ratungsstellen und internationalen Hilfsorganisationen.Darüber hinaus koordinieren wir uns mit anderen Staa-ten und beobachten aufmerksam, welche Ansätze unsereinternationalen Partner wählen. Dabei suchen wir stän-dig nach Wegen, wie sich der Kampf gegen Menschen-handel noch effektiver gestalten lässt. So prüfen wir bei-spielsweise, ob Elemente des sogenannten T-Visums, dasin den USA Menschenhandelsopfern ein sehr großzügi-ges Aufenthaltsrecht einräumt, auch auf Deutschlandübertragen werden können. Zugleich müssen wir jedochauch etwaige Missbrauchsgefahren im Blick haben, diesolche Regelungen naturgemäß in sich bergen. Hier giltes, eine ausgewogene Regelung zu finden.Aus Sicht der Union kann Menschenhandel nur dannwirksam bekämpft werden, wenn es gelingt, auch dieNachfrage spürbar und nachhaltig zu senken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich daher in der Vergan-genheit wiederholt für einen Straftatbestand gegen densexuellen Missbrauch von Menschenhandelsopfern aus-gesprochen. Dieser präventive Ansatz fehlt in dem heutezur Beratung stehenden Antrag leider gänzlich.Darüber hinaus gibt es auch unter repressiven Ge-sichtspunkten durchaus strafrechtliche Ansatzpunkte,die es im weiteren Verfahren noch im Einzelnen zu prü-fen gilt. Da Menschenhandel bekanntlich ein reinesKontrolldelikt ist, müssen wir Polizei, Ordnungs- undStrafverfolgungsbehörden geeignete Instrumente an dieHand geben, um an den Orten, an denen die Opfer sichaufhalten, auch Kontrollen durchführen zu können.Das Bundeskabinett hat zudem am 22. Juni 2011 denEntwurf des Gesetzes zum Übereinkommen des Europa-rats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschen-handels verabschiedet. Damit wird das erforderlicheGesetzgebungsverfahren für den Beitritt zu diesemÜbereinkommen eingeleitet. Mit dem Gesetzentwurfsetzt die Bundesregierung einen weiteren Meilensteinfür die internationale Bekämpfung des Menschenhan-dels.Mit dem Übereinkommen wird der Grundsatz derNichtabschiebung bei Verdacht von Menschenhandelvölkerrechtlich etabliert, und es wird eine Erholungs-und Bedenkzeit für die Opfer von mindestens 30 Tageneingeführt. Geregelt werden außerdem die Gewährungvon Aufenthaltstiteln für Opfer des Menschenhandelssowie soziale Rechte und das Recht auf Entschädigung.Das Übereinkommen zeichnet sich neben den Opfer-schutzregelungen durch einen effektiven und unabhängi-gen Kontrollmechanismus aus. Der Geltungsbereichumfasst alle Fälle von Menschenhandel und Ausbeutungund beschränkt sich nicht auf Fälle mit grenzüberschrei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14929
gegebene RedenUte Granold
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tendem Charakter. Die Regelungen sind zudem Grund-lage für die Fortentwicklung des EU-Rechts, zuletzt derRichtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Be-kämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seinerOpfer.Ich gehe davon aus, dass Bundesrat und Bundestagdas Gesetz zügig verabschieden, sodass Deutschlanddem Übereinkommen noch in diesem Jahr beitretenkann. Insofern hat sich dieser Punkt ihres Antrages be-reits erledigt.Unsere Anstrengungen werden damit aber nicht en-den. Während des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, deram 1. Juli beginnt, werden wir auch die Zusammenar-beit der Ostseeanrainerstaaten zur Bekämpfung vonMenschenhandel weiter intensivieren.Wie Sie sehen, befassen gerade wir als Union uns in-tensiv mit diesem Thema. In den vergangenen Jahrenkonnten wir bereits wesentliche Verbesserungen bewir-ken. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft konsequentfortschreiten. Belehrungen und Vorhaltungen, wie sie imvorliegenden Antrag leider auch zu finden sind, sind da-her völlig fehl am Platz. Im Interesse der Opfer solltenwir stattdessen sachlich und fraktionsübergreifend angeeigneten Lösungsansätzen arbeiten, mit denen wirdiese widerwärtige Form der Kriminalität noch wir-kungsvoller bekämpfen können. Für entsprechende kon-struktive Gespräche stehen wir selbstverständlich zurVerfügung. So werden wir beispielsweise in Kürze imAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeeine öffentliche Expertenanhörung durchführen, von derich mir noch einmal wichtige Impulse erhoffe. Parteipo-litische Spielchen, die nur der eigenen Profilierung die-nen, führen uns jedoch nicht weiter.
Mit dem Menschenhandel lässt sich richtig viel Geldverdienen, mehr noch als mit Drogen und Waffen. DieILO schätzt, es sind weltweit circa 32 MilliardenUS-Dollar pro Jahr, bei 270 000 betroffen Menschen, al-lein in den Industriestaaten. Erzwungene Prostitution,Sklaverei und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse sinddie häufigsten Hintergründe für Menschenhandel, undam häufigsten sind Frauen und Mädchen betroffen.Ein Blick in die Praxis und die Vielfältigkeit der Er-scheinungsformen von Menschenhandel: Neben demMenschenhandel über Landesgrenzen hinweg gibt es inschwachen Staaten häufig auch Binnenverschleppung.Beispielsweise werden in Mexiko mexikanische Mäd-chen und Frauen in hoher Anzahl organisiert in die Pro-stitution gezwungen. Allein in diesem Land arbeitenmehr als 16 000 Kinder – Mädchen und Jungen – in derProstitution. Dem Staat fehlt es an Rechtsstaatlichkeitund Erzwingungskompetenzen, um etwas dagegen aus-zurichten.In Ländern, die von Katastrophen heimgesucht wer-den, folgt in der Regel die nächste Katastrophe auf demFuß. Gibt es irgendwo einen Tsunami, Hurrikan oder einErdbeben, dann sind die Menschenhändler nicht weit.Zu ProtokollIm Chaos nach der Katastrophe sind sie gut organisiert.Menschenhändler sprechen Waisenkinder oder obdach-lose Frauen an, bieten die Dinge, die sie am meistenbrauchen: Wasser, Nahrung, die Suche nach Verwandtenund Obdach. Organisationen wie Terre des Hommes unddie Kindernothilfe berichteten darüber, dass in Haitinach dem Erdbeben 2010 wohl Tausende Kinder – häu-fig ohne Identitätsprüfung – zu angeblichen Adoptionenausgeflogen wurden. Ungezählt sind diejenigen, dienicht durch das Beben, sondern in dem Chaos danachverschwunden sind.Menschenhandel gibt es auch bei uns in Deutschland.750 Fälle wurden 2009 vom Bundeskriminalamt regis-triert, und die Dunkelziffer liegt sicher weit höher. Erstam 9. September wurde eine 13-jährige in einem Bordellin Oberhausen aufgefunden. Das türkischstämmigeMädchen wurde vor der Einschleusung in das Bordellauch von Ihren Entführern missbraucht und dann regel-mäßig im Bordell vergewaltigt.Wie kommen solche Vorfälle zur Strafverfolgung? DieAnzeige- und Aussagebereitschaft von Menschen, die indie Prostitution oder sklavenähnliche Arbeitsverhält-nisse gezwungen werden, ist sehr gering. Das wissen wirseit Jahren. Ohne die Aussagebereitschaft der Opfer be-steht aber nur eine geringe Chance, die Täter dingfest zumachen. Das BKA hat 2010 eine wissenschaftliche Stu-die erstellt, in der deutlich gemacht wird, welche Fakto-ren die Aussagebereitschaft der Opfer beeinflussen. He-rausgekommen ist wenig Überraschendes: Während derZwangsprostitution befinden sich die Opfer in einer aku-ten Zwangssituation. Sie und oft auch ihre Familienwerden bedroht, ihnen werden „Schulden“ für ihrenTransport und Handel zum „Abarbeiten“ auferlegt.Werden sie dann durch die Polizei aufgegriffen, bleibtdie Angst vor den Täternetzwerken. Die Angst und Un-wissenheit um Aufenthaltsstatus und Opferrechte kom-men hinzu. Generell wurde die Polizei von den Betroffe-nen sehr negativ bewertet. Welche Erfahrungen wurdenda außerhalb Deutschlands wohl mit der Polizei ge-macht? Hinzu kommen falsche und enttäuschte Hoffnun-gen, fehlende Sprachkenntnisse und die Scham über dasErlittene. Wen wundert es, dass man darüber nicht spre-chen will!Ganz zu schweigen ist von den Fällen, in denenFrauen in den Verfahren auch heute noch nicht alsOpfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution er-kannt, sondern als Mittäterinnen behandelt oder wegenPassvergehen angeklagt werden. Ein Beispiel aus derStudie des BKA: Eine Frau aus Osteuropa wird unterTäuschung nach Deutschland gebracht. Sie hat hier ei-nen irregulären Aufenthaltsstatus, kann aber mithilfe ih-rer Familie die Polizei verständigen. Sie erhält dann je-doch keine Sprachmittlung und versteht nicht, was diePolizei von ihr will. Am Ende wird sie wegen Passverge-hens angeklagt – niemand hatte sie als mögliches Opfervon Menschenhandel gesehen, man hat sie nicht verhörtoder berücksichtigt, dass sie es war, die die Polizei rief.Diese Probleme aus der Praxis sind in der EU und inDeutschland bekannt. Deshalb gibt es eine neue EU-Richtlinie vom März 2011. In dieser wird EU-weit eine
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14930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenAngelika Graf
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gemeinsame Definition des Straftatbestands festgelegt,eine EU-Initiative, die ich wegen der Grenzenlosigkeitdes Phänomens sehr begrüße. Darin wird außerdem ge-regelt, wie Menschenhändler wirksam bestraft werden,welche Verfolgungsmöglichkeiten es außerhalb der EUgeben wird, welche besonderen Ansprüche auf Sonder-behandlung schutzbedürftige Betroffene haben und wieder Opferschutz und die Prävention ausgestaltet seinsollen. Zudem sollen die Implementierung überwachtund der Fortschritt regelmäßig geprüft werden. Wirbrauchen nun die Ratifizierung der Richtlinie inDeutschland.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu der EU-Richtline liegt bereits vor, und hat nach meiner Meinungund nach Meinung vieler Opferverbände und NGOs ei-nige Lücken. Die Bundesregierung ist leider der Ansicht,dass bei Ratifizierung der Richtlinie keine Änderungenim nationalen Recht notwendig seien. Das sehen wir an-ders.Ganz konkret ist aus den vorherigen Schilderungenabzuleiten:Erstens. Opfer, die als Zeuginnen aussagen, brauchenunmittelbar kompetente und zielgerichtete Beratung zurMinderung ihrer Offenbarungsangst. Die Polizei mussbei Feststellung eines Opfers von Menschenhandel so-fort Beratungsstellen in den Prozess integrieren und injedem Fall eine Sprachmittlerin oder einen Sprachmitt-ler hinzuziehen, auch wenn das Opfer sich im Alltag aufDeutsch verständigen kann.Zweitens. Die Opfer brauchen umgehend eine Unter-kunft, die ihrer Traumatisierung gerecht wird, medizini-sche Versorgung und Bildungsmöglichkeiten.Drittens. Bei Aussagebereitschaft muss ein sichererAufenthaltsstatus ermöglicht werden, über den aucheventuelle Kinder aus den Herkunftsländern nachDeutschland geführt werden können. Dies gilt in abge-wandelter Form auch für Opfer aus Nicht-EU-Ländern:Sie müssen zumindest für einen gewissen Zeitraum einenAufenthaltstitel und Unterstützungsleistungen erhalten,unabhängig von ihrer Aussagebereitschaft; § 25 Abs. 4 a.Viertens. Zivilgesellschaftliche Organisationen, dieOpferberatung und -hilfe anbieten, müssen finanziellabgesichert werden.Fünftes. Den Mitarbeiterinnen von Beratungsorgani-sationen muss endlich ein Zeugnisverweigerungsrechtzubilligt werden. Zudem muss die Bundesregierung beiKatastropheneinsätzen einen Schwerpunkt ihrer Arbeitdarauf richten, Menschenhandel vorzubeugen.Kurzum: Opfer von Menschenhandel brauchen mehrSchutz, mehr Perspektive und mehr Betreuung und Be-ratung. Deshalb: Wir, die SPD-Fraktion, fordern dieBundesregierung auf, diese Lücken zu schließen und dieImplementierung der EU-Richtlinie mit den notwendi-gen Änderungen im nationalen Recht zu begleiten.
Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt,mit dem sie den Menschenhandel bekämpfen und dieZu ProtokollOpfer dieser Verbrechen besser schützen möchte. DiesesAnliegen – nicht die Ausgestaltung ihres Antrages –finde ich richtig; denn im Zuge der europäischen Eini-gung ist vor allem der innereuropäische Menschen-handel aufgrund des Wegfalls der Grenzkontrollen ge-wachsen. Wir haben es hier mit einer Schattenseiteeuropäischer Integration und internationaler Mobilitätzu tun, der wir entschieden entgegentreten müssen. Dasssich auch die Opposition an der Suche nach Maßnah-men und Lösungen beteiligen will, begrüße ich.Nur kurz werde ich etwas zu den erschreckenden Fak-ten sagen. Zu Deutschland speziell ist zu sagen: DasBundeslagebild Menschenhandel für das Jahr 2009 gibtan, dass 710 Opfer des Menschenhandels zum Zweckder sexuellen Ausbeutung ermittelt werden konnten, wasungefähr einer Zunahme von 5 Prozent gegenüber demVorjahr entspricht. 87 Prozent der Opfer sind weiblich,und rund die Hälfte aller Opfer stammte aus osteuropäi-schen Staaten, größtenteils aus Rumänien und Bulga-rien, also aus Ländern, für die die Einreise-, Aufent-halts- und Arbeitsbestimmungen in der EU während derletzten Jahre wesentlich erleichtert wurden. Hinsichtlichdes Ausmaßes des Menschenhandels zum Zweck derAusbeutung der Arbeitskraft kommt das Bundeslagebildzu dem Schluss, dass die vorliegenden Zahlen nicht be-lastbar sind. Es ist aber davon auszugehen, dass es andieser Stelle eine hohe Dunkelziffer gibt.Fest steht hingegen, dass weltweit noch immer unvor-stellbare Profite mit Menschenhandel, Ausbeutung vonArbeitskraft und Sklaverei erzielt werden. Experten-schätzungen zufolge beliefen sich im Jahr 2010 die welt-weiten Einnahmen aus diesen Verbrechen auf 34 Mil-liarden Dollar. Dazu gehören beispielsweise derMenschen-, Frauen-, und Kinderhandel, die Zwangspro-stitution oder auch das Rekrutieren von Kindersoldaten.Der Kinderhandel floriert vor allem in Zentral- undWestafrika, Jungen werden häufig als Kindersoldatenzwangsrekrutiert, Mädchen zu Prostitution und Porno-grafie gezwungen. Menschenhandel, Prostitution undZwangsarbeit sind eng miteinander verbunden. Wo dieindividuelle Freiheit der Betroffenen dergestalt einge-schränkt wird, dürfen wir nicht wegsehen. Für die FDPist klar, dass wir sowohl den Handel mit Menschen be-kämpfen als auch die Opfer schützen müssen.Dass wir es mit dem Opferschutz ernst meinen, kannman daran sehen, dass wir bereits ein Gesetz zum Schutzder Opfer von Zwangsheirat auf den Weg gebracht ha-ben. Dadurch werden einerseits die Täter bestraft, ande-rerseits geben wir den Opfern hierzulande eine Perspek-tive. In diesem Zusammenhang möchte ich daranerinnern, dass die christlich-liberale Koalition mit demGesetzespaket zur Bekämpfung der Zwangsheirat, zumbesseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zurÄnderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vor-schriften eine neue Integrationspolitik auf den Weg ge-bracht hat. Dadurch ist uns der Einstieg in eine dauer-hafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung gelungen,indem erstmals für minderjährige und heranwachsendegeduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der El-tern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetzgeschaffen wurde.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14931
gegebene RedenPascal Kober
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Wie Sie sehen, teilt die FDP-Fraktion das Anliegender Kolleginnen und Kollegen der Linken, den Men-schenhandel einzudämmen und dem Opferschutz mehrAufmerksamkeit zu widmen. Dennoch muss ich IhrenAntrag, den ich in der Sache unterstütze, ablehnen.Zwar betont er zu Recht die Notwendigkeit, Opfer vonMenschenhandel besser zu schützen, umfassender zu be-treuen und ihnen mehr Rechte zu geben, Ihr Antrag ent-hält allerdings auch einige Forderungen, die ich nichtunterstützen kann. Dafür bleiben andere wichtige Maß-nahmen außen vor, die jedoch dringend geboten sind.Ich möchte hier nur einige Beispiele aus Ihrem An-trag herausgreifen. Anscheinend haben Sie sich, wie sohäufig, über die Finanzierung Ihrer Forderungen keineGedanken gemacht. Etwas wolkig verweisen Sie aufstaatlich abgeschöpfte Gewinne aus dem Menschenhan-del, die zur finanziellen Entschädigung der Opfer einzu-setzen seien, ohne jedoch zu präzisieren, welche Ge-winne Sie eigentlich meinen oder wie hoch Sie dieseeinschätzen. Weiter fordern Sie eine nationale Bericht-erstatterstelle, von der jedoch die tatsächlichen Opfernur sehr indirekt profitieren würden. Dieser Vorschlagdürfte wohl eher Symbolpolitik sein. Auch halte ich IhreListe an Einzelforderungen, mit denen Sie die Opfer un-terstützen wollen, für unausgegoren und nicht durch-dacht. Statt das bestehende Netzwerk an Fachberatungs-stellen konsequent in Hinblick auf die kommendenHerausforderungen auszubauen, listen Sie etwas will-kürlich anmutende einzelne Maßnahmen auf. Schließ-lich gehen Sie mit keinem Wort darauf ein, wie Sie denngegen die international agierenden organisierten Men-schenhändler vorgehen wollen.Bei aller Notwendigkeit europäischen und innenpoli-tischen Handelns dürfen wir aber nicht die Hauptursa-chen von Menschenhandel aus dem Blick verlieren. Ne-ben der kriminellen Energie der Täter sind es vor allemdie großen Wohlstandsunterschiede zwischen den Län-dern, die absolute Armut in den Herkunftsländern derOpfer, die mangelnde Bildung der Betroffenen und häu-fig das zum Teil auch berechtigte mangelnde Vertrauender Opfer in die staatlichen Systeme. Denn wer die Er-fahrung macht, dass den Strafverfolgungsbehörden inseiner Heimat kein Vertrauen entgegengebracht werdenkann, der wird sich auch nur schwerlich in unseremLand an die Polizei wenden. Ich begrüße daher an die-ser Stelle ausdrücklich das engagierte Eintreten desBundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung, Dirk Niebel, für Wohlstandentwick-lung, Bildung und Rechtsstaatsbildung auf der Welt.Vorsorge ist immer besser als Nachsorge.
Kriege und Konflikte, wo immer sie stattfinden, füh-ren zu einem unerträglich hohen Ausmaß an Gewalt ge-gen Mädchen und Frauen – so der jüngste Bericht vonAmnesty International. Im Irak zum Beispiel sindFrauen von den Folgen des Krieges doppelt betroffen:durch ihren Status in einem Kriegsgebiet und durch ihrGeschlecht. Früher konnten im Irak viel mehr Frauenschreiben und lesen als in anderen Ländern der Region.Heute sind viele Frauen mittellos und leiden besondersZu Protokollan den Folgen des Krieges und der katastrophalen Si-cherheitslage. Auch wenn es keine verlässlichen Zahlengibt, wissen Organisationen und Expertinnen, dass derHandel mit Frauen zunimmt. Immer mehr Frauen wer-den Opfer von Zwangsprostitution und auch über dieGrenze verschoben. So werden sie in die immer stärkerglobalisierte Sexindustrie hineingezogen.Irakische Frauenorganisationen, die dieses Tabu bre-chen und die Involvierung irakischer Politiker im Frau-enhandel an die Öffentlichkeit bringen, kommen selbstin Gefahr. Anwältinnen, die die Rechte der Opfer vertre-ten wollen, sind zunehmend Opfer von Anschlägen.Zurzeit liegt bei der Regierung in Bagdad ein Gesetzgegen Menschenhandel in der Schublade. Eine Vertrete-rin von Norwegian Church Aid beklagt, dass es viel zuoft nur um Strafen für die Täter gehe. Die Stimmen derOpfer werden nicht gehört, oder sie werden sogar krimi-nalisiert.Dieses Problem kennen wir aus Deutschland. Lautpolizeilichen Ermittlungsstellen sind auch in Deutsch-land im Rotlichtmilieu Menschenhandel, Nötigung, Er-pressung und Gewalt an der Tagesordnung. Die Dunkel-ziffer ist hoch. Gerade erst vor wenigen Tagen wurden inBielefeld zahlreiche Wohnungen und Bordelle mit demVerdacht auf Menschenhandel durchsucht. Opfer sindheute meist Frauen aus osteuropäischen Ländern wieBulgarien oder Rumänien. Vor allem junge Roma-Frauen aus diesen Ländern werden mit falschen Ver-sprechungen eingeschleust. Manchmal werden sie auchvon ihren Familien verkauft, wenn diese darin ihre ein-zige Überlebenschance sehen. Menschenhandel ist lei-der ein überaus profitables Geschäft, ungefähr so ein-träglich wie der Drogen- und Waffenhandel. Wenn wirden Menschenhandel bekämpfen wollen, müssen wir unsauch mit seinen Ursachen auseinandersetzen. Rassis-mus, Sexismus und nicht zuletzt globale wirtschaftlicheAusbeutung sind hier zu nennen.Was den Schutz der Opfer angeht, kann Deutschlandes nicht einmal mit anderen europäischen Ländern wiezum Beispiel Italien aufnehmen. Es ist eine Schande,dass in Deutschland noch immer die Täter geschützt unddie Opfer bestraft werden: Nach nur vier Wochen drohtden Opfern von Menschenhandel in unserem Rechts-staat die Abschiebung. Eine Reihe von Gesetzen fälltweit hinter europäische Rechtsstandards zurück.Viele Frauen sind schwer traumatisiert und benötigenangemessene Beratung und Rechtsbeistand. Daher for-dert die Linke, den Opferschutz zu verbessern. Das heißtauch, die Rolle und Kompetenzen von Beratungsstellenzu stärken, auf die diese Frauen so dringend angewiesensind.Um gegen den organisierten Menschenhandel anzu-gehen, müssen wir den Opfern einen sicheren Aufent-haltstitel gewähren. Bislang können in Deutschland dieOpfer von Menschenhandel schon nach vier Wochen ab-geschoben werden, wenn sie nicht bereit sind, gegen dieTäter auszusagen. So wird mit der Angst der Opfer Poli-tik gemacht. Das ist ein Skandal! Der Aufenthaltsstatus
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14932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenAnnette Groth
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der Opfer darf nicht von der Bereitschaft, im Strafver-fahren auszusagen, abhängig gemacht werden.Noch immer hat die Bundesregierung nicht die Euro-paratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhan-dels ratifiziert. Diese Ratifizierung ist dringend geboten,um den Zusammenhang zwischen Aussagebereitschaftder Opfer gegen die Täter und der Erteilung von siche-ren Aufenthaltstiteln zu entkoppeln. Die Linke fordertfür die Opfer von Menschenhandel einen verlängerba-ren Aufenthaltstitel von mindestens sechs Monaten.Die Opfer von Menschenhandel benötigen psychischeund soziale Beratung, Rechtshilfebeistand, kurz: Unter-stützung, um sich wieder im Leben zurechtzufinden. IhreVersorgung muss gewährleistet sein. All das kostet Geld.Daher begrüßt die Linke den Vorschlag des Instituts fürMenschenrechte, einen Rechtshilfefonds für Opfer vonMenschenhandel einzurichten.Bislang ist auch die Versorgung der Opfer inDeutschland mehr als mangelhaft geregelt. Mit einemAufenthaltstitel haben die Opfer von MenschenhandelAnspruch auf Leistungen nach dem Asylbeweberleis-tungsgesetz. Diese Leistungen liegen aber sogar noch30 Prozent unter dem normalen Sozialhilfesatz. Sie be-rücksichtigen in keiner Weise die besondere Schutzbe-dürftigkeit der Opfer. Ein Vergleich mit Italien: Opfervon Menschenhandel erhalten dort einen Aufenthaltsti-tel für sechs Monate, mit der Aussicht der Verlängerungum ein Jahr. Mit dem Aufenthaltstitel haben sie Zugangzu sozialen Leistungen und können auch eine Arbeitser-laubnis erhalten.Es wird Zeit, dass Deutschland sein Bekenntnis zuden Menschenrechten in die Tat umsetzt und insbeson-dere diejenigen schützt, die vollkommen schutzlos sind.
Wie viele Menschen in Deutschland Opfer von Men-schenhandel sind, wissen wir nicht. Die meisten von ih-nen sind Frauen, oft sogar minderjährige, die unterZwang sexuell ausgebeutet werden. Es werden jedochauch immer mehr Fälle bekannt, in denen Menschen wieWare verkauft werden, um ihre Arbeitskraft auszubeu-ten. Menschen, deren Arbeitsbedingungen in einem auf-fälligen Missverhältnis im Vergleich zu den Bedingun-gen anderer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnenstehen, arbeiten in den unterschiedlichsten Branchender Wirtschaft. Von der Fleischverarbeitungsindustrieüber das Baugewerbe bis hin zum künstlerischen Ge-werbe ist alles dabei. Alle Betroffenen stehen unter viel-fältigen Formen von Druck, Zwang und körperlicher, se-xueller sowie psychischer Gewalt.Dass etwas unternommen werden muss, um den Men-schenhandel in Deutschland zu bekämpfen, sollte allenklar sein. Dafür reicht es nicht aus, die Konvention desEuroparates zur Bekämpfung des Menschenhandels zuratifizieren. Es gilt, den Fokus auch durch gesetzlicheAnpassungen auf die betroffenen Menschen zu legen.Es sollte nicht erst seit der Entschließung des Euro-päischen Parlaments vom 10. Februar 2010 klar sein,dass bei der Bekämpfung von Menschenhandel inZu ProtokollDeutschland ein opferzentrierter Ansatz nottut. Die Be-troffenen von Menschenhandel sind nicht ausschließ-lich, aber überwiegend Migrantinnen und Migranten. InDeutschland ist eine Aufenthaltserlaubnis für Betroffenevon Menschenhandel immer noch an deren Bereitschaftzur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden ge-koppelt. Dabei gilt es immer, zu bedenken, dass es sichbei den Betroffenen oftmals um psychisch schwer beein-trächtigte Menschen handelt. Sie befinden sich in einemfremden Land, dessen Sprache sie nur mangelhaft odergar nicht beherrschen. Oft fühlen sie sich von den Täte-rinnen oder Tätern bedroht oder sind schlicht zu ver-ängstigt im Umgang mit staatlichen Behörden, um aus-zusagen. Selbst wenn sie sich dazu entschließen,auszusagen, droht ihnen noch die Abschiebung: Solltendie Behörden ihre Aussagen als nicht gerichtsverwert-bar betrachten, sind von Menschenhandel betroffeneMigrantinnen und Migranten ohne Aufenthaltsgenehmi-gung nach einer Frist von vier Wochen verpflichtet, aus-zureisen. Sollte ihre Zeugenaussage verwertbar sein, istdie Aufenthaltsgenehmigung an die Dauer des Strafver-fahrens gegen die Täter gebunden. Ist es abgeschlossen,sind Betroffene erneut ausreisepflichtig. Dies stellt inkeiner Weise den von Europarat und -parlament gefor-derten opferzentrierten Umgang mit der Problematikdes Menschenhandels dar und ist ein unhaltbarer Zu-stand.Zahlreiche Länder in der EU, wie Italien, haben dieRichtlinie des Europarats schon heute besser umgesetztals Deutschland. Ohne sofort gegen ihre Peiniger aussa-gen zu müssen, haben Betroffene dort die Möglichkeit,sich mit den Informationen über die Tat zunächst anNichtregierungsorganisationen zu wenden und einesechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung mit Aussichtauf Verlängerung zu erhalten. Parallel durchlaufen sieein Integrationsprogramm, in dem sie geschützt, beglei-tet, psychosozial unterstützt und für den Arbeitsmarktqualifiziert werden. Nach erfolgreichem Abschluss desProgramms und Integration in den Arbeitsmarkt erhal-ten sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.Auch in der Bundesrepublik Deutschland haben Op-fer von Menschenhandel zahlreiche Rechte. Dazu gehö-ren unter anderem der einklagbare Anspruch auf Scha-denersatz, Schmerzensgeld, Entschädigung sowie aufLohnauszahlung. Das ist gut und richtig, nur leider grei-fen diese Möglichkeiten nicht. Laut dem Deutschen In-stitut für Menschenrechte nehmen die Betroffenen dieseRechte kaum wahr, weil sie sie entweder gar nicht ken-nen oder Angst um ihre Arbeits- und Aufenthaltsmög-lichkeiten haben. Zu Recht: Aufgrund bestehender Mel-depflichten droht ihnen die Ausweisung, wenn sie nichtals Betroffene von Menschenhandel anerkannt werden;das passiert derzeit leider nur selten. Auch im Falle ei-ner Anerkennung haben sie oftmals aufgrund ihrer Aus-reiseverpflichtung spätestens nach Ablauf des Strafver-fahrens gar keine Möglichkeit mehr, zivilrechtlichSchadenersatz oder Arbeitslohn geltend zu machen.Aus all diesen Gründen fordern wir die Bundesregie-rung ein weiteres Mal auf, die EU-Richtlinie und dieEntschließung des Europaparlaments angemessen um-zusetzen und von Menschenhandel betroffenen Migran-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14933
gegebene Reden
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14934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Memet Kilic
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ten endlich die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte wahr-zunehmen. Meldepflichten der Behörden für Migrantenohne Aufenthaltstitel sind, wo sie Migrantinnen und Mi-granten daran hindern, zu ihren Rechten zu kommen, zulockern, vergleiche Gesetzentwurf zur Verbesserung dersozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthalts-status in Deutschland leben, Bundestagsdrucksache 17/6167.Jedem Opfer von Menschenhandel muss außerdem un-abhängig von der Bereitschaft, in einem Strafprozess aus-zusagen, mindestens eine Aufenthaltsgenehmigung ge-währt werden, die es zeitlich zulässt, Entschädigungs-,Schadenersatz- und Lohnansprüche geltend zu machen,Bundestagsdrucksache 17/6167.Ein menschenzentrierter Ansatz bedeutet auch, dassdie Betroffenen die Möglichkeit bekommen, eine neuesoziale Perspektive zu entwickeln. Laut Art. 12 EU-Op-ferschutzrichtlinie haben die Opfer von Menschenhan-del einen Anspruch auf Zugang zu Maßnahmen, die ih-nen die Rückkehr in ein normales soziales Lebenerleichtern. Das schließt Lehrgänge zur Verbesserungder beruflichen Fähigkeiten ebenso ein wie Sprach- undOrientierungskurse des Aufenthaltslandes. Besondersfür Minderjährige ist der Zugang zum öffentlichen Bil-dungssystem elementar.Besondere Bedeutung bei der Unterstützung der Op-fer von Menschenhandel kommt den nichtstaatlichenOrganisationen zu. Damit sie ihre wichtigen Aufgabenausüben können, muss die Bundesregierung sicherstel-len, dass die Organisationen auf eine sichere und ver-bindliche Finanzierung zurückgreifen können. Dieseund weitere Forderungen haben wir bereits in der letz-ten Wahlperiode in unserem Antrag „Menschenhandelbekämpfen – Opferrechte weiter ausbauen“, Bundes-tagsdrucksache 16/1125, vorgelegt.Die Bundesregierung muss sich, was die Menschen-rechte betrifft, unter anderem am Umgang mit den Op-fern von Menschenhandel messen lassen. Europa hat aufdiesem Gebiet viel geleistet. Jetzt ist es an der Bundesre-gierung, die guten Vorgaben zu erfüllen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3747 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Okto-
ber 2010 zur Änderung des Abkommens vom
11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiete der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 17/6257 –
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
30. März 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Irland zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 17/6258 –
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Fe-
bruar 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Zypern zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
– Drucksache 17/6259 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/6565 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden.
