Protokoll:
17108

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 108

  • date_rangeDatum: 12. Mai 2011

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:55 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/108 Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes (Drucksache 17/5754) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 1: Vereinbarte Debatte: zum Hilfsantrag Portu- gals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12288 B 12288 D 12293 B 12289 A 12289 A 12291 B 12293 C 12308 A 12309 A 12310 D 12312 C 12313 B 12314 B 12315 C 12317 B 12319 C 12321 A 12322 A Deutscher B Stenografisc 108. Si Berlin, Donnerstag I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Gabriele Lösekrug-Möller, Heinz Paula und Dr. Ilja Seifert . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Christine Lambrecht als ordentliches Mitglied im Ge- meinsamen Ausschuss und im Vermitt- lungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 18 und 26 Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen 12287 A 12287 B 12287 B 12288 B 12288 B Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12295 A 12297 D undestag her Bericht tzung , den 12. Mai 2011 l t : Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle, Hans- Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Modernisierung der Strom- netze – Bürgernah, zügig, für erneuerbare Energien (Drucksache 17/5762) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12299 C 12301 A 12302 C 12304 A 12305 A 12306 C 12308 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12324 A 12325 C II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 Zusatztagesordnungspunkt 2: Eidesleistung des Bundesministers für Ge- sundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . . Daniel Bahr, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Infektionsschutz- gesetzes und weiterer Gesetze (Drucksache 17/5708) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zehn- ten Gesetzes zur Änderung des Bundes- Immissionsschutzgesetzes – Privilegie- rung des von Kindertageseinrichtun- gen und Kinderspielplätzen ausgehen- den Kinderlärms (Drucksache 17/5709) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Rates zur Fest- legung eines Standpunkts der Union im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehe- malige jugoslawische Republik Maze- donien im Hinblick auf die Beteiligung der ehemaligen jugoslawischen Repu- blik Mazedonien im Rahmen von Arti- kel 4 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Euro- päischen Union für Grundrechte und die entsprechenden Modalitäten ein- schließlich Bestimmungen über die Mit- wirkung an den von der Agentur einge- leiteten Initiativen, über finanzielle Beiträge und Personal (Drucksache 17/5710) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine wirkungsvolle interparlamen- tarische Begleitung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon (Drucksache 17/5389) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: DDR-Altübersiedler und -Flücht- linge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI veran- kern (Drucksache 17/5516) . . . . . . . . . . . . . . . . 12327 A 12327 A 12327 A 12327 C 12327 C 12327 D 12328 A 12328 A f) Unterrichtung durch die deutsche Delega- tion in der Parlamentarischen Versamm- lung der OSZE: 19. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE vom 6. bis 10. Juli 2010 in Oslo, Norwegen (Drucksache 17/4453) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kampf gegen wis- senschaftliches Fehlverhalten aufneh- men – Verantwortung des Bundes für den Ruf des Forschungsstandortes Deutschland wahrnehmen (Drucksache 17/5758) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicher- heitspolitik der EU (Drucksache 17/5771) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 1. Dezember 2009 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan über die Förderung und den gegenseiti- gen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksachen 17/5264, 17/5564) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung gewerbe- rechtlicher Vorschriften (Drucksachen 17/5312, 17/5795) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen (Drucksache 17/5707) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12328 A 12328 B 12328 B 12328 C 12328 D 12329 A 12329 B 12330 A 12331 D 12333 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 III Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Große Anfrage der Abgeordneten Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Engagement- politik im Dialog mit der Bürgergesell- schaft (Drucksachen 17/3712, 17/5135) . . . . . . . . . . Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid (Drucksache 17/5750) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Katrin Kunert, Wolfgang Nešković, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Speicherung von Kohlendi- oxid in den Untergrund des Hoheitsge- bietes der Bundesrepublik Deutschland (CO2-Speicher-Verbotsgesetz – CSpVG) (Drucksache 17/5232) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Jens Koeppen, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und 12334 B 12335 C 12336 C 12337 C 12338 D 12339 D 12340 C 12341 D 12341 D 12343 C 12345 C 12346 C 12347 D 12349 B 12350 C 12351 D 12352 D 12353 D 12354 A der Fraktion der FDP: Umfassende Da- tenbasis für Nutzungsmöglichkeiten des Untergrunds schaffen (Drucksache 17/3056) . . . . . . . . . . . . . . . Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Raju Sharma, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Grund- rechte der Beschäftigten von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen stärken (Drucksache 17/5523) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer 12354 A 12354 B 12355 C 12357 A 12358 A 12359 A 12359 A 12359 C 12360 B 12361 C 12362 C 12362 D 12363 D 12364 B 12364 D 12365 C 12365 D 12367 A 12368 B 12368 D 12370 C 12371 C 12372 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gestaltung der zukünftigen europäi- schen Forschungsförderung der EU (2014–2020) – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Stärkung des Europäi- schen Forschungsraums – Die Vorberei- tung für das 8. Forschungsrahmenpro- gramm in die richtigen Bahnen lenken – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Europäische For- schungsförderung in den Dienst der so- zialen und ökologischen Erneuerung stellen (Drucksachen 17/5492, 17/5449, 17/5386, 17/5802) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nach Cancún – Europäische Union muss ihr Klimaschutzziel anheben (Drucksache 17/5231) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu einem globalen Klimaschutzab- kommen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Internationaler Klimaschutz vor Cancún – Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Ziel 12373 C 12373 C 12374 D 12376 C 12377 C 12378 D 12380 A 12381 B 12382 B 12384 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU- Klimaschutzziel erhöhen (Drucksachen 17/3998, 17/4016, 17/4529, 17/5402) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäisches Klimaschutz- ziel für 2020 anheben (Drucksachen 17/2485, 17/4069) . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung: Europäi- sche Nachhaltigkeitsstrategie (Drucksache 17/5295) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Neuen „Krip- pengipfel“ einberufen – Ausbau der früh- kindlichen Bildung und Betreuung voranbringen (Drucksache 17/5518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12384 C 12384 D 12384 D 12386 B 12387 C 12388 C 12389 C 12390 C 12390 D 12391 D 12393 B 12394 B 12395 A 12396 A 12396 A 12397 D 12399 C 12400 C 12401 C 12401 D 12402 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 V Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeit- nehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes (Drucksache 17/5761) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes (Drucksache 17/5521) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bun- desversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften (Drucksachen 17/5311, 17/5793) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/5796) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Kai Gehring, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung und Entschädi- gung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten (Drucksache 17/4042) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12403 D 12403 D 12405 A 12407 A 12407 D 12408 B 12408 D 12409 C 12411 A 12411 B 12412 A 12413 D 12415 A 12415 D 12415 D 12416 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Zu dem Vorschlag für eine Verord- nung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der technischen Vorschriften für Überweisungen und Last- schriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 vom 16. De- zember 2010 – KOM(2010) 775 endg. Europäischen Zahlungsverkehr bürger- freundlich gestalten (Drucksache 17/5768) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Verein- fachung der Bedingungen für die innerge- meinschaftliche Verbringung von Verteidi- gungsgütern (Drucksachen 17/5262, 17/5794) . . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut – Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der „Global Health Governance“ stär- ken (Drucksachen 17/5486, 17/5800) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammen- arbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Dr. Harald Terpe, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: „Global Health Governance“ stärken – Gesundheitsver- sorgung in Entwicklungs- und Schwel- lenländern voranbringen (Drucksachen 17/3437, 17/5801) . . . . . . . in Verbindung mit 12416 B 12416 C 12416 D 12417 D 12418 D 12419 C 12420 A 12421 A 12421 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai 1959 kündigen – Für eine unabhängige und effektive WHO (Drucksache 17/5769) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Situation der Sinti und Roma in Europa verbessern (Drucksache 17/5767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Staatsminister für Ostdeutschland bestellen (Drucksache 17/5522) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU) . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schiff- fahrtsverwaltung reformieren (Drucksache 17/5056) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der 12421 B 12421 C 12421 D 12422 D 12423 D 12424 C 12425 B 12426 B 12426 C 12427 C 12428 A 12429 B 12430 A 12430 C Fraktion DIE LINKE: Kein Personalab- bau bei der Wasser- und Schifffahrts- verwaltung – Aufgaben an ökologischer Flusspolitik ausrichten (Drucksache 17/5548) . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Jan van Aken, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschen- rechte in Deutschland schützen, respektie- ren und gewährleisten (Drucksache 17/5390) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einsatz von Nanosilber in ver- brauchernahen Produkten zum Schutz von Mensch und Umwelt stoppen (Drucksache 17/3689) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12430 D 12431 A 12431 D 12432 D 12434 A 12434 D 12435 D 12436 D 12437 A 12437 A 12438 D 12439 A 12440 A 12441 B 12441 C 12442 A 12443 A 12444 C 12445 C 12446 B 12447 C 12449 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 VII Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl der Mit- glieder des Parlamentarischen Kontrollgre- miums gemäß Art. 45 d des Grundgesetzes teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 3) Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Veronika Bellmann (CDU/CSU) zur Abstim- mung über den Entschließungsantrag zu der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portu- gals (Zusatztagesordnungspunkt 1) . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alexander Funk, Dr. Peter Gauweiler, Manfred Kolbe, Klaus-Peter Willsch und Christian Hirte (alle CDU/CSU) zur Abstim- mung über den Entschließungsantrag zu der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portu- gals (Zusatztagesordnungspunkt 1) . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frank Schäffler, Jens Ackermann und Dr. h. c. Jürgen Koppelin (alle FDP) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag zu der verein- barten Debatte zum Hilfsantrag Portugals (Zusatztagesordnungspunkt 1) . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Unterrichtung: Europäische Nachhaltigkeits- strategie (Tagesordnungspunkt 10) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Antrag: Nach Cancún – Europäische Union muss ihr Klimaschutzziel anheben – Beschlussempfehlung und Bericht: – Antrag: Vor Cancún – Mit Glaubwür- digkeit zu einem globalen Klima- schutzabkommen – Antrag: Internationaler Klimaschutz vor Cancún – Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Ziel – Antrag: EU-Klimaschutzziel erhöhen 12450 A 12452 A 12453 B 12454 A 12454 C – Beschlussempfehlung und Bericht: Euro- päisches Klimaschutzziel für 2020 anhe- ben (Tagesordnungspunkt 11 a bis c) Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes (Tages- ordnungspunkt 12) Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Neuen „Krippengipfel“ einberufen – Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreu- ung voranbringen (Tagesordnungspunkt 13) Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rehabilitierung und Entschädi- gung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten (Ta- gesordnungspunkt 17) Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Ge- sundheit ist eine globales öffentliches Gut – Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der „Global Health Governance“ stärken 12456 A 12456 D 12458 A 12458 D 12459 C 12460 A 12460 C 12461 D 12462 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 – Beschlussempfehlung und Bericht: „Glo- bal Health Governance“ stärken – Ge- sundheitsversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern voranbringen – Antrag: Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai 1959 kündigen – Für eine unabhängige und effektive WHO (Tagesordnungspunkt 19 a und b, Zusatzta- gesordnungspunkt 6) Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften (Zusatztagesordnungspunkt 4) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zu dem Vorschlag für eine Ver- ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der technischen Vor- schriften für Überweisungen und Lastschrif- ten in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 vom 16. Dezember 2010 – KOM (2010) 775 endg. Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund- lich gestalten (Zusatztagesordnungspunkt 5) Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12463 A 12464 B 12465 C 12466 A 12466 C 12467 B 12468 A 12469 D 12470 B 12471 A 12471 C 12472 C 12473 D 12474 D 12475 D 12476 C Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12469 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12477 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12287 (A) (C) (D)(B) 108. Si Berlin, Donnerstag Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12449 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Ahrendt, Christian FDP 12.05.2011 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12.05.2011 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bögel, Claudia FDP 12.05.2011 Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12.05.2011 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 12.05.2011 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 12.05.2011 Dr. Danckert, Peter SPD 12.05.2011 Dött, Marie-Luise CDU/CSU 12.05.2011 Ernst, Klaus DIE LINKE 12.05.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 12.05.2011 Dr. Friedrich, (Hof) Hans-Peter CDU/CSU 12.05.2011 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 12.05.2011 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 12.05.2011 Gutting, Olav CDU/CSU 12.05.2011 Hardt, Jürgen CDU/CSU 12.05.2011 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12.05.2011 Dr. Höll, Barbara DIE LINKE 12.05.2011 Klimke, Jürgen CDU/CSU 12.05.2011 Korte, Jan DIE LINKE 12.05.2011 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 12.05.2011 Kramme, Anette SPD 12.05.2011 Leutert, Michael DIE LINKE 12.05.2011 Ludwig, Daniela CDU/CSU 12.05.2011 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 12.05.2011 Dr. Miersch, Matthias SPD 12.05.2011 Pau, Petra DIE LINKE 12.05.2011 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 12.05.2011 Schlecht, Michael DIE LINKE 12.05.2011 Schnurr, Christoph FDP 12.05.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 12.05.2011 Vogler, Kathrin DIE LINKE 12.05.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 12.05.2011 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 12.05.2011 12450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Anlage 2 der Mitglieder des Deuts Kontrollgremiums gemä CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Namensve chen Bundestages, die an de ß Art. 45 d des Grundgesetze Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers rzeichnis r Wahl der Mitglieder des Pa s teilgenommen haben (Tage Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble rlamentarischen sordnungspunkt 3) Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12451 (A) (C) (D)(B) Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Ullrich Meßmer Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen- Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Annette Groth Dr. Gregor Gysi Inge Höger Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Dr. Ilja Seifert Raju Sharma Dr. Petra Sitte 12452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) – Anteil Deutschlands 147 Milliarden Euro inklusive zu- sätzlicher Garantieermächtigungen –, die bereits wenige Tage nach dem Griechenlandpaket beschlossen wurden, Quelle der Hilfeleistung wenig Stringenz zu erkennen ist, wie soll es dann erst bei der Durchsetzung der belas- habe ich nicht zugestimmt, wegen schwerer rechtlicher ken enthalten. Wenn also der temporare nes Erachtens gegen geltende gilt das logischerweise auch Leistungen. Insofern bestim stimmungsverhalten aus dem vorherigen Gesetzen zum Eu Die Vorstellung, die prekä zelner Mitgliedstaaten der Eu liardengarantien und Kredite der Euro gestärkt werden, ha das Portugal-Hilfspaket wird finanzen nicht sanieren, sond Selbst die kurzfristige Ab tions- und Nervositätsdynam sondern mich der Stimme und ökonomischer Beden- Euro-Rettungsschirm mei- s EU-Recht verstößt, dann für alle daraus finanzierten mt sich mein jetziges Ab- Abstimmungsverhalten zu ro-Stabilitätsmechanismus. re finanzielle Situation ein- ro-Gruppe könne mit Mil- n abgewendet und dadurch lte ich für illusorisch. Auch die portugiesischen Staats- ern vielmehr schwächen. schwächung der Spekula- ik an den Finanzmärkten tenden Auflagen werden? Ei ten Reformkurses – dessen E nes Erachtens allesamt nicht auf Konsolidierung und W richtet, sondern lediglich po „Herunterschrumpfungsmaßn vorprogrammiert. Die bereit konzessionen und Streckung wohin die Reise gehen wird Nachforderungen in Griech dass die strikte Konditiona Schritt für Schritt verschwin Salbe, um die nationalen Parl zur Zustimmung für Hilfsp wird die Währungsunion ab union, und zwar nur, weil m gliedstaaten eine Umschuld cut für die Gläubiger mit alle Dabei ist das die einzig vernü n Aufweichen des verlang- inzelmaßnahmen sind mei- dual, also nicht gleichzeitig ettbewerbsfähigkeit ausge- litisch kaum durchsetzbare ahmen“ – ist schon jetzt s jetzt eingeräumten Zins- der Konsolidierung zeigt, . Nachverhandlungen und enland und Irland zeigen, lität der Hilfsprogramme den wird. Sie ist nur weiße amente der Mitgliedstaaten akete zu bewegen. Damit er endgültig zur Transfer- anche Regierung der Mit- ung/Restrukturierung/Hair- r Macht verhindern wollen. nftige Lösung und im Übri- Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Anna Klein-Schmeink Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Veronika Bellmann (CDU/ CSU) zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag zu der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portugals (Zusatztagesordnungs- punkt 1) Ich kann dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen. Den Griechenlandhilfen – Finanz- und Garantieum- fang für Deutschland 22 Milliarden Euro zuzüglich Zins- risiken – habe ich am 7. Mai 2010 nur zugestimmt, weil die Zeit für die Erarbeitung einer in den EU-Verträgen fehlenden Rechtsgrundlage für ein geordnetes Restruk- turierungsverfahren/Regeln für Staatsinsolvenzen an- geblich gefehlt hat. Den Stabilisierungs- und Gewährleistungsgesetzen Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch eine der- artige Ad-hoc-Politik langfristig mehr Vertrauen zerstört und keine echte Stabilisierung erzielt werden kann. Die Inanspruchnahme des Rettungsschirms durch Portugal ist ein weiterer Schritt von der Stabilitätsgemeinschaft der Euro-Zone hin zu einer Schulden-, Haftungs- und Transfergemeinschaft. Das ist ein weiterer Grund, dass sich an den Märkten auf Dauer kaum Vertrauen herstel- len lassen wird. Wenig vertrauenerweckend ist außerdem, dass es zu- mindest für die erste Tranche der Zahlungen aus dem Rettungsschirm keinen eindeutigen Adressaten gibt. Wenn es den Portugiesen wirklich ernst wäre, dann wür- den sie schon heute zusichern, dass unmittelbar nach der Wahl das neue Parlament/die neue Regierung in Sonder- sitzungen das Auflagenprogramm beschließt. Bisher gibt es aber nur recht vage Ankündigungen der verschiede- nen Parteien. Wenn also schon zur begünstigenden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12453 (A) (C) (D)(B) gen eine weit weniger die Währungsstabilität gefähr- dende Angelegenheit als ein Austritt von Staaten aus dem Euro-Raum. Er würde die Marktdisziplin der Euro- Staaten stärken, einen Neustart ermöglichen und der EU eine Transferunion weitestgehend ersparen. Insofern ist das, was wir mit dem Rettungsschirm und den Hilfspa- keten für einzelne Mitgliedstaaten machen, Insolvenz- verschleppung, an der ich mich nicht beteiligen möchte. Deshalb kann ich auch getrost bei meiner Überzeu- gung bleiben, die ich bereits im Zuge der Verabschie- dung des Griechenlandpakets geäußert habe, dass die privaten Gläubiger viel zu wenig am Rettungspaket be- teiligt wurden. Auch mit der heutigen Entscheidung hilft Deutsch- land seinen Konkurrenten am Kapitalmarkt, der die Hauptlast der Gewährleistung zu tragen hat, sich wieder billiger zu verschulden. Die europäische Schuldenblase wird weiter aufgeblasen. Der temporäre Rettungsschirm, alle Maßnahmen da- raus, sowie der permanente Rettungsschirm in der vor- liegenden Form sind die falsche Antwort auf die Krise, die keine des Euro ist, sondern eine Schulden- und Strukturkrise mancher Euro-Staaten. Es gibt Alternati- ven zu diesen angeblich „alternativlosen“ Notstands- maßnahmen; darin sehe ich mich mit an die 200 namhaf- ten Wissenschaftlern einig. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alexander Funk, Dr. Peter Gauweiler, Manfred Kolbe, Klaus-Peter Willsch und Christian Hirte (alle CDU/CSU) zur Ab- stimmung über den Entschließungsantrag zu der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portugals (Zusatztagesordnungspunkt 1) Mit der Zustimmung zu Kreditbürgschaften für Portu- gal in Höhe von 78 Milliarden Euro setzt die Bundesre- gierung ihren nach unserer festen Überzeugung falschen Weg des Umgangs mit der europäischen Staatsschulden- krise fort. In der logischen Konsequenz unserer Ablehnung der Bürgschaften für Griechenland und Irland, aber auch des EFSF insgesamt, und unserer massiven Bedenken gegen die Einrichtung eines dauerhaften Schuldentransferme- chanismus lehnen wir den Antrag der Bundesregierung hiermit ab. Die formaljuristischen und insbesondere makroökono- mischen Kritikpunkte, die vom Gros der deutschen Volks- wirtschaftslehre geteilt werden – angefangen von der Aus- hebelung des Bail-out-Verbotes bis hin zur Aussetzung markteigener Sanktionsmechanismen (steigende Zins- spreads, CDS-Anstieg) –, haben wir seit der Griechen- landbürgschaft im Mai 2010 immer wieder dargelegt. Indes übertrifft die Verschlimmerung der Schulden- krise in der europäischen Peripherie und die Geschwin- digkeit mit der sich die getroffenen Maßnahmen als wei- testgehend wirkungslos erweisen, selbst unsere Erwartungen vom Mai 2010: Während wir vor der Ent- scheidung stehen, Portugal Bürgschaften zu gewähren, wird schon von neuen „Stabilisierungsmaßnahmen“ für Griechenland gesprochen. Das Beispiel Griechenland mahnt uns, unsere Verant- wortung für die Interessen des deutschen Steuerzahlers wahrzunehmen und ökonomischen Sachverstand nicht zugunsten immer neuer Beschwörungen von sogenann- ter europäischer Solidarität auszublenden. Der Optimis- mus, mit dem die Anpassungsmaßnahmen in Griechen- land bei Gewährung der Bürgschaften als aussichtsreich und realisierbar dargestellt worden sind, ist bereits ein Jahr später verflogen. Dies wird sich nach unserer Überzeugung auch in Portugal wiederholen. Wie könnte es auch anders sein? Ein weiterer Kapitaltransfer konterkariert gerade jene Konsolidierungsbemühungen und Anstrengungen zur Absenkung des Leistungsbilanzdefizits, die zu fördern er vorgibt. Die betroffenen Länder verlieren Zeit für ihre notwendige ökonomische Restrukturierung; der angebli- che Zeitgewinn erweist sich als teuer erkauft durch Bürgschaften, für die unsere Bürger in Haftung genom- men werden. Bei den Hilfsmaßnahmen für Portugal zeigt sich ein ähnlicher Optimismus in neuem Gewand: Selbst unter den – sehr günstigen – Basisdaten des vorliegenden Konzeptes wird die Schuldenquote Portugals von jetzt 93 Prozent des BIP auf 108,6 Prozent im Jahr 2013 an- steigen. Als Zielprognose für 2040 werden 75 Prozent erlaubt – immerhin noch 15 Prozentpunkte über der zu- lässigen Höchstgrenze des Stabilitätspaktes! Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen portugiesi- schen Regierungskrise und der völlig offenen Positionie- rung der portugiesischen Regierung nach den Wahlen zweifeln wir nicht nur an, dass diese Zielmarken zu einer Rückgewinnung des verlorenen Marktvertrauens und ei- ner Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit führen könnten, sondern auch, dass ihre Erreichung realistisch ist. Es mag uns Warnung für alle Verhandlungen im Zu- sammenhang mit Bürgschaftsübernahmen sein: Die por- tugiesische Regierung erläutert selbst freimütig und of- fen, welche Kürzungen und Privatisierungen bis hin zur Veräußerung der hohen Goldbestände in den Verhand- lungen vermieden werden konnten. Für uns und für unsere Verantwortung gegenüber Deutschland und seinen Bürgern macht es aber einmal mehr deutlich, dass die Bewältigung des Schuldendesas- ters der Euro-Peripherie durch Kreditbürgschaften öko- nomisch fragwürdig und haushälterisch mit hohen Risi- ken für unser Land verbunden ist. 12454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frank Schäffler, Jens Ackermann und Dr. h. c. Jürgen Koppelin (alle FDP) zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag zu der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portugals (Zusatztagesordnungs- punkt 1) Nach denen an Griechenland und Irland soll nun ein weiterer Milliardenbetrag fließen. Die Portugiesische Republik hat einen Antrag auf finanzielle Unterstützung im Rahmen des Europäischen Finanzstabilisierungsme- chanismus gestellt. Von der angefragten Kreditsumme in Höhe 78 Milliarden Euro werden 26 Milliarden Euro durch die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, zur Verfügung gestellt. Die Kredite sind dabei an Auflagen geknüpft. Portugal wird einem Anpassungs- programm unterworfen, das von der EU-Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der EZB zu- sammen mit Portugal erstellt worden ist. Portugal soll seinen Haushalt sanieren und das überbordende Defizit senken. Zwei Drittel des Defizitabbaus sollen aus der Verringerung von Ausgaben, ein Drittel aus Steuererhö- hungen stammen. Man hofft also, dass Portugal seine Rezession trotz gleichzeitiger Steuererhöhungen über- windet. Steuererhöhungen in einer Krise waren noch nie ein Erfolgsrezept für einen Aufschwung. Im Gegenteil verlängern sie die Rezession. Die Wahrscheinlichkeit, dass Portugal auf diese Weise zeitplangerecht saniert wird, ist gering. Der neuerliche Finanzbedarf Griechen- lands belegt das. Überdies halten wir uns nicht einmal an unsere eige- nen Gesetze. § 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus setzt voraus, dass die Über- nahme von Gewährleistungen nur erfolgen darf, „um die Gefährdung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mit- gliedstaates des Euro-Währungsgebietes abzuwenden.“ Portugal ist überschuldet, nicht zahlungsunfähig! Portu- gal steckt nicht in einer Liquiditätskrise, sondern in einer Überschuldungskrise! Auf eine Überschuldungskrise der Staaten berufen sich fast alle namhaften Ökonomen, weil sie nur so das institutionelle Scheitern des Euro be- streiten können. Sie behaupten, statt einer Euro-Krise hätten wir eine Überschuldungskrise der Staaten, die ganz leicht in den Griff zu bekommen sei, wenn sich die Regierungen nur zu einem harten Sparprogramm durch- ringen könnten. In Wahrheit hängen Überschuldungskrise und Euro- Krise zusammen. Unter dem Regime eines Banksys- tems, das Banken ein die Einlagenhöhe übersteigendes Kreditvergabevolumen einräumt, gehen der verschwen- derische Staat und die gewinnorientierten Banken eine sich gegenseitig befruchtende Verbindung ein. Die Ge- schäftsbanken kaufen Staatsanleihen mit Mitteln, die sie sich bei der Zentralbank quasi zum Nulltarif besorgen können. Die Staaten nehmen dieses Geld von den Ban- ken gern an. Sie finanzieren damit die vielfältigen Wün- sche der Interessengruppen. Das wäre nicht möglich, wenn die Zentralbanken in Kollaboration mit den Geschäftsbanken nicht Geld aus dem Nichts schöpfen könnten. Die Schöpfung dieses Scheingelds zur Subven- tionierung Portugals wird bei uns selbstverständlich zu stärkerer Inflation führen. Die Verbraucher werden deut- lich merken, dass sie mit ihren Einkommen weniger kaufen können als zuvor. Die kalte Progression wird ihr Übriges tun. Während wir neue Rekorde bei den Steuer- einnahmen feiern, bezahlt die große Mehrheit aus der Schicht der Bezieher mittlerer Einkommen die Zeche. Die Anleihegläubiger werden auf Kosten der Steuer- zahler gerettet. Die Steuerzahler müssen bluten, während im Gegenzug die institutionellen Anleger, die auf portu- giesische Staatsanleihen gesetzt haben, verschont wer- den. Niemand soll dem Antrag zustimmen und sich spä- ter über die Steuerlast der Bürger, über ausufernde Staatsverschuldung und Inflation beklagen. Die Portu- gal-Subventionierung und ihre Konsequenzen für Staats- verschuldung und Inflation ist nur möglich durch das Teilreservesystem. Dass dieses System kein Perpetuum mobile ist, haben erst Griechenland, dann Irland und nun Portugal schmerzlich erfahren müssen. Es werden noch weitere Staaten folgen, wenn wir dem jetzt nicht Einhalt gebieten. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Unterrichtung: Europäische Nachhaltigkeitsstrategie (Tagesordnungspunkt 10) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Seit fast zwei Wochen genießen unsere mittel- und osteuropäi- schen Nachbarn nun endlich eine entscheidende Freiheit: die Freiheit, dort in der Europäischen Union zu arbeiten, wo sie es selbst wollen – auch bei uns. Es ist kein Ruh- mesblatt für die gesamte deutsche Politik gewesen, dass wir zusammen mit Österreich die Einzigen gewesen sind, die sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um dies hinauszuzögern. Jetzt können endlich alle Men- schen aus den am 1. Januar 2004 beigetretenen EU-Mit- gliedstaaten auch in Deutschland nach einer Stelle su- chen, wenn sie es denn wollen. Ich möchte das noch einmal festhalten, weil es mir persönlich wichtig ist: Alle diejenigen, die Ängste geschürt und nebulös vor ei- ner Gefahr aus dem Osten gewarnt haben, sollten sich schämen. Das war unanständig! Gut, dass damit jetzt Schluss ist. Freizügigkeit ist eine der vier Grundfreihei- ten der Europäischen Union, wir sollten sie achten und uns darüber freuen, dass wir sie haben. Wir als FDP tun das vorbehaltlos. Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Chance und kein Grund, um Panik zu verbreiten. Wir sollten sie als solche sehen und nicht Gefahren herbeifabulieren. Es dürfen jetzt mehr Menschen selbst entscheiden, wo und wie sie ihr Leben verbringen wollen, und wir als Politi- ker sollten den Menschen diesbezüglich vertrauen, an- statt unnötige Hürden aufzubauen. Als Europapartei be- grüßt die FDP die Einigung des Kontinents, und wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12455 (A) (C) (D)(B) begrüßen auch die fleißigen polnischen, tschechischen und lettischen Menschen oder woher aus der Europäi- schen Union sie auch kommen wollen, um hier zu arbei- ten. Weil das ein so wichtiges Thema ist, zitiere ich noch einmal das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- schung, also das IAB, das in seiner Stellungnahme für die Anhörung wirklich eindeutig gewesen ist. Das IAB sagt klipp und klar: „Mit gravierenden negativen Aus- wirkungen auf Arbeitsmarkt und Gesamtwirtschaft ist demnach nicht zu rechnen.“ Das wusste auch jeder, der sich vorher ernsthaft mit dem Thema beschäftigt hatte. Angesichts dessen sind Ihre Panikanträge, liebe Kolle- ginnen und Kollegen von der SPD und von der Linken, nichts weiter als ein unrühmlicher Versuch, auf einer Angstwelle mitzuschwimmen, die Sie teilweise selbst zu verantworten haben. Wenn wir zum Beispiel nach Groß- britannien schauen, wo die Freizügigkeit bereits seit 2004 gilt, kann man überhaupt nicht von Arbeitsmarkt- problemen reden. Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit dem Mindestlohnargument, denn für unseren nörd- lichen Nachbarn, für Dänemark, gilt genau dasselbe, und einen gesetzlichen Mindestlohn haben die nicht. Soziale Verwerfungen? Fehlanzeige! Apropos Anhörung: Die Sachverständigen waren ja ausgesprochen klar in ihren Aussagen. Leider hat die Opposition offensichtlich nicht zugehört. Sie hätten et- was lernen können über die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das IAB geht insgesamt von einem positiven Effekt für unsere Wirtschaft aus. Die Geschichte der echten Ar- beitsmigration zeigt uns, dass Zuwanderer aus den neuen Mitgliedstaaten vor allem jung, gut ausgebildet und hochmotiviert sein dürften. Genau solche Menschen brauchen wir in Deutschland, gerade wegen des Fach- kräftemangels. Hierbei rechnet das IAB mit einer Netto- zuwanderung zwischen 100 000 und 140 000 jährlich. Das lindert den Fachkräftemangel ein bisschen, beseitigt ihn aber keinesfalls. Vor allem wird diese Zahl aber nicht unseren Arbeitsmarkt beschädigen. Abgesehen davon sind wesentliche Teile Ihrer An- träge inzwischen vollkommen überholt. Bei der Zeitar- beit hat die Bundesregierung kühlen Kopf bewiesen und vorgesorgt. Ihre Hauruckmethoden hätten allen gescha- det und keinem genützt. Dass Sie allen Ernstes die Ar- beitnehmerfreizügigkeit zum Anlass genommen haben, um Ihrem üblichen Zerstörungswahn gegenüber der Zeitarbeitsbranche freien Lauf zu lassen, ist wirklich un- angemessen. In dieser Branche sind heute fast eine Million Men- schen beschäftigt. Die Zeitarbeit hat wie keine andere Branche Menschen eine Perspektive auf dem Arbeits- markt eröffnet. Die konjunkturelle Entwicklung wird sich im Übrigen jetzt wieder abflachen. Ich vermute, dass sich die Beschäftigtenzahlen in der Branche stabili- sieren werden. Schon jetzt hören wir ja davon, dass es die Zeitarbeit schwer hat, neue Mitarbeiter zu finden. Kurzum, hier tritt genau das ein, was wir immer voraus- gesagt hatten. Und das, was Sie immer vorausgesagt hat- ten, tritt genau nicht ein. Ich bin der festen Überzeugung, dass Zeitarbeit nicht zur Abwicklung von Stammbelegschaften führen darf – das tut sie aber auch nicht. Beim Thema Equal Pay wird ja schon dort an einer Lösung gearbeitet, wo dies auch gemacht werden soll, nämlich in der Branche selbst. Auch da bin ich optimistisch, dass wir bald einen guten Kompromiss sehen werden. Ich halte dies für eine ver- nünftige und liberale Lösung. Wir waren auf die Arbeit- nehmerfreizügigkeit gut vorbereitet. Wirklich witzlos ist dann schließlich Ihre Verknüpfung der Arbeitnehmer- freizügigkeit mit der Mindestlohnfrage. Das ist einfach ein völlig herbeikonstruierter Zusammenhang. Wir ha- ben ein gut funktionierendes Tarifsystem. Das zeigt sich ja auch gerade dort, wo besonders niedrige Löhne ge- zahlt werden und auch keine höheren zu erwirtschaften sind, beispielsweise bei den Gebäudereinigern. Aber das wissen Sie ja besser als ich. Liebe Kolleginnen und Kol- legen von der SPD, ihre neueste Auftragsstudie zum Thema war ja wieder einmal eine Offenbarung. Eine neue Runde im fröhlichen Mindestlohndreisatz. Be- schäftigungseffekte lieber einmal ausgespart, wer will sich dazu schon Gedanken machen. Ich sage Ihnen: Das ist Arbeitsmarktpolitik aus der linken Mottenkiste – kommen Sie lieber mal in der Gegenwart an. Bei uns sieht man jetzt, was im Endeffekt rauskommen kann: neue Chancen, weniger Bürokratie und vernünftige Maßnahmen für den Arbeitsmarkt, da, wo sie notwendig sind. Aber: Bis zum Jahr 2025 werden uns fünf bis sechs Millionen Erwerbstätige fehlen. Schon heute suchen Fir- men händeringend nach Fachkräften, vor allem in mathe- matischen, technischen sowie naturwissenschaftlichen Berufen. Und ich sage Ihnen: Ein fehlender Ingenieur im Betrieb gefährdet weitere Arbeitsplätze. Deswegen müs- sen wir alle inländischen Potenziale ausschöpfen und bei der Steuerung der Zuwanderung besser werden. Wir brauchen mehr Zuwanderung, sonst kommen wir ein- fach in Teufels Küche. Nur wenn wir gleichzeitig im In- land wie im Ausland nach qualifizierten Fachkräften su- chen, werden wir die entsprechende Lücke schließen können. Zum Schluss möchte ich noch mal auf die Chancen der Freizügigkeit zurückkommen. Durch die Europäi- sche Union profitiert Deutschland immens. Wir können aber nicht auf der einen Seite Nutznießer sein wollen und uns auf der anderen Seite abschotten. Genau diesen Geist atmen aber Ihre Anträge, das hat für mich auch die Diskussion im Ausschuss gezeigt. Deswegen bleibt es auch dabei: Wir lehnen Ihre Anträge ab. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Antrag: Nach Cancún – Europäische Union muss ihr Klimaschutzziel anheben – Beschlussempfehlung und Bericht: – Antrag: Vor Cancún – Mit Glaubwürdig- keit zu einem globalen Klimaschutzab- kommen 12456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) – Antrag: Internationaler Klimaschutz vor Cancún – Mit unterschiedlichen Ge- schwindigkeiten zum Ziel – Antrag: EU-Klimaschutzziel erhöhen – Beschlussempfehlung und Bericht: Europäi- sches Klimaschutzziel für 2020 anheben (Tagesordnungspunkt 11 a bis c) Michael Kauch (FDP): Deutschland ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Wir als christlich-liberale Koalition haben Klimaschutzziele beschlossen, wie sie noch keine Bundesregierung zuvor beschlossen hat: 40 Prozent unkonditioniert bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis 2050. Das ist international vorbildlich. Dies ist auch die Grundlage für den Weg in das Zeitalter der erneuer- baren Energien. Diesen gehen wir realistisch, seriös und fachlich fundiert an. Der schnellere Ausstieg aus der Kernkraft darf nicht zu einer Aufweichung unserer Kli- maschutzziele führen. Die globale Energiewende ist bis 2050 möglich. Sie ist auch wirtschaftlich machbar, wenn wir sie richtig an- gehen. Allerdings sind bis dahin noch viele Hausaufga- ben zu machen, denn nur wenn alle an einem Strang zie- hen und ihr Möglichstes tun, wird es gelingen, neben dem Ausstieg aus der Kernkraft den Anteil an fossilen Brennstoffen zur Energiegewinnung massiv zu verrin- gern. Deutschland hat sich verpflichtet, eine 40-prozentige CO2-Minderung bis 2020 und eine Minderung um 80 bis 95 Prozent bis 2050 zu erreichen, national und einseitig, ohne internationale Zugeständnisse. Das ist ein Signal der Glaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegen- über den Schwellen- und Entwicklungsländern. Aber klar ist auch: Wir brauchen im internationalen Klimaschutz Mitstreiter; denn allein national werden wir nicht die Erfolge erzielen, die wir erzielen müssen. „2 Grad“ als Perspektive werden wir nur dann schaffen, wenn wir andere Länder – die großen Emittenten dieser Welt – ins Boot holen. Deutschland allein kann nur einen Akzent setzen. Die anderen europäischen Staaten sind gefordert, ein vergleichbares Signal zu geben. Die Einigung von Cancún war ein Teilerfolg. Wir ha- ben eine Einigung erreicht, nach der die Industriestaaten bis 2020 eine Minderung der CO2-Emissionen um 25 bis 40 Prozent erreichen sollen. Wenn wir den Schwellen- und Entwicklungsländern signalisieren wollen, dass der Beschluss von Cancún mehr als schöne Worte bedeutet, und wenn wir sie zu weiterer Kooperation bewegen wol- len, dann muss sich die EU bewegen. Sie sollte ihr bis- heriges Ziel der Verringerung der CO2-Emissionen um 20 Prozent noch in diesem Jahr anheben. Allerdings wäre ein einseitiges Anheben auf 30 Prozent ein zu gro- ßer Schritt, denn dann würde die EU ihre Verhandlungs- position schon aufgeben, obwohl Cancún eben nur ein Teilerfolg war. Der Mittelweg, den die Kommission vor- sieht, erscheint mir eine sinnvolle Größenordnung vor- zunehmen. Außerdem sprechen auch binnenwirtschaftliche Gründe für Bewegung beim 20-Prozent-Ziel. Bliebe es beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim 40-Prozent-Ziel Deutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig die Sektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden, die Emissionseinsparungen erbringen; denn der Emis- sionshandel ist europäisch bestimmt, die anderen Sekto- ren national. Am Ende würden vor allem die privaten Haushalte, das kleine Gewerbe und die Verkehrswirt- schaft die Lasten zu schultern haben. Wir sagen: Wir brauchen eine Balance der Anstrengungen von Industrie und privaten Haushalten. Dabei müssen Produktionsverlagerungen in energiein- tensiven Branchen vermieden werden. Es ist wichtig, hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Produktionsver- lagerungen in Länder, die es mit dem Klimaschutz nicht ernst meinen, helfen niemandem, der Umwelt nicht und schon gar nicht den Arbeitsplätzen in Deutschland. Des- halb müssen wir ambitionierte Klimaschutzziele gegebe- nenfalls mit Kompensationen für diejenigen energiein- tensiven Unternehmen verbinden, die im internationalen Wettbewerb stehen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgeset- zes und des Schwarzarbeitsbekämfungsgeset- zes (Tagesordnungspunkt 12) Gabriele Molitor (FDP): Der Arbeitsmarkt in Deutschland hat sich nach der Wirtschaftskrise exzellent entwickelt. Laut Statistischem Bundesamt vom 28. April 2011 waren im März 2,73 Millionen Menschen erwerbs- los; das sind 6,5 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr sind eine halbe Million Menschen mehr erwerbstätig. Das ist eine gute Nachricht. Der Zeitarbeitsbranche gehen die Mitarbeiter aus. Das belegt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutsch- land dazu führt, dass Menschen direkt in den Unterneh- men Anstellung finden. Dieses Faktum zeigt auch, dass die Zeitarbeit für Unternehmen die Möglichkeit bietet, in einer noch nicht stabilen guten Auftragslage Beschäf- tigte zu gewinnen. Bei einer möglichen Abschwächung der Geschäftslage stehen dann die Zeitarbeitsunterneh- men in der Verantwortung für die Mitarbeiter. Im Fe- bruar 2011 waren über 870 000 Arbeitnehmer in der Zeitarbeit tätig, mit steigender Tendenz – IW- Zeitarbeitsindex. Will die Zeitarbeit die Nachfrage wei- ter befriedigen, so muss sie noch stärker dahin gehend aktiv werden, bislang arbeitslose Menschen zu beschäf- tigen. Beide Seiten können so voneinander profitieren. Menschen, die schon lange Arbeit suchen, aber keine finden, haben nun die Chance, wieder im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Unternehmen der Zeitarbeit können ihre personellen Engpässe ausgleichen, indem sie das ungenutzte, aber vorhandene Potenzial an Arbeitskräften Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12457 (A) (C) (D)(B) ausschöpfen. Darüber hinaus wird aber in Deutschland in den kommenden Jahren auch der Fachkräftemangel ein wirkliches Problem auf dem Arbeitsmarkt sein. Fachkräfte aus dem Ausland werden dringend ge- braucht. Das ist nichts Neues. Diese Aussage hört man in den letzten Monaten immer häufiger. Dies sagte gestern auch der Verbandspräsident Volker Enkerts vom Bun- desarbeitgeberverband der Personaldienstleister gegen- über der Zeitung Die Welt vom 11. Mai 2011. Um dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel der Gesellschaft entgegenzuwirken, gibt es zwei Möglichkeiten, die beide genutzt werden müssen: Zum einen muss das Potenzial von Menschen im eigenen Land und zum anderen aus dem Ausland besser genutzt werden. Die Politik hat das Thema aufgegriffen: Die Bundesregierung hat ein Konzeptpapier vorgelegt zur „Fachkräftesicherung“, eine neue parteiübergreifende 13-köpfige Kommission will bis zum Herbst Lösungs- vorschläge erarbeiten. Das Konzeptpapier „Fachkräftesicherung“ der Bun- desregierung stellt fest, dass das Potenzial an Erwerbs- personen, also an Menschen, die arbeiten können, bis 2025 um 6,5 Millionen sinken wird. Ungenutzte Reser- ven möglicher Arbeitskräfte müssen jetzt also schleu- nigst aktiviert werden. Hierzu gehören: – junge Leute ohne Schulabschluss – junge Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbil- dung – in Teilzeit arbeitende Frauen und Mütter – Menschen mit Behinderung Insgesamt könnten 3,8 Millionen zusätzliche Arbeits- kräfte mobilisiert werden. Wir sind auf Fachkräfte aus dem Ausland angewie- sen. Wenn die Wirtschaft sich in den kommenden Jahren weiterhin so positiv entwickelt, wie es momentan der Fall ist, können wir den Bedarf an Arbeitskräften nicht allein mit inländischen Bewerberinnen und Bewerbern decken. Wir Liberalen haben immer betont, dass wir nicht erwarten, dass sich die volle Arbeitnehmerfreizü- gigkeit negativ auf den deutschen Arbeitsmarkt auswir- ken wird. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Zahl ausländischer Zeitarbeitnehmer in Deutschland überschaubar bleiben wird. Laut einer vor zwei Wochen vorgelegten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, IAB, – zum Stichtag 1. Mai 2011 – über die in Deutschland gültige Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle EU-Staaten wird davon ausgegangen, dass zunächst jährlich zwi- schen 100 000 und 140 000 Menschen aus den Beitritts- ländern zusätzlich nach Deutschland kommen werden. In den folgenden Jahren sinken diese Zahlen. Für das Jahr 2020 wird prognostiziert, dass bis zu 900 000 zu- sätzliche Migranten aus den acht Beitrittsländern in Deutschland leben. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einführung einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit liegen bereits vor. Im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, ist vor- gesehen, dass das Bundesministerium für Arbeit und So- ziales durch Erlass einer Rechtsverordnung einen tarif- vertraglichen Mindestlohn festsetzen kann. Wir gehen davon aus, dass die Verordnung zum Juli 2011 in Kraft treten kann. Die Höhe der Lohnuntergrenze wird sich nach einem gemeinsamen Vorschlag der in der Zeitarbeit geltenden tariflichen Mindestlöhne richten. Um zu gewährleisten, dass die geltenden Lohnunter- grenzen auch eingehalten werden, sind Kontrollen nötig, die in die Zuständigkeit der Zollverwaltung fallen. Im Ersten Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlas- sungsgesetzes konnten diese Fragen nicht mitgeregelt werden, da die vereinbarte sinngemäße Übertragung der Kontroll- und Sanktionsvorschriften vom Arbeitnehmer- Entsendegesetz in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einer sorgfältigen Prüfung bedurfte, die das Gesetzge- bungsverfahren zur Ermöglichung einer Lohnunter- grenze unnötig verzögert hätte. Der vorliegende Gesetzentwurf überträgt nun die be- währten Kontroll- und Sanktionsmechanismen aus dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz in das Arbeitnehmerüber- lassungsgesetz. Damit unterstützt die FDP die im Ver- mittlungsverfahren zu den Hartz-IV-Regelsätzen getrof- fenen Vereinbarungen zur Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit. Stimmt der Bundesrat dem Gesetzentwurf zu, wird das Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig vor Erlass der Verordnung für die Lohnuntergrenze in der Zeitar- beit in Kraft treten. Wichtig festzuhalten ist mir der folgende Punkt: Mit der Einführung einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit konnten wir der Sorge der Tarifpartner in der Zeitarbeit, von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften entge- genwirken, dass durch ein Überangebot von Arbeitsu- chenden aus dem europäischen Ausland Lohndruck ent- steht und die Zeitarbeit erneut in Verruf gerät. Das Verfahren zur Festlegung der Lohnuntergrenze ist im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelt, und zwar auf der Grundlage der in der Zeitarbeit geltenden unters- ten tarifvertraglichen Entgelte. Für die deutschen Be- schäftigten in der Zeitarbeit wird sich dadurch kaum et- was ändern, denn bereits heute gelten die Tarifverträge in der Zeitarbeit für fast alle Beschäftigten der Branche. Entscheidend ist, dass ausländische Tarifverträge vom Grundsatz des Equal Pay nur bis zu der in Deutschland geltenden Lohnuntergrenze abweichen können. Lohn- dumping kann somit vermieden werden. Zeitarbeit ist ein flexibles Instrument am Arbeits- markt. Wir Liberale wollen dieses Instrument erhalten und stärken, weil es gerade geringqualifizierten Arbeits- kräften und Langzeitarbeitslosen zugutekommt. Die christlich-liberale Koalition hat nunmehr die ge- setzlichen Voraussetzungen geschaffen, um missbräuch- lichen Entwicklungen in der Zeitarbeit entgegenzutreten. Dies ist der Fall, wenn Zeitarbeit zum Zwecke der Lohn- differenzierung nach unten eingesetzt wird und Stamm- belegschaften systematisch durch Zeitarbeitskräfte ersetzt werden. Mit der Lohnuntergrenze werden eventu- elle Missbräuche durch Zeitarbeitskräfte, die aus dem Ausland nach Deutschland entsendet werden, verhindert. Zudem wollen wir abwarten, ob sich die Tarifpartner auch auf eine Regelung zur Geltung des Equal Pay ver- ständigen können. 12458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Ich bin überzeugt, dass all diese Maßnahmen dazu beitragen, dass die Zeitarbeit ihre eigentliche Aufgabe als Brücke in Beschäftigung noch besser wahrnehmen kann als bisher. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Neuen „Krippengip- fel“ einberufen – Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung voranbringen (Tages- ordnungspunkt 13) Miriam Gruß (FDP): Sie wissen ja: Ich habe selbst schon mehrfach einen neuen Krippengipfel gefordert. Da der letzte Krippengipfel vier Jahre zurückliegt, müssen sich Bund und Länder unbedingt wieder zusam- mensetzen. Sobald der Rechtsanspruch auf einen Krip- penplatz greift, soll schließlich alles reibungslos funktio- nieren. Sie sprechen also ein ganz richtiges Anliegen an – aber die Schwerpunkte müssen anders liegen, und des- halb lehnen wir Ihren Antrag ab. Seit unserem Antrag vom letzten November „Faire Teilhabechancen von Anfang an“ hat sich einiges be- wegt. Das Familienministerium wird demnächst aktuelle Zahlen veröffentlichen. Im Rahmen des Investitionspro- gramms „Kinderbetreuungsfinanzierung“ gibt der Bund bis 2013 gut 2,15 Milliarden Euro aus, um Investitionen der Länder und Gemeinden in Tageseinrichtungen und Tagespflege für Kinder unter drei Jahren zu finanzieren. Das fruchtet – wir werden bis 2013 den Mittelwert von 35 Prozent Betreuungsquote erreichen. Der quantitative Ausbau kommt voran. Der Fachkräftemangel ist ein anderer Punkt. Wir haben darauf in unserem Antrag selbst aufmerksam gemacht: Bis 2013 werden rund 35 000 bis 40 000 Vollzeitstellen in Tageseinrichtungen und rund 25 000 Tagespflegeperso- nen benötigt. Da ein Großteil des pädagogischen Perso- nals über 50 Jahre alt ist, wird der Mangel bald sogar noch größer sein. Ich frage mich nur: Wieso nehmen Sie als SPD das erst jetzt in den Blick? Wieso haben Sie die letzte Regierungsbeteiligung nicht dazu genutzt, die Weichen zu stellen? Qualifiziertes Personal fällt schließlich nicht vom Himmel, sondern wird über Jahre hinweg ausgebildet. Erst die christlich-liberale Koalition hat sich dieser Pro- blematik angenommen. Wir sind auch die ersten, die die Attraktivität der Erziehungsberufe für Männer steigern wollen. Schwarz-Gelb hat die Programme „MEHR Män- ner in Kitas“ und den Boys’ Day ins Leben gerufen. Vor allem in den Köpfen muss sich etwas ändern – und das dauert. Ihre letzte Regierung hat da wertvolle Zeit ver- schenkt, um den Mentalitätswandel einzuleiten. Leider wird aus Ihrem Antrag deutlich, dass Sie mal wieder den typischen SPD-Ansatz wählen: Mehr Staat! Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und staatli- che Betreuungsangebote können aber nicht der einzige Weg sein, um die Betreuung auszubauen. Ich lehne das nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus ideellen Gründen ab. Wichtig ist ein vielseitiges Betreuungsange- bot, also ein Mix aus staatlichen, privaten und gewerbli- chen Anbietern. Jede Familie soll selbst entscheiden können, welche Art von Betreuung sie wählt. Eine Ver- staatlichung der Erziehung lehnen wir Liberalen in aller Deutlichkeit ab! Was wir wollen, ist Flexibilität in der Lebensplanung. Die Großfamilie aus dem Allgäu braucht ein anderes Betreuungsangebot als die Berliner Patchworkfamilie, und dafür müssen wir passgenaue Lö- sungen finden. Die Betreuungsquote von 35 Prozent ist im Übrigen ja von vornherein als Mittelwert angesetzt gewesen. Das müssten Sie besser wissen als ich, schließlich wurde es unter Ihrer Regierungsbeteiligung beschlossen. Natür- lich ist der Bedarf in Ballungsgebieten höher als in länd- lichen Gebieten, wo Betreuungsangebote traditionell weniger in Anspruch genommen werden. Auch der Un- terschied zwischen Ost und West muss kein Problem sein – solange alle, die Betreuung brauchen, dazu die Chance bekommen. Beides muss möglich sein: dass man seine Kinder zu Hause betreut oder dass man sie in Betreuung gibt. Aber in diesem zweiten Fall – und das ist mir ganz wichtig! – muss das Angebot nicht einfach nur vorhanden sein, sondern es muss auch eine gute Betreuung sein. Mich stört an Ihrem Antrag, dass Sie nur die Quanti- tät, aber weniger die Qualität im Blick haben. Kinder sollen ja nicht nur verwahrt werden, sondern in der Be- treuungszeit auch aktiv gefördert werden. Darauf muss der nächste Krippengipfel seinen Schwerpunkt legen: Wie können wir 2013 garantieren, dass Eltern ihre Kin- der mit gutem Gewissen in die Betreuung geben? Denn wir alle wissen: Gerade in den ersten Lebensjahren wer- den die Weichen für ein erfülltes und erfolgreiches Le- ben gelegt. In einer guten Betreuung können Kinder ihre Sprachkenntnisse verbessern, sie üben sich im kreativen Arbeiten und lernen die berühmten Social Skills. Ein solches hochwertiges, flexibles Betreuungsange- bot kann es nur geben, wenn wir eine Vielzahl an Anbie- tern haben. Wir Liberale wollen kein Muss, sondern ein Kann. Nicht alles muss über den Staat laufen, und auch nicht immer im Zuge eines Rechtsanspruchs. Deshalb setze ich auf den Dreiklang aus staatlichen, privatge- werblichen und betrieblichen Betreuungsangeboten. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der sich jede Familie selbst flexibel ihr Betreuungsmodell aus- wählen kann. Dafür leistet die christlich-liberale Koali- tion wichtige Arbeit, die das finanziell Machbare voll ausschöpft. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes (Tagesord- nungspunkt 15) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Die FDP- Bundestagsfraktion bedauert es sehr, dass in den Jahren 1978/1979 in der DDR mehrere Tausend Frauen bei ei- ner gesetzlich vorgeschriebenen Anti-D-Immunprophy- laxe zum Schutz neugeborener Kinder mit dem Hepati- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12459 (A) (C) (D)(B) tis-C-Virus infiziert worden sind. Selbstverständlich muss auch gut drei Jahrzehnte später gewährleistet wer- den, dass den Betroffenen eine angemessene Hilfe zuteil wird. Sie alle kennen sicherlich den Werdegang des zum 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Gesetzes über die Hilfe durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepati- tis-C-Virus infizierte Personen, das sogenannte Anti-D- Hilfegesetz. Das Anti-D-Hilfegesetz stellt eine eigen- ständige Rechtsgrundlage dar und ist nicht Bestandteil des sozialen Entschädigungsrechts im Sinne des § 5 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch. Ich bin der Auffassung, dass mit diesem Gesetz ein angemessenes Prozedere geschaffen worden ist. Das Ge- setz sieht Einmalzahlungen und die Zahlung von monat- lichen Renten vor, die sich in der Höhe nach dem Grad der Schädigungsfolgen bestimmen. Die Einmalzahlun- gen, die vom Bund in vollem Umfang getragen werden, sind zum größten Teil im Jahr 2000 an die betroffenen Frauen ausgezahlt worden. Der Bundesanteil an den Rentenzahlungen beträgt 50 Prozent. Die medizinische Behandlung der Schädigungsfolgen wird ausschließlich von den Ländern getragen. Ich bin der Überzeugung, dass das bestehende Hilfe- system wohlaustariert ist und den Interessen derer ge- recht wird, die unter den Vorfällen der Jahre 1978/1979 zu leiden haben. Gleichwohl kann man natürlich prüfen, was im Antrag der Linken thematisiert wird: Ist es ange- messen geregelt, wie mit denjenigen umgegangen wer- den soll, bei denen die Versorgungsämter Einmalzahlun- gen und monatliche Renten abweisen, weil die Geschädigten offenbar nicht nachweisen können, dass ihre Schädigungen Folgen der durch die Anti-D-Immun- prophylaxe entstandenen Hepatitis-C-Virus-Infektion sind? Ich glaube nicht, dass wir diese Frage hier und heute abschließend beantworten können. Die FDP-Bun- destagsfraktion und auch das Bundesgesundheitsministe- rium werden aber ihren Teil dazu beitragen, zu einer trag- fähigen Lösung für die Betroffenen zu gelangen, wenn sich erweisen sollte, dass das jetzige System Mängel auf- weist. Eine Absage erteile ich Ihnen jedoch, wenn wir über einen generelle Beweislastumkehr debattieren. Sie fordern, dass die Betroffenen in Zukunft nicht mehr nach- weisen müssen, dass die Wahrscheinlichkeit des ursäch- lichen Zusammenhangs zwischen der Schädigungsfolge und der Hepatitis-C-Virus-Infektion besteht. Sie leiten dann aus einer grundsätzlichen Vermutung, dass das schon so gewesen sein muss, einen generellen Rechtsan- spruch auf Zahlungen ab. Das ist keine zielführende He- rangehensweise. Die von Ihnen geforderte Beweislast- umkehr wird es mit uns nicht geben. Denn wir stehen für eine vernünftige Beweislastverteilung. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten (Tagesordnungspunkt 17) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Uns liegt ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entschädigung nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Hand- lungen Verurteilter vor, der in ähnlicher Form bereits un- zählige Male Gegenstand der Verhandlungen war. Es sei an dieser Stelle vorangestellt, dass Homosexuelle in Deutschland viele Jahre in höchstem Maße diskriminiert und stigmatisiert wurden. Diese schreckliche Realität steht hier völlig außer Frage, und diesbezüglich hat der Bundestag in einer Entschließung, in der er sich mit der Strafverfolgungspraxis nach 1945 befasste (Bundestags- drucksache 14/4894), sein Bedauern ausgedrückt. Es geht aber in der Diskussion um etwas anderes, nämlich ob man rückwirkend die deutsche Rechtsordnung und damit unsere Rechtsstaatlichkeit aushebeln darf. So fordert nun die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einfallsreich beinahe wortgleich zu ihrem Antrag aus der vergangenen Legislaturperiode eine pauschale Aufhe- bung der nach dem Kriegsende in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR erfolgten Verurteilungen wegen Verstoßes gegen die §§ 175 ff. StGB sowie eine Entschädigung für die nach diesen Vorschriften Verur- teilten, wie dies bereits für die entsprechenden Urteile in der NS-Zeit im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti- scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege erfolgt ist. Im Kern kann man also sagen: Sie fordern die Aufhe- bung unseres im Grundgesetz normierten Gewaltentei- lungsprinzips, namentlich die Verpflichtung, die Staats- akte der jeweils anderen Staatsgewalten als rechtsgültig anzuerkennen. Damit nehmen sie eine folgenschwere Absage an unsere Rechtssicherheit in Kauf. Das kann wohl kaum ein ernstgemeinter Schachzug ihrerseits sein, schon gar nicht vor dem Hintergrund der Ablehnung des im Jahr 2000 von der PDS eingebrachten Antrags mit ähnlicher Forderung, den sie als Koalitionspartner da- mals mit eben genannter Begründung ablehnten. Mehr- fach hat sich der Deutsche Bundestag bereits mit der Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung von Ho- mosexuellen in der NS-Zeit befasst. Mit dem 2. NS-Auf- hebungsgesetz wurden die insoweit ergangenen Urteile pauschal aufgehoben und Betroffene rehabilitiert. Zuvor hat der Bundestag aber auch, in deutlichem Unterschied zur staatsterroristischen Verfolgung der NS-Zeit, ent- schieden, die nach 1945 ergangenen Urteile nicht aufzu- heben, weil das BVerfG im Jahre 1957 die in der Bun- desrepublik Deutschland bis 1969 gültige Fassung der §§ 175 ff. StGB als verfassungskonform bewertet hat. Natürlich erscheint es aus heutiger Sicht unvereinbar mit dem Grundgesetz, einvernehmliche gleichge- schlechtliche Handlungen unter Strafe zu stellen. Und selbstverständlich muss unsere Rechtsordnung unserer gesellschaftlichen Weiterentwicklung Rechnung tragen. Die Veränderungen können und dürfen aber auf keinen Fall dazu führen, Entscheidungen des demokratischen Rechtsstaates und seiner Gerichte pauschal als Unrecht zu bewerten. Damit würde unserer rechtsstaatlichen Ordnung jegliche Berechtigungsgrundlage entzogen. 12460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Sonja Steffen (SPD): Wir reden heute über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur gesetz- lichen Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homo- sexuellen Männer. Vor fast genau neun Jahren hat der Deutsche Bundes- tag eine Ergänzung der NS-Aufhebungsgesetze beschlos- sen: Urteile, die in der NS-Zeit nach den §§ 175 und 175 a RStGB gegen Homosexuelle und Wehrmachtsde- serteure ergangen waren, wurden aufgehoben. Vollkom- men richtig hat die Gesetzesbegründung diese Urteile als Unrechtsurteile bezeichnet, die – ich zitiere – „typischer Ausdruck nationalsozialistischen Gedankengutes“ seien. Außer Acht gelassen wurde bislang jedoch, dass die am 28. Juni 1935 vom nationalsozialistischen Regime be- schlossene Verschärfung des Gesetzes für alle Verurtei- lungen bis zur großen Strafrechtsreform am 25. Juni 1969 in der Bundesrepublik Deutschland weiter gültig waren. Zwischen 1949 und 1969 kam es in Westdeutsch- land zu etwa 50 000 rechtskräftigen Verurteilungen nach dem § 175, die bis heute Gültigkeit besitzen. Auch in der früheren DDR kam es zu Verurteilungen, auch wenn dort die in der NS-Zeit vorgenommene Verschärfung des § 175 bereits 1950 zurückgenommen wurde. Erstmalig 1981 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung die Aufrecht- erhaltung strafrechtlicher Sanktionen für einvernehmli- che sexuelle Kontakte unter Männern als Verstoß gegen Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ge- kennzeichnet. Folge dieses Urteils hätte eine endgültige Abschaffung des § 175 StGB bedeuten müssen. Völlig gestrichen wurde die Vorschrift jedoch erst am 31. Mai 1994. Der Deutsche Bundestag hat damals anerkannt, dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafandro- hung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenrechts- würde verletzt worden sind. Nach geltender Rechtslage jedoch sind die nach 1945 erfolgten Verurteilungen we- gen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen erwachsenen Menschen kein Un- recht. Erforderlich wäre daher die Feststellung des Ge- setzgebers, dass es sich bei den erfolgten Verurteilungen aus gegenwärtiger Perspektive tatsächlich um Unrecht handelt. Der Bundestag als Gesetzgeber müsste zunächst anerkennen, dass strafrechtliches Unrecht auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschehen ist, und er müsste sich zu entsprechenden Konsequenzen bereitfinden, beispielsweise in der Aufhebung sämtli- cher Urteile durch den Gesetzgeber in der Form eines Aufhebungsgesetzes. Allerdings bestehen hier verfassungsrechtliche Be- denken, über die im Rahmen der parlamentarischen De- batte nachzudenken sein wird: Aus dem grundgesetzlich normierten Gewaltenteilungsprinzip folgt, dass jede der drei Staatsgewalten grundsätzlich verpflichtet ist, die von den anderen beiden Staatsgewalten erlassenen Staatsakte anzuerkennen und als rechtsgültig zu behan- deln. Auch das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass Gesetze, die rückwirkend in die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen eingreifen, den Grundsatz der Gewaltenteilung berühren. Daher wird hier sorgfältig zu prüfen sein, ob ein Abweichen von die- sem Prinzip aus zwingenden Gründen gerechtfertigt ist. Hier wird abzuwägen sein zwischen dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem ebenfalls rechtsstaatlich ga- rantierten Grundsatz der Rechtssicherheit auf der einen Seite und dem Recht der freien Entfaltung der Persön- lichkeit und der Menschenwürde auf der anderen Seite; denn dieses Recht schließt auch das Recht auf die sexu- elle Identität mit ein. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass die SPD bereits 1927 auf ihrem Parteitag die „Abschaf- fung der Bestrafung des Ehebruchs und widernatürlichen Verkehrs“ in ihr Parteiprogramm aufgenommen hat. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wurde dement- sprechend aufgefordert, „eine gründliche Umgestaltung im Sinne der sozialdemokratischen Forderungen durch- zusetzen.“ Auch der 39. Deutsche Juristentag 1951 in Stuttgart gab die Empfehlung ab, homosexuelle Hand- lungen zwischen erwachsenen Männern für straflos zu erklären. Anknüpfungspunkt des Deutschen Juristenta- ges waren die liberalen Weimarer Reformansätze und die damalige Empfehlung des 21. Strafrechtsausschusses aus dem Jahre 1929. Ich freue mich auf weitere Diskus- sionen. Jörg van Essen (FDP): Anfang der 90er-Jahre war ich Berichterstatter des Deutschen Bundestages, als wir den § 175 viel zu spät aufgehoben haben. Ich war auch Berichterstatter im Jahre 2000, als wir uns einvernehm- lich darauf geeinigt haben, hinsichtlich des nachkonsti- tutionellen Rechts der Bundesrepublik Deutschland eine andere Vorgehensweise als bei den Terrorurteilen des Naziregimes zu wählen. Uns war es nämlich wichtig, beides unterschiedlich zu behandeln. Ich lege weiterhin Wert darauf, dass wir das auch tun. Auch 2009 war ich Berichterstatter, als Sie schon einmal diesen Antrag ge- stellt haben. Ich stimme immer noch der Aussage in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu, dass in Deutsch- land auch nach 1945 die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen ein Klima der Angst und der Einschüch- terung erzeugte. Ich stimme auch der Aussage zu, dass die strafrechtliche Verfolgung einherging mit einer ge- sellschaftlichen Ächtung von Homosexualität. In meinem Beruf als Oberstaatsanwalt habe ich sehr viele Urteile aus den 50er-Jahren gesehen. Ich muss ge- stehen, dass mir die Haare nicht nur bei den Urteilen nach § 175 zu Berge gestanden haben, sondern ich fest- stellen musste, dass auch in vielen anderen Bereichen Urteile gefällt worden sind, für die wir uns heute ehrlich schämen müssen. Ich will nicht nur die homosexuellen Menschen ansprechen, sondern in diesem Zusammen- hang beispielsweise auch den Straftatbestand der Kuppe- lei. Die FDP-Bundestagsfraktion hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Urteile von deutschen Gerichten in den 50er-Jahren aus heutiger Sicht auf völliges Unver- ständnis stoßen müssen. So hat das Bundesverfassungs- gericht noch in einem Urteil von 1957 festgestellt, dass die gleichgeschlechtliche Betätigung eindeutig gegen das Sittengesetz verstößt. Eine strafrechtliche Verfolgung und eine Verurteilung wegen einer Tat nach § 175 StGB war geeignet, ganze Lebensbiografien zu zerstören. Für die Betroffenen hatte Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12461 (A) (C) (D)(B) eine derartige Verurteilung weitreichende Konsequenzen in alle Lebensbereiche hinein. Es war daher richtig und notwendig, dass der Deutsche Bundestag bereits in der 14. Wahlperiode einmütig bekundet hat, dass die in der BRD und DDR fortbestehende Strafandrohung für ho- mosexuelle Männer die Betroffenen in ihrer Menschen- würde verletzt hat. Der Bundestag hat bekräftigt, dass die Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen gegen die Europäische Menschenrechts- konvention und nach heutigem Verständnis auch gegen das freiheitliche Menschenbild des Grundgesetzes ver- stößt. Der Bundestag hat damit einen Weg gefunden, um den Opfern ihre Ehre wiederzugeben und sich bei all de- nen zu entschuldigen, die im Namen des Staates zu lei- den hatten und denen Unrecht widerfahren ist. Ich stimme dem vorliegenden Antrag dennoch nicht zu. Aus meiner Sicht machen es sich die Antragsteller zu einfach, wenn sie die Aufhebung der wegen § 175 StGB ergangenen Urteile nach 1945 fordern. Mit Stolz schauen wir auf unsere Verfassung und unsere freiheitlich-demo- kratische Grundordnung. Über 60 Jahre Grundgesetz be- deuten mehr als 60 Jahre Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist es rechts- systematisch höchst bedenklich, die Forderung nach Aufhebung von Urteilen der Gerichte nach 1945 zu stel- len. Es ist schon ein elementarer Unterschied, über die Aufhebung von Urteilen zu diskutieren, die während ei- nes Unrechtsregimes oder jene, die von unabhängigen Gerichten in einem demokratischen Rechtsstaat ergan- gen sind. Die Urteile wegen § 175 Reichsstrafgesetz- buch sind vom Gesetzgeber in der 14. Wahlperiode durch das NS-Aufhebungsgesetz zu Recht aufgehoben worden. Die Maßstäbe, die seinerzeit an das Aufhe- bungsgesetz angelegt wurden, können nicht in gleicher Weise für die Urteile gelten, die nach 1945 ergangen sind. Es hat, insbesondere in den 50er-Jahren, in der BRD eine Reihe von strafgerichtlichen Entscheidungen gegeben, die heute auf völliges Unverständnis stoßen. Insbesondere Verurteilungen wegen Kuppelei sind mit dem heutigen Rechtsempfinden nicht vereinbar. Es hat zahlreiche Urteile gegeben, wo die Gerichte unter ande- rem mit Blick auf das Sittengesetz wegen kleinster Ver- gehen hohe Strafen ausgesprochen haben. Auch solche Entscheidungen sind aus heutiger Sicht nur schwer nach- zuvollziehen. Würde man den vorliegenden Anträgen folgen, würden den Verurteilungen nach § 175 StGB weitere Urteile folgen müssen, bei denen zu überlegen wäre, sie nachträglich aufzuheben. Die isolierte Betrach- tung der Urteile wegen § 175 StGB führt zu einer will- kürlichen Ungleichbehandlung gegenüber all denjenigen Opfern, gegen die Urteile wegen ähnlicher Vergehen er- gangen sind. Wer in diesem Zusammenhang eine Ent- scheidung trifft, muss sich fragen lassen – gerade weil homosexuelle Menschen zu Recht sehr viel Wert darauf legen, dass sie gleich behandelt werden –, warum wir hier gegebenenfalls eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen herbeiführen, die beispielsweise wegen Ver- stoßes gegen den Kuppeleiparagrafen verurteilt worden sind. Diese Frage müssen sich heute die Antragsteller ebenfalls stellen. Es bleibt daher bei der grundsätzlichen Frage, ob der Gesetzgeber gut beraten ist, wenn er nachkonstitutionel- les Recht unter Geltung des Grundgesetzes aufhebt. In einer Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, Pet 4-16-07-4500-011779, wird richtig ausgeführt: „Eine Anhebung nachkonstitutioneller Urteile durch Gesetz widerspräche ferner dem Rechtsstaatsprinzip. Es enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung von Rechtssicherheit; diese verlangt einen geregelten Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens und auch einen Ab- schluss, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist. Stün- den rechtskräftige Urteile zur Disposition des Gesetzge- bers, wäre die Sicherheit dieses Rechts nicht mehr gewährleistet“. Ich bin der Meinung, der Gesetzgeber hat in der 14. Wahlperiode einen angemessenen Weg ge- funden, um die Ehre der Opfer wiederherzustellen. Ein weiteres Handeln des Gesetzgebers ist daher nicht mehr erforderlich. In dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angesprochen. Es ist berechtigt, die Frage aufzuwerfen, wie der Gesetzgeber mit den Wir- kungen von Urteilen des Europäischen Menschenge- richtshofs umgeht. Diese Frage ist jedoch allgemein zu diskutieren und nicht auf die Verurteilungen nach § 175 StGB zu beschränken. Es ist ein allgemeines Problem, dass die Staaten bezüglich der Entschädigung häufig säumig sind. Die Probleme, die um diesen Sachverhalt kreisen, sind vielschichtig und müssen an anderer Stelle diskutiert werden. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Verfolgung Homo- sexueller gehört zu den größten Menschenrechtsverlet- zungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bundesrepublik Deutschland hat den § 175 in der von den Nazis verschärften Fassung einfach übernom- men und circa 50 000 Männer deswegen in den Knast geworfen, und zwar nicht etwa wegen Gewalttaten, son- dern nur, weil sie schwul waren und sogar bereits dann, wenn ihnen lediglich homosexuelle Kontakte unterstellt wurden. In der DDR hat es 3 000 bis 4 000 Verurteilun- gen gegeben, in der Regel auf der Basis der früheren Weimarer Gesetzesfassung, die auch schon schlimm ge- nug war. Die massiven Verfolgungen endeten in der DDR gegen Ende der 1950er-Jahre, in der BRD erst 1969. Wir meinen: Die Homosexuellenverfolgung in Ost und West war Unrecht, und die Homosexuellen müssen entschädigt werden! Es gibt vereinzelt das rechtssystematische Bedenken, man könne Urteile eines Rechtsstaates nicht so einfach aufheben wie die Urteile der Nazijustiz. Aber man muss sich klarmachen: Die Urteile gegen Homosexuelle ent- sprangen geradezu dem Ungeist und teilweise dem Wortlaut des Nazisystems. Für die Homosexuellen sei das Dritte Reich noch nicht zu Ende, hatte schon 1963 der Historiker Hans-Joachim Schoeps gemahnt. Und wenn in einem deutschen Strafgesetzbuch noch nach der Befreiung vom Faschismus typisches Naziunrecht fort- geschrieben wurde, dann reicht es nicht, dieses Unrecht nur zu bedauern, wie es der Deutsche Bundestag erst- mals im Jahre 2000 machte. Es muss vielmehr auch eine 12462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) materielle Entschädigung erfolgen; denn man muss sich die Konsequenzen dieses Unrechts vor Augen führen: Im Namen des Gesetzes wurden ganze Biografien zer- stört. Schon die über 100 000 Ermittlungsverfahren, die es in der BRD gab, bedeuteten für die Betroffenen häu- fig genug den sozialen Tod, auch ohne gerichtliches Ur- teil. Es genügte der Verdacht, schwul zu sein, um Woh- nung, Arbeitsplatz und gesellschaftliche Stellung zu verlieren. Das kann man nicht mit Worten wiedergutma- chen. Schwule Männer mussten sich selbst verleugnen, sie mussten sich verstecken, sie mussten in permanenter Angst vor Verfolgung, Inhaftierung und Diffamierung leben. Es ging letztlich darum, sie im intimsten Kernbe- reich ihrer Persönlichkeit zu brechen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits klargestellt, dass es sich hier um schwerste Menschenrechtsver- letzungen gehandelt hat. In diesem Geiste sehen wir üb- rigens auch die Entscheidung des Europäischen Ge- richtshofes von dieser Woche, dass homosexuelle Lebensgemeinschaften finanziell und rentenpolitisch gleichberechtigt sind. Das ist eine berechtigte Ohrfeige für alle, die Lesben und Schwule benachteiligen wollen. Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags ist ganz klar berechtigt. In einem Punkt widerspreche ich aller- dings: Das Ansinnen, die Abwicklung von Entschädigun- gen dem Magnus-Hirschfeld-Institut zu überlassen, ist kontraproduktiv. Das Institut ist ein Forschungsinstitut. Es kann und soll auch das Ausmaß der Homosexuellen- verfolgung ergründen, aber ihm die konkrete Entschädi- gungsarbeit aufzubürden, brächte eine bürokratische Be- lastung mit sich, die die Forschungsarbeit ersticken würde. Darüber können wir uns hoffentlich noch verstän- digen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind uns einig, dass es eine Menschenrechtsverlet- zung war, schwule Männer bis 1994 nach dem berüch- tigten § 175 zu verurteilen, obwohl sie nichts falsch ge- macht haben. Ihr vermeintliches Verbrechen war es, anders zu lieben als die Mehrheit in unserem Land. Es bleibt aber ein Skandal, dass in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin Männer mit dem Stigma leben müssen, vorbestraft zu sein, weil sie schwul sind. In der Bundesrepublik galt bis 1969 der von den Nazis ver- schärfte § 175 unverändert fort. Für schwule Männer brachte die Befreiung von 1945 deswegen nicht die Frei- heit. Statt ins Konzentrationslager ging es nun in ein de- mokratisch legitimiertes Gefängnis. Es blieb die Angst vor Denunziation und Razzien. Bis zu 60 000 Männer wurden Schätzungen zufolge in den Jahren von 1945 bis 1969 aufgrund des § 175 verurteilt. Das bedeutete auch das Ende von Karrieren, häufig eine Entfremdung von den Familien und die Zerstörung von Lebensglück. Mit der Strafrechtsreform 1969 wurde der § 175 entschärft, aber nicht beseitigt. Noch einmal wurden 3 545 Menschen ver- urteilt, bis 1994 die endgültige Abschaffung erfolgte. Auch in der DDR wurden Schwule verfolgt, wenn auch in geringerem Ausmaße. Die gesellschaftliche Ausgrenzung und Ächtung bestand aber auch im SED-Staat, im sozia- listischen Teil Deutschlands fort. Der Deutsche Bundestag hat bereits im Jahr 2000 in einer einstimmig angenommenen Resolution deutlich gemacht, dass „die Verfolgung gleichgeschlechtlicher Beziehungen gegen die Europäische Menschenrechtsch- arta und nach heutigem Verständnis auch gegen das frei- heitliche Menschenbild des Grundgesetzes verstoßen“ habe. Alle Fraktionen stimmten damals bereits überein, dass „homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt wurden“. Diese Position ist Konsens im Hohen Haus, und ich fordere Sie auf, diese Position heute zu bestätigen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Im Jahr 2002 wurden dann diejenigen Opfer des § 175 reha- bilitiert, die unter der NS-Diktatur verfolgt und verurteilt wurden. Für die Opfer aber, die nach 1945 nach demsel- ben Unrechtsparagrafen verurteilt wurden, steht dies aus. Die Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP argumentierten in dieser Frage in der Vergangen- heit mit dem Rechtsstaatsprinzip. Einmal erlassene Ur- teile dürften ihrer Meinung nach nicht zur Disposition gestellt werden; denn die Verfassung garantiere Rechts- sicherheit. Mit dieser Argumentation verkennen Sie den Sinn der Rechtsstaatsgarantie: Ziel ist es, die Bürgerinnen und Bürger vor Willkürentscheidungen des Staates und sei- ner Institutionen zu schützen und sicherzustellen, dass sie nicht in ihren Rechten im Nachhinein durch neue Ge- setzgebung beschnitten werden. In diesem Fall geht es aber darum, vom Staat selbst begangenes Unrecht auch Unrecht zu nennen und wiedergutzumachen. Ich frage Sie: Können wir es wirklich vertreten, zu sagen, dass menschenrechtswidrige Urteile nur wiedergutgemacht werden, wenn sie von einer Diktatur verhängt wurden? Wie können wir einem Opfer des § 175 in die Augen se- hen und ihm sagen: Es tut mir leid, Sie wurden zu spät verurteilt! – Liegt es nicht gerade im Wesen der Demo- kratie, dass sie in der Lage ist, begangene Fehler zu be- kennen und aus ihnen zu lernen? Meine Fraktion legt heute einen Antrag zur Debatte vor, der sich genau die- ses zum Ziel setzt. Wir wollen, dass die Unrechtsurteile aufgehoben, die Betroffenen rehabilitiert und entschä- digt werden. Es ist höchste Zeit: denn wieder einmal dauert die Diskussion viel zu lange, sodass viele Betrof- fene schon nicht mehr am Leben sind. Wenn die Bundes- regierung die beabsichtigte Markus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg bringt, sollte es eine ihrer ersten Aufgaben sein, die Opfer dieser menschenrechtswidrigen Strafver- folgung zu entschädigen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Gesund- heit ist eine globales öffentliches Gut – Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der „Global Health Governance“ stärken – Beschlussempfehlung und Bericht: „Global Health Governance“ stärken – Gesundheits- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12463 (A) (C) (D)(B) versorgung in Entwicklungs- und Schwel- lenländern voranbringen – Antrag: Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai 1959 kündigen – Für eine unab- hängige und effektive WHO (Tagesordnungspunkt 19 a und b, Zusatztages- ordnungspunkt 6) Stephan Stracke (CDU/CSU): Ich begrüße es, dass sich die Fraktionen der SPD und der Grünen mit ihren Anträgen für eine Stärkung der WHO aussprechen. Die WHO ist als Sonderorganisation der Vereinten Nationen für den Bereich Gesundheit unverzichtbar. Gerade der Globalisierungsprozess und die damit einhergehende Verknüpfung von gesundheitspolitischen Fragestellun- gen mit anderen Politikfeldern verdeutlicht, vor welchen Herausforderungen die Welt steht. Diese Entwicklungen machen auch vor der WHO nicht halt. Deshalb hat die WHO-Generaldirektorin Dr. Margaret Chan Anfang 2010 eine Reformdiskussion angestoßen, die die WHO neu ausrichten soll. Dabei soll die WHO in ihrer Rolle als übergeordneter und koordinierender Akteur in der globalen Gesundheitspolitik gestärkt werden. Sowohl die Bundesregierung als auch die christlich- liberale Koalition unterstützen diesen Reformprozess. Schwerpunkt der Reformdiskussion aus deutscher Sicht ist es, die Rolle der WHO auf ihre Kernfunktionen zu konzentrieren. Ziel ist es dabei, eine klare Aufgabentei- lung zu erreichen, die die Abgrenzung der WHO zu den anderen Akteuren der globalen Gesundheitspolitik deut- lich macht. Dies bedeutet, dass sich die WHO in Zukunft auf Standardisierung und Normsetzung, Koordinierung sowie Evaluierung konzentrieren sollte. Die Bereiche der Finanzierung und operativen Umsetzung sollten da- gegen anderen Akteuren überlassen werden. Im Ergebnis werden dadurch Ineffizienzen und Dopplungen vermie- den. Hierfür bringt sich Deutschland wie kaum ein anderer Mitgliedstaat in den offiziellen WHO-Gremien kon- struktiv ein. Beispielhaft genannt seien die Gespräche zwischen der Generalsekretärin Dr. Chan und den Bun- desministern Dr. Rösler und Niebel im November 2010 sowie eigene Veranstaltungen wie der viel beachtete Workshop am Rande des Exekutivrats im Januar 2011. All das zeigt: Die vorliegenden Anträge beinhalten in- haltlich im Wesentlichen nichts Neues. Die Aufforde- rung zum Handeln geht ins Leere; denn offensichtlich wollte oder konnte die Opposition nicht wahrnehmen, welche Aktivitäten die Bundesregierung im Zuge der Reformdebatte bereits entfaltet hat. Noch eine Anmer- kung zur WHO-Finanzierung: Die Bundesregierung be- gleitet auch diesen Reformprozess auf das Intensivste und bringt sich zielgerichtet mit ein. Im Unterausschuss Gesundheit für Entwicklungsländer kam aus den Reihen der Grünen natürlich stereotyp zunächst einmal die For- derung, dass die WHO mit mehr finanziellen Mitteln auszustatten sei. Einer solchen Forderung hat selbst die WHO-Generaldirektorin Dr. Chan eine Absage erteilt. Ihr ist es wichtig, dass die vorhandenen Mittel effizienter eingesetzt werden. Genau das entspricht auch der Linie der Bundesregierung. Nun wird in den vorliegenden Anträgen gefordert, die Regulärbeiträge im Verhältnis zu den freiwilligen Beiträ- gen kurzfristig wesentlich zu erhöhen. Dies stellt keine realistische Forderung dar: Denn den Mitgliedstaaten geht es zunächst einmal darum, zu wissen, für welche Maßnahmen das von ihnen zur Verfügung gestellte Geld verwendet wird. Da sind wir wieder beim Thema der Transparenz und der effizienten Verwendung von Geld- mitteln. Daneben fordern SPD und Grüne, die bewährte Zusammenarbeit zwischen WHO und IAEO aufzukündi- gen. Aber dabei geht es Ihnen primär gar nicht um die WHO. Vielmehr geht es Ihnen darum, aus tagesaktuel- lem Anlass gegen die Kernkraft Stimmung zu machen. Dies ist ein ganz durchsichtiger Zweck! Hier und heute ist aber die falsche Plattform dafür; denn heute muss die WHO im Zentrum stehen. Dies gilt umso mehr, als wir alle wissen, dass die Bundesregierung zurzeit intensiv daran arbeitet, den Umstieg in die erneuerbaren Energien schneller zu bewerkstelligen als bislang vorgesehen. Aus offenkundigen Gründen wird versucht, ein Ge- geneinander von WHO und IAEO aufzubauen. Natürlich hat in diesem Ihrem Spiel die IAEO die Rolle des Böse- wichts. Und diese Rolle wird ihr allein deshalb zugewie- sen, weil sie sich satzungsgemäß mit Kernenergie be- fasst. Dabei fällt selbstverständlich unter den Tisch, dass die IAEO im Jahre 2005 den Friedensnobelpreis erhalten hat. In Ihren Anträgen erwecken Sie den Eindruck, als sei die WHO in ihrer Unabhängigkeit durch ein Abkommen aus dem Jahr 1959 mit der IAEO beschränkt. Auch das ist falsch. Zunächst einmal handelt es sich hier nicht um ein irgendwie geartetes Sonderabkommen, sondern um ein Standardabkommen, wie es zwischen den Institutio- nen der Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen gänzlich üblich ist. Es dient lediglich dem allgemeinen Zweck, die Arbeitsfelder der betroffe- nen Organisationen aufeinander abzustimmen und Inef- fizienzen zu vermeiden. Zudem entsprechen die Feststel- lungen der Grünen in drei wesentlichen Punkten nicht der Realität: Erstens. Mir ist völlig unklar, wie Sie zu der An- nahme kommen, das Abkommen zwischen der IAEO und der WHO sei 40 Jahre lang geheim gehalten wor- den. Das Abkommen wurde 1959 von der Weltgesund- heitsversammlung, also der Gesamtheit der WHO-Mit- gliedstaaten, verabschiedet. Glauben Sie ernsthaft, dass die Mitgliedstaaten nicht wussten, was sie da verab- schiedeten? Es ist ein Popanz, den Sie hier aufbauen. Der einzige Bereich, in dem Stillschweigen vereinbart wurde, betrifft das Thema des Datenschutzes. Dass die Grünen die Gewährleistung von Datenschutz kritisieren, ist ein erstaunlicher Vorgang. Zweitens. Das Abkommen steht in keinerlei Weise ei- ner unabhängigen Forschung und Bewertung durch die WHO entgegen. Dies ergibt sich schon aus der Ausge- staltung als Rahmenabkommen. Dessen einziger Zweck ist es, Doppelarbeit zu vermeiden. Auch aus dem Text des Abkommens ergibt sich nicht, dass die WHO in ir- 12464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) gendeiner Weise untergeordnet oder weisungsgebunden ist. Die Regelungen lassen weder den Schluss zu, dass die Vereinbarung die von der Satzung der WHO vorge- schriebene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beein- trächtigt, noch ergibt sich daraus, dass sich die WHO ei- ner anderen Organisation in einem ihrer Arbeitsfelder unterwerfen muss. Dies hat die WHO selbst in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2001 umfassend bestätigt. Weder rechtlich noch praktisch entsteht durch das Ab- kommen irgendeine Beeinträchtigung der unabhängigen Arbeit der WHO. Drittens. Die Grünen kritisieren, dass die WHO an- geblich im Rahmen der Katastrophe von Fukushima ihre Aufgaben nicht wahrgenommen und insbesondere aus Personalmangel keine eigenständigen Messungen der Strahlenwerte vorgenommen habe. Auch diese Behaup- tung entbehrt jeglicher Grundlage. Die WHO nutzt be- kanntlich weltweit ein internationales Netzwerk von 40 Kollaborationszentren – zwei davon in Hiroshima und Nagasaki. Das ist äußerst sinnvoll und nicht zu kriti- sieren. Jetzt gebe ich den Grünen einmal einen Tipp: Be- vor Sie das nächste Mal wieder meinen, auf die Schnelle irgendeinen Antrag zu irgendeinem Thema in die Welt setzen zu müssen, böte es sich an, sich im Vorfeld da- rüber zu informieren, ob Ihre Thesen auch zutreffen. Ich habe bei der WHO nachgefragt, warum sie denn derzeit in Fukushima nicht vor Ort ist. Von dort höre ich dann, dass dies nichts, aber auch gar nichts mit der behaupte- ten mangelnden Personalausstattung zu tun habe. Im Gegenteil: In der WHO herrscht kein Personalmangel. Vielmehr sollten aus guten Gründen kurz nach einer Ka- tastrophe nicht zu viele Menschen vor Ort sein, um die Rettungsaktionen nicht zu behindern. Zudem steht kurz nach einer Katastrophe eher die strukturelle Arbeit im Vordergrund. Die WHO befasst sich vor allem mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Hierfür benutzt sie viele verschiedene Quellen, im Fukushima-Fall zum Beispiel die von Tepco, der japanischen Regierung und anderen Organisationen. Das zeigt: Die WHO nimmt ihre Aufgaben kraftvoll wahr. Die von SPD und Grünen vorgebrachten Bedenken ei- ner Beschränkung der WHO durch die Zusammenarbeit mit der IAEO gehen ins Leere. Einen Handlungsbedarf kann ich daher derzeit nicht erkennen. Es ist bedauerlich, dass die Opposition nicht die notwendige Reformdiskus- sion zur Zukunft der WHO in den Mittelpunkt stellt, son- dern auf Nebenschauplätze setzt. Wir, die christlich-libe- rale Koalition, befassen uns weiterhin mit dem Wichtigen: der Neuaufstellung der WHO. Wir wollen eine starke WHO. Hierfür setzt sich die Bundesregierung schon seit langem intensiv und auf allen Ebenen ein. Wir wünschen ihr bei den anstehenden Verhandlungen viel Erfolg. Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Wie wahr dieses Zitat ist, weiß jeder, der schon einmal ernsthaft erkrankt ist oder eine schwere Krankheit im na- hen Umfeld miterlebt hat. Bei uns in Deutschland greift im Krankheitsfall ein gut funktionierendes Gesundheits- system – inklusive gut ausgebildetem medizinischen Personal und in der Regel bestmöglicher Versorgung. In anderen Teilen der Welt bedeutet Krankheit aber oft einen Fall ins Bodenlose, für den Kranken persön- lich, aber auch für die gesamte Familie, die neben der psychischen Belastung die ökonomischen Folgen der Krankheit wie Behandlungskosten und entgangenes Ein- kommen schultern muss. Sehr viele Krankheiten, unter denen Menschen in Entwicklungsländern zu leiden haben, sind armutsbe- dingt und in den Industrienationen schon lange kein Thema mehr bzw. nie gewesen. HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und die vernachlässigten und armutsbedingten Krankheiten nehmen Milliarden Menschen weltweit in ihre furchtbare Geiselhaft. Nicht funktionierende oder nicht existente nationale Gesundheitssysteme erschwe- ren bzw. behindern die Befreiung von diesen Krank- heitslasten. Kurzum gesprochen: Sehr vielen Menschen ist ihr Grundrecht auf den höchstmöglich zu erreichen- den Gesundheitsstand verwehrt. Es ist nun aber nicht so, als würde die Welt tatenlos zusehen. Weltweit haben Regierungen und die Zivilge- sellschaft dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit den Kampf angesagt und engagieren sich vorbildlich für mehr globale Gesundheit und damit mehr globale Ge- rechtigkeit. Aber leider ist gut gemeint nicht immer bis in die letzte Konsequenz gut gemacht. Mittlerweile gibt es allein im Gesundheitssektor 100 weltweite Partnerschaf- ten, die alle ihre eigenen Bereitstellungsmethoden, Eva- luierungssysteme und Zeitrahmen haben. Damit sind die Gesundheitsministerien der Entwicklungsländer in zu- nehmendem Maße überfordert. Ich kann mir nicht helfen, aber vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild von unzähligen Organisationen und Partnerschaften, die zwar alle mit nachvollziehbaren, richtigen und hehren Ansprü- chen auftreten, aber im Ergebnis aufgrund der Vielzahl wie ein Heuschreckenschwarm über die jeweiligen Ge- sundheitsministerien herfallen. Sie binden mit ihren je- weiligen unterschiedlichen Anforderungen die Ressour- cen, die dann an anderer Stelle für die Bewältigung der immensen Probleme im Gesundheitsbereich fehlen. Des- wegen, liebe Frau Roth, lieber Herr Kekeritz, sind wir uns, glaube ich, alle einig: Nur mit mehr Koordination und Kooperation in der globalen Gesundheitsarchitektur wird die Hilfe im Gesundheitssektor nachhaltig besser und effizienter werden. Wenn ich dann in Ihrem Antrag, liebe Frau Roth, lese, dass allein in dem kleinen Land Haiti 450 NGOs im Ge- sundheitsbereich mehr oder weniger unkoordiniert und unkontrolliert vor sich hin wursteln, dann bestärkt das meine Forderung nach mehr Koordination, und zwar möglichst schnell. Darum, liebe Kolleginnen und Kolle- gen der Opposition, sollten wir uns vorrangig kümmern, und wir sollten dies nicht nur einfach niederschreiben. Wir sollten auch nicht – wie in Ihren Anträgen gesche- hen – Forderungen aufstellen, die tatsächlich schon längst Regierungshandeln sind. Die WHO ist die einzig universell legitimierte Organisation in der globalen Ge- sundheitspolitik, die bei der Koordination der Hilfe im Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12465 (A) (C) (D)(B) Gesundheitsbereich mehr Verantwortung übernehmen sollte – ja, sogar muss. Allein die WHO kann diese übergeordnete Koordinie- rungsrolle übernehmen, um Dopplungen und Ineffizien- zen bei den Akteuren im globalen Gesundheitsbereich zu verhindern. Was die heute im Bundestag beratenen An- träge zur Rolle der WHO angehen, so werden wir diese ablehnen, da sie überflüssig sind. Die Bundesregierung setzt bereits einen großen Teil der Forderungen zum Thema WHO umfassend um. Das, was Sie fordern, ist also bereits Regierungshandeln. Die Bundesregierung muss hier nicht mehr durch An- träge der Opposition überzeugt werden; denn die Haupt- forderungen der Anträge hat sie sich längst schon auf die Fahnen geschrieben. Es ist aber schön, Anträge der Op- position zu lesen, die in weiten Teilen das aktuelle Re- gierungshandeln beschreiben. Das ist nun beileibe nicht immer so! Wären dies hier keine Anträge, sondern wäre dies eine Resolution gewesen, hätten sich sicherlich alle Fraktionen dieser inhaltlich anschließen können. Voraus- setzung wäre natürlich gewesen, dass die Einleitung mit einem Lob an die Bundesregierung begonnen hätte, da die Forderungen fast vollständig das bisherige Handeln der Bundesregierung wiedergeben. Es zeigt mir aber, dass viel Einigkeit über die Rolle der WHO besteht. Erstens. Die WHO muss die globale Koordinations- rolle in der weltweiten Gesundheitsarchitektur überneh- men. Zweitens. Die Gesundheitssystemstärkung muss weiterhin bei der WHO ganz oben auf der Agenda ste- hen. Drittens. Die Finanzierung der WHO muss refor- miert werden. Viertens. Die Entscheidungsprozesse der WHO müssen transparenter werden. Ich will nur einige Punkte nennen, für die die Bundes- regierung sich im Rahmen der WHO-Reform einsetzt. Ziel dieser Reform ist eine Stärkung der Weltgesund- heitsorganisation insgesamt. Mit dieser Stärkung wird auch der Einfluss der WHO als Anwältin der öffentli- chen Gesundheit auf andere Politikbereiche spürbar ge- stärkt werden. Was die Forderung im SPD-Antrag und den Antrag der Grünen zur Unabhängigkeit der WHO von der Internationalen Atomenergie-Organisation an- geht, so halte ich diese für unbegründet. Ich kann keine Anhaltspunkte erkennen, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der WHO beeinträchtigt wären oder dass sich die WHO einer anderen Organisation unter- werfen müsse. Dies hat die WHO auch in einer Stellung- nahme bestätigt. Aus diesem Grund lehnen wir auch den Antrag der Grünen, der eine Aufkündigung des Vertra- ges zwischen der Internationalen Atomenergie-Organi- sation und der WHO fordert, ab. „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“ – Wir brau- chen eine starke WHO, damit weniger Menschen auf- grund von Krankheit ins Nichts fallen und weltweit mehr Menschen zu ihrem Recht auf das für sie erreichbare Höchstmaß an Gesundheit kommen. Die WHO muss bei der Koordination der globalen Gesundheitsarchitektur die Führungsrolle innehaben. Ich bin froh, dass die Bundesregierung sich aktiv und inten- siv in die Reformdebatte der WHO einbringt und sich für eine Stärkung der Weltgesundheitsorganisation einsetzt. Dr. Marlies Volkmer (SPD): In der nächsten Woche werden in Genf auf der Weltgesundheitsversammlung die Weichen für eine Reform der Weltgesundheitsorgani- sation (WHO) gestellt, ein Ereignis von immenser Be- deutung für uns und für die Menschen auf der ganzen Welt. Aber leider ist die Regierungskoalition, insbeson- dere die FDP, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass man sich um solche Dinge nicht kümmern kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, um Ihnen noch einmal kurz zu verdeutlichen, worum es geht: Die WHO war es, die beispielsweise die Pocken weltweit ausgerottet hat. Noch in den 1950er-Jahren gab es in Europa Pockenepidemien, die Tote forderten. 1980 konnte dann die WHO bekannt geben, dass die Pocken weltweit ausgerottet seien. Die Gefahren, die von Infek- tionskrankheiten ausgehen sowie Gesundheitsfragen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Atomkraft, sind in unserer globalisierten Welt ungleich größer, als sie noch im vergangenen Jahrhundert waren. Nationalstaatliches Handeln reicht nicht mehr aus. Deswegen ist die WHO als weltumspannende Organisation unverzichtbar. Doch die Regierungskoalition ist zu beschäftigt mit Personal- fragen. Da hat man keine Zeit für Menschheitsfragen. Mit der Gründung der WHO hat sich die Weltgemein- schaft bereits 1948 als weitsichtig erwiesen. Heute, über 60 Jahre später, ist die Organisation so notwendig wie damals. Jedoch hat sich der Rahmen verändert. Eine Re- form der Organisation ist notwendig, damit sie auch in Zukunft ihren Aufgaben vollumfänglich gerecht werden kann. Einer grundsätzlichen Reform bedarf die Finanzie- rung der WHO. In den vergangenen Jahren hat sich der Anteil der freiwilligen, aber zweckgebundenen Mittel immer weiter erhöht. Nach dem Motto „Wer die Musik zahlt, sucht sie auch aus“ haben sich die Geber in zuneh- mendem Maße nur noch an von ihnen definierten Aufga- ben der WHO beteiligt. Dies hat dazu geführt, dass die unterschiedlichen Abteilungen der WHO in Konkurrenz zueinander stehen, statt sich abgestimmt den Kernauf- gaben der WHO zu widmen. Das muss sich ändern. Die WHO muss finanziell in die Lage versetzt werden, ihren Aufgaben als unabhängiges Gremium nachzukommen. Ein zweiter wesentlicher Punkt der Reform muss ein erhöhtes Maß an Transparenz sein. Die Zivilgesellschaft muss an den Entscheidungsfindungen ebenso beteiligt werden wie die Industrie. Nur so kann gewährleistet werden, dass niemandes Interessen auf Kosten der ande- ren durchgesetzt werden. Die WHO selbst vermeidet so, in den Verdacht einseitiger Interessenvertretung zu gera- ten. Der von den Grünen vorgelegte Antrag ist von der In- tention her nicht schlecht, aber er konzentriert sich aus- schließlich auf die Entwicklungs- und Schwellenländer und spart das Thema Finanzierung fast vollständig aus. Die Koalition ist mit sich beschäftigt und hat, wie immer bei den großen internationalen Themen, keine Ideen oder Vorstellungen. Unser Antrag zeigt den richtigen Weg. Stimmen Sie unserem Antrag zu. 12466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Karin Roth (Esslingen) (SPD): Dass wir heute über drei Anträge zum selben Thema beraten, die aus unter- schiedlichen Ausschüssen kommen, zeigt bereits einen Teil der Herausforderung, der wir uns stellen. Und auch das Nichtvorliegen irgendwelcher Ideen seitens der Re- gierungskoalition sagt einiges sehr deutlich. Aber im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung konnten wir von unseren Kolleginnen der Re- gierungskoalition vernehmen, dass sie inhaltlich unse- rem Antrag gerne zugestimmt hätten. Wir müssen also annehmen, dass ihre Ablehnung rein parteitaktische Gründe hatte. Die Weltgesundheitsorganisation, ihre Aufgaben und ihre Aktivitäten betreffen heutzutage in besonders starker Weise die Länder, deren Gesundheits- systeme noch nicht so weit entwickelt sind. Das ist rich- tig. Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Gesund- heit ist ein globales öffentliches Gut. Alle Fragen der Vorsorge und Interventionen im Bereich Gesundheit tref- fen uns in gleichem Maße. Deswegen greift es viel zu kurz, wenn man eine Reform der WHO rein aus dem ent- wicklungspolitischen Blickwinkel angehen möchte. Ich sage dies, auch wenn ich Entwicklungspolitikerin bin. Aber ohne beispielsweise eine grundlegende Finanzre- form, wie meine Kollegin Marlies Volkmer sie angespro- chen hat, hat die WHO keine Zukunft. Aus entwicklungs- politischer Sicht gibt es mehrere Bereiche, in denen Reformen notwendig sind. Um die WHO im Geflecht der zahlreichen Akteure in internationalen Gesundheitsfra- gen zu stärken und ihr die – schon bei der Gründung zu- gedachte – Führungsrolle wiederzugeben, muss die WHO als normsetzende Organisation festgeschrieben werden, auch in Grundsatzfragen von Gesundheitssyste- men. Es ist wenig zielführend, wenn alle möglichen Or- ganisationen und Staaten zwar guten Willens sind, sich aber gegenseitig blockieren, statt sich zu koordinieren. Als bestehende Organisation ist die WHO geradezu prä- destiniert für diese Aufgabe. Gleichzeitig sollte sie zu ei- ner „One Stop Agency“ ausgebaut werden. Nur so kön- nen in Zukunft eine bessere Geberkoordination erreicht, die Überforderung vorhandener Strukturen vermieden und ein effizienter Aufbau von Gesundheitssystemen ge- währleistet werden. Ein entscheidendes Thema für die Zukunft der WHO wird die Transparenz sein, mit der künftig Entscheidun- gen getroffen werden. Gerade in jüngster Zeit geriet die WHO in die Kritik, weil ihr eine zu starke Einfluss- nahme der Pharmaindustrie unterstellt wurde. Es muss also für die Zukunft ein Mechanismus installiert werden, der eine Beteiligung auch der Zivilgesellschaft garan- tiert. Glaubwürdigkeit und Akzeptanz steigen mit Betei- ligung und Transparenz. Wenn alle überzeugt sind, dass ihre Bedürfnisse zumindest wahrgenommen werden, werden wir mithilfe der WHO einen großen Schritt zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation auf der ge- samten Welt schaffen. Tragen Sie zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation aller Menschen bei. Stimmen Sie für unseren Antrag. Zum Schluss sei noch ange- merkt, dass es gut ist, dass die Grünen nun auch das Thema der atomaren Gefahren und die Rolle der WHO aufgegriffen haben, welches sie noch gestern im Aus- schuss als überflüssig diskreditierten. Sie hätten sich die Nachtschicht sparen können, wenn Sie, entgegen der Abstimmung im Ausschuss, jetzt unserem Antrag zu- stimmen. Helga Daub (FDP): Dr. Margaret Chan, die General- direktorin der WHO, hat sich auf der Sitzung des Execu- tive Board am 22. Januar dieses Jahres noch einmal sehr deutlich zu der dringend notwendigen Reform der WHO geäußert und dies auch hier im Unterausschuss Gesund- heit in Entwicklungsländern vorgetragen. Gewohnt sind wir eigentlich, dass sich Organisationen gerne zieren, wenn es um Veränderungen im eigenen Hause geht. Dr. Chans Forderungen nach einer Stärkung der WHO als „Global Health Governance“ gehen Hand in Hand mit ihren Bestrebungen, sowohl die Finanzierung als auch das Management zu reformieren. Die konkreten Vorschläge wird Dr. Chan auf der 64. Sitzung der World Health Assembly, WHA, vorstellen, die vom 16. bis 24. Mai in Genf stattfindet. Dies wird ein weiterer wich- tiger Diskussionsbaustein sein, wenn wir als Bundestag über diesen Tag hinaus über die Rolle der WHO debat- tieren. Zum Antrag der Grünen, den wir im Oktober letzten Jahres bereits in diesem Haus debattiert haben, liegt nun auch die Beschlussempfehlung des AWZ vor. Wie Sie wissen, konnten wir als FDP-Fraktion trotz vieler Ge- meinsamkeiten in der Zielsetzung dem Antrag im Aus- schuss nicht zustimmen. Gerne möchte ich noch einmal auf einige Aspekte eingehen, die auch den Antrag der SPD-Fraktion mit einbeziehen. Die globale Gesundheitspolitik ist immer komplexer geworden, was eine Neuausrichtung der Rolle der WHO in der globalen Gesundheitsarchitektur unabdingbar macht. Wir als Liberale freuen uns über die im März be- schlossene engere Kooperation zwischen EU-Kommis- sion und WHO. Ich denke, auch dies ist ein wichtiger Schritt, die Stärkung der globalen Gesundheitszusam- menarbeit voranzutreiben, und ein Anstoß, die nötigen Reformen zu unterstützen. Im letzten Jahr – hier sei auch ein Lob über die Fraktionsgrenzen erlaubt – haben Sie in Ihrem Antrag wichtige Punkte angesprochen und sach- lich und fachlich richtig aufgezeigt. Wir sind in vielen Bereichen einer Meinung. So betonen auch wir den Handlungsbedarf bezüglich der Koordination, Über- sichtlichkeit und Effizienz der WHO und ihre künftige Rolle betreffend. Was die Kooperation mit anderen Insti- tutionen angeht, habe ich eben bereits die Europäische Kommission erwähnt, aber auch die Zusammenarbeit mit der WTO, WIPO und UNCTAD muss weiter ver- stärkt werden. Wir stimmen mit der Bundesregierung in der Einschätzung überein, dass sich die WHO auf ihre Kernfunktionen, also Normsetzung, Koordinierung und Evaluierung, konzentrieren sollte. Finanzierung und operative Umsetzung sollte sie hauptsächlich anderen Akteuren der globalen Gesundheitspolitik überlassen. Es ist die normative Funktion der WHO, die bei der Stär- kung von Gesundheitssystemen eine herausgehobene Rolle spielt. Die Konzentration auf die Kernfunktionen bedeutet für die WHO auch, dass eine inhaltliche Kon- zentration vorangebracht werden soll. Weniger krank- heitsspezifisch, mehr hin zu einer systemischen Ausrich- tung. Die Bundesregierung betont zu Recht die Relevanz Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12467 (A) (C) (D)(B) des horizontalen Ansatzes der Gesundheitssystemstär- kung, der Themen wie Prävention und Gesundheitsför- derung in Bezug auf alle Krankheitstypen integriert. Mit einer Straffung der Kernkompetenzen würde auch eine Begrenzung des Finanzbedarfs der WHO erreicht, was die Organisation in ihrer Handlungsfähigkeit stärkt. Wir können bezüglich der WHO und im Hinblick auf die Anträge sowohl der Grünen für den entwicklungspo- litischen Bereich als auch für den gesundheitspolitischen Antrag der SPD viele Gemeinsamkeiten im Grundsatz finden. Was die konkrete Ausgestaltung angeht, haben wir nicht nur in den entsprechenden Ausschüssen, son- dern auch heute die Unterschiede debattiert. Als Entwicklungspolitikerin möchte ich einen Punkt noch einmal aufgreifen, der für die FDP-Fraktion von hoher Bedeutung ist und bleibt. Es ist nicht neu, dass wir als Liberale und als Koalition großen Wert darauf legen, auch bilaterale Unterstützung im Gesundheitsbereich zu leisten. Der Antrag zeigt eine zu hohe, einseitige Kon- zentration auf die WHO, selbst wenn Reform- und Stär- kungsprozess perfekt verlaufen würden. Für die Verbesserung der Gesundheitssysteme vor Ort sind die Länder unabdingbare Partner. Die Zusammenar- beit mit den Partnerländern, mit NGOs und dem Privat- sektor – sowohl in Deutschland als auch im jeweiligen Land – ist zentral für den Erfolg unserer Politik. Die WHO hat eine sehr wichtige Rolle, die durch einen ge- lungenen Reformprozess weiter gefestigt werden muss. Wir sehen gespannt den weiteren Reformschritten entgegen, vor allem auch der Vorstellung der Reform- pläne durch Margaret Chan in Genf. Deutschland hat sich an der informellen Konsultation „Zukunft der WHO-Finanzierung“ beteiligt und wird auch den weite- ren Reformprozess in den WHO-Gremien konstruktiv begleiten. Die FDP-Fraktion wird, ebenso wie die Bun- desregierung, in dieser Weiterentwicklung ein verlässli- cher Partner sein. Niema Movassat (DIE LINKE): Als die Welt- gesundheitsorganisation WHO vor 63 Jahren als Sonder- organisation der Vereinten Nationen gegründet wurde, um das internationale öffentliche Gesundheitswesen zu koordinieren, machte sie auch gleich Furore mit ihrer Definition von Gesundheit: Denn Gesundheit ist dem- nach „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geisti- gen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Das war damals sozial und revolutionär. In Entwicklungs- und Schwellenlän- dern ist Gesundheit in dieser Definition bis heute eine Utopie: So wird es auch bleiben, wenn wir uns nicht stärker dafür einsetzen, dass die Gesundheitsversorgung in diesen Ländern grundlegend verbessert wird. Wir soll- ten daher alle gemeinsam das Ziel haben, diese Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. Somit unterstützt Die Linke das Ziel des SPD-Antrags, die WHO als Koordi- natorin im Bereich Global Health Governance und somit vor allem die armutsorientierte Krankheitsbekämpfung zu stärken. Einen Meilenstein für die Entwicklung der Weltge- sundheit bildete die WHO-Strategie „Gesundheit für alle im 21. Jahrhundert“. „Gesundheit für alle“ als wesent- licher Bestandteil der menschlichen Entwicklung, das ist ein hehres Ziel, für dessen Umsetzung nach wie vor un- endlich viel getan werden muss, wenn man bedenkt, dass mindestens 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben, da sie in extremer Armut leben. Doch warum sind wir eigentlich so weit weg vom Ziel „Gesundheit für alle“? Der Grund liegt in der neo- liberalen Politik der letzten Jahrzehnte: Denn sie bedeu- tet für Milliarden Menschen Armut, Hunger, Krieg und soziale Missstände, wodurch ihnen gesunde Lebensbe- dingungen vorenthalten werden. Der Neoliberalismus hat auch vor den Toren der WHO nicht halt gemacht. Auf dem Papier sieht es zwar schön aus, dass im Ent- scheidungsgremium jeder Staat genau eine Stimme hat. Die Realität ist leider anders: Der größte Finanzgeber, die USA, aber auch etliche europäische Staaten, geben ihre Beiträge nur noch projektgebunden und können so- mit diktieren, was mit diesem Geld geschieht. Wer am meisten Geld hat, bestimmt also auch die Aktivitäten der Weltgesundheitsorganisation. Das kann nicht im Sinne der WHO-Verfassung sein. Hier brauchen wir eine Rückkehr zu einer verlässlichen und nicht zweckgebun- den Finanzierung der regulären Aufgaben der WHO. Ebenso dringend benötigt die WHO eine Reform ih- rer Struktur. Die SPD fordert in ihrem Antrag mehr Transparenz bei den Entscheidungen, und das unterstützt die Linke. Schwieriger wird es allerdings mit der SPD- Forderung, auch die Pharmakonzerne stärker zu beteili- gen. Damit bekommen diese mehr Einfluss auf die WHO. Diese Forderung der SPD dient damit letztlich nur den Interessen der Pharmalobby und wird von uns abgelehnt. Die WHO als zentrale Koordinierungsstelle der globalen Gesundheitssysteme steht ohnehin schon im Fokus der Interessen gieriger Unternehmen. Unrühm- liche Publicity erlangte die WHO im Rahmen der Schweinegrippe. Die Ausrufung der Pandemie-Gefahr sicherte vor allem zwei Konzernen Milliarden Profit: GlaxoSmithKline, dem als Hersteller des Impfstoffs Pandemrix somit die Abnahme durch viele Länderregie- rungen garantiert war, und Roche, der das Grippemittel Tamiflu produziert. Genau diese beiden Konzerne gaben große Geldbe- träge an mehrere Wissenschaftler, die mit der Erarbei- tung der WHO-Richtlinien betraut waren. Und die WHO mauert und weigert sich, sämtliche Kontakte ihrer Bera- ter mit der Pharmaindustrie offenzulegen, ja zum Teil deckt die Organisation noch nicht einmal deren Namen auf. Wenn hier nicht schnellstens Transparenz geschaf- fen wird, verspielt die WHO das Vertrauen insbesondere bei den Menschen, die auf ihre Hilfe angewiesen sind. Wenn die Struktur der WHO nun geändert werden soll, dann muss dies einer Rückkehr zu ihren ursprünglichen Zielen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit dienen. Jegliche Interessenskonflikte innerhalb der WHO blen- det die SPD in ihrem Antrag völlig aus. Daher wird Die Linke dem SPD Antrag nicht zustimmen. Auch plädie- ren wir im Gegensatz zur SPD für mehr Eigenverantwor- tung der Länder: Die Menschen in den einzelnen Län- 12468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) dern und die nationalen Regierungen sollen die Zielsetzung der Gesundheitspolitik vorgeben, über die WHO können diese koordiniert und gemeinsame Stan- dards definiert werden. Eine Stärkung der Ownership der Entwicklungs- und Schwellenländer fordert auch der Antrag von Bünd- nis 90/Die Grünen. Darüber hinaus setzt er sich für die Beseitigung der ineffizienten Vielfalt von gesundheits- bezogenen Initiativen ein, welche die selbstbestimmte Umsetzung nationaler Gesundheitsstrategien behindern. Daher stimmt die Linke dem Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen zu. Ebenso stimmen wir dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu, den Vertrag zwischen der IAEO und der WHO vom Mai 1959 zu kündigen, denn nur mit einer unabhängigen WHO können wir uns dem Ziel, die Global Health Governance zu stärken, annä- hern. Das Bestreben, die WHO als Koordinatorin der Glo- bal Health Governance effektiver und transparenter zu gestalten, scheint stark zu sein. Es darf jedoch nicht bei Reformansätzen bleiben. Die globalen Anstrengungen, eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung für alle Menschen weltweit zu schaffen, müssen erhöht werden. Im 21. Jahrhundert darf eine bestmögliche gesundheit- liche Versorgung kein Luxusgut bleiben. Denn Gesund- heit ist und bleibt ein elementares Menschenrecht. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Unterausschuss für Gesundheit in Entwicklungsländern beleuchtet immer wieder die dortige Gesundheitssitua- tion. Es sind sehr viele positive Entwicklungen zu sehen, wenngleich wir noch unendlich weit weg sind von einer zufriedenstellenden Gesundheitsversorgung in diesen Ländern. Ein Kernproblem einer nachhaltigen und sozial angemessenen Gesundheitsversorgung stellt das Fehlen von verlässlichen, finanzierbaren und bedarfsgerechten Gesundheitsstrukturen dar. In den letzten Jahren sind viele Ideen entwickelt worden. Einige Länder haben an- gefangen, Systeme zu etablieren und sie möchten ihre Ansätze ausweiten. Die Frage, welches Gesundheitssys- tem angemessen ist, müssen die Länder letztlich selbst entscheiden. Wichtig ist allerdings, dass durch seriöse Mindeststandardsetzung den Ländern ein Orientierungs- rahmen gegeben wird, an der sich die Politik orientieren muss. Die einzige Organisation, die die Standardsetzung übernehmen kann, ist die WHO. Sie ist aufgrund ihrer völkerrechtlichen Sonderrolle hierfür legitimiert und von der Völkergemeinschaft vorgesehen. Voraussetzung da- für sind aber Reformen, um auch die Kompetenzen bei der WHO wieder oder neu zu schaffen. Unser Antrag zielt darauf ab, die derzeitigen undurchsichtigen und in- effizienten Strukturen bei den globalen Gesundheitsini- tiativen überschaubar und transparenter zu gestalten. Die zentrale Rolle bei der Koordination der Akteure der glo- balen Gesundheitspolitik wie UNAIDS, GAVI, der Glo- bale Fonds, Weltbank, UNICEF, UNFPA, Bill-und- Melinda-Gates-Stiftung, aber auch christlich getragene Organisationen, die seit Jahrzehnten im Gesundheitsbe- reich aktiv sind, kann nur die WHO übernehmen. Nur durch eine planmäßige, allgemein akzeptierte Koordination können die Gesundheitssysteme in den Partnerländern zu effizienten und wirksamen Instrumen- ten umgebaut werden. Alle Welt spricht von Globalisie- rung. Unabhängig von der Bewertung der Globalisie- rung ist unbestritten, dass Globalisierung begleitet und auch im Sinne einer fairen und sozial gerechten Ent- wicklung gesteuert werden muss. Die Freiheitsrechte und das „Ownership“ der Partnerländer werden dadurch nicht beeinträchtigt. Damit die WHO diese Aufgabe übernehmen kann, muss dringend eine WHO-Reform durchgeführt werden. Transparenz, Unabhängigkeit, auskömmliche Finanzie- rung, Einbeziehung der Gesundheitsinitiativen, gute Koordination und Herstellung von Kohärenz zwischen den Programmen und Partnern gehören unbedingt dazu. Hierzu könnte ein neu zu schaffendes „Komitee C“ ein geeigneter organisatorischer Rahmen sein. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung der WHO ständig abge- nommen, private Player haben oftmals ihre Rolle über- nommen. Die Erreichung der MDGs im Gesundheitsbe- reich ist von einer gestärkten, von den internationalen Gesundheitsinitiativen akzeptierten WHO abhängig. Deshalb muss Politik heute im Interesse der Menschen in Entwicklungsländern massiv dazu beitragen, dass die WHO die beschriebene Aufgabe auch tatsächlich über- nehmen kann. Die WHO muss ihre Unabhängigkeit zu- rückgewinnen. Im Zusatzantrag fordern wir die Kündi- gung des 1959 geschlossenen Vertrages zwischen WHO und IAEO. Fukushima hat gezeigt, dass im Falle von nu- klearen Katastrophen eine unabhängige Bewertung der Situation vor Ort absolut notwendig ist. Die vom Betrei- ber des AKW Fukushima, Tepco, durchgeführten Mes- sungen wurden gefälscht, von der japanischen Regie- rung ungeprüft übernommen und auch von der IAEO nicht hinterfragt. Bald stellte sich heraus, dass die Veröf- fentlichungen der Messungen geschönt waren und die Bevölkerung belogen wurde. Die Bundesregierung meint zwar, dass es nicht Auf- gabe der WHO sei, Messungen durchzuführen sowie diese zu veröffentlichen und Verhaltensempfehlungen abzugeben. Wir sehen das grundsätzlich anders. Die Menschen vor Ort, aber auch die Weltöffentlichkeit ha- ben einen Anspruch auf nicht gefälschte Informationen. Deshalb ist die WHO auch nach ihrem eigenen Verständ- nis natürlich für die Veröffentlichung zuständig. Aller- dings verhindert der Vertrag zwischen WHO und IAEO eine unabhängige und objektive Berichterstattung und angemessene Empfehlungen. Der Vertrag sieht vor, dass Veröffentlichungen und Untersuchungen zu den Auswir- kungen ionisierender Strahlung nur nach Absprache und im Einvernehmen mit der IAEO erfolgen sollen. Die rechtliche Bedeutung des Modalverbs „sollen“ ist ein- deutig. Gleichzeitig bestätigt dieser Satz auch, dass die WHO die Aufgabe hat, Erkenntnisse, Messungen und Empfehlungen im Ernstfall zu veröffentlichen. Wie stark der Einfluss der IAEO auf die WHO ist, wurde durch die Tschernobyl-Katastrophe dokumentiert. Es wurden etwa 700 Studien zu den Auswirkungen erstellt. Davon konnte die WHO allerdings nur zwölf veröffentlichen. Der damalige Generalsekretär der WHO, Nakashima, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12469 (A) (C) (D)(B) begründete dies mit dem enormen Druck, den sich die WHO durch die IAEO ausgesetzt sah. Jeder Vertrag muss nach einer bestimmten Laufzeit auf seinen Inhalt und seine Sinnhaftigkeit überprüft werden. Die Aufga- bengebiete der WHO und IAEO sind grundverschieden. Die Aussage der Bundesregierung, dass es einfach sinn- voll sei, Absprachen zwischen UN-Organisationen zu treffen, kann nur teilweise akzeptiert werden. Sobald die eigentliche Aufgabenstellung ad absurdum geführt wird, ist so ein Vertrag nur noch als grotesk zu bezeichnen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Stel- lung und ihren Sitz in der Weltgesundheitsversammlung Mitte Mai dieses Jahres und im Exekutivrat der WHO zu benutzen, um die notwendigen Reformen voranzutreiben und insbesondere die Kündigung des Vertrages zwischen WHO und IAEO zu beantragen. Ob ein neuer Vertrag zwischen den beiden Organisationen sinnvoll ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Das müssen diese Einrichtungen selbst entscheiden. Eine Dominanz des einen über den anderen darf es nicht geben. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften (Zusatztagesordnungs- punkt 4) Frank Heinrich (CDU/CSU): Zu dem heute in zwei- ter und dritter Lesung zu debattierenden Gesetzentwurf herrscht erfreulicherweise fraktionsübergreifend weitest- gehend Zustimmung. Der Änderungsantrag der Koali- tionsfraktionen auf Ausschussdrucksache 17(11)529 wurde einstimmig angenommen, der Gesetzentwurf in der Fassung des genannten Änderungsantrages mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP bei Stimmenthal- tung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- nen. Die Hinweise, die der Weiße Ring im Rahmen der Debatten eingebracht hat, nehmen wir gleichwohl ernst und werden sie auch in Zukunft mit bedenken. Der Änderungsantrag hat vor allem klarstellenden Charakter und setzt den Beschluss des Bundesrates vom 18. März 2011 um. Damit wird nun sichergestellt, dass die Ost-West-Anpassung allen Berechtigten zugute- kommt und dass der Stichtag für den zeitlichen Gel- tungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes, OEG, in den neuen Ländern korrekt benannt ist. Darüber hinaus haben wir als Regierungskoalition mit dem Änderungsantrag ein Versprechen eingelöst, das das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder in Familien, die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II bzw. Sozialhilfe nach dem SGB XII beziehen, betrifft: Die Frist für die Beantragung rückwirkender Leistungen aus diesem Bildungspaket wurde bis zum 30. Juni 2011 verlängert. Mit dieser Regelung wird eine zwischen Bund, Ländern und Kommunen getroffene Vereinbarung umgesetzt. Es freut mich sehr, dass dieser Konsens er- reicht wurde. Es ist ganz in meinem Sinne, dass die an- spruchsberechtigten Familien unser größtmögliches Ent- gegenkommen erhalten, um die ihnen zustehende Förderung auch abzurufen. Aus meinem Wahlkreis und aus meiner Arbeit als Heilsarmeeoffizier kenne ich diese Familien sehr gut, und ich weiß, wie knapp es finanziell bei vielen zugeht. Die Empfänger der Bildungsgutscheine taten sich zu- nächst schwer, die Anträge zu stellen und die Mittel ab- zurufen. Die Medien haben das lautstark angeprangert. Wie ich denke, war diese Kritik teilweise überzogen, und es wurde zu Unrecht skandalisiert; denn nicht das Gesetz an sich ist schlecht gemacht, sondern die spe- zielle Zielgruppe ist schwer zu erreichen. Ich denke an Alleinerziehende – die müssen ihre Kinder versorgen, gehen vielfach einem Beruf nach, erledigen den Haus- halt und dann kommt zu allem anderen noch der – ich sage es mal so salopp – „Behördenkrams“ obendrauf. Da dauert es manchmal einfach länger, alles zu erledigen. Ich denke an kranke Menschen, seien sie körperlich krank, seien sie psychisch behindert oder vielleicht suchtkrank. Das ist nicht ihre Schuld. Aber es ist auch kein Fehler des Gesetzes. Diese Menschen brauchen passgenaue Hilfen und Unterstützung – und das wie- derum braucht Zeit. Insofern sind es absolut normale Startschwierigkei- ten, mit denen diese neue Förderung zu kämpfen hat, ge- rade wenn sie alle Beteiligten mitnehmen will. Für eine Bewertung der Maßnahmen ist es noch viel zu früh, doch sie kommen immer besser an, werden ver- mehrt abgerufen. In meiner Heimatstadt Chemnitz wird berichtet, dass dies schon über ein Drittel der Anspruchs- berechtigten getan hat. Das ist übrigens der positive Ne- beneffekt der Medienschelte: Bürger haben ihre Ansprü- che erkannt und fordern sie nun ein. Das ist gut und richtig, und es ist im Sinne des Erfinders – oder besser der Erfinderin: Ursula von der Leyen. Und diese wiederum steht stellvertretend für die Familien- und Sozialpolitik der Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion: Bil- dung für Kinder, dafür machen wir uns stark. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Die Beratungen zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Bundesver- sorgungsgesetzes im Ausschuss für Arbeit und Soziales waren sehr konstruktiv. Bedenken der Expertenver- bände, die von den Oppositionsfraktionen thematisiert worden sind, sind ernsthaft diskutiert worden. Dazu gehört beispielsweise der Punkt, der insbeson- dere vom Verein Weißer Ring angesprochen worden ist: Kann es dadurch, dass Ansparungen aus Leistungen des sozialen Entschädigungsrechtes als Vermögen einzusetzen sind, zu unzulässigen Härten bei den Betroffenen kommen? Einhellig wurde im Ausschuss diskutiert, dass dies nicht sein dürfe. Ich begrüße es daher, dass der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Herr Schiewerling, zu- gesagt hat, dass dieser Sachverhalt außerhalb dieses Gesetz- gebungsverfahrens geprüft werden solle. Wir begrüßen dies ausdrücklich, weil es eine Verschlechterung für die Betrof- fenen nicht geben darf. Wir alle wissen, dass es sich mittlerweile nicht mehr überzeugend vermitteln lässt, warum unterschiedliche 12470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) Leistungshöhen im sozialen Entschädigungsrecht oder unterschiedliche Rentenberechnungssysteme in Ost und West existieren. Es ist ein wichtiges Anliegen unserer Fraktion, dass Opfer in Ost und West nicht länger be- nachteiligt werden. Es wird mit diesem Entwurf der Re- gierung klargestellt, dass es keine Wertigkeit von Opfern geben kann. Auch die Umsetzung des EuGH-Urteils in der Aus- landsversorgung ist richtig. Hier wäre es nicht verständ- lich gewesen, wenn zukünftig nunmehr alle Leistungs- berechtigten mit Wohnsitz in EU-Mitgliedstaaten die gleichen Leistungen erhalten hätten, aber weiterhin eine Schlechterstellung für Leistungsberechtigte mit Wohn- sitz außerhalb der EU gegeben wäre. Zukünftig erfolgt eine einheitliche Auslandsversorgung und -fürsorge für alle Berechtigten im Ausland. Als Behindertenbeauftragte der SPD-Fraktion be- grüße ich zudem die Klarstellungen zum Persönlichen Budget sowie den Erweiterungen beim Assistenzpflege- bedarfsgesetz, wobei für die Zukunft weitere Verbesse- rungen bei der bedarfsgerechten Assistenz notwendig sind. Die Erweiterung der Frist für die nachträgliche Bean- tragung von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilha- bepaket haben wir als SPD gefordert – nun wird sie mit diesem Gesetz endlich umgesetzt. Das Paket wird bundesweit ganz unterschiedlich angenommen; dies sieht man an der Zahl der Antrags- eingänge: Sind es in dem einen Kreis gerade einmal 2 Prozent der Anspruchsberechtigten, die Leistungen be- antragt haben, sind es in einer anderen Region zwischen 20 und 30 Prozent. Die Umsetzung braucht eine längere Anlaufphase, deshalb ist es gut, wenn die Menschen jetzt zwei Monate länger Zeit haben, ihre Ansprüche rückwir- kend geltend zu machen. Wir begrüßen diese Fristver- längerung daher ausdrücklich. Der Entwurf ist somit zustimmungsfähig. Pascal Kober (FDP): Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf verfolgt die Regierungskoalition das Ziel, Änderungen in zwei Themenfeldern umzusetzen. Zum einen wollen wir das Bundesversorgungsgesetz 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung der Realität in Deutschland anpassen. Daher sieht der Gesetzentwurf vor, dass es eine Angleichung der Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz geben wird. Wir kom- men damit einer langjährigen Forderungen der Betroffe- nen und vieler Verbände nach. Es sind von dieser Ände- rung zwar „nur“ 40 000 Personen betroffen, für diese ist es jedoch ein deutlicher Fortschritt und ein Stück mehr Gerechtigkeit. Wir machen damit einen weiteren Schritt hin zu einheitlichen Rechtsverhältnissen in ganz Deutschland und damit letzten Endes zur Verwirkli- chung der deutschen Einheit. Zusätzlich vereinfachen wir die Berechnung des Be- rufsschadensausgleiches, wobei in Bestandsfällen die Vergleichseinkommen zu einem Stichtag festgestellt und dann in den Folgejahren um den Faktor der Rentenan- passung erhöht werden. Eine Besitzstandsregelung stellt sicher, dass künftig niemand eine geringere Leistung als bisher erhalten wird. Zudem verändern wir die Aus- landsversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz, wie sie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Dezember 2008 notwendig geworden ist. Die ak- tuellen Regelungen zur Versorgung von Kriegsopfern in ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten der Euro- päischen Union verstoßen nach dem Urteil gegen EU- Recht. Durch die vorgesehene Änderung wird das Recht der Auslandsversorgung sowohl vereinfacht und entbü- rokratisiert als auch mit dem Ziel einer einheitlichen Auslandsversorgung, auch außerhalb der Europäischen Union, verbunden. Zudem enthält der Teil zur Änderung des Bundesver- sorgungsgesetzes noch einige redaktionelle Änderungen, die durch die Änderung anderer Gesetze sowie durch Rechtsprechung notwendig geworden sind. Ein zweiter Punkt des Gesetzes steht jedoch mehr im Fokus der Öf- fentlichkeit und zeigt auch, wie handlungsfähig Politik ist. Es geht dabei um die Fristen für die Anträge von Leistungen aus dem Bildungspaket. Mit dem Beschluss der Leistungsreform im SGB II haben wir erstmals den Bildungs- und Teilhabebedarf von Kindern, deren Eltern in ALG-II-Bezug sind, be- rücksichtigt. Für die Beantragung der Leistungen für Bildung und Teilhabe wurde damals eine erste Frist bis zum 30. April dieses Jahres eingeräumt. Zuständige An- sprechpartner für die Anträge sind die Kommunen, die durch die Jobcenter die Verwaltung und Durchführung des Bildungspakets in der Hand haben. Mitte April mussten wir jedoch vernehmen, dass es je nach Kommune sehr unterschiedliche Zahlen über die Anzahl der Antragstellungen gab. Ich möchte an dieser Stelle jedoch auch betonen, dass die in den Medien kur- sierende geringe Zahl von 2,5 Prozent der Eltern, die Mittel des Bildungspakets beantragt hätten, so nicht stimmt. Viele Kommunen hatten deutlich höhere An- tragszahlen zu vermelden. Wir haben jedoch vor der Tatsache, dass die Nach- frage nach dem Bildungspaket bisher noch nicht zufrie- denstellend ist, die Augen nicht verschlossen, weil wir wollen, dass die Leistungen auch zum Wohle der Kinder abgerufen werden. Daher hat die Regierung schnell ge- handelt und am 21. April 2011 einen runden Tisch unter Beteiligung der Länder und der Kommunen einberufen. Dabei wurde vereinbart, die Frist bis zu der die ersten Leistungen beantragt und rückerstattet werden können, bis zum 30. Juni 2011 zu verlängern. Ich halte dies für ein gutes und unbürokratisches Vorgehen. In der Zwi- schenzeit werden sowohl die Kommunen als auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch einmal eine Informationsoffensive zum Bildungspaket starten. Schon die letzten Tage und Wochen haben gezeigt, dass die Zahl der Anträge deutlich nach oben gegangen ist. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in einigen Wochen eine zufriedenstellende Zahl an Anträgen haben werden und das Bildungs- und Teilhabepaket damit zu einem Er- folg wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12471 (A) (C) (D)(B) Frank Tempel (DIE LINKE): Die Linke begrüßt aus- drücklich, dass 20 Jahre nach der Wiedervereinigung die Leistungen im sozialen Entschädigungsrecht angegli- chen werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt. Trotz- dem gibt es noch einiges zu tun: Ich erinnere nur an die von allen Bundesregierungen verschleppte, längst über- fällige Angleichung der Renten in Ostdeutschland auf das Westniveau. Es ist zudem dringend geboten, die Ur- teile des Europäischen Gerichtshofs, EuGH, zur Aus- landsversorgung gesetzlich umzusetzen. Die Entschädi- gung bei einem Wohnsitz im Ausland soll vereinfacht werden. Obwohl der Gesetzentwurf insgesamt akzepta- bel ist, müssen wir ihn an einigen Stellen klar kritisieren. Hier muss nachgebessert werden: Erstens. Durch den neugefassten § 87 des Bundesver- sorgungsgesetzes, BVG, wird das Vergleichseinkommen, das zur Berechnung der Entschädigungsleistung heran- gezogen wird, vereinheitlicht und zukünftig anhand der Entwicklung der gesetzlichen Renten und nicht der Be- amtenbesoldung fortgeschrieben. Damit bleibt die Ent- schädigung aufgrund der Dämpfungsfaktoren in der ge- setzlichen Rentenversicherung hinter der Inflation zurück. Welche Auswirkungen die vereinheitlichten Ver- gleichseinkommen hätten, ist ohne die Berufsschadens- ausgleichsverordnung allerdings nicht absehbar. Zweitens. Der Entwurf sieht eine Ausweitung des persönlichen Budgets vor. Unter den gegebenen Um- ständen finden wir dies bedenklich, da so ein Anreiz auf schlechte Beschäftigung und Bezahlung gegeben wird. Drittens. Bisher sind Grundrenten nicht bei der Be- darfsprüfung als Einkommen angerechnet worden. Seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2010 gilt das auch für Vermögen, das aus Grundrenten ange- spart worden ist. Künftig soll nun das aus Grundrenten angesparte Vermögen angerechnet werden. Der Weiße Ring greift zu Recht eine wichtige Feststellung aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Mai 2010 auf. Das Gericht betont insbesondere den immateriellen Zweck der Beschädigtengrundrente. Es ist – ich zitiere – „davon auszugehen, dass die Beschädigtengrundrente nach § 31 BVG wesentlich von der Vorstellung des ide- ellen Ausgleichs eines vom Einzelnen für die staatliche Gemeinschaft erbrachten gesundheitlichen Sonderopfers geprägt wird.“ (BVerwG 5 C 7.09, Rz 26). Die Linke schließt sich der Forderung des Weißen Rings an, dass das aus der Grundrente gebildete Vermögen anrech- nungsfrei bleiben muss. Auf den Änderungsantrag aus den Fraktionen der CDU/CSU und FDP möchte ich gesondert eingehen. Die Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets entstanden sind, waren ganz ohne hellseherische Fähigkeiten vorhersehbar. Es ist und bleibt ein Irrsinn, die Leistungen über individuell zu be- antragende Gutscheine zu organisieren. Das ohnehin aus Sicht der Linken eher mickrige Paketchen droht im büro- kratischen Nirwana zu versacken. Es dient eher der poli- tischen Propaganda als der Aufklärung, wenn Werbung in Kinos ausgestrahlt wird, deren Eintrittsgeld sich Hartz-IV-Betroffene traurigerweise oft gar nicht leisten können. Selbstverständlich begrüßen wir die Fristverlän- gerung für die rückwirkende Inanspruchnahme der Leis- tungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Das ist ein Akt konstruktiver Schadensbegrenzung, der aus Sicht der Fraktion Die Linke jedoch nicht ausreicht, um die grundrechtlich verbürgten Ansprüche der betroffenen Kinder tatsächlich durchzusetzen. Die Linke fordert des- halb, dass als Sofortmaßnahme die für die Monate Ja- nuar bis April 2011 im Budget vorgesehenen Mittel des Bildungspakets ohne Vorlage eines Nachweises pauschal an alle leistungsberechtigten Kinder ausgezahlt werden. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass die In- formationen über das Bildungs- und Teilhabepaket auch tatsächlich bei den betroffenen Familien ankommen. Deshalb müssen alle leistungsberechtigten Familien an- geschrieben und umfassend über ihre Rechte aufgeklärt werden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie bereits in meiner Rede zur ersten Beratung des Gesetz- entwurfes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften betont, begrüßen wir im Gro- ßen und Ganzen die von der Bundesregierung vorge- schlagenen Änderungen. Auch der zur abschließenden Beratung in den federführenden Arbeits- und Sozialaus- schuss eingebrachte Änderungsantrag der Koalitions- fraktionen findet unsere Unterstützung. Bevor ich jedoch noch einmal detaillierter auf die positiven gesetzlichen Neuerungen eingehe, möchte ich Ihnen erklären, warum die grüne Bundestagsfraktion dem vorgelegten Gesetz- entwurf letztlich nicht zustimmen wird und sich ihrer Stimme enthält: Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass an- gesparte oder nachgezahlte Leistungen nach dem Bun- desversorgungsgesetz und damit auch Grundrenten auf das Vermögen angerechnet werden sollen. Dies soll dann eintreten, wenn der Bedarf nicht ausschließlich schädi- gungsbedingt ist. Eine solche Ungleichbehandlung halten wir für äußerst ungerecht und gravierend, geht sie doch am eigentlichen Zweck der Entschädigungen nach dem Bundesversorgungsgesetz und dessen Nebengesetzen (Opferentschädigungsgesetz, Strafrechtliches Rehabili- tierungsgesetz, Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungs- gesetz, Soldatenversorgungsgesetz, Zivildienstgesetz) vorbei. Zudem sind die Voraussetzungen zum Nachweis eines „ausschließlich schädigungsbedingten Bedarfs“ recht hoch. So definierte das Bundesverwaltungsgericht am 28. Juni 1995, dass gemäß § 25 c Abs. III 2 Bundes- versorgungsgesetz ein „ausschließlicher“ schädigungs- bedingter Bedarf einen besonders engen kausalen Zu- sammenhang zwischen den gesundheitlichen Folgen der Schädigung und dem gegenständlichen Bedarf (zum Beispiel Erholungshilfe) bezeichnete. Danach würde es nicht ausreichen, dass die Schädigungsfolgen nur annä- hernd gleichwertige Bedingungen oder nicht unerhebli- che Mitbedingungen für das Entstehen des Bedarfs seien. Daraus ergibt sich, dass die Leistung nur dann ge- währt wird, wenn ein unmittelbarer Bedarf geltend ge- macht wird. Das Ansparen von Leistungen ist in diesen Fällen fast ausgeschlossen. Zwar ist es richtig, dass die bisherige Praxis, auch ge- stützt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- 12472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) richts, davon ausging, angesparte bzw. nachgezahlte Leistungen, sofern sie nicht ausschließlich schädigungs- bedingter Natur waren, auf das Vermögen anzurechnen. Da aber solche Leistungen nicht nur dem Zweck des ma- teriellen Schadensausgleiches dienen, sondern in zuneh- mendem Maße immer auch eine Genugtuungsfunktion für erlittenes Unrecht bzw. Leid darstellen, ist es unserer Auffassung nach nicht mehr gerechtfertigt, eigenes Ver- mögen einzusetzen. Erhält beispielsweise ein Opfer von Straftaten Leistungen nach dem Opferentschädigungsge- setz, die nach vorgesehener gesetzlicher Lage nicht aus- schließlich schädigungsbedingter Natur sind, sehen CDU, CSU und FDP nicht vor, dass die betroffene Per- son Entschädigungsleistungen ansparen kann, um mögli- che spätere Investitionen, etwa für besondere Hilfsmit- tel, zu tätigen. Der zunehmend wichtigen Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, etwa als Genugtuung für erlittenes Unrecht, wird von dieser Bundesregierung keine Rechnung getragen. Die geplante Regelung widerspricht zudem einer Ent- scheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2010 (BVerwG 5 C 7.09). Das Gericht vertritt die Auf- fassung, dass durch das Ansparen etwa die zum Vermö- gen gewordene Beschädigtengrundrente zwei Zwecke erfülle. So heißt es: „Sie ist nämlich eine Sozialleistung, die zwar einerseits typisierend und pauschalierend einen besonderen schädigungs- oder behinderungsbedingten Mehrbedarf abdecken soll (BSG, Urteil vom 28. Juli 1999 – B 9 VG 6/98 R – FEVS 51, 202), andererseits aber maßgeblich dadurch geprägt ist, dass sie als Ent- schädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen In- tegrität immateriellen (ideellen) Zwecken wie der Ge- nugtuung für erlittenes Unrecht dient.“ Letzteres gelte insbesondere für Opfer von Straftaten, „die gerade auch deshalb entschädigt werden, weil sie einen (erheblichen) Schaden an immateriellen Rechtsgütern erlitten haben“. Ähnlich äußert sich der Weiße Ring in seiner schrift- lichen Stellungnahme an den Arbeits- und Sozialaus- schuss. Die Grundrente etwa verfolge immaterielle Zwe- cke und stelle den Ausgleich für erlittenes Leid dar. Ein Zugriff auf diese Beträge, so der Weiße Ring, könne aus Opferschutzgesichtspunkten nicht akzeptiert werden. Die Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts würde auch von der Literatur geteilt, heißt es weiter. Ich finde es insgesamt sehr bedauerlich, dass die Ko- alitionsfraktionen diesen Argumenten in den parlamen- tarischen Verhandlungen nicht zugänglich waren. Ich hoffe, wir können diese Regelung – wie von der Unions- fraktion angekündigt – auf die genannten Punkte hin überprüfen. Darüber hinaus schreibt der Gesetzentwurf wie ge- sagt durchaus positive Regelungen fest. Die volle An- gleichung der Höhe der Entschädigungs- und Renten- leistungen stellt hingegen einen wichtigen Schritt zur Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz Deutschland dar und ist daher zu begrüßen. In den neuen Ländern profitieren hiervon rund 40 000 Menschen. Es ist gut, dass die Koalitionsfraktionen mit dem vorgeleg- ten Änderungsantrag die Stellungnahme des Bundesrates aufgenommen haben. Eine Besitzstandsregelung ge- währleistet, dass durch die Neuordnung des Berufsscha- densausgleiches niemand in Zukunft geringere Leistun- gen erhalten wird. Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen unter 3. stellt zudem fest, dass die Antragsfrist für rückwir- kende Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bis zum 30. Juni 2011 verlängert werden. Diese Ände- rungen sind ganz in unserem Sinne. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parla- ments und des Rates zur Festlegung der techni- schen Vorschriften für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 vom 16. Dezem- ber 2010 – KOM (2010) 775 endg. Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund- lich gestalten (Zusatztagesordnungspunkt 5) Peter Aumer (CDU/CSU): Der Begriff Einheitlicher Euro-Zahlungsverkehrsraum – in Englisch: Single Euro Payments Area, abgekürzt SEPA – bezeichnet im Bank- wesen das Projekt eines europaweit einheitlichen Zah- lungsraums für Transaktionen. In diesem Zahlungsraum sollen für Kunden keine Unterschiede mehr zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen er- kennbar sein. Dieses Projekt wird in den kommenden Wochen in eine Verordnung münden, was die christlich- liberale Koalition begrüßt. Jedoch berücksichtigt der Vorschlag der Europäischen Kommission noch nicht in ausreichendem Maße die deutschen Interessen. Das deutsche Lastschriftverfahren ist in seiner Art eu- ropaweit einzigartig. In keinem anderen europäischen Land wird dieses Verfahren angewandt. Andererseits wird in keinem anderen Land mittels Lastschriftverfah- ren mehr Geld umgesetzt wie in Deutschland. Mit 8 Mil- liarden Lastschrifttransaktionen pro Jahr ist es das wich- tigste Zahlverfahren der Europäischen Union. Das hat auch die Europäische Union erkannt, weswegen es mit dem Verordnungsvorschlag auch ein SEPA-Lastschrift- verfahren einführen wird. Wir begrüßen dies als christ- lich-liberale Koalition. Für die Umsetzung – Migration – der dauerhaft bestehenden 700 Millionen Einzugser- mächtigungen in Deutschland benötigen wir jedoch eine rechtssichere und aus Sicht der Verbraucher einfache und kontrollierbare Lösung. Denn letztendlich ist es der Verbraucher als Endnutzer, von dessen Konto Lastschrif- ten abgebucht werden, sei es die monatliche Telefon- rechnung, die Miete, die Kosten für Strom, Gas oder auch der Mitgliedsbeitrag des Sportvereins. Die Migra- tion muss für den Verbraucher erkennbar und transparent sein. Im bisherigen deutschen Lastschriftverfahren hat der Verbraucher Rechtssicherheit durch sein sechswöchiges Widerspruchsrecht. Der Verbraucher kann nach Eingang Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12473 (A) (C) (D)(B) der Lastschrift ohne Angabe von Gründen dieser wider- sprechen. Das Geld wird damit sofort auf dem Konto des Verbrauchers wieder gutgeschrieben. Zwar wird es die- ses Produkt auch auf europäischer Ebene geben, jedoch ist es nur ein Basisprodukt. Das heißt, dass es in Zukunft Lastschriftprodukte geben kann, die ein kostenloses Er- stattungsrecht des Kunden nicht vorsehen. Um die Rechte der Verbraucher zu wahren, fordert die Union da- her, dass dem einzelnen Mitgliedstaat die Möglichkeit eingeräumt werden soll, selber zu entscheiden, ob in die- sem Land diese Produkte angeboten werden dürfen. Da- mit soll sichergestellt werden, dass das bisher beste- hende voraussetzungslose Erstattungsrecht auch weiterhin für den deutschen Verbraucher beibehalten wird. Es gibt noch eine weitere Einzigartigkeit, das soge- nannte ELV, das elektronische Lastschriftverfahren. Die- ses Verfahren wurde vom deutschen Handel entwickelt und hat sich in Deutschland bewährt. Das ELV ist ein kostengünstiges Lastschriftverfahren, bei dem der Kunde mittels seiner Bankkarte bezahlt und der Zahlbe- trag von seinem Konto abgebucht wird. Zwar soll es in Zukunft auch ein vergleichbares europäisches Produkt geben; jedoch steht noch nicht fest, wann dieses auf dem Markt angeboten wird. Die christlich-liberale Koalition setzt sich deswegen dafür ein, dass für den Übergangs- zeitraum das deutsche ELV erhalten bleibt. Aber nicht nur die Bundesregierung soll durch diesen Entschließungsantrag aufgefordert werden, sich für die deutschen Verbraucherinteressen in Europa einzusetzen, sondern auch die Kreditwirtschaft. Der Verbraucher wird den Umstellungsprozess nur akzeptieren, wenn dieser Prozess transparent verläuft. Die SEPA-Produkte bzw. das SEPA-Format müssen durch eine am Kunden orien- tierte Aufklärungskampagne vorangetrieben werden. Die Kreditwirtschaft soll aufgefordert werden, dem Ver- braucher anschaulich und unverzüglich verständlich zu machen, dass durch die Umstellung dem Kunden keine Nachteile entstehen, seine Rechte nicht geschmälert werden und er sich auch bezüglich der Kosten nicht schlechterstellt als vorher. Daher fordert die christlich-liberale Koalition die Bundesregierung dazu auf, sich in den Ratsverhandlun- gen von den bisher dargestellten Überlegungen leiten zu lassen und dafür einzutreten, dass für das Überweisungs- verfahren und das Lastschriftverfahren einheitliche Übergangsfristen von 48 Monaten festgelegt werden, die Verbraucher für inländische Überweisungen in Deutsch- land die ihnen geläufigen Kundenkennungen, die kurz und dadurch verbraucherfreundlich sind, auch nach dem Enddatum noch nutzen können, zugunsten von Verbrau- chern Zahlungsdienstleister in Deutschland ausschließ- lich Lastschriften zur Einlösung annehmen dürfen, bei denen ein voraussetzungsloses Erstattungsrecht des Zah- lungspflichtigen vorgesehen ist und das bewährte elek- tronische Lastschriftverfahren für einen Übergangszeit- raum weiter genutzt werden kann, der erst endet, wenn ein mit dem ELV vergleichbares europäisches Produkt durch die Kreditwirtschaft am Markt angeboten wird. Darüber hinaus fordern wir die Kreditwirtschaft dazu auf, den Umstellungsprozess auf SEPA transparent zu gestalten und Informationsdefizite auf der Nutzerseite schon jetzt aktiv durch begleitende Informationsmaß- nahmen sowie durch eine am Kunden ausgerichtete Auf- klärungskampagne zu beheben, eine Umstellung beste- hender Einzugsermächtigungen auf das SEPA-Mandat im Wege einer Änderung der Allgemeinen Geschäftsbe- dingungen selbstständig, rechtssicher und innerhalb der nächsten zwölf Monate ab Beschluss dieses Antrages herbeizuführen sowie unmittelbar die für diese Lösung notwendigen Vorbereitungen zu treffen und die Beteilig- ten, insbesondere auch den Deutschen Bundestag, über die Maßnahmen und den genauen Zeitplan hinreichend zu informieren, um gegebenenfalls gesetzgeberischen Handlungsbedarf so frühzeitig vor dem Enddatum zu er- kennen, dass diesem im Gesetzgebungsverfahren nach- gekommen werden kann, verbraucherfreundliche Kon- vertierungsmöglichkeiten – mittels derer inländische Kundenkennungen rechtssicher auf das SEPA-Format überführt werden – am Markt kostenfrei anzubieten, da- mit die Verbraucher in Deutschland für inländische Überweisungen auch in Zukunft die ihnen geläufigen Kundenkennungen verwenden können, zugunsten der Verbraucher in Deutschland auch weiterhin ausschließ- lich Lastschriftverfahren am Markt anzubieten oder zu verwenden, bei denen ein voraussetzungsloses Erstat- tungsrecht des Zahlungspflichtigen vorgesehen ist, und mit dem European Payments Council zeitnah ein mit dem elektronischen Lastschriftverfahren vergleichbares kostengünstiges europäisches Produkt zu entwickeln. Nur durch eine bürgerfreundliche Gestaltung des eu- ropäischen Zahlungsverkehrs werden die neuen Formate angenommen. Die Kinder von heute sollen morgen in ei- nem grenzenlosen Europa leben, an dem auch im euro- päischen Zahlungsverkehr der Euro an den Grenzen nicht mehr haltmacht. Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Der vorliegende Entschließungsantrag begrüßt die Initiative der Europäi- schen Kommission zur Verwirklichung des einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums. Der einheitliche Euro-Zahlungsverkehrsraum, das heißt SEPA, wird kommen. Das ist gut und richtig. SEPA ist ein wichtiger Bestandteil des Binnenmarktes und hilft auf Dauer, unnötige Kosten durch einen zer- splitterten Zahlungsverkehrsraum in Europa zu ver- meiden. Die Kommission ist aktiv geworden, weil der Umstellungsprozess nicht in der Geschwindigkeit vo- rangetrieben wurde, wie wir es uns gewünscht hätten. Europaweit liegt beispielsweise der Anteil von SEPA- Überweisungen bei unter 10 Prozent aller Euro-Über- weisungen. Die deutschen Werte liegen noch deutlich darunter. In anderen europäischen Staaten ist die Um- stellung dagegen teilweise schon weit fortgeschritten. Ich hätte es besser gefunden, wenn die Kreditwirtschaft selbst – auf freiwilliger Basis – diesen Umstellungspro- zess entschiedener und schneller vorangetrieben hätte. Leider ist es dazu nicht gekommen. Deswegen ist es nur konsequent, dass die Kommission auf das Tempo drückt. Allerdings sind mit dem Vorschlag der Kommission auch einige Nachteile verbunden. Um Umstellungspro- bleme, einen unnötigen bürokratischen Aufwand und eine mangelnde Akzeptanz bei den Nutzern zu vermei- 12474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) den, ist es daher wichtig, neben den berechtigten Interes- sen der Kreditwirtschaft insbesondere die Interessen der Verbraucher in den Mittelpunkt zu stellen. Aufzuhalten ist der SEPA-Prozess, wie bereits ausgeführt, nicht. Da- her geht es jetzt darum, diesen Prozess angesichts der Besonderheiten des deutschen Zahlungsverkehrs ver- nünftig zu gestalten. Und genau das möchten wir mit un- serem Entschließungsantrag auf den Weg bringen. Fol- gende Punkte erscheinen uns dabei besonders wichtig: Erstens. Es ist richtig, verbindliche Enddaten für das Weiterbestehen der nationalen Überweisungs- und Last- schriftsysteme einzuführen, um Planungs- und Rechts- sicherheit zu schaffen. Für eine erfolgreiche Umstellung auf SEPA-Überweisungen und -Lastschriften ist aber eine deutlich längere Frist erforderlich. Dies böte auch die Gelegenheit, Verbraucher und Endnutzer besser zu informieren. Zweitens. Angesichts des hohen Anteils von Last- schriftzahlungen in Deutschland ist es von besonderem Interesse, bestehende Lastschriftaufträge so einfach wie möglich auf das neue SEPA-Lastschriftverfahren zu übertragen. Daher fordern wir die Kreditwirtschaft auf, eine Umstellung durch eine praktische und rechtssichere Änderung ihrer AGB zu ermöglichen. Drittens. In Deutschland sollen weiterhin lediglich Lastschriftverfahren angeboten werden, bei denen ein voraussetzungsloses Erstattungsverfahren möglich ist. Diese Erstattungsmöglichkeit hat wesentlich zur Akzep- tanz und Verbreitung dieses Zahlungsverkehrsinstru- ments beigetragen. Durch eine Umstellung auf SEPA- Lastschriften sollte dieses Verbraucherrecht nicht beein- trächtigt werden. Viertens. Das im Handel weit verbreitete elektroni- sche Lastschriftverfahren sollte für einen Übergangszeit- raum erhalten bleiben, bis ein vergleichbares europäi- sches Produkt angeboten wird. Fünftens. Im Interesse der Verbraucher ist es auch, die gewohnten Kontonummern und Bankleitzahlen nach ei- ner Umstellung auf SEPA-Überweisungen weiter nutzen zu können. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, sich für eine Weiternutzungsmöglichkeit einzusetzen. Die Kreditwirtschaft ist aufgefordert, eine verbraucher- freundliche, kostenlose Konvertierungsmöglichkeit an- zubieten. Sechstens. Für den Erfolg und die Akzeptanz der neuen Zahlungsverkehrsprodukte wird eine deutlich bes- sere Information der Endnutzer und Verbraucher über die anstehenden Änderungen entscheidend sein. Wir er- warten daher von der Kreditwirtschaft, dass sie ihre Kunden über die anstehenden Änderungen ausreichend aufklärt; denn die Verunsicherung ist immer noch sehr groß. Beispielsweise wird die Gefahr, alle Aufträge neu erteilen zu müssen, angesichts des übereinstimmenden Willens aller Beteiligter auf europäischer und nationaler Ebene, eine einfache Migration der Aufträge zu ermögli- chen, eher überschätzt. Auch wird zum Beispiel der Vor- teil der in die IBAN eingebauten Prüfziffern bisher kaum wahrgenommen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für diese Anliegen in den anstehenden Verhandlun- gen einzusetzen. Aber nicht nur die Regierung ist gefor- dert. Die Kreditwirtschaft wird einen wesentlichen Bei- trag leisten müssen, um die Umstellung auf einheitliche europäische Zahlungsverkehrsprodukte in Deutschland zu einem Erfolg zu machen. So liegt es vor allem im Verantwortungsbereich der Kreditwirtschaft, eine einfa- che Migration der Lastschriftaufträge sicherzustellen, ihre Kunden zu informieren und einfache Konvertie- rungsmöglichkeiten für die Weiternutzung der bisheri- gen Kontonummern anzubieten. Ich bin zuversichtlich, dass die Umstellung auf die einheitlichen Zahlungsverkehrsinstrumente bei Berück- sichtigung unserer Forderungen Vorteile für Verbraucher und Kreditwirtschaft bietet. Für die Übergangsperiode muss unnötige Bürokratie vermieden und eine prakti- kable Lösung für Handel und Verbraucher gefunden werden. Letztlich wollen wir alle einen europäischen Binnenmarkt. Wenn wir das ernst meinen, dann müssen wir konsequenterweise akzeptieren, dass nicht alle Re- gelungen eins zu eins den bisher gewohnten deutschen Regelungen entsprechen. Regelungen zum europäi- schen Binnenmarkt können nicht allen deutschen Beson- derheiten gerecht werden; denn diese europäischen Re- gelungen, ob Verordnungen oder Richtlinien, sind immer ein Kompromiss – und eben nicht die Übertragung von deutschen Vorschriften auf die europäische Ebene. Und ich glaube, das ist auch gut so. Daher lohnt es sich, sich in den Verhandlungen auf die wesentlichen Interessen zu konzentrieren und nicht an jeder Stelle „deutsche“ Be- sitzstände zu verteidigen, so gerechtfertigt und nachvoll- ziehbar dies im Einzelfall auch sein mag. Ich denke, dem kommen wir mit unserem Entschließungsantrag nach. Ich freue mich, dass auch die SPD und die Grünen die Anliegen unseres Antrages unterstützen. Damit senden wir ein deutliches Zeichen in die Beratungen des Euro- päischen Parlaments und geben der Bundesregierung Rückhalt für die Verhandlungen im Europäischen Rat. Martin Gerster (SPD): Es ist schon etwas Besonde- res, wenn Zahlen und Nummern einen Eigennamen be- kommen. So etwas kennt man normalerweise eher aus der Mathematik als aus der Politik. Und gerade im nor- malerweise recht nüchternen Bereich der Finanzpolitik dürfte es vermutlich noch seltener vorkommen, dass der- art abstrakte Dinge unter hochemotionalen Spitznamen abgehandelt werden. Im Zuge der Einführung der SEPA, des einheitlichen europäischen Zahlungsraums, haben wir es nun mit ge- nau so einem Fall zu tun: Die Nummer, um die es nun geht, hat 22 Stellen und soll vereinzelt „IBAN die Schreckliche“ getauft worden sein. Gleich vorweg: Ich halte die Aufregung, mit der zum Teil über die seit län- gerem anstehende Einführung der 22-stelligen Konto- nummern diskutiert wird, für übertrieben. Auch halte ich es für falsch, die SEPA-Einführung auf die Durchset- zung des IBAN-Standards zu verkürzen. Hinter SEPA steht das Bestreben, künftig einheitliche Verfahren und Standards im Euro-Zahlungsverkehr zu schaffen und so- mit einen einheitlichen Binnenmarkt in diesem Sektor zuermöglichen. Unterschiedliche nationale Lastschrift- und Überweisungsverfahren stehen dieser Idee im Wege. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12475 (A) (C) (D)(B) Es hat sich gezeigt, dass die gesteckten Ziele auf dem Wege der freiwilligen Einführung kaum zu erreichen sein würden. Deshalb hat die EU-Kommission im De- zember 2010 vorgeschlagen, auf dem Wege einer Ver- ordnung verbindliche Übergangsfristen für die Nutzung der IBAN einzuführen. Was verspricht man sich davon? Gelingt die flächen- deckende Einführung der SEPA-Standards, werden vor allem Auslandsüberweisungen schneller und einfacher. Lastschriften können im Rahmen der SEPA grenzüber- schreitend erteilt werden. Davon profitieren wir auch in Deutschland und das nicht nur im Bereich multinationa- ler Unternehmen. Richtig ist aber auch, dass die Men- schen in Deutschland nicht im gleichen Umfang von den Vorzügen des neuen Systems profitieren werden, wie es in kleineren Länder, zum Beispiel den Beneluxstaaten, der Fall sein dürfte. Denn hier geht ein merklich größe- rer Anteil von Überweisungen ins benachbarte Ausland. Deutschland ist der größte Zahlungsmarkt innerhalb der EU und greift am intensivsten auf Lastschriftverfahren zurück. Deshalb müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die anstehende Umsetzung der Verordnung unsere Verbrau- cher, unsere Unternehmen und die Kreditwirtschaft vor einige Herausforderungen stellen wird. Viele können nicht nachvollziehen, warum ein gut etabliertes Last- schriftsystem wie das deutsche elektronische Lastschrift- verfahren, ELV, im Zuge einer solchen Europäisierung aufgegeben werden soll. Insgesamt ist SEPA hierzulande noch kaum im Bewusstsein der Menschen angekommen. Statt solider Information herrscht tendenziell Verunsi- cherung, und nach meiner Auffassung reichen die bishe- rigen Bemühungen nicht aus, über die Funktionsweise oder die Vor- und Nachteile von SEPA und der damit verbundenen Richtlinien aufzuklären. Vor allem steht nach wie vor die Angst im Raum, dass es nicht möglich sein wird, erteilte Einzugsermächtigungen problemlos in SEPA-Mandate umzuwandeln. Um einmal den Maßstab der Umstellung zu verdeutlichen: Wir sprechen hier von einer Zahl von 700 Millionen erteilter Abbuchungser- laubnisse. Speziell Vereine und gemeinnützige Organisa- tionen fürchten, von ihren Mitgliedern neue SEPA-kom- patible Einzugsermächtigen einholen zu müssen. Diese Belastung wäre finanziell und organisatorisch unzumut- bar. Zwar sind wir optimistisch, dass es auf diesem Feld gelingen wird, eine unbürokratische Lösung zu finden und diese gemeinsam mit der deutschen Kreditwirtschaft umzusetzen. Dennoch ist es wichtig, bei den in Brüssel anstehenden Verhandlungen deutliche Zeichen zu set- zen, dass die abschließende Regelung möglichst allen Besonderheiten der deutschen Situation gerecht wird. Das bezieht sich zunächst auf die Frage hinreichend langer Übergangsfristen, die für die erfolgreiche Umset- zung – und letztlich die Akzeptanz – der SEPA-Regelun- gen essenziell wichtig sind. Ideal wäre es natürlich, den Verbraucherinnen und Verbrauchern auch nach der Um- stellung zu ermöglichen, die alten Kontonummern und Bankleitzahlen zu verwenden, wenn es um inländische Überweisungen geht. Ebenso sollte das deutsche ELV so lange weiter angewandt werden dürfen, bis auf euro- päischer Ebene eine vergleichbare SEPA-kompatible Lö- sung gefunden ist. Überdies wäre es sehr hilfreich, das kundenfreundlichere deutsche Widerspruchsrecht gegen eingezogene Lastschriften zu erhalten. Man wird sehen müssen, was die Bundesregierung im Zuge der Verhand- lungen im Rat und im Europäischen Parlament erreichen kann. Innerhalb Europas fehlt es Deutschland in dieser Frage an Verbündeten. Umso wichtiger ist das Signal, das wir mit dem heute zur Abstimmung vorliegenden Antrag setzen wollen. Einen ähnlichen Schritt hatte ich schon Anfang Februar im Zuge der Ausschussberatun- gen angeregt. Damals meinte ich über alle Fraktions- grenzen hinweg Interesse an der gemeinsamen Formulie- rung einer parlamentarischen Initiative zu erkennen, die unsere Position im Verhandlungsprozess stärken könnte. Doch trotz aller anders lautenden Bekundungen haben Bundesregierung und Koalition bis in letzter Minute die Chance nicht genutzt, uns als Opposition ernsthaft einzu- binden. Während die Kolleginnen und Kollegen im EU- Parlament offensichtlich proaktiv auf dem Laufenden ge- halten wurde, hielten es Bundesregierung und Koalition bis kurz vor Toresschluss offenbar nicht für erforderlich, die parlamentarische Opposition im Deutschen Bundes- tag in Sachen Information und Mitsprache mit einzube- ziehen. Schade. Bis Montagnachmittag gab es keinerlei Anzeichen, dass überhaupt eine Entschließung in Vorbereitung ist. Erst am Dienstagnachmittag wurde uns die Vorlage des Textes zugestellt, über den wir ohne Beratung in den zu- ständigen Gremien hätten abstimmen sollen. Als Sozial- demokraten freut es uns natürlich, dass wir letztendlich doch die Gelegenheit hatten, uns spontan in die inhaltli- che Weiterentwicklung des Antrags einzubringen. Aber es hätte Ihnen besser zu Gesicht gestanden, rechtzeitig mit allen Seiten in Kontakt zu treten und eine anständige Beratung des Antrags zu ermöglichen. Die ernsthafte und aufrichtige Suche nach fraktionsübergreifender Un- terstützung aus den Reihen der Opposition sieht meiner Meinung nach anders aus, als Sie es hier vorgemacht ha- ben. Mit Blick auf das Ergebnis: Uns war es wichtig fest- zuschreiben, dass die Bundesregierung klar in der Pflicht ist, die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur bei den Verhandlungen in Brüssel, sondern auch im Zusammenspiel mit der deutschen Kreditwirt- schaft zu vertreten. Denn es ist entscheidend, dass auch von Regierungsseite alles dafür getan wird, die Öffent- lichkeit ausreichend über die Hintergründe der SEPA- Umstellung aufzuklären und dem verbreiteten Miss- trauen entgegenzuwirken, wo es richtig und notwendig ist. Mit dieser Klarstellung können wir dem Antrag zu- stimmen und wünschen ihm möglichst breite Unterstüt- zung aus allen Fraktionen des Hauses. Frank Schäffler (FDP): Wir geben der Regierung für die schon Ende des Monats auf europäischer Ebene stattfindenden Verhandlungen eine wichtige Handrei- 12476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 (A) (C) (D)(B) chung mit auf den Weg, mit der wir die Bedeutung der Schaffung eines einheitlichen Euro-Zahlungsraums un- terstreichen. Aus unserer Sicht wäre die erstbeste Lö- sung gewesen, wenn wir die Vereinheitlichung dem Markt überlassen hätten können. Die großen deutschen Privatbanken und zunehmend auch ihre kleineren Bran- chenkollegen verstehen sich eher als europäisch denn als deutsch handelnde Unternehmen. Sie sind im Binnen- markt nicht weniger zu Hause als in Deutschland, sie agieren in Paris, London und Frankfurt gleichermaßen. Früher oder später wäre es daher zu einem marktgetrie- benen Vereinheitlichungsprozess auf europäischer Ebene gekommen. Das hat historische Vorbilder. So gibt es etwa für das deutsche System aus Kontonummer und Bankleitzahl keine gesetzliche Grundlage. Die Banken selbst haben mit innovativer Kraft einen einheitlichen Zahlungsraum in Deutschland geschaffen. Im Laufe der Zeit hätten sich auch die europäischen Banken auf ein einheitliches Sys- tem geeinigt. Nicht immer braucht es den Staat. Der im- merwährende Kostendruck, dem gewinnorientierte Un- ternehmen ausgesetzt sind, treibt die Unternehmen dazu an, sich auf sinnvolle Lösungen zu einigen. Nun hat sich die Kommission entschlossen, dem marktgetriebenen Prozess zuvorzukommen. Mit ihrem Vorhaben beabsichtigt sie, einheitliche Standards zu set- zen, an deren Ausarbeitung die wichtigen Interessenver- bände der europäischen Banken intensiv beteiligt waren. Diese einheitlichen Standards werden erhebliche Kosten- einsparungen für die Banken mit sich bringen. Insofern haben wir mit dem Vorhaben der Kommission eine zweitbeste Lösung. Nichtsdestotrotz ist dies eine gute Lösung; denn das wesentliche Ziel der Kosteneinsparun- gen bei der Abwicklung innereuropäischer Zahlungen wird erreicht. Die Regelung auf europäischer Ebene bringt aber – das ist ein typisches Problem – Schwierig- keiten im Hinblick auf unsere nationalen Besonderheiten mit sich. Unsere Lastschriftverfahren haben sich über die Jahre herausgebildet. Sie funktionieren außerordent- lich gut. Sie genießen eine hervorragende Akzeptanz in der Bevölkerung. Es existiert eine sehr hohe Rechtssi- cherheit für Banken und Kunden durch eine über die Jahre gewachsene Rechtsprechung. Die Vorteilhaftigkeit des Systems zeigt sich an seiner millionenfachen Ver- wendung. Zu dieser kommt es nur, weil Banken und Kunden gleichermaßen davon profitieren. Die Abkehr von diesem System wird den Verbrauchern schwerfallen. Es ist daher die Aufgabe der Branche, für die Akzeptanz ihrer neuen SEPA-Produkte zu sorgen. Um den Über- gang zu erleichtern, fordern wir weiter von der Bundes- regierung eine lange Übergangsperiode, während derer die Verbraucher von den alten bewährten Verfahren Ge- brauch machen können. Das ist sinnvoll, stärkt die Akzeptanz des neuen Verfahrens und sorgt für eine rei- bungslose Umstellung. Wichtigster Punkt ist die Beibehaltung des von der Rechtsprechung entwickelten Schutzniveaus. Die Rück- gabe von Lastschriften ist für die Verbraucher in langen Fristen und gebührenfrei möglich. Wir wollen nicht, dass über den europäischen Umweg dieses Schutzniveau abgeschafft wird. Man stelle sich den Unmut vor, wenn wir ein solches Gesetz im Bundestag beschlössen. Daher ist es richtig, dass wir die Bundesregierung auffordern, für den übergangsweisen Erhalt der deut- schen Lastschriftverfahren einzutreten. Ebenso richtig ist es, dass wir die Kreditwirtschaft zur Entwicklung ei- nes Produkts auffordern, das den deutschen Lösungen vergleichbar ist. Harald Koch (DIE LINKE): Das Ziel, einen einheit- lichen Euro-Zahlungsverkehrsraum (SEPA) zu schaffen, also bargeldlose Zahlungsverfahren in den Teilnehmer- ländern zu standardisieren, sodass es für Bankkunden keine Unterschiede zwischen nationalen und grenzüber- schreitenden Zahlungen mehr gibt, begrüßen wir. Doch sollte man berücksichtigen, dass der grenzüberschrei- tende Zahlungsverkehr nur einen sehr geringen Prozent- satz des gesamten Zahlungsverkehrs ausmacht. In allen Mitgliedstaaten waren Ende 2010 weniger als 10 Prozent aller Überweisungen und weniger als 0,1 Prozent der Lastschriften SEPA-Produkte. Dies zeugt auch davon, dass SEPA-Verfahren wenig anerkannt sind und die Nachfrage mäßig ist. Für die Masse der Verbraucherinnen und Verbraucher hat der inländische Zahlungsverkehr und seine Ausge- staltung die größte Bedeutung. Hierauf muss man auch bei der Errichtung eines europäischen Zahlungsverkehrs- binnenmarktes Rücksicht nehmen. Die Kundenkennun- gen in Deutschland, Kontonummer und Bankleitzahl, sind vertraut, anerkannt, relativ kurz und verbraucher- freundlich. Mit der 22-stelligen europäischen Kontonum- mer IBAN und der bis zu 11-stelligen Bankleitzahl BIC werden die Bankkunden, gerade ältere Menschen, schnell überfordert. Die Zahlen- und Buchstabenflut ist sehr feh- leranfällig; Zahlendreher gehen letztlich zulasten des Verbrauchers. Auch das in Deutschland vom Handel entwickelte elektronische Lastschriftverfahren ist ein Erfolgsmo- dell. Wie die Verbraucherzentralen befürchtet die Linke, dass durch Nivellierung der rechtlichen und technischen Standards im Zuge der SEPA-Lastschrift sinnvolle und kostengünstige Errungenschaften über Bord geworfen werden. Der Wegfall des bewährten Lastschriftverfah- rens würde dazu führen, dass viele Vereine, Verbände, Bürgerinitiativen, aber auch Firmen bei ihren Mitglie- dern und Kunden Unterschriften neu einfordern müssen. Dieser Aufwand mit allen dazugehörigen Unwägbarkei- ten wie zusätzliche Kosten ist überflüssig und darf den Betroffenen nicht zugemutet werden. Es leuchtet insge- samt nicht ein, warum die gut funktionierenden inländi- schen Zahlungsarten, ohne intensiv mögliche Folgen zu bedenken, abgeschafft oder dramatisch verschlechtert werden sollen! Insofern ist der Antrag von Union und FDP nicht schlecht und greift einige wichtige Forderun- gen auf. Die Linke will ebenfalls die Voraussetzungen dafür schaffen, auch nach Ende der Übergangsfrist Kontonum- mer und Bankleitzahl weiter nutzen zu können. Ein zwingendes voraussetzungsloses Erstattungsrecht – das heißt, bei erteilter Einzugsermächtigung hat der Zah- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12477 (A) (C) (D)(B) lungspflichtige das Recht, der Kontobelastung fristge- mäß ohne Angabe von Gründen zu widersprechen – se- hen wir als dringend geboten an. Hier sollten aus unserer Sicht einzelne Mitgliedstaaten nicht ausscheren und Pro- dukte ohne Erstattungsrecht verwenden dürfen. Die Linke begrüßt zugleich, dass sich die Bundesre- gierung zumindest an dieser Stelle nicht komplett zum willfährigen Handlanger der Kreditwirtschaft machen lässt und so unter anderem von ihr verbraucherfreundli- che, entgeltfreie Konvertierungsmöglichkeiten fordert. Damit sollen inländische Kundenkennungen rechtssicher auf das SEPA-Format überführt werden. Es ist an der Zeit, dass die Kreditwirtschaft die zweifelsohne vorhan- denen technischen Möglichkeiten auch nutzt. Uns hätten im Antrag an dieser Stelle noch explizite Hinweise auf Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestim- mungen sowie auf Schutzmaßnahmen gegen Betrug, zum Beispiel Sicherheitssysteme mit Prüfzifferverfah- ren, gefreut. Die Antragssteller fordern schließlich, dass das elek- tronische Lastschriftverfahren für eine Übergangszeit weitergenutzt werden kann, die dann endet, wenn ein vergleichbares europäisches Produkt durch die Kredit- wirtschaft angeboten wird. An dieser Stelle ist Ihr Antrag viel zu schwammig. Sie hätten schon die Alternative genauer ausführen müs- sen. Man muss sich fragen, ob im Endeffekt die Pro- dukte wirklich vergleichbar sind oder letztlich doch für die Verbraucherinnen und Verbraucher ein kostenpflich- tiges Produkt auf den Markt gebracht wird. Im Antrag ist an einer Stelle die Rede von einem „kostengünstigen“ Produkt. Das gibt zu denken, wenn man berücksichtigt, dass bislang das elektronische Lastschriftverfahren für die Endkunden kostenfrei war. Alles in allem wird die Branche mit der Einführung von SEPA Effizienzgewinne in Milliardenhöhe verbu- chen können. Sorgen Sie dafür, dass diese nicht einfach „eingesackt“, sondern an die Verbraucherinnen und Ver- braucher weitergegeben werden! Im Zuge des SEPA-Verfahrens fallen einem dann noch zwei weitere Dinge auf: Zum einen ist es verwun- derlich, dass die Kreditbranche hier nicht in der Lage ist, Fragen des Zahlungsverkehrs, der einer ihrer Kernberei- che ist, intern und selbstständig zu klären und stattdessen der Staat eingreifen muss. Zum anderen zeigt sich wie- der einmal allzu deutlich, dass die auf der EU-Ebene an- gestrebte Harmonisierung oftmals zulasten der Verbrau- cherinteressen geht. Abschließend bedauere ich, dass dieser Antrag nicht regulär im Finanzausschuss aufgesetzt und behandelt wurde. Dadurch fand keine vernünftige Beratung statt, und viele Fragen blieben unbeantwortet im Raum ste- hen. Union und FDP wollten dies alles alleine durchzie- hen. Gemeinsames Handeln mit den Oppositionsfraktio- nen hätte Fragezeichen verschwinden und den Antrag besser machen können. Aus den genannten Gründen ent- hält sich die Fraktion Die Linke bei diesem Antrag. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zunächst zum Verfahren. Dass wir hier einen Antrag zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Ra- tes zur Festlegung der technischen Vorschriften für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Ände- rung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009“ diskutieren, ist gut. Unverständlich ist, warum wir ihn ohne inhaltliche Ausschussberatung heute abstimmen müssen. Dass es jetzt so eilt, kann bei einer europäischen Gesetzgebungs- initiative, die seit Monaten bekannt ist, nur auf Versäum- nisse in den Reihen der Koalition zurückgehen. Und noch unverständlicher ist es, dass die Koalitionsfraktio- nen noch nicht einmal versucht haben, zu einem gemein- samen Antrag mit der Opposition zu kommen, wie wir das in der Vergangenheit häufig erfolgreich gemacht ha- ben und nachdem in einer früheren Befassung zum Thema im Finanzausschuss große Übereinstimmungen erkennbar waren. Schließlich gibt es Stellungnahmen des Bundestags zu europäischen Themen ein besonderes Gewicht, wenn wir gemeinsam vorgehen. Inhaltlich kön- nen wir dem Antrag der Koalitionsparteien zustimmen. Wir Grünen befürworten die zugrunde liegende Ziel- setzung der Kommission, den europäischen Zahlungsver- kehr durch einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrs- raum, Single Euro Payments Area, im Sinne einer Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes zu ver- einfachen. Allerdings bringt die im Verordnungsvor- schlag vorgesehene komplette Umstellung auf den ein- heitlichen Euro-Zahlungsraum in der derzeitigen Fassung für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch- land Nachteile mit sich. Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der Ratsver- handlungen im Sinne der folgenden Überlegungen einzu- setzen: Zunächst muss man feststellen, dass der Verord- nungsvorschlag einige Probleme nicht berücksichtigt, die sich im Lichte der Umstellung von dem nationalen auf das europäische Zahlungsregelungsregime ergeben. So ist die Vorgabe von Fristen für das Weiterbestehen der nationalen Überweisungs- und Lastschriftverfahren zwar erforderlich, um Planungs- und Rechtssicherheit für Ver- braucherinnen und Verbraucher als auch für Zahlungs- dienstleister zu schaffen. Gleichzeitig muss aber sicher- gestellt werden, dass es für das Überweisungs- und Lastschriftverfahren einen gemeinsamen Endtermin so- wie eine angemessene Übergangsfrist gibt. Das ist not- wendig, um den Übergangsprozess vom nationalen Rechtsrahmen hin zu SEPA-Produkten für Verbrauche- rinnen und Verbraucher so transparent wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig muss darauf hingewirkt werden, dass in den Verordnungsvorschlag aufgenommen wird, dass Verbraucherinnen und Verbraucher für inländische Zah- lungen in Deutschland die ihnen bisher vertrauten und im Verhältnis zur IBAN, International Bank Account Number, bzw. BIC, Bank Identifier Code, kurzen Kun- denkennungen, Kontonummer und Bankleitzahl, auch weiterhin nutzen können. Die bisher im Verordnungs- entwurf vorgesehene verpflichtende Angabe der IBAN (A) (C) (D)(B) im Überweisungsauftrag durch den Verbraucher ist un- nötig. Zugleich sollte der Zahlungsdienstleister für die Um- wandlung von Kontonummer und Bankleitzahl in IBAN, für die schon heute automatische und kostengünstige Programme bestehen, Verbrauchern kein Entgelt in Rechnung stellen dürfen. Des Weiteren muss im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher dafür Sorge getragen werden, dass kos- tengünstige und bewährte Zahlungsverkehrsprodukte weiterhin Bestand haben können. Das kartengestützte und kostengünstige elektronische Lastschriftverfahren soll so lange erhalten bleiben, bis ein vergleichbares eu- ropäisches Produkt am Markt angeboten wird. Eine Ab- schaffung des elektronischen Lastschriftverfahrens brächte eine nicht wünschenswerte Verringerung des Wettbewerbs unter den Zahlungsverkehrsprodukten mit sich. Gleichfalls ist zu berücksichtigen, dass das Einzugs- ermächtigungsverfahren bislang das Recht vorsieht, der Belastung des Kontos innerhalb einer Frist ohne Nen- nung eines Grundes zu widersprechen, und damit einen effektiven Schutz vor unberechtigten Abbuchungen ge- währt. Diese Widerspruchsmöglichkeit als Korrektiv für unberechtigte Belastungen muss erhalten bleiben. Um einen effektiven Schutz vor unberechtigten Zahlungen zu gewährleisten, braucht es effektive Kundenrechte. Weiterhin muss sich die Bundesregierung mit Nach- druck dafür einsetzen, dass die Kreditwirtschaft die Um- stellung bestehender Einzugsermächtigungen auf SEPA- Lastschriftmandate rechtzeitig vornimmt und dafür ver- braucherfreundliche und praxisnahe Lösungen schafft. Falls hier gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehen sollte, muss das dem Bundestag rechtzeitig mitgeteilt werden. In diesem Zusammenhang fordern wir von der Kreditwirtschaft, rechtzeitig vor der Umstellung auf die SEPA-Produkte die Verbraucherinnen und Verbraucher im Rahmen einer Informationskampagne aktiv aufzuklä- ren. Immerhin zeigte sich erst kürzlich im Rahmen der Einführung der Kraftstoffsorte E 10, welche Unsicher- heit und Unzufriedenheit eine ausbleibende bzw. ver- fehlte Informationspolitik seitens Bundesregierung und Wirtschaft bei Verbraucherinnen und Verbrauchern er- zeugen kann. Abschließend möchte ich betonen, dass dringend si- chergestellt werden muss, dass es künftig faire Kosten für SEPA-Produkte gibt. Jedenfalls sollten Verbrauche- rinnen und Verbraucher keine höheren Gebühren zu zah- len haben, als sie diese für vergleichbare Überweisungen und Lastschriften nach bisherigem Regelungsregime ge- zahlt hätten. Gewährleistet werden kann das, indem in Art. 6 des Verordnungsvorschlags eine entsprechende Höchstpreisgrenze eingefügt wird. Damit wäre zugleich sichergestellt, dass keine Umstellungskosten auf Ver- braucherinnen und Verbraucher abgewälzt werden. Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö k 2 12478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 erei, Bessemerstraße 83–91, 1 ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 2 108. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710800000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in unsere
Tagesordnung eintreten.

Seit unserer letzten Sitzung haben die Kolleginnen
und Kollegen Gabriele Lösekrug-Möller, Heinz Paula
und Dr. Ilja Seifert ihre 60. Geburtstage gefeiert. Im
Namen des Hauses noch einmal herzliche Gratulation
und alle guten Wünsche!


(Beifall)


Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kollegin
Christine Lambrecht anstelle des ausgeschiedenen
Kollegen Olaf Scholz neues ordentliches Mitglied im
Gemeinsamen Ausschuss und im Vermittlungsaus-
schuss werden soll. Darf ich dazu Ihr Einverständnis
feststellen? – Das sieht so aus. Dann ist die Kollegin in
beide Ausschüsse gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern, wozu auch die Vereidi-

Rede
gung eines Bundesministers gehört, die nach dieser
Zusatzpunktliste heute Mittag, voraussichtlich zwischen
12.30 und 13.00 Uhr – stellen Sie sich darauf bitte ein –,
vorgenommen werden soll:

ZP 1 Vereinbarte Debatte
zum Hilfsantrag Portugals

ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Ge-
sundheit

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 29

a) Beratung des Antrags der Abgeord
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossman
Peter Bartels, weiterer Abgeordne
Fraktion der SPD
tzung

, den 12. Mai 2011

.01 Uhr

Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten
aufnehmen – Verantwortung des Bundes für
den Ruf des Forschungsstandortes Deutsch-
land wahrnehmen
– Drucksache 17/5758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kriterien und Anforderungen für eine parla-
mentarische Beteiligung an der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik der EU
– Drucksache 17/5771 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 4 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines

text
Gesetzes zur Änderung des Bundesversor-
gungsgesetzes und anderer Vorschriften

– Drucksache 17/5311 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11. Ausschuss)


– Drucksache 17/5793 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald


(8. Aususs)


rucksache 17/5796 –

ichterstattung:
neten René
n, Dr. Hans-
ter und der

sch

– D

Ber

Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Alexander Bonde

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zur
Festlegung der technischen Vorschriften für
Überweisungen und Lastschriften in Euro und
zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/
2009 vom 16. Dezember 2010 – KOM(2010)
775 endg.
Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund-
lich gestalten
– Drucksache 17/5768 –

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai
1959 kündigen – Für eine unabhängige und ef-
fektive WHO
– Drucksache 17/5769 –

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit hier Änderungen vorgesehen sind und soweit erfor-
derlich, abgewichen werden.

Aufgrund der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag
Portugals und der Aufsetzung von zwei weiteren Zusatz-
punkten nach den Tagesordnungspunkten 15 bzw. 17
verschieben sich die nachfolgenden Tagesordnungs-
punkte jeweils nach hinten. Die Tagesordnungspunkte
18 und 26 werden abgesetzt.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgende
Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss

(6. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden:


Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutz-
gesetzes und weiterer Gesetze

– Drucksache 17/5178 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes

– Drucksache 17/5754 –
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf der Druck-
sache 17/5754 dafür den Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl
vor.

Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-
merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren.

Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentari-
sche Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist ge-
wählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens
311 Stimmen erhält.

Die Wahl erfolgt mit blauer Stimmkarte und blauem
Wahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit
noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der
Lobby entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf,
dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Namen trägt.


(Abgeordnete aller Fraktionen beglückwünschen den Abg. Rainer Brüderle [FDP])


– Der Deutsche Bundestag nimmt mit Faszination die
ersten Annäherungsversuche zwischen dem Vorsitzen-
den der SPD-Fraktion und dem neuen Vorsitzenden der
FDP-Fraktion zur Kenntnis, dem ich bei dieser Gelegen-
heit herzlich zu seiner neuen Aufgabe gratuliere.


(Beifall)


Gültig sind nur Stimmkarten, die mit einem Kreuz
bei „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ versehen sind. Un-
gültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz
oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze
enthalten.

Die Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimm-
karte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben
Sie bitte den Schriftführern an der Wahlurne Ihren Wahl-
ausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann
nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wer-
den.

Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle
Wahlurnen besetzt? – Das ist offenkundig der Fall.

Dann eröffne ich den Wahlgang.

An der Urne am Ausgang zur Abgeordnetenlobby
scheint noch ein Schriftführer zu fehlen. Könnten sich
die Geschäftsführer bitte darum kümmern?

Ist noch ein Mitglied des Hauses im Saal anwesend,
das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offen-
sichtlich nicht der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl werden wir
Ihnen später bekannt geben.1)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, nehmen Sie bitte wieder Platz.

1) Ergebnis Seite 12293 B





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Zusatzpunkt 1 unserer Tagesordnung auf:

Vereinbarte Debatte
zum Hilfsantrag Portugals

Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP sowie ein Entschließungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ge-
schäftsführende portugiesische Regierung hat sich An-
fang April angesichts fortgesetzten Vertrauensverlustes
und sich massiv verschlechternder Refinanzierungsbe-
dingungen an den Finanzmärkten gezwungen gesehen,
internationale Finanzhilfen zu beantragen. Die Verhand-
lungsführer der Europäischen Kommission, der Europäi-
schen Zentralbank und des Internationalen Währungs-
fonds, die daraufhin nach dem vorgesehenen vereinbarten
Mechanismus die entsprechenden Prüfungen vorgenom-
men und Verhandlungen mit der portugiesischen Regie-
rung geführt haben, sind zwischenzeitlich zu der
Einschätzung gekommen, dass die Tragfähigkeit der por-
tugiesischen Staatsverschuldung durch ein striktes
finanz- und wirtschaftspolitisches Reformprogramm
wiederhergestellt werden kann. Wir sollten den portugie-
sischen Bürgerinnen und Bürgern diese Chance nicht ver-
wehren.

Neben der geschäftsführenden portugiesischen Regie-
rung haben sich auch die beiden größten Oppositionspar-
teien auf die Ziele dieses finanz- und wirtschaftspoliti-
schen Programms verpflichtet. Das ist wichtig; denn es
kann keine Finanzhilfen auf der Basis unverbindlicher
Zusagen geben. Im Übrigen wird jedes Programm seine
Ziele nur erreichen, wenn die Bevölkerung des betref-
fenden Landes den Weg mitgeht, wenn sie sieht, dass der
Weg notwendig und richtig ist – zu einer nachhaltigen
Wiederherstellung der portugiesischen Staatsfinanzen
und der dauerhaften Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
Portugals. Das ist der Weg, der Portugal eine Zukunfts-
perspektive eröffnet. Es handelt sich um ein ehrgeiziges
Maßnahmenpaket, über das die europäischen Finanz-
minister am Montag und Dienstag der kommenden Wo-
che zu beraten und zu befinden haben. Wir haben uns
gestern um das notwendige Einvernehmen mit dem
Haushaltsausschuss bemüht und geben dem Bundestag
heute, wie es die gesetzliche Regelung vorsieht, Gele-
genheit zur Stellungnahme.

Das Maßnahmenpaket ist ehrgeizig, aber auch mach-
bar. Die portugiesische Regierung hat im Übrigen in den
vergangenen Monaten schon erhebliche Konsolidie-
rungsanstrengungen unternommen und hat sich ver-
pflichtet, weitere Maßnahmen in einer Größenordnung
von 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zur Reduzie-
rung des Defizits in Kraft zu setzen: Es sollen Gehälter
im öffentlichen Dienst sowie Renten jenseits eines Min-
destbetrags für die sozial Schwächeren gekürzt oder
zusätzlich besteuert werden. Die Beschäftigung im öffent-
lichen Dienst soll um jährlich 1 bis 2 Prozent zurückge-
führt werden. Im Gesundheitssystem sollen 550 Millionen
Euro eingespart werden. Die Transfers an nachgeordnete
Ebenen sollen gekürzt werden. Die öffentlichen Unter-
nehmen kommen – das scheint mir besonders wichtig –
auf den Prüfstand; sie müssen ihre Kosten um 15 Prozent
reduzieren. Die Effizienz der Verwaltung soll gesteigert
und die Haushaltskontrolle intensiviert werden. Der An-
wendungsbereich ermäßigter Mehrwertsteuersätze wird
reduziert, und Ausnahmen von der Körperschaft- und
Einkommensteuer werden abgebaut. Verbrauchsteuern
wie etwa die Tabaksteuer und auch die Immobiliensteuer
sollen erhöht werden. Durch Privatisierungen sollen bis
zum Ende des Programms zusätzlich 5,5 Milliarden
Euro aufgebracht werden.

Ich nenne diese einzelnen Punkte, damit man ein Ge-
fühl dafür bekommt, dass es sich wirklich um ein durch
konkrete Maßnahmen unterlegtes und deswegen als trag-
fähig zu beurteilendes Programm handelt.

Aber Schwerpunkt des Programms sind Strukturrefor-
men für die Wirtschaft. Denn das eigentliche Problem
Portugals ist seit vielen Jahren, dass die Wachstumszah-
len der portugiesischen Wirtschaft und die Wettbewerbs-
fähigkeit ungenügend sind. Portugal hat seit 2000, also
seit über zehn Jahren, ein durchschnittliches Wachstum
von nicht mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Das hat zu einem hohen Leistungsbilanzdefizit geführt. Die
Nettoauslandsverschuldung Portugals liegt bei 110 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts. Der private Sektor ist mit
260 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hoch verschul-
det. Die öffentliche Verschuldung ist nicht so hoch wie
in anderen europäischen Mitgliedsländern.

Um mehr Wachstum zu ermöglichen, müssen die Ar-
beitsmärkte flexibilisiert werden. Vor allen Dingen junge
Menschen brauchen eine bessere Beschäftigungsper-
spektive. Deswegen hat die portugiesische Regierung
eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen, um zu einer
größeren Effizienz, einer stärkeren Beschäftigung und
einer größeren Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu
kommen.

Auf der Grundlage dieses Programms ist es vertretbar
und richtig, Finanzhilfen bis zu 78 Milliarden Euro zur
Verfügung zu stellen, um Portugal den Weg zu den
Finanzmärkten in einer angemessenen Zeit wieder zu er-
möglichen. Der Internationale Währungsfonds wird sich
mit einem Drittel daran beteiligen; die anderen zwei
Drittel müssen vom EFSF, also der Gemeinschaft der
Euro-Länder, und dem EFSM, dem Fonds der 27 Mit-
gliedsländer der Europäischen Union, getragen werden,
wobei die Aufteilung der zwei Drittel zwischen den bei-
den Fonds am Montag noch im Einzelnen abschließend
behandelt werden muss. Das ist noch nicht im Letzten
geklärt.

Ich glaube, dass wir vorschlagen können, dass wir
– unter den noch zu vereinbarenden Bedingungen – die-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

sem Programm, diesen Vorschlägen zustimmen. Ich bitte
um die Stellungnahme des Deutschen Bundestags dazu.