Dem Deutschen Bundestag liegen heute drei Geset-zesentwürfe zur Ratifikation von überarbeiteten Doppel-besteuerungsabkommen vor.Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommendazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaatenfür Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Da-mit können die internationale wirtschaftliche Zusam-menarbeit verbessert und Investitionshemmnisse auf-grund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden. Mitden Ländern Schweiz, Irland und Zypern wird nach demheutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens nochbesser die Doppelbesteuerung nach OECD-Standardvermieden. Gleichzeitig ist mit besagten Ländern einverbesserter Austausch in Steuersachen vereinbart, so-dass wir mit der heutigen Ratifizierung dieser Abkom-men Steuerhinterziehung noch wirksamer und effektiverbekämpfen können.Zunächst möchte ich aber auf die einzelnen Doppel-besteuerungsabkommen jeweils eingehen. Schweiz: Diesteuervertraglichen Beziehungen zwischen der Schwei-zerischen Eidgenossenschaft und der BundesrepublikDeutschland reichen bis in das Jahr 1931 zurück; dasbislang geltende Doppelbesteuerungsabkommen, DBA,wurde 1971 in Bonn unterzeichnet. Dieses wurde seitseinem Inkrafttreten im Jahr 1972 dreimal, zuletzt mitProtokoll vom 12. März 2002, revidiert. Es enthält je-doch eine Informationsaustauschklausel, welche erheb-lich hinter dem weltweit anerkannten OECD-StandardManfred Kolbe
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zurückbleibt: Informationen zur Durchführung des in-nerstaatlichen Rechts werden derzeit nur bei beiderseitsmit Freiheitsstrafe bedrohten Betrugsdelikten, das heißtin Fällen von Steuerbetrug oder Abgabenbetrug nachSchweizer Recht, nicht jedoch bei Steuerhinterziehungerteilt.Wesentlicher Gegenstand des am 27. Oktober 2010unterzeichneten Änderungsprotokolls ist deshalb die ge-genseitige – nun verbesserte – behördliche Unterstüt-zung in Steuersachen und Steuerstrafsachen durch In-formationsaustausch auf Ersuchen im Einzelfall auf derGrundlage der Informationsaustauschklausel in der ak-tuellen Fassung des Art. 26 des OECD-Musterabkom-mens für Doppelbesteuerungsabkommen.Das Änderungsprotokoll umfasst darüber hinaus vierweitere Komponenten, die zusammen eine ausgewogeneKompromisslösung bilden. Hierzu gehören eine umfas-sende verbindliche Schiedsklausel, die Senkung derMindestbeteiligungsschwelle für die Gewährung einerQuellensteuerbefreiung für zwischengesellschaftlicheDividendenzahlungen, ein Diskriminierungsverbot hin-sichtlich der Abziehbarkeit von grenzüberschreitendenZins- und Lizenzzahlungen bei Unternehmen entspre-chend Art. 24 Abs. 4 des OECD-Musterabkommens fürDoppelbesteuerungsabkommen sowie der temporäreVerzicht Deutschlands – bis einschließlich Veranla-gungszeitraum 2016 – auf die Ausübung des Besteue-rungsrechts für Einkünfte aus nichtselbstständiger Ar-beit von Mitgliedern des Bordpersonals von iminternationalen Verkehr eingesetzten Luftfahrzeugen,die bereits vor dem 1. Januar 2007 in der Schweiz an-sässig und bei einer deutschen Fluggesellschaft ange-stellt waren und seitdem noch sind.Irland: Das Abkommen vom 30. März 2011 orientiertsich am OECD-Musterabkommen in seiner aktuellenFassung. Das bisherige Abkommen entspricht nichtmehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwi-schen beiden Staaten, da sich insbesondere die gesetzli-chen Vorschriften in beiden Staaten geändert haben.Deutschland hat im Jahr 2007 die Initiative ergriffen,das bisherige Abkommen durch ein modernes und denAnforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse besserangepasstes Abkommen zu ersetzen.Der Quellensteuersatz bei Dividenden in Höhe von15 Prozent bei zwischengesellschaftlichen Beteiligun-gen wurde auf 5 Prozent herabgesetzt.Der Kassenstaat hat nunmehr ein Besteuerungsrechtfür Sozialversicherungsrenten. Hat ein Vertragsstaatüber einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren den Auf-bau anderer Renten gefördert, hat er künftig das allei-nige Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten verbleibtes bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht desWohnsitzstaats des Rentenempfängers.Für Tätigkeiten vor der Küste, zum Beispiel Offshore-Ölförderung und -erforschung, wurde eine 90-Tage-Frist für Erforschungstätigkeiten und eine 30-Tage-Fristfür Fördertätigkeiten vereinbart, ab der ein Besteue-rungsrecht des Küstenstaats besteht.Zu ProtokollDer bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftigden umfassenden Informationsaustausch und erstrecktsich nicht nur auf Bankenauskünfte, sondern auch aufSachverhalte wie zum Beispiel die Bekämpfung vonGeldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinan-zierung.Zypern: Das in Nikosia am 18. Februar 2011 unter-zeichnete Abkommen zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Zypern zur Vermeidungder Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steu-erverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom-men und vom Vermögen löst das bisherige Abkommenvom 9. Mai 1974 ab. Da das bisherige Abkommen nichtmehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwi-schen beiden Staaten entspricht, hat Deutschland imJahr 2004 die Initiative ergriffen, es durch ein modernesund den Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnissebesser angepasstes Abkommen zu ersetzen.Strukturell und inhaltlich orientiert sich das neue Ab-kommen am OECD-Musterabkommen von 2003. Als In-vestitionsanreiz sind insbesondere die Absenkung desQuellensteuersatzes bei Dividenden aus zwischengesell-schaftlichen Beteiligungen von bisher 10 vom Hundertauf 5 vom Hundert und die Minderung der Mindestbetei-ligungshöhe von bisher 25 vom Hundert auf 10 vomHundert zu nennen.Für Sozialversicherungsrenten haben nach demneuen Abkommen Wohnsitz- und Kassenstaat ein geteil-tes Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten, Ruhegehäl-ter und ähnliche Vergütungen – mit Ausnahme von Wie-dergutmachungsleistungen und Unterhaltsleistungen –verbleibt es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrechtdes Wohnsitzstaats des Empfängers.Der Methodenartikel sieht für die BundesrepublikDeutschland nur die Anrechnungsmethode vor.Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftigden umfassenden Informationsaustausch nach demStandard, den die OECD im Rahmen ihres Programmszur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbsentwickelt hat, und erstreckt sich nunmehr sowohl aufBankenauskünfte als auch auf Sachverhalte wie die Be-kämpfung von Geldwäschedelikten, Korruption und Ter-rorismusfinanzierung.Bewertung: Die heute vorliegenden Abkommen sindein Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehungund zur Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbe-werbs allgemein. Sie dienen weiterhin der Verbesserungder wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischenDeutschland und den jeweiligen Vertragspartnern. Ins-besondere hervorzuheben sei die große Bedeutung desProtokolls zur Änderung des Doppelbesteuerungsab-kommens mit der Schweiz. Auch wenn es sich hierbeinur um eine Teilrevision des Abkommens aus dem Jahr1972 handele, sei die Bedeutung immens. Es ändere denim bisherigen Verhältnis mit der Schweiz sehr schwieri-gen Aspekt des Informationsaustausches. Dies stelle ei-nen großen Erfolg dieser und der vorherigen Bundesre-gierung dar.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14935
gegebene RedenManfred Kolbe
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Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die Ver-handlungsvertreter der Bundesrepublik sehr gute Ergeb-nisse und Regelungen im Sinne unser Steuer- und Wirt-schaftspolitik ausgehandelt haben.Trotz alledem müssen wir in diesem Hause darüberdiskutieren, wie zukünftig Doppelbesteuerungsabkom-men ausgestaltet werden sollen. Die Diskussion in die-ser Woche im Finanzausschuss hat dabei gezeigt, dassdie Methodik – Anrechnungs- oder Freistellungsme-thode – von Land zu Land unterschiedliche Auswirkun-gen auf die Steuereinnahmen und/oder auf die wirt-schaftliche Situation unserer Unternehmen haben kann.Hier gilt es künftig, zwischen den globalen Entwick-lungsmöglichkeiten unserer Unternehmen, der Bekämp-fung von Steuerhinterziehung und der Verbesserung derEinnahmesituation des Fiskus abzuwägen.Heute aber haben wir zunächst über die drei vorlie-genden ausgehandelten Abkommen abzustimmen. DieUnionsfraktion begrüßt die vorliegenden Gesetzesent-würfe und wird ihnen aus den von mir erläuterten Grün-den zustimmen.