Meine verehrten Damen und Herren, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die Situation Portugals zeigt erneut,
wie ernst wir die Gefahr von Ansteckungseffekten in der
Euro-Zone nehmen müssen. Portugal ist weniger stark
verschuldet als andere Euro-Staaten. Portugal hat nicht
– um ein weiteres Problem zu nennen – wie Irland einen
weit überdimensionierten Bankensektor. Dennoch ist es
aus den genannten Gründen zu einer dramatischen Ver-
schlechterung der Refinanzierungsbedingungen gekom-
men. Das zeigt, wie wichtig eine verstärkte, frühzeitige
wirtschaftliche Überwachung potenzieller Krisenstaaten
und die Umsetzung von Strukturreformen in der Euro-
Zone insgesamt sind.

Deswegen ist es gut, dass wir im vergangenen Jahr in
der Europäischen Union die Stärkung des Stabilitäts-
und Wachstumspakts beschlossen haben, dass wir mit
den makroökonomischen Überwachungsverfahren nicht
nur die Haushaltsentwicklung beobachten, sondern auch
ein stärkeres Augenmerk auf die wirtschaftliche Ent-
wicklung richten, dass wir mit dem Euro-Plus-Pakt für
mehr Wettbewerbsfähigkeit Möglichkeiten gefunden ha-
ben, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit aller Mit-
gliedsländer zu verbessern.

All das wird seine Wirkung nicht über Nacht zeigen.
Wir haben es mit Problemen zu tun – es sind mehr Pro-
bleme, als wir vor einem Jahr gehofft haben –, die ihre
Ursachen im Grunde in Fehlern der Vergangenheit ha-
ben, mit denen wir aber umgehen müssen, weil wir in
unserem ureigensten – auch deutschen – Interesse die
wirtschaftliche und politische Integration Europas ver-
teidigen und die Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit
der Europäischen Währungsunion gewährleisten müs-
sen. Wir müssen in diesem Zusammenhang uns und un-
sere Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder und wieder
daran erinnern, dass wir von der wirtschaftlichen Inte-
gration und der europäischen Währungsgemeinschaft
große wirtschaftliche und soziale Vorteile haben.

Wir hätten die Finanz- und Bankenkrise des Jahres
2008 nicht annähernd so gut überstanden – die Folgen
wie der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um
4,7 Prozent waren schwer genug –, wenn wir nicht die
Europäische Währungsunion gehabt hätten. Fast zwei
Drittel unserer Exporte gehen in andere europäische
Länder. Ohne die gemeinsame Währung hätten wir
starke Aufwertungstendenzen gehabt. Ohne die Europäi-
sche Währungsunion hätten wir nicht die gute Ent-
wicklung des Arbeitsmarkts, der Wirtschaft und – die
Ergebnisse der Steuerschätzung werden heute bekannt
gegeben – der öffentlichen Finanzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen gehen wir diesen Weg, auch wenn schwie-
rige Entscheidungen erforderlich sind, die keinem leicht-
fallen und bei denen wir die Aufgabe haben, sie immer
wieder gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbür-
gern zu begründen. Denn die europäische Einigung wird
am Ende nur gelingen, wenn wir die Mitbürgerinnen und
Mitbürger wieder und wieder von der Richtigkeit und
Verantwortlichkeit unserer Entscheidungen überzeugen.
Wir handeln im besten Interesse aller Europäer und vor
allen Dingen aller Deutschen; denn wir haben in mehr
als einem halben Jahrhundert nicht weniger als andere
politisch und wirtschaftlich von der europäischen Eini-
gung profitiert. Wir tun das Beste für die Zukunft unse-
rer Kinder und nachfolgender Generationen, wenn wir
die europäische Einigung auch für die Zukunft leistungs-
fähig und nachhaltig halten. In Zeiten der Globalisierung
kann keiner von uns in Europa seinen Interessen gerecht
werden, ohne dass wir in Europa zu gemeinsamen politi-
schen, finanziellen und wirtschaftlichen Entscheidun-
gen fähig sind und so unsere Interessen in der Welt
wahrnehmen; daran müssen wir uns erinnern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt auch für Griechenland. Natürlich weiß ich,
dass die vielen Meldungen, die Entwicklung der Zins-
sätze an den Finanzmärkten und all diese Dinge für er-
hebliche Beunruhigung sorgen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, damit es ganz klar ist: Wir haben mit Grie-
chenland vor etwas mehr als einem Jahr eine Kreditver-
einbarung getroffen. Die Kredite werden in vierteljährli-
chen Raten ausbezahlt. Die Grundlage jeder Auszahlung
sind vierteljährliche Berichte des Internationalen Wäh-
rungsfonds, IWF, der Europäischen Zentralbank und der
Europäischen Union dazu, ob sich das Programm verein-
barungsgemäß weiterentwickelt. Diese Berichte sind Vo-
raussetzung für jede Entscheidung. Den letzten Bericht
gab es im März. Angesichts wachsender Gerüchte auf
den Finanzmärkten darüber, dass die Situation kritischer
wird, habe ich schon im April gesagt, dass wir uns den
nächsten Bericht im Juni besonders sorgfältig anschauen
werden. Denn wir werden keine unverantwortlichen Ent-
scheidungen treffen, aber wir können unsere Entschei-
dungen nur auf der Grundlage klarer Analysen treffen.
Der nächste Bericht des IWF, der EZB und der Europäi-
schen Kommission über die Entwicklung in Griechen-
land steht im Juni an. Auf der Grundlage dessen werden
wir entscheiden.

Wenn sich herausstellen sollte, dass Griechenland nicht
in dem zeitlichen Rhythmus, wie es in den vergangenen
Jahren zugrunde gelegt wurde, an die Finanzmärkte zu-
rückkehren kann, dann muss darüber gesprochen werden,
welche zusätzlichen Maßnahmen insbesondere Grie-
chenland ergreifen kann und was zusätzlich getan wer-
den kann, um dieses Problem zu lösen. Ohne klare Kon-
ditionen werden wir keine zusätzlichen Maßnahmen
beschließen können. Denn alles andere würde Zweifel
an der Verlässlichkeit dessen hervorrufen, was wir heute
und in der nächsten Woche auch im Hinblick auf Portu-
gal zu entscheiden haben. Nur Verlässlichkeit kann die
Grundlage für verantwortliche Entscheidungen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Wir wer-
den ständig gewarnt, wir mögen bei jeder Überlegung
dahin gehend, dass auch der private Sektor an den Kos-
ten für irgendwelche Maßnahmen beteiligt werden
könne, auf die Reaktion der Finanzmärkte achten. Das
ist richtig. Wir sind in die Finanzmärkte eingebunden.
Wir haben ein Interesse an funktionierenden Finanz-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

märkten und ein Interesse daran, dass das Vertrauen der
internationalen Finanzmärkte in Europa erhalten bleibt.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir haben das Primat der Politik!)


Auch der Bund muss sich in diesem Jahr in einer Grö-
ßenordnung von weit über 300 Milliarden Euro an den
Finanzmärkten refinanzieren. Das Vertrauen der Finanz-
märkte ist eine Conditio sine qua non. Aber Vertrauen in
die Nachhaltigkeit unserer wirtschaftlichen Ordnung
setzt auch voraus, dass nicht die Gewinnchancen bei den
Investoren und die Risiken beim Steuerzahler liegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen brauchen wir Regelungen, die das Ver-
trauen nicht gefährden. Diese haben die Bundeskanzle-
rin und die Bundesregierung im Europäischen Rat
durchgesetzt. An den Regelungen, die im Rahmen des
Vertrages über den Europäischen Stabilisierungsmecha-
nismus im Einzelnen ausgehandelt werden, wird die
Bundesregierung festhalten. Sie sind am Ende Voraus-
setzung nicht nur dafür, dass wir Entscheidungen treffen
können, sondern auch dafür, dass wir das Vertrauen der
Menschen überall in Europa, auch in unserem Land, in
die Fairness und die soziale Vertretbarkeit der von uns zu
treffenden Entscheidungen erhalten können.

Es kann nicht sein, dass es auf Dauer eine derart klare
Trennung von Chancen und Risiken gibt. Deswegen
müssen wir diesen Weg gehen.

Wir werden auch im Hinblick auf Griechenland und
den Europäischen Stabilisierungsmechanismus darauf
achten. Wir werden das, was wir im Deutschen Bundes-
tag beschlossen haben, in Europa gemeinsam vertreten.
Wir sind in Europa nicht allein. Aber wir werden unsere
Verantwortung wahrnehmen. Meine Bitte, mein Appell
an uns alle ist: Lassen Sie uns unserer Verantwortung ge-
recht werden! Aber lassen Sie uns nie vergessen, dass
unsere Verantwortung vor allen Dingen auch darin liegt,
dass wir die Nachhaltigkeit der europäischen Einigung
wirtschaftlich und politisch nicht gefährden. Das ist das
Wichtigste, was wir im Interesse unserer Zukunft zu leis-
ten haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710800100

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Frank-Walter

Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1710800200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Schäuble, Ihnen nehmen wir Ihre uneinge-
schränkte europäische Überzeugung ohne Zweifel ab.
Aber Ihr Problem ist doch in Wahrheit, dass Ihre eigenen
Truppen aus dem Regierungslager täglich anders funken,
nicht nur der Koalitionspartner, sondern auch das ge-
samte Regierungslager.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ist nicht die ganze Wahrheit, dass die Bundeskanzle-
rin und der Außenminister auch hier im Parlament stän-
dig mit ängstlichem Blick auf die Innenpolitik und die
innere Lage der Koalitionsparteien schauen, anstatt sich
offen ihrer Verantwortung zu stellen?


(Beifall bei der SPD)


Mit anderen Worten: Die große Angst dieser Regierung
hat einen Namen, und dieser Name ist Europa. Das war
vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen so – ich erinnere
Sie daran –, das war vor dem letzten Sommer so, das war
vor den Wahlen in Baden-Württemberg so und nach den
Märzbeschlüssen im Europäischen Rat. Im Zusammen-
hang mit dem künftigen Rettungsschirm haben Sie sich
wieder vor der Debatte im Bundestag gedrückt und ge-
hofft, dass man die parlamentarische Beratung möglichst
weit in den Herbst hinein schieben kann. Ich sage Ihnen:
So kann man mit dem Parlament nicht umgehen, und so
kann man auch mit europäischer Verantwortung nicht
umgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Bundeskanzlerin, Herr Finanzminister, das sage
ich auch deshalb, weil sich nach meiner Erinnerung die-
ses Parlament der europäischen Verantwortung nie ent-
zogen hat. Die ganze Wahrheit ist doch: Nicht das Parla-
ment ist der Regierung jemals in den Arm gefallen,
wenn Deutschland in der europäischen Pflicht war, son-
dern es sind Ihre eigenen Leute, derer Sie sich nicht si-
cher sind und vor denen Sie Angst haben. Das ist doch
der Grund dafür, weshalb wir uns seit Wochen und Mo-
naten ein, wie ich jedenfalls finde, ganz und gar unwür-
diges Schauspiel miteinander liefern.

Herr Finanzminister, Sie enthalten uns wichtige Bera-
tungsunterlagen vor. Was im Nachbarland Österreich
selbstverständlich ist, nämlich die Vorlage des Textes
des Vertrages zum europäischen Stabilisierungsmecha-
nismus, das soll offenbar hier in Deutschland nicht gel-
ten. Ich könnte auch zugespitzt sagen: Der Spiegel kennt
Ihre geheimsten Termine im europäischen Ausland; aber
dieses Parlament darf nicht wissen, welche Verträge
Deutschland schließt. Das kann nicht sein. Das ist auch
eine Frage der Selbstachtung dieses Hauses.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir können uns jetzt einmal fragen: Was hat es ei-
gentlich gebracht, dass wir mehrfach nicht zur richtigen
Zeit im Deutschen Bundestag offen und ehrlich mitei-
nander gestritten haben, sondern immer wieder versucht
worden ist, die notwendigen Debatten hinauszuschie-
ben? Wenn wir zurückschauen, sehen wir doch, dass wir
in den letzten anderthalb Jahren jedes Mal von der Wirk-
lichkeit eingeholt worden sind. Wenn Sie so wollen, hat
am Ende auch die Unerbittlichkeit der Märkte dafür ge-
sorgt, dass Ihr Handeln gekennzeichnet wird als das, was
es ist, nämlich als mutloses Herumdoktern an Sympto-
men, immer zu spät, nie vor der realen Entwicklung,





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

sondern immer hinterherhinkend und meistens getrieben
von anderen. Ich sage Ihnen: Europa erwartet anderes
von Deutschland und anderes von dieser Regierung.


(Beifall bei der SPD)


Es ist ja nicht nur die böse Opposition, Frau Merkel,
die hier im Bundestag gelegentlich sagt und auch heute
wieder sagen muss, dass mit Blick auf die letzten 10 bis
15 Jahre das Ansehen Deutschlands und der deutschen
Regierung in Europa auf dem Tiefpunkt angekommen
ist. Das finden Sie auch, wenn Sie sich einmal die Zei-
tungen aus der letzten Zeit anschauen. Der Altmeister
der deutschen Außenpolitik, Hans-Dietrich Genscher,
beschreibt im Tagesspiegel nach Analyse der Lage – ich
finde, das ist ein Artikel, der für Sie in der FDP hochbri-
sant ist –:

Von Deutschland ist jetzt eine aktive Rolle gefor-
dert und Handlungsfähigkeit der Regierung.

Was heißt das mit anderen Worten? Es ist doch auch
seine Analyse, dass diese Bundesregierung und die sie
tragenden Parteien für alles Mögliche stehen – für Streit,
für populistische Anwandlungen –; aber sie stehen eben
nach Genschers Ansicht ganz offenbar für eines nicht:
für eine aktive Rolle in Europa und für handlungsfähige
Politik. Diese Analyse teile ich, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist nicht so, dass ich nur Häme empfinde. Ich weiß,
dass das ein schwieriger Parteitag für Sie wird. Aber
deshalb schauen wir alle natürlich genau hin, was im
Vorfeld des Parteitages geäußert wird.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Thema verfehlt!)


Ich sehe – und nicht nur ich – Anträge etwa aus dem
Landesverband Hessen, in denen der Bundestagsfraktion
und den Aktiven im Kabinett vorgeworfen wird, sie hät-
ten die Europäische Union in eine Transferunion umge-
wandelt und so gegen fundamentale liberale Überzeu-
gungen verstoßen. Vom hessischen Landesverband
werden Sie aufgefordert, die Einführung einer europäi-
schen Finanztransaktionsteuer kategorisch abzulehnen.
Ich sage Ihnen: Sie gehen hier einen gefährlichen Weg.
Wenn es ein Thema gibt, das sich aus meiner, aus unse-
rer Sicht für Populismus nicht eignet, und bisher war das
unsere gemeinsame Überzeugung,


(Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!)


dann ist das die Europapolitik. Bei diesem Thema brau-
chen wir klare Linien und Verlässlichkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe im vergangenen Jahr gemeinsam mit Peer
Steinbrück einen Vorschlag veröffentlicht – wir haben
ihn nicht zurückgehalten –, wie ein europäisches Gesamt-
konzept in der gegenwärtigen Finanzkrise und in der
Krise der Europäischen Währungsunion aussehen
könnte. Wir haben gesagt: Das funktioniert nur dann,
wenn Deutschland bereit ist, in einer solchen Situation
eine Führungsrolle zu übernehmen. Sie wollten das da-
mals nicht hören. Sie haben im Dezember des vergange-
nen Jahres gesagt, so schlimm werde das alles nicht
kommen und wir sollten aufhören, den Teufel an die
Wand zu malen. Ich erinnere mich noch sehr genau an
die erregten Zurufe, die es in diesem Parlament aus dem
Regierungslager, auch von der Regierungsbank gegeben
hat, als ich gesagt habe: Wir dürfen nicht zulassen, dass
die EZB zur Bad Bank Europas wird.

Wie sieht das heute, gut ein halbes Jahr später, aus?
Für fast 80 Milliarden Euro hat die EZB am Sekundär-
markt Staatsanleihen gekauft. Vermutlich liegen ebenso
viele riskante Bankanleihen im Depot. Der Nachfolger
von Herrn Trichet wird ein verdammt schwieriges Erbe
antreten. Warum? Weil die europäischen Regierungen,
auch die deutsche, nicht den Mut hatten, nach einem ver-
nünftigen und mutigen Gesamtkonzept zu handeln. Das
ist der Grund.


(Beifall bei der SPD)


Peer Steinbrück und ich haben damals gewusst, dass
unser Vorschlag nicht besonders populär war und in der
deutschen Öffentlichkeit und bei den Medien nicht nur
auf Zustimmung stoßen würde. Aber wir haben gesagt:
Wir werden so etwas brauchen wie einen intelligenten
Haircut; wir werden so etwas brauchen wie einen perma-
nenten Rettungsschirm; und wir werden, wenn es uns
gelingt, die europäischen Wirtschaftspolitiken mit einer
gemeinsamen europäischen Wirtschaftsregierung stärker
zusammenzuführen, auch den Weg für eine limitierte
Zulassung von Euro-Bonds freimachen müssen. „Wir
wollen das nicht!“, haben Sie damals gerufen. In allen
Punkten sind Sie sechs Monate später von der Realität
eingeholt worden. Natürlich haben wir inzwischen eine
Spielart der Transferunion, auch wenn sie nicht so hei-
ßen darf. Natürlich haben wir in Zukunft eine Art euro-
päischer Anleihen; nur Euro-Bonds dürfen sie nicht ge-
nannt werden. Natürlich wird es am Ende auch
Umschuldungen und Haircuts geben müssen und geben.
Die Frage ist nur: Wie werden sie ausgestaltet, und wann
werden sie kommen? Warten wir, bis alle privaten Gläu-
biger aus dem Schneider sind, oder gelingt es uns noch
vorher, private Banken und Versicherungen in Mithaf-
tung zu nehmen? Alle in Europa wissen das, nur die Re-
gierung verhält sich wie die drei chinesischen Affen:
nichts sagen, nichts sehen, nichts hören. So geht das
nicht.


(Beifall bei der SPD)


Statt zu sagen, was ist, hat sich so eine Art Orwell’scher
Neusprech durchgesetzt. Wir haben eine Transferunion, die
nicht so heißen darf, Euro-Bonds, die keine sind, und am
Ende werden Sie den Haircut, der kommen wird, als sanfte
Rasur verkaufen. Man kann das so machen; das bestreite ich
nicht. Man kann damit eine Koalition wie diese vielleicht
eine Zeit lang über die Runden retten. Aber man muss wis-
sen, was dabei auf der Strecke bleibt: die eigene Glaubwür-
digkeit auf jeden Fall, aber auch – und das ist schlimmer –
die Zustimmung zu diesem großen europäischen Projekt, an
dem wir Interesse haben sollten. Ich hätte vor einem, vor an-
derthalb Jahren noch jeden für verrückt erklärt, der gesagt





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

hätte: Das gemeinsame europäische Projekt kann irgend-
wann einmal in Gefahr geraten. – Inzwischen bin ich mir
nicht mehr so sicher. Dabei muss uns doch bewusst sein:
Ohne Europa und ohne die europäische Integration wäre
die Geschichte dieses Landes anders verlaufen. Wir wol-
len und wir brauchen dieses Europa. Das sage ich, obwohl
ich weiß, dass es zuhauf Defizite und Unzulänglichkeiten
gibt. Aber wir dürfen dieses Europa nicht den Stimmun-
gen, nicht den Stammtischen, nicht dem Boulevard über-
lassen. Es ist unsere Aufgabe, die Ärmel hochzukrem-
peln, rauszugehen und dafür zu kämpfen. Wir dürfen
nicht zulassen, dass erodiert, was von Generationen vor
uns aufgebaut worden ist.

Lassen Sie uns hier offen und ohne Orwell’schen
Neusprech über Europa debattieren, auch darüber, was
uns dieses Europa wert ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind für europäische Solidarität, und wir sind für die
Hilfen für Portugal samt dem Paket. Dazu stehen wir.
Aber ich sage Ihnen voraus: Die Zustimmung der deut-
schen Öffentlichkeit für diese europäische Politik ist in
Gefahr, wenn wir den Eindruck erwecken, dass die
Nutznießer dieser Solidarität nicht die Staaten und die
Menschen in den europäischen Staaten sind, sondern Fi-
nanzanleger und Banken. Europäische Solidarität muss
mehr sein. Sie funktioniert auf Dauer nicht ohne Beteili-
gung der Finanzmärkte. Machen Sie deshalb endlich den
Weg für die Finanztransaktionsteuer frei. Sorgen Sie da-
für, dass sie in Europa eingeführt wird. Auch das ist Teil
einer europäischen Solidarität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein letzter Satz aus dem Artikel von Hans-Dietrich
Genscher, der mir ernst ist und der vielleicht in schwieri-
gen Debatten auf dem FDP-Parteitag hilft:

Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wir
nicht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710800300

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

kann ich Ihnen das Ergebnis der Wahl eines Mitglieds
des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Art. 45
des Grundgesetzes mitteilen: abgegebene Stimmen 568,
ungültige Stimmen 2, gültig folglich 566 Stimmen. Mit
Ja haben gestimmt 401 Mitglieder des Deutschen Bun-
destages, mit Nein 138. 27 Kolleginnen und Kollegen
haben sich der Stimme enthalten. Damit hat der Kollege
Dr. Hans-Peter Uhl die erforderliche Mehrheit von min-
destens 311 Stimmen nicht nur erreicht, sondern auch
überboten und ist damit gewählt.1) Herzlichen Glück-
wunsch!

1) Namensverzeichnis der Teilnahme an der Wahl siehe Anlage 2

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nächster Redner ist der Kollege Luksic für die FDP-
Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1710800400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Nach Irland nimmt nun auch Portugal die Hilfe des
Euro-Rettungsschirms in Anspruch. Lassen Sie mich
gleich zu Beginn meiner Rede deutlich sagen: Es liegt
im europäischen und im deutschen Interesse, einen un-
kontrollierten Zahlungsausfall Portugals zu verhindern;
denn die Auswirkungen auf die Finanzstabilität der ge-
samten Euro-Zone wären nicht absehbar. Deswegen ist
es richtig, dass wir Verantwortung übernehmen. Herr
Steinmeier, Sie haben eben von Verantwortung und Soli-
darität gesprochen. Aber als es darauf ankam, als es um
den Rettungsschirm für Griechenland ging, haben Sie
und die SPD sich aufgrund der bevorstehenden Wahl in
NRW, also aufgrund innenpolitischer Erwägungen – Sie
kritisieren sonst immer, die Regierung würde so etwas
tun –, enthalten. Deswegen sollte die SPD bei diesem
Thema ganz zurückhaltend sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie lernen es nie!)


Die harten Bedingungen des Rettungsschirms erfüllen
ihre Funktion. Es gibt keine Anreize, die Staatsverschul-
dung weiter in die Höhe zu treiben. Der Rettungsschirm
ist die Ultima Ratio. Portugal hat sich lange gesträubt,
unter den Rettungsschirm zu gehen. Das zeigt, dass diese
Konstruktion richtig ist. Der Rettungsschirm ist kein
Selbstbedienungsladen; er ist vielmehr ein Rettungsnetz.
Die Reißfestigkeit dieses Netzes wird von dem betroffe-
nen Land selbst bestimmt. Die europäischen Staaten
spannen das Netz; die Stärke der Seile wird von dem
Land bestimmt, das das Rettungsnetz braucht. Ohne ge-
nügend eigene Anstrengungen, ohne Strukturreformen
und Haushaltskonsolidierung, reißt dieses Netz. Deswe-
gen ist es gut und richtig – das ist Teil der Politik der
Bundesregierung –, dass es auch im Fall von Portugal
die Hilfen nur im Zusammenhang mit einem ehrgeizigen
wirtschaftlichen Anpassungsprogramm gibt, das dazu
beitragen soll, dass Portugal wieder auf eigenen Beinen
stehen kann. Das ist im deutschen Interesse, das ist im
europäischen Interesse. Deshalb müssen wir hier helfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Portugal wird mit dem Hilfspaket von insgesamt
78 Milliarden Euro zwei Jahre lang von den Finanz-
märkten unabhängig sein. Es hat also Zeit, sich zu
refinanzieren, den Haushalt zu konsolidieren und die
notwendigen Strukturreformen anzugehen. Das Haupt-
problem Portugals ist die mangelnde Wettbewerbsfähig-
keit. Allerdings ist es nur bedingt mit Griechenland und





Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)

Irland vergleichbar; denn Portugal hat ein funktionieren-
des Staatswesen und eine industrielle Basis, auf der man
aufbauen kann. Es kommt jetzt darauf an, die Wettbe-
werbsfähigkeit zu steigern. Deshalb liegt der Schwer-
punkt in dem Anpassungsprogramm auch auf den Struk-
turreformen. Die Bedingungen des Hilfspakets und die
europäische Kontrolle machen dies möglich.

Das Hilfspaket ist kein Selbstzweck, sondern Hilfe
zur Selbsthilfe. Die drei Kernelemente sind: Haushalts-
konsolidierung, eine Strategie für den Finanzsektor mit
Bankenreform und Rekapitalisierung sowie – das ist das
Wichtigste – tief eingreifende und sofort einsetzende
Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im Justizsystem, bei
der Infrastruktur und auch im Dienstleistungsbereich.

Die Auflagen der internationalen Gemeinschaft sind
streng. Portugal verpflichtet sich, bis 2013 Einsparungen
in Höhe von 10 Prozent des BIP durchzuführen. Bis
2013 soll das Maastricht-Kriterium wieder eingehalten
werden. Das wird durch die regelmäßige neutrale Über-
prüfung durch IWF, EZB und Kommission vor der Aus-
zahlung weiterer Tranchen garantiert. Ich glaube, in der
deutschen Öffentlichkeit gibt es zu wenig Verständnis
dafür, was das wirklich heißt. Politisch heißt das für Por-
tugal die Aufgabe eines großen Teils politischer Souve-
ränität. Es sind große und schmerzhafte Einschnitte, die
zugemutet werden. Das Programm der neuen Regierung
– wir werden jetzt Wahlen in Portugal haben – wird zu
einem großen Teil durch die Bedingungen des Hilfspa-
kets schon vor dem Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Für uns muss aber klar sein: Nur wenn diese Reformen
wirklich umgesetzt werden, wenn die Versprechungen in
Portugal eingelöst werden, kann und darf auch gezahlt
werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Programm der Regierung ist ambitioniert. Im öf-
fentlichen Dienst in Portugal werden die Löhne einge-
froren. Die Renten werden gekürzt, die Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes wird gesenkt, das Überstundengeld
wird gedeckelt.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das gefällt Ihnen?)


Die Zahl der Rathäuser und Gemeindeverwaltungen
wird verringert. Privatisierungen im Energiebereich, bei
der Post und der Telekommunikation stehen an. Liebe
Kollegen der Linkspartei, es werden auch Steuern er-
höht, um die finanzielle Basis zu stärken. Auch wird der
Finanzsektor reguliert. Deswegen noch einmal, was das
Rettungsnetz angeht: Die Portugiesen haben es selbst in
der Hand, ob das Netz hält oder nicht. Jedenfalls sind die
Leistungen, die sich Portugal vornimmt, sehr ambitio-
niert und ehrgeizig. Davor sollten auch wir im Deut-
schen Bundestag, glaube ich, hohen Respekt haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal dem Schäffler!)

Jetzt kommt es darauf an, dass sich auch die Opposi-
tionsparteien in Portugal an das halten, was angekündigt
wurde. Sie haben dem in einem Brief zugestimmt. Das
ist wichtig und notwendig.

Die EU ist handlungsfähig. Geeignete Instrumente für
den Umgang mit Schuldenstaaten wurden gefunden. Es
muss aber klar sein: Euro-Rettungsschirm und ESM
können nur Notfallmaßnahmen sein. Jetzt ist es umso
wichtiger, die Weichen für die Zukunft zu stellen, damit
es keine Dauerhilfen gibt. Deswegen brauchen wir in
Europa eine Stabilitätskultur und eine marktwirtschaftli-
che Entwicklung der Euro-Länder. Vor allem müssen
Verstöße wirksam sanktioniert werden. Deshalb ist es
umso wichtiger, dass wir bei den Verhandlungen in
Brüssel, die jetzt anstehen, gerade beim Economic-
Governance-Paket dafür sorgen, dass wir die Ursachen
neuer Krisen bekämpfen und nicht nur an den Sympto-
men herumdoktern. Darum muss der Stabilitäts- und
Wachstumspakt so geschärft werden, dass die Mitglied-
staaten ihre Haushalte in Ordnung bringen. Bei Verstö-
ßen müssen früher Sanktionen verhängt werden. Sie
müssen automatisch erfolgen, damit sie auch endlich
einmal angewendet werden. Das ist nämlich das Pro-
blem, das wir in Europa haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu einer wirksamen Konsolidierung gehören auch die
Aufnahme von Schuldenbremsen in das nationale Recht
der Mitgliedstaaten, die Integration des Euro-Plus-Pakts
in die Rechtstexte, ein europäischer Rahmen für die
Finanzinstitute, die keine Grenzen kennen, eine straffere
Bankenregulierung, Regeln für staatliche Insolvenz und
vor allem – das wird der Hauptknackpunkt der Verhand-
lungen in Brüssel sein – die private Gläubigerbeteiligung
im ESM. Sowohl im Hinblick auf den ESM als auch auf
mögliche weitere Hilfen für Griechenland ist es wichtig,
dies in Brüssel zu verankern. Wir wissen, wie schwierig
das ist, weil sowohl die EZB als auch die Mehrzahl der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier große Be-
denken haben. Insofern ist es ein umso größerer Erfolg
der Bundesregierung, dass sie durchgesetzt hat, dass es
mit dem ESM im Rahmen der CACs eine Beteiligung
privater Gläubiger geben wird. Das ist ein Erfolg dieser
Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gestatten Sie mir noch ein Wort zur Parlamentsbetei-
ligung. Diese muss gestärkt werden. Das hat sich auch
im Falle Portugals gezeigt. Die FDP-Bundestagsfraktion
ist der Meinung, dass wir das Parlament durchaus noch
proaktiver informieren können.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Ihrer Regierung!)


Es wird, auch im Hinblick auf den zukünftigen ESM, be-
sonders wichtig sein, dass es für die Auslösung von
Hilfszusagen und Änderungen der Instrumente oder der
Ausleihkapazität einen Parlamentsvorbehalt gibt. Ohne
diesen würde es, wie ich glaube, schwierig sein, einem





Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)

ESM zuzustimmen. Ich bin der festen Überzeugung,
dass die Parlamentsbeteiligung die Regierung nicht
schwächt. Im Gegenteil: Sie stärkt die Regierung bei
Verhandlungen auf europäischer Ebene in Brüssel. Dies
liegt nicht nur im Interesse des Parlaments, sondern auch
im Interesse der Bundesregierung.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710800500

Der Kollege Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710800600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde,

dass wir heute eigentlich eine Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin zur Situation sowohl in Griechenland
als auch in Portugal hätten verlangen können und müs-
sen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Warum sprechen Sie denn im Konjunktiv?)


Frau Bundeskanzlerin, auch wenn Sie sich freiwillig in
die letzte Reihe der FDP-Fraktion setzen, ändert dies
nichts daran, dass Sie für das, was dort geschehen ist,
hier rechenschaftspflichtig sind.

Der Weg, den man mit Blick auf Griechenland gegan-
gen ist, ist gescheitert. Dort findet nicht nur ein in jeder
Hinsicht nachvollziehbarer Generalstreik statt. Viel-
mehr sind dort alle Methoden gescheitert, so wie wir es
übrigens von vornherein vorausgesagt haben. Jetzt wen-
den Sie dieselben Methoden bei Portugal an. Das kann
nicht gutgehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Bundesfinanzminister, am Freitag nahmen Sie an
einem Treffen teil. Ein bisschen haben Sie davon erzählt;
aber es war ja in gewisser Weise ein Geheimtreffen. Ich
finde, das Parlament hat einen Anspruch darauf, zu er-
fahren, was die Finanzminister der Euro-Zone dort ver-
einbart haben.

Was Griechenland betrifft, haben Sie gesagt, man
müsse strikte und harte Sparauflagen erteilen, dieser
Weg werde aus der Krise hinausführen. Er hat aber noch
tiefer in die Krise hineingeführt. Wann ziehen Sie daraus
Schlussfolgerungen?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte, dass unserer Bevölkerung eine Frage be-
antwortet wird: Sind Länder wie Griechenland, Irland
und Portugal in einer Krise, weil die Leute dort faul und
raffgierig sind – so lautet eine immer wieder anklin-
gende rassistische Antwort –, oder hat das, wie wir mei-
nen, ganz andere Ursachen? Darüber muss aufgeklärt
werden. Jeder Staat steht privaten Banken gegenüber.
Diese privaten Banken geben einem Staat gerne Kredite,
und zwar deshalb, weil der Staat ein sicherer Gläubiger
ist, der immer artig die Zinsen zahlt. Dies führt dazu,
dass Staaten immer mehr Kredite aufnehmen. Dadurch
steigt nicht nur die Belastung hinsichtlich der Raten,
sondern auch die Belastung hinsichtlich der Zinsen. Von
Problemstaaten – diese drei Länder sind solche – verlan-
gen die Banken dann immer höhere Zinssätze, sodass es
irgendwann unbezahlbar wird. Dadurch werden alle
Haushalte belastet. Nun stellt sich die Frage: Was kann
man dagegen tun? Ein Mittel wäre, Steuergerechtigkeit
herzustellen. Aber dieser Vorschlag wird niemals ge-
macht, auch nicht in Bezug auf ein anderes Land. Die
Renten sollen gekürzt werden. Aber Steuergerechtigkeit
herzustellen, das wird niemals verlangt. Das ist aber eine
der wichtigsten Voraussetzungen.


(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Die Steuern werden in Portugal doch gerade erhöht!)


Apropos FDP: Alle neoliberalen Parteien im Bundes-
tag machen immer wieder das Gegenteil. Sie sagen, die
Steuern müssten gesenkt werden.


(Oliver Luksic [FDP]: In Portugal werden sie aber gerade erhöht!)


FDP und Union haben die Vermögensteuer abgeschafft.
SPD und Grüne haben den Spitzensteuersatz der Ein-
kommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt.


(Otto Fricke [FDP]: Wer steht denn gut da? Wir oder die?)


Es passiert, wie gesagt, immer das Gegenteil. Irgend-
wann steht man vor einem Problem, Herr Steinmeier:
vor dem Problem, dass man soziale Leistungen plötzlich
nicht mehr bezahlen kann. Dann muss man entweder den
Weg des Sozialabbaus gehen, wie Sie es mit der
Agenda 2010 getan haben, oder man muss sich höher
verschulden.


(Otto Fricke [FDP]: Nein! Wir haben die Steuern gesenkt, und uns geht es gut! Die haben sie erhöht, und denen geht es schlecht!)


In der Regel passiert übrigens beides zeitgleich: Man
verschuldet sich höher und baut Sozialleistungen ab.
Dieser Weg ist aber falsch; denn wenn die Schulden
wachsen, steigen die Zinslasten weiter. Das heißt, man
ist in einem Teufelskreis. Wenn man Sozialabbau be-
treibt, dann sinken die Steuereinnahmen. Das heißt, auch
das ist keine Lösung, sondern bewirkt nur eine Verschär-
fung des Problems.

Zurück zu Griechenland, Irland und Portugal. Die pri-
vaten Ratingagenturen haben das Recht, Staaten einzu-
schätzen, und zwar gerade dann, wenn die Finanzmärkte
entfesselt sind. Wenn die privaten Ratingagenturen mit-
teilen, dass diese drei Staaten nichts taugen, dann hat das
zur Folge, dass die Zinslasten noch größer werden. Da-
mit wären sie zahlungsunfähig, und es bleibt ihnen kein
anderer Weg, als sich an die Europäische Union und den
Internationalen Währungsfonds zu wenden.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Man muss aber auch fragen, warum das so ist. Was
müssen denn die Staaten bezahlen? Sie müssen ihre
Schulden bei den privaten Banken abzahlen. Was ist mit
den Auslandsbanken? Die deutschen Banken und Versi-
cherungen haben Forderungen gegenüber Griechenland
und Portugal. Wenn sich unsere Bundesregierung hier
sehr bemüht, dann sollten Sie ehrlicherweise sagen, dass
es Ihnen auch und vordergründig darum geht, dass die
Deutsche Bank und die deutschen Versicherungen alle
ihre Gelder zurückbekommen. Das steckt nämlich da-
hinter.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Staaten wirklich pleitegingen – wobei ich mir
nicht vorstellen kann, wie das aussehen soll – –


(Oliver Luksic [FDP]: Sie haben es doch hinbekommen!)


– Ja, aber unser Ziel war, dass Sie pleitegehen, und das
ist uns auch einigermaßen gelungen.


(Oliver Luksic [FDP]: Das stimmt sogar! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


– Quatschen Sie doch nicht immer so ein dummes Zeug!
Hören Sie zu! Sie können etwas lernen.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der FDP – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wirtschaftsund Währungsunion infolge der Wiedervereinigung!)


Es gibt noch einen anderen Weg. Man könnte einen
Staat per Gesetz entschulden. Das hätte aber zwei Kon-
sequenzen: Zum einen würde man von den Banken nie
wieder Geld geliehen bekommen. Zum anderen würden
auch die deutschen Banken und Versicherungen furcht-
bar darunter leiden.

Ich nenne einmal die Zahlen in Bezug auf Griechen-
land, damit unsere Bevölkerung weiß, worum es geht.
Die Allianz-Versicherung hat gegenüber der griechi-
schen Regierung Forderungen in Höhe von 3,5 Milliar-
den Euro, die Münchener Rückversicherung 2,2 Milliar-
den Euro, die Deutsche Bank 1,6 Milliarden Euro und
die Commerzbank 3 Milliarden Euro. Insgesamt schul-
det der griechische Staat all diesen Einrichtungen
25,4 Milliarden Euro. Das zu sichern, ist die vordringli-
che Aufgabe der Bundesregierung. Das sagen Sie nie,
Herr Schäuble. Ich finde, diese Wahrheit muss auch auf
den Tisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt stellt sich die Frage, wie man dieses Problem lö-
sen könnte. Es ist ganz einfach: nur durch das schwedi-
sche Modell. Dann muss man dazu bereit sein, dass alle
großen Privatbanken, ob in Griechenland, Portugal oder
Deutschland, durch die jeweiligen Staaten übernommen
werden. Damit werden die Schulden, Zinslasten etc. re-
guliert.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das gab es in der DDR schon!)


– Ich weiß, dass die SPD konservativ ist. Als Konserva-
tive können Sie meinetwegen später alles wieder repri-
vatisieren. Die großen Privatbanken nicht zu überneh-
men, ist aber ein gigantischer Fehler.


(Beifall bei der LINKEN)


Was haben Sie denn beschlossen? Nach der Pleite der
Hypo Real Estate in Deutschland haben Sie beschlossen,
die Hypo Real Estate zu übernehmen. Die Große Koali-
tion hat sie verstaatlicht. Das heißt, dass die Bürgerinnen
und Bürger mit ihren Steuergeldern eine Forderung der
Deutschen Bank gegen die Hypo Real Estate bezahlen
mussten. 10 Milliarden Euro aus den Steuergeldern der
Bürgerinnen und Bürger haben wir der Deutschen Bank
gezahlt. Das führte dazu, dass die Deutsche Bank große
Gewinne machte, riesige Dividenden an ihre Großaktio-
näre ausschüttete und Boni an all ihre Ackermänner ver-
teilte. Das ist ungerecht. Hätten wir auch die Deutsche
Bank übernommen, wäre das Ganze nicht passiert.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie lehnen diesen Weg ab. Der Internationale Währungs-
fonds hat aber gerade festgestellt, dass die Banken nach
der Krise noch mächtiger geworden sind, als sie schon
vor der Krise waren.

Was sagen Sie jetzt den betroffenen Ländern? Wel-
chen Weg gehen Sie? Sie sagen erstens, dass diese Län-
der von der EU und vom Internationalen Währungsfonds
Geld gegen höhere Zinsen bekommen. Zweitens sollen
sie öffentliches Eigentum verkaufen. Das können sie al-
lerdings nie mehr zurückkaufen; sie werden diesbezüg-
lich entmündigt. Mein Vorredner hat recht damit, dass
das eine Einschränkung der Souveränität dieser Staaten
bedeutet. Drittens müssen die betroffenen Länder Ren-
ten, Löhne, Sozialleistungen und Investitionen drastisch
senken.


(Oliver Luksic [FDP]: Und die Steuern erhöhen!)


Was sind die Folgen? Erstens. Unbeteiligte und Un-
schuldige bezahlen die Krise. Zweitens. Es ist sozial
grob ungerecht. Drittens führen sinkende Einkommen
der Bevölkerung zu sinkenden Steuereinnahmen. Die
sinkende Kaufkraft der Bevölkerung führt zu einer
Schwächung der Binnenwirtschaft. Das wiederum führt
ebenfalls zu sinkenden Steuereinnahmen. Sie haben ei-
nen Teufelskreis organisiert, aus dem Griechenland gar
nicht mehr herauskommen kann. Diesen Teufelskreis
schlagen Sie jetzt auch Portugal vor.


(Beifall bei der LINKEN)


An Griechenland gingen 110 Milliarden Euro. Die
Frage ist: Wie viel soll nun hinzukommen? Dies wurde
vom Bundesfinanzminister nicht beantwortet. An Irland
gingen 85 Milliarden Euro, und an Portugal sollen
78 Milliarden Euro gehen. Aber Portugal ist nicht Irland.
Dort hatten wir keine Immobilienblase. Die Staatsver-
schuldung ist viel geringer. Was sind eigentlich die Pro-
bleme dort? Eine gigantisch hohe Verschuldung, und
zwar sowohl des Staates als auch der privaten Haushalte!
Lassen Sie mich Ihnen zu den privaten Haushalten in
Portugal eine Zahl nennen. Wenn man sämtliche Ein-
kommen eines ganzen Jahres in Portugal addiert – Ren-
ten, Sozialleistungen, kleine Einkünfte, hohe Einkünfte –
und dieser Summe die Verschuldung der privaten Haus-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

halte gegenüberstellt, dann kommt man zu dem Ergeb-
nis, dass die Verschuldung im Vergleich zum gesamten
Jahreseinkommen der portugiesischen Bevölkerung bei
130 Prozent liegt. Wer ist daran schuld? Der deregulierte
private internationale Finanzmarkt! Dagegen machen
Sie gar nichts. Das ist das Problem. Dadurch wachsen
ständig die Zinslasten.


(Beifall bei der LINKEN)


Portugal hat Auslandsschulden in Höhe von
220 Milliarden Euro, gegenüber Deutschland 33 Milliar-
den Euro. Wir haben also ein Eigeninteresse, Portugal zu
helfen. Wir müssen doch nicht immer so tun, als ob das
Ganze altruistisch wäre. Gerade Deutschland ist eben-
falls auf die Hilfe angewiesen. Es gibt aber eine weitere
Ursache. Sie besteht in den harten und unsozialen Spar-
auflagen. Schauen wir uns einmal an, was Sie bisher in
der EU – jetzt kommt noch einiges hinzu – gemacht ha-
ben: Kürzung des Arbeitslosengeldes in Portugal um
20 Prozent, Verkürzung der Bezugszeiten des Arbeitslo-
sengeldes von 36 auf 18 Monate, Gehaltskürzungen im
öffentlichen Dienst um 5 Prozent, Anhebung der Mehr-
wertsteuer auf 25 Prozent, Kürzung der Pensionen. Der
in Portugal gesetzlich geregelte Mindestlohn in Höhe
von 475 Euro pro Monat darf in den nächsten Jahren
nicht mehr erhöht werden. Das alles haben Sie festge-
legt.


(Otto Fricke [FDP]: Wer war das denn?)


– Natürlich hat das die EU festgelegt. Das alles sind die
Auflagen der EU.


(Otto Fricke [FDP]: Aber nicht wir!)


– Die Bundesregierung war aber führend daran beteiligt.
Wenn Sie das nicht mitbekommen haben, tut es mir leid.

Das Problem ist, dass dieser Teufelskreis gar nicht
funktionieren kann. Wenn Sie dafür sorgen, dass der por-
tugiesische Staat immer geringere Steuereinnahmen hat:
Wie soll er denn dann aus der Krise herauskommen? Ich
sage es noch einmal: Es hat in Griechenland nicht funk-
tioniert, und es kann auch in Portugal nicht funktionie-
ren. Nun muss Portugal öffentliches Eigentum im Wert
von 5,3 Milliarden Euro verkaufen. Verkehrsprojekte
und andere Investitionen müssen gestrichen werden.

Wir müssen aber auch die Handelsungleichgewichte
in der Europäischen Union und vor allen Dingen in der
Euro-Zone berücksichtigen. Deutschland hat im März
einen neuen Rekord in seiner Geschichte aufgestellt.
98,3 Milliarden Euro war der Wert dessen, was wir ex-
portiert haben. Ein neuer Rekord! 60 Prozent der Ex-
porte gingen in die Europäische Union.


(Jörg van Essen [FDP]: Wir haben schon eine gute Bundesregierung!)


– Aber diese Plusseite Deutschlands ist gleichzeitig die
Negativseite anderer Staaten, auch Portugals.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ihre einseitige Orientierung am Export wird zu einem
immer größeren Problem. Wodurch ist Ihnen denn dieser
Rekord gelungen? Er ist Ihnen gelungen, weil Sie die
Renten, die Sozialleistungen und die Löhne gekürzt ha-
ben.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710800700

Herr Kollege Gysi, ich ahne, dass Ihnen noch vieles

zu diesem Thema einfällt. Aber die Redezeit gibt das
nicht mehr her.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710800800

Ich verstehe das, Herr Präsident. Aber ich muss Ihnen

ehrlich sagen: Es sind noch so viele wichtige Dinge, die
ich Ihnen zu sagen habe.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710800900

Sie könnten mir das jetzt vertrauensvoll übergeben.

Dann gebe ich Ihnen eine Zusage.


(Heiterkeit)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710801000

Es ist bedauerlich, dass Sie das nicht mehr erfahren

werden.

Zum Schluss sage ich nur: Wir müssen vier Schritte
gehen. Wir müssen die Wirtschaft Portugals durch einen
Marshallplan stärken und brauchen dort keine Sozialkür-
zungen und Privatisierungen. Irland, Griechenland und
Portugal brauchen geringere Zinsen. Das sind kurzfris-
tige Dinge. Langfristig brauchen wir ein schwedisches
Modell und endlich die Regulierung der Finanzmärkte
durch Verbot von Hedgefonds, Leerverkäufen und die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Deutschland
muss seine einseitige Orientierung am Export aufgeben.
Es braucht höhere Löhne, höhere Renten, höhere Sozial-
leistungen, eine höhere Kaufkraft und endlich eine Stär-
kung der Binnenwirtschaft und nicht eine einseitige
Orientierung am Export.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710801100

Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710801200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie:


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Dass Sie jetzt sprechen!)


Sie müssen mit unserer Unterstützung rechnen.

Gestern im Haushaltsausschuss wollten sich Ihre Ab-
geordneten anfangs einer Formulierung verweigern,
nämlich dass wir das Einvernehmen erteilen, dass Portu-
gal an dieser Stelle geholfen wird.


(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wären Sie dabei gewesen, wüssten Sie es besser! So ein Unfug!)






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

Was sind das in Ihren Reihen für Zustände, dass Dinge,
die Ihr eigener Bundesfinanzminister ausgehandelt hat,
nicht mehr das Einvernehmen der Fraktion finden!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute Morgen lese ich, dass sich 19 Abgeordnete aus
Ihren Reihen gegen den Europäischen Stabilisierungs-
mechanismus stellen wollen. Ich kann nur unterstrei-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1710801300
Wenn Sie das hier im Bun-
destag durchbekommen wollen, dann ist es an der Zeit,
dass Sie sich endlich so verhalten wie die österreichische
Regierung auch und diesem Haus den Vertragsentwurf
vorlegen. Das ist das Mindeste, was man hier an Respekt
vor dem Grundgesetz erwarten kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Das hat nichts mit Portugal zu tun!)


Es ist richtig, Portugal zu helfen. Wir halten das für
notwendig und für ein Gebot der Solidarität in Europa.
Wenn man das nicht täte, wäre das schlecht für Portugal,
aber auch schlecht für uns. Würden wir den Liquiditäts-
vorteil, den wir und die anderen Zahlenden in diesem
EFSF haben, nicht an Portugal weitergeben


(Otto Fricke [FDP]: Was?)


– ja, wir führen einen Transfer von Liquidität durch; das
ist der Mechanismus, Herr Kollege –, dann würde sich
Portugal Mitte Juni in einer Größenordnung von mindes-
tens 10 Prozent auf den internationalen Kreditmärkten
refinanzieren müssen. Wenn wir all das Richtige, was
hier über die Schwierigkeiten und die Härten des portu-
giesischen Anpassungsprozesses gesagt worden ist, ernst
nehmen, dann kann ich nur sagen: Das ist hart, aber im
Vergleich dazu, dass sie sich sonst mit 10 Prozent refi-
nanzieren müssten, ist das eine vergleichsweise leichte
Übung. Die Sozialkürzungen, die bevorstehen würden,
wenn wir Portugal nicht helfen würden, die möchte ich
mir nicht ausmalen, und da möchte ich auch nicht auf
der Ecke der Linken sitzen, die heute sagt, diese Hilfe
solle nicht gewährt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Portugal ist nicht Irland, und Portugal ist auch nicht
Griechenland. In allen drei Fällen gibt es unterschied-
liche Gründe für die krisenhafte Entwicklung und auch
die Zerrüttung der Staatsfinanzen, die daraus resultiert.

Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, das Reform-
programm in Portugal ist ein anderes als das in Irland.
Wir haben es mit einer Finanzierung zu einem Drittel
über Einnahmen, auch Steuererhöhungen, zu tun. Es
werden ermäßigte Körperschaftsteuersätze gemindert,
und es gibt eine Einschränkung von Steuervergünstigun-
gen.

Ich glaube immer noch, dass man darüber streiten
kann, ob das sozial ausgewogen und ökonomisch ver-
nünftig ist. Aber dieses Programm geht wenigstens einen
Schritt in die Richtung, dass man ein Stück daraus ge-
lernt hat, dass man nur mit Sparen und Austerität Länder
nicht aus der Krise holen kann. Man muss sparen, aber
man muss auch investieren; man muss Haushalte sanie-
ren, und man muss die Wettbewerbsfähigkeit stärken,
wenn man aus dieser Krise in Europa rauskommen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist das, wozu ich von Ihnen, Frau Bundeskanzle-
rin, eine Botschaft völlig vermisse. Sie bewegen sich
nach wie vor in der Logik des Strafens, des Zwingens
und der Austerität. Aber es wird kein Gedanke darauf
verschwendet, in welcher Weise auch und gerade diese
Länder realwirtschaftlich wieder auf einen Kurs ge-
bracht werden können, mit dem ihre Krise tatsächlich
überwunden wird und sie nicht kaputtgespart werden.
Sie haben in meinen Augen kein Konzept für die Über-
windung der Krise.

Ich will da gar nicht die Anträge aus der FDP zitieren.
Mich würde schon mal interessieren, Herr Bundesaußen-
minister, was Sie als jemand, der von Berufs wegen Eu-
ropa verpflichtet ist, in dieser Debatte eigentlich sagen
würden: Stehen Sie dazu, dass wir zur Sicherung Euro-
pas einen gemeinsamen Rettungsschirm brauchen?


(Oliver Luksic [FDP]: Hat er doch zugestanden! Haben wir sogar beschlossen!)


Stehen Sie als Außenminister zu der Idee eines gemein-
samen Europas, oder wollen Sie weiterhin die Schäfflers
und anderen Neoliberalen in Ihrem Laden gegen Europa
mobilisieren lassen? Ich vermisse, dass Sie gelegentlich
doch mal zu solch einem Thema außenpolitisch etwas
sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber es gibt dabei ja ein weiteres Problem. Sie haben
mit Ihrer Haltung die Krise nicht verkürzt, sondern ver-
längert und verschärft.


(Zuruf der Bundeskanzlerin Angela Merkel)


– Nein, das haben Sie nicht. – Die Bundeskanzlerin
meint, sie hätte sie ausgelöst. Also, davor muss ich sie in
Schutz nehmen. Das haben Sie nicht.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber haben wir nicht dazu beigetragen, dass der Weg aus
dieser Krise länger ist, als es notwendig gewesen wäre?
Haben Sie nicht mit dem Beharren auf bestimmte Zins-
sätze im Solidaritätspakt die Schwierigkeiten dieser
Staaten mit vergrößert?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will diese Fragen in aller Ernsthaftigkeit stellen. Wir
stehen heute vor der Situation, dass Ihnen international
niemand mehr abnimmt, dass es am Ende des Tages
ohne eine Umschuldung Griechenlands gehen wird. Die
meisten Experten sind auch der Auffassung, dass wahr-
scheinlich auch in Irland kein Weg daran vorbeiführt.


(Otto Fricke [FDP]: Und Sie?)


Wir diskutieren heute schon – auch das leugnen Sie na-
türlich – ein neues Paket auch für Griechenland. Das ist





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

wahrscheinlich unausweichlich. Aber, Frau Merkel,
wenn das unausweichlich ist: Warum haben Sie nicht
den Mut, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Das ist
so, wir müssen dieses Paket und dieses Problem gemein-
sam bewältigen“?

Was machen Sie stattdessen? Sie wiederholen den
Fehler, den Sie schon Irland gegenüber gemacht haben.
Wäre es nicht klüger gewesen, bei Irland mit der glei-
chen Härte darauf zu dringen, dass Irland seine lächerli-
chen Körperschaftsteuersätze anhebt, wie Sie darauf ge-
drängt haben, dass Irland 5,8 Prozent Zinsen auf die
europäischen Kredite bezahlt? Das war die falsche Prio-
ritätensetzung,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


das hat die Krise in Irland ökonomisch verlängert, und es
führt uns in die Nähe der Umschuldung. Das ist das Pro-
blem. Nun wollen Sie den gleichen Fehler im Falle Por-
tugals fortsetzen.

Damit wir uns da nicht missverstehen: Auch ich
glaube, dass es einen bestimmten Aufschlag auf die refi-
nanzierten Kosten geben muss. Der Zinsvorteil kann
nicht vollständig weitergegeben werden, weil wir in ein
Risiko gehen, ein Risiko, das dieses Haus und dieser
Bundeshaushalt im gegebenen Falle mitzutragen haben.
Aber Sie müssen mir doch mal erklären, warum wir,
wenn wir das Geld für den Fonds für 2,7 Prozent auf
dem Kreditmarkt aufnehmen, es an Portugal für
6 Prozent weitergeben wollen, während selbst der Inter-
nationale Währungsfonds nur 3,2 Prozent oder 4,2 Pro-
zent verlangt. Wollen wir Portugal helfen, Frau Bundes-
kanzlerin, oder wollen wir an der Hilfe verdienen?
Wollen wir Portugal abzocken? Das sind doch die Fra-
gen, die sich an dieser Stelle stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, wir sind in Europa in einer sehr ernsten Si-
tuation. Wir erleben dieser Tage, wie eine kleine, frem-
denfeindliche Partei in Dänemark die gesamten europäi-
schen Bürgerinnen und Bürger als Geisel nimmt und
gegen das Grundrecht auf Freizügigkeit versucht, in Eu-
ropa wieder Grenzkontrollen durchzusetzen. Wir sind in
einer Situation, in der der Zusammenhalt Europas in ei-
ner Weise herausgefordert wird, die wir alle als Europäer
schon lange nicht mehr für möglich gehalten haben.

Wie agiert man in einer solchen Krise? In einer sol-
chen Situation sind doch europäische Überzeugung und
Standfestigkeit das Richtige und nicht das Wegducken
vor solchen Mechanismen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nicht das Bedienen des Stammtisches, sondern das Be-
kenntnis zu einem gemeinsamen Europa mit seinen
Grundfreiheiten, das ist die Herausforderung.

Dazu gehört auch konsistentes, glaubwürdiges Han-
deln. Deswegen ist es richtig, Portugal zu helfen. Aber
es ist schädlich, ökonomisch kurzsichtig, falsch und kri-
senverlängernd, in dieser Weise zu versuchen, an der
Hilfe zu verdienen. Deswegen müssen Sie dafür sorgen,
dass die Zinssätze an dieser Stelle gesenkt werden. Wir
dürfen nicht mehr verlangen, als selbst der IWF verlangt.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710801400

Norbert Barthle ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1710801500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lieber Herr Kollege Trittin, ich will zunächst ein-
mal feststellen: Wären Sie im Haushaltsausschuss dabei
gewesen, hätten Sie zur Kenntnis nehmen dürfen, dass
wir der Bundesregierung, dem Bundesfinanzminister das
Einholen des Einverständnisses sogar vollumfänglich at-
testiert haben;


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber nach langem Zögern! Machen Sie es nicht schlimmer!)


das ist schriftlich festgehalten und nachzulesen. Dies ist
deshalb vollumfänglich geschehen, weil der Bundes-
finanzminister schon am Montagabend die Obleute in-
formiert hat. Das hätte er nicht tun müssen; das hat er
freiwillig getan. Ihre Kollegin Hinz war ebenfalls dabei.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe den Bundesfinanzminister gelobt, aber Sie nicht!)


Die Bundesregierung hat an dieser Stelle alles Notwen-
dige getan.

Auch an die Opposition gerichtet sage ich: Ich finde,
es ist schon kleinkariert, wenn die einzige Kritik, die Sie
zu äußern haben, sich daran festmacht, dass es in den
Reihen der Koalition einige Andersdenkende gibt. Ich
bin überzeugt: Diese Personen gibt es auch bei Ihnen.
Allerdings interessiert das in der Öffentlichkeit momen-
tan niemanden. Wenn das alles ist, was Sie an Kritik zu
äußern haben, dann sind wir ganz gut aufgestellt.

Eines muss man eingestehen: Wir diskutieren nicht
zum ersten Mal über eine Hilfe für ein Euro-Land, das in
Schwierigkeiten geraten ist. Griechenland war der An-
fang; ein Sonderfall bis heute. Ich beteilige mich nicht
an den Spekulationen um Griechenland; da bin ich ganz
beim Bundesfinanzminister. Wir sollten in aller Ruhe ab-
warten, was die Prüfungen durch den IWF, durch die
EZB und die EU-Kommission im Juni ergeben. Danach
sollten wir über weitere Schritte nachdenken, und wir
sollten nicht vorher schon den Teufel an die Wand ma-
len.

Wir haben im Dezember vergangenen Jahres Irland
unter strengen Auflagen unter den Rettungsschirm ge-
holt. Heute klopft Portugal an. Es ist das zweite Euro-





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

Land, das – nicht zuletzt zur Reorganisation der Banken-
landschaft und zwecks Wiederherstellung seiner Liqui-
dität – unter den Rettungsschirm schlüpfen möchte. Wir
sind aufgefordert, an dieser Stelle wirksam zu helfen.
Wir kennen die Verfahren. Wir müssen das Rad nicht
neu erfinden. Das hilft uns weiter, soll aber nicht den
Eindruck erwecken, als ob es Routine wäre. Ganz im
Gegenteil: Es gibt ernstzunehmende Fragen, die die
Menschen in diesem Zusammenhang an uns stellen, und
wir greifen diese Fragen auf: Wie soll es weitergehen?
Wann zieht ihr die Reißleine? Gibt es keine Alternati-
ven? Wie schützt ihr die Steuerzahler? Lassen Sie mich
versuchen, einige dieser Fragen zu beantworten.

Wie soll es weitergehen? Zunächst einmal ist der
Euro-Rettungsschirm ein vorübergehender Mechanis-
mus. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir die Zeit, die
wir jetzt haben, nutzen, um einen dauerhaften Mechanis-
mus im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanis-
mus, ESM, zu verankern. Für uns ist es dabei wichtig,
dass im ESM alle Entscheidungen einstimmig erfolgen,
dass also niemals gegen unsere Interessen entschieden
werden kann. Für uns ist es weiterhin wichtig, dass alle
Hilfen konditioniert erfolgen, sprich: mit Gegenleistun-
gen, entsprechenden Reformen verbunden sind. Außer-
dem ist für uns ganz wichtig, dass die Gläubigerhaftung
in diesem Regelmechanismus verankert wird und dass
damit risikobehaftete Spekulationen nicht zulasten der
Bürger, sprich: der Steuerzahler, stattfinden können.

Zweite Frage: Wann zieht ihr die Reißleine? Auch da-
rauf gibt es eine Antwort. Wenn Euro-Staaten Hilfen be-
antragen, dann gibt es eine ganze Latte von Prüfungen
und Vereinbarungen, insbesondere zu den damit verbun-
denen Auflagen. Wenn diese Regularien den Überprü-
fungen standhalten, ist Hilfe berechtigt.

Wir schenken aber niemandem etwas. Die Wahrneh-
mung der deutschen Öffentlichkeit ist an dieser Stelle
diametral entgegengesetzt zu der Wahrnehmung in den
betroffenen Ländern.


(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)


Gerade durch die Demonstrationen in Griechenland wird
dies jetzt wieder augenfällig gezeigt.

Die Euro-Rettung ist deshalb auch im ureigenen deut-
schen Interesse zu betrachten. Wer, wenn nicht wir, pro-
fitiert denn vom Euro? Ich will nur ganz kurz beispiel-
haft benennen: Die Stabilität unserer Währung muss
gesichert werden und ist gesichert. Die Transaktionskos-
ten fallen weg. Allein das macht für die Betroffenen eine
Entlastung von 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr aus.
Wir haben keine Wechselkursschwankungen. Das gibt
Sicherheit. Wir haben eine hohe Preistransparenz in ganz
Europa. Jeder weiß, was ein Glas Bier in Paris, in Ma-
drid, in Mailand, in Berlin und sonst wo kostet.


(Otto Fricke [FDP]: Es schmeckt nicht überall gleich! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wo es gutes bayerisches Bier gibt!)


Durch den gemeinsamen Heimatmarkt – so nenne ich
ihn einmal – gibt es sehr viele individuelle Vorteile, die
ich jetzt gar nicht im Einzelnen erläutern will.
Dritte Frage: Gibt es denn keine Alternativen zu im-
mer neuen Hilfen? Diese Frage wird von den Bürgern
immer wieder gestellt.

Selbstverständlich gibt es auch andere Wege, über die
man nachdenken kann. Wir sind nicht so vermessen, zu
glauben, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Es gibt immer wieder ernstzunehmende Experten, die
uns zuhauf gute Ratschläge dafür geben, was man
grundlegend anders machen könnte. Eines muss man an
dieser Stelle aber festhalten: Die sind nicht in der Verant-
wortung. Die Verantwortung für das, was wir machen,
müssen wir übernehmen. Wir müssen uns deshalb sehr
genau überlegen, was wir machen. Das tun wir; denn die
Euro-Rettung ist kein Spielplatz, auf dem es um theoreti-
sche Alternativen geht.

Ich kenne niemanden, der über Alternativen redet und
mir präzise voraussagen kann, was am Ende dabei he-
rauskommt. Das ist das Entscheidende; denn wenn beim
Euro etwas schiefläuft, dann hat dies verheerende Fol-
gen – nicht nur für Deutschland, sondern auch für
Europa und, wenn man so will, für die ganze Welt. Dass
das so ist, kann man daran ablesen, dass der IWF, eine
wirklich internationale Organisation, die EZB und die
EU-Kommission der 27 Mitgliedsländer und nicht nur
der 17 Länder, die den Euro haben, an der jeweiligen
Rettung beteiligt sind, egal, welcher Rettungsmechanis-
mus greift. Alle beteiligen sich an diesen Rettungsmaß-
nahmen. Allein schon dadurch zeigt sich die Bedeutung.

Ich kann deshalb nur davor warnen, über das Szenario
nachzudenken, ein Mitgliedsland aus dem Euro-Raum
oder aus der Währung herauszudrängen. Selbst für Län-
der, die keine gemeinsame Währung haben, ist ein
Staatsbankrott ein Desaster. Noch schlimmer wäre es,
wenn dies in einem gemeinsamen Währungsraum ge-
schehen würde. Die Folgen wären wirklich unbeschreib-
lich.

Jetzt komme ich zur letzten Frage: Wie schützt ihr uns
Steuerzahler? Gerade mit dem, was wir tun, zielen wir
darauf ab, die Steuerzahler zu schützen; denn wir geben
Garantien und keine Haushaltsmittel. Wir geben Sicher-
heiten für Kredite, deren Rückzahlung wir erwarten. Wir
wollen keine Transferunion. Wir wollen keinen europa-
weiten Länderfinanzausgleich. Wir wollen eine starke
Europäische Union mit einer stabilen Währung. Wir
wollen eine europäische Solidarität.