Wir behandeln heute drei Doppelbesteuerungsab-kommen mit der Schweiz, Irland und Zypern zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung derSteuerverkürzung, wenn wir das Abkommen mit derSchweiz überhaupt so nennen wollen.Die Doppelbesteuerungsabkommen setzen den aktu-ellen OECD-Standard zu Transparenz und effektivemInformationsaustausch für Besteuerungszwecke um.Deutschland sowie die Schweiz, Irland und Zypern ver-pflichten sich in den jeweiligen bilateralen Abkommendazu, auf Ersuchen Informationen, die für das Besteue-rungsverfahren voraussichtlich erheblich sein werden,an die anfragende Stelle zu übermitteln. Zu diesen Infor-mationen gehören auch Bankinformationen und Infor-mationen über Anteilseigner an juristischen Personen.Angesichts der engen wirtschaftlichen Beziehungen mitden genannten Staaten, insbesondere mit der Schweiz,werden die zuständigen Steuerverwaltungen davon pro-fitieren, wenn ihnen künftig bessere Instrumente für diezwischenstaatliche Amts- und Rechtshilfe zur Sachver-haltsaufklärung als erstem Schritt eines ordnungsgemä-ßen Besteuerungsverfahrens zur Verfügung stehen.Im Austausch mit der Schweiz stellt die Revision desDoppelbesteuerungsabkommens einen Paradigmen-wechsel dar. Bislang war die Schweiz nur zur Leistungvon Amtshilfe bei Betrugsdelikten, die beiderseits mitFreiheitsstrafe bedroht waren, verpflichtet. Diese Klau-sel stellte eine wirksame Abschirmung des Geschäftsmo-dells vieler Schweizer Banken dar; denn Amtshilfemusste nur in Fällen des Steuerbetrugs und des Abga-benbetrugs nach Schweizer Recht geleistet werden.Steuerhinterziehung hingegen ist nach SchweizerRechtsverständnis nur eine Ordnungswidrigkeit. Mit derNeuregelung verpflichtet sich die Schweiz, auf Ersuchendie Informationen zu übermitteln, die im ersuchendenStaat für die Besteuerung „voraussichtlich erheblich“sind.Zu ProtokollDiese Weiterentwicklung der grenzüberschreitendenZusammenarbeit in Steuerangelegenheiten ist ein wich-tiger Schritt, um die rechtliche Gleichstellung und -be-handlung aller Steuerpflichtigen zu erreichen, egal, obsie ihre Einkünfte aus dem In- oder Ausland beziehen.Wir können das Abkommen mit der Schweiz allerdingserst dann angemessen bewerten, wenn wir auch die Re-gelung der sogenannten Altfälle, das heißt der unver-steuerten Altvermögen, in die Überlegungen einbezie-hen.Die Bundesregierung hat das zwischenstaatliche Ab-kommen über die Besteuerung bislang unversteuerterKapitalerträge von Deutschen in der Schweiz heute un-terzeichnet. Über den Inhalt dieses Abkommens ist bis-lang kaum etwas an die Öffentlichkeit oder das Parla-ment gedrungen. Die Bundesregierung hat unsereAnfragen stets mit dem Hinweis auf die angeblich erfor-derliche Geheimhaltung abgeblockt, um den erfolgrei-chen Abschluss der Verhandlungen mit der Schweiznicht zu gefährden.Die Vorsitzende von Transparency Internationalnannte diese Art von „Geheimdiplomatie“ am vergan-genen Dienstag „aus demokratischer Perspektive be-schämend“. Es ist in der Tat eine peinliche Missachtungdes Bundestags, des Bundesrats und der gesamten deut-schen Öffentlichkeit, dass die einzig relevanten Informa-tionen ausgerechnet auf der Internetseite der SchweizerBankiersvereinigung zu finden waren. Ein merkwürdigesVerständnis von Transparenz!Schweizer Banken verweisen gerne darauf, dass ihrGeschäftsmodell auf Vertrauen und Vertraulichkeit,Seriosität und Schutz der Privatsphäre basiert. Mich är-gern diese wohlklingenden, meist in vornehmem Tonfallvorgetragenen Formulierungen, weil sie verschweigen,dass dieses System der Geheimkonten und Steuer-schlupflöcher nur funktioniert, wenn anderen StaatenSteuereinnahmen verloren gehen. Um es in den Wortender Schweizer Bankiersvereinigung zu sagen: „InDeutschland steuerpflichtige Kunden von Banken in derSchweiz erhalten eine Brücke zur Steuerehrlichkeit beigleichzeitiger Wahrung ihrer Privatsphäre.“ Hier wirddeutlich, dass das Gerede vom Schutz des Bankgeheim-nisses in einem Staat meist Hand in Hand mit der Verste-tigung von Steuerungerechtigkeit und Mindereinnahmenin einem anderen Staat geht. Wer Peer Steinbrücks klareund etwas ironisch gemeinten Worte für irritierend hält,der sollte sich ernsthaft darüber Gedanken machen, obdie eigentliche politische Geschmacklosigkeit nicht indiesem Geschäftsmodell auf Kosten Dritter beruht.Wenn man sich an den bislang verfügbaren Informa-tionen orientiert, wundert man sich, woran genau dieBundesregierung denn nun genau den angeblichen Er-folg des Abkommens erkennen will und wer von den vor-gesehenen Regelungen profitieren soll. Die weit über-wiegende Zahl der ehrlichen Steuerpflichtigen inDeutschland können es nicht sein; denn für sie sind dieangeblichen Verhandlungserfolge ein Schlag ins Ge-sicht. Reiche Privatpersonen dagegen, die in vielen Fäl-len über Jahre und Jahrzehnte hinweg ihr Vermögen imAusland versteckt und die fälligen Steuern auf ihre Kapi-
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14936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenLothar Binding
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talerträge hinterzogen haben, können sich zu sehr vor-teilhaften Bedingungen der Nachstellung durch die Steu-erverwaltung entziehen und bleiben weiterhin anonym.Auch die deutsche Steuerverwaltung wird das Ver-handlungsergebnis kaum als Erfolg bezeichnen. Steuer-fahnder dürfen künftig keine angekauften Steuer-CDsmit Daten über Steuerhinterzieher mehr nutzen, die ihrVermögen dem Schutz des Schweizer Bankgeheimnissesanvertraut hatten. Mitarbeiter Schweizer Banken habenkünftig keine Strafverfolgung mehr zu befürchten. DieBundesregierung tut einfach so, als gäbe es diese Infor-mationen nicht, als hätten Schweizer Banken nicht aktivund in großem Stil „Lösungsmöglichkeiten“ für Steuer-pflichtige angeboten, die nicht bereit waren, ihren Bei-trag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens zu erbrin-gen. Aber vielleicht vertrauen CDU, CSU und FDP auchdarauf, dass schon ihre bloße Ankündigung von Steuer-senkungen die Steuerhinterzieher in Scharen zurücknach Deutschland lockt. Wer braucht dann noch die Ka-vallerie der Steuerfahnder?Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass die Haus-halte von Bund, Ländern und Gemeinden angesichts ei-ner vorab zu leistenden Abschlagszahlung der Schwei-zer Banken von gerade einmal 2 Milliarden SchweizerFranken sonderlich profitieren werden. Manche Schät-zungen gehen davon aus, dass deutsche SteuerzahlerVermögenswerte zwischen 150 und 200 Milliarden Euroin der Schweiz verstecken. Bund, Länder und Gemein-den sollen also auf hohe Steuereinnahmen verzichten imGegenzug für – ja, für was eigentlich?Vielleicht kann ein genauerer Blick auf einige der bis-lang bekannt gewordenen Regelungen hier zur Aufklä-rung beitragen:Für die Besteuerung künftiger Kapitalerträge gilteine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge aus Vermö-gen deutscher Kunden in Höhe von 26,375 Prozent. Die-ser Steuersatz gilt auch für Einkünfte, die bislang demSteuersatz der EU-Zinsbesteuerungsrichtlinie in Höhevon 35 Prozent unterliegen.Der deutschen Steuerverwaltung wird das Recht zu„Kontrollmaßnahmen“ über die Umsetzung der Abgel-tungsteuer eingeräumt. Unsere Steuerbehörden dürfeninnerhalb von zwei Jahren etwa 1 000 stichprobenartigeAuskunftsersuchen an Schweizer Behörden richten. Da-rin muss der Name des Steuerpflichtigen, nicht aller-dings der Bank enthalten sein. Gemeldet werden vonSchweizer Banken die Kontoverbindungen, nicht aller-dings die Kontobestände. Wenn die deutsche Seite wei-tere Informationen zu gemeldeten Kontodaten erhaltenmöchte, muss sie ein normales Amtshilfegesuch nachArt. 26 OECD-MA stellen. Die stichprobenartige Ab-fragemöglichkeit erinnert etwas an den Versuch, einenU-Bahnschacht mit einer Taschenlampe auszuleuchten.Wir werden dadurch über die Steuerhinterzieher, dieschon vor Jahren ihr Vermögen in Schweizer Depotsversteckten, nichts erfahren; denn die Aufklärungsmög-lichkeit bezieht sich lediglich auf Vermögenswerte, dieneu, das heißt nach Abschluss des Abkommens, in dieSchweiz transferiert wurden. Und Vermögen, die mittelsder Pauschalzahlung abgeltend erfasst wurden, könnenZu Protokollnicht mehr Gegenstand der Kontrollabfrage sein. Die imDunkeln sieht man also weiterhin nicht.Der Strahl der Steuerfahndertaschenlampe wird auchdiejenigen nicht erfassen, die den langen zeitlichen Vor-lauf bis zum Inkrafttreten des Abkommens nutzen, ihrdunkles Vermögen unerkannt in andere Länder zu trans-ferieren. Schweizer Banken werden gegenüber deut-schen Behörden lediglich eine saldierte, anonyme Mel-dung über aufgelöste Konten und Depots abgeben, die ineine andere Steueroase weiterwandern. Die Schweizernennen das „Abschleich“; diese Formulierung trifft eswohl ganz gut. Denn bei einem Steuerschlupfloch großwie ein Scheunentor wird man sich nicht wundern dür-fen, wenn die Simulation entschlossener Steuerbeitrei-bung in einen leeren Anwendungsbereich verweist, weilsich die meisten Steuerhinterzieher schon längst vomHof geschlichen haben. Jeder Steuerfahnder kann überdiese Regelung nur den Kopf schütteln.Für unversteuerte „Altvermögen“, die schon vor In-krafttreten des Vertrags in die Schweiz gewandert wa-ren, sieht das Abkommen eine „Regularisierung“ vor.Bei diesem Begriff denke ich an Regeln, Vorschriftenund Gesetze – Normen, an die sich alle halten und diealle gleich behandeln. Aber vielleicht habe ich hier ja et-was nicht richtig verstanden; denn von Gleichbehand-lung aller Steuerpflichtigen, gar von Gerechtigkeitkonnte ich in diesem „Ablasshandel“ nichts erkennen.Das Abkommen sieht ein Wahlrecht zwischen der einma-ligen Abführung einer anonymen, rückwirkenden Abgel-tungsteuer für bislang unversteuerte Kapitaleinkünfteund einer strafbefreienden Selbstanzeige nach deut-schem Recht vor.Bei der ersten Möglichkeit zur Regularisierung von„Altvermögen“, der pauschalen, anonymen Abgeltung-steuer, liegt der Steuersatz zwischen 19 Prozent und34 Prozent in Abhängigkeit von der Dauer der Kunden-beziehung mit dem Institut und dem Anfangs- und End-betrag des Kapitalvermögens. Individuelle Besteue-rungsmerkmale des Steuerpflichtigen spielen keineRolle. Wie dieses Verfahren genau funktioniert, wie Be-messungsgrundlage und Steuersätze ermittelt werden,wissen wir nicht. Die Schweizer Bankiersvereinigungschätzt die durchschnittliche steuerliche Belastung unterBerücksichtigung von Verjährungsregeln allerdingsdeutlich geringer ein, nämlich auf etwa 20 bis 25 Pro-zent. Bei der pauschalen Besteuerung wird allerdingsnur ein Zeitraum von zehn Jahren berücksichtigt. Dasheißt, wenn man davon ausgeht, dass viele unversteuerteAltvermögen schon deutlich länger bestehen, vielleichtsogar schon vererbt wurden, wird die Bemessungs-grundlage künstlich begrenzt. Im Ergebnis werden er-hebliche Kapitalerträge steuerfrei gestellt. Viele Steuer-hinterzieher bleiben straffrei.Die Anonymität der Steuerhinterzieher bleibtgewahrt. Die Bundesregierung ignoriert dabei dieschlechten Erfahrungen der USA – auch mit Blick aufdas Steueraufkommen – mit einem anonymen Quellen-steuerverfahren unter dem Qualified IntermediaryAgreement mit der Schweiz. Die USA gehen in ihren Ver-handlungen mit der Schweiz daher den umgekehrten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14937
gegebene RedenLothar Binding
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Weg und streben die Übermittlung persönlicher Steuer-daten durch die Schweiz an. Aber angeblich ist die Wah-rung der Privatsphäre ihrer Kunden eine nicht verhan-delbare Position der Schweizer Bankiers, wenn man denWorten von Bundesfinanzminister Schäuble glaubt. MitBlick auf die laufenden amerikanisch-schweizerischenund die britisch-schweizerischen Verhandlungen frageich mich, ob die deutsche Seite ihre Karten geschicktund entschlossen genug ausgespielt hat.Ich würde die Bundesregierung auch gerne fragen, obdie pauschale Besteuerungsregelung insofern „abgel-tend“ wirkt, als länger als zehn Jahre zurückliegendeVermögensbestände für den deutschen Fiskus endgültigaußer Reichweite der Finanzämter geraten. Wir würdennichts über die Herkunft der unversteuerten Vermögenerfahren: Wurden sie legal erworben oder stammen sieaus illegalen Geschäften? Wir würden nichts über dieIdentität der Begünstigten erfahren: Woher stammen dieSteuerhinterzieher, wie viele sind es, um welche Summengeht es? Und wir würden nichts über die Beteiligten inden Banken erfahren, die bei der Steuerhinterziehungmit Rat und Tat zur Verfügung standen: Wie arbeiten sie,welche Schleichwege bieten sie ihren Kundinnen undKunden an, wie hoch sind die Provisionen?Die Wirkung der pauschalen Besteuerung zielt an-scheinend auch darauf ab, dass damit auch Forderun-gen aus anderen Steuerarten abgegolten sind, etwa ausder vermögensbezogenen Besteuerung von Erbschaftenund Schenkungen oder den ertragsabhängigen Unter-nehmensteuern. Wenn man den tatsächlichen Steuersatz,der nach Einschätzung der Schweizer Bankiersvereini-gung bei nur 20 bis 25 Prozent der Kapitalerträge liegt,beispielsweise mit dem Steuersatz von 50 Prozent fürsehr hohe Vermögen in Steuerklasse II vergleicht, wirdschnell deutlich, wie sehr steuerehrliche Bürgerinnenund Bürger erneut benachteiligt werden, wie stark unserGerechtigkeitsempfinden ins Lächerliche gezogen wird.Die zweite Option für unversteuerte Altvermögen be-steht in der steuerlichen Nacherklärung im Rahmen ei-ner strafbefreienden Selbstanzeige. Hinsichtlich desSteuersatzes werden dabei die persönlichen Steuermerk-male des Steuerpflichtigen berücksichtigt; je nachdemliegt der Steuersatz also höher oder niedriger als derpauschale Abgeltungsteuersatz der Option 1. Für denSteuerhinterzieher beginnt mit Blick auf die Rendite unddie absolute Höhe seiner Kapitalerträge in den vergan-genen Jahren das Rechnen, ob eine Selbstanzeige mitNachversteuerung zu jährlichen Hinterziehungszinsenvon 6 Prozent oder eine pauschale Abgeltungsteuergünstiger ist. Es ist allerdings fraglich, ob diese Art der„Mitwirkung“ dazu beitragen kann, die Steuerehrlich-keit zu stärken und die Aufklärungsmöglichkeiten derdeutschen Steuerverwaltung zu verbessern.Die deutsche Steuerverwaltung ist am Prozess der Er-hebung und Abführung der Abgeltungsteuer nicht betei-ligt. Vielmehr übernehmen Schweizer Banken die Er-mittlung und Abführung der Kapitalertragsteuer,angeblich um die Anonymität des Verfahrens zu gewähr-leisten. Ich kann nicht erkennen, dass die Privatsphäredes Steuerhinterziehers besonders schützenswert istZu Protokolloder Vorrang vor den Transparenz- und Aufklärungsge-boten der Steuerbehörden genießt. Umso schlimmer istes, dass sich die Bundesregierung auf diese Aufgaben-teilung einlässt. Aber offensichtlich verursacht es keineBauchschmerzen bei Schwarz-Gelb, wenn ausgerechnetdiejenigen Banken bei der Ermittlung und Abführungder Abgeltungsteuerbeträge mithelfen sollen, die zuvorAnleitungen zur Steuerhinterziehung gegeben haben.Mit einer belastbaren „Brücke in die Steuerehrlichkeit“hat das wenig zu tun.Welche Steuereinnahmen können wir von der Regula-risierung hinterzogener Vermögen aus der Schweiz er-warten? Schweizer Banken haben sich bereit erklärt, beiInkrafttreten des Abkommens Anfang 2013 eine Ab-schlagszahlung als „Zeichen des guten Willens zur Um-setzung des Abkommens“ – so die offizielle Erklärung –in Höhe von 2 Milliarden Schweizer Franken zu leisten.Überschreitende Überweisungen werden verrechnet, beiunterschreitenden Beträgen haften die Banken für denDifferenzbetrag. Ich wäre nicht überrascht, wenn es imErgebnis schließlich auf einen Überweisungsbetrag hin-auslaufen würde, der recht nahe an die Abschlagszah-lung heranreicht – rein zufällig natürlich.Insgesamt ist das Verhandlungsergebnis mit derSchweiz ein schlagender Beleg für eine Bundesregie-rung, deren Kräfte vom internen Streit zwischen FDPund CSU, zwischen CDU und FDP und zwischen CSUund CDU aufgezehrt werden. Deshalb hat Deutschlandauch ein Verhandlungsproblem in Europa, einen Schwä-cheanfall in den Verhandlungen über die EuropeanFinancial Stability Facility, EFSF, und den Europäi-schen Stabilitätsmechanismus, ESM. Wie lange könnenwir uns diese Regierung noch leisten?
Der FDP hat die Steuergerechtigkeit schon immersehr am Herzen gelegen. Dies trifft aber nicht nur aufdas eigene Land zu, sondern behält auch im internatio-nalen Geldverkehr nach wie vor seine Gültigkeit. Darumist es unabdingbar, dass wir mit anderen Staaten zusam-menarbeiten, Vereinbarungen treffen und Abkommenschließen, um durch transparenten Informationsaus-tausch Bürger und Unternehmen, welche Wirtschafts-leistungen nicht in ihren Heimatländern erbringen, wei-terhin gerecht und ordnungsgemäß besteuern zu können.Hierbei werden sowohl die Interessen der beteiligtenLänder als auch die des Steuerpflichtigen geachtet undeinbezogen.Es ist absolut inakzeptabel, dass Straftäter in Einzel-fällen immer noch die Möglichkeit haben, Steuern zuhinterziehen und dabei von anderen Staaten Unterstüt-zung erfahren. Wir haben in den letzten Jahren durcheine konsequente Politik der internationalen Zusam-menarbeit zahlreiche Abkommen treffen und Lückenschließen können. Diesen erfolgreichen Weg wollen wirweiterhin gehen.Heute stehen hierzu drei Gesetzesvorschläge auf derTagesordnung. Zwei davon, nämlich die zu den Abkom-men mit Irland und Zypern, orientieren sich dabei so-
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14938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenHolger Krestel
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wohl inhaltlich als auch strukturell weitestgehend anden Vorgaben des OECD-Standards.Der dritte Vorschlag jedoch, welcher das Abkommenmit der Schweizerischen Eidgenossenschaft betrifft, be-inhaltet einige wichtige Modifikationen zum bisher gül-tigen Abkommen. Allerdings drohten wir nicht mit derKavallerie, sondern haben stets auf eine konstruktiveZusammenarbeit mit unseren Partnern gesetzt. Denn derErfolg in der Sache steht vor dem billigen Medieneffekt.Wer aus der Opposition heraus Maximalforderungenstellt, muss sich fragen lassen, was er aus seiner eigenenRegierungszeit außer dem Austausch von Verbalatta-cken vorzuweisen hat und ob ihm der Umgang zwischensouveränen, mitteleuropäischen Demokratien wirklichgeläufig ist.Wir haben bei unseren Verhandlungen zwei wichtigeAnliegen ins Gleichgewicht gebracht: Zum einenwerden berechtigte Steueransprüche konsequent durch-gesetzt, zum anderen wird die Privatsphäre der Kapital-anleger jedoch weiterhin geschützt, da Informationsan-fragen nicht blind erfolgen dürfen und stets für denersuchenden Staat „voraussichtlich erheblich“ seinmüssen. Zudem können nun auch sämtliche Delikte wei-tergemeldet werden. Bisher galt das Abkommen nur fürBetrugsfälle, und da unsere schweizerischen FreundeSteuerhinterziehung lediglich als Ordnungswidrigkeitmit Geldstrafen ahnden, war in vielen Fällen kein Infor-mationsaustausch möglich. Diesen Missstand haben wirmit diesem Gesetz behoben und die Schweiz hat den hiergültigen OECD-Standard anerkannt. Künftig werdenErträge und Gewinne aus Vermögenswerten deutscherSteuerpflichtiger in der Schweiz mit grundsätzlicher Ab-geltungswirkung besteuert anfallen. Da das Abkommenjedoch auch in die Vergangenheit wirkt, wird auch bis-her unversteuertes Vermögen erfasst und auf Basis desAbkommens nachbesteuert.Wir haben zudem die Basis unserer Wirtschaftsbezie-hungen gestärkt, indem wir schweizerischen Kreditinsti-tuten den Marktzugang in Deutschland erleichtert ha-ben. Es wird in Zukunft weniger administrative undbürokratische Hürden in der internationalen Zusam-menarbeit von deutschen und schweizerischen Bankengeben. Dies gilt insbesondere für die Durchführung desFreistellungsverfahrens für schweizerische Institute inDeutschland, welches enorm vereinfacht wurde. DiePflicht zur Anbahnung von Kundenbeziehungen über einInstitut vor Ort wurde ebenfalls aufgehoben.Mit diesen Maßnahmen stärken wir den Markt undsorgen für mehr Wettbewerb, wirtschaftliche Möglich-keiten und Entwicklung. Vor allem aber wird es ausDeutschland heraus immer schwerer, Steuern durch dieFlucht ins Ausland zu hinterziehen. Das sorgt für Ge-rechtigkeit und Mehreinnahmen für unseren Staat, nach-dem internationale Abkommen viel zu lange vernachläs-sigt wurden.
Schongang bei Doppelbesteuerungsabkommen undroter Teppich für Steuerbetrüger durch das SchweizerZusatzabkommen! Die Bundesregierung sagt, sie werdeZu Protokolldie Bemühungen im Kampf gegen die internationale Steu-erhinterziehung weiter vorantreiben. Ja, sie wollte auchfür Steuerentlastungen sowie ein gerechteres Steuersystemsorgen. So steht es in ihrem Koalitionsvertrag. DochFehlanzeige! Keine Steuerentlastungen und auch vonSteuergerechtigkeit kann keine Rede sein, betrachtetman aktuelle Verteilungsstatistiken zur Entwicklung vonEinkommen und Vermögen.Ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Steu-erbetrug sind Doppelbesteuerungsabkommen. Um diegeht es heute, genau gesagt, um die mit der Schweiz,Irland sowie Zypern. Mit diesen Doppel-besteuerungsabkommen soll eine Doppelbesteuerungvon Steuerpflichtigen vermieden werden. Da sich dieWelt in einem ständigen wirtschaftlichen wie technologi-schen Wandel befindet, müssen diese zwischenstaatli-chen Verträge ab und zu an die aktuelle wirtschaftlicheLage angepasst werden. Sie sind aber auch nötig, umbisher vor dem Fiskus verstecktes Geld sowie Vermögenoffenzulegen, und es der Besteuerung zu unterziehen.Wir, die Linken, werden uns bei den vorliegendenDoppelbesteuerungsabkommen enthalten, weil wir derAnsicht sind, das Steuerhinterziehung nicht wirklichbekämpft wird, dass weitreichendere Änderungen nötigsind und auch möglich gewesen wären. Das heute vonder Bundesregierung unterzeichnete Zusatzabkommenmit der Schweiz lehnen wir hingegen strikt ab; denndieses ist ein Affront gegen die Steuergerechtigkeit.Bei den uns hier vorliegenden Doppelbesteuerungs-abkommen begrüßen wir, dass bei Zypern durchgängigdie Anrechnungsmethode – von uns seit langemgefordert – Anwendung finden soll. Allerdingskritisieren wir, dass ein veralteter OECD-Standard fürden Informationsaustausch gelten soll. Auch beim Dop-pelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz sollen Aus-künfte nur auf Ersuchen hin möglich sein. Prinzipiellhalten wir den OECD-Standard nicht mehr für ausrei-chend, um Steuerbetrug wirksam zu bekämpfen. Nötig istendlich ein automatischer Informationsaustausch, dendie Bundesregierung unabhängig vom OECD-Standardvorantreiben könnte. Solange es aber bei Auskunft aufErsuchen bleibt, können sich Steuerbetrüger wohl wei-terhin sicher wähnen.Das Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweizwird noch durch das heute unterzeichnete Zu-satzabkommen ergänzt und soll Altfälle sowie zukünftigeFälle regeln. Die Bundesregierung heftet sich denvermeintlichen Verhandlungserfolg mit der Schweiz andie Brust. Dabei muss man das Zusatzabkommengenauer ansehen. Es ist ein Affront gegen dieSteuergerechtigkeit. Steuerbetrüger können sich mit die-sem Abkommen mehrfach freuen und sich wie auf Rosengebettet fühlen.Die Altfälleregelung gleicht einem Ablasshandel. FürAltfälle ist geplant, auf bislang unversteuertes Geld inder Schweiz – Schätzungen gehen von bis zu300 Milliarden Euro aus – für die vergangenen zehnJahre eine pauschale Steuer zwischen 19 und 34 Prozentzu erheben, je nach Dauer der Kundenbeziehung sowiedes Anfangs- und Endbetrages des Kapitalbestandes.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14939
gegebene RedenDr. Barbara Höll
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Dabei sollte das doch egal sein, Steuerbetrug bleibtSteuerbetrug, und dieser ist eben eine Straftat. Mitder Pauschalnachversteuerung profitieren Steuer-flüchtlinge; denn vor Einführung der Abgeltungsteuerhätte für sie wohl eher der EinkommenspitzensteuersatzAnwendung gefunden. Zudem dürfen sie straffreiausgehen und anonym bleiben. Das ist nichtnachvollziehbar und gehört dringend geändert. Für zu-künftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zinsen undDividenden eine Quellensteuer von 26,375 Prozent,inklusive Soli, zu erheben. Aber ob das so allesfunktioniert, wenn allein die Schweizer Bankenzuständig sind, muss erst einmal abgewartet werden.Skandalös ist auch die vertragliche Verpflichtung sei-tens der Bundesregierung, keine weiteren Steuer-CDsmehr aus der Schweiz zu kaufen. Da wundert es nicht,dass die Schweizer Bankiervereinigung von einemMeilenstein für den Finanzplatz Schweiz spricht; soauch nachzulesen in einem 21-seitigen Papier von SwissBanking. Auch heißt es dort, dass die Lösung, wie es siemit Deutschland gab, ebenfalls mit andereneuropäischen Ländern angestrebt wird. Das hat nichtsmit Steuergerechtigkeit zu tun, sondern dient nur denInteressen der Banken.Es wird Zeit, dass die Bundesregierung nachbessertund das Zusatzabkommen mit der Schweiz nachverhan-delt, zum Wohle aller ehrlichen Steuerzahlerinnen undSteuerzahler.
„Kapital ist ein flüchtiges Reh“, heißt es. So wichtigoffene Grenzen für den internationalen Warenaustauschgerade für die starke Exportnation Deutschland sind, sowichtig ist aber auch Transparenz der Geldströme.Denn vor allem „schwarzes“ Kapital flüchtet vor dendeutschen Steuerbehörden, obwohl Einkünfte aus Kapi-talzinsen in Deutschland nur mit einer pauschalen Ab-geltungsteuer von 25 Prozent belegt sind. Von Expertenwird vermutet, dass allein in der Schweiz nicht dekla-riertes Schwarzgeld von deutschen Steuerbürgern in derHöhe von 150 bis 200 Milliarden Euro liegt – Kapital,das am deutschen Fiskus vorbei ins Ausland transferiertwurde. Deshalb kämpfen wir Grüne seit langem für eineVerbesserung des Informationsaustausches in den Dop-pelbesteuerungsabkommen. Daher begrüßen wir dievorgelegte Abkommensänderung und die Erklärung derSchweiz, sich zum Informationsaustausch und zu denOECD-Standards zu bekennen.Diese Änderung ist als Schritt in die richtige Rich-tung zu werten, geht jedoch nicht weit genug. Um echteTransparenz herstellen zu können, brauchen wir einenautomatischen Informationsaustausch ohne Begrenzungder Menge der Informationsanfragen. Denn für effektiveBekämpfung der Steuerflucht reicht das OECD-Muster-abkommen nicht aus: Nur in einem konkreten Verdachts-fall wird ein Informationsgesuch an den Vertragsstaatübersandt, und nach entsprechender Prüfung durch dieBehörden des Landes soll Auskunft über den konkretenFall gegeben werden. Es ist jedoch sehr schwierig, ge-Zu Protokollnug Indizien für Steuerhinterziehung zu sammeln, bevordie Behörden des anderen Landes Auskunft geben. Ge-nau aus diesem Grund wurde mehr als zehn Jahre in derEuropäischen Union die sogenannte Zinsrichtlinie ver-handelt. Im Rahmen dieser Zinsrichtlinie ist ein automa-tischer Informationsaustausch vereinbart worden. Wirsind fast am Ziel. Die letzten Widerstände in Österreich,Luxemburg und Belgien dürften bald überwunden wer-den.Wenn in dieser Situation aber eine Regelung zwi-schen Deutschland und der Schweiz eingeführt wird, dieunterhalb der in Europa verhandelten Linie bleibt, istabzusehen, was passiert: Länder wie Österreich,Luxemburg und möglicherweise weitere Länder werdendie in Europa verabredeten Transparenzregeln nun dochnicht umsetzen. Die Zinsrichtlinie muss unser Maßstabbleiben und darf durch ein bilaterales Amnestie- undAbgeltungsteuerabkommen mit der Schweiz nicht unter-laufen werden.Die USA haben in ihren Verhandlungen mit derSchweiz gezeigt, dass das Bestehen auf einem Informa-tionsaustausch nicht nur möglich, sondern auch erfolg-reich sein kann. Die Bundesregierung hat dagegen einenschlechten Deal gemacht, der von den vereinbarten Ab-lasszahlungen nur notdürftig überdeckt werden kann.Der öffentlich vorgetragenen Argumentation, zum Bei-spiel von Herrn Wissing von der FDP, kann ich gar nichtfolgen: Mit Hinweis auf die 1,6 Milliarden Euro, die dieSchweiz verpflichtend als Ablass bezahlen will, forderter die Zustimmung zum Steuerabkommen mit derSchweiz. Diese Summe beträgt gerade einmal 1 Prozentder vermuteten Schwarzgelder in der Schweiz. Deutsch-land wird diese Summe aber nie nachprüfen können;denn in dem Abkommen mit der Schweiz sind Nachfor-schungen explizit ausgeschlossen.Das Abkommen würde bei einer Ratifizierung mehrsteuerliche Ungerechtigkeit bringen und würde die Ver-folgung von Steuerhinterziehung praktisch unmöglichmachen. Die anonyme Abgeltungsteuer führt zu einerAmnestie für Steuersünder. Der ehrliche Steuerzahlerwird so der Dumme. Auch Vergehen wie Erbschaftsteu-erbetrug und Geldwäsche bleiben durch die Anonymitätim Dunkeln. Zukünftige Steueränderungen in Deutsch-land, mit denen eine gerechtere Besteuerung von Kapi-taleinkünften umgesetzt werden soll, würden erschwert.Zudem muss die deutsche Finanzverwaltung Kompeten-zen ohne weitere Prüfmöglichkeit an die Schweizer Ban-ken abgeben und hat viel zu beschränkte Möglichkeitenfür die Verfolgung von Steuerhinterziehung.Abschließend zu den Doppelbesteuerungsabkommenmit Zypern und Irland. Wir begrüßen im Grundsatz dasAbkommen mit Zypern, da dieses, wie von uns Grünengefordert, die Anrechnungsmethode vorsieht. Beim Ab-kommen mit Irland befürworten wir ausdrücklich dieAktivitätsklausel. Allerdings wäre gerade bei einemNiedrigsteuerland wie Irland die Anrechnungsmethodeund nicht die Freistellungsmethode dringend erforder-lich. Bei der Anrechnungsmethode würde eine steuerlichmotivierte Verlagerung von Steuersubstrat verhindert,
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14940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14941
Dr. Thomas Gambke
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weil in diesem Fall die Einkünfte trotzdem der höherendeutschen Steuer unterliegen würden.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Pro-
tokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung des Abkom-
mens vom 11. August 1971 mit der Schweizerischen
Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteue-
rung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6257
anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstim-
mung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenom-
men.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
30. März 2011 mit Irland zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6258
unverändert anzunehmen. Die Denkschrift zu dem Ab-
kommen soll mit der vom Finanzausschuss beschlosse-
nen Maßgabe geändert werden. Zweite Beratung und
Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen an-
genommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom
18. Februar 2011 mit der Republik Zypern zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
kommen und vom Vermögen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache
17/6259 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussab-
stimmung. Ich bitte wiederum diejenigen, die dem zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck , Tom
Koenigs, Marieluise Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage in Westsahara
– Drucksachen 17/4440, 17/4994 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Sibylle Pfeiffer
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Tom Koenigs
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.