Solidarität setzt Stabilität voraus. Deshalb tun wir al-
les, damit auch Portugal durch die entsprechenden Auf-
lagen zur Stabilität zurückkehrt, und durch Stabilität
wird dann wieder Solidarität erzeugt.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir kontrollieren
alles, was wir machen, von Anfang an. Wir kontrollieren
dies durch die vierteljährlichen Quartalsberichte auch
während des Verlaufs. Wir kontrollieren an dieser Stelle
nicht nur unsere eigene Regierung, sondern wir schauen
auch aufmerksam, was in den betroffenen europäischen
Ländern geschieht. Damit können wir immer gesichert
sagen, ob jetzt ein weiterer Schritt erfolgen kann oder
auch nicht. Dies prüfen wir regelmäßig.





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

In diesem Sinne werben wir um das Vertrauen für un-
seren Weg. Wir sind davon überzeugt: Der Weg, den wir
einschlagen, ist der richtige.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710801600

Herr Kollege.


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1710801700

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710801800

Carsten Schneider ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1710801900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Barthle, Sie haben mit dem Satz geschlos-
sen, dass Sie um das Vertrauen werben – nicht nur des
Bundestages, sondern sicherlich auch der Bevölkerung.
Nun will ich Ihnen zugestehen, dass das Vertrauen der
Bevölkerung in die Stabilisierungsmaßnahmen des Euro
– und nicht nur der Bevölkerung, sondern auch derer, die
uns Geld geben; das sind letztlich die Versicherungen
und Banken –


(Otto Fricke [FDP]: Was?)


entscheidend dafür ist, dass wir dauerhaft eine Stabilisie-
rung der Euro-Zone erreichen. Die Frage ist nur: Wie in-
formieren Sie dieses Parlament seit einem Jahr über alle
die Dinge, die mit dem Euro und der Staatsfinanzie-
rungskrise zusammenhängen?


(Beifall bei der SPD)


Sie informieren häppchenweise. Sie sind Getriebene
der Märkte. Sie sind Getriebene Ihrer eigenen Skepsis in
der Koalition. Es ist ja so, dass Sie in Bezug auf die Zu-
stimmung zu den Maßnahmen für die Stabilisierung des
Zusammenhalts Europas in Ihrer Koalition heftigen Wi-
derstand haben.


(Otto Fricke [FDP]: Ihr macht also mit?)


Schließlich sind es Ihre Mitglieder, die gegen die ver-
schiedenen Maßnahmen vor dem Verfassungsgericht
klagen, und nicht etwa die Opposition.

Das, was Sie hier tun, ist durch Verheimlichen, Trick-
sen und Leugnen gekennzeichnet. Das gilt ganz klar
auch bei dem Punkt Griechenland. Finanzminister
Wolfgang Schäuble hat heute kurz ausgeführt, es gebe
darüber Diskussionen. Darüber gibt es keine Diskussio-
nen, sondern es ist klipp und klar: Griechenland wird mit
den bisher zugesagten 110 Milliarden Euro nicht aus-
kommen. Vorgesehen war, dass Griechenland sich im
Jahr 2012 zum Teil wieder selbstständig am Kapital-
markt refinanziert. Schon jetzt steht fest, dass das nicht
gelingen wird. Deswegen wäre es notwendig gewesen,
heute an dieser Stelle im Deutschen Bundestag darüber
Klarheit zu schaffen, anstatt Geheimtreffen in Luxemburg
zu veranstalten und diese zu leugnen, um dann am
Montag im Ecofin eine Lösung zu präsentieren. Der
Bundestag ist der Ort, an dem so etwas diskutiert werden
muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der Frage der Krisenprävention geht es darum, wie
wir die Stabilität der Euro-Zone hinbekommen. Es geht
doch gar nicht um die Stabilität des Euro. Zu Beginn ha-
ben Sie ja immer gesagt, es gehe um den Euro. Der Euro
steigt und fällt. Das hat relativ wenig damit zu tun.


(Otto Fricke [FDP]: Was?)


Vielmehr geht es darum, ob Länder bankrottgehen und
ob sie in der Euro-Zone bleiben. Damit stellt sich die
Frage, ob es die Europäische Union so, wie sie sich bis-
her erfolgreich entwickelt hat, weiter geben wird. Diese
Frage hängt elementar mit der Haushalts- und Finanz-
politik und letztendlich auch mit einer weiteren koordi-
nierten Wirtschaftspolitik zusammen.

Man muss ganz klar sagen, dass das bisher dazu – ins-
besondere zum Punkt Griechenland – Vorgelegte einfach
nicht überzeugend ist. Es ist ein Leugnen der wirtschaft-
lichen Situation Griechenlands, wenn Sie behaupten,
2013 könnten die Griechen wieder an den Kapitalmarkt
gehen. Das ist eine pure Illusion. Sie können doch nicht
ernsthaft glauben, dass das einem Land möglich ist, das
2013 eine Gesamtverschuldung von 160 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts, der wirtschaftlichen Leistung, aufwei-
sen wird.

Deswegen ist es meines Erachtens klüger, schnell
Schritte zu gehen, die es Griechenland dauerhaft ermög-
lichen, wieder selbstständig zu arbeiten.


(Otto Fricke [FDP]: Welche? Nennen Sie einmal welche!)


Diese Schritte sind: Erstens. Die einseitigen Sparpakete
und Austeritätsmaßnahmen, die hier gemacht wurden,
führen nicht zu stärkerem Wirtschaftswachstum. Es ist
richtig, Wirtschaftsreformen durchzuführen. Aber es ist
falsch, auf Investitionen zu verzichten. Das wäre auch
eine Aufgabe der Europäischen Union.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Eine Möglichkeit, den europäischen Mar-
shallplan für die Peripheriestaaten Südosteuropas zu
finanzieren, wäre die Einführung einer Finanztrans-
aktionsteuer. Ich komme darauf noch zurück.


(Oliver Luksic [FDP]: Warum haben Sie das denn nicht gemacht? Sie waren doch an der Regierung!)


Drittens: Gläubigerbeteiligung. Was erleben wir mo-
mentan? Sie können derzeit kurzläufige Anleihen Grie-
chenlands kaufen und erzielen bei sechsmonatiger Lauf-
zeit eine Rendite, die zwischen 10 und 13 Prozent pro
Jahr liegt – und das nahezu gefahrlos, weil Sie zugesagt
haben, dass es bis 2013 keinerlei Einschnitte oder Gläu-
bigerbeteiligung gibt. Das heißt, das Kasino ist zurück.
Die deutschen und europäischen Steuerzahler finanzie-





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)

ren die Gewinne und Renditen von Hedgefonds in die-
sem Land. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD)


Ich meine, dass es an dieser Stelle sinnvoller wäre,
diese Gläubiger, die das Ganze im Übrigen zum Teil
auch schon abgeschrieben und wertberichtigt haben,
auch an den Restrukturierungsmaßnahmen zu beteiligen.
Eine Option, die Sie bei dem kurzfristigen Stabilisie-
rungsmechanismus ausgeschlossen haben, wäre gewe-
sen, das Modell der Brady Bonds, die in Mexiko hervor-
ragend funktioniert haben, zu nutzen, um europäische
Garantien zu geben, aber auch den privaten Gläubigern
ihre Mittel mit einem Kursabschlag zurückzuzahlen, da-
mit sie sich im Rahmen einer Wertberichtigung an der
Konsolidierung beteiligen.


(Beifall bei der SPD)


Das wäre ein Befreiungsschlag gewesen, der Griechen-
land auch geholfen hätte.

Stattdessen erleben wir, dass Sie europaweit isoliert
sind.


(Oliver Luksic [FDP]: Was ist mit Ihrer Enthaltung europaweit?)


Sie sind in der Frage der Gläubigerbeteiligung beim
ESM isoliert. Sie haben das zwar mit den Staats- und
Regierungschefs grob vereinbart, aber die halbe Welt ist
dagegen.

Sie sind isoliert in der Frage, wie es mit der Europäi-
schen Zentralbank weitergeht. Herr Sarkozy und Herr
Berlusconi bestimmen mittlerweile, wie die Finanzpoli-
tik in Europa aussieht. Diese beiden bestimmen durch
Auftritte und Festlegungen, wer der neue Chef der Euro-
päischen Zentralbank wird. Ich will klar sagen: Ich habe
nichts gegen Herrn Draghi; ich halte ihn für kompetent.
Aber dass Deutschland keine Rolle mehr bei dieser
wichtigen Personalie spielt und auch sonst in europäi-
schen Institutionen überhaupt nicht mehr vorkommt, ist
auch ein Ergebnis Ihrer Isolationspolitik auf europäi-
scher Ebene.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben den Bundesbankpräsidenten im Regen ste-
hen lassen, als er die verdeckte Staatsfinanzierung in
Form der Aufkaufprogramme der EZB kritisierte. Dies
macht die EZB jetzt so handlungsunfähig und so willfäh-
rig, dass sie jedwede private Gläubigerbeteiligung ab-
lehnt.


(Oliver Luksic [FDP]: Bei der Bankenrettung hat die SPD auch keine Gläubigerbeteiligung durchgesetzt!)


Ich will schlussendlich aus einem bemerkenswerten
Artikel von Frau Berschens aus der heutigen Ausgabe
des Handelsblatts zitieren:

Die Kosten der Schuldenkrise werden allein den
Steuerzahlern aufgebürdet – und zwar schleichend.
Zentralbanker und Regierungen setzen darauf, dass
die Bevölkerung die komplexen Zusammenhänge
nicht durchschaut – und brav zahlt. Doch diese
Strategie des Durchwurstelns birgt am Ende das
größte aller systemischen Risiken: den Aufstand
der Bürger gegen die Europäische Währungsunion.


(Otto Fricke [FDP]: Ist Ihnen wieder nichts Eigenes eingefallen?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe,
dies geschieht nicht. Allerdings erfüllt es mich mit
Sorge, wenn ich mir Ihre Politik dazu anschaue.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710802000

Das Wort erhält nun der Kollege Otto Fricke für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1710802100

Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Für die Stärkung des Vertrauens der
Bürger in Europa, Herr Kollege Schneider, haben Sie mit
Ihrer Rede, wie ich glaube, nichts, aber auch gar nichts
getan. Dafür etwas zu tun, ist aber auch Ihre Aufgabe als
Opposition,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


im Übrigen auch die Aufgabe der Grünen angesichts der
gewachsenen Verantwortung, die sie in diesem Land tra-
gen.

Meine Damen und Herren, als Erstes ein Wort an die
Adresse derjenigen, die der FDP einen europaskepti-
schen Kurs vorgeworfen haben:


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss die Anträge lesen!)


Herr Steinmeier, wenn man auf stabile Währung achtet,
wenn man auf strikte Kriterien achtet, wenn man strikte
Kriterien haben will, damit es in Zukunft in Europa nicht
so läuft wie in der Vergangenheit, dann ist das keine eu-
ropaskeptische Politik, sondern eine Politik zur Stärkung
Europas. Das ist die Aufgabe, die dieses Land, diese Re-
gierung und diese Koalition haben und wahrnehmen
wollen. Das ist der Unterschied.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will Ihnen auch genau sagen, warum das so ist,
und zwar, ohne dass ich damit einen Vorwurf verbinde,
weil ja alle irgendwie daran beteiligt waren. Angesichts
der Tatsache, dass in Europa in den vergangenen Jahr-
zehnten in nahezu allen Ländern Schulden gemacht wor-
den sind, dann Kriterien aufgeweicht worden sind und
man nicht genau kontrolliert hat, ob sich noch jeder da-
ran hält, kann man doch nur zu einem Ergebnis kommen,
nämlich: Wir müssen besser aufpassen, wir müssen kon-
kret aufpassen, und wir müssen die Dinge machen, die
notwendig sind für einen stabilen Euro.

In diesem Zusammenhang wundere ich mich, dass die
ehemalige rot-grüne Koalition ihre eigene Vergangenheit





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)

vergessen hat. Ich will sie jetzt einmal loben. Wo stand
denn die Bundesrepublik Deutschland vor sieben Jahren,
also 2004/2005? Sie war der kranke Mann Europas. Das
fing im Jahr 2000 an.


(Joachim Poß [SPD]: Das war schon damals Quatsch!)


Langsam wurde es besser. Warum wurde es besser? Wa-
rum gilt denn Deutschland heute in Europa als Kraftzen-
trale? Warum schauen denn nach zehn Jahren auf einmal
alle auf Deutschland und sagen: „Wir brauchen Deutsch-
land als Lokomotive“? Weil wir Reformen gemacht ha-
ben, weil Sie während Ihrer Zeit als Koalition Reformen
gemacht haben, die zwar unangenehm und schwierig
waren und mit Einschnitten einhergingen, aber richtig
waren! Jetzt sagen Sie den Ländern, die diese Reformen
nicht gemacht haben: Macht das mal nicht! Geht nicht
den deutschen Weg! – Fordern Sie doch lieber die Län-
der – Portugal, Griechenland, vielleicht auch Irland und
andere Länder – auf, das zu tun, was Sie während Ihrer
Regierungszeit getan haben, und schlagen Sie sich nicht
mit Enthaltungen und Ähnlichem in die Büsche! Das
würde Ihnen viel besser anstehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Realitätsverweigerung! Was reden Sie denn hier?)


Nun auch ein deutliches Wort an die Adresse derjeni-
gen, die meinen, es wäre Deutschland gedient, wenn
man beim Euro nicht hilft. Ich will hier ganz klar und
deutlich sagen: Eine egozentrische Sicht nach dem
Motto „Wir haben unsere Aufgaben gemacht, uns geht
es gut, das war’s“ wird es mit uns nicht geben. Es darf
sie nicht geben. Es ist unsere europäische Verantwor-
tung, unseren Familienmitgliedern in Europa – wir sind
Teil dieser Familie – zu sagen: Ja, wir helfen euch.


(Joachim Poß [SPD]: Wen spricht er denn an? Der Herr Schäffler sitzt nicht hier, der sitzt dahinten!)


– Und Sie sitzen hier und hören einfach einmal zu; das
hilft.


(Joachim Poß [SPD]: Wir führen doch keine Gespensterschlachten!)


Was haben Sie denn dagegen, festzustellen, dass wir Teil
der europäischen Familie sind?


(Joachim Poß [SPD]: Wenden Sie sich an die richtigen Adressaten! Uns müssen Sie nichts über Europa erzählen!)


Ich hoffe, dass wenigstens das noch auf die Unterstüt-
zung der SPD trifft. Die Unterstützung der FDP hat diese
Aussage jedenfalls.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Was machen denn Ihre Parteifreunde gerade?)


Wir haben unsere Exportstärke dem Euro zu verdan-
ken. Wir haben die Stärke an vielen Stellen in unserer
Gesellschaft Europa zu verdanken. Das gilt auch für den
Wirtschaftsaufschwung und die Investitionsfreudigkeit
in Deutschland. Es hat auch etwas damit zu tun, dass der
Wechselkurs des Euro so ist, wie er ist. In Gesprächen
mit Amerikanern und anderen hört man: Die Chinesen
halten ihren Wechselkurs künstlich niedrig. – Auch uns
könnte man die Höhe des Wechselkurses des Euro vor-
werfen. Denn – das will ich den Bürgern klar und deut-
lich sagen – bei welchem Wechselkurs wäre denn zum
Beispiel die D-Mark gegenüber dem Dollar: bei 1,90
oder bei 2? Wir wissen es nicht, aber er wäre wohl weit
höher.

Deswegen kann man sagen: Wir verdanken Europa
sehr viel. Dieser Dank ist Teil unserer Europafreundlich-
keit und unserer Europaverantwortung. Es sind die zwei
Seiten derselben Medaille: Auf der einen Seite sagen wir
unsere Hilfe zu – allerdings nicht so, wie es die SPD
oder die Grünen wollen, und erst recht nicht so, wie es
die Linke will –;


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist aber schade!)


auf der anderen Seite knüpfen wir daran konkrete Bedin-
gungen und klare Aussagen. Denn wir wollen das Spiel,
wie es in den letzten zehn Jahren gespielt worden ist,
nicht fortführen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist absurd!)


Meine Damen und Herren, es geht doch eigentlich da-
rum, dass wir erwarten können und müssen, dass, wenn
wir uns in Europa solidarisch verhalten, die anderen
Länder Europas stabil sind. Herr Schneider, im Zusam-
menhang mit dem, was Sie zu Spekulationen gesagt ha-
ben, will ich eines eindeutig feststellen. Sie haben hier
behauptet, dass man in sechsmonatige griechische An-
leihen gehen könne. Es gibt aber gar keine sechsmonati-
gen griechischen Anleihen mehr.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist die Restlaufzeit!)


Sie sind vom Markt; die Laufzeit ist zu Ende. Wir haben
Griechenland an dieser Stelle vom Markt genommen.
Sie scheuen sich davor, zu sagen, wie viel Milliarden der
Steuerzahler noch aufbringen muss, wenn Sie nicht be-
reit sind, sich an Reformprogrammen zu beteiligen,
wenn Sie sich beim EFSF und bei den Griechenland-Hil-
fen enthalten.


(Joachim Poß [SPD]: Was?)


Aufgrund der großen Verantwortung, die Sie haben,
müssen Sie klarstellen, wo Sie bereit sind, mitzumachen,
und an welcher Stelle Sie nur kritisieren und sich in die
Büsche schlagen wollen.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eine Ablenkungsdebatte, die Sie hier führen, weil der eigene Laden marode ist!)


Zum letzten Punkt. Im Zusammenhang mit dem Euro-
päischen Stabilitätsmechanismus, den wir jetzt erarbei-
ten, würde ich der SPD empfehlen, Herrn Sarrazin ein-
mal ein bisschen genauer zuzuhören


(Lachen des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])






Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)

– da braucht man nicht zu lachen –, und zwar Herrn
Sarrazin von den Grünen. Arbeiten Sie gemeinsam mit
der Koalition daran – das ist eine Einladung –, dass wir
beim ESM eine gute Parlamentsbeteiligung erreichen.
Ich persönlich kann an dieser Stelle nur sagen: Die bis-
herigen Verfahren beim EFSF reichen nicht aus. Hier
muss mehr Transparenz, mehr Klarheit geschaffen wer-
den. Aber ich will ausdrücklich für dieses Parlament sa-
gen: Wir können uns in Zukunft nicht mehr dahinter ver-
stecken, dass die Dinge auf der Regierungsebene
entschieden werden. Wir müssen auch auf der Parla-
mentsebene regelmäßig und klar sagen, wann und wa-
rum wir unseren europäischen Freunden helfen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat mich nicht überzeugt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710802200

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bartholomäus

Kalb für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1710802300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn wir den Maßnahmen zur Euro-Stabilisie-
rung zustimmen, dann machen wir das mit Sicherheit
nicht leichtfertig. Der Abstimmung gehen sehr intensive
Beratungen voraus. Jeder Einzelne trifft eine Güterabwä-
gung. Wir haben eine Verantwortung, und dieser muss
sich jeder Einzelne stellen. Das gestehe ich jeder Kolle-
gin und jedem Kollegen in diesem Hause zu. Trotzdem
haben wir, wie bereits von den meisten Vorrednern ge-
sagt, die wichtige Verpflichtung, für die Stabilität des
Euros und damit für den gemeinsamen Euro-Raum und
das gemeinsame Europa einzustehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben gestern im Haushaltsausschuss sehr lange
und sehr intensiv beraten. Herr Kollege Schneider, da-
rum kann ich Ihre Vorwürfe gegenüber dem Finanz-
minister überhaupt nicht teilen; ich muss sie zurückwei-
sen. Sie haben den Begriff „verheimlichen“ gebraucht
und gesagt, er hätte uns etwas verheimlicht. Der Bundes-
finanzminister Dr. Schäuble hat sich gestern im Haus-
haltsausschuss nicht nur um das gesetzlich vorgesehene
Einvernehmen bemüht, sondern in sehr umfassender und
erstaunlich offener Art und Weise über alle Zusammen-
hänge informiert und alle Fragen beantwortet, die man
normalerweise draußen auf der Straße nicht beantworten
kann. Dafür möchte ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminis-
ter, an dieser Stelle ganz herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte auf das zurückkommen, was Herr
Steinmeier gesagt hat. Ich meine, hier ist in unzulässiger
Vereinfachung einiges durcheinandergebracht worden,
was die Refinanzierungsbedingungen beim EFSM und
bei der EFSF auf der einen Seite und die Bedeutung von
Staatsanleihen auf der anderen Seite anbelangt. Er hat
sich für Euro-Bonds ausgesprochen. Wir sind ausdrück-
lich dagegen. Die Frage, wie sich die Bundesrepublik
Deutschland refinanziert, ist eine ganz andere Frage als
die, wie sich die anderen Institutionen refinanzieren.

Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass EZB,
IWF und Kommission mit den Portugiesen ein sehr ehr-
geiziges Programm ausgearbeitet haben, das die Grund-
lage der Hilfsmaßnahmen bilden wird. Wir werden na-
türlich daran beteiligt sein, entsprechend unserem Anteil
an der EFSF in Höhe von 27 Prozent. Wir begrüßen ganz
ausdrücklich, dass hier ein gemeinsames, ein sehr strin-
gentes Programm mit dem Ziel vorgelegt worden ist, den
portugiesischen Haushalt zu konsolidieren, aber auch die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Portugals zu erhöhen.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen Gedan-
ken einbringen. Ich könnte mir schon vorstellen – das ist
eine Aufgabe nicht nur der Euro-Zone, sondern der Eu-
ropäischen Union insgesamt –, dass überprüft wird, ob
die in Rede stehenden Länder, die der Hilfe bedürfen,
mit den zur Verfügung stehenden EU-Mitteln aus den
verschiedenen Programmen umfangreichere Maßnah-
men ergreifen könnten, um ihre wirtschaftliche Leis-
tungsfähigkeit stärker zu verbessern, als das bisher der
Fall war. Ein effizienterer Mitteleinsatz wäre hier sicher-
lich angesagt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Vorhin ist von Kollegen darauf hingewiesen worden,
wie bedeutsam die Stabilität des Euro für uns und die ge-
samte Euro-Zone im Hinblick auf unsere Marktsituation,
unsere Wettbewerbssituation und unsere Exportsituation
ist. Ein Kollege hat schon gesagt: Wir Deutschen hatten
in den letzten Jahren Exporte in Höhe von 800 bis
900 Milliarden Euro zu verzeichnen; davon gingen rund
zwei Drittel in den Bereich der Europäischen Union, da-
von wiederum der überwiegende Anteil in den Bereich
der Euro-Zone. Man kann sich also leicht ausmalen, was
die Stabilität des Euro für uns bedeutet. Deswegen sind
diese Maßnahmen auch im deutschen Interesse.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus Zeit-
gründen kann ich auf viele andere Punkte, die angespro-
chen werden müssten, nicht mehr eingehen. Wir sind
insgesamt für den Euro verantwortlich; es müssen nicht
nur die Länder handeln, die jetzt der Hilfe bedürfen. Wir
haben gerade ein nationales Programm grundgesetzlich
verankert – und auf europäischer Ebene vereinbart –, das
der Konsolidierung der Haushalte dient. Die Bundesre-
publik Deutschland hat derzeit eine Verschuldung von
83 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710802400

Herr Kollege.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1710802500

Insofern müssen auch wir einen gewaltigen Beitrag

leisten, damit wir auf den zulässigen Wert von
60 Prozent zurückkommen. Als größte Wirtschaftsna-
tion in der Euro-Zone ist es nicht unbedeutend, wie wir
uns verhalten und was wir hier tun.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710802600

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1710802700

All diese Maßnahmen sind koordiniert vorzunehmen.

Hätte man die Regeln des Maastricht-Vertrags, die Theo
Waigel erarbeitet hat, durchgehend eingehalten und die
Kriterien streng beachtet, dann hätten wir heute manches
Problem nicht zu bewältigen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710802800

Michael Meister ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1710802900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Ein-

druck am Ende dieser Debatte ist, dass sie zwar sehr
kontrovers war, es in diesem Haus aber gleichzeitig eine
breite Zustimmung dafür gibt, die notwendige Hilfe für
Portugal unter den genannten Kriterien und Konditionen
zu gewähren und vonseiten des Bundestages ein klares
Signal zu geben, dass wir dies für richtig halten. Das ist
ein bemerkenswertes Signal. Wir machen von unserem
Recht, als Parlament Stellung zu nehmen, heute Ge-
brauch. Ich will sagen: Wir tun das in verantwortlicher
Weise. Deshalb sollte auch niemand Furcht haben, wenn
wir dieses Parlamentsrecht bezogen auf den ESM einfor-
dern. Wir zeigen heute, dass wir mit diesem Instrument
verantwortlich umgehen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Dass sich der Deutsche Bundestag in solche Debatten
einschaltet, ist ein Beitrag zur Stärkung des Euro und
nicht eine Infragestellung der Stabilität unserer Wäh-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir den ESM schaf-
fen, im Falle der Aktivierung des ESM eine Beteiligung
des Deutschen Bundestages ausdrücklich vorsehen. Au-
ßerdem sollten wir für den Fall einer Veränderung der
Instrumente des ESM einen Gesetzesvorbehalt schaffen.
Das ist mein Verständnis davon, wie der Deutsche Bun-
destag mit diesen Dingen umgehen sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute Morgen ist von verschiedenen Kollegen ein
klares Bekenntnis zu Europa eingefordert worden. Ich
glaube, niemand braucht die Unionsfraktion dazu aufzu-
fordern. Ja, wir sind für Europa. Die Frage ist aber doch
nicht, ob wir für Europa sind. Die Frage ist vielmehr, für
welches Europa wir stehen. Herr Steinmeier, stehen wir
für ein Europa, das Prinzipien hat, in dem jeder seine
Verantwortung an seinem Platz wahrnimmt und wo jeder
für das haftet, was er tut, und Eigenverantwortung über-
nimmt?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Stehen wir für ein Europa, in dem alle erkennen, dass
wir eine gemeinsame Pflicht zur nachhaltigen Stabilität
der Währung haben? Oder heißt „Bekenntnis zu Europa“
Laisser-faire? Heißt es: „Wir sagen Ja, und dann darf je-
der tun, was er will, aber alle müssen die Folgen unver-
antwortlichen Handelns gemeinsam tragen“? Wir stehen
für ein prinzipiengeleitetes Europa. Wir ringen darum,
dass die Prinzipien auch in schweren Zeiten eingehalten
werden. Denn wir benötigen sie für den dauerhaften Er-
halt unserer Wertegemeinschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will darauf hinweisen, dass in der Regierungszeit
des Bundeskanzlers Gerhard Schröder – damals hat der
heutige Fraktionsvorsitzende der SPD Mitverantwortung
getragen – an zwei Stellen wesentliche Voraussetzungen
dafür geschaffen wurden, dass wir nun in einer schwieri-
gen Lage sind.


(Joachim Poß [SPD]: Quatsch!)


Erstens. Die Aufnahme Griechenlands wurde geneh-
migt, ohne dass die Voraussetzungen erfüllt waren.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie waren doch auch dafür!)


Da wurden Prinzipien verletzt. Das ist das Problem, über
das wir reden: Halten wir Prinzipien ein, oder verletzen
wir Prinzipien?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Wir als Deutsche haben im Rahmen der
Debatte über den Maastricht-Vertrag nicht, wie wir es
jetzt tun, darum gerungen, ihn zu stärken, um künftige
Krisen zu vermeiden.


(Joachim Poß [SPD]: Waren Sie denn damals dagegen?)


Es ist nur ein Beitrag dazu geleistet worden, die Voraus-
setzungen aufzuweichen und uns damit ein Stück weit in
die Krise hineinzuführen. Deshalb sage ich: Wir brau-
chen Prinzipien und müssen auch in schwierigen Zeiten
um diese Prinzipien ringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es wird immer wieder die Führungsrolle Deutsch-
lands eingefordert. Ich verstehe unter dem Begriff Füh-
rungsrolle nicht – das möchte ich ausdrücklich sagen –,
dass man schaut, wohin alle laufen, und dann versucht,
schneller zu laufen als alle anderen. Ich verstehe unter
dem Begriff Führungsrolle, dass man nachdenkt, in wel-
che Richtung man zu laufen hat. Man muss außerdem
versuchen, in der Diskussion die richtige Richtung vor-
zugeben. An der Stelle möchte ich dem Bundesfinanz-
minister Wolfgang Schäuble und unserer Bundeskanzle-
rin ein ausdrückliches Lob aussprechen. Denn nicht
jeder führt die Diskussion über die richtige Richtung und
steht dazu, wenn andere etwas leichtfertig damit umge-
hen. Deshalb möchte ich beide sowie die gesamte Regie-
rung bestärken, darum zu ringen, dass wir in die richtige
Richtung gehen und nicht nur schnell laufen. Das sollte





Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)

geschehen, und dahinter sollten wir als Parlament ste-
hen.

Zur Frage der angemessenen Zinsen. Herrn Trittin
sehe ich gerade leider nicht mehr, will aber seine Frage
durchaus aufgreifen. Wir haben ein Jahrzehnt erlebt, in
dem den Ländern, über die wir heute im Wesentlichen
reden – die Peripherieländer –, durch den Beitritt zum
Euro-Raum ohne jegliche Konditionen ein niedriges
Zinsniveau gewährt wurde.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist es!)


Sie hatten eine riesige ökonomische Chance, ihre Wirt-
schaft, ihren Wohlstand und ihren Arbeitsmarkt durch
niedrige Refinanzierungskosten nach vorne zu bringen.
Sie wurde leider nicht genutzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es kann doch nicht sein, dass wir denselben Fehler
zweimal machen. Vielmehr müssen wir diesen Ländern
die Chance geben, Zugang zum Kapitalmarkt zu fairen
Konditionen zu haben, indem wir sie durch unsere Hilfs-
aktionen, durch das Programm, dabei unterstützen. Wir
müssen aber auch darauf achten, dass das Ganze wirk-
lich zu einer nachhaltigen Veränderung der Strukturen in
diesen Ländern führt, sodass sie wieder eine Chance ha-
ben, sich dauerhaft selbst am Kapitalmarkt zu finanzie-
ren. Das muss der Weg sein. Es geht nicht, dass nach
Hilfe gerufen, Geld gegeben und eigentlich keine Ver-
antwortung für die Zukunft wahrgenommen wird.

Meine Damen und Herren, ich will die Frage nach
den Alternativen aufgreifen. Herr Schneider, ich habe
viel Kritik gehört, was wo möglicherweise nicht richtig
gemacht wird. Die Frage lautet doch: Wo ist denn der al-
ternative Weg? Als wir vor vier Jahren über die Frage
IKB diskutiert haben, gab es viele, die gesagt haben, wir
sollten keine Banken retten. Als es einige Monate später
zum Zusammenbruch von Lehman Brothers kam, haben
viele gesehen, dass wir bei den Kosten plötzlich über
ganz andere Größenordnungen reden.

Noch sind wir in der Lage, zu überlegen, was die rich-
tigen Schritte sind und wie wir die Situation im Hinblick
auf unser Vorgehen kontrollieren. Wenn das Ganze außer
Kontrolle gerät, wenn wir auf den Finanzmärkten und in
der Wirtschaft über sich entwickelnde Ansteckungsge-
fahren plötzlich in eine unkontrollierbare Lage geraten,
wird das, was wir derzeit als Hilfspakete diskutieren
– der Überzeugung bin ich –, gemessen an den Folge-
kosten dann eher kleine Beträge bedeuten. Darum rate
ich dringend, dass wir zwar kontrovers debattieren und
die Argumente austauschen, dass wir aber nicht nur sa-
gen, was der falsche Weg ist, ohne klar aufzuzeigen, wo
die Alternative ist und welche Folgen sie hat.

Ich glaube, wir müssen dabei die Sorgen der Men-
schen in Deutschland, aber auch in Portugal, Griechen-
land und Irland berücksichtigen. Denn wir müssen die
Menschen überzeugen und dürfen nicht glauben, dass
wir ihnen einfach sagen können, was richtig ist. Nein,
wir müssen sie bei diesem Prozess mitnehmen. Es ist ein
Prozess, den wir für sie durchführen und nicht für uns.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710803000

Herr Kollege.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1710803100

Danke, Herr Präsident. Ich habe mit einem Auge auf

die Uhr gesehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710803200

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1710803300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden
heute im Kern über die Aktivierung des Rettungsschirms
für Portugal. Keiner von uns hat sich gewünscht, dass
wir dies irgendwann einmal tun müssen. Aber wir haben
vor einem Jahr in diesem Hohen Hause die Vorausset-
zungen dafür geschaffen, dass wir bei Notfällen, wie ak-
tuell in Portugal, in der Lage sind, zu helfen, und zwar
ausreichend und so, dass diese Länder wieder auf den
Wachstums- und Entwicklungspfad zurückkommen kön-
nen.

Ich will nur – es ist schon sehr viel gesagt worden –
ganz kurz auf das Memorandum of Understanding ein-
gehen, das uns seit gestern vorliegt. Das wird die Grund-
lage für die Hilfen sein, die Portugal in den nächsten drei
Jahren empfangen wird. Wenn man sich dieses Memo-
randum genau anschaut, stellt man fest: Es ist deutlich
ausgewogener, als es das für Irland seinerzeit war. Dass
unsere Kritik an jenem Memorandum of Understanding
richtig war, zeigt, dass Irland Nachverhandlungen in die-
ser Frage führt.

Nur ganz kurz ein paar Hinweise: Die Aufteilung,
dass das Konsolidierungsprogramm in Portugal zu zwei
Dritteln auf Ausgabenkürzungen, aber zu einem Drittel
auf Einnahmeverbesserungen beruht, zeigt, dass es aus-
gewogener ist. Die Kürzungen müssen gemacht werden.
Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit. Sie werden
aber nicht bei den geringsten Renten durchgeführt,
ebenso wenig bei den geringsten Löhnen. Dass aber die
Mehrwertsteuer erhöht wird und Ausnahmen bei der Un-
ternehmensteuer abgeschafft werden, ist ein richtiger
Punkt. Ich glaube, dass dieses Konzept tragfähig sein
wird.

Wir wissen, dass es in Portugal im Moment nur eine
amtierende Regierung gibt. Am 5. Juni sind dort Parla-
mentswahlen. Das ist unter diesen Bedingungen eine
ganz schwierige Situation. Ich glaube aber, dass, egal
welche Parteien eine Mehrheit im portugiesischen Parla-
ment stellen, diese in der Lage sein werden, dieses ambi-
tionierte Programm umzusetzen. Wir werden weiter da-
rauf achten, dass das geschieht.

Ich muss Herrn Trittin, der leider nicht mehr anwe-
send ist, an einer Stelle korrigieren, weil er das Memo-





Michael Stübgen


(A) (C)



(D)(B)

randum of Understanding offensichtlich nicht richtig
gelesen hat. Die Behauptung, es gäbe bei den deutschen
Finanzierungen einen unseriösen Zinsaufschlag, ist
falsch. Das ist ganz eindeutig geregelt: Bei den Finanzie-
rungskosten soll es einen Aufschlag von 208 Basispunk-
ten geben. Das heißt, die EFSF bekommt einen Auf-
schlag; sie finanziert sich zu ungefähr 3,6 Prozent. Beim
IWF ist es niedriger. Deshalb wird ein niedrigerer Zins
weitergegeben. Das gilt auch für die Europäische Kom-
mission. Dadurch kommen die Zinsunterschiede zu-
stande. Das hat aber nichts mit einem unsolidarischen
Zinsaufschlag zu tun.

Lassen Sie mich in den wenigen Minuten Redezeit,
die ich noch habe, auf ein anderes Thema eingehen, das
heute schon mehrfach angesprochen worden ist. Zurzeit
befinden wir uns in den Verhandlungen zur Einrichtung
des Europäischen Stabilisierungsmechanismus. Darüber
wird in der Bundesregierung, in der Europäischen Kom-
mission und in vielen Ausschüssen unseres Hauses de-
battiert. Unser Ziel ist es, einen dauerhaften Mechanis-
mus zu schaffen. Bei diesem dauerhaften Mechanismus
wollen wir aber Fehler, die wir bei den bisherigen Me-
chanismen erkannt haben, ausschließen. Deshalb unter-
stützt die CDU/CSU-Fraktion ganz nachhaltig das Ziel
der Bundesregierung und insbesondere von Bundes-
minister Schäuble, dass dieser Mechanismus im Fall des
Verlustes der Schuldentragfähigkeit, das heißt der dro-
henden Insolvenz, zwingend die Gläubigerbeteiligung
vorsieht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist bedauerlich, dass wir mit dieser Forderung in fast
allen anderen Euro-Ländern auf extremen Widerstand
stoßen. Diese Auseinandersetzung müssen wir aber füh-
ren und gewinnen; denn sonst wird das kein nachhaltiger
und tragfähiger Konsolidierungsmechanismus werden.

In einem Punkt besteht im Moment noch eine Diffe-
renz zwischen der Auffassung der Bundesregierung und
zumindest den Europapolitikern im Bundestag; auch
darauf will ich kurz eingehen. Es geht um die grundsätz-
liche Frage der Konstruktion des ESM und seiner Zu-
ordnung. Die Bundesregierung hat uns in mehreren
Schriftsätzen mitgeteilt, dass sie davon ausgeht, dass der
Europäische Stabilisierungsmechanismus eine interna-
tionale Finanzorganisation wie IWF, Weltbank etc. sein
soll. Ich glaube, es gibt einige gute Gründe für diese
Auffassung. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass
diese Auffassung schlussendlich nicht tragfähig sein
wird. Dazu noch einige kurze Sätze.

Der Europäische Stabilisierungsmechanismus wird
eine europäische Angelegenheit sein. Er wird eine Insti-
tution nach dem europäischen Komplementärrecht sein.
Das sieht man erstens daran, dass wir für die Einrichtung
den europäischen Vertrag ändern müssen. Das wäre
nicht nötig, wenn das eine unabhängige Institution wer-
den würde. Zweitens werden die Europäische Kommis-
sion und die EZB eine ganz herausgehobene Funktion
hinsichtlich der Arbeit des ESM bekommen. Das Euro-
päische Parlament erhält Informationsrechte hinsichtlich
der Arbeit des ESM. Der Europäische Gerichtshof wird
bei Auseinandersetzungen letztinstanzlich entscheiden.
Die Finanzminister der Euro-Länder und nicht von den
Parlamenten gestellte Experten werden der Gouver-
neursrat dieser Einrichtung sein. Deswegen bin ich da-
von überzeugt, dass die Grundlage für die Regelung der
Rechte des Deutschen Bundestages im Zusammenhang
mit dem ESM – Beteiligungs- und Informationsrechte –
der Europa-Artikel des Grundgesetzes, also Art. 23 des
Grundgesetzes, sein muss. Ich bin überzeugt davon, dass
wir uns am Ende darauf einigen werden.

Noch ein Hinweis.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710803400

Lieber Herr Stübgen!


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1710803500

Ich bin gleich fertig. – Wir sollten den ESM anders

als den EFSF und den Griechenland-Fonds mit einer
großen Mehrheit im Bundestag beschließen. Dazu haben
wir jetzt die Chance, und diese sollten wir nutzen. Las-
sen Sie uns dafür arbeiten, dass wir das Gesetzeswerk
am Ende dieses Jahres mit großer Mehrheit beschließen
können!

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710803600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf der Drucksache 17/5797. Hierzu liegen mir
neun persönliche Erklärungen zur Abstimmung vor, die
wir dem Protokoll beifügen1).

Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ent-
schließungsantrag mehrheitlich angenommen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da haben einige dagegengestimmt von der CDU! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Bleib ganz ruhig! – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Parlamentarische Grundrechte! Ich weiß gar nicht, was es da zu sagen gibt!)


– Das ergibt sich ja auch aus den angekündigten Erklä-
rungen zur Abstimmung, die dem Protokoll beigefügt
werden, wie von mir vor der Abstimmung mitgeteilt. An
der mehrheitlichen Zustimmung wird von niemandem
ernsthaft Zweifel angemeldet. Dann halten wir auch das
noch einmal so fest.

Nun stimmen wir über den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5798
ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist genauso unzweifelhaft mit Mehrheit ab-
gelehnt.

1) Anlagen 3 bis 5





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Modernisierung der Stromnetze – Bürgernah,
zügig, für erneuerbare Energien
– Drucksache 17/5762 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 90 Minuten andauern. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710803700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im-

mer wieder heißt es in den letzten Tagen, das Nadelöhr
für die Energiewende sei der Netzausbau. Zunächst ein-
mal muss man sagen, dass das Datum für den endgülti-
gen Atomausstieg nicht am Netzausbau hängt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wahr!)


Schon in wenigen Jahren kann durch die fossilen Kraft-
werke, deren Bau sowieso nicht mehr zu stoppen ist, die
Versorgungssicherheit in allen Regionen Deutschlands
– auch ohne die Atomkraftwerke – sichergestellt werden.

Aber natürlich brauchen wir die Netze für die Ener-
giewende, Netze für erneuerbare Energien, Netze für die
dezentralen Erneuerbaren, und zwar in bedeutendem
Umfang und auf allen Ebenen. Wir brauchen Smart
Grids, aktuell brauchen wir Verteilnetze, bald auch drin-
gend Übertragungsnetze. Da habe ich eine erfreuliche
Nachricht: Gerade durch den schnellen Atomausstieg
wird der Netzausbau deutlich erleichtert. Eine wirkliche
Energiewende ist die Voraussetzung für Akzeptanz. Nur
wenn Sie es mit der regenerativen Zukunft ernst meinen,
werden die Menschen neue Stromtrassen in ihrer Heimat
akzeptieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Viele derjenigen, die hier in Berlin am lautesten
schreien, der Netzausbau gehe nicht, die Bürger seien ja
dagegen, haben nie mit den Bürgern vor Ort gesprochen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie hetzen die aber auf!)


Bei vielen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern
vor Ort habe ich einiges gelernt. Wir haben eine Um-
frage bei 25 Bürgerinitiativen durchgeführt. Das Ergeb-
nis macht Mut. Keine einzige der Bürgerinitiativen ist
grundsätzlich gegen den Ausbau der Stromtrassen,

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ja, woanders sind sie dafür! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist klar! Wenn es woanders ist, ist es keine Frage!)


auch nicht vor ihrer eigenen Haustür, wenn die Netze
wirklich für erneuerbare Energien gebaut werden, die
Bürger ernsthaft beteiligt werden und Innovation ermög-
licht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die größten Bremser des Netzausbaus sind nicht die
Bürgerinnen und Bürger, es waren schon immer die
Atomkonzerne, die die Netze als das Einfallstor begrei-
fen, durch das die erneuerbaren Energien ihnen Marktan-
teile abnehmen werden.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Wir von den Grünen stehen zu unserer Verantwor-
tung. Deshalb haben wir schon vor Fukushima ein Kon-
zept zum Netzausbau vorgelegt. Auch in dem heute vor-
liegenden Antrag zeigen wir auf, wie der Netzausbau
vonstatten gehen kann. Hier die drei wichtigsten Punkte:

Erstens. Wir brauchen eine transparente Bedarfspla-
nung. Die Idee der Netzentwicklungspläne geht in die
richtige Richtung. Es ist gut, dass Sie unterschiedliche
Szenarien prüfen wollen. Aber Sie machen sich von den
vier großen Netzbetreibern abhängig, und Sie wollen
nicht einmal ein Szenario vorlegen, in dem glaubwürdig
ein schneller Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Ener-
gien dargestellt wird. Wir fordern: Daten in öffentliche
Hand, nachvollziehbare Berechnung und wirkliche
Transparenz. Welche Leitungen werden für erneuerbare
Energien gebraucht und welche nicht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Zweitens. Echte Bürgerbeteiligung bedeutet: Die Bür-
ger werden ganz am Anfang des Verfahrens beteiligt,
wenn noch nicht alles entschieden ist. Dies bedeutet,
dass auch andere Akteure als die Netzbetreiber Vor-
schläge einbringen können, die diskutiert werden. Vor
allem bedeutet es, dass wirklich etwas entschieden wer-
den kann.

Ein runder Tisch, bei dem schon am Anfang feststeht,
dass sowieso nur wieder die Freileitung mit den alten
Gittermasten infrage kommt, ist eine Farce. Echte Bür-
gerbeteiligung braucht Gestaltungsspielräume. Wir müs-
sen auch finanzielle Gestaltungsspielräume öffnen.
Wenn es nicht wirklich etwas zu entscheiden gibt, dann
ist eine Informationsoffensive, wie sie im Papier der
Bundesregierung beschrieben wird, nichts anderes als
eine Verschwendung von Steuermitteln für einen PR-
Gag. Das wird nicht helfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Wir brauchen technische Innovationen, viel
mehr Erdkabel, Smart Grids und Gleichstromübertra-
gungen. Ich erkenne bei Ihnen leichte Fortschritte in
diese Richtung, aber noch gleicht Ihr Fortschritt einer





Ingrid Nestle


(A) (C)



(D)(B)

Schnecke. Dabei können Sie sich ruhig trauen. Die Inno-
vationen bei der Stromübertragung sind nicht zu teuer.
Das Höchstspannungsnetz trägt nur mit winzigen
2,5 Prozent zu den Stromkosten bei. Wir können es uns
leisten, auch bei den Stromnetzen Hightechland zu blei-
ben.

Ich komme zum Schluss. Wir können die Netze aus-
bauen – der schnelle Atomausstieg ist der erste Schritt
hierzu –, wenn wir alle hier im Parlament unserer Ver-
antwortung gerecht werden. Ich bin bereit, einen fairen
Netzausbau zu unterstützen. Wir können die Stromnetze
ausbauen. Aber das geht nur mit den Bürgerinnen und
Bürgern. In diesem Sinne bitte ich Sie: Stimmen Sie un-
serem Antrag zu!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710803800

Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1710803900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fukushima ist
immer noch auf der Tagesordnung – und das zu Recht.
Es erfüllt uns alle mit erheblicher Sorge. Das Morato-
rium war deswegen eine richtige Entscheidung. Wir ha-
ben Zeit gebraucht und brauchen auch noch Zeit, die
sehr intensiv genutzt werden muss, um so schnell wie
möglich in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu
kommen. Nur muss es dabei immer drei Grundvoraus-
setzungen geben. Die lauten für mich: bezahlbar, zuver-
lässig und sauber.

Sauber heißt: Wir müssen den Umstieg möglichst
CO2-frei gestalten. Es darf daher nicht sein, dass wir das
Energiekonzept aus den Augen verlieren. Wir wollen
den benötigten Strom in Zukunft eben nicht importieren.
Das ist aber das, was wir zurzeit machen müssen, weil
wir, nachdem acht Kernkraftwerke von den Netzen ge-
gangen sind, eben nicht genügend Strom haben. Die
Bundesnetzagentur hat bekannt gegeben, dass pro Tag
zwischen 2 000 und 5 000 Megawatt – manchmal sogar
6 000 Megawatt – importiert werden.

Wie wollen wir die Kernkraftwerke zukünftig erset-
zen? Sind Gas- und Kohlekraftwerke geeignet, die
Stromversorgung zu sichern? Unser Problem ist, dass
wir gesicherte Leistung brauchen. Nur wird das mit
Blick auf die Klimaschutzvorstellungen, die wir haben,
schwierig werden; denn wir müssen dann gleichzeitig
versuchen, an anderer Stelle CO2 einzusparen. Das alles
auf einmal zu bewerkstelligen, dürfte nicht sehr einfach
sein.

Allein die acht Kernkraftwerke, die wir zurzeit vom
Netz genommen haben, ersparen uns knapp
50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, wenn sie unter Voll-
last laufen würden. Welchen Preis sind wir bereit für den
Ausstieg zu zahlen? Frau Kollegin, Sie sprachen davon,
das sei gar nicht so teuer, es seien Mehrkosten von unge-
fähr 2 Prozent. Der dena-Chef hat gesagt: Wenn wir die
benötigten Netze auf einer Länge von 4 400 Kilometern
ausbauen würden, würde allein das – und zwar unter der
Annahme, dass wir nur Freileitungen bauen – den
Strompreis um 0,5 Cent verteuern.


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht bei Freileitungen!)


Das kostet 0,5 Cent pro Kilowattstunde. Wenn wir zur
Erdverkabelung übergehen, wird es – ich komme darauf
noch zurück – erheblich teurer.


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Die Grünen behaupten, dass man Windkraftanlagen
im Süden bauen könne und dass man dann gar nicht so
einen großartigen Netzausbau brauchen würde. Das
wage ich zu bezweifeln; denn die sogenannte Windernte
ist im Süden deutlich geringer als im Norden unseres
Landes.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht null!)


Dass im Meer aufgrund wesentlich höheren Windauf-
kommens deutlich mehr Strom produziert werden kann,
ist eine Tatsache. Wir haben offshore rund 3 000 Wind-
stunden und onshore 1 870 Windstunden. Das sind Fak-
ten, die auf dem Tisch liegen.

Die Frage, wie die Grünen das in Baden-Württemberg
machen wollen, finde ich spannend. Ich habe Ihren Ko-
alitionsvertrag gelesen. Da steht drin, dass Sie den
Windkraftanteil von heute 0,7 Prozent innerhalb von
fünf Jahren auf 10 Prozent erhöhen wollen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Bis jetzt gibt es in Baden-Württemberg 450 Windkraft-
anlagen. Das würde bedeuten, dass es die Grünen schaf-
fen müssten, in fünf Jahren 5 000 bis 6 000 zusätzliche
Windkraftanlagen zu bauen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das Problem?)


Das dürfte ziemlich ungemütlich werden. Ich bin sehr
gespannt, ob es die Bevölkerung akzeptieren würde,
wenn auch im Schwarzwald und auf dem Feldberg
Windkraftanlagen gebaut würden; vielleicht kann man
sie ja als Slalomstangen benutzen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Die sind doch viel zu hoch! Herr Fuchs, Sie kennen die neuen Windkraftanlagen ja gar nicht!)


Vielleicht werden aber auch Offshorewindkraftanlagen
im Bodensee gebaut. Das hätte einen Vorteil: Dort könnte
man das ganze Jahr lang Offshorewindkraftanlagen
bauen, weil es dort keine Schweinswale gibt.





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ja, ja! Sie lösen das Problem lieber mit Atomkraft! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind echt ein Fossiler!)


Ich denke, dass wir auf diesem Sektor sehr vorsichtig
sein müssen. Wir brauchen die Akzeptanz der Bevölke-
rung. Ich kann mir vorstellen, dass die Akzeptanz der
Bevölkerung, wenn zu viele solcher Anlagen gebaut
werden, nicht allzu groß sein wird.

Dennoch ist es notwendig – das dürfen wir nicht weg-
diskutieren –, den Netzausbau voranzubringen. Ohne
den Netzausbau funktioniert das ganze System nicht.
Der Netzausbau muss von Nord nach Süd erfolgen. Wir
brauchen drei große Trassen à 1 000 Kilometer Länge, die
ungefähr 60 Meter breit sind. Dafür müssen wir die not-
wendigen Gesetze schaffen. Das NABEG, das Netzaus-
baubeschleunigungsgesetz, das der Bundeswirtschafts-
minister plant, ist sinnvoll und richtig. Jeder in diesem
Hohen Hause ist gefordert, Vorschläge zu machen, wie
wir den Netzausbau beschleunigen können. Es darf nicht
mehr so sein, dass es in dem einen Bundesland einen Be-
bauungsplan gibt, in dem anderen Bundesland aber nicht,
sodass der Netzausbau an der Grenze stecken bleibt.

Wie Sie wissen, ist laut dena-Netzstudie I bis jetzt ein
Netzausbau von 900 Kilometern geplant. Davon sind ge-
rade einmal 10 Prozent gebaut. Dafür haben wir fünf
Jahre gebraucht. Wenn wir in dieser Geschwindigkeit
weitermachen, werden wir den Netzausbau überhaupt
nicht bewältigen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Deshalb brauchen wir ja auch neue Konzepte, Herr Fuchs! – Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann ändert sich das! – Zuruf von der SPD: Wer regiert denn?)


Es wird höchste Zeit, dass wir alle nach Lösungen su-
chen. Am Anfang dieses Prozesses kann gerne eine Bür-
gerbeteiligung stattfinden. Aber danach muss es schnell
gehen. Dann darf nicht mehr jeder sagen: „Jetzt klage
ich noch gegen dieses und jenes.“


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie zwingen die Leute doch dazu!)


Außerdem werden wir darüber zu diskutieren haben,
wie wir im Rahmen des Netzausbaus dafür sorgen kön-
nen, dass die Erdverkabelung vernünftig durchgeführt
wird. Mit dem Thema Erdverkabelung muss man sich
beschäftigen. Es handelt sich dabei nämlich um eine völ-
lig neue Technologie, die noch nicht erprobt ist.

Wir haben die EnLAG-Novelle verabschiedet, in der
steht, dass diese Anlagen jetzt erprobt werden sollen. Bis
heute ist noch keine einzige in Betrieb. Hinzu kommt,
dass sie technisch hochkomplex sind. Die Kabel müssen
gut 1,50 Meter tief im Boden verlegt werden, und zwar
in Betonrohren. Das bedeutet zum Beispiel, dass man in
der freien Flur Brücken bauen muss, damit dort auch
schwere Landmaschinen fahren können. Entlang der Ka-
belschächte muss eine Revisionsstraße verlaufen. Bei
den Menschen wird es keine besonders große Freude
auslösen, wenn wir in Naturschutzgebieten Straßen
bauen.

Wir müssen uns auch im Klaren darüber sein, dass
alle 900 Meter sogenannte Muffenhäuschen gebaut wer-
den müssen. Dort müssen die Kabel, weil ihre Länge
900 Meter beträgt, aneinandergeflanscht werden. Außer-
dem muss ein Betonhäuschen drum herum gebaut wer-
den. Das wird, was die Landschaftsästhetik betrifft, nicht
besonders schön sein. Darüber sollte man sich im Klaren
sein.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Fuchs, der Bedenkenträger! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Herr Fuchs, haben Sie Muffensausen?)


Wichtig ist mir Folgendes: Wir müssen all dies so
schnell wie möglich testen und beschleunigt durchfüh-
ren. Herr Kohler von der dena hat vor einigen Tagen be-
kannt gegeben, dass wir eine Ausbaugeschwindigkeit
von mindestens 500 Kilometern pro Jahr erreichen müs-
sen. Das bedeutet, ganz nebenbei, dass wir noch neun
Jahre brauchen, bis wir das komplette Netz ausgebaut
haben. Dass wir dieses Ziel mit den jetzigen Gesetzen
erreichen werden, stelle ich infrage. Ich fordere uns alle
auf, dazu beizutragen, dass wir eine Beschleunigung des
Netzausbaus hinbekommen. Wenn wir das nicht schaf-
fen, werden wir unsere Ziele im Hinblick auf die erneu-
erbaren Energien nicht erreichen. Dann wird auch ein
Ausstieg aus der Kernenergie nicht so schnell möglich
sein. Das hängt direkt miteinander zusammen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Da haben wir den eigentlichen Grund, warum Sie so argumentieren! Jetzt kommt endlich alles ans Licht!)


Ich wünsche mir von Ihnen konkrete Vorschläge. Ich
wünsche mir von Ihnen, dass Sie Ihre eigenen Leute vor
Ort bremsen und dafür sorgen, dass sie konstruktiv mit-
machen. Es bringt nichts, in Berlin dafür zu sein und vor
Ort dagegen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die eigentlichen Probleme gar nicht erkannt, Herr Fuchs!)


Dabei können Sie mithelfen. Dabei sind Sie alle gefor-
dert. Wenn Sie das nicht tun, helfen Sie nicht mit, den
Energiewandel so schnell wie möglich zu gestalten.
Dazu fordere ich Sie auf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710804000

Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1710804100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Herr Fuchs, Ihre Kollegen aus der
Unionsfraktion haben in den letzten Tagen immer wieder
gesagt, sie hätten eine Menge gelernt. Wenn man Ihre





Rolf Hempelmann


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Rede eben verfolgt hat, dann weiß man nicht, ob man
das auf die gesamte Fraktion beziehen darf.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Reden Sie über Rot-Weiss Essen! Davon haben Sie mehr Ahnung!)


Jedenfalls wünsche ich mir, dass Sie bei dem, was Sie
in den nächsten Wochen und Monaten im Bereich der
Energiepolitik tun, tatsächlich auf Konsens setzen und
Brücken bauen, statt wieder Gräben zu ziehen, wie Sie
es in dieser Rede getan haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben bis zur Sommerpause einiges vor. Wir re-
den heute über den Netzausbau. Der Netzausbau ist aber
nur in einem Gesamtkonzept zu verstehen, das bis zur
Sommerpause vorliegen muss. Ich will etwas dazu sa-
gen, was auf der Tagesordnung steht. Nachdem die
Kommissionen ihre Berichte vorgelegt haben und das
Kabinett im Juni entschieden hat, soll bis Anfang Juli im
Bundestag und anschließend im Bundesrat Folgendes
beschlossen werden: Novellen des Atomgesetzes, Ener-
giewirtschaftsgesetzes und Netzausbaugesetzes, das
Bauplanungsgesetz sowie Anpassungen im Gesetz zum
Energie- und Klimafonds, in den EEG-Eckpunkten, den
Eckpunkten zur Energieeinsparverordnung und im
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz.

Ich glaube, es wird deutlich, dass wir dabei vor einer
sehr großen Aufgabe stehen und dass vieles dafür ge-
sprochen hätte, die Zeit zu nutzen und diese Themen von
Anfang an im Bundestag und in geeigneten Gremien,
zum Beispiel in einem Sonderausschuss, vorzubereiten.


(Beifall bei der SPD)


Das Thema Netze ist in der Tat – das ist schon in der
Rede von Frau Nestle angeklungen – ein Kernpunkt im
Gesamtkonzept. Es ist sozusagen das Nadelöhr: Wenn
wir bei dem Thema nicht vorankommen, dann wird es
bei allen anderen schwierig, insbesondere bei der Inte-
gration und beim weiteren Ausbau der erneuerbaren
Energien, aber auch bei allen Veränderungen im sonsti-
gen Kraftwerkspark.

Deswegen ist es selbstverständlich unsere gemeinsame
Verantwortung, alles zu tun, um zu den notwendigen
Netzinvestitionen zu kommen. Diese brauchen wir bei-
spielsweise zur Anbindung der Offshorewindenergie und
zum Ausgleich der Volatilitäten von erneuerbaren Ener-
gien, insbesondere von Windkraft und Photovoltaik. Wir
brauchen dazu auch Leitungen, die zum Teil außerhalb
unserer Landesgrenzen sind, beispielsweise Interkonnek-
toren nach Skandinavien, um die dortigen Speicherkapa-
zitäten zu nutzen. Das ist übrigens im beiderseitigen Inte-
resse. Denn es führt auch gleichzeitig zu einer besseren
Nutzung der Wasserkraft für die Stromerzeugung in Nor-
wegen. Dahinter stehen also durchaus belastbare Ge-
schäftsmodelle.

Wir stehen vor einer besonderen Herausforderung,
weil wir gleichzeitig in großen Zusammenhängen den-
ken müssen, was Europa angeht. Es geht darum, das
Netz in Europa insgesamt auszubauen. Das muss in
Deutschland so erfolgen, dass es mit dem europäischen
Stromhandel vereinbar ist. Gleichzeitig brauchen wir auf
der lokalen Ebene, also dezentral, Investitionen insbe-
sondere in die Verteilnetze, die es ermöglichen, dass ge-
rade Photovoltaik, aber auch erneuerbare Energien allge-
mein in das System integriert werden. Wir stehen vor
quantitativen, aber vor allen Dingen auch vor qualitati-
ven Herausforderungen. Ich darf an dieser Stelle das
Stichwort „intelligente Netze“ erwähnen.

Gerade vor diesem Hintergrund ist es jetzt besonders
wichtig, über Verfahren zu sprechen, die anders als in der
Vergangenheit tatsächlich zu Beschleunigungen führen.
Denn es ist richtig, was Herr Fuchs gesagt hat: Es ist er-
nüchternd, in welchem Umfang etwa die dena-I-Projekte
bisher realisiert worden sind, nämlich nur zu 10 Prozent.
Aus der dena-Netzstudie II wird deutlich – egal wie man
sie interpretiert und ob man eher vom oberen oder vom
unteren Rand der Ausbaunotwendigkeiten ausgeht –,
dass wir vor weiteren Herausforderungen stehen.

Es ist richtig, bei der Akzeptanz der Bevölkerung – das
ist der entscheidende Punkt – anzusetzen; dazu ist gerade
schon einiges gesagt worden. Um die Akzeptanz der Be-
völkerung geht es übrigens nicht nur im Energiebereich
und insbesondere beim Netzausbau, sondern auch bei
anderen Infrastrukturprojekten. Deswegen sage ich ge-
rade in Richtung der Regierungskoalition: Das, was Sie
bei CCS gemacht haben, konnten Sie sich bei diesem
Thema vielleicht leisten. Sie werden sich das Gleiche
aber beim Netzausbau und bei den Gesetzen, die ich
vorhin aufgeführt habe, nicht leisten können. Sie kön-
nen nicht jeder Schwierigkeit, jedem Mangel an Akzep-
tanz – auch in Ihren eigenen Reihen auf Landesebene –
ausweichen, indem Sie Opt-out-Regelungen schaffen,
die es den Ländern erlauben, nicht mitzumachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das wird nicht gehen, wenn wir tatsächlich einen Ener-
giekonsens erzielen und die Energiewende in diesem
Land schaffen wollen. Legen Sie also Gesetzentwürfe
vor, die mit den Ländern so abgestimmt sind, dass wir
zumindest auf der politischen Ebene einen Konsens er-
reichen können!

Die Reaktionen der Länder auf die von Ihnen vorge-
legten Eckpunkte eines Netzausbaugesetzes stimmen
bisher nicht sehr optimistisch. Ich gebe Ihnen in der in-
haltlichen Grundausrichtung nicht unrecht. Ja, wir brau-
chen eine Art Bundesnetzplan. Ja, wir brauchen auch
eine engere Verzahnung von Bundes- und Länderebene.
Aber es macht keinen Sinn, mit dem Kopf durch die
Wand zu rennen und den Ländern aufzuoktroyieren, dass
das gesamte Verfahren inklusive des Planfeststellungs-
verfahrens auf der Bundesebene durchzuführen ist. Das
kann man empfehlen, wenn man Berater der Bundesre-
gierung ist. Aber die Politik muss wissen, dass es eine
geteilte Verantwortung in diesem Land gibt. Das können
wir nicht einfach wegwischen.

Es geht eher darum, intelligente Lösungen zu finden,
wie wir zu Beschleunigungen kommen, etwa durch die
Zusammenlegung von Verfahren, durch eine zeitlich pa-





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

rallele Abwicklung von Verfahren und durch Vermei-
dung von Doppelprüfungen. Hier erwarten wir von Ih-
nen konkrete Vorschläge. Beteiligungsrechte, egal ob
von den Menschen vor Ort oder von den Bundesländern,
dürfen dabei jedenfalls nicht in Mitleidenschaft gezogen
werden.

Der Netzausbau ist nur ein Teil des Energiekonsenses,
den wir in diesem Land benötigen. Es gibt viele andere
Fragen, die wir in den nächsten Wochen zu beantworten
haben. Wenn Sie einen parteiübergreifenden Konsens
wollen, dann müssen Sie sich bewegen. Dann müssen
Sie bis zur Sommerpause Vorschläge zu allen zentralen
energiepolitischen Themen vorlegen. Sie müssen mit
uns vorher reden, um auszuloten, wie sich beide Seiten
bewegen müssen, damit es am Ende ein parteiübergrei-
fendes Konzept gibt. Das hätte einen Wert an sich, weil
die Investitionszyklen im Energiesektor sehr lang sind
und weil die gesamte Branche – sie ist sehr vielfältig; es
geht nicht allein um die großen Energiekonzerne, son-
dern vor allen Dingen auch um die vielen Stadtwerke
und die neuen Akteure auf dem Markt – verlässliche und
langfristig geltende Rahmenbedingungen braucht.

Ich wünsche mir, dass wir eine Einigung erreichen,
der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zustim-
men können. Nur dann sind wir sicher, dass wir in der
nächsten Legislaturperiode nicht wieder von vorne an-
fangen müssen. Noch wichtiger: Nur dann sind die Ak-
teure in der Energiewirtschaft und der energieverbrau-
chenden Wirtschaft sicher, dass das, was wir heute
beschließen, auch morgen und übermorgen gilt. Wir
brauchen also belastbare Vorschläge, etwa beim Ausbau
der erneuerbaren Energien und bei der Systemintegra-
tion der erneuerbaren Energien. Möglicherweise werden
sich Rot und Grün auf der einen Seite sowie Schwarz
und Gelb auf der anderen Seite relativ schnell einigen.
Aber wir brauchen einen breiteren Konsens.