Von der Weltöffentlichkeit weithin unbemerkt schweltin der Westsahara seit nunmehr 36 Jahren eine Situa-tion, die völkerrechtlich und menschenrechtlich höchstproblematisch ist. Als Leiter einer Delegation des Men-schenrechtsausschusses habe ich mir im Juni ein eigenesBild vor Ort machen können. Es war, gelinde gesagt, be-drückend. Neben den Besuchen in den Flüchtlingslagernselbst und den Gesprächen mit Sahraui sowie Vertreternder Polisario sprachen wir mit marokkanischen Politi-kern, darunter der Menschenrechtsbeauftragte Marok-kos, über die Situation. Es gab einige überraschend po-sitive Eindrücke, etwa die erstaunlich hohe Bildung derSahraui oder die hohe Quote von Frauen in leitendenFunktionen und politischen Ämtern. Und doch überwogdas erwähnte Gefühl der Bedrückung. In den Flücht-lingslagern wächst eine Generation heran, die noch nie-mals in Freiheit gelebt hat. Gut ausgebildete junge Men-schen haben keine Perspektive: weder auf Arbeit oderWohlstand, noch auf freie demokratische Gestaltungs-möglichkeiten in ihrem Land – ja, sie wissen nicht ein-mal, ob der völkerrechtliche Status der Westsahara zuihren eigenen Lebzeiten geklärt werden wird.Dass hier ein Nährboden für extremistisches Gedan-kengut zumindest entstehen kann, liegt auf der Hand.Bedrückend war ferner die spürbare Gängelungselbst einer offiziellen Delegation wie der unseren durchdie marokkanische Seite. Medien und Gesprächspartnerwurden vorausgewählt, unsere selbstentworfene Agendadurcheinandergewirbelt, politischer Druck wurde aufuns ausgeübt. Der marokkanische Botschafter war aus-gesprochen bemüht, die diplomatischen Wogen zu glät-ten. Doch es bleibt zu bemerken: wir haben etwas vonder Unfreiheit der Sahraui am eigenen Leib zu spürenbekommen.Auch deshalb begrüße ich die heutige Debatte imBundestag. Die menschenrechtliche Lage in der Westsa-hara braucht Öffentlichkeit.Nicht umsonst verabschiedete der Sicherheitsrat derVereinten Nationen am 28. April 2011 einstimmig dieResolution 1979 zur Lage in der Westsahara und zurVerlängerung des Mandats der VN-Mission MINURSO.Diese Resolution bringt in der Präambel erstmals dieFrank Heinrich
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Notwendigkeit der Verbesserung der Menschenrechte inder Westsahara und den Lagern in Tindouf zur Sprache.Ich zitiere aus der Erklärung des Sicherheitsratesvom 27. April 2011:The Council stressed the importance of improvingthe human rights situation in Western Sahara andthe Tindouf camps and encouraged the parties towork with the international community to developand implement independent and credible measuresto ensure full respect for human rights.Eine wesentliche Forderung des Antrags von Bünd-nis 90/Die Grünen, nämlich „sich selbst und im Rahmender EU stärker als bislang bei den Vereinten Nationenfür eine dauerhafte Lösung des Konflikts einzusetzenund sich für die Durchführung des 1991 in der VN-Reso-lution 690 avisierten Referendums stark zu machen oderaber sich im VN-Sicherheitsrat für eine neue Resolutioneinzusetzen“ – Quelle: Drucksache 17/4440 –, ist damit,zumindest für den Moment, erfüllt.Das begrüße ich ausdrücklich!Dem Antrag, wie er uns vorliegt, kann ich dennochnicht zustimmen. In einigen Punkten muss ich wider-sprechen, in anderen gehen mir die Forderungen nichtweit genug.Lassen Sie mich zur Erläuterung zunächst noch etwasausholen und auf die Entstehungsgeschichte des Kon-flikts eingehen. Das Auswärtige Amt beschreibt den um-strittenen völkerrechtliche Status der Westsahara:Das Gebiet war nie eine staatliche Einheit, sonderndurch Stammesverbindungen, Handelsstraßen undLehnsabhängigkeiten lange an Marokko gebunden,ohne historisch zum Territorium Marokkos zu gehö-ren. Hieraus leitet Marokko seinen Territorialan-spruch ab. Seit 1884 spanische Kolonie, wurde dieWestsahara 1963 von den Vereinten Nationen in dieListe der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung auf-genommen ... Laut Gutachten des InternationalenGerichtshofes aus dem Jahr 1975 handeltees sich bei dem Gebiet weder um eine sogenannteterra nullius, noch bestanden zum Zeitpunkt derKolonisierung des Gebiets durch Spanien territo-riale Souveränitätsbeziehungen zu Marokko oderMauretanien. Nach Veröffentlichung des IGH-Gut-achtens ließ König Hassan II am 06.11.1975 einen„Grünen Marsch“ von 350 000 unbewaffneten Zi-vilisten in die Westsahara organisieren. 1976 riefdie Polisario die „Demokratisch-Arabische Repu-blik Sahara“ aus. Nach dem Rückzug Mauretaniens1979 blieb Marokko einzige „Verwaltungsmacht“in der Westsahara.Nachdem 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarungzwischen Marokko und der Polisario getroffen wurde,beschlossen die VN am 29. April 1991 die Resolu-tion 690, in der ein Referendum über den völkerrechtli-chen Status der Westsahara gefordert wird. Diese be-gründet die MINURSO-Mission der VN.Bis heute ist es nicht zur Durchführung des Referen-dums gekommen, vor allem weil die Parteien unter-Zu Protokollschiedliche Optionen für eine Fragestellung des Refe-rendums vertreten: Die Frage nach der Unabhängigkeitder Westsahara wird von der Polisario gefordert, abervon Marokko abgelehnt. Weitere Möglichkeiten wären:eine Autonomie innerhalb Marokkos oder ein Bundes-staat „Westsahara“ in Marokko.Die Afrikanische Union hat die Polisario als Vertre-tung der Sahraui anerkannt, woraufhin Marokko ausge-treten ist. Folglich ist die Frage nach der Unabhängig-keit der Westsahara von größter Bedeutung und musszuerst geklärt werden. Bei den Gesprächen vor Ort ka-men wir immer wieder auf diese grundlegende Frage zu-rück. Unsere Gegenfrage: „Why not ? –Warum keine Unabhängigkeit möglich sei?“ blieb unbe-antwortet.Zur menschenrechtlichen Lage ist zu sagen: Bis heuteleben, je nach Schätzung, zwischen 100 000 und 200 000Sahraui in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf inder algerischen Sahara. Das Gebiet der Westsahara istaktuell durch eine befestigte und verminte Grenzanlagegeteilt, die von Marokko entlang der Waffenstillstands-linie errichtet wurde. Die gewaltsame Räumung einesLagers in der Westsahara Anfang November 2010 hatdie Situation noch einmal verschärft. Es kam unter ma-rokkanischen Sicherheitskräften und unter Sahrauis zuToten und Verletzten. Anfang März 2011 kam es in denLagern von Tindouf zu einer Demonstration gegen diePolisario-Führung. Menschenrechtsverletzungen wer-den sowohl vonseiten der Marokkaner als auch vonsei-ten der Polisario berichtet.Nun konkret zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Die Forderung, sich innerhalb der EU für eineeinheitliche Position zu Marokko und Westsahara einzu-setzen, ist richtig; sie muss meines Erachtens nach aberflankiert sein von besonderen Gesprächen mit Spanien,zur postkolonialen Verantwortung, und mit Frankreich,zum Umgang mit Marokko und zum Fischereiabkom-men.Das Fischereiabkommen mit Marokko ist am 29. Juni2011 verlängert worden. Die Bundesregierung hat ge-meinsam mit Slowenien und Irland eine Erklärung zurVerpflichtung Marokkos, die Partizipation der Bevölke-rung der Westsahara an den Rückflüssen aus dem Ab-kommen darzulegen, abgegeben. Die Zustimmung er-folgte auf Grundlage von Analysen der EuropäischenKommission über Rückflüsse aus dem Abkommen an dieBevölkerung der Westsahara sowie der erstmaligen Ver-pflichtung Marokkos, hierüber Bericht zu erstatten.Die Forderung des Antrags ist insofern obsolet. Einenotwendige Klärung des Rechtsstatus der Meeresgewäs-ser der Westsahara hingegen sollte im Zuge des Referen-dums schnellstens erfolgen.Über diese Forderungen von Bündnis 90/Die Grünenhinaus werbe ich für folgende Anliegen:Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Bundesrepu-blik Deutschland eine diplomatische Vermittlerrolle zwi-schen Marokko und Algerien einnimmt, und für die poli-tische Option eines Autonomiestatus der Westsaharainnerhalb Marokkos werben, bei der keiner der Partner
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14942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenFrank Heinrich
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sein Gesicht verlieren würde. Insbesondere die Rolle desSondergesandten der Vereinten Nationen für die Westsa-hara, Christopher Ross, gilt es zu stärken. Im Rahmendieser Rolle sollen auch Hinweise auf die Gefahr einerRadikalisierung der sahrauischen Bevölkerung und eineEskalation von Gewalt gegeben werden, und es soll demdurch menschenrechtliche Fortschritte, Bildung, Mei-nungsfreiheit, Reisefreiheit unter anderem, weiterhinentgegengewirkt werden.Die bereits bestehenden guten Wirtschaftsbeziehun-gen, insbesondere der GIZ und privatwirtschaftlicherUnternehmen im Rahmen des Projektes Desertec, derBundesrepublik zu den Konfliktparteien gilt es zu vertie-fen, und es gilt, in diesem Zusammenhang die Men-schenrechtsproblematik anzusprechen bzw. auf sie auf-merksam zu machen. Hier wäre es wichtig, sich dafüreinzusetzen, dass bei der nächsten Mandatsverlänge-rung die Beobachtung der Menschenrechtssituation inWestsahara Teil des Mandats der MINURSO, UnitedNations Mission for the Referendum in Western Sahara,wird, wie es ein Punkt der Forderungen des Antrags derGrünen zum Ziel hat. Nicht enthalten ist dieser Passusbislang nur, weil das Mandat schon vor so langer Zeitentstand. Aber: Lieber spät als nie.Künftig ist es mein Anliegen, dass die EU-Flücht-lingshilfe vermehrt finanzielle Unterstützung erhält unddass über das Programm der Deutschen AkademischenFlüchtlingsinitiative beim UNHCR weiterhin Stipendienfür sahrauische Studierende sowie internationale Be-gegnungen ermöglicht werden.Meines Erachtens nach muss das Ziel all unserer Be-mühungen die schnellstmögliche Durchführung des Re-ferendums sein, wobei es im Vorfeld wichtig ist, bei derFormulierung der darin gestellten Fragen einen Kon-sens zu erzielen.Ich behalte mir vor, diese Anliegen über Anfragenoder Anträge an die Bundesregierung auszudrückenoder zu verstärken.
Im Juni dieses Jahres besuchte eine Delegation desAusschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfedie Westsahara. Wir waren sowohl auf der algerischenals auch auf der marokkanischen Seite, und ich muss sa-gen: Dies war eine Reise, die einen tiefen Eindruck beimir hinterlassen hat.Die Situation der 308 000 Sahrauis in den Flücht-lingslagern von Tindouf in Algerien ist erschreckend,selbst wenn der UNHCR sie den Umständen entspre-chend gut versorgt. Auch die Polisario kümmert sich umdie Lebenssituation vor Ort. So gibt es Schulen, Behin-derteneinrichtungen, Krankenhäuser und Sommerferi-enreisen für Kinder. Aber die Bedingungen für dieFlüchtlinge bleiben schwierig: Es gibt wenig Schattenoder Schutz vor dem Wüstensand. Wie ist es um die Per-spektive auf ein freies Leben unter gesicherten Bedin-gungen bestellt?In der Westsahara sieht man, was passiert, wenn poli-tisch nichts passiert: Dieser Konflikt, diese nicht vor-Zu Protokollhandene Lösung des Grenzproblems – ein fatales Erbedes Kolonialismus in Nordafrika – schränken direkt dieRechte auf persönliche Entwicklung, politische Mitbe-stimmung und persönliche Sicherheit ein. Lebensver-läufe sind unter diesen Bedingungen nicht frei wählbar.Dort als Flüchtling geboren zu sein, bestimmt maßgeb-lich den weiteren Lebenslauf. Die Sahrauis sind politi-sche Opfer.Unvorstellbar ist, wie lang sich dieser Konflikt be-reits hinzieht. Von dem Zeitpunkt, als die spanischenTruppen 1976 das Land verlassen hatten, Mauretanienden Südteil und Marokko den Nordteil annektierte und100 000 Menschen in die Westsahara und 200 000 sahrau-rische Flüchtlinge ins Ausland flohen, bis zu dem Waf-fenstillstand 1991 – kontinuierlich wurde eine politischeLösung des Konfliktes verhindert.Die letzten informellen Gespräche zwischen der ma-rokkanischen Regierung und der Frente Polisario zudem in einer UN-Resolution von 1991 beschlossenenReferendum zur Beilegung der Grenzstreitigkeiten undder damit verbundenen Probleme sind im Juli diesesJahres wieder einmal gescheitert. Marokko will nichtsakzeptieren, was über die derzeitige Lage hinausgeht.Dabei ist der Prozess eigentlich schon relativ weit.Fällig zur Durchführung des Referendums ist lediglichnoch die Aktualisierung der Wählerlisten. Hier zeigenMarokko und insbesondere der marokkanische KönigMohammed VI. wieder einmal, dass es kein Interesse aneiner einvernehmlichen Lösung gibt. Die Reise und dieGespräche, die wir führen konnten, haben sehr klar ge-zeigt: Es ist ein doppeltes Spiel Marokkos: Einerseits dieZusicherung der Achtung des internationalen Völker-rechts, andererseits eine absolute politische Inflexibili-tät und Missachtung der Menschenrechte, die sichdurchaus auch auf die in Marokko lebenden Sahrauisauswirken.Wir mussten feststellen: Die Lebensbedingungen derMenschen haben nichts mit der Gewährleistung derMenschenrechte zu tun. Schlimmer noch: Wir haben mitMenschen gesprochen, welche darüber klagten, dassBefürworter des Referendums in Marokko gefoltert wer-den und im schlimmsten Fall ungeklärt „verschwin-den“. Die jüngsten Proteste – inspiriert von dem Arabi-schen Frühling – wurden blutig niedergeschlagen.Journalisten werden drangsaliert.Menschenrechtlich sind wir in der Pflicht, uns inter-national für die Lösung des Konfliktes zu engagierenund gegebenenfalls Druck auf die Beteiligten auszu-üben. Die Menschen in der Westsahara müssen endlichdie Wahl bekommen: Wollen sie ein Teil Marokkos sein,oder davon unabhängig?Teil des derzeitigen Problems ist auch die deutsche„Fähnchen-im-Wind-Dreherei“ bezüglich des marokka-nisch-europäischen Fischereiabkommens. Es ist mir un-verständlich, warum sich Deutschland im Juni nun dochfür dessen Verlängerung ausgesprochen hat. Die Fisch-gründe der Westsahara sollten angesichts des ewigenKonfliktes und der ungeklärten Zugehörigkeit für euro-päische Fischer tabu sein. Die Sahrauis hatten in dem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14943
gegebene RedenAngelika Graf
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Prozess keine Vertretung und konnten sich zu dem Ab-kommen folglich nicht offiziell äußern. Dies kommt Räu-berei gleich – und das sollten wir wahrlich nicht unter-stützen.Nun sind im August auch noch reichhaltige Boden-schätze, darunter wertvolle Kimberlit-Diamanten, Gold,Uran, Kupfer, Kobalt und andere Rohstoffe vom kanadi-schen Bergbauunternehmen Metalex Ventures in derWestsahara entdeckt worden. Der überwiegende Teilsoll auf dem von der Frente Polisario kontrollierten Ge-biet nahe Mauretanien liegen. Dies könnte eigentlich einAnlass zur Freude sein, könnten die armen Menschender Westsahara denn davon profitieren. Dies zeichnetsich jedoch nicht ab, denn der Staat Marokko hat die ka-nadische Firma mit den magnetischen und radiologi-schen Messungen beauftragt. Marokko hat wohl einenweiteren Grund gefunden, die Sahrauis nicht über dasReferendum befinden zu lassen. Ich hoffe sehr, dass inMarokko nicht über Abschöpfung nachgedacht wird.Dies könnte die friedliche Lösung des Grenzstreitesschwer belasten.Im September gibt es wieder eine UN-Vollversamm-lung in New York, bei der auch dieses Fischereiabkom-men noch einmal besprochen werden soll. So wie ich essehe, spitzt sich die Situation in der Westsahara immerweiter zu. Dies ist keine gute Aussicht in einer Region,die von Unruhe geprägt und von gewaltsamen Konflik-ten bedroht ist. Deutschland sollte sich hier vernünftigund verantwortlich zeigen.
Das Parlament beschäftigt sich heute mit der Men-schenrechtslage in der Westsahara. Wir begrüßen diesals FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich.Vom 13. bis 17. Juni 2011 habe ich mit einer Delega-tion des Ausschusses für Menschenrechte und humani-täre Hilfe neben Algerien und Marokko auch die Westsa-hara besucht. Diese sehr wichtige Reise stand imZusammenhang mit der Auflösung des Protestlagers inder Westsahara am 8. November 2010, als marokkani-sche Sicherheitskräfte das Lager außerhalb der StadtLaayoune räumen ließen, wobei es zu Toten und Verletz-ten kam. Neben allgemeinen Fragen der Menschen-rechte wurde vor allem die Situation der Sahraui in derWestsahara und in Algerien in dem Flüchtlingslager inTindouf thematisiert. In den Gesprächen mit Regie-rungs- und Parlamentsvertretern Marokkos, der FrentePolisario in Algerien, den Vertretern des UNHCR undvon MINURSO sowie den Vertretern von Menschen-rechtsorganisationen der Sahrauis ging es zum einen umdie humanitäre Situation der Betroffenen sowohl in demLager in Tindouf als auch in der Westsahara und zumanderen um die politische Frage eines Referendums undeiner möglichen Unabhängigkeit der Westsahara. Insge-samt wurde deutlich, wie kompliziert der Westsahara-Konflikt ist. Der Einfluss Deutschlands darf nicht über-bewertet werden.Auch wurde bei der Reise eines sehr offensichtlich:Innerhalb der Delegation sowie zwischen den Koaliti-ons- und Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundes-Zu Protokolltages gibt es unterschiedliche politische Positionen zuder Referendumsfrage in der Westsahara. In einem sindwir uns aber alle einig: Eine Lösung des Konflikts in derWestsahara ist dringend notwendig. Als christlich-libe-rale Koalition fordern wir: Repressionen gegen Perso-nen, die das Referendum einfordern, müssen aufhören.Es ist nicht glaubwürdig, wenn der marokkanische Men-schenrechtsrat bislang keiner Beschwerde nachgegan-gen ist. Marokko muss einsehen: Auch den Sahrauissteht das hohe Gut der Selbstbestimmung zu. Mehrfachhabe ich daher in den Gesprächen mit marokkanischenRepräsentanten auf die mögliche Isolierung der marok-kanischen Regierung mit ihrer Position zum West-sahara-Konflikt hingewiesen. Auch Marokko muss ausEigeninteresse an einer schnellen Konfliktlösung inte-ressiert sein. Insgesamt bleibt für uns als FDP-Bundes-tagsfraktion festzuhalten: Die Westsahara-Problematikist eine zentrale Frage für die Zukunft Marokkos und dergesamten Region von Algerien bis Mauretanien. Sie bin-det große militärische Ressourcen, belastet die Bezie-hungen zwischen Marokko und Algerien und steht derKooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen.Der Konflikt existiert schon seit vielen Jahrzehnten.Seit Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahrhundertswurde Spanien wiederholt von der UN aufgefordert, dieWestsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Paralleldazu gründete sich die sahrauische BefreiungsfrontFrente Polisario, die für eine politische Unabhängigkeitder Westsahara kämpfte. Nach dem Tod Francos 1975zogen die Spanier ab, und Mauretanien und Marokkobesetzte den Großteil des Gebiets der Westsahara. 1976erklärte Marokko die Annexion der nördlichen zweiDrittel des Westsahara-Gebietes und 1979 des restlichenTerritoriums, nachdem sich Mauretanien aus dem Ge-biet zurückgezogen hatte. Diese Annexionen wurden vonden Vereinten Nationen nicht anerkannt. Ebenso wenigwurden ohne die Abhaltung des von den Vereinten Natio-nen geforderten Referendums die Ansprüche der Demo-kratischen Arabischen Republik Sahara auf das Gebietder Westsahara anerkannt.Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarungzwischen Marokko und der Polisario geschlossen, aberauch dies reichte nicht, um das geforderte Referendumabzuhalten. Daher leben bis heute etwa 100 000 Sahrauisin Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in der alge-rischen Sahara. Hinzu kommt, dass das Gebiet vonWestsahara aktuell durch eine befestigte und verminteGrenzanlage geteilt ist, die von Marokko entlang derWaffenstillstandslinie errichtet wurde. Vor diesem Hin-tergrund scheint eine kurzfristige Lösung des West-sahara-Konflikts kaum realistisch. Trotz aller Bemühun-gen sowohl der Bundesregierung als auch derinternationalen Gemeinschaft war es bislang nicht mög-lich, die Konfliktparteien zu einer einvernehmlichen undfriedlichen Lösung zu bewegen.Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion liegtder Schlüssel zur Lösung dieses Konflikts in einer er-folgreichen politischen Vermittlung durch die VereintenNationen. Als christlich-liberale Koalition setzen wirdaher weiterhin auf Bemühungen der Vereinten Natio-nen, im Einverständnis zwischen den Beteiligten und auf
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14944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenSerkan Tören
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der Grundlage bestehender UN-Resolutionen, einefriedliche Lösung des Westsahara-Konflikts zu finden.Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedoch ei-nes klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssendie Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt wer-den. Folgendes darf nicht sein: Die Augen dürfen nichtvor der schwierigen Menschenrechtslage verschlossenwerden. Dies betrifft ausdrücklich beide Seiten.Dennoch lehnen wir als FDP den Antrag der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus folgenden Grün-den ab:Die Feststellung im Antrag, „dass sich die Bundesre-gierung zum Konflikt um Westsahara und den damit ver-bundenen Problemen sowohl bilateral als auch im Rah-men der EU sehr zögerlich und zurückhaltend agiere“,ist nicht zutreffend.Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle hat am15. November 2010 in Rabat Gespräche unter anderemmit seinem marokkanischen Amtskollegen geführt. Eswar der erste Besuch eines deutschen Außenministers inMarokko seit 2006.Die schwarz-gelbe Bundesregierung flankiert durchverschiedene Maßnahmen die Bemühungen der Verein-ten Nationen um eine Lösung des Westsahara-Konflikts.Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbildendenMaßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008 bis2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Euro zurVerfügung gestellt.Über die EU – European Commission – Humanita-rian Aid & Civil Protection, ECHO – wurden seit Beste-hen des Konfliktes rund 130 Millionen Euro für dieFlüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt; das jährlicheECHO-Budget für die Flüchtlingslager beträgt rund10 Millionen Euro. Über den Mediationsfonds der Ver-einten Nationen unterstützt Deutschland indirekt denUN-Sondergesandten für die Westsahara.Im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitikund auch des fortgeschrittenen Status – „advanced sta-tus“ – Marokkos in der Partnerschaft mit der EU wer-den regelmäßig die Themen Menschenrechte, Demokra-tie und Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Der politischeDialog des Aktionsplans mit Marokko sieht dies genausovor wie das Assoziierungsabkommen, welches den Men-schenrechten eine grundlegende Bedeutung für die In-nen- sowie die Außenpolitik der EU und Marokkos zu-weist.Aus den oben genannten Gründen ist der Antrag da-her abzulehnen.