Wir brauchen auch eine Abstimmung in der Frage:
Wie gehen wir in der Übergangsphase, bis wir
100 Prozent erneuerbare Energien erreicht haben, mit
dem konventionellen Kraftwerkspark um? Ich glaube,
dazu ist ein besonderer Dialog zwischen Rot und Grün
gefragt. Sie werden sich innerhalb der Koalition viel-
leicht leichter tun. Aber am Ende müssen wir eine Lö-
sung finden, in der wir uns alle wiederfinden können.
Auch da gilt – Sie haben beispielsweise die Unterstüt-
zung des Wirtschaftsministeriums und des Umweltmi-
nisteriums –: Sie sind gefordert, im Vorfeld belastbare
Vorschläge zu machen, nachdem Sie hoffentlich auch
zeitnah den Dialog mit uns begonnen haben.

Dies sind nur zwei Beispiele, bei denen wir eine Ver-
ständigung brauchen. Man könnte noch weitere anfüh-
ren. Dazu gehört beispielsweise die Frage: Wie halten
wir es mit der Industrie in diesem Land? Ich höre aus al-
len Fraktionen das Bekenntnis: Wir wollen Industrie-
standort bleiben! – Dann müssen wir aber auch das Not-
wendige dafür tun, damit wir es tatsächlich bleiben
können.

Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben zu diesen
Themen Vorschläge gemacht. Wir haben ein Energiepro-
gramm vorgelegt, das wir in der letzten Sitzungswoche
offiziell als Drucksache in die Debatte eingebracht ha-
ben. Wir sagen nicht: „Vogel friss oder stirb!“, sondern
das ist ein Angebot. Schauen Sie es sich bitte an! Wir
sind auch überhaupt nicht böse, wenn Sie daraus ab-
schreiben. Ich verspreche Ihnen: Wir werden Sie nicht
wegen Diebstahl geistigen Eigentums verklagen, es gibt
nicht die nächste Plagiatsaffäre. Im Gegenteil: Wir wür-
den Sie dafür loben; denn das wäre ein wichtiger Schritt
in Richtung eines breiten Energiekonsenses.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710804200

Das Wort hat der Kollege Klaus Breil von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1710804300

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Der bedingungslose Kampf gegen die Kernkraft –
das ist die grüne Stoßrichtung dieses Antrags, sonst
nichts. Ein geordneter Übergang in das Zeitalter der er-
neuerbaren Energien wird dabei zur Nebensache, er ist
lästiges Beiwerk.

Die Bemerkung in Ihrem Antrag, dass die Bundesre-
gierung seit Jahren nur Marionette der Stromkonzerne
sei, kann ich nur auf die grün-rote Regierung Fischer/
Schröder beziehen, sonst wäre Ihre Behauptung einzig
und allein eine Beleidigung und zugleich ein geistiger
Tiefflug.


(Beifall bei der FDP)


Denken Sie bitte daran, dass Sie damit auch Tausende
von Mitarbeitern der Energieunternehmen verunglimp-
fen. Vorbildlich ist da der einmütige Appell der Ethik-
kommission unter Klaus Töpfer, derartige Verunglimp-
fungen zu unterlassen.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Zur Sache: Die Folge des von den Grünen vorgeschla-
genen Atomausstiegs wäre ein Wegfall der Kernkraft-
werke bis zum Jahr 2017. Diese müssten wir zunächst
weitestgehend durch fossile Kapazitäten und Stromim-
porte ersetzen. Gleichzeitig müssten wir wegen fehlender
Netze hohe Windstromüberschüsse ins Ausland exportie-
ren. So weit meine Bemerkung zum unreflektierten Anti-
kernkraftdenken.

Das ist nun wirklich kein vernünftiger Weg zu den er-
neuerbaren Energien. Vernünftig ist die sinnvolle Be-
schleunigung des Netzausbaus, so wie es bereits in unse-
rem Energiekonzept steht und wie es in den Vorhaben
der Regierung umgesetzt wird.


(Beifall bei der FDP)


Das Lesen Ihres Antrags weckt in mir vor allem einen
Gedanken: Glauben Sie wirklich, was Sie da so schrei-
ben? Oder dient das gebetsmühlenhafte Wiederholen fal-





Klaus Breil


(A) (C)



(D)

scher Behauptungen lediglich der Mobilisierung einiger
Ihrer Aktivisten und Sympathisanten?


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Behauptungen sind falsch?)


Sie wiegeln die Bevölkerung auf. Die Bürger sollen sich
gegen große Unternehmen auflehnen. Alles Große ist in
Ihren Augen von vornherein böse, der Dämon. Dieses
grundsätzliche Misstrauen gegen jede Wirtschaftlichkeit
und Skaleneffekte ist es auch, was mich grundsätzlich an
Ihrer Politik stört.


(Beifall bei der FDP)


Es riecht schon nach bewusster Agitation, wenn Sie die
Netzbetreiber in aller Öffentlichkeit ständig mit Atom-
konzernen gleichstellen. Sie wissen selbst: Das stimmt
nicht. Sie propagieren bewusst etwas Falsches.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710804400

Herr Kollege Breil, darf ich Sie kurz unterbrechen? –

Frau Kollegin Nestle würde Ihnen gern eine Zwischen-
frage stellen.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1710804500

Ja, bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710804600

Bitte schön, Frau Nestle.


Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710804700

Danke schön. – Weil Sie mir jetzt zweimal vorgewor-

fen haben, bewusst falsche Tatsachen darzustellen,
möchte ich Sie einfach nur fragen: Was ist Ihrer Mei-
nung nach in unserem Antrag an falschen Tatsachen wie-
dergegeben?


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1710804800

Frau Kollegin, das habe ich Ihnen ja gesagt, und das

werde ich Ihnen im weiteren Verlauf noch sagen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz konkret, eins, zwei, drei! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sagen Sie es mal! Was ist falsch? – Zuruf von der SPD: Nur Mut!)


– Ich kann die Rede ja noch einmal von vorn beginnen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben kein Argument! Das ist sehr interessant! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bitte unterlassen Sie doch solche Äußerungen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710804900

Herr Kollege Breil, Sie haben das Wort.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1710805000

Sie wissen es selbst: Es stimmt nicht. Sie propagieren

nämlich bewusst Falsches.
Zwei der vier Energiekonzerne haben ihre Netze be-
reits verkauft. Diese Netze werden von den neuen Eigen-
tümern eigenständig und unabhängig betrieben. Ich
meine TenneT und 50 Hertz.

Die Amprion GmbH als Tochtergesellschaft der RWE
AG ist gemäß den Anforderungen des Energiewirt-
schaftsgesetzes rechtlich eigenständig und befindet sich
übrigens gerade im Verkaufsprozess. EnBW ist überwie-
gend in staatlichem Besitz und hat seit ein paar Wochen
ein Mitglied Ihrer Grünen im Aufsichtsrat. Zudem will
der jetzt neue Umweltminister in Baden-Württemberg ja
ohnehin das EnBW-Netz verkaufen, um seine alternati-
ven Umstiegsfantasien bezahlen zu können.

Auch die weiteren Punkte sind altbacken und fade.
Die zentralen Ideen Ihres Antrags können Sie alle im
Energiekonzept der Bundesregierung, in der Novelle
zum Energiewirtschaftsgesetz


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie nur weiter so! Dann geht es für Sie nicht mehr hoch!)


oder in den Vorschlägen des Bundeswirtschaftsministers
zu einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz finden. Ich
meine damit den Bundesfachplan für Hochspannungs-
netze, den Ruf nach Vereinfachung der Verfahren, die
Trennung von Netz und Erzeugung und die Forderung
nach Smart Grids. In diesem Sinne begrüße ich sogar
Ihre Forderungen, übrigens ganz im Gegenteil zu den
Sozialdemokraten, Ihren Wunschpartnern. Der ehema-
lige Staatssekretär im BMU und jetzige Wirtschafts-
minister von Thüringen, Matthias Machnig, hat am
vergangenen Dienstag beispielsweise eine Bundesfach-
planung abgelehnt.


(Zuruf von der FDP: Aha!)


Doch werden wir konkret: Ich fordere Sie vor diesem
Hohen Hause auf, die Notwendigkeit des Netzausbaus,
wie in Ihrem Antrag auch beschrieben, in Ihre grüne Ba-
sis hineinzutragen. Überzeugen Sie die Leute vor Ort!
Ich bin wirklich gespannt, wie Ihnen dies gelingen wird.

Allerdings sind wir uns in manchen Punkten auch
einig: Auch wir wollen eine frühzeitige und intensive
Bürgerbeteiligung und eine hohe und frühzeitige Verfah-
renstransparenz. Wir wollen die heute üblichen Doppel-
prüfungen durch Bürgerbeteiligung zu denselben Sach-
punkten in der Raumordnung und in der Planfeststellung
vermeiden. Allerdings sind die staatliche Kontrolle der
Netzbetreiber und deren Gängelung zu Investitionen,
wie Sie das fordern, absolut überflüssig.

Das kann ich Ihnen durch folgende Zahlen belegen.
Die beiden schon jetzt unabhängigen Übertragungsnetz-
betreiber sind im vergangenen Jahr Investitionsver-
pflichtungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro ein-
gegangen: TenneT mit 2,5 Milliarden Euro, 50 Hertz mit
1,6 Milliarden Euro. Sie planen bis 2020 eine Verdoppe-
lung dieser Anstrengungen: TenneT 6 Milliarden Euro
und 50 Hertz 3,3 Milliarden Euro.

Dort, wo Sie die Netzbetreiber nicht auf den geballten
Widerstand von professionell organisierten Gegnern sto-
ßen lassen – ich meine hier nicht die berechtigten Inte-

(B)






Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)

ressen der anwohnenden Bürger –, geht es mit dem
Netzausbau auch voran.

Kommen wir nun zu einem Schlagwort Ihres Antrags,
den Sanktionen. Die derzeitige Sachlage ist bekannt: Hat
ein Netzbetreiber schuldhaft nicht investiert und Leitun-
gen nicht ausgebaut, dann wird der Bau dieser Leitung
ausgeschrieben. Infolgedessen bekommt derjenige mit
dem besten Angebot den Zuschlag für die jeweilige
Trasse. Die schon bestehende Regelung ist also folge-
richtig und vernünftig.

Ihre Forderungen bezüglich der Nutzung vorhandener
Infrastrukturen sind ebenso altbekannt. Die Bahntrassen
sind zum Beispiel nicht breit genug für 380-kV-Leitun-
gen. Deren 40-Meter-Schneisen reichen für den Bau
nicht aus. Für die neuen Leitungen bräuchte man min-
destens rund 60 Meter; auch die Masten müssten deut-
lich erhöht werden.

Beides hätte zur Folge, dass die Netzbetreiber – nach
geltendem Recht – neue Verfahren anstrengen müssten,
und das nicht ganz zu Unrecht. Schauen Sie beim Bahn-
fahren doch mal aus dem Fenster: Sie sehen Häuser, Sie
sehen Fabriken, Sie sehen Gärten; die stehen einem Aus-
bau oft im Wege.

Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie uns
zur Beschleunigung des Netzausbaus vorlegen, zeigt
einzig und allein Ihr eigenes Dilemma. Es ist das Di-
lemma zwischen Ihren frommen Wünschen in Berlin
und der selbst heraufbeschworenen Realität vor Ort. Es
sind die Geister, die Sie riefen und die Sie nicht mehr
loswerden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Schön abgelesen! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schön aufgeschrieben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710805100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner

von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710805200

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! 2004 wurde in Zusammenarbeit mit unter an-
derem drei der vier großen Netzbetreiber in Deutschland
eine Studie angefertigt. In dieser Studie wurde vorausge-
sagt, dass im Jahr 2010 insgesamt 5,4 Gigawatt Off-
shoreenergie, also auf See erzeugte Windenergie, und
24,4 Gigawatt Onshoreenergie, also an Land erzeugte
Windenergie, produziert würden. Jetzt haben wir 2011,
und wir haben nur 0,2 statt 5,4 Gigawatt Offshoreener-
gie, dafür aber 27 statt 24 Gigawatt Onshoreenergie.

Durch die bis heute bundesweit installierte Photovol-
taik ist die für 2020 erstellte Prognose der Deutschen
Energie-Agentur, dena, längst übertroffen worden. Die
in dieser Studie vorgenommenen groben Fehleinschät-
zungen, auf denen die Netzausbauplanung bis heute
beruht, machen deutlich, dass wir noch einmal ansetzen
müssen und dass die entsprechenden Projekte überprüft
werden müssen. Das ist einer der Gründe, warum der Wi-
derstand gegen die Ausbauprojekte gerade bei 380-kV-
Trassen in den Regionen so stark ist. Die Leute haben
nämlich längst gemerkt: Diese Leitungen sind nicht nö-
tig, um Erneuerbare ans Netz zu bringen; man plant mit
fehlerhaften und alten Zahlen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dirk Becker [SPD] und Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist vollkommen klar, dass es unter diesen Voraus-
setzungen einer Änderung des EnLAG, des Energielei-
tungsausbaugesetzes, bedarf. Unser erster Schritt ist,
weiterzukommen auf dem Weg hin zu 100 Prozent er-
neuerbaren Energien. Wir wollen nicht, dass sinnlos
Geld zum Fenster hinausgeworfen wird. Die aufgrund
der dena-Studie geplanten Ausbauprojekte müssen auf
Eis gelegt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Erst wenn wir einen Zielplan haben, der klarstellt,
welche Netze bei einer dezentralen Erzeugung erneuer-
barer Energien notwendig sind, können wir an konkrete
Ausbauprojekte herangehen. Denken wir nur an den im-
mensen Zuwachs bei Solarstrom. Er macht inzwischen
im Mittel 2 Prozent der gesamten Stromerzeugung aus,
tagsüber deutlich mehr, und zwar genau dann, wenn auf-
grund der Spitzenlast besonders viel Strom gebraucht
wird. Das gilt an sonnenreichen Tagen noch viel mehr.
Das führt zum Beispiel dazu, dass der Energiebedarf in
weiten Bereichen Sachsen-Anhalts voll durch Erneuer-
bare gedeckt werden kann. Der dezentrale Ausbau der
Anlagen für erneuerbare Energien macht es also nötig,
dass die Verteilnetze fitgemacht werden, damit die de-
zentralen Anlagen auch wirklich an das Netz ange-
schlossen werden können.

Es ist klar: Eon, RWE und Vattenfall sind an den
Nord-Süd-Trassen interessiert, weil sie wollen, dass ihre
Kohlekraftwerke und ihre Atomkraftwerke im Norden
am Netz bleiben. Sie wollen, dass ihr Strom weiterhin in
die südlichen Bundesländer verkauft wird. Stattdessen
sollten sie unterstützen, dass der überfällige Ausbau er-
neuerbarer Energien, zum Beispiel aus Windanlagen,
stattfindet.

Das Interesse der Konzerne, die fossile Energie erzeu-
gen, ist, die zentralen, monopolhaften Strukturen zu er-
halten, und dafür brauchen sie diese Trassen. Wenn wir
den Anteil der fossilen Energie zurückfahren wollen,
dann brauchen wir die Erneuerbaren. Die Menschen
wollen die Energiewende, und sie merken, dass das, was
hier vielerorts geplant ist, nicht dazu passt, sondern wei-
ter die großen Konzerne fördert.

Eine Energiewende muss – das sagt die Linke ganz
deutlich – eine soziale Energiewende sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt auch, die Macht der Konzerne zu brechen und
in Zukunft auf die kleinen und mittleren Energieanbieter
zu setzen. Es geht dabei gerade um die kommunale





Dorothee Menzner


(A) (C)



(D)(B)

Ebene, also um die Stadtwerke, und um demokratische
Kontrolle. Energetische Großprojekte wie Offshorewind-
parks müssen auch von Stadtwerken – ich denke dabei
an Genossenschaften – realisierbar sein. Unter anderem
deshalb schlagen wir vor, das Ende der 80er-Jahre ge-
schleifte Genossenschaftsgesetz zu reformieren und für
die beschriebenen Aufgaben fitzumachen.


(Beifall bei der LINKEN)


In ihrem Antrag gestehen die Grünen der öffentlichen
Hand gerade einmal eine Rolle als Kapitalgeber zu. Das
genügt aus unserer Sicht nicht. Das schafft weder Trans-
parenz noch Mitbestimmung. Die Ideen der Grünen grei-
fen zu kurz. Die öffentliche Hand muss durch eigene
kommunale und staatliche Unternehmen selber Eigentü-
mer der Stromnetze werden, und zwar sowohl der Ver-
teilnetze als auch der Übertragungsnetze.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur so schaffen wir es, eine wirklich demokratische
Kontrolle über die Netzinfrastruktur, die ein Teil der Da-
seinsvorsorge ist, zu erlangen und Investitionen da zu tä-
tigen, wo sie wirklich nötig sind.

Wenn wir von Netzumbau sprechen, dann meinen wir
nicht nur die rein technische Seite. Wir sprechen dann
auch über das Grundverständnis der Energienetze als
Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. So müssen wir sie
verstehen, und so müssen wir es angehen.

Der Netzumbau muss ein Rahmenprogramm für eine
beschleunigte Rekommunalisierung beinhalten. Die
Bundesregierung hat in ihrem im Moment auf Eis lie-
genden Energiekonzept des vergangenen Jahres beim
Punkt Netzausbau selbst betont, dass Hürden bei den
Absprachen mit den Netzbetreibern zu erwarten sind.
Ich frage Sie deshalb, warum Sie diese Infrastruktur, die-
sen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, überhaupt der
Willkür und den Eigeninteressen des Marktes und der
Privatwirtschaft überlassen, die damit Geld verdienen
und natürlich eine Rendite erwirtschaften wollen und
nicht sinnvoll im Interesse des Gemeinwohls agieren.

Als Eon 2008 sein Übertragungsnetz verkaufen
musste, weil die europäische Kartellbehörde die Preis-
treiberei und den Marktmissbrauch nicht mehr toleriert
hat, hätte der Bund das Netz übernehmen müssen. Genau
das tat die Große Koalition nicht. Hätte sie es seinerzeit
getan, wäre sie dort aktiv geworden, dann hätten wir
manche Probleme und Hindernisse, die uns in den
nächsten Wochen und Monaten beschäftigen werden,
jetzt nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte Sie, das zu überdenken und umzusteuern.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710805300

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]: Sag es ihnen!)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1710805400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich freue mich – das meine ich jetzt nicht bösartig –,
dass die Grünen mit ihrem Antrag in der Realität ange-
kommen sind.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Oh!)


Bisher wurde der notwendige Netzausbau in dem fragli-
chen Umfang von Ihnen nämlich immer bestritten, und
es wurde gesagt: Man muss das nur anders, dezentraler
organisieren, dann brauchen wir diesen Netzausbau
nicht. Daneben wurden Verschwörungstheorien bemüht
– Ansätze dafür finden sich noch in Ihrem Antrag –,
nach dem Motto „Von den Netzbetreibern wird der not-
wendige Netzausbau hintertrieben“ oder „Atomstrom
verstopft die Netze“ und anderes mehr.

Das Geschäftsmodell des Netzbetriebes – das gilt ins-
besondere für die Übertragungsnetze – hat sich im Übri-
gen mit der Mitwirkung Ihrer verehrten Vorgängerin,
Frau Nestle, geändert. Seit wir 2005 das Energiewirt-
schaftsgesetz geändert haben, gibt es den diskriminie-
rungsfreien Netzzugang. Das heißt, jeder kann die
Stromautobahnen und das Verteilnetz nutzen, wenn er
Strom transportieren will und muss.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da fragen Sie mal die Konkurrenten! Die sehen das anders!)


Die Herausforderungen in Bezug auf das Netz verän-
dern sich aber. Bisher ist das Netz einseitig, also mehr
oder weniger – so sage ich es einmal – als Einbahn-
straße, ausgerichtet. Das führt beispielsweise dazu, dass
es die – in Anführungszeichen – dünnsten Netze in den
Windbereichen an den Küsten in Norddeutschland gibt.
Zukünftig brauchen wir aufgrund einer dezentralen,
fluktuierenden Stromerzeugung natürlich eher andere
Netze, sowohl im Bereich der Verteilnetze als auch der
Übertragungsnetze. Wenn wir es nicht schaffen, dieses
Problem zu lösen, dann wirkt all das, was wir im Ener-
giebereich unternehmen, nicht. Ich glaube, darüber müs-
sen wir uns hier gemeinsam klar werden.

Die Netzbetreiber – ich spreche jetzt einmal insbeson-
dere über die Betreiber von Übertragungsnetzen – haben
gar nichts mehr mit denen zu tun, die Strom erzeugen.
TenneT und 50 Hertz gehören heute internationalen In-
vestoren und haben nichts mit der Stromerzeugung zu
tun. Die Netzbetreiber haben schon heute ein originäres
Interesse daran, das Netz stabil zu halten, es zu betreiben
und möglichst viel Strom durch ihre Netze zu leiten, wo-
mit sie natürlich Netznutzungsentgelte, Trassenentgelte,
erzielen. Insofern hilft es uns nichts, wenn man hier
Situationen beschreibt, die vielleicht vor zehn Jahren
aktuell waren.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: RWE hat immer noch sein Netz!)






Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

– Ja, das ist richtig. RWE hat das Übertragungsnetz
noch, aber man ist dabei, es zu verkaufen. EnBW ist vor-
hin schon angesprochen worden. De facto ist durch die
europäische Lösung sowie durch das, was wir gemacht
haben, der diskriminierungsfreie Zugang sichergestellt.
Heute kann in diesem Haus doch niemand mehr ernst-
haft behaupten, dass der diskriminierungsfreie Zugang
nicht gewährleistet sei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stadtwerke behaupten das immer noch!)


Lassen Sie mich noch einmal zu den Dimensionen der
Herausforderung kommen. Dabei will ich mich auf die
Netze konzentrieren und am Rande auch auf die Speiche-
rung eingehen. Bei den Vorrednern ist es zum Teil schon
angeklungen. Betrachten wir nur einmal das Übertragungs-
netz, also die Stromautobahnen. Kollege Hempelmann hat
es angesprochen: 850 Kilometer hätten nach der dena-
Netzstudie I eigentlich bis 2010 gebaut werden müssen,
um die Ziele von 2005 im Hinblick auf die erneuerbaren
Energien zu befriedigen. Deren Anteil an der Energie-
erzeugung sollte – ich erinnere noch einmal daran –
2010 12,5 Prozent betragen. Tatsächlich hatten wir im
Jahr 2010 einen Anteil von knapp 17 Prozent. Allerdings
wurden – Kollege Hempelmann hat es angesprochen –
erst knapp 10 Prozent der entsprechenden Leitungen ge-
baut, nämlich 90 Kilometer. Das heißt, das alles ist wirk-
lich sehr auf Kante genäht.

Jetzt wollen wir unser Energiekonzept vom letzten
Jahr, dessen Ziele unbestritten sind – mehr Energieeffi-
zienz, verstärkter Ausbau der erneuerbaren Energien –,
noch dramatisch steigern und vielleicht weiter beschleu-
nigen. Deshalb brauchen wir – insofern sind die Zahlen
auch nicht veraltet, wie die Kollegin behauptet hat, son-
dern nagelneu – bei den Stromautobahnen 3 600 Kilo-
meter Leitungen zusätzlich. Allein im Übertragungsnetz
benötigen wir 4 500 Kilometer. Ich spreche nur davon,
was technisch notwendig ist. Im Verteilnetz brauchen
wir 200 000 Kilometer neu zu bauende Leitungen.

Ferner ist das Thema Interkonnektoren angesprochen
worden. In diesem Zusammenhang wird immer Norwe-
gen bemüht. Leider müssen wir konstatieren – Stand
heute –, dass die beiden Projekte Nord.Link und NorGer
mit jeweils 1 400 Megawatt, mit denen die Leitungslü-
cken nach Norwegen geschlossen werden sollten, im
Moment planerisch nicht weiter nach vorne kommen.
Weil die norwegische Regierung das Ganze nicht so will,
wie wir es uns vorstellen, kommen wir an dieser Stelle
nicht weiter. Das sind leider die Fakten. Das heißt, wir
können, auch wenn es uns in Deutschland im Moment
gefällt, beispielsweise nicht über die norwegischen Was-
serspeicher verfügen. Wir sind im Moment nicht einmal
in der Lage, die Leitungen zu bauen. Auch dort sind
große politische Anstrengungen notwendig, um mehr zu
erreichen.


(Beifall des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU])


Aufgrund des Moratoriums spielt das Thema Inter-
konnektoren ebenfalls eine Rolle. Dieser Tage – das ist
gestern im Wirtschaftsausschuss berichtet worden, es ist
also ganz aktuell – ging es um die Interkonnektoren im
Zusammenhang mit Frankreich. Wir haben derzeit einen
zweigeteilten Strommarkt, weil die Interkonnektoren
nicht mehr in der Lage waren und sind, den Strom von
Frankreich nach Deutschland so zu leiten, wie es jetzt
aufgrund des Moratoriums notwendig ist. Wenn wir nach
Polen und nach Tschechien schauen, sehen wir das glei-
che Problem. Das heißt, auch im Bereich der Interkon-
nektoren müssen wir mehr als Gas geben, um das Netz
auszubauen.

Bisher habe ich nur von der Technik gesprochen.
Smart Grids und Smart Metering sind angesprochen
worden. Wenn wir einen Umbau bei den Netzen vorneh-
men wollen, müssen wir auch im Bereich von Smart
Grids und Smart Metering die Maßnahmen ausbauen.
Diese intelligente Steuerung zu schaffen, bedeutet nicht
nur technische, sondern natürlich auch finanzielle He-
rausforderungen.

Lassen Sie mich auch beim vieldiskutierten Thema
Speicherung einfach einmal die Dimensionen aufzeigen,
über die wir reden. Heute haben wir in Deutschland ein
Speichervolumen an elektrischer Arbeit von 0,04 Tera-
wattstunden. Das betrifft im Wesentlichen die Pump-
speicherkraftwerke. Dieses Volumen kann im Moment
gerade einmal eine Stunde den Strom puffern. Überein-
stimmende Untersuchungen zeigen, dass wir dann, wenn
wir in Ansätzen dem genügen wollen, was wir jetzt bei
den erneuerbaren Energien planen, ein Speichervolumen
von mindestens 10 Terawattstunden – wir haben jetzt
0,04 – benötigen. Das ist das 250-Fache dessen, was wir
heute haben.

Es wird dieser Tage auch viel über Elektromobilität
gesprochen und behauptet, damit könne man das Pro-
blem lösen, sogar dezentral. Auch hierzu ein paar Zahlen
und Fakten; denn Adam Riese kann man ja nicht wirk-
lich übergehen: Die 1 Million Elektrofahrzeuge, die wir
im Jahr 2020 haben wollen, hätten theoretisch ein Spei-
chervolumen von insgesamt 0,01 Terawattstunden. Das
setzt voraus, dass wir das vollständig einsetzen könnten.
Ich weiß nicht, wie begeistert jemand ist, der nachts sein
Elektromobil ans Stromnetz anschließt, um am nächsten
Morgen damit fahren zu können, wenn der Akku nachts
stattdessen beispielsweise über Smart Metering geleert
wird, sodass er morgens damit nicht fahren kann. Aber
selbst wenn wir das außen vor lassen, sind die 0,01 Tera-
wattstunden ein Faktum, das auch Sie nicht bestreiten
können.

Insofern zeigt sich, wie groß die Herausforderung
auch in diesem Bereich ist. Deshalb müssen wir neue
Wege beschreiten. Ich nenne hier einmal das Stichwort
„Methanisierung“. Im Erdgasbereich sind heute bei-
spielsweise bereits über 200 Terawattstunden vorhanden.
Deshalb müssen wir sektorübergreifende Ansätze finden
und uns nicht nur mit Strom befassen, sondern Strom
und Gas miteinander verknüpfen. Auch beim Strom-
transport müssen wir nach neuen intelligenten Möglich-
keiten suchen. Indem wir alles miteinander verknüpfen,
könnten wir uns vielleicht manchen Ausbau der Strom-
netze sparen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU] – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind also
gigantisch.

Zu den Kosten habe ich bisher noch nichts gesagt. Sie
bewegen sich in einer Größenordnung von 40 bis 50 Mil-
liarden Euro. Dieses Geld muss in den nächsten 10 bis
15 Jahren investiert werden. Ich glaube ja, dass wir das
schaffen können, weil es genug privates Kapital gibt.
Dazu gehört aber auch, dass wir entsprechende Investi-
tionsanreize setzen.

Was nützen uns aber die technische Machbarkeit und
alles Geld, wenn wir all das zwar planen, aber nicht um-
setzen können? Deshalb wird es entscheidend sein – das
ist mein ernstgemeinter Appell am Schluss –, dass wir
das fraktionsübergreifend im Bundestag umsetzen und
die Länder mit ins Boot holen. Wenn wir das nicht schaf-
fen, wird all das nicht funktionieren. Wir können es nur
gemeinsam schaffen. Auch hier gilt: Wer A sagt, muss
auch B sagen. Wer Ja zum Atomausstieg sagt, wer Ja
zum schnelleren Umstieg auf Erneuerbare sagt, muss
auch Ja zum Ausbau der Netze und zum Ausbau der
Speicher sagen. Dazu fordere ich Sie auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


Wir sind bereit – das sage ich an Ihre Adresse, Herr
Hempelmann, und auch an die Adresse der Grünen –, im
weiteren Prozess über diese Dinge zu diskutieren. Es
handelt sich aber um ein Geben und Nehmen. Das gilt
auch für andere Gesetze, bei denen wir Ihre Mitwirkung
vielleicht nicht brauchen, weil sie nicht zustimmungs-
pflichtig sind. Wir wollen nämlich ein Gesamtpaket
schnüren, um unsere Ziele zu erreichen. Nur wenn wir
den nötigen Netzausbau schaffen, werden wir zu all dem
in der Lage sein. Anderenfalls werden wir scheitern, und
zwar unbeschadet all der Dinge, die wir alle gemeinsam
bei Sonntagsreden verkünden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710805500

Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1710805600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-

vor ich in das Thema einsteige, möchte ich die Gelegen-
heit nutzen, um dem soeben gewählten Ministerpräsi-
denten von Baden-Württemberg, Herrn Kretschmann,
zumindest im Namen der SPD-Fraktion, aber, wie ich
denke, auch im Namen der Grünen und des gesamten
Hauses von Herzen zu seiner Wahl zu gratulieren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Tatsache, dass dieses neue rot-grüne bzw. grün-rote
Projekt


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– ich habe doch beides genannt, regt euch doch noch
nicht so auf –


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Selbstaufgabe der SPD ist das, was da passiert!)


große Begeisterung gerade auch hinsichtlich seiner ener-
giepolitischen Ausrichtung auslöst, zeigt sich auch da-
ran, dass sogar zwei Leute der Opposition mitgestimmt
haben. Einen herzlichen Glückwunsch an diejenigen aus
der Opposition in Baden-Württemberg, die schon so
weit sind!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zwei Stimmen aus der CDU! Glückwunsch!)


Dieser energiepolitischen Wende und dem Aufbruch
in den Reihen der Union und der FDP kann man insbe-
sondere zwei Namen, nämlich den von Herrn Fuchs und
den von Herrn Breil, gegenüberstellen. Ich war über ei-
nige ihrer Aussagen etwas überrascht, will das jetzt aber
nicht bewerten.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Da wären wir aber überrascht!)


Auf zwei Dinge möchte ich aber eingehen.

Herr Fuchs, zunächst zur Klarstellung: Sie haben ge-
sagt, wir wollen nicht, dass wir in Zukunft bei der
Stromversorgung von Importen abhängig sind. Ich frage
mich, warum Sie dann im letzten Jahr ein Energiekon-
zept verabschiedet haben, das darauf basiert, dass wir im
Jahr 2050 bis zu 30 Prozent Energie importieren. Das
passt doch nicht zusammen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Exakt!)


Der zweite Punkt; man kann darüber streiten. Herr
Breil, wenn Sie hier, an die Grünen gerichtet, sinngemäß
sagen: „Die Geister, die Sie riefen, holen Sie jetzt ein“,
frage ich Sie: Von welchen Geistern werden Sie eigent-
lich gerade eingeholt? Ich glaube, diese Aussage hätten
Sie besser an die eigene Adresse gerichtet als an die Op-
position.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind von allen guten Geistern verlassen! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war ja ein starkes Argument! – Holger Krestel [FDP]: Wie lange haben Sie für die Formulierung gebraucht?)


– Nicht so lange wie Sie für Ihre Frage.

Ich komme jetzt aber zu einigen Feststellungen. Der
Zustand der Übertragungsnetze in Deutschland ist da-
durch gekennzeichnet, dass ein Großteil vor 40 Jahren
und mehr errichtet wurde. Der Netzausbau in den 60er-





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

und 70er-Jahren betrug rund das Dreifache von dem,
worüber wir jetzt reden. Das haben wir übrigens pro-
blemlos weggesteckt. Der Netzausbau war nötig, um
zum einen den Ausbau fossiler Kraftwerke und zum an-
deren den Ausbau der Kernenergie zu ermöglichen. Das
ist ein Fakt.

Dass Investitionen in die Erneuerung der Stromleitun-
gen ohnehin erforderlich sind, ist kein Geheimnis; das
wissen wir. Das Problem ist nur, dass wir jetzt über einen
Leitungsausbau von 3 500 Kilometer sprechen und dies
automatisch mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien
verknüpfen. Das ist falsch. Wir hätten ohnehin enorme
Investitionen in die Leitungen zu tätigen gehabt. Von da-
her ist es wichtig, einmal im Detail zu schauen, worüber
wir hier eigentlich reden.

Herr Fuchs sprach eben von 4 400 Kilometern; es
wird also immer mehr.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie müssen mal Studien lesen! Das wäre doch ganz simpel! Lesen bildet! – Gegenruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollten Sie vielleicht auch mal tun!)


– Ja, ich lese die Studien. Aber wenn man eine Studie zi-
tiert, sollte man das auch vollständig tun, Herr Fuchs.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie zitieren sie so, dass es in Ihre Konzeption passt. Sie
versuchen mit dem Argument, wir kämen mit dem Netz-
ausbau nicht hin, die Laufzeitverlängerung zu billigen.
Das ist der falsche Weg. In der dena-Studie steht:
1 700 bis 3 500 Kilometer. Das muss man deutlich sa-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem verfügt der – schon nicht mehr oder gerade
noch amtierende – Wirtschaftsminister in seinem Haus
über ganz andere Studien. Laut einer Studie von Consen-
tec und R2B erfordert selbst ein Anteil von 50 Prozent
an erneuerbaren Energien im Jahr 2020 über dena I hi-
naus noch 250 Kilometer Höchstspannung. Das ist eine
Studie aus dem BMWi. Deshalb muss man sich die Zah-
len in den verschiedenen Studien genau anschauen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Was brauchen wir wirklich? Das kann man am besten
herausfinden, wenn man mit den Betreibern der Übertra-
gungsnetze spricht. Ich will nur von einem berichten,
von Amprion. Ich hoffe, ich darf das tun; aber es ist kein
Geheimnis. Amprion hat schon frühzeitig, basierend auf
dem, was an Investitionen ohnehin erforderlich ist und
was aufgrund des rot-grünen Ausstiegsbeschlusses ab-
sehbar war, bis 2020 Investitionen in die Netze in Höhe
von 3 Milliarden Euro vorgesehen. Sie bauen 800 Kilo-
meter ihrer Höchstspannungsnetze aus, 97 Prozent
davon auf vorhandenen Trassen – ohne Akzeptanzpro-
bleme –, 2 Prozent parallel zu bestehenden Trassen und
nur 1 Prozent neu. Um von sich aus Konflikten aus dem
Weg zu gehen, bauen sie von den insgesamt 5 Kilo-
metern 3 Kilometer freiwillig unterirdisch. Sie sagen, sie
werden das hinbekommen.

Natürlich gibt es hier und da Probleme, aber an die-
sem Beispiel sieht man, dass es geht. Von daher ist die
Aussage, dass mindestens 3 500 oder 4 400 Kilometer
Übertragungsnetze gebraucht werden, falsch. Wichtig
ist, dass wir mit den Leuten sprechen.

Eines, was auch in der Diskussion anklang, ebenfalls
in der Rede von Herrn Fuchs, möchte ich noch aufgrei-
fen. Es hieß, wir werden nur dann frühzeitig aus der
Kernenergie aussteigen können, wenn wir bis dahin
massiv Leitungen ausgebaut haben und wenn wir paral-
lel dazu dafür sorgen, dass die Offshorewindparks
schneller als geplant ans Netz gehen. Beides ist falsch.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen: Durch die
Abschaltung der acht AKW haben wir rund 8 800 MW
vom Netz genommen. Bis zum Ende des nächsten Jahres
werden allein 10 600 MW an neuen Kapazitäten hinzu-
gebaut, und zwar zum Großteil durch fossile Kraftwerke,
die ohnehin in der Planung sind. Das heißt, den Verlust
dieser 8 800 MW haben wir mehr als wettgemacht.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Netto!)


– Herr Fuchs, das sind Zahlen vom BDEW. Ich kann sie
Ihnen schriftlich geben.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das sind aber Nettozahlen!)


Wir werden in diesem Jahrzehnt allein in Österreich und
der Schweiz Zubauten von Pumpspeicherkraftwerken
mit einer Leistung von 5 500 MW erleben; in Deutsch-
land ist der Zubau von Kraftwerken mit einer Leistung
von 1 700 MW geplant. Hinzu kommen massive Zubau-
ten im Bereich der Erneuerbaren.

Ich will eines deutlich machen: Warum ist es eigent-
lich falsch, jetzt massiv Geld in die schnellstmögliche
Anbindung der Offshorewindparks zu pumpen? Wir
brauchen Offshorewindparks – ich bin dafür –; das ist
unbestritten. Aber in diesem Moment ist die schnellst-
mögliche Anbindung nicht erforderlich, um die Atom-
kraftwerke abzuschalten. Es gibt eine aktuelle Studie des
Bundesverbandes WindEnergie. Demzufolge würde
man, wenn man 2 Prozent der Landesflächen für On-
shorewindparks zur Verfügung stellen würde, folgende
Größenordnungen erreichen: In NRW, wo das aktuell
Thema in der neuen Koalition ist, könnte so eine Leis-
tung von bis zu 20 000 MW erreicht werden, in Baden-
Württemberg eine Leistung von bis zu 23 000 MW – ich
bin mir sicher, dass wir so weit kommen –, in Bayern,
Herr Nüßlein, von bis zu 41 000 MW. Da muss man
schon die Frage stellen: Warum nutzen wir jetzt nicht die
Möglichkeiten, wesentlich mehr Onshoreanlagen anzu-
schließen? Das wäre kurzfristig realisierbar und deutlich
kostengünstiger, als jetzt massiv im Offshorebereich zu
investieren. Meine Damen und Herren, Sie müssen es
vor Ort nur zulassen.





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen eines beachten – der Bundesumwelt-
minister ist nicht mehr da –: Wir dürfen den Zubau im
Onshorebereich im Rahmen der EEG-Novelle nicht
klammheimlich unattraktiv machen, indem wir die wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtern. Wir
müssen im EEG nichts Zusätzliches für den Onshore-
bereich regeln; wir müssen es nur so lassen, wie es ist.
Das wird aber nicht getan. Damit gefährden wir den
Ausbau im Onshorebereich massiv.

Ich will Ihnen zwei Beispiele für Veränderungen im
Rahmen der EEG-Novelle nennen: Zum einen wird die
Degression gemäß dem Erfahrungsbericht und der Vor-
schläge auf 2 Prozent angehoben. Der Systemdienstleis-
tungsbonus soll gestrichen und das Repowering auf nur
noch vier Jahre begrenzt werden. Das ist faktisch eine
Kürzung der Vergütung um 1,5 Cent pro Kilowattstunde.
Das kann die Branche nicht verkraften, weil es keine
Kostensenkungspotenziale in diesem Umfang gibt.

Wenn Sie einen Konsens mit uns finden wollen, dann
müssen Sie gewisse Grundforderungen der Opposition
erfüllen: Man muss die Bedingungen dafür erhalten,
dass sich die erneuerbaren Energien positiv entwickeln.
Das heißt mit Blick auf die Entwicklung im Onshore-
bereich: Finger weg! Lassen Sie im Onshorebereich alles
so, wie es im Gesetz geregelt ist. Dann werden wir es
schaffen, den Ausbau der erneuerbaren Energien ohne
große Investitionen im Offshorebereich, die, würden sie
verfrüht getätigt, zu großen Preissteigerungen führen
würden, massiv voranzubringen. Das hilft auch den
Menschen in Bayern; denn es ist besser, wenn die Wert-
schöpfung vor Ort geschieht, wenn die Gemeinden über
die Gewerbesteuer davon profitieren, anstatt anschlie-
ßend über die Umlage das Fünffache zu zahlen, damit
wir jetzt massiv und schnell Offshoreanlagen ans Netz
bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich will auf einen letzten Punkt eingehen. Wir reden
immer nur über die Höchstspannungsleitungen. Ja, das
ist wichtig; wir müssen den Stromtransport von Nord
nach Süd sicherstellen. Ich will das gar nicht kleinreden.
Die Frage, was wir mit den Verteilnetzen machen, wird
aber mindestens genauso bedeutend sein. Wir müssen
die Verteilnetze zu solchen Netzen umbauen, die auch
Strom aufnehmen, also zu Einspeisenetzen. Hier gibt es
gute Ansätze. Wenn wir es schaffen, die Potenziale im
Süden Deutschlands bei der Windkraft zu nutzen,
kommt es zu zusätzlichen Herausforderungen im Zu-
sammenhang mit den bisherigen Verteilnetzen. Es gibt
gute Ansätze, dafür zu sorgen, dass Investitionen, die
vor Ort erforderlich sind, mit Partnern aus dem Bereich
der erneuerbaren Energien und dem Mittelstand
schnellstmöglich getätigt werden. Das ist deutlich güns-
tiger als das, was wir im Bereich der Höchstspannungs-
leitungen tätigen müssten, hilft uns aber kurzfristig, den
Umstieg schneller hinzubekommen. Es gibt hier viele
Möglichkeiten.
Sie haben das Angebot an die Opposition gemacht, zu
einem gemeinsamen Entwurf zu kommen. Wir werden
es annehmen, aber nur dann, wenn dieser Umstieg quali-
tativ gesichert wird und es nicht bei einigen vorgescho-
benen Argumenten bleibt, von denen Sie leider auch
heute wieder viel zu viele vorgetragen haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Die Rede hätten Sie aber zu Protokoll geben können!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710805700

Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1710805800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Uns allen ist klar, dass der Netzausbau eines der zentra-
len Themen ist. Frau Nestle, Sie sind der Meinung dass
wir den Ausbau der Netztrassen nur dann hinbekämen,
wenn wir gleichzeitig einen beschleunigten Ausbau der
erneuerbaren Energien durchführen und uns dann auch
noch darauf begrenzen würden, nur die Netztrassen zu
bauen, die für die erneuerbaren Energien gebraucht wer-
den. Das reicht wahrscheinlich nicht. Ich glaube, es ge-
hört beides dazu. Wenn man den beschleunigten Aus-
stieg aus der Kernkraft will, dann muss man akzeptieren,
dass eben nicht nur ein Netzausbau im Bereich der er-
neuerbaren Energien notwendig ist, sondern beispiels-
weise auch zusätzliche Gaskraftwerke benötigt werden.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Der Atomausstieg hat damit nichts zu tun!)


Es stellt sich dann die Frage, wie Sie den Bereich der
fossilen Energien unterstützen wollen. Wie wollen Sie es
schaffen, auf Akzeptanz für Energien zu stoßen, die als
zusätzliche Brücke nötig sind? Wir brauchen sie auf je-
den Fall. Der Netzausbau für erneuerbare Energien allein
reicht nicht aus.

Sie haben gesagt, wir sollten finanzielle Gestaltungs-
spielräume ermöglichen. Im Klartext heißt das: Es soll
mehr Geld ausgegeben werden. Man kann natürlich nett
formulieren, dass man Gestaltungsspielräume erhöhen
will. Man kann aber auch sagen: Es wird teurer. Das ist
eine Sache, die man den Leuten auch sagen muss. Aus
meiner Sicht muss man die Leute fragen, was sie bereit
sind, zu bezahlen, und wofür sie bereit sind, es zu bezah-
len. Die Planungssicherheit muss gesteigert werden. Die
Steigerung der Planungssicherheit kann bedeuten, dass
die Mitspracherechte der Bevölkerung zu Beginn des
Verfahrens gestärkt werden, später jedoch nicht mehr be-
stehen, etwa wenn es dann zu Widersprüchen kommt,
weil persönliche Interessen dem großen Ganzen entge-
genstehen. Den Leuten muss dann gesagt werden: Jetzt
sind wir uns einig, wir können das Fass nicht zum hun-
dertsten Mal aufmachen. Hier müssen Sie uns genauso
helfen, wie wir Ihnen in anderen Bereichen versuchen,





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)

zu helfen. Wir müssen eine gemeinsame politische Hal-
tung hinbekommen, und zwar eventuell auch gegen Ein-
zelinteressen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist nicht möglich, dass dies zur Zufriedenheit aller
gelingt. Ihr Ansatz ist, dass alles im Einklang mit den
Leuten vor Ort geschehen muss. Der Meinung bin ich
auch. Ich denke, dass der Bund allein nicht zu viel ent-
scheiden kann, sondern dass die Länder das selbst ma-
chen müssen. Ich halte nichts davon, wenn sich ein Bun-
desland wie Baden-Württemberg am Schluss darüber
beschweren kann, dass der Bund irgendetwas gemacht
hat, das ihm nicht gefällt. Die Länder müssen selbst be-
weisen, dass sie einen möglichst effizienten Netzausbau
hinbekommen. Die Verantwortung würde dann bei je-
dem einzelnen Bundesland liegen, unabhängig von der
jeweiligen Zusammensetzung der Regierung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen es so hinbekommen, dass wir uns nicht
um jedes einzelne Dorf kümmern müssen. Die Landesre-
gierungen, die Bundesregierung und der Bundestag müs-
sen den Mut haben, zu sagen: Wir verstehen, dass es
euch lieber wäre, wenn wir eine Umgehung von zehn
Kilometern für euch einrichten würden. Wenn aber jedes
Dorf in Deutschland eine Umgehung von zehn Kilome-
tern fordert, dann wird es extrem teuer. Diese vielen klei-
nen Einzelmaßnahmen würden am Schluss dazu führen,
dass es nicht mehr finanzierbar ist. Dies der Bevölke-
rung klarzumachen, erfordert vermutlich eine gewisse
Härte. Dazu brauchen wir auch Ihre Unterstützung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Antrag ist in Ordnung. Was mich allerdings ge-
wundert hat, ist, dass Sie sich nur auf den Bereich des
Netzausbaus konzentriert haben. Sie haben unerwähnt
gelassen, ob es neben dem Netzausbau noch auf andere
Dinge ankommt. Herr Pfeiffer hat kurz angesprochen,
dass wir den Netzausbau an der einen oder anderen
Stelle vielleicht gar nicht in diesem Umfang brauchen.
Denn wir haben eventuell die Möglichkeit, erneuerbare
Energien zu speichern, den Eigenverbrauch zu erhöhen
und gar nicht so viele fluktuierende Energien in Netze
einspeisen zu müssen. Auch das muss ein Ziel sein. Wir
dürfen nicht immer nur daran denken, möglichst viele
Netze auszubauen. Wir müssen auch daran denken, mo-
derne Technologien so einzusetzen, dass die Netze zu
bestimmten Zeiten vielleicht gar nicht mehr verstopft
werden. Darüber machen wir uns im Moment Gedanken.
Wir möchten Anreize dafür schaffen, nicht mehr so viel
in die Netze zu pumpen. Nicht nur die Erzeugung, son-
dern auch der Verbrauch sollte dezentral vor Ort stattfin-
den. Auf diese Weise muss nicht alles quer durch die Re-
publik geschickt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])

Herr Brüderle und Herr Röttgen als Wirtschafts- bzw.
Umweltminister haben Anfang April mit dem Sechs-
punkteplan schon ein sehr gutes Papier vorgelegt. Viele
der darin enthaltenen Punkte sollten Sie eigentlich unter-
stützen. Es hat mir ein bisschen Ihre Begeisterung da-
rüber gefehlt, dass für Beteiligungsmöglichkeiten, für
Planungsbeschleunigung und für Mediationsverfahren
für die Menschen gesorgt wird.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau!)


Das ist eine echte Leistung.

Sie müssen einmal mit den Netzbetreibern reden.
Man könnte natürlich sagen: Das sind alles böse Atom-
lobbyisten. Man könnte aber auch sagen, dass es viel-
leicht vernünftig wäre, in einen Dialog mit den Netzbe-
treibern einzutreten. Man könnte sie dazu bewegen, den
Vorgang zu beschleunigen. Denn sie haben das Gefühl,
dass hier viel passiert. Sie sind in einer positiven Grund-
stimmung und sagen: Jetzt ist nach vielen Jahren, in de-
nen leider nicht so viel passiert ist, endlich einmal ein
bisschen Dynamik in diesem Bereich entstanden. Ich
meine daher, dass Sie uns unterstützen könnten. Sie soll-
ten nicht immer nur klagen, wie schlimm es vorher war.
Auch durch Ihre Reihen sollte ein Ruck gehen. Vonsei-
ten des Wirtschaftsministeriums wird, was NABEG und
andere Fragen angeht, viel getan. Das verdient Respekt,
gerade auch den der Opposition.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auf dem Bundesparteitag der FDP in Rostock wird
auch ein Leitantrag zum Thema Energie diskutiert. Na-
türlich wird ein großer Bereich davon die Netze betref-
fen. Der von mir angesprochene Punkt, den Netzausbau
nicht extrem beschleunigt voranzubringen, sondern da-
neben auch den Einsatz von Stromspeichern attraktiver
zu machen, kommt darin auch vor. Daher werden wir
uns für die Schaffung von Anreizen für marktgerechtes
Verhalten der EEG-Anlagenbetreiber einsetzen. Herr
Becker, die Frage wird lauten, wie sich die Opposition
verhalten wird, wenn man versucht, über das EEG dahin
gehend zu fördern. Es gibt Überlegungen hinsichtlich
zusätzlicher Anreizprogramme zur Schaffung von Spei-
cherkapazitäten. Es gibt verschiedene Vorschläge von-
seiten der Industrie. Ich glaube, das wird der Bereich
sein, in dem etwas zu machen ist. Wir dürfen uns nicht
nur auf die Netze und deren Ausbau konzentrieren, son-
dern müssen über den Tellerrand hinausblicken.

Gleichzeitig werden die Netze auf alle Fälle ausge-
baut werden. Für die Bevölkerung werden sich Nachteile
ergeben. Das wird zu Widerstand in der Bevölkerung
führen. Für diesen Bereich hat Herr Trittin bereits Ihre
Unterstützung zugesagt. Aber auch für den Bereich
Pumpspeicherkraftwerke werden wir sicherlich mehr
Unterstützung von Ihrer Seite benötigen. Wir werden
auch in anderen Bereichen überlegen müssen, ob es
nicht sinnvoller wäre, dort zusätzliche Netze zu bauen,
auch wenn man sich dadurch Probleme mit dem Natur-
schutz einhandelt.

Die dezentrale Erzeugung allein wird nicht ausrei-
chen. Wir werden die Offshoreversorgung brauchen.





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)

Auch dort wird es Probleme mit dem Naturschutz ge-
ben, denn es werden riesige Leitungen gebaut. Ich bin
gespannt, ob es uns gelingt, vielleicht beim Thema Me-
thanisierung endlich den Konsens hinzubekommen, den
Sie eingefordert haben. Es ist mir wichtig, aufzuzeigen
– vielleicht können Sie später darauf eingehen, Frau
Höhn –, dass vonseiten des Wirtschaftsministeriums, des
Umweltministeriums und von der Koalition schon sehr
viele Vorleistungen erbracht wurden. Ich hoffe, dass wir
einen konstruktiven Dialog führen werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710805900

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710806000

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Ohne den maximalen Ausbau der Strom-
netze ist die Umstellung der Stromerzeugung auf erneu-
erbare Energien nicht machbar. So tönt es aus fast allen
politischen Lagern. Sie behaupten: Wer gegen eine
Stromleitung ist, verhindert den Umstieg auf erneuerbare
Energien und den Ausstieg aus der Atomkraft. – Ist das
so? Wer profitiert eigentlich vom Netzausbau, und wer
bezahlt diesen?

Am Bau neuer Stromleitungen verdienen Planungs-
büros und Baufirmen. Die Netzbetreiber erhalten für ihr
eingesetztes Kapital eine garantierte Verzinsung von
9 Prozent. Das bedeutet: Wenn man mehr Kapital ein-
setzt und das Netz größer ist, dann gibt es mehr Zinsen.
Wo erhält man sonst noch 9 Prozent Zinsen ohne Ri-
siko?

Auch die Betreiber neu zu bauender Kraftwerke pro-
fitieren. Sie bauen das Kraftwerk am Ort mit den nied-
rigsten Stromherstellungskosten. Entstehende Mehrkos-
ten durch den Neubau von Stromtrassen und die Kosten
von Leitungsverlusten interessieren sie nicht. Diese Kos-
ten gehören zum Netzbetrieb. Bezahlen müssen den
Netzbetrieb und den Netzausbau Firmen, Handwerker
und Familien, also der ganz normale Stromkunde.


(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)


Ein gigantischer Netzausbau belastet Firmen, mindert
die Kaufkraft und kostet damit Arbeitsplätze. Deshalb
fordert die Linke, dass der Ausbau der Stromnetze effi-
zient erfolgt und nicht der Profiterzielung, sondern nur
der Deckung des notwendigen Bedarfs dient.


(Beifall bei der LINKEN)


Der reine Bau von Stromtrassen dauert etwa ein Jahr.
Laut Professor Hohmeyer, Mitglied im Sachverständi-
genrat der Bundesregierung für Umweltfragen, ist der
Atomausstieg ohne zusätzliche Stromleitungen möglich.
Das heißt, wir haben die Zeit, das Stromnetz ohne hekti-
schen Aktionismus an die Zukunft mit erneuerbaren
Energien anzupassen.

Nachdenken spart Kosten. Dafür ein Beispiel: Gas-
kraftwerke werden zumindest für die nächsten Jahr-
zehnte benötigt. Die neue Erdgastrasse durch die Ostsee
erreicht beim ehemaligen AKW Nord in Greifswald die
Bundesrepublik und führt weiter nach Süden. Jetzt wer-
den in Greifswald neue Gaskraftwerke gebaut, die die
vorhandenen Stromtrassen nutzen. Für die geplanten
Windparks in der Ostsee sind dann zusätzliche Strom-
trassen im Gespräch. Würde man aber die Gaskraft-
werke im Süden bauen, wo es den Strombedarf gibt,
könnte man die Windparks an die vorhandenen Leitun-
gen anschließen und den Leitungsneubau einsparen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN: Sehr gute Idee!)


Ein anderes Beispiel: In meiner Heimat Thüringen
halten der Netzbetreiber 50 Hertz und die Landesregie-
rung stur am Bau einer 380-kV-Leitung über den Thürin-
ger Wald fest. Diese Entscheidungen wurden gegen den
Willen der Bevölkerung und mit mangelhafter Transpa-
renz getroffen. Der Bedarf wurde nicht nachgewiesen.
Dagegen wehren sich Bürgerinitiativen. Obwohl die Ini-
tiativen durch ein Gutachten belegen konnten, dass die
Optimierung bestehender Stromleitungen ausreichen
und nur 25 Prozent der Kosten eines Neubaus ausma-
chen würde, werden diese Tatsachen von Ihnen ignoriert.
Diesen überflüssigen Netzausbau lehnt die Linke strikt
ab. Darum unterstützen wir die Bürgerinitiativen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Netzoptimierung darf nicht zu einer Profitquelle
werden. Firmen und Bürgerinnen und Bürger sind keine
Melkkühe der Konzerne. Deshalb müssen die Strom-
netze Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und der
Gesellschaft gehören. Die Linke sagt: Hochspannungs-
netze sind zu verstaatlichen, und Verteilungsnetze sind
zu kommunalisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Stromerzeuger müssen an den Kosten des Stromnetzes
beteiligt werden. Damit entsteht ein Anreiz zu dezentra-
ler Stromerzeugung.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wie war das in der DDR?)


Stromerzeugung vor Ort spart Stromleitungen, schafft
Arbeitsplätze und schwächt die Dominanz der Konzerne
Eon, RWE, EnBW und Vattenfall.

Die Bürgerinnen und Bürger müssen bei den Planun-
gen von Stromleitungen von Anfang an einbezogen wer-
den und mitreden können, wenn diese durch ihre Region
verlaufen. Die Bundesnetzagentur muss im Energiebe-
reich für die Planung und den Bau der Hochspannungs-
netze zuständig sein. Die Kontrolle der Energiewirt-
schaft hat durch eine staatliche Behörde und durch
unabhängige Beiräte zu erfolgen. Der Netzausbau ist ein
Teil der Umgestaltung der Energiewirtschaft. Auch in
anderen Bereichen wie Wind-, Solar- und Bioenergie
drohen im Speicherbereich Profitmaximierungen zulas-





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

ten der Verbraucher. Deshalb fordert die Linke eine
staatliche Strompreisaufsicht.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Oje! DDR lässt grüßen!)


Damit verhindern wir, dass die Profite der Strombranche
und die Strompreise explodieren, und wir erhalten die
Akzeptanz für Strom aus erneuerbaren Energien. Ohne
gesellschaftliche Regulierung und gesellschaftliches Ei-
gentum geht es bei der Stromversorgung nicht. Das
meint die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Armes Deutschland!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710806100

Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1710806200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch in dieser Debatte hat das Wort „Konsens“
eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Ich möchte
vorweg ganz deutlich sagen, dass ich der Überzeugung
bin, dass wir in der ganzen energiepolitischen Debatte
bisher noch keinen Konsens hatten. Es gab zwar im
Jahr 2000 einen Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün oder
Grün-Rot, wie man das auch immer nennen mag, aber es
gab keinen Konsens darüber, in was wir einsteigen wol-
len. Sie waren zwar gegen die Kernenergie, aber Sie wa-
ren auch


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Erneuerbaren!)


gegen all die anderen Dinge, die wir dringend brauchen,
um den Umstieg überhaupt hinzubekommen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So kommen wir nicht zum Konsens!)


Das ist doch das Problem, mit dem wir zu tun hatten.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Ende haben Sie noch das EEG erfunden! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Hören Sie doch einmal mit dem Quatsch auf!)


– Natürlich stimmt das. Sie waren gegen das größte Spei-
chermedium, das wir in Deutschland haben, gegen das
Schluchsee-Projekt im Schwarzwald. Sie waren gegen so
gut wie alle Hochspannungsleitungen. Bei Demonstratio-
nen in ganz Deutschland haben Sie an vorderster Front
mitgemacht. Sie sind gegen die Kohlekraftwerksprojekte,
obwohl wir diese Kraftwerke brauchen, um den Umstieg
richtig hinzubekommen und eine effiziente Energiever-
sorgung sicherzustellen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Bareiß, kommen Sie mal wieder auf den Boden! Sie sind doch sonst so vernünftig!)

Sie sind gegen das Biomasse-Dampf-Heizkraftwerk in
Kehl. Diese Liste könnte man unendlich fortführen. Sie
waren in den letzten Jahren immer nur dagegen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne nur Christdemokraten, die erneuerbare Energien verhindern!)


Jetzt kommt die große Chance. Jetzt werden wir Sie
bei den Themen stellen. Jetzt haben wir die Chance, ge-
meinsam den Einstieg in eine stärkere Nutzung der er-
neuerbaren Energien in den nächsten Jahren zu gestalten.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alte Platte! Sie mit Ihrer Energiewende, die hinund hergeht! Toll!)


Wir werden Sie beim Wort nehmen, liebe Frau Höhn.
Die Herausforderungen sind immens. Wir wollen in den
nächsten Jahren circa 25 Prozent unserer Stromerzeu-
gung, des Stroms aus Kernenergie, 50 Prozent der
grundlastfähigen Stromerzeugung Stück für Stück nicht
nur durch fossile, sondern vor allem durch erneuerbare
Energien ersetzen. Wir wollen, dass bis 2020 35 Prozent
unseres Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen
wird.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch keine Beschleunigung! Das haben wir längst festgelegt!)


Das ist eine enorme Herausforderung, die Sie damals, als
Ihre Fraktion in der Regierungsverantwortung war, Herr
Fell, nicht so definiert haben. Sie haben die Ziele damals
wesentlich niedriger gesetzt als wir heute.

Um diesen Umstieg hinzubekommen, brauchen wir
vieles. Wir brauchen sowohl Offshore- als auch On-
shoreanlagen. Wir brauchen Speicher, und wir brauchen
Netze. Wir brauchen Biomasse. Wir brauchen Flächen,
die für die Energiewirtschaft zur Verfügung gestellt wer-
den. Wir brauchen die Kleinen, und wir brauchen die
Großen. Wir brauchen die kommunalen und die großen
Energieversorger. Wir brauchen alles, um diesen Um-
stieg hinzubekommen. Dazu müssen wir jetzt Vor-
schläge und Konzepte vorlegen.

Deshalb habe ich mir den Antrag, den die Grünen
heute vorgestellt haben, genau durchgelesen. Liebe Frau
Nestle, Sie haben den Antrag vorgestellt. Ich muss schon
sagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, ist, mit Verlaub,
eine dünne Suppe.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach Gott! Was ist denn Ihre Suppe?)


Das bin ich von Ihnen normalerweise nicht gewohnt. Ich
möchte ein paar Punkte herausnehmen: Die Antragsbe-
gründung ist fachlich falsch. Sie schreiben beispiels-
weise, dass wir das Problem haben, dass die den Atom-
konzernen nahestehenden Netzbetreiber den Ausbau der
erneuerbaren Energien behindern. Weder ist es so, dass
die Netzbetreiber den Atomkonzernen nahestehen – seit
2005 sind die gar nicht mehr zusammen; das haben Sie
übrigens mit beschlossen –, noch können die Atomkon-
zerne ihren Strom bevorzugt einspeisen und die Produ-
zenten von Strom aus erneuerbaren Energien dadurch





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

behindern. Sie können gar nicht behindert werden. Im
Gegenteil: Sie müssen, wenn es möglich ist, bevorzugt
aufgenommen werden. Sie schreiben weiter, Erdkabel
könnten „problemlos und schnell gebaut werden – zu ge-
ringen oder ohne Mehrkosten“.


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 110 kV!)


Auch das ist vollkommen falsch, Frau Nestle; das wissen
auch Sie. Wir kommen mit den Erdverkabelungsprojek-
ten, die im EnLAG vorgesehen sind, nicht voran. Selbst
ein Erdkabel im 110-kV-Bereich kostet das Vier-, Sechs-
oder Achtfache eines ganz normalen oberirdischen Ka-
bels.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Nein! Das stimmt nicht! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!)


– Natürlich stimmt das.

Ein weiterer Punkt – das hat mich noch mehr über-
rascht – ist, dass Sie immer noch im Bremserhäuschen
sitzen, in Ihrer Ideologie verhaftet sind


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


und sagen: Die Menschen wenden sich zu Recht „gegen
Stromtrassen, die das Landschaftsbild zerschneiden und
umweltschädlichen Atom- und Kohlestrom transportie-
ren“. Wenn Sie immer noch dieser alten Denke folgen
und sagen, dass Sie gegen die Stromtrassen sind, solange
sie Atom- und Kohlestrom transportieren, dann kommen
wir vor Ort keinen Schritt weiter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie müssen herunter von diesem Ross; denn das wird so
nicht funktionieren. Sie halten sich ein Hintertürchen of-
fen, indem Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass es falsch
ist, den endgültigen Atomausstieg vom Ausbau der
Netze abhängig zu machen. Das heißt: Ausstieg ja, aber
Einstieg nein. Sie sind also immer noch dort, wo Sie vor
zehn Jahren waren.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist genau der falsche Ansatz.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja nicht auszuhalten!)


Jetzt diskutieren wir über den Einstieg. Ein Thema
– das haben meine Vorredner entsprechend dargelegt –
ist der Flaschenhals für die verstärkte Nutzung der Er-
neuerbaren: Nur wenn wir die Netze ausbauen, werden
wir die Erneuerbaren voranbringen können. Darauf müs-
sen wir unser Hauptaugenmerk legen. Die Erneuerbaren
sind leider zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Zeit
können wir nicht überbrücken, da wir keine entsprechen-
den Speicherformen zur Verfügung haben; daran müssen
wir sowohl im chemischen als auch im physischen Be-
reich arbeiten. Das tun wir, aber da müssen wir noch
mehr tun als heute; das wollen wir auch.

Wir müssen vor allen Dingen die örtliche Distanz
überbrücken. Bisher beträgt die Distanz zwischen Erzeu-
gung und Nutzung etwa 40 Kilometer. In den nächsten
Jahren wird diese Distanz auf im Schnitt 300 Kilometer
aufwachsen. Dazu brauchen wir – das wurde schon an-
gesprochen – 2 000, 3 000, 4 000, vielleicht auch nur
1 500 Kilometer neue Leitungen. Wir brauchen diese
Leitungen, egal wie. Wenn wir weiterhin mit einer Ge-
schwindigkeit von 20 Kilometern pro Jahr – so war es in
den letzten fünf Jahren – vorangehen, werden wir auch
in 30 Jahren nicht die Leitungen haben, die wir brau-
chen. Selbst 1 500 Kilometer Leitungen – diese Zahl ha-
ben Sie genannt – werden wir so nicht erreichen. Des-
halb müssen wir beim Ausbau der Leitungen wesentlich
schneller werden.

Wir brauchen aber nicht nur die Ertüchtigung des be-
stehenden Netzes, sondern auch Stromautobahnen, die
von Norden nach Süden, von Punkt zu Punkt, beispiels-
weise über HGÜ, den Strom transportieren. Wenn wir
den Strom – das wird sowohl den Offshore- als auch den
Onshorewind betreffen –, nur im Norden einspeisen,
werden wir netztechnisch im Norden ein großes Problem
bekommen; dies betrifft auch unsere Nachbarländer. Wir
müssen den Strom, der im Norden erzeugt wird – dort
gibt es wesentlich bessere Bedingungen zur Stromerzeu-
gung durch Wind –, direkt in den Süden schieben. Des-
halb brauchen wir Stromautobahnen über längere Dis-
tanzen, über 300, 400 Kilometer. Auch das wird ein
wichtiges Projekt werden. Nicht nur eine Stromautobahn
wird dazu notwendig sein, sondern sicherlich vier oder
fünf. In diesem Bereich gibt es schon Projekte, deren
Planungs- und Realisierungszeit aber bis zu 10, 15 Jahre
beträgt.

Neben den großen Netzen brauchen wir auch kleine
Netze, die Verteilnetze. Auch da stehen wir vor enormen
Herausforderungen. Die Kommunen sagen: In den
nächsten 10 bis 15 Jahren brauchen wir 25 Milliarden
Euro, um das Verteilnetz zu ertüchtigen, vor allen Din-
gen aufgrund der enormen neuen Kapazitäten im Be-
reich der Photovoltaik. Das muss ebenfalls realisiert
werden. Dazu sage ich ernüchtert und mit dem An-
spruch, dass die Kommunen hier stärker investieren
müssen: Wenn eine Kommune mit einer Einwohnerzahl
von 50 000 ein eigenes Netz hat, dann müsste sie im
Schnitt in den nächsten 15 Jahren 15 Millionen Euro in
ihr Verteilnetz investieren. Das ist eine ganz grobe Rech-
nung. Ich gestehe zu, dass sie sicherlich zu einfach ist,
aber dadurch können die Größen dargestellt werden.
Eine Kommune mit 50 000 Einwohnern müsste 15 Mil-
lionen Euro allein in ihr Stromnetz investieren, wobei
der Bürger vor Ort dadurch keine Verbesserung bemer-
ken würde. Das ist eine enorme finanzielle Herausforde-
rung. Dazu muss man zum Beispiel noch Themen wie
die Smart Grids betrachten.

Ich komme zum nächsten Punkt. In Bezug auf das
Netz ist – auch das wurde schon angesprochen – das
Thema Europa wichtig. Wir müssen schon sehen, dass
wir bei diesem schnellen Atomausstieg – auch das sage
ich in aller Deutlichkeit – mit Blick auf Europa ein Stück
weit egoistisch vorgehen. Wir als Deutschland mitten in
Europa müssen uns darauf verlassen können, dass die
anderen Länder um uns herum auch mitziehen. Wenn
wir nicht genügend Strom aus Sonne und Wind bekom-





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

men, sollten wir uns darauf verlassen können, dass uns
die Franzosen, die Tschechen und die Polen Strom lie-
fern. In Zeiten, in denen wir zu viel Strom aus Wind und
Sonne haben, sollten wir hoffen können, dass die Öster-
reicher, die Schweizer und vielleicht auch irgendwann
einmal die Skandinavier unseren Strom abnehmen und
speichern. Wie gesagt, das kann nur dann funktionieren,
wenn alle an einem Strang ziehen. Wir brauchen dazu
ein europäisches Netz, das diesen Herausforderungen
entsprechend gerecht wird.

All diese Themen müssen immer unter dem Gesichts-
punkt gesehen werden, dass wir auch in Zukunft eine si-
chere, saubere, klimafreundliche und vor allen Dingen
bezahlbare Energieversorgung haben müssen, und zwar
nicht nur für die Industrie bzw. die Wirtschaft, über die
wir sehr viel sprechen, sondern auch für den ganz nor-
malen kleinen Mann, der diese ganze Veranstaltung auch
bezahlen muss. In diesem Sinne haben wir vor, große
Projekte durchzuführen, und wir kämpfen da gemein-
sam.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710806300

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom

Bündnis 90/Die Grünen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710806400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bareiß, wenn man Ihre Rede eben gehört hat, hat
man den Eindruck, dass Sie den Gong noch nicht gehört
haben: Sie sind nicht diejenigen, die den gesellschaftli-
chen Konsens hergestellt haben. – Wir haben hier vor
zehn Jahren einen gesellschaftlichen Konsens zur Ener-
giepolitik aufgestellt, und Sie haben ihn ohne Not im
letzten Herbst gebrochen. Das ist die Situation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Heute diskutieren wir darüber, diese Energiewende,
die wir vor zehn Jahren eingeführt haben – und zwar raus
aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien –,
jetzt fortzusetzen. Das ist der Weg dieser Energiewende.
Das bedeutet in der Tat auch Ausbau und Modernisierung
der Stromnetze. Das bedeutet neue Stromleitungen sowie
bessere und intelligentere Netze. Dazu sagen wir: Wir
Grüne wollen diesen notwendigen Ausbau der Netze.

Jetzt ist die Frage, wie. Dazu sagen wir: Man kann
und muss diesen Ausbau bei Wahrung der Rechte der
Bürgerinnen und Bürger – und nicht bei Beschneidung
der Rechte – erreichen. Wenn Sie die Rechte beschnei-
den, treiben Sie die Bürger in die Klage. Dann wird das
Verfahren verlängert, statt verkürzt. Deshalb sagen wir:
Das muss mit den Bürgern und nicht gegen sie gesche-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zum nächsten Punkt. Wir haben ganz un-
terschiedliche Reden gehört, die ich auch interessant
fand. Herr Pfeiffer, ich fand, dass es bei Ihnen interes-
sante Ansätze gab. Auch bei Herrn Meierhofer fand ich
interessante Ansätze, bei Herrn Fuchs und Herrn Breil
war es die alte Soße. Wenn wir hier sachlich diskutieren
wollen, müssen wir endlich mit zwei Legenden aufhö-
ren.

Die erste Legende – sie wurde auch eben wieder von
Herrn Fuchs und Herrn Breil gebracht – lautet: Schuld
an dem ganzen Problem des fehlenden Netzausbaus sind
die Bürgerinitiativen und die Grünen. – Damit lenken
Sie von den eigenen Problemen ab und zeigen, was die
Fehler angeht, mit dem schwarzen Finger auf die ande-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dazu sagen wir: Die Fakten sprechen eine andere Spra-
che.

Beim Netzausbau gibt es nach Angaben der Bundes-
netzagentur 24 vordringliche Trassenprojekte. Nach der
neuesten Liste verzögern sich neun davon. Drei von die-
sen neun Projekten verzögern sich wegen Bürgerprotes-
ten. Wenn Sie die Verzögerungen aufheben wollen, müs-
sen Sie außer auf die Bürgerproteste auch auf die
anderen Gründe für die Verzögerung schauen. Das ist
der Weg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sehen Sie sich einmal an, was zum Beispiel der Sach-
verständigenrat sagt: Nicht allein Bürgerproteste, son-
dern noch zwei weitere Gründe führen dazu, dass die
Netze nicht ausgebaut werden. Der erste Grund sind
wirtschaftliche Hemmnisse für Investitionen. Das sehen
wir auch. Auch darüber müssen wir nachdenken und es
ändern.

Der zweite Grund – Herr Pfeiffer, noch am 4. Mai gab
es von den Grünen eine Veranstaltung mit den Stadtwer-
ken bzw. mit den Betreibern von Windkraftanlagen – ist,
dass es bei den Netzbetreibern, die gleichzeitig auch
Stromkonzerne sind, noch immer Widerstände gibt.
Diese sind noch nicht vollständig ausgeräumt. Auch
hieran müssen wir arbeiten; denn die Netzbetreiber wol-
len natürlich ihre Konkurrenten nicht ans Netz lassen.
Sie haben indirekt eine Menge Eingriffsmöglichkeiten.

Der dritte Punkt ist die fehlende Akzeptanz. Es ist
eine gemeinsame Aufgabe, diese Akzeptanz herzustel-
len. Dazu wollen auch wir Grüne beitragen. Dazu sind
wir bereit. Wir sagen: Die Planung muss transparent
sein. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger ernst neh-
men, und wir müssen sie frühzeitig einbinden.

Das sind drei ganz wichtige Punkte, die man beachten
muss, wenn man die Netze schneller ausbauen möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die zweite Legende, mit der Sie aufhören müssen, ist
die Argumentation, der Netzausbau sei die Vorausset-
zung für den Atomausstieg. Das ist eindeutig falsch.
Herr Fuchs und Herr Breil haben vorhin wieder so argu-





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

mentiert. Der Grund dafür ist entweder Unkenntnis oder
der Wunsch, den Atomausstieg auszubremsen. Das
scheint Ihr Motiv zu sein.

Selbst die dena – wenn man die dena-Netzstudie liest,
dann weiß man: wo „dena“ draufsteht, sind Eon und
RWE drin –


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


hat in ihren Studien die glasklare Aussage getroffen,
dass der Netzausbau nichts mit den Laufzeiten der
Atomkraftwerke zu tun hat. Als Sie im letzten Jahr, als
es um die Laufzeitverlängerung ging, bei der dena nach-
gefragt haben, ob auch ein geringerer Ausbau der Netze
möglich ist, antwortete Ihnen die dena eindeutig Nein.
Im Zehnpunkteprogramm von Angela Merkel, das Sie
im Herbst letzten Jahres vorgelegt haben, waren vier
Punkte enthalten, die den Netzausbau betreffen. Sie ver-
längern die Laufzeiten, müssen sich aber um die Netze
kümmern. Die Argumentation, dass man den Netzaus-
bau braucht, um aus der Atomkraft aussteigen zu
können, ist also eindeutig falsch. Sie sollten diese Argu-
mente nicht ständig wiederholen; denn dadurch verunsi-
chern Sie die Bevölkerung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genauso ist das aber auch keine Voraussetzung, um in die Erneuerbaren einzusteigen!)


Es ist unverfroren, wenn die CSU genau diese Argu-
mente wiederholt. Sie sagen: Wir wollen erst einmal
überprüfen, ob der Netzausbau wirklich funktioniert.
Dann werden wir überprüfen, ob wir die Laufzeiten der
Atomkraftwerke verlängern. – Ich muss Ihnen sagen:
Das ist unverfroren und ein starkes Stück. Denken Sie
nur an die Ereignisse in Fukushima. Dort kämpft man
noch heute gegen die furchtbaren Folgen des GAU an.
Hier in Deutschland tagt derzeit eine Ethikkommission,
und die Kanzlerin diskutiert mit der Opposition über den
Atomausstieg. Vor diesem Hintergrund will uns die CSU
weismachen, wir brauchten eine Revisionsklausel. Mit
Ihrer Argumentation nach dem Motto „Wir steigen erst
einmal aus der Atomkraft aus; dann überprüfen wir al-
les“ schaffen Sie in der Bevölkerung keine Akzeptanz.
Dabei werden wir nicht mitmachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zum Schluss. Wir sagen: Lassen Sie die
Tricksereien. Lassen Sie uns sachlich diskutieren.
„Sachlich“ heißt, gemeinsam die Weichen zu stellen: für
die Fortsetzung der Energiewende, für einen schnellen
Atomausstieg und für eine Modernisierung der Netze.
Die Ideen sind vorhanden. Lassen Sie uns gemeinsam
vorgehen, statt Legenden über die Argumente der ande-
ren zu spinnen. Das ist nicht die Politik, die Sie machen
sollten. Vielmehr geht es darum, eine Lösung der Ener-
giefrage zu finden, statt sich gegenseitig ideologisch an-
zumachen. Wir sollten eine sachliche Diskussion führen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1710806500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710806600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten

Jahr war es das Wort „alternativlos“, das unsere Debat-
ten bestimmt hat.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Nur die Ihrer Regierung! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Debatten, nicht unsere!)


In diesem Jahr scheint es das Wort „Akzeptanz“ zu sein.
Wir diskutieren, wenn es um das Thema Kernenergie
geht, aus guten Gründen über Akzeptanz. Wir diskutie-
ren am heutigen Tage auch über Akzeptanz, wenn es um
andere Themen geht: um CCS, um Standorte von Wind-
kraftanlagen, um Pumpspeicher und um Netze. Am
Schluss werden wir irgendetwas akzeptieren müssen.
Man muss in aller Klarheit sagen: Es kann doch nicht
sein, dass wir so tun, als könne man in diesem Land ge-
gen alles sein.

Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben gesagt, dass Sie
mit Legenden aufhören wollen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie sollen mit Legenden aufhören!)


Ich bitte Sie, bei dieser Gelegenheit nicht gleich neue
Legenden zu bilden. Sie haben nämlich gerade so getan,
als sei die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraft-
werke, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, darauf
ausgerichtet gewesen, die Kernenergie ad ultimum, also
ewig, zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr allerdings et-
was anderes beschlossen. Wir haben die Energiewende
fortgeschrieben und sie an die Realität angepasst. Wir
haben gesagt: Wir wollen den Ausstieg aus der Kern-
energie – ganz klar –, aber für den Umstieg auf erneuer-
bare Energien brauchen wir Zeit und Geld.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und die Realität ist heute, ein halbes Jahr später, eine andere?)


Jetzt sind wir in einer anderen, schwierigeren Situa-
tion. Denn egal, wie man das Ganze sieht: Wir werden
jetzt Zeit und Geld brauchen, und zwar nicht für den
Ausstieg,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie aber letztes Jahr immer noch gedacht!)


sondern für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Die
Kernenergie wird uns diese Zeit nicht mehr verschaffen,
und sie wird auch weder über den Fonds noch über die
Brennelementesteuer das benötigte Geld einbringen. In-
sofern sind wir in einer schwierigen Situation. Deshalb





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

ist es geraten, einen breiten energiepolitischen Konsens
zu suchen.

Man erreicht den Konsens aber nicht dadurch, dass
man die Bundesregierung als Marionette der großen
Stromkonzerne und Verweigerer beim Netzausbau diffa-
miert, wie es in dem von Ihnen vorgelegten Antrag zu le-
sen ist.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das tut weh!)


– Herr Hempelmann, Sie lachen darüber. Sie haben of-
fenbar nicht im Detail gelesen, was die Kollegen von
den Grünen geschrieben haben. Sie haben nämlich ge-
schrieben, dass die Bundesregierung seit Jahren den
Netzausbau verweigert. Damit kann nicht der amtie-
rende Bundesumweltminister oder der Wirtschaftsminis-
ter gemeint sein; vielmehr ist mit hoher Wahrscheinlich-
keit insbesondere Herr Gabriel gemeint. Insofern ärgert
es mich, dass ich jetzt die Empörung der SPD herbeire-
den muss. Ich habe gedacht, sie kommt von selbst. Denn
Sie müssten sich doch darüber aufregen, dass die Grünen
wieder einmal versuchen, es sich in der Opposition ganz
leicht zu machen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Wir unterscheiden uns in der Interpretation!)


– Aber wer ist sonst mit „seit Jahren“ gemeint?

Wenn man über das Thema Verweigerung spricht,
dann kann man nicht so tun, als könnte man die Bürger-
initiativen, die man selber unterstützt – ich denke an die
IG „Vorsicht Hochspannung“ in Oldenburg und Diep-
holz, die von den Grünen unterstützt wird –, einfach bei-
seitewischen.


(Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Lieber Herr Kollege, gleich folgt die Vereidigung des
Ministers. Bei dem Kommen und Gehen ist es ohnehin
schwierig, zu reden, weil einem nicht die nötige Auf-
merksamkeit zuteilwird. Ich bitte um Verständnis. Nor-
malerweise bin ich sehr offensiv, was das Thema angeht,
aber nicht jetzt.

Ich schlage Ihnen stattdessen vor – das ist eine Auf-
forderung à la Trittin –: Sie sollten als Grüne in keiner
Form, weder sitzend, stehend, singend noch tanzend, ge-
gen diese Leitungen demonstrieren. Das wäre ein Signal
aus der grünen Ecke.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir alle wissen – zumindest das kann ich als Konsens
bezeichnen –, dass der Netzausbau ein Nadelöhr beim
Aufbau der Versorgung durch erneuerbare Energien dar-
stellt. Ich sage noch einmal deutlich: Ich will dem Er-
neuerbare-Energien-Gesetz nichts absprechen; wir ha-
ben es damit geschafft, Kapazitäten aufzubauen. Beim
Strom geht es aber um etwas anderes, nämlich um die
Versorgung. Dabei liegen wir noch recht weit zurück.
Dafür müssen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz
noch einmal novellieren, gerne auch im Konsens, und
Marktnähe schaffen. Wir müssen die Netze ausbauen
und Speicher zur Verfügung stellen. Das hat man eben
nicht von Anfang an ins Visier genommen. Das schlägt
uns gegenwärtig zeitlich ins Kontor. Auch das darf man
deutlich sagen.

Die Kapazitäten, die dadurch entstehen, sind zu be-
grüßen. Aber die fluktuierende Einspeisung ist ein Pro-
blem, das man nur durch intelligente Lösungen in den
Griff bekommt. Die Netze sind ein Teil des Ganzen.

Wir haben in Deutschland 36 000 Kilometer Hoch-
spannungsleitungen. Das ist offenkundig zu wenig. Wir
können gerne eine akademische Debatte darüber führen,
ob wir 1 500, 3 600 oder 4 500 Kilometer zusätzlich
brauchen. Aber wenn wir im Durchschnitt 20 Kilometer
im Jahr bauen, dann brauchen wir für die 1 500 Kilo-
meter – ich lege explizit Ihre Zahl zugrunde – 75 Jahre.
Das kann doch nicht das Ziel sein.

Ich bin davon überzeugt, dass wir alle miteinander
über unseren Schatten springen müssen. Dabei geht es
um Naturschutzregelungen, Planungsrecht und selbst-
verständlich auch um den Föderalismus. Sie wissen, dass
ich als bayerischer Abgeordneter gerne die Fahne des
Föderalismus hochhalte, damit sich andere Bundeslän-
der unsere bayerischen Erfolge zum Vorbild nehmen
können. Aber in dieser Sache wird sich der eine oder an-
dere Ministerpräsident nicht nur von uns, sondern auch
von Ihnen bewegen müssen. Wir brauchen eine bundes-
einheitliche Regelung, da die Stromleitungen die Gren-
zen der Bundesländer überschreiten. Es geht darum,
einheitliche Genehmigungsverfahren zu finden, die Ver-
fahren zu beschleunigen sowie Bürokratie und Blocka-
den abzubauen. An dieser Stelle ist eine Bundesfachpla-
nung notwendig. Ich appelliere leidenschaftlich für eine
kraftvolle Unterstützung im Bundesrat. Ich bin gespannt,
welche Ausreden wir zu hören bekommen, wenn es zum
Schwur kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Beim Thema neue Speicher hat uns der Kollege
Pfeiffer sehr eindrucksvoll vorgerechnet, wie weit wir
hier zurückliegen. Auch da bedarf es zusätzlicher An-
strengungen. Wir werden diesbezüglich erste Ansätze im
Rahmen des EEG finden müssen. Noch einmal ganz
deutlich: Wenn uns das nicht gelingt, was wir uns vor-
stellen, dann sind wir in einer ernsten Bredouille. Wir
werden die Kohlekraftwerke in diesem Land länger lau-
fen lassen und zusätzliche Gaskraftwerke bauen müssen,
um die fluktuierende Einspeisung auszugleichen. Dabei
ist die Akzeptanz der Bevölkerung wichtig. Ich bitte Sie
herzlich, hier nicht nur Schaufensteranträge zu formulie-
ren und Schaufensterreden zu halten, sondern uns, wenn
es darauf ankommt, in geeigneter Art und Weise zu un-
terstützen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710806700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5762 an die in der Tagesordnung aufge-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:

Eidesleistung des Bundesministers für
Gesundheit

Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er
heute gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der Frau
Bundeskanzlerin den Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie, Herrn Rainer Brüderle, und den Bundes-
minister für Gesundheit, Herrn Dr. Philipp Rösler, aus
ihren Ämtern als Bundesminister entlassen und Herrn
Dr. Philipp Rösler zum Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie und Herrn Daniel Bahr zum Bundes-
minister für Gesundheit ernannt hat.

Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.

Ich darf Sie, Herr Bahr, zur Eidesleistung zu mir bit-
ten.


(Die Anwesenden erheben sich)


Ich darf Sie, Herr Bundesminister, bitten, den im
Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1710806800

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des

deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710806900

Herr Minister, herzlichen Glückwunsch und alles

Gute für die übernommene Aufgabe.


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1710807000

Vielen Dank, Herr Präsident.


(Beifall – Abg. Rainer Brüderle [FDP] überreicht dem Bundesminister Daniel Bahr einen Blumenstrauß – Abgeordnete aller Fraktionen beglückwünschen die Bundesminister Dr. Philipp Rösler und Daniel Bahr)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710807100

Da ich die Glückwünsche nicht nur persönlich, son-

dern im Namen des ganzen Hauses übermittelt habe, ist
es nicht zwingend erforderlich, dass nun jedes Mitglied
dieses Hauses jeweils noch einmal einzeln seine Glück-
wünsche überbringt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo die FDP einmal etwas zu gratulieren hat! Vor dem Wochenende!)


Ich rege deshalb an, dass nach Aufruf des nächsten Ta-
gesordnungspunktes der neue Minister am Rande oder
außerhalb des Plenarsaals zur Entgegennahme weiterer
persönlicher Glückwünsche zur Verfügung steht.

Ich möchte im Übrigen bei dieser Gelegenheit gern
auch dem ausgeschiedenen Bundesminister Rainer
Brüderle im Namen des Hauses für seine Tätigkeit in der
Bundesregierung danken.


(Beifall)


Für die neue Aufgabe habe ich ihm heute Morgen schon
alles Gute gewünscht, nicht aber seinem Nachfolger in
diesem Amte, nämlich dem Amt des Bundesministers
für Wirtschaft und Technologie. Herr Minister Rösler,
auch Ihnen alle guten Wünsche des ganzen Hauses für
die übernommene neue Aufgabe!


(Beifall)


Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 f
sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:

29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Infektionsschutzgesetzes und weite-
rer Gesetze

– Drucksache 17/5708 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes
zur Änderung des Bundes-Immissionsschutz-
gesetzes – Privilegierung des von Kindertages-
einrichtungen und Kinderspielplätzen ausge-
henden Kinderlärms

– Drucksache 17/5709 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vor-
schlag der Europäischen Kommission vom
14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Ra-
tes zur Festlegung eines Standpunkts der Union
im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehema-
lige jugoslawische Republik Mazedonien im
Hinblick auf die Beteiligung der ehemaligen
jugoslawischen Republik Mazedonien im Rah-
men von Artikel 4 und 5 der Verordnung (EG)

Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den
Arbeiten der Agentur der Europäischen Union
für Grundrechte und die entsprechenden Mo-
dalitäten einschließlich Bestimmungen über
die Mitwirkung an den von der Agentur einge-
leiteten Initiativen, über finanzielle Beiträge
und Personal

– Drucksache 17/5710 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für eine wirkungsvolle interparlamentarische
Begleitung der Europäischen Außen- und Si-
cherheitspolitik im Geiste des Vertrages von
Lissabon

– Drucksache 17/5389 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Schaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen – Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern

– Drucksache 17/5516 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

f) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche
Delegation in der Parlamentarischen Versamm-
lung der OSZE

19. Jahrestagung der Parlamentarischen Ver-
sammlung der OSZE vom 6. bis 10. Juli 2010
in Oslo, Norwegen

– Drucksache 17/4453 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Kampf gegen wissenschaftliches Fehlver-
halten aufnehmen – Verantwortung des Bun-
des für den Ruf des Forschungsstandortes
Deutschland wahrnehmen

– Drucksache 17/5758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bre-
men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kriterien und Anforderungen für eine par-
lamentarische Beteiligung an der Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik der
EU

– Drucksache 17/5771 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

Hier handelt es sich um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf.
Hier geht es um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 30 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. De-
zember 2009 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Islamischen Republik
Pakistan über die Förderung und den gegen-
seitigen Schutz von Kapitalanlagen

– Drucksache 17/5264 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/5564 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5564, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5264 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit der großen Mehrheit des Hauses ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 30 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung gewerberechtlicher Vorschrif-
ten

– Drucksache 17/5312 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/5795 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Scheel

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5795, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5312 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit der Mehrheit der Koalition angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung telekommunikationsrechtlicher Regelun-
gen

– Drucksache 17/5707 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch, sodass wir offensichtlich
so verfahren können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
rechtzeitig eingetroffenen Staatssekretär Hans-Joachim
Otto.

H
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1710807200


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Liberalisierung des Telekommunikations-
marktes ist ein beispielgebendes Erfolgsmodell. Im Mo-
nopolzeitalter zuvor waren noch überteuerte Tarife und
rückständige Technik die prägenden Bilder. Mit nur ei-
nem, zudem staatlich beherrschten Diensteanbieter wäre
die Erfolgsgeschichte der Digitalisierung und des Inter-
net jedenfalls nicht so rasch denkbar gewesen. Erst die
Öffnung des Marktes und der Wettbewerb brachten Dy-
namik, Innovationsschübe und Hunderttausende neue
Arbeitsplätze.

Die Preise für Telekommunikationsleistungen sind
seit der Liberalisierung bei rasant steigender Qualität um
rund 90 Prozent gesenkt worden. Wo sonst kann man das
schon beobachten?

Das Ziel von Gesetzgebung muss nun sein, diesen Er-
folgspfad sogar noch auszubauen. Der technologische Fort-
schritt erfordert immer größere Bandbreiten. Gleichzeitig
benötigen wir aber auch – das betone ich ganz klar – ei-
nen flächendeckenden Zugang zum Breitbandnetz.
Beide Ziele erreichen wir durch eine weitere Stärkung
des Wettbewerbs, durch die Setzung von Innovationsan-
reizen und durch verbesserte Kooperationsmöglichkei-
ten.

Dies, meine Damen und Herren, sind die Kernpunkte
des heute hier zu beratenden Gesetzentwurfs. Die TKG-
Novelle beschleunigt die Umsetzung unserer Breitband-
strategie. Die letzten weißen Flecken werden durch
Kombination aller verfügbaren Technologien geschlos-
sen und noch in diesem Jahr mit mindestens 1 Megabit
pro Stunde versorgt. Glasfaser, DSL, TV-Kabel, Funk-
und Satellitentechnik greifen ineinander und ergänzen
sich. So sind in den vergangenen Monaten gut
40 000 Haushalte zusätzlich angeschlossen worden – pro
Monat, wohlgemerkt.

Zusätzlich flankieren wir die Schließung der weißen
Flecken mit unserem Best-Practice-Breitbandwettbe-
werb für Kommunen und mit dem Breitbandbüro des
Bundes. Der Rollout des LTE-Netzes hat begonnen.
Durch die Versteigerungsauflagen gehen unterversorgte
Gebiete beim Ausbau vor.

Auch das weitere Ziel, bis zum Jahr 2014 75 Prozent
aller Haushalte mit mindestens 50 Megabit pro Stunde
zu versorgen, ist damit überaus realistisch und übrigens
in einzelnen Bundesländern jetzt schon erreicht worden.
Die Vollversorgung mit Hochleistungsnetzen ist dann
nur noch ein kleiner Schritt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wettbewerb,
gestützt durch eine unabhängige und professionelle Re-
gulierungsbehörde, hat die bisherigen Erfolge ermög-
licht. Jedes etwaige Abwürgen des Wettbewerbs würde
den Breitbandausbau bremsen und Arbeitsplätze und In-
novationskraft kosten.

Wer wohlfeil nach Universaldiensten oder gar einer
Verstaatlichung ruft, kann Unternehmen und Kommunen
auch gleich direkt auffordern, gar nichts mehr zu tun und
gar nichts mehr zu investieren. Zu Recht, meine Damen
und Herren, gibt daher auch die EU einen Wettbewerbs-
kurs vor. Sie wird jeden Eingriff in diesen und auch in
die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur ahnden.

Ich erinnere alle Kolleginnen und Kollegen in diesem
Zusammenhang an die Aufhebung des rechtswidrigen
§ 9 a TKG. Das sollte uns dauerhaft eine Mahnung sein.

Unser Gesetz wird die Möglichkeiten zur Nutzung be-
stehender Infrastrukturen und zu Kooperationen verbes-
sern. Die damit verbundenen Synergien und der clevere
Technologiemix sind der Weg zum flächendeckenden
Ausbau, den wir alle wollen. Wir erhöhen Planungssi-
cherheit für Unternehmen und führen investitionsfreund-
liche Regulierungsgrundsätze ein. Die erheblichen Ver-
besserungen im Bereich des Verbraucherschutzes stärken
Vertrauen und Rechtssicherheit, und auch das ist ganz
wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)






Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf er-
wartungsgemäß konstruktive Beratungen in den zustän-
digen Ausschüssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710807300

Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Martin

Dörmann für die SPD-Fraktion. – Die maßvolle Verblüf-
fung lässt sich mühelos erklären. Üblicherweise folgt
einem Vertreter der Regierung ein Vertreter der Opposi-
tion. Bei aller Bedeutung des Telekommunikationsgeset-
zes: Es ist nicht so außerordentlich, dass wir von dieser
bewährten parlamentarischen Praxis abweichen müss-
ten.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Regierung braucht Widerspruch!)



Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1710807400

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich möchte zunächst im Namen der SPD-Bundes-
tagsfraktion die Gelegenheit nutzen, den beiden ernann-
ten Ministern sehr herzlich zu ihrem neuen Amt zu
gratulieren. Ich hoffe im Interesse unseres Landes, dass
sie eine gute Hand bei der Erfüllung ihrer jeweiligen
Aufgaben walten lassen. Speziell für den Wirtschafts-
ausschuss darf ich hinzufügen, dass wir uns bei Herrn
Brüderle für die konstruktive Zusammenarbeit sehr herz-
lich bedanken. Wir gehen davon aus, dass auch mit sei-
nem Nachfolger eine solche Zusammenarbeit gepflegt
wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserer Informa-
tionsgesellschaft nimmt die Bedeutung der Telekommu-
nikation und insbesondere des Internets täglich zu. Da-
rauf muss die Politik konsequent reagieren. Die aktuellen
Herausforderungen liegen auf der Hand:

Erstens. Wir benötigen mehr Verbraucherschutz, etwa
vor Kostenfallen, unseriösen Anbietern oder ärgerlichen
Warteschleifen.

Zweitens. Wir brauchen eine gesetzliche Absicherung
der Netzneutralität. Die Innovationskraft des Internets
muss erhalten bleiben. Diskriminierungen müssen von
vornherein verhindert werden.

Drittens. Wir brauchen vor allem eine flächende-
ckende Versorgung mit schnellem Internet. Es darf nicht
sein, dass viele Menschen in ländlichen Regionen von
der Teilhabe am technologischen Fortschritt abgehängt
werden.

Die anstehende Novellierung des Telekommunika-
tionsgesetzes ist eine hervorragende Gelegenheit, in all
diesen Fragen einen entscheidenden Schritt voranzu-
kommen. Sie ist notwendig geworden, weil es einen
neuen EU-Rechtsrahmen gibt, der von den Mitgliedstaa-
ten national umzusetzen ist. Viele Vorgaben der EU zie-
len in die richtige Richtung und werden von uns deshalb
ausdrücklich begrüßt. Ich nenne als Beispiel die Verbes-
serungen beim Verbraucherschutz oder auch Anreize zu
mehr Breitbandinvestitionen.
Insgesamt reichen diese Vorschläge aber bei weitem
nicht aus, um den Herausforderungen wirklich gerecht
zu werden. Leider, sehr geehrter Herr Kollege Otto, hat
sich die Bundesregierung im Wesentlichen darauf be-
schränkt, die europäischen Vorgaben umzusetzen. Was
ich vermisse, ist, dass eigene Impulse gesetzt und weiter-
gehende Konzepte vorgelegt werden. Wir müssen unter
dem Strich leider feststellen: Dieser Gesetzentwurf ist
kein großer Wurf, sondern in weiten Teilen eher ein Do-
kument verpasster Chancen.

Ich will Ihnen nur ein konkretes Beispiel nennen. Die
Bundesregierung gibt selbst vor, dass Netzneutralität
auch für sie ein wichtiges Anliegen ist. Dann kann man
aber auch erwarten, dass sich das im Gesetzestext nie-
derschlägt. Es ist aber an keiner Stelle des Gesetzestex-
tes selbst das Wort „Netzneutralität“ erwähnt; das muss
man erst einmal zustande bringen. Der bloße Hinweis
auf Transparenzvorschriften reicht bei weitem nicht aus.
Übrigens, selbst die von der Bundesregierung einge-
setzte Expertenkommission Forschung und Innovation
hat den Entwurf deshalb als völlig unzureichend kriti-
siert. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits eigene
Anträge zur gesetzlichen Absicherung der Netzneutrali-
tät und für besseren Verbraucherschutz vorgelegt. Ein
dritter Antrag, und zwar zum Breitbandausbau, folgt in
der nächsten Sitzungswoche.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass bei
dem Gesetzgebungsverfahren, also unter anderem bei
den weiteren Beratungen in den Ausschüssen, der TKG-
Entwurf deutlich verbessert wird. Greifen Sie dabei un-
sere Vorschläge auf.

Der größte Handlungsbedarf ergibt sich aus unserer
Sicht auch weiterhin beim Breitbandausbau. Schnelles
Internet für alle muss endlich flächendeckend realisiert
werden. In immer mehr Lebensbereichen wird die An-
bindung an das Internet inzwischen vorausgesetzt – sei
es in der Schule, im Beruf, bei der Kommunikation zwi-
schen den Menschen oder auch bei Freizeitaktivitäten.
Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass noch immer zahl-
reiche Kommunen keinen angemessenen Breitbandan-
schluss haben.

An vielen Stellen klafft leider eine große Lücke zwi-
schen den Ankündigungen der Bundesregierung und ih-
ren Maßnahmen. So musste die Bundesregierung selbst
einräumen, dass ihr Ausbauziel 2010 verfehlt wurde, üb-
rigens weit deutlicher, als es der gerne zitierte Breitband-
atlas aussagt; denn der leidet an systematischen Mängeln
und bildet die Wirklichkeit in Deutschland nicht ab.

Herr Otto, Sie sagen, zwischen 75 Prozent und
100 Prozent Verwirklichung des 50-Megabit-Ziels klaffe
nur eine kleine Lücke.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ja!)


Das ist eine Verkehrung der Tatsachen; denn Sie wissen,
dass die letzten 25 Prozent die teuersten sind. Deshalb
glaube ich, dass die Bundesregierung an Realitätsverlust
leidet.





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Ach, Herr Dörmann!)


Dort, wo inzwischen Erfolge vorzuweisen sind, sind
diese keineswegs auf die Beschlüsse der schwarz-gelben
Koalition zurückzuführen. Ich will daran erinnern: Es
war der damalige Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier,
der im Zusammenhang mit dem zweiten Konjunkturpa-
ket überhaupt erst für die Verabschiedung einer Breit-
bandstrategie gesorgt hat. Sehr geehrter Herr Otto, in de-
ren Folge kam es dann zur Umsetzung der Digitalen
Dividende, die Sie jetzt immer gerne zitieren; das heißt,
bei der Frequenzversteigerung wurden Ausbauverpflich-
tungen zur Schließung der weißen Flecken festgelegt.
Auf dieser Grundlage bauen die Mobilfunkunternehmen
das mobile Breitband nun mit der neuen, modernen LTE-
Technologie aus, mit der im ersten Schritt Bandbreiten
von wahrscheinlich 3 bis 5 Megabit pro Sekunde reali-
siert werden. Nach deren Ankündigung können wir da-
von ausgehen, dass das etwa im Jahre 2012 flächende-
ckend umgesetzt sein wird.

Die Erfahrung lehrt allerdings auch, dass man mit An-
kündigungen vorsichtig sein muss. Um vielleicht ver-
bleibende vereinzelte Lücken tatsächlich zu schließen,
macht es aus meiner Sicht deshalb durchaus Sinn, durch
eine entsprechende Universaldienstverpflichtung eine
Grundversorgung gesetzlich abzusichern. Die neuen EU-
Vorgaben sehen ohnehin vor, dass jeder Mitgliedstaat
verpflichtet ist, einen funktionalen Internetzugang als
Universaldienst festzulegen. Dies setzt die Bundesregie-
rung ja auch um. Aber die EU eröffnet den Mitgliedstaa-
ten darüber hinaus auch die Möglichkeit, zusätzlich eine
feste Bandbreite als Universaldienst festzulegen. Einige
EU-Länder haben davon bereits Gebrauch gemacht.

Allerdings sind die Mitgliedstaaten in Bezug auf die
Höhe der Bandbreite nicht völlig frei. Eine Universal-
dienstverpflichtung bedeutet einen erheblichen Eingriff
in den Markt. Deshalb hat die EU bestimmte Kriterien
vorgegeben:

Erstens. Wettbewerbsverzerrungen müssen so weit
wie möglich vermieden werden.

Zweitens. Die Ausgestaltung des Universaldienstes
muss technologieneutral erfolgen.

Drittens. Die maximale Bandbreite in den Mitglied-
staaten kann nicht beliebig festgelegt werden. Sie hat
sich daran zu orientieren, welche Bandbreite von der
Mehrheit der Nutzer tatsächlich verwendet wird. Nach
Einschätzung des Branchenverbandes VATM und auch
der Bundesnetzagentur sind das heute Bandbreiten von
etwa 2 bis 6 Megabit pro Sekunde, also solche Bandbrei-
ten, die durch den LTE-Ausbau realisiert werden kön-
nen.

Was aber europarechtlich auf keinen Fall zulässig ist,
wäre ein Universaldienst mit höheren Bandbreiten, der
neuerdings in einem Positionspapier der Unionsfraktion
vorgesehen ist. Zu Recht hat dieses Papier deshalb in der
Fachwelt heftiges Kopfschütteln ausgelöst. Es ist offen-
kundig, dass sich die Wirtschaftspolitiker der Union
nicht einmal mit den rechtlichen Voraussetzungen für
ihre Vorschläge auseinandergesetzt haben. Ich denke,
auch dadurch wird die fehlende Ernsthaftigkeit der Re-
gierungskoalition bei diesem Thema dokumentiert.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben einer Breit-
bandgrundversorgung brauchen wir eine dynamische
Entwicklung. Der Bedarf an höherer Bandbreite wird
auch weiterhin stark wachsen – alleine schon wegen der
wachsenden Zahl der Nutzer und neuer Anwendungen.
Unser Ziel als stärkste Wirtschaftsnation in Europa kann
nur sein, auch bei der Breitbandinfrastruktur spitze zu
sein.

Wir fordern die Regierungskoalition deshalb auf: Ma-
chen Sie endlich Ihre Hausaufgaben konsequent! Unter-
legen Sie Ihre Ausbauziele durch wirksame Maßnah-
men! Berufen Sie beispielsweise unverzüglich einen
nationalen Breitbandgipfel mit den Ländern und Kom-
munen ein; denn wir brauchen ein abgestimmtes Vorge-
hen, sowohl im Hinblick auf die Verbesserung der pla-
nungsrechtlichen Voraussetzungen als auch bei der
Abstimmung von Förderprogrammen. Selbstverständ-
lich setzen wir in erster Linie auf faire Wettbewerbsbe-
dingungen und auf gute Investitionsmöglichkeiten für
die Unternehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu-
sammenfassen. Seit ihrem Amtsantritt haben wir von der
schwarz-gelben Bundesregierung noch keine wirklich
neuen und eigenen Impulse für den Breitbandausbau ge-
sehen. Die haben andere gesetzt. Das Internetzeitalter
braucht aber keine Politik mit der Geschwindigkeit einer
Schnecke. Bitte satteln Sie endlich das Rennpferd.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710807500

Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/

CSU-Fraktion.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1710807600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Heute ist offensichtlich der Tag der Netze. Erst ha-
ben wir über die Stromnetze verhandelt. Jetzt debattieren
wir über die Datenautobahn, also die Breitbandnetze.

Die Bundesregierung hat uns den Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Re-
gelungen zur Diskussion im Deutschen Bundestag vor-
gelegt.

Herr Dörmann, Sie haben gesagt, dieser Gesetzent-
wurf sei kein großer Wurf. Er ist aber auf jeden Fall ein
dicker Wurf. 178 Seiten sind zu behandeln; diese
178 Seiten enthalten teilweise sehr schwierige juristi-
sche Klauseln.


(Martin Dörmann [SPD]: Mehr Qualität statt Quantität wäre besser!)






Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

Mit diesem Gesetzentwurf sollen zwei Richtlinien der
Europäischen Union umgesetzt werden, nämlich die Än-
derungsrichtlinie „Bessere Regulierung“ und die Ände-
rungsrichtlinie „Rechte der Bürger“. Der deutsche Ge-
setzgeber ist also jetzt beauftragt, diese Regelungen in
nationales Recht umzusetzen.

Dieser Gesetzentwurf enthält im Prinzip zwei große
Teile. Der erste Teil befasst sich hauptsächlich mit den
Regulierungsgrundsätzen und den Rahmenbedingungen
für den Wettbewerb. Der zweite Teil beschäftigt sich im
Wesentlichen mit der Verbesserung der Verbraucher-
rechte.

Bei den Regulierungsgrundsätzen geht es im Groben
um Anreize und um bessere Bedingungen für einen flä-
chendeckenden Breitbandausbau. Herr Staatssekretär hat
darauf hingewiesen, auch Herr Dörmann hat von der
Notwendigkeit und der Wichtigkeit gesprochen, mit dem
flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland
schnell voranzukommen.

Bei dem Teil zum Verbraucherschutz ist das wesent-
liche Ziel, dass der Verbraucher sich in dem immer spe-
zielleren Markt der Telekommunikationstechniken zu-
rechtfinden kann und dass er vor diversen Modellen des
Abzockens von Kunden geschützt wird. In diesem Zu-
sammenhang erinnere ich an die kostenlosen Warte-
schleifen, die wir in diesem Hause – es gab ja einen An-
trag der SPD-Fraktion –


(Caren Lay [DIE LINKE]: Und der Linken!)


schon einmal diskutiert haben, an den Wechsel von ei-
nem Anbieter zu einem anderen Anbieter innerhalb eines
Tages, an die Preistransparenz bei Call-by-Call-Tarifen
und wesentliche Punkte mehr. Hier geht es also darum,
die Verbraucherrechte zu schützen und in diesem Markt
die Transparenz zu erhöhen.

Lassen Sie mich aber noch einmal zum Breitbandaus-
bau kommen; denn das ist wirklich der wesentliche Teil.
Wir erhoffen uns, dass der Breitbandausbau in Deutsch-
land mit diesem Gesetz eine noch höhere Beschleuni-
gung erhält, um damit auf größere Geschwindigkeiten zu
kommen.

Schauen wir es uns doch einmal an. Die Breitband-
strategie wurde in der Großen Koalition entworfen. Das
ist natürlich nicht bloß die Idee eines SPD-Ministers ge-
wesen, wie Sie es dargestellt haben, Herr Dörmann.
Vielmehr hat die Bundeskanzlerin die Breitbandstrategie
der Öffentlichkeit vorgestellt.


(Martin Dörmann [SPD]: Aber die Idee kam von uns!)


– Wenn man in einer Koalition ist, muss man schon sa-
gen: Es war die Koalition, die die Breitbandstrategie ent-
worfen hat.

Das sind natürlich ehrgeizige Ziele gewesen, gar
keine Frage. Wenn man sich keine ehrgeizigen Ziele
setzt, muss man sich nicht wundern, wenn man nicht vo-
rankommt.
Angesichts der Zahlen muss man ganz einfach dem
Argument widersprechen, es sei in den letzten Jahren
nichts passiert.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Das stimmt einfach nicht. Deutschland ist aus dem Mit-
telfeld gekommen. Es war ja auch Ausgangspunkt der
Breitbandstrategie, dass wir festgestellt haben: Wir sind
nur im Mittelfeld; wir wollen an die Spitze. – Wenn man
sich die Zahlen anschaut, kann man konstatieren: Im
Jahr 2010 sind fast 98,5 Prozent der deutschen Haushalte
mit einer Bandbreite von mindestens 1 Megabit an das
Breitbandnetz angeschlossen. Wir sind uns heute einig:
Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es muss
noch mehr werden.

Aufgeschlüsselt sehen die Zahlen so aus: 93,3 Prozent
der Haushalte verfügen über Anschlüsse mit mehr als
2 Megabit pro Sekunde; 81,6 Prozent der Haushalte ste-
hen schon 6 Megabit pro Sekunde zur Verfügung;
67,6 Prozent 16 Megabit pro Sekunde, und 35,6 Prozent
der Haushalte in Deutschland stehen Bandbreiten von
über 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung. Das ist erst
einmal eine riesige Leistung. Das muss man sagen; denn
dahinter steckt ja auch noch ein enormes Investitionsvo-
lumen. Dass seit 2006 pro Jahr ungefähr 6,5 Milliarden
Euro jährlich in die entsprechende Infrastruktur inves-
tiert wurden, ungefähr die Hälfte von der Telekom, die
andere Hälfte von den privaten Wettbewerbern, halte ich
schon für eine sehr große Leistung. Das ist letztendlich
auch der Grund dafür, dass wir in diesem Bereich mitt-
lerweile zur europäischen Spitzengruppe gehören.

Meine Damen und Herren, es ist klar, dass jeder, der
noch keinen Anschluss an das Breitbandnetz hat, sagt:
Eure Zahlen nützen mir gar nichts. Selbst wenn ihr
99,5 Prozent erreicht habt, ich selber aber nicht ange-
schlossen bin, ist das Ziel noch nicht erreicht. – Genau
darum geht es ja: Wir brauchen eine hundertprozentige
Abdeckung.

Nun geht es um das Thema: Wie kann man das errei-
chen? Sollte man das, wie Herr Dörmann vorschlug, über
die Verpflichtung zur Universaldienstleistung erreichen?
Ich bin der Meinung, wir können das im freien Wettbe-
werb erreichen, indem wir alle zur Verfügung stehenden
Technologien einsetzen. Aus meiner Sicht gibt es nicht
gute und schlechte Technologien – darüber wird ja immer
heftig diskutiert –, sondern Funk-, Satelliten- und Glasfa-
sertechnik bieten ebenso wie alte Kupferleitungen im
Prinzip die Möglichkeit, einen Breitbandanschluss herzu-
stellen. Insofern muss man jetzt darüber reden: Wie errei-
chen wir eine hundertprozentige Abdeckung? Diese Auf-
gabe ist, wie ich glaube, politisch zu lösen. Hierzu gibt es
verschiedene Modelle.

Ich finde nicht, dass man einen Breitbandgipfel mit
den Kommunen durchführen muss. Die Instrumente, die
seitens der Bundesregierung schon eingeführt wurden,
wie zum Beispiel die Erstellung eines Breitbandatlas,
reichen nämlich völlig aus. Anhand des Breitbandatlas
ist sehr genau nachweisbar, wo welche Anschlüsse vor-
handen sind. Vor allen Dingen kann man auch feststel-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

len, welche Fortschritte in Deutschland erzielt werden.
Das ist ja eigentlich auch das Wichtige, dass wir den
Bürgern unseres Landes deutlich machen: Die Entwick-
lung schreitet unablässig fort.


(Martin Dörmann [SPD]: Aber das sind leider keine realen Zahlen!)


Nun müssen allerdings – auf diesen einen Punkt
möchte ich noch zu sprechen kommen – die Firmen zum
Beispiel beim Ausbau von LTE, also dem schnellen mo-
bilen Internet, erst einmal liefern. Das heißt, die Deut-
sche Telekom, Vodafone und andere müssen jetzt bewei-
sen, dass diese Technik in der Lage ist, das zu leisten,
was wir uns vorstellen. Wenn sie das leistet – davon bin
ich überzeugt –, dann ist diese Funktechnologie wirklich
ein guter Weg, um eine flächendeckende Versorgung mit
dem mobilen Internet relativ schnell zu erreichen.

Meine Damen und Herren, unsere Fraktion ist der
Auffassung, Wettbewerb ist der beste Garant dafür, dass
wir vorankommen. Wettbewerb ist auch der Garant da-
für, dass die Preise für die Verbraucher günstig sind. Mit
unserem Gesetz werden wir die Rechte der Verbraucher
und ebenso den Wettbewerb beim Ausbau von Breit-
band-Internetanschlüssen stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Dörmann, die Fachpolitiker der Koalition und
der Opposition sind ja nicht wirklich weit auseinander.
Deshalb denke ich, dass es zu einem guten Gesetz-
gebungsverfahren kommt. Letztendlich wird es eine
Neufassung des Telekommunikationsgesetzes geben, die
Deutschland einen wirklichen Fortschritt bringt und da-
für sorgt, dass wir in den nächsten Jahren Spitzenreiter
auch in diesem Bereich in Europa werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710807700

Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710807800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Fast die Hälfte aller Verbraucherinnen und Ver-
braucher klagt über Probleme im Bereich Telefon und
Internet. Die finanziellen Einbußen der Verbraucherin-
nen und Verbraucher, zum Beispiel durch unerbetene
Anrufe, überhöhte Handyrechnungen und teure Warte-
schleifen, sind enorm. Ich frage Sie: Wer von Ihnen hat
unerbetene Telefonanrufe oder überhöhte Handyrech-
nungen noch nicht erlebt?

Deswegen fordern wir als Linke schon lange: Abzo-
cke und Datenklau auf dem Telekommunikationsmarkt
müssen endlich ein Ende haben.


(Beifall bei der LINKEN)

Denn die Telekommunikationsbranche gehört zu denje-
nigen Branchen, bei denen bei den Verbraucherzentralen
der größte Beratungsbedarf besteht. Beliebteste Opfer
von unseriösen Geschäftspraktiken sind Jugendliche und
ältere Menschen.

Vor diesem Hintergrund war der Gesetzentwurf der
Bundesregierung längst überfällig. Ich habe nur erhebli-
che Zweifel daran, dass der Gesetzentwurf, wie er jetzt
vorliegt, die Probleme lösen wird. Aus unserer Sicht ent-
hält dieser Gesetzentwurf noch viel zu viele Lücken und
Schlupflöcher. Ein Beispiel dafür sind die Warteschlei-
fen. Wir als Linke fordern, dass Warteschleifen und Stö-
rungshotlines komplett kostenfrei zu stellen sind, ganz
egal, wo oder von wo ich anrufe.


(Beifall bei der LINKEN)


Zugleich müssen die Warteschleifen zeitlich begrenzt
werden; denn wer will schon Ewigkeiten mit Dudel-
musik am Telefon verbringen? Hier bietet der Gesetzent-
wurf leider noch keine zeitliche Obergrenze.

Nach wie vor werden Verbraucherinnen und Verbrau-
cher mit überhöhten Handyrechnungen abgezockt. Wir
als Linke fordern hier klare Preisobergrenzen und Preis-
informationen; denn das, was bisher für das Festnetz gilt,
soll aus unserer Sicht jetzt auch für Handys eingeführt
werden. Doch was macht die Bundesregierung? Sie
macht das glatte Gegenteil: Die wenigen Vorgaben, die
es bisher gab, werden gestrichen, und stattdessen soll das
Problem auf dem Verordnungswege gelöst werden.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Preisobergrenzen?)


Ein anderes Beispiel ist der bessere Schutz vor Kos-
tenfallen im Internet. Wer kennt es nicht, dass die Ein-
käufe im Internet intransparent sind? Wir finden, es
muss klar erkennbar sein, was ein Kauf im Internet kos-
tet. Deswegen erneuern wir unsere Forderung nach Ein-
führung eines Internetbuttons.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das gehört aber nicht ins TKG, das gehört ins UWG!)


Schließlich fordern wir als Linke eine wirksame Auf-
sicht für den Telekommunikationsmarkt. Herr Lämmel,
dieser Punkt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass der
Wettbewerb nicht alle Probleme löst. Es gibt immer wie-
der Beispiele für Geschäftsmodelle, auch von Telekom-
munikationsunternehmen, die komplett auf unseriösen
Geschäftspraktiken beruhen. Hier sollte die Bundesnetz-
agentur aus unserer Sicht deutlich präventiver tätig sein
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist
der Datenschutz. Der Datendiebstahl beim Elektronik-
konzern Sony hat uns erneut vor Augen geführt, dass
persönliche Daten unzureichend geschützt sind und dass
sensible Kundendaten nach wie vor viel zu leicht in un-
befugte Hände geraten. Der Gipfel war: Wer sich bei
Sony telefonisch über den Verbleib seiner Daten infor-
mieren wollte, dem wurde eine kostenpflichtige Hotline





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

angeboten. Das ist wirklich der Gipfel der Unverschämt-
heit.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch bei einem anderen Punkt bleibt der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung leider unzureichend: Es gibt
nach wie vor die anlasslose Vorratsdatenspeicherung.
Das ist aus unserer Sicht völlig unverhältnismäßig, und
auch eine Regelung zur Netzneutralität sucht man in die-
sem Gesetzentwurf vergeblich.

Meine Damen und Herren, was uns die Koalition hier
vorgelegt hat, entspricht verbraucherpolitischen Anfor-
derungen nicht. Wieder einmal ist die Koalition zu sehr
vor den Interessen der Wirtschaftslobby eingeknickt.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ich lache mich tot!)


Was wir brauchen, sind konsequente Maßnahmen;
denn das Ergebnis der digitalen Welt dürfen weder der
gläserne Mensch noch geschröpfte Kundinnen und Kun-
den sein. Die Linke hat zu beiden Themen Anträge vor-
gelegt, und wir empfehlen den Vertreterinnen und Ver-
tretern der Koalition, hier noch einmal nachzulesen und
diesen Gesetzentwurf im Verfahren noch weiter zu ver-
bessern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710807900

Das Wort hat nun Christine Scheel für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710808000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Bundesregierung setzt mit dieser Vorlage die Vorgaben
europäischer Richtlinien zur Telekommunikation um. Das
ist aus unserer Sicht erst einmal begrüßenswert und drin-
gend notwendig, weil wir bessere Rahmenbedingungen
brauchen, um mehr Wettbewerb zu erreichen, und den
Verbraucherschutz stärken müssen. Leider haben Sie aber
nur die Mindestanforderungen aus Brüssel umgesetzt. Wir
sehen beim Verbraucherschutz, beim Datenschutz, beim
strikten Ausschluss anlassloser Vorratsdatenspeicherung,
beim nachhaltigen und seriösen Breitbandausbau und bei
der gesetzlichen Sicherung der Netzneutralität Verbesse-
rungsbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Breitband. Die Novellierung hat das Ziel, die
rechtlichen Rahmenbedingungen für einen wettbewerbs-
konformen Breitbandausbau und Investitionen in Netze
der nächsten Generationen zu verbessern. Es ist eine der
größten wirtschaftspolitischen Herausforderungen, die
digitale Kluft zu überwinden. Es sind leider immer noch
zu viele Regionen vom Internet abgekoppelt. In Mecklen-
burg-Vorpommern und Thüringen sind nur 93 Prozent der
Haushalte mit Breitband versorgt. Selbst in einem Land
wie Bayern, das sich als Hochtechnologieland präsen-
tiert, sind noch immer rund 130 Gemeinden – ich rede
nicht von Aussiedlerhöfen, sondern auch von Gemeinden
mit mehreren Tausend Einwohnern und von Stadtgebie-
ten – unzureichend ans Internet angeschlossen. Das be-
deutet in der Konsequenz, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger insgesamt nicht ausreichend informieren können
und manche Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufga-
ben im Vergleich zu denen aus anderen Ortsteilen, die ei-
nen Internetanschluss haben, nicht vernünftig erledigen
können. Wir sehen, dass es für Unternehmen und Selbst-
ständige, für Architekten und Steuerberater, Nachteile ge-
ben kann und damit die Abwanderung aus ländlichen Ge-
bieten und der demografische Wandel dort verstärkt
werden. Es kann nicht sein, dass die Abwanderung aus
ländlichen Gebieten durch fehlende Anschlüsse forciert
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU])


Wir haben einmal über eine Vorlage diskutiert, nach
der Ende 2010 ein Etappenziel bei der Versorgung mit
Breitbandanschlüssen erreicht werden soll. Sie haben
dieses Ziel nicht erreicht. Jetzt heißt es: Bis 2015, spätes-
tens bis 2018, sollen alle Haushalte mit Anschlüssen mit
einer Bandbreite von mindestens 50 Megabit pro Se-
kunde versorgt sein. Wir wissen nicht, wie das erreicht
werden soll und woher die Gelder dafür kommen sollen.
Es wäre interessant, wenn wir das demnächst erfahren
würden.

Der Vorschlag der Union, die Verpflichtung eines
Universaldienstes mit einer Bandbreite von 16 Megabit
pro Sekunde ins Gesetz zu schreiben, ist aus unserer
Sicht sowohl juristisch als auch wirtschaftspolitisch
mehr als fragwürdig. Die Kosten der Umsetzung dieses
Vorschlags müssten nach geltendem EU-Recht von der
öffentlichen Hand getragen werden. Wie will die Regie-
rung die Mittel in Höhe von 40 Milliarden Euro, die ge-
mäß Ihrer Vorlage entstehen würden – das ist Ihre Vor-
stellung –, aufbringen? Sie haben die Chance vertan, den
Ausbau mit den Erlösen aus der Versteigerung der Funk-
frequenzen im letzten Jahr schneller zu finanzieren. Das
Geld ist irgendwo im Haushalt verschwunden, so wie
manches bei Ihnen verschwindet.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Jedenfalls hat man das Geld nicht so verwendet, wie es
hätte sein sollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir finden auch: Die Politik sollte nicht darum feil-
schen, wer den Menschen in den ländlichen Gebieten
mehr Bandbreite verspricht. Vielmehr geht es darum,
sinnvolle Lösungen zu suchen. Dabei geht es auch um
die Technik, die vor Ort eingeführt werden soll.

Anstatt die Wirtschaft mit irgendwelchen Schnell-
schüssen zu verunsichern, sollten Sie die offenen Fragen
beantworten. Die grüne Fraktion hat ein Gutachten in
Auftrag gegeben, in dem geprüft werden soll, ob und un-
ter welchen Bedingungen ein Universaldienst finanziell
und rechtlich möglich ist und welche Kosten überhaupt
entstehen würden.





Christine Scheel


(A) (C)



(D)(B)


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Dafür brauchen wir doch kein neues Gutachten!)


Wir haben also jetzt die Hausaufgaben gemacht, die wir
eigentlich von Ihnen erwartet hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie setzen nicht die notwendigen Akzente beim Breit-
bandausbau. Der Bundesrat hat in seiner aktuellen
Stellungnahme Zweifel daran erhoben, ob die gesetzten
Ziele allein über Vorschriften erreicht werden können.
Wir verstehen nicht, warum die Bundesregierung die
meisten Änderungsvorschläge des Bundesrats bislang
abgelehnt hat. Aber es kann sein, dass sich das im Ver-
lauf der Diskussion noch verändert.

Ein weiteres wichtiges Thema wurde von der Kolle-
gin vorhin angesprochen: kostenlose Warteschleifen. Es
ist schön, dass es bald endlich kostenlose Warteschleifen
gibt. Wir fordern das übrigens schon seit Jahren. Die
Kollegin Nicole Maisch ist schon seit Jahren hinterher,
dass man in diesem Bereich weiterkommt. „Keine Leis-
tung – keine Kosten“ heißt hier die Devise. Aber warum
brauchen wir eine Übergangsfrist von zwölf Monaten?
Das ist technisch überhaupt nicht notwendig. Es ärgert
die Leute ohne Ende, dass Sie das Ganze weitere zwölf
Monate nach hinten schieben wollen.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Zwei Stufen!)


Kommen wir zu den verpflichtenden Preisansagen bei
Call-by-Call-Anrufen. Bei Call-by-Call-Anrufen haben
sprunghafte Preiserhöhungen in der Vergangenheit zu er-
heblichen finanziellen Schäden geführt. Es gibt Aussa-
gen, dass es innerhalb eines Telefonats Preissteigerun-
gen von bis zu 1 000 Prozent gegeben hat. Es ist eine
Unverschämtheit, dass in den letzten Jahren diesbezüg-
lich nichts passiert ist. Wir wissen schließlich, dass Rot-
Grün im Jahre 2005 die Preisansagepflicht beschlossen
hatte, dann aber an der CDU/CSU und der FDP im Bun-
desrat gescheitert ist. Nun wollen Sie die Unternehmen
per Rechtsverordnung zur Preisansage verpflichten. Das
reicht uns nicht. Wir wollen, dass die Pflicht zur Preis-
angabe in das TKG aufgenommen wird. Dann wäre es
klar und sauber geregelt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen auch, dass der Datenschutz ernster ge-
nommen wird. Der Schutz unserer Privatsphäre in der
Zukunft ist ein ganz wesentlicher Punkt.

Wir wollen ferner, dass die Netzneutralität, die für die
bisher praktizierte grundsätzliche gleichberechtigte
Übertragung aller Daten im Internet steht, ernsthaft ge-
lebt wird. Jedoch planen große Telekommunikations-
unternehmen, bestimmte Dienste gegen Aufpreis – zum
Beispiel Fernsehen via Internet – zu beschleunigen. Das
bedeutet in der Konsequenz, dass die Offenheit des In-
ternets als Grundlage von demokratischen Prozessen auf
dem Spiel stehen kann. Das muss man in den Fokus neh-
men; darauf muss man aufpassen. Das heißt: Auch die
Netzneutralität muss als Regulierungsziel in diese No-
velle aufgenommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Gedanke noch zu den Änderungen für die Radio-
und Fernsehübertragung. Es geht nicht an, dass durch ei-
nen möglichen Frequenzwiderruf zusätzliche Kosten für
die Radiosender entstehen. So wie das TKG im Moment
ausgestaltet ist, entsteht bei einem Widerruf der UKW-
Zuteilungen allein beim Bayerischen Rundfunk ein Kos-
tenrisiko von 8 Millionen Euro; bei den privaten Radio-
sendern sind es 10 Millionen Euro. Diese Summen ge-
hen dann für Investitionen in das Programm verloren.
Deswegen möchte ich Sie bitten, an dieser Stelle eine
Korrektur anzustreben, damit wir auch im Sinne der Ra-
diosender eine bessere Lösung bekommen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710808100

Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710808200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst

einmal zur Linken und zu Ihnen, Frau Lay: Die Linke
war schon immer ein Spezialist für das Thema Telekom-
munikation. Sie war allerdings zu DDR-Zeiten mehr für
die Überwachung von Telefonen zuständig.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Sie sind so originell! Das ist ein ganz wahnsinnig intelligentes Argument, das Sie da vorbringen!)


Jetzt stellen Sie sich hier als diejenigen dar, die die Vor-
ratsdatenspeicherung bekämpfen wollen.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Mein Gott! Fällt Ihnen denn sonst nichts ein?)


Das machen Sie zudem noch an falscher Stelle; denn das
gehört hier gar nicht hinein. Das ist verwunderlich. Ob
das intelligent ist, ist eine andere Frage. Man muss Sie
immer wieder darauf hinweisen, wo Sie herkommen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr gut! Aber wo wir herkommen, da können wir mal gucken!)


Ich glaube, das ist ganz wichtig. Denn die Neigung be-
steht, dies im Laufe der Zeit zu vergessen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich komme aus Hagen!)


Wenn Sie mich jetzt weiter provozieren,


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Wer provoziert hier wen?)


sage ich Ihnen auch noch, dass es in der DDR für zehn
Haushalte nur einen Telefonanschluss gegeben hat. Das
ist sozialistische Telekommunikationspolitik. In dieses
Stadium wollen wir sicherlich nicht wieder zurückfallen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Caren Lay [DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Mein Gott! Was haben Sie für einen Redner hingeschickt!)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1710808300

Die Liberalisierung des Marktes hat viel bewegt und
auch viel Positives bewirkt. Trotzdem bleibt noch das
eine oder andere, das wir im Rahmen einer solchen No-
vellierung geradeziehen müssen. Geschätzte Kollegin
Scheel, ich hätte mich gefreut, wenn Sie die verbrau-
cherpolitischen Ansätze ein bisschen mehr gelobt und
weniger die Details kritisiert hätten.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auf Details kommt es doch an, Herr Kollege Nüßlein!)


Es ist doch wichtig, dass die Warteschleifen künftig kos-
tenlos sind und die Unterbrechung des Anschlusses we-
gen der technischen Umstellung bei einem Festnetz-
anbieterwechsel auf einen Kalendertag beschränkt ist. Es
ist doch gut, dass wir sagen: Bei einem Umzug gibt es
ein Sonderkündigungsrecht für den Fall, dass man den
Vertrag, so wie man ihn abgeschlossen hat, aufgrund der
fehlenden Leistung am anderen Ort nicht fortsetzen
kann. Was gibt es denn da zu kritisieren?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Im parlamentarischen Verfahren werden wir noch das
eine oder andere, gerne auch im Konsens, einbringen,
beispielsweise die Forderung, dass ein Vertrag erst dann
wirksam wird, wenn das durch den jeweiligen Kunden in
Textform bestätigt wurde. Es gibt im Telekommunika-
tionsbereich die Unsitte, dass man angerufen wird und
– egal wer am Telefon ist – anschließend ein Bestäti-
gungsschreiben bekommt und sich dann dagegen wehren
muss, dass der Vertrag auf einen anderen Anbieter um-
gestellt wird. Solche Fragen kann man im Gesetz aus
meiner Sicht relativ schlank klarstellen, weil es ein Be-
stätigungsschreiben sonst nur im kaufmännischen Mit-
einander gibt. Warum soll es das im Bereich der Tele-
kommunikation aufgrund der Kraft des Faktischen
geben?

Es ist richtig und wichtig, dass wir bei der tatsächli-
chen Geschwindigkeit von Breitbandanschlüssen mehr
Transparenz schaffen. Hier gibt es oft große Unter-
schiede zwischen dem, was man vertraglich vereinbart
hat, und dem, was man am Ende erhält. Das ist auch für
unsere Diskussion über den Universaldienst wichtig.

Jetzt gehe ich auf das juristische Argument ein, das
Sie, Herr Dörmann, gebraucht haben. Von der Darstel-
lung her ist es völlig richtig, dass wir uns auf das bezie-
hen müssen, was 50 Prozent der Menschen nutzen. Aber
wir beziehen uns dabei auf die Zahlen, die wir vom Bun-
deswirtschaftsministerium bekommen, und nicht auf die
Zahlen vom vatm.


(Martin Dörmann [SPD]: Bundesnetzagentur!)


– vatm, haben Sie vorhin in Ihrer Rede gesagt. Da müs-
sen Sie sich schon die Frage stellen: Cui bono? Warum
behaupten die so etwas?

Ich nehme die Zahlen, die der Kollege Lämmel ge-
rade vorgelesen hat. Bundesweit waren Ende 2010 für
98,5 Prozent aller Haushalte Bandbreiten mit bis zu
1 Megabit verfügbar, für 93,3 Prozent Bandbreiten mit
bis zu 2 Megabit, für 81,6 Prozent mit bis zu 6 Megabit,
für 67,6 Prozent mit bis zu 16 Megabit und für 35,6 Pro-
zent mit bis zu 50 Megabit. Ich wollte eigentlich über
ganz andere Dinge reden; aber wenn das hier themati-
siert wird, erkläre ich das gerne.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710808400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dörmann? Dann könnten Sie das gleich mit er-
klären.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710808500

Herzlich gerne, wenn es an dieser Stelle reinpasst.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710808600

Bitte schön.


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1710808700

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr

Kollege Nüßlein, ist Ihnen der Unterschied bekannt zwi-
schen der theoretischen Verfügbarkeit bestimmter Band-
breiten, worauf sich der Breitbandatlas bezieht, und der
tatsächlich verwendeten Bandbreite, die sich auf die
konkret abgeschlossenen Verträge bezieht? Ist Ihnen
weiterhin bekannt, dass sich die europarechtlichen Vor-
gaben nicht nach den Kriterien des Breitbandatlasses
ausrichten, sondern nach der tatsächlich verwendeten
Bandbreite und insofern Ihre Aussage falsch ist?


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710808800

Sie haben den Schluss nicht abgewartet. Die Verfüg-

barkeit, die ich hier beschreibe, mündet natürlich in ab-
sehbarer Zeit in die Anwendung dieser Bandbreiten. Das
Problem ist doch, dass wir nichts Statisches haben. Das
ist übrigens beim gesamten Ausbau das Problem. Es ist
nicht so einfach, wie seinerzeit die DDR mit Festnetz-
telefonie zu versorgen. Das Ganze ist ein dynamischer
Prozess, in dem sich die Bandbreiten weiterentwickeln
oder Neuerungen hinzukommen und in dem das Breit-
band von heute die Schmalspur von morgen sein wird.

Ich möchte noch einmal deutlich machen, was wir un-
ter Universaldienst verstehen und was im Übrigen auch
die EU unter diesem Thema versteht. Wir glauben nicht,
dass es sich um ein Instrument für einen Rollout von null
handelt. Es geht uns darum, die Angelegenheit zu einem
guten Abschluss zu führen, so wie es auch die EU vor-
sieht. Insofern, Herr Kollege Otto, ist das kein Thema,
das man in die Ecke der Verstaatlichung und des Sozia-
lismus verweisen muss. Stattdessen muss man sagen:
Gegen das absehbare Marktversagen benötigen wir ein
Instrument. Meine Vorredner haben ganz klar gesagt,
dass es am Ende etliche geben wird, die außen vor sind.
Dazu sage ich ganz offensiv: Ich werde mir hinterher
nicht vorwerfen lassen, dass Hintertupfingen oder das
letzte Forsthaus – davon ist in diesem Zusammenhang
immer wieder die Rede – nicht versorgt sind. Das kann
nicht sein. Der ländliche Raum hat einen Anspruch auf
Versorgung. Wir sehen aber, dass durch den Wettbewerb
nicht sichergestellt werden kann, dass der ländliche





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

Raum bis zum letzten Haushalt versorgt wird. Warum
sollen die Unternehmen das denn tun, obwohl sie wis-
sen, dass sie damit kein Geschäft machen können? Des-
halb sieht die EU dieses Instrument vor, und wir müssen
uns darüber unterhalten, wie wir es ausgestalten wollen.
Darüber wird man im Deutschen Bundestag doch wohl
noch diskutieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Barthel [SPD] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gespannt, wie Sie das lösen wollen! – Martin Dörmann [SPD]: Ich bin gespannt, wie das in der Unionsfraktion ausgeht! Was sagt der neue Wirtschaftsminister dazu?)


– Langsam. Wenn es darum geht, die letzte Lücke zu
schließen, muss das nicht die öffentliche Hand zahlen.
Der Universaldienst ist entsprechend auszugestalten; das
wissen Sie offenkundig ganz genau.


(Beifall des Abg. Klaus Barthel [SPD] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll denn der Käse? Das ist doch klar!)


– Nein. Das ist durch ein Umlagesystem möglich. Das
wissen Sie doch.

Ich sage ganz klar: Wenn jemand eine bessere Idee
hat, wie man mit diesem Marktversagen umgehen und
die Sache regeln kann, dann sind wir dem aufgeschlos-
sen. Aber ich höre seit Jahren nur, was in diesem Land
alles nicht geht. Das zeichnet auch andere Debatten aus.
Dazu sage ich ganz offensiv, dass ich auch vom Bundes-
wirtschaftsministerium eine bessere Beschreibung des-
sen erwarte, was wir tun wollen. Wenn es ein klares
Marktversagen gibt, dann können wir nicht sagen: Der
Liberalismus steht über allem.

Wenn wir andere Instrumente in den Blick nehmen,
bitte ich darum, die Bedenken nicht überhandnehmen zu
lassen. Wir haben gesagt, dass wir Synergien heben wol-
len, damit das Ganze billiger wird. Wir wollen einen ge-
setzlich geregelten Zugriff auf die Infrastruktur Dritter;
beispielsweise wollen wir den Zugriff auf die Infrastruk-
tur der Energieversorger sicherstellen, aber auch auf die
Infrastruktur des Bundes. Lieber Andi Scheuer, es kann
doch nicht sein, dass mir ein Beamter aus dem Bundes-
verkehrsministerium schreibt, da gebe es wesentliche
Sicherheitsbedenken oder was auch immer. Wenn man
dafür kein Instrument findet, sondern nur die Bedenken
vor sich her trägt, dann sind diese Ansätze letztendlich
nicht ausreichend und dann bin auch ich an dem Punkt,
an dem ich frage: Was dann? An diesem Punkt des The-
mas Breitband müssen wir nacharbeiten.

LTE ist ein respektabler Ansatz, weist in die richtige
Richtung, wird unser Problem auf bestimmte Zeit sicher
lösen, wird uns auch ein wenig Luft verschaffen; aber
ich bin nicht schlüssig, ob das für alle gelten wird. Am
Ende werden ein paar übrig bleiben, die auch durch LTE
im Wettbewerb nicht problemlos angeschlossen werden
können. Am Ende wird man sehen müssen, ob sich diese
Funktechnologie wirklich so weiterentwickelt, dass die
Bandbreiten mitwachsen. Unser Problem wird doch
nicht dadurch gelöst, dass man sagt – ich nehme die
Bandbreiten, die vorhin genannt worden sind; ich selber
kann das nicht beurteilen –: Das flache Land erhält jetzt
6 Megabit über LTE, und die Städte bekommen 50 oder
100, und das war es dann. – Dann sind wir wirklich an
dem Punkt, den die Kollegin Scheel vorhin beschrieben
hat. Dann muss das Architekturbüro oder das IT-Unter-
nehmen vom Land in die Stadt ziehen. Das wäre ein fal-
sches Signal. Breitband birgt die große Chance, Struk-
turdefizite zwischen Stadt und Land auszugleichen und
zu nivellieren. Deshalb bitte ich darum, nicht nur Pro
und Contra, nicht nur Plus und Minus des Universal-
dienstes zu sehen und nicht die eine Seite gegen die an-
dere auszuspielen. Wir sollten uns gemeinsam darauf
verständigen, dass wir um eine angemessene Versorgung
des flachen Landes ringen und gleichwertige Verhält-
nisse schaffen, wie es in Art. 87 f unseres Grundgesetzes
steht.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710808900

Das Wort hat nun Rita Schwarzelühr-Sutter für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1710809000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Novellie-
rung des Telekommunikationsgesetzes will die Bundes-
regierung eine ganze Reihe längst überfälliger Verbesse-
rungen im Verbraucherrecht angehen. Endlich wird sie
aktiv; allerdings sehen wir noch einen erheblichen Ver-
besserungsbedarf. Nach einer Umfrage der Verbraucher-
zentrale steht knapp der Hälfte der Bürgerinnen und Bür-
ger nach Vertragsabschluss mit einem Internetanbieter
nicht die Internetgeschwindigkeit zur Verfügung, die
vorher zugesagt wurde. Die tatsächlich gelieferte Leis-
tung liegt meist deutlich unter der in der Werbung ver-
sprochenen Geschwindigkeit. Ist das eine bewusste
Fehlinformation? Der Verbraucher braucht Preiswahr-
heit und Preisklarheit.

Umso verwunderlicher ist es deshalb, dass Sie die
Anbieter laut dem vorliegenden Gesetzentwurf nur ver-
pflichten wollen, den Verbraucher über eine bestimmte
Mindestleistung zu informieren. Wie sehr diese Mindest-
leistung von der beworbenen Leistung tatsächlich abwei-
chen darf, soll der Anbieter allerdings selbst entscheiden
können. Ich finde, das ist nicht ausreichend. Das machen
die Internetanbieter im Übrigen zum Teil sowieso schon.
Die angegebenen Mindestgeschwindigkeiten liegen
dann in der Regel bei 40 bis 50 Prozent der beworbenen
Internetgeschwindigkeit. – Herr Nüßlein, Ihre Aussagen
zum Universaldienst wundern mich, wenn ich sie mit
dem vergleiche, was vorher Herr Lämmel gesagt hat.
Sind Sie sich in Ihrer eigenen Partei jetzt einig, oder dis-
kutieren Sie noch über die Strategie?


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das ist ein temporärer Prozess!)






Rita Schwarzelühr-Sutter


(A) (C)



(D)(B)

Wir begrüßen die im Gesetzentwurf vorgesehenen
Regelungen zum Anbieterwechsel. Natürlich darf eine
Dienstleistung nur für einen Tag unterbrochen werden,
und in einer Informationsgesellschaft sollte ein Internet-
anschluss nicht länger als einen Tag unterbrochen wer-
den. Allerdings muss man sich die Frage stellen, wie
eine solche Umstellung innerhalb eines Tages sicherge-
stellt werden soll. Denn effektive Sanktionsmechanis-
men für den Fall, dass ein Telekommunikationsanbieter
sich bei der Umstellung des Anschlusses mehr als einen
Tag Zeit lässt, sieht Ihr Gesetzentwurf überhaupt nicht
vor. Es bedarf sicherlich keiner hellseherischen Fähig-
keiten, um jetzt schon sagen zu können, dass ein Verbot
ohne effektive Sanktionen ein zahnloser Tiger bleiben
wird.


(Beifall bei der SPD)


Herr Brüderle hat vollmundig erklärt, dass Probleme
beim Anbieterwechsel nun der Vergangenheit angehö-
ren. Durch das, was Sie in dem Gesetzentwurf vorsehen,
werden die Probleme beim Anbieterwechsel aber sicher-
lich nicht gelöst.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wieso?)


Es ist naiv, auf die freiwillige Einhaltung der Regeln
durch die Unternehmen zu setzen. Wir brauchen einen
Schadensersatzanspruch des Verbrauchers gegenüber
dem Anbieter. Das muss dann auch im Gesetz stehen.

Im Übrigen sollte die Kündigung eines Vertrages un-
bedingt in Schriftform erfolgen müssen; denn nur so
kann Missbrauch durch die Diensteanbieter effektiv ver-
hindert werden. Zu einer ungewollten Auflösung eines
Internetvertrages kommt es dann zum Beispiel nicht.

Ebenso reicht es nicht aus, bei einem Umzug den Ver-
brauchern ein Sonderkündigungsrecht für den Vertrag
nur dann zuzugestehen, wenn die vertraglich zugesi-
cherte Internetgeschwindigkeit am neuen Wohnort nicht
angeboten werden kann. Bei einem Umzug sollte es un-
serer Meinung nach ein generelles Sonderkündigungs-
recht für die Verbraucher geben. Viele ältere Menschen
lösen zum Beispiel ihre Wohnung auf und ziehen in eine
Pflegeeinrichtung. Warum sollen sie drei Monate lang
für einen Vertrag zahlen, obwohl sie keine Leistung er-
halten?


(Beifall bei der SPD)


Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist das
Thema Telefonwarteschleife sicherlich eines der wich-
tigsten, die durch den Gesetzentwurf geregelt werden
sollen. Es ist gut, dass die Warteschleifen bei 0180- und
0900-Servicenummern für den Verbraucher künftig kos-
tenfrei sein sollen oder nur ein Festpreis pro Anruf fällig
sein soll. Nach unserer Meinung müssten auch Störungs-
meldungen oder Anrufe in Gewährleistungsfällen
grundsätzlich kostenfrei sein. Ich denke nur an die Vul-
kanaschewolke. Was war das für ein Chaos; die Service-
nummern waren ständig besetzt. Nicht nachvollziehbar
ist allerdings, warum bei diesem für die Verbraucherin-
nen und Verbraucher so wichtigen Punkt eine so lange
Übergangszeit gelten soll. Selbst der Bundesrat schlägt
eine Übergangszeit von sechs Monaten vor und hält dies
für ausreichend.

Wenn die Bundesregierung sich schon daranmacht,
mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes
den Verbraucherinnen und Verbrauchern endlich mehr
Rechte zuzugestehen, dann sollte sie ihre Regelungen
auch konsequent zu Ende entwickeln und nicht auf hal-
ber Strecke stehen bleiben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710809100

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1710809200

Ich komme sofort zum Ende. – Ein Anliegen ist mir

auch, eine Verbesserung im Telekommunikationsgesetz
im Sinne der Notfallpatienten mittels einer genauen Or-
tung durch Rettungsdienste zu erreichen.

Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie in unseren Antrag.
Dann sehen Sie, was bei Ihnen noch fehlt. Das wäre für
die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich ein
echter Gewinn.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710809300

Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1710809400

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht vielleicht et-
was unter, aber heute legen wir als christlich-liberale
Koalition einen Meilenstein für den Verbraucherschutz
vor;


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


denn dieses Telekommunikationsgesetz wird endlich
Abzocke beenden, Bürokratie abbauen und viele Vor-
gänge für die Verbraucher vereinfachen. Es reicht nicht,
wenn man sich hier hinstellt und sagt, was man alles
gerne hätte. Ich erinnere daran: Telefonische Warte-
schleifen gibt es nicht erst, seit wir an der Regierung
sind. Die gibt es schon länger.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja eben! Sie haben es ja abgelehnt in den letzten Jahren!)


Wer zwölf Jahre in diesem Bereich nichts getan hat,
kann sich jetzt nicht hier hinstellen und sagen, dass alles
zu langsam geht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2005 haben Sie es abgelehnt! Das könnten wir schon längst haben!)


Wir lassen hier wichtige Verbesserungen wahr wer-
den. Ein Anbieterwechsel muss jetzt innerhalb eines Ta-
ges möglich sein. Das heißt, das Problem der wochen-





Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)

lang toten Telefonleitungen, das viele Verbraucher, aber
auch Unternehmen hatten, wird der Vergangenheit ange-
hören. Viele haben einen Wechsel gescheut. Sie haben
gesagt: Das ist schwierig, nachher stehe ich ohne Tele-
fon da. – Wenn ein solches Wechselhindernis besteht,
dann wird nicht gewechselt. Deswegen sagen wir: Hier
muss es eine Sanktionsmöglichkeit geben. Die ist jetzt
vorhanden; denn wenn es mit dem Anbieterwechsel
nicht klappt, gibt es die Möglichkeit, wieder auf das zu-
rückzugehen, was man hatte. Das ist eine klare Verbesse-
rung für die Verbraucherinnen und Verbraucher.

Wir beschleunigen auch die Chancen, dass überhaupt
gewechselt wird. Denn wenn wir die Telekommunika-
tionsunternehmen dazu verpflichten, Varianten in einem
Tarif anzubieten, der maximal zwölf Monate gilt, kann
schneller gewechselt werden, und die ellenlangen Klebe-
verträge gehören endlich der Vergangenheit an.

Wenn wir schon bei den Wechselhürden sind: Wenn
man viele Bekannte hat, wird die Rufnummer heute oft-
mals nicht gewechselt, weil man Angst hat, dass man
Hunderten von Leuten die neue Handynummer geben
muss. Dabei handelt es sich um eine sogenannte nicht
ökonomische Wechselhürde. Das wird im TKG ebenfalls
geändert. Jetzt kann man auch während der Vertragszeit
seine Handynummer portieren bzw. mitnehmen. Man
muss zwar weiterhin zahlen, bis der Vertrag endet; denn
man ist ja ein Geschäft eingegangen. Aber dass man die
Nummer mitnehmen kann, ist eine große Verbesserung
für die Verbraucherinnen und Verbraucher.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn Sie heute umziehen, haben Sie erstmals ein
Sonderkündigungsrecht, wenn die vereinbarte Leistung
am neuen Wohnort nicht angeboten wird. Ich frage mich:
Wer hat denn damals die Gesetze gemacht, als es dieses
Sonderkündigungsrecht nicht gab? Daran sehen Sie, dass
es schon einen Unterschied macht, ob hier in Deutschland
eine christlich-liberale Koalition regiert oder nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir helfen nicht nur beim Umzug und beim Kampf
gegen die Abzocke, sondern wir schaffen auch Transpa-
renz bei den Abrechnungen. Wenn Leistungen Dritter
über die Telefonrechnung abgerechnet wurden, wusste
man oftmals nicht, wofür man die 2 oder 3 Euro bezah-
len musste, die in der Rechnung enthalten waren. Ab so-
fort ist für den Verbraucher klar erkennbar, wer hinter
dieser Leistung steckt. Das heißt, man kann überprüfen,
ob die Leistung überhaupt in Anspruch genommen wor-
den ist, und kann im Reklamationsfall viel schneller
agieren.

Ich komme zur Transparenz. Frau Kollegin
Schwarzelühr-Sutter, ich meine, dass die Informations-
pflicht Transparenz schafft. Wir schreiben jetzt fest, dass
genau angegeben werden muss, welche DSL-Geschwin-
digkeiten verfügbar sind. Von daher ist das schon eine
deutliche Verbesserung im Vergleich zum jetzigen Stand.

Ich komme zu dem in meinen Augen wichtigsten Be-
reich, den kostenfreien Warteschleifen bei Servicehot-
lines. Jeder von Ihnen kennt es: Das ist nicht nur nerven-
aufreibend. Man könnte das vielleicht gerade noch so
akzeptieren, wenn es sich zeitlich im Rahmen halten
würde. Es ist aber oftmals ein teurer Warteakt, weil sich
Kostenfallen dahinter verbergen. Manchmal ist die War-
teschleife deutlich teurer als die Serviceleistung, die man
in Anspruch genommen hat. Es ist egal, ob es sich um
Telefonanbieter, Kabelanbieter, Pay-TV oder Sonstiges
handelt: Wir haben gesagt, dass sich Leistung lohnen
muss. Eine Warteschleife, wenn ich irgendwo anklopfe,
ist keine Leistung. Deswegen schieben wir dem Ge-
schäftsmodell Warteschleife einen Riegel vor und brin-
gen als christlich-liberale Koalition damit den Verbrau-
cherschutz voran.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frau Kollegin Lay, Sie glauben gar nicht, wie viele
Leute mir die Tür eingerannt haben, als wir, die FDP, an-
gekündigt haben, den kostenpflichtigen Warteschleifen
den Kampf anzusagen. Wir waren diejenigen, die nicht
festschreiben wollten, welche Technologie umgesetzt
werden muss. Wir sind standhaft geblieben. Wir stehen
auf der Seite der Verbraucher und fordern: Diese Abzo-
cke muss ein Ende haben. Wie die Unternehmen das
technisch umsetzen – ob durch Offlinebilling oder On-
linebilling –, bleibt ihnen überlassen. Das wird der Wett-
bewerb entscheiden. Aber ganz klar ist: Wir als christ-
lich-liberale Koalition gehen bei diesem Thema voran.

Das Thema Internetabzocke, das Sie angesprochen
haben, ist nicht im Rahmen des TKG zu regeln – das
wissen Sie genau –, sondern im Rahmen des Fernabsatz-
gesetzes.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Dann ändern Sie das! – Martin Dörmann [SPD]: Sie haben doch ein Artikelgesetz vorgelegt!)


Dort müssen wir dieses Problem behandeln. Auch da-
rüber werden wir diskutieren. Heute geht es allerdings
um das TKG.


(Martin Dörmann [SPD]: Das ist ein Artikelgesetz!)


Man sollte dann über ein Thema sprechen, wenn es auf
der Tagesordnung steht.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Uns geht es nicht darum, irgendwelche Überwachungs-
behörden zu schaffen, die Preise festsetzen und Zeiten
regulieren – Stichwort: Kommunikationskombinat –,
sondern wir wollen Verbraucherschutz durch Wettbe-
werb. Dazu leistet dieses Gesetz einen Beitrag.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710809500

Das Wort hat nun Johanna Voß für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710809600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuschauer! Sehr

geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordert
schon lange Breitband für alle. Daher begrüßen wir die





Johanna Voß


(A) (C)



(D)(B)

Ziele der TKG-Novelle: erstens die Gewährleistung ei-
ner flächendeckenden gleichartigen Grundversorgung
mit Telekommunikationsdiensten und zweitens die Be-
schleunigung des Ausbaus von Hochleistungsnetzen.
Leider hapert es an der Umsetzung vonseiten der Bun-
desregierung.

Aufgrund ihrer Marktgläubigkeit ist die Bundesregie-
rung – Sie, Herr Lämmel, haben das bestätigt – bereits
am ersten Ziel gescheitert. Die Unternehmen konzentrie-
ren sich auf den profitablen Breitbandnetzausbau in den
Ballungsgebieten. Sie stürzen sich auf den gewinnträch-
tigen Mobilfunk. Wo es sich nicht lohnt, muss dann die
öffentliche Hand für die Investitionen aufkommen.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist doch Unsinn!)


Die Unternehmen müssen viel stärker in die Pflicht ge-
nommen werden. Das Marktversagen dauert hier schon
viel zu lange.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Frage gleichwertiger Lebensbedingungen überall
in Deutschland hängt ganz entscheidend davon ab, dass
es überall einen gleichwertigen Zugang zum Internet
gibt. Wenn das nicht gewährleistet ist, kann dies die Ab-
wanderung von jungen Menschen zur Folge haben.
Heutzutage kann man sich ohne das Internet nicht mehr
bewerben. Das sieht auch Frau Merkel so. Doch Millio-
nen Menschen warten seit Jahren auf zuverlässiges,
schnelles Internet. Gleichwertige Lebensbedingungen
werden ohne ausreichende Pflichtvorgaben nicht ge-
schaffen. Die digitale Spaltung wird so nicht aufgeho-
ben. Das muss sich ändern.

Die Bundesregierung darf in Bezug auf die Schlie-
ßung dieser weißen Flecken nicht allein auf die mobilen
Breitbandversorger hoffen. Mobiles Breitbandinternet
wird immer schlechter sein, als es Festnetzverbindungen
sind. Außerdem beinhalten die Ausbauverpflichtungen
nur eine 90-prozentige vorrangige Deckung der unver-
sorgten Gebiete. Das sind nun einmal 10 Prozent zu we-
nig. Wir brauchen 100 Prozent.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch selbst das Ende der weißen Flecken reicht nicht
aus. Mittelfristig brauchen wir flächendeckend Glasfa-
sernetze. – In Lüchow-Dannenberg liegen die Kabel in
den Verteilstellen in den Straßen. Sie sind aber noch
nicht bis zu den Häusern verlegt worden; denn hierfür
fehlt den Kommunen das Geld. – Nur dann gibt es aus-
reichende Kapazitäten für neue, datenintensive Anwen-
dungen. Bisher haben in Deutschland nur 1,7 Prozent
der Haushalte Glasfaserzugang. Um nur ein Beispiel zu
nennen: In Litauen – da werden Sie staunen – sind es
50 Prozent der Haushalte. Daran wird deutlich: Es ist
eine Frage des politischen Willens.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Na ja! Litauen ist aber auch ein bisschen kleiner!)


Wir brauchen endlich den Breitbanduniversaldienst.
Damit wären die Internetanbieter verpflichtet, allen Bür-
gerinnen und Bürgern einen Breitbandanschluss mit ei-
ner definierten Mindestqualität und zu erschwinglichen
Preisen anzubieten. Damit würde verhindert werden,
dass sich Unternehmen nur die Rosinen herauspicken
und die dünn besiedelten Gebiete unversorgt lassen. Da-
mit würde ein nachhaltiger Weg eingeschlagen werden;
denn ein Universaldienst kann dem Stand der Technik
immer wieder angepasst werden. Die Chance, den Breit-
bandausbau verpflichtend in die Novelle zum Telekom-
munikationsgesetz aufzunehmen, wurde bisher nicht ge-
nutzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, folgen Sie Ihrer Kollegin Ilse Aigner! Setzen
Sie sich im Rahmen dieser Novelle für den Breitband-
universaldienst ein!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710809700

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-

legen Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1710809800

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Lassen Sie mich am Ende der Debatte
drei Feststellungen treffen. Erstens ist festzustellen, dass
die Breitbandstrategie der Bundesregierung, mit der wir
im europäischen Vergleich ganz oben stehen, richtig und
erfolgreich war. Zweitens besteht aber in der Breitband-
versorgung eine digitale Kluft insbesondere zwischen
Städten und ländlichen Räumen. Diese Diskrepanz müs-
sen wir in den Mittelpunkt des Handelns stellen. Es sind
im Übrigen nicht nur ländliche Räume, sondern zum Teil
auch städtische Randlagen betroffen. Das müssen wir
jetzt in den Blick nehmen. Drittens ist festzustellen, dass
die vorliegende umfangreiche TKG-Novelle an die am-
bitionierten Ziele der Breitbandstrategie anknüpft und
wesentliche Verbesserungen im Verbraucherschutz und
bei den Regelungen und Instrumenten einer klugen und
investitionsfreundlichen Regulierung mit sich bringt.

Die bisherigen sogenannten weißen Flecken und auch
alle Regionen, die derzeit nur über Internetanschlüsse
mit einer Geschwindigkeit im einstelligen MB-Bereich
verfügen, müssen wir schnellstmöglich in den Blick
nehmen, um hochleistungsfähige Breitbandanschlüsse
zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Stellenwert der Breitbandinfrastruktur für Bür-
ger und Wirtschaft ist bereits viel Richtiges gesagt wor-
den. Es ist auch richtig, was Frau Scheel gesagt hat,
nämlich dass im ländlichen Bereich mit Problemen ge-
kämpft wird, die ihre Ursache insbesondere in der demo-
grafischen Entwicklung haben und die nicht durch die
digitale Kluft verschärft werden dürfen. Zum Teil wird
von kleineren Gemeinden ein Aufwand in einer Größen-
ordnung betrieben – die Zahlen belaufen sich teilweise
auf fünf- oder sechsstellige Summen –, der manchen





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)

größeren Städten im Verhältnis gesehen nicht möglich
wäre. Von den Kommunen wird viel geleistet, und es
wird auch in Zukunft noch viel passieren müssen. Hier
müssen wir aber entsprechend anknüpfen. Deswegen
werden wir gerade diese Thematik in den Mittelpunkt
stellen.

Der Weg zur Erschließung des ländlichen Raumes
muss ein Mix aus allen verfügbaren Technologien sein.
Die LTE-Technik ist bereits angesprochen worden. Der-
zeit muss beim Ausbau der LTE-Technik ein Abstand
von 30 Kilometern zu unseren Nachbarländern gewahrt
werden. Ich rege an, zu prüfen, ob das auf europäischer
Ebene behoben werden kann. Dabei geht es um techni-
sche, vielleicht aber auch um rechtliche Fragen. Es sind
große Bereiche betroffen, die bisher nicht teilhaben kön-
nen.

Ich betone nochmals: Wie kein anderes Land in Eu-
ropa konnten wir in den vergangenen Jahren die Breit-
banddichte und -qualität signifikant steigern. Wie sich
der Telekommunikationsmarkt in Deutschland entwi-
ckelt, hängt wesentlich von einer umsichtigen und klu-
gen staatlichen Regulierung ab. Die Bundesnetzagentur
hat in den vergangenen Jahren sehr gute Arbeit geleistet.
Sie ist auch im internationalen Vergleich ein vorbildli-
cher Regulierer.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will den Mitarbeitern ausdrücklich Dank sagen. In
der Bundesnetzagentur wird gute Arbeit geleistet.

Wir müssen uns die Frage stellen, welche Rolle die
Regulierung in der sozialen Marktwirtschaft einnimmt.
Für die Union und die christlich-liberale Koalition steht
hierbei ein Leitsatz ganz oben: Umsichtige Regulierung
muss den Marktteilnehmern so viel Freiheit lassen wie
möglich und so viel Grenzen setzen wie nötig. Das muss
der Leitsatz für Regulierung sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen eine moderne und kluge Regulierungspoli-
tik in der sozialen Marktwirtschaft. Regulierungspolitik
sollte Ausdruck zeitgemäßer Gestaltung sozialer Markt-
wirtschaft sein. Regulieren statt Strangulieren, das muss
die Botschaft sein.

Was bedeutet das konkret? Es bedeutet die Anwen-
dung wettbewerbs- und investitionsfreundlicher Regu-
lierungsgrundsätze und eine Ausgestaltung des Verbrau-
cherschutzes auf der Höhe der Zeit. Das heißt, die
Bürger auch vor Fehlentwicklungen, die schon benannt
worden sind, vor Abzocke und Betrug zu schützen,
Wettbewerb am Markt und technische Innovationen und
technischen Fortschritt zu fördern.

Genau bei diesen Punkten setzt die Gesetzesnovelle
an. Eine ganze Vielfalt neuer Regelungen hat das Ziel,
durch Wettbewerb, Innovation, Investitionen und Inves-
titionssicherheit den Ausbau hoch leistungsfähiger Netze
zu fördern. Hierzu gehören insbesondere ein langfristi-
ges Regulierungskonzept – das bringt Investitionssicher-
heit –, die Berücksichtigung von Kooperationen und an-
deren Risikobeteiligungsmodellen bei Regulierungsent-
scheidungen, das Recht der Bundesnetzagentur, exakte
Informationen über Art, Lage und Verfügbarkeit von In-
frastruktureinrichtungen einzufordern, und – das ist
schon angesprochen worden – die ausdrückliche Einbe-
ziehung bereits vorhandener Infrastruktur auf anderen
Ebenen wie Leitungen und Masten. Das wird demnächst
ermöglicht werden.

Es ist gesagt worden, diese Vorlage sei sehr umfang-
reich. Mit Anlagen und Stellungnahmen sind es 238 Sei-
ten. Es ist natürlich eine sehr technisch geprägte Vorlage
in einer sehr technischen Sprache. Ich finde es aber
schön, dass man sich auch der Sprache gewidmet hat,
dass man beispielsweise Veränderungen bei den Begriff-
lichkeiten vornimmt. Allein im neuen § 3 des TKG sind
35 Begriffe aufgeführt, die definiert werden. Man führt
das Wort „Sprachkommunikation“ ein. Bislang war von
Echtzeitkommunikation die Rede. Auch im Kleinen sind
also Verbesserungen erzielt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sprechen also von Sprachkommunikation und nicht
mehr von Echtzeitkommunikation.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die christlich-li-
berale Koalition weiß um den Stellenwert der Telekom-
munikation im 21. Jahrhundert für die Bürgerinnen und
Bürger und für unsere mittelständisch geprägte Wirt-
schaft. Die neue TKG-Novelle wird ein wesentlicher
Baustein dafür sein, dass Deutschland auf dem Gebiet
der Telekommunikation bei Innovation und Investitio-
nen, aber auch bei Wettbewerb und Verbraucherschutz
weiterhin ganz oben steht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710809900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5707 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Engagementpolitik im Dialog mit der Bürger-
gesellschaft

– Drucksachen 17/3712, 17/5135 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen
Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1710810000

Hat nicht zuerst der Antragsteller das Wort?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710810100

Nein. Es ist sozusagen die zweite Lesung. Es ist eine

Debatte über die Antworten. Eine Debatte über die Fra-
gen hat es schon gegeben.


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1710810200

Dann soll es so sein. – Sehr geehrter Herr Präsident!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Willst du froh und glücklich leben, lass kein Ehren-
amt dir geben! Willst du nicht zu früh ins Grab,
lehne jedes Amt gleich ab!

Dieses Zitat wird in der Regel Wilhelm Busch, manch-
mal aber auch Ringelnatz zugeschrieben. Der wahre Au-
tor ist wahrscheinlich unbekannt. Aber ich habe schon oft
erlebt, dass Politikerkollegen dieses Zitat bei Grußworten
und Vereinsjubiläen gebraucht haben. Diese Aussage
stimmt für Deutschland eben nicht.

23 Millionen Menschen engagieren sich in Deutsch-
land ehrenamtlich und sehen darin eine sinnvolle Betäti-
gung. Sie wollen sich ehrenamtlich, bürgerschaftlich en-
gagieren. Wir schaffen dafür gute und sinnvolle
Rahmenbedingungen. Die Menschen, die sich engagie-
ren, sind glücklicher und zufriedener als die, die sich
nicht engagieren. Das wissen wir aus der Engagement-
forschung, insbesondere aus den Freiwilligensurveys.
Daher müsste es eigentlich heißen: Willst du froh und
glücklich leben, lass ein Ehrenamt dir geben!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Für den Bereich des bürgerschaftlichen Engagements
sei gesagt: Der Bund kann und soll nicht alles regeln.
Wir wollen das bürgerschaftliche Engagement nicht ver-
staatlichen. Das bürgerschaftliche Engagement findet
vor allem auf kommunaler Ebene statt. Darum sind auch
die Kommunen und die Länder hier stark gefordert.

Ein Teil der Fragen betrifft die sogenannte nationale
Engagementstrategie. Eine solche Strategie gab es bisher
in Deutschland nicht. Es ist gut und richtig, dass die
Bundesregierung die nationale Engagementstrategie er-
arbeitet hat. Sie enthält Prinzipien und Ziele. Grundsätze
werden formuliert und konkrete Maßnahmen aufgeführt.
Die Strategie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte: Integra-
tion, Bildung, Bewahrung der Schöpfung, demografi-
scher Wandel und internationale Zusammenarbeit. Diese
fünf Punkte bilden die großen Herausforderungen der
nächsten Jahre. Ich glaube, wir haben diese fünf Schwer-
punkte richtig gewählt. Die Ziele sind Koordinierung al-
ler Ressorts in der Engagementpolitik, ein Miteinander
der Bundesministerien, kein Nebeneinander oder sogar
– das gab es noch nie – ein Gegeneinander. Der neue
Ressortkreis „Engagementpolitik“ hat am 1. April das
erste Mal getagt.

Neue Kooperationen zur Engagementförderung, ins-
besondere mit der Wirtschaft und den Stiftungen: Das
Bundesfamilienministerium hat mit dem Bundesverband
deutscher Stiftungen eine Steuerungsgruppe für die en-
gagementfördernden Stiftungen bei der Körber-Stiftung
ins Leben gerufen.
Verbesserung der Rahmenbedingungen, Ausbau der
Anerkennungskultur: Es laufen schon die Vorbereitun-
gen zur Vergabe des deutschen Engagementpreises am
3. Dezember 2011 durch Bundesministerin Kristina
Schröder, in diesem Jahr auch mit der Sonderkategorie
„Engagement von Älteren“. Wir denken an den fünften
Altenbericht „Potenziale des Alters“ und an den sechsten
Altenbericht „Altersbilder“.

Sie sehen, die Ziele werden mit Maßnahmen und Tä-
tigkeiten unterfüttert, und es tut sich etwas. Die Strategie
ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgergesell-
schaft. Sie ist ein Beitrag zur Stärkung des Miteinanders
und zur Förderung des Zusammenhalts unserer Gesell-
schaft.

Die nationale Engagementstrategie zeigt zwei wich-
tige und positive Entwicklungen auf. Zum einen: Es en-
gagieren sich immer mehr Menschen, 23 Millionen über
16 Jahre alte Menschen in Deutschland. Das ist gut ein
Drittel. Und ein weiteres Drittel ist bereit, sich zu enga-
gieren. Aus dem Freiwilligensurvey wissen wir: Es gibt
eine Verschiebung, mehr Engagement im Bereich der
Älteren, ein etwas reduziertes Engagement im Bereich
der Jüngeren. Da spiegelt sich zum einen die demografi-
sche Entwicklung wider, zum anderen aber auch das et-
was kleinere Zeitbudget der Jüngeren. Denken wir nur
an G 8 oder an die gestrafften Studien- und Ausbildungs-
gänge.

Es bleibt festzuhalten: Die nationale Engagementstra-
tegie ist kein abgeschlossener Prozess. Da wurde am
6. Oktober letzten Jahres nicht einfach etwas vom Bun-
deskabinett beschlossen und dann zur Verehrung freige-
geben, sondern das ist ein Prozess, der stattfindet, eine
Strategie, die lebt. Deshalb wird auch im Jahr 2011 wie-
der ein nationales Forum für Engagement und Partizipa-
tion einberufen, das die Umsetzung der Strategie beglei-
ten soll. Wir werden auch weiterhin prüfen, inwieweit
Themen, die in der Engagementstrategie bisher noch
nicht berücksichtigt werden konnten, im Zuge der Um-
setzung der Engagementstrategie aufgerufen werden
können.

Ich möchte jetzt noch auf einen anderen großen Punkt
in der Großen Anfrage eingehen, nämlich auf die Frei-
willigendienste, insbesondere den Ausbau der Jugend-
freiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst.
Noch nie gab es in Deutschland so viel Geld für Freiwil-
ligendienste. 350 Millionen Euro haben wir bereitge-
stellt. Wir vom Bund haben früher mit 72 Euro pro Mo-
nat die Jugendfreiwilligendienste gefördert. Das war das
Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische
Jahr und ein bisschen mehr. Künftig werden wir das FSJ
mit 200 Euro im Monat fördern. Zusätzlich wird es
50 Euro im Monat für junge Menschen mit besonderem
Betreuungsbedarf geben. Durch das Kopplungsmodell
erreichen wir, dass sich beide, die Jugendfreiwilligen-
dienste und der Bundesfreiwilligendienst, gut entwi-
ckeln können. 350 Millionen Euro vom Bund – es gab
noch nie so viel –, 12 Millionen Euro von den Ländern
– das meiste aus Baden-Württemberg und Bayern –, und
8 Millionen Euro kommen noch aus dem Europäischen
Sozialfonds dazu.





Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt noch eine gute Nachricht zum Bundesfreiwil-
ligendienst. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bun-
desfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechtigung
führen soll. Wir waren uns alle darüber einig, dass wir
die Gesetzeslage noch dahin gehend ändern wollen. Die
Kindergeldfrage wird möglichst zeitnah in einem Steuer-
gesetz, in dem man es vielleicht nicht vermutet, nämlich
wahrscheinlich im Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungs-
gesetz, geregelt werden. Das ist ein Gesetz, in dem man
eher keine Regelung zu den Jugendfreiwilligendiensten
vermutet.

Kollege Koch, wir haben gewettet. Ich würde schon
einmal den Wein kaufen, den Sie verlieren werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir werden hier die Kindergeldregelung einbringen.
Wir schließen damit eine weitere Lücke: Bei den inter-
nationalen Jugendfreiwilligendiensten haben wir zum
Kindergeld auch eine Regelungslücke, die so nicht zu er-
klären war und zu vielen Problemen im Einzelfall ge-
führt hat. Auch diese Lücke wollen wir jetzt schließen.
Ich bin mir sicher, das bekommen wir hin, und glaube,
damit haben sich alle Vorwürfe und Kritikpunkte der
Opposition erledigt.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ute Kumpf [SPD]: So einfach geht es nicht!)


– Nein? Euch fällt immer wieder etwas Neues ein. Das
ist klar.

Ich bin auch zuversichtlich, dass wir die offenen
Plätze besetzen können: 35 000 Plätze für Jugendfreiwil-
ligendienste, 35 000 Plätze für den Bundesfreiwilligen-
dienst. Das wird sicher nicht gleich zum 1. Juli gelingen.
Auch in der Vergangenheit fingen die Jugendlichen ihren
Jugendfreiwilligendienst meist nicht zum 1. Juli an, son-
dern erst zum 1. September. Sie machen vorher erst noch
etwas Urlaub, und dann geht es los. Das ist heute schon
so, und das wird auch beim Bundesfreiwilligendienst so
sein.

Wir haben gute Erfahrungen mit der freiwilligen Ver-
längerung des Zivildienstes gemacht. Rund 30 000 junge
Männer haben ihren Zivildienst freiwillig verlängert.
Das hat sehr gut eingeschlagen. Diese Möglichkeit zur
freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes hatten Sie
als Opposition ja kritisiert, aber wir hatten hier auch in
der Koalition gewissen Überzeugungs- und Erklärungs-
bedarf. Aber das Ergebnis war sehr gut. 14 000 von die-
sen jungen Männern sind über den 1. Juli hinaus im
Dienst und werden dann von freiwillig länger Zivildienst
Leistenden zu Bundesfreiwilligendienstleistenden.

Am Montag startet die Werbekampagne des Bundes
hier in Berlin unter dem Motto „Zeit, das Richtige zu
tun – Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden“. Es
gibt Anzeigen, Plakate, ein Bus der Linie 100, der auch
hier am Haus vorbeifährt, wird beklebt, vielfältige Infor-
mationen und Werbungen werden gestartet. Allen jungen
Menschen, auch denen hier im Haus, rufe ich zu: Infor-
mieren Sie sich! Auf der Homepage www.bundesfrei-
willigendienst.de können Sie alle Informationen und al-
les, was es zu diesem neuen Dienst gibt, abfragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Super Werbeblock!)


Ich kann mir nur wünschen, dass sich viele ein Jahr ihres
Lebens Zeit nehmen, um mal etwas anderes zu tun – für
andere, aber auch für sich selber. Solch ein Freiwilligen-
dienst erfüllt und bereichert das Leben.

Sie sehen, die Engagementpolitik ist in der christlich-
liberalen Koalition gut aufgehoben und hat bei unserer
Bundesregierung einen sehr hohen Stellenwert.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710810300

Das Wort hat nun Ute Kumpf für die Fraktion der

SPD.


(Beifall bei der SPD)



Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1710810400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kol-
lege Grübel, Sie können sich vorstellen, dass uns der
Bundesfreiwilligendienst als der Schlüssel für alle Pro-
blemlösungen nicht genügt. Wir haben die Debatte zu
dem Thema bürgerschaftliches Engagement und auch
zur Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engage-
ments hier in diesem Haus auch schon mal umfassender
und breiter geführt. Alle, die hier im Haus sind – so
denke ich –, wissen, dass unsere Demokratie durch das
Engagement der Bürgerinnen und Bürger lebendig ist
und bleibt. Ich glaube, dass wir alle eine starke und le-
bendige Bürgergesellschaft wollen und dass wir wollen,
dass Menschen ihre Freiheit nutzen, sich zu organisie-
ren, ihre Meinung zu äußern, sich auch für andere einzu-
bringen, sich in Initiativen und Verbänden für das Ge-
meinwohl starkzumachen. Darum werden wir von
anderen Ländern auch beneidet.

Sie erleben ja gerade in anderen Ländern, dass sich
viele an diesem Interesse an Demokratie orientieren,
sich dafür starkmachen. Ich nenne nur das Stichwort
Nordafrika. Aber so weit will ich gar nicht gehen.

Wir wissen auch, dass bürgerschaftliches Engagement
und die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger für-
einander für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen,
den der Staat alleine gar nicht leisten kann.

Und das, was wir hier im Saal auch immer gesagt ha-
ben, auch in den Ausschussdebatten und in der Arbeit in
der Enquete-Kommission, ist, dass die lebendige Bür-
gergesellschaft staatliches Handeln kontrollieren, korri-
gieren, anspornen und ergänzen soll, aber dass bürger-
schaftliches Engagement staatliches Handeln nicht
ersetzen kann. Aus Untersuchungen weiß man ganz klar,
dort, wo der Sozialstaat seinen Pflichten nachkommt,
kann sich erst eine vitale Bürgergesellschaft entwickeln.





Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)

Wenn er das nicht tut, dann bleibt diese Bürgergesell-
schaft auf der Strecke.

Deswegen brauchen wir hier Demokraten. Eine De-
mokratie braucht Demokraten, die sich auf gelernte und
eben auch gelebte demokratische Tugenden stützen.
Deswegen heißt bürgerschaftliches Engagement mehr
als Bundesfreiwilligendienst. Bürgerschaftliches Enga-
gement bedeutet Selbsthilfegruppen und politische Parti-
zipation, das klassische Ehrenamt genauso wie das Stif-
ten und Spenden von Geld, aber natürlich auch die
Freiwilligendienste.

Die Zahlen wurden ja schon genannt: 23 Millionen
Menschen engagieren sich in über 550 000 Vereinen, es
gibt 17 000 Stiftungen – deren Zahl wächst –, es gibt Ge-
nossenschaften, Netzwerke, Wohlfahrtsverbände, Sport-
und Kulturvereine, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen
und viele andere Bereiche, die durch dieses ehrenamtli-
che Engagement reich gemacht werden.

Wir waren uns auch einig seit der Arbeit der Enquete-
Kommission, dass dieses Engagement der Bürgerinnen
und Bürger Anerkennung verdient, Wertschätzung, und
dass die Politik die Förderung und die Ermöglichung des
bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe ver-
stehen muss.

Wir alle wissen – das bekommen auch Sie in Ihren
Wahlkreisen zu hören –, dass bürgerschaftliches Engage-
ment nicht verzweckt werden darf. Es darf auch nicht als
Ausfallbürge missbraucht werden, wenn Ebbe in der
Staatskasse ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Darüber hinaus ist bürgerschaftliches Engagement nicht
zum Nulltarif zu haben. Es geht nicht darum, dass die
Leute Geld haben wollen, sondern darum, dass es ge-
setzliche wie auch politische Rahmenbedingungen für
bürgerschaftliches Engagement gibt. Die politischen
Rahmenbedingungen müssen im Dialog mit der Bürger-
gesellschaft ausgehandelt werden.

Diese Grundsätze, lieber Kollege Grübel – ich bitte
um Aufmerksamkeit; der Kollege Riegert war damals
Mitglied der Enquete-Kommission „Zur Zukunft des
bürgerschaftlichen Engagements“ –, haben wir uns in
dieser Enquete-Kommission mühevoll erarbeitet. Herr
Riegert, wie ich sehe, haben Sie das entsprechende Pa-
pier vor sich liegen – wunderbar. Wir haben sehr viele
Aufträge noch nicht abgearbeitet. Wir alle haben uns ge-
schworen, uns diese Aufträge hier noch zur Brust zu
nehmen. Den Konsens, den wir durch die Enquete-Kom-
mission, durch die Arbeit seit 2002 im Unterausschuss
„Bürgerschaftliches Engagement“ und durch viele Ge-
setze, die seit 2002 auf den Weg gebracht worden sind,
erzielt haben, setzt die Bundesregierung mit ihrer natio-
nalen Engagementstrategie aufs Spiel.

Sie haben einen schönen neuen Ordner. In diesem
Ordner gibt es einen schönen neuen Titel: Engagement-
strategie. Inhaltlich verbunden ist damit nichts. Es gibt
Listen, es gibt Projekte; aber Sie beantworten unsere
Frage danach, welches Leitbild Sie vor Augen haben,
wenn Sie bürgerschaftliches Engagement fördern wol-
len, nicht. Sie beantworten auch nicht die Frage, wie es
mit der Infrastruktur, mit Gesetzesvorhaben, wie dem
Zuwendungsrecht, sein soll. Man erfährt nicht, wie es
mit dem Freiwilligendienst, dem Freiwilligendienst-Sta-
tusgesetz und der Entbürokratisierung weitergehen soll.
Alle diese Fragen werden nicht beantwortet. Ich denke,
das ist misslich und – ich sage es einmal sehr zurückhal-
tend formuliert – ärgert die Menschen.

Die Initiative für das Nationale Forum für Engage-
ment und Partizipation wurde noch in der Großen Koali-
tion auf den Weg gebracht. Es wurde zugesichert, dass
alles im Dialog erarbeitet wird, dass die Vorschläge in
entsprechende Gesetzesvorhaben einfließen; aber Sie ha-
ben dies schlichtweg negiert. Sie haben all die Vor-
schläge, die mit viel Zeitaufwand, Energie und Fleiß zu-
sammengetragen wurden, links liegen gelassen. Damit
wird eine dialogorientierte Politik, die gemeinsam mit
der Bürgergesellschaft betrieben wird, ad absurdum ge-
führt.

Was Sie bei der nationalen Engagementstrategie au-
ßerdem außen vor lassen, ist die Beantwortung der
Frage, woher das Geld kommen soll. Auf der einen Seite
wird propagiert, dass Netzwerke und die entsprechende
Infrastruktur wichtig sind. Aber heimlich werden die
Netzwerke ausgetrocknet. Das BBE soll weniger Geld
erhalten. Projekte, die zu Zeiten von Rot-Grün auf den
Weg gebracht worden sind, sollen gekappt werden. Der
Freiwilligendienst aller Generationen, bei dem viele Er-
fahrungen gesammelt worden sind, soll durch den Bun-
desfreiwilligendienst ersetzt werden. Es bleiben Projekt-
ruinen. Viel Geld ist verschleudert worden. Daher sind
auch die Leute vor Ort nicht mehr bereit, sich in anderen
Diensten zu engagieren. Aus der Bürgergesellschaft hieß
es: Was wir jetzt erleben, ist eine gewisse Sprunghaftig-
keit. Ein Projekt jagt das nächste, immer in der Erwar-
tung von guten Effekten. Das alles ist nicht auf Dauer
angelegt. – Deswegen schwindet die Motivation, sich
weiter zu engagieren.

Kein Konzept gibt es auch bezüglich der Koordinie-
rung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, was die
Engagementstrategie angeht. Der Gesprächskreis am
1. April, auf den Sie hingewiesen haben, genügt uns
nicht. Wir wollen an dieser Stelle mehr: Wir wollen ver-
bindliche Rahmenbedingungen. Es gibt auch keine Aus-
kunft über das Zuwendungsrecht, obwohl das schon
lange gefordert wird. Fehlanzeige auch bezüglich einer
nationalen Engagementstrategie.

Es gibt keine vernünftige Konzeption, wie wir damit
umgehen, dass unsere Gesellschaft älter, bunter und da-
mit auch reicher wird. Die Älteren wollen mitreden, mit-
gestalten, mitentscheiden, vielleicht mitprotestieren. Sie
wollen nicht auf den Bundesfreiwilligendienst vertröstet
werden; vielmehr wollen sie rechtliche Rahmenbedin-
gungen für ihre Teilhabe in der Gesellschaft, vor allem
für ihre politische Teilhabe.

Demokratie ist kein Schaukelstuhl, wie der Kollege
Müntefering festgestellt hat. Er hat gesagt: Es geht nicht
nur darum, Altersbilder zu ändern, sondern auch darum,
den Älteren in der Gesellschaft gleichberechtigt einen





Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)

Platz einzuräumen. Das Gleiche gilt für die Migranten:
15,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik haben
einen Migrationshintergrund. 23 Prozent von ihnen
engagieren sich bislang. Da liegt noch viel Potenzial
brach, das wir erschließen müssen. Es fehlen aber Anga-
ben dafür, wie dieses Potenzial erschlossen werden
kann. Um sich bürgerschaftlich engagieren zu können,
muss man auch Bürgerrechte haben und braucht man
entsprechende gesetzliche Grundlagen, sei es das Wahl-
recht auf Kommunalebene oder die doppelte Staatsbür-
gerschaft. Auch hier: Fehlanzeige!

Ganz zum Schluss möchte ich noch zwei wichtige
Punkte anführen.

Uns alle muss sehr nachdenklich machen, dass die
Bertelsmann-Stiftung in der letzten Woche einen Bericht
über das Engagement von jungen Erwachsenen im Alter
von 14 bis 25 Jahren vorgelegt hat, wonach dieses Enga-
gement von ehemals 51 auf 31 Prozent dramatisch zu-
rückgegangen ist, was dem Leistungsdruck in der Schule
und der Einführung des achtjährigen Gymnasiums ge-
schuldet ist. Damit wird Engagement behindert. Genau
das Gleiche gilt für die Verschulung des Studiums,
wodurch keiner mehr in der Lage ist, sich neben dem
Studium in der Hochschule zu engagieren. Zu dieser
Entwicklung sagen Sie in der nationalen Engagement-
strategie nichts.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710810500

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1710810600

Ja, ich weiß; ich darf noch etwas reden. Ich habe den

Kollegen Sönke Rix gebeten, dass ich noch einen weite-
ren Punkt ansprechend darf, wenn ich mit der Zeit nicht
ganz auskomme.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710810700

Nein.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1710810800

Das geht zu seinen Lasten; das haben wir schon ganz

kollegial vereinbart.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710810900

Gut, das geht zu seinen Lasten.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1710811000

Ich möchte gerne noch einen Punkt ansprechen, näm-

lich den Missbrauch des Ehrenamtes.


(Eberhard Gienger [CDU/CSU]: Die zusätzliche Zeit ist schon herum! – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Drei Minuten sind schon vorbei!)


– Nein, nein; ich bin gleich fertig. – Wir selbst haben uns
im Unterausschuss ausgiebig damit beschäftigt.

Es gibt die Tendenz, dass für Tätigkeitsfelder in be-
stimmten sozialen Bereichen Stellen ausgeschrieben
werden, nämlich 400-Euro-Jobs zuzüglich der Übungs-
leiterpauschale. Wir alle kennen das Problem und warten
auf die Antwort der Bundesregierung – auch im Rahmen
der nationalen Engagementstrategie – auf die Frage, wie
sie diesen Missbrauch mit entsprechenden gesetzlichen
Maßnahmen unterbinden wird. Das bürgerschaftliche
Engagement wird dadurch nämlich diskreditiert, und es
wird nicht dafür geworben, dass sich mehr Menschen für
die Gesellschaft einbringen, wenn sie ausgenutzt werden
und wenn auf diese Weise eine sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung umgangen wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710811100

Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die Fraktion

der FDP.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Heinz Golombeck (FDP):
Rede ID: ID1710811200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-

ginnen und Kollegen! Das bürgerschaftliche Engage-
ment gewinnt gravierend an Bedeutung. Das liegt auch
an tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen wie
dem demografischen Wandel, der höheren Lebenserwar-
tung und der Integration von Migrantinnen und Migran-
ten. Durch das freiwillige Engagement jedes Einzelnen
wird daher ein immer wichtigerer Beitrag zum Zusam-
menhalt unserer Gesellschaft geleistet.

Der nationalen Engagementstrategie widmet sich die
christlich-liberale Koalition mit einer ressortübergreifen-
den Aufmerksamkeit. Wir sind dabei, die großen Ziele
dieser Strategie umzusetzen, weiterzuentwickeln und
auszubauen.

Eines der großen Ziele ist eine bessere Abstimmung
zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund.
Durch die Entwicklung neuer Gesetzesvorhaben haben
wir es geschafft, die Gestaltungsmöglichkeiten auf kom-
munaler Ebene zu verbessern.

Dabei denke ich zum Beispiel an den Gesetzentwurf
zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, wodurch der
Erwerb des sogenannten Feuerwehrführerscheins er-
leichtert werden soll. In Zukunft wird es den freiwilligen
Feuerwehren und den Rettungsdiensten ermöglicht, ihre
Nachwuchskräfte auf Einsatzfahrzeugen bis 7,5 Tonnen
selbst auszubilden und zu prüfen. Wir sichern damit ihre
Einsatzfähigkeit; denn mit dem EU-Führerschein der
Klasse B dürfen nur Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen gefahren
werden. Mit diesem Gesetzentwurf der christlich-libera-
len Regierung stärken wir das ehrenamtliche Engage-
ment der vielen jungen Menschen, die bei der Feuerwehr
und bei den Katastrophen- und Hilfsdiensten unsere Ge-
sellschaft mit ihrem freiwilligen Einsatz unterstützen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus Riegert [CDU/CSU])


Durch den Abbau von Barrieren und die Schaffung
von Freiräumen auf kommunaler Ebene steigern wir die
Möglichkeit des Einzelnen, einen Beitrag zum bürger-
schaftlichen Engagement zu leisten. Im Hinblick auf den





Heinz Golombeck


(A) (C)



(D)(B)

eingangs erwähnten demografischen Wandel und die al-
ternde Gesellschaft stehen wir vor neuen generations-
übergreifenden Herausforderungen.

Unser Ziel ist es, das aktive Altern und die Würde
dieser Menschen zu berücksichtigen. Mit dem Pro-
gramm der Bundesregierung „Alter neu denken – Alters-
bilder“ stößt die Bundesregierung eine breite Debatte zu
den Altersbildern in unserer Gesellschaft an. Langfristig
sollen dadurch Kompetenzen und Stärken älterer Men-
schen in den Vordergrund gerückt werden und Rahmen-
bedingungen für ein lebenszugewandtes Altern geschaf-
fen werden.

Mit bestehenden Infrastruktureinrichtungen wie Se-
niorenbüros insbesondere im ländlichen Raum ermögli-
chen wir den vielen älteren Menschen, die sich engagie-
ren möchten, ihre Kompetenzen einzubringen. Räume zu
schaffen, in denen sich Alt und Jung gemeinsam bürger-
schaftlich engagieren, ist ein ganz wichtiger Baustein
zur Sicherung von Teilhabe, von Zugehörigkeit und von
Integration.

Neben der Integration von Menschen mit Behinde-
rungen zielt die nationale Engagementstrategie auf einen
erhöhten Handlungsbedarf bei der Integration von Mi-
grantinnen und Migranten. 18,4 Prozent der Bevölke-
rung in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.
Um eine gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderinnen
und Zuwanderer zu ermöglichen und ein soziales Zu-
sammenleben zwischen ihnen und Einheimischen zu
stärken, fördert die Bundesregierung mit dem bundes-
weiten Integrationsprogramm verschiedene Projekte zur
sozialen und gesellschaftlichen Eingliederung.

Aus Sicht der FDP müssen die Betroffenen jedoch
auch selbst bereit sein, sich den Herausforderungen der
Integration zu stellen,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


und diese aktiv zu unterstützen; denn Selbsthilfe als eine
der bedeutendsten Engagementformen schafft Hilfe für
sich selbst und andere.

Unser Ziel ist es, das bürgerschaftliche Engagement
stärker öffentlich anzuerkennen; denn Anerkennung ist
ein ganz besonders wichtiger Ansatz in der Engagement-
politik und stärkt zudem die Integration. 2010 wurde von
der Bundesregierung erstmals eine Integrationsmedaille
für Personen mit Migrationshintergrund verliehen, die
einen vorbildhaften Beitrag für ein gutes Miteinander
geleistet haben.

Mit einer nachhaltigen Engagementpolitik schaffen
wir es, Brücken zu bauen – Brücken zwischen den Gene-
rationen und Kulturen, in der Integrationsarbeit und
europaweit.

Mich freut es besonders, dass das Jahr 2011 zum
Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit erklärt
wurde. Wir wollen dieses Jahr 2011 nutzen, um die Rah-
menbedingungen für das ehrenamtliche Engagement
weiter auszubauen und neue Ideen zu schaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710811300

Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710811400

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Werte Gäste! Wie der Präsident vorhin richtiger-
weise festgestellt hat, befassen wir uns heute nicht mit
der Anfrage, sondern mit den Antworten der Bundes-
regierung auf die darin gestellten Fragen. Die Anfrage
selbst hat von der Fragenseite her das Spektrum der
Engagementpolitik weiträumig abgedeckt. Liest man
sich dagegen die Antworten der Bundesregierung auf die
70 Fragen durch, stellt man fest, dass teilweise sehr aus-
führliche, mit Beispielen unterfütterte Antworten gege-
ben werden. Man stellt aber zugleich kopfschüttelnd
fest, dass fast alles sehr oberflächlich und letztendlich
unkonkret bleibt.

Ich muss schon sagen: Einen nachhaltigen Plan, eine
konsistente Strategie zur Stärkung und Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements haben Sie offensicht-
lich nicht.


(Ute Kumpf [SPD]: Genau!)


Sie verfahren nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr
weiterwissen, wird uns schon ein Freiwilligendienst ret-
ten. – Ein gutes Beispiel dafür ist die Antwort auf
Frage 30. Es geht um die Chancen der Teilhabe von Ge-
ringverdienenden und von Menschen mit einfachen Bil-
dungsabschlüssen am Engagement. Sie verweisen in Ih-
rer Antwort herrlich unkonkret „auf die allgemeinen
Maßnahmen der Regierungspolitik“ sowie auf verschie-
dene Freiwilligendienste.

Bürgerschaftliches Engagement ist mehr als Freiwilli-
gendienst. Befreien Sie sich endlich von dieser einseiti-
gen Blickverengung.


(Beifall bei der LINKEN – Florian Bernschneider [FDP]: Das tut doch keiner!)


Sie wollen