Es ist überraschend, mit welchem Gleichklang beider Bundestagsdebatte am 27. Januar dieses Jahres einfraktionsübergreifendes Hohelied auf die Menschen-rechte angestimmt wurde, mit welchem die Rednerinnenund Redner von CDU/CSU über FDP, SPD undBündnis 90/Die Grünen ihre Besorgnis über die verhee-rende Lebenssituation der Sahrauis zum Ausdruck brin-gen wollten.Zu ProtokollDabei wurde deutlich, dass für die Regierungskoali-tion die „Westsahara-Problematik“ nur dann auf die Ta-gesordnung rückt, wenn die dort verübten Menschen-rechtsverletzungen, wie zuletzt bei der brutalen Räu-mung des „Camps der Würde“ im Oktober 2010, einAusmaß erreichen, welches nicht mehr totgeschwiegenwerden kann wie all die bisherigen totgeschwiegenenOpfer der marokkanischen Besatzungspolitik. Offenbarspielen Menschenrechte in der Westsahara erst danneine Rolle, wenn der dortige Generalvertreter europäi-scher Handels- und Wirtschaftsinteressen bei der Plün-derung der Region den Umfang seiner Geschäftsfüh-rungsbefugnis überschreitet und den Auftraggeber inMisskredit zu bringen scheint. In den Worten des Kolle-gen Klimke aus der CDU/CSU-Fraktion wird diese Kos-ten-Nutzen-Kalkulation folgendermaßen beschrieben:„Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet dieBeziehungen zwischen Marokko und Algerien und stehtder Kooperation und Entwicklung im Maghreb entge-gen.“Angesichts der geschilderten Einigkeit in Bezug aufdie Forderung nach Einhaltung der Menschenrechtestellt sich dennoch die Frage, warum trotz der überein-stimmenden Situationsbeschreibung der Fraktionen be-züglich der völkerrechtlichen Lage und der Hervorhe-bung der Notwendigkeit der Umsetzung der Sicherheits-ratsresolution 690 zur Abhaltung eines den endgültigenStatus der Westsahara klärenden Referendums die Men-schen in diesem Land seit mehr als 30 Jahren auf Frie-den warten müssen.Die Antwort liegt nicht in der Theorie der Menschen-rechte und ihre Lösung nicht in Lippenbekenntnissen,sondern in der Praxis ungerechter wirtschaftlicher undsicherheitspolitischer Beziehungen Europas und derBundesregierung.Es ist dann auch kein Zufall, dass der menschenrecht-liche Meineid der Bundesregierung in Bezug auf dieWestsahara folgenlos bleiben muss und soll. Denn dieAufmerksamkeit der Bundesregierung gilt nicht demmenschenrechtlichen Fortschritt, sondern den agrar-und energiepolitischen Interessen in der Region.In diesem Zusammenhang sind die Forderungen desAntrags der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen„Menschenrechtslage in Westsahara“ zwar richtig undunterstützenswert, auch wenn sie die ökonomischenHintergründe des deutschen Engagements und die deut-schen Interessen in der Westsahara unbeleuchtet lassen.Marokko ist neben anderen nordafrikanischen Mittel-meerländern Teil der Europäischen Nachbarschaftspoli-tik und Mitgliedsstaat der Union für den Mittel-meerraum. Es nimmt teil an der NATO-AU-Kooperationund dem NATO-Mittelmeerdialog. Neben der Flücht-lingsabwehr und seiner sicherheitspolitsichen Rolle fürdie NATO ist Marokko jedoch vor allem ein wichtigerHandelspartner der EU, der die Sicherung von Rohstof-fen gewährleistet.In dem Afrika-Konzept der Bundesregierung heißt esdazu knapp:
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gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim DağdelenDie Bundesregierung unterstützt den Aufbau bilate-
Durch sie profitieren Nordafrika und langfristigauch Deutschland von der Stromerzeugung aus er-neuerbaren Energien … Die Bundesregierung un-terstützt die DESERTEC-Initiative deutscher, euro-päischer und nordafrikanischer Unternehmen. DESERTEC als Energiegroßprojekt will Sonnen- undWindenergie in der Wüste Nordafrikas für die lokaleStromversorgung nutzen und langfristig Strom auchnach Europa exportieren. Damit soll laut dem Afrika-Konzept der Bundesregierung die Lieferung von Roh-stoffen aus afrikanischen Staaten unterstützt und „deut-sche Rohstoffinteressen mit langfristigen Lieferverträ-gen“ abgesichert werden. Das Afrika-Konzept erwähntmit keinem Wort, dass hier selbstverständlich über dieRohstoffe der Sahrauris verfügt wird. Die DESERTEC-Investitionen sollen nämlich auch die völkerrechtswid-rig besetzte Westsahara umfassen. Nicht anders verhältsich die EU im Zusammenhang mit dem erst kürzlichverlängerten EU-Fischereiabkommen mit Marokko. Diereichen Fischgründe vor den Küsten und die großenPhosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollenweiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflot-ten und internationalen Konzernen preisgegeben wer-den. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mit-hilfe der Deutschen Gesellschaft für InternationaleZusammenarbeit erstellt wurde und ganz selbstverständ-lich Standorte in der Westsahara mit einschließt, solldeutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einfüh-rung und Privatisierung erneuerbarer Energien durchgewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vor-stufe des DESERTEC-Projektes gelten. Der Plan desvon deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Mün-chener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bankdominierten und von der Bundesregierung unterstütztenProjekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der inEuropa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagenin Nordafrika zu beziehen. Das hat weder mit Ökologienoch mit der Förderung von Menschenrechten zu tun.Das ist ökologisch total irrsinnig, weil Sie schon wiederden hundert Jahre alten Fehler wiederholen auf Groß-projekte zu setzen statt auf kleinteilige, dezentrale Lö-sungen. Meine Damen und Herren von den Grünen, werden Umweltschutz will, wie Sie es hier auch mit demProjekt DESERTEC vorgeben, muss zuerst die Men-schen schützen und kann nicht mit solchen Großprojek-ten auch noch die Sicherheitslage verschärfen und dieMissachtung des Völkerrechts ignorieren. Die Linkelehnt DESERTEC ab und fordert die Einhaltung desVölkerrechts und dezentrale, kleinteilige Energieerzeu-gung nicht auf Kosten der Länder und Menschen des Sü-dens.Auch die derzeit stattfindenden Gespräche über einAgrarabkommen zwischen der EU und Marokko wollendie Rechte der Sahrauis nicht zur Kenntnis nehmen.Dies hat nur ein Ziel: die Plünderung der Rohstoffe derWestsahara. Die Aufrechterhaltung der marokkanischenBesatzung der Westsahara sichert so den Zugriff auf die-ses rohstoffreiche Gebiet für die EU und die Bundesre-Zu Protokollpublik. Und gerade deshalb ist seit mehr als 30 Jahreneine Lösung des Konfliktes nicht möglich. Menschen-rechte können hier nur eine untergeordnete Rolle spie-len. Ihre ritualisierte Anrufung im Bundestag ist allen-falls ein untauglicher Versuch, die Kritiker der unge-rechten EU-Handelspolitiken zu beschwichtigen, damitkeine negative Signalwirkung auf die mit dem hervorge-hobenen Status – sprich dem advanced status – ausge-statteten Handelspartner ausgeht.Die Bundesregierung versucht auch deshalb nicht,Menschenrechte in der Westsahara durchzusetzen, son-dern sieht sich im Gegenteil genötigt, Marokko dafür zubelohnen, dass es durch die völkerrechtswidrige Besat-zung und kontinuierliche Verübung schwerster Men-schenrechtsverletzungen ihre Wirtschaftsinteressen si-chert. Seit 1966 leistet Deutschland militärische Ausbil-dungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte, obwohlsie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsa-hara beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offizierehaben Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen derBundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen derBundeswehr absolviert. Die Bundesregierung belohntzusammen mit der EU Marokko durch Ausrüstungs- undAusstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gen-darmeriekräfte, also genau jene, die auch an der Räu-mung des „Camps der Würde“ und den Gewalttaten ge-gen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren undsind. Die Linke meint, dass gerade die Entwicklungen inNordafrika gezeigt haben, dass diese Militär- und Poli-zeihilfe für autoritäre Regime wie Marokko skandalössind und dringend beendet werden müssen.Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indemsie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zuguns-ten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 einge-stellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung für dieOpfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im Rah-men der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfewurde bereits 2007 eingestellt.Auch die EU belohnt Marokko, mit wohlwollenderZustimmung der Bundesregierung, seit Jahren in derEU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenenStatus. Marokko erhielt in diesem Rahmen eine Mil-liarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völ-kerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierli-chen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen derFlüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Ver-längerung des EU-Fischereiabkommens– und das trotzder Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiab-kommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in2002. Damit missachten Bundesregierung und EU dieunveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohneSelbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Dasmeint auch der Juristische Dienst des Europaparla-ments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass derFischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fische-reiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in
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14946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim DağdelenKonsultation mit der sahrauischen Bevölkerung derWestsahara stattfindet noch die Bevölkerung die Ein-nahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichenFischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völ-kerrechtswidrig. Die Linke fordert von der Bundesregie-rung, sich auf die Seite des Rechts zu stellen und das Ab-kommen abzulehnen.Die Bundesregierung muss die permanenten Rechts-verletzungen der marokkanischen Regierung deutlichöffentlich verurteilen und Konsequenzen ziehen. DieFraktion Die Linke hat der Bundesregierung die mögli-chen Handlungsoptionen zur Lösung der Probleme inder Westsahara in ihrem Antrag „Keine Unterstützungfür die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkosin der Westsahara“
aufgezeigt. Sie darf Marokko nicht weiter darin bestär-ken, ungehindert das seit über 20 Jahren fällige Referen-dum über den Status der Westsahara und damit dasRecht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das ihnen imZuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu können.Deshalb fordert Die Linke die Bundesregierung auf,sich dafür einzusetzen, dass Marokko endlich die Reso-lution 690 des UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991umsetzt und das Referendum über die Zukunft der West-sahara unter UN-Aufsicht nicht weiter blockiert. DieLinke fordert die Bundesregierung auf, die gewaltsameAuflösung des Protestcamps Anfang November 2010und die Niederschlagung der anschließenden Demon-strationen zu verurteilen und eine internationale Unter-suchung der Vorfälle einzufordern. Jegliche Ausbil-dungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizei-und Armeekräfte ist einzustellen. Wir fordern, dass sichdie Bundesregierung innerhalb der EU endlich ener-gisch dafür einsetzt, dass das Assoziationsabkommender EU mit Marokko sowie der fortgeschrittene Statusder Beziehungen zur EU zumindest solange ausgesetztwerden, bis Marokko seine völkerrechtswidrige Besat-zung beendet hat und den Weg für ein Referendum zurendgültigen Klärung der Statusfrage frei macht.Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sichin der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiab-kommen mit dem Königreich Marokko gekündigt wirdund es nicht automatisch verlängert werden kann. Eineautomatische Verlängerung des Fischereiabkommenszwischen der EU und Marokko muss so lange verhindertwerden, wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertragausgeschlossen ist. Die Linke fordert die Bundesregie-rung auf, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Re-gimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- undSozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orien-tieren.
Im Juni dieses Jahres war ich gemeinsam mit anderenAbgeordnetenkolleginnen und -kollegen in der Westsa-hara. Zudem haben wir das riesige sahrauische Flücht-lingslager in Tindouf in Algerien besucht. Was wir dortgesehen, gehört und erlebt haben, hat uns alle betroffengemacht. In unmittelbarer Nähe zu Europa und zu denspektakulären Ereignissen im Rahmen des arabischenZu ProtokollFrühlings schwelt dort seit Jahrzehnten ein Konflikt, dervon der europäischen und weltweiten Öffentlichkeitkaum registriert wird.Vor nunmehr über 20 Jahren, am 29. April 1991,setzte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 690 dieUN-Mission MINURSO ein, die ein Referendum überdie Zukunft der Westsahara absichern sollte. Nach jahr-zehntelangen Kämpfen hatte sich die Regierung von Ma-rokko mit der Polisario, der Befreiungsbewegung dermaurischen Saharauis, auf eine Volksabstimmung geei-nigt. Diese Abstimmung hat es bis heute nicht gegeben.Stattdessen durchzieht von Nordost nach Südwest einebefestigte Grenzanlage die Westsahara, die das Gebietziemlich genau nach der wirtschaftlichen Nutzbarkeitaufteilt: in eine marokkanisch besetzte Speckschwartezur Küste hin samt Fischreichtum und Phosphatvorkom-men und in ein der Polisario überlassenes Knochenstückmit viel Wüste und Dürre. Als ich diese krassen Unter-schiede in den Lebensverhältnissen gesehen habe, habeich begriffen, dass es sich hier tatsächlich um den wohlletzten kolonialen Konflikt der Welt handelt.Was völkerrechtlich noch als schwerwiegendes Ver-säumnis durchgehen könnte, hat katastrophale men-schenrechtliche Konsequenzen. Einem Großteil dersahrauischen Bevölkerung in dem von Marokko besetz-ten Gebiet werden wesentliche Menschenrechte vorent-halten. Sie dürfen weder ihre Meinung äußern noch sichfrei versammeln, sie werden staatlich diskriminiert undbenachteiligt. Die Bevölkerung in dem von der Polisariokontrollierten Teil leidet unter der von Marokko bewusstherbeigeführten schlechten wirtschaftlichen Lage undzahlreichen Aktivitäten des marokkanischen Geheim-dienstes. In beiden Teilen verschwinden Aktivistinnenund Aktivisten; sie werden willkürlich verhaftet und zumTeil in den Gefängnissen gefoltert. Eine Strafverfolgungdieser Menschenrechtsverletzungen findet nicht statt.Katastrophal ist nach wie vor die Lage in den Flücht-lingslagern auf algerischer Seite, wo weit über 100 000Menschen zum Teil seit über 30 Jahren und in dritterGeneration unter erbärmlichen Umständen leben müs-sen, ohne eine Aussicht darauf zu haben, jemals in ihreHeimat zurück zu können und ein normales Leben zuführen. Die schlechten humanitären Bedingungen im La-ger Tindouf, der Wassermangel und die Hitze sind mirnoch in guter Erinnerung. Die Perspektivlosigkeit andiesem Ort hat mich tief getroffen.Dass der Westsaharakonflikt immer noch nicht gelöstist, liegt in erster Linie an den wirtschaftlichen Interes-sen und der Sturköpfigkeit Marokkos. Aber es liegt auchdaran, dass weder die UN über MINURSO noch die EUnoch Deutschland genügend Willen und Elan zeigen,diese Situation wirklich zu ändern.Die UN nutzen ihre Möglichkeiten, um das überfäl-lige Referendum endlich gegen den marokkanischen Wi-derstand durchzusetzen, nicht, weil wohl in erster Liniefranzösische Interessen dagegenstehen. Frankreich siehtsich in einer traditionellen Schutzpflicht für Marokkound unterhält dorthin enge politische, wirtschaftlicheund persönliche Beziehungen. Als im Jahre 2009 ange-dacht wurde, dem MINURSO-Mandat einen Menschen-
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gegebene Reden
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Volker Beck
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rechtsmechanismus hinzuzufügen, scheiterte dies an derAndrohung Frankreichs, notfalls ein Veto einzulegen.Eine entsprechende Vorlage zur Änderung des Mandatskam somit erst gar nicht zur Abstimmung. Hier ergibtsich für Bundesaußenminister Westerwelle die Möglich-keit, aus dem Schatten der Kanzlerin zu treten, die ihmmehr und mehr das außenpolitische Wasser abgräbt.Hier könnte er sich auf diplomatischem Parkett profilie-ren. Deutschland könnte seinen Einfluss im Sicherheits-rat geltend machen, um die französische Blockade zuüberwinden und zumindest der MINURSO das Rechteinzuräumen, über die Achtung der Menschenrechte inWestsahara zu wachen. Auch in der EU sollte Deutsch-land sein Gewicht nutzen, um eine neue europäischeWas ist es, was Schwarz-Gelb dazu bewegt, unserenAntrag abzulehnen? Die fünf in unserem Antrag erhobe-nen Forderungen waren auf unserer DelegationsreiseKonsens bei allen mitfahrenden Abgeordneten aus allenfünf im Bundestag vertretenen Fraktionen. Es geht umMenschenrechte und humanitäre Bedingungen für diesahrauische Bevölkerung. Aber zurück in Berlin gilt dieKoalitionsräson, der Opposition nicht ein Jota entge-genzukommen. So weit, so schlecht. Doch wer solchemachtpolitischen Spiele nicht auf dem Rücken der Men-schenrechte austragen will, muss zumindest einen eige-nen Antrag vorlegen. Den vermisse ich vonseiten derKoalition. Ich fordere Sie auf, endlich etwas zu unter-nehmen, um die wirtschaftliche und politische ZukunftPosition zu Westsahara zu erwirken.Die EU hat ganz handfeste Interessen daran, den der-zeitigen Status, der eigentlich keiner ist, beizubehalten.In Kürze soll das Fischereiabkommen zwischen der EUund Marokko wieder verlängert werden, und schon jetztwird erneut über die Aufteilung der Fangmöglichkeitenverhandelt. Im Rahmen dessen verkauft Marokko auchdie reichen Fischbestände vor der Küste Westsaharas.Gut 36 Millionen Euro ist den Europäern dieser Fangwert. Völkerrechtlich müssten diese Beträge eigentlichder Bevölkerung der besetzten Gebiete dienen; dochhiervon findet sich in dem Abkommen kein Wort. Die vonder marokkanischen Seite bisher übermittelten Unterla-gen zur Verwendung der Mittel aus dem bisherigen Ab-kommen lassen nur deutlich werden, dass ein beträchtli-cher Teil der Gelder in den Ausbau der Modernisierungdes Fischereisektors gesteckt wurde. Dies kommt nichtder Bevölkerung der Westsahara, sondern MarokkosMächtigen zugute. Vonseiten der EU und der profitieren-den Mitgliedstaaten wird hier bewusst weggeschaut.Auch Deutschland hat im Rahmen des AbkommensLizenzen für den Fang von 4 850 Tonnen Fisch gekauft,ohne die Statusfrage Westsaharas zu debattieren. Wich-tig erscheint der Bundesregierung nur, diese lästige völ-kerrechtliche Frage gar nicht zu berühren, um nichtsthematisieren oder gar präjudizieren zu müssen. Wersich aber nicht einmal traut, Menschenrechtsfragen aufdem Fischbasar in die Waagschale zu werfen, der sollteaufhören, von einer wertegebundenen Außenpolitik zuschwadronieren.Flüchtlingscamps zu verbessern. Ich fordere Sie auf,endlich etwas Handfestes zur Verbesserung der Men-schenrechtslage in den von der Polisario und dem Kö-nigreich Marokko kontrollierten Gebieten zu tun. Einerster Schritt wäre es, unserem vorliegenden Antrag zu-zustimmen oder aber endlich selber das Heft in die Handzu nehmen, um dieses üble Überbleibsel des Kolonialis-mus zu einem guten Ende zu führen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4994, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/4440 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-
fraktionen angenommen.
– Danke schön.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 22. September
2011, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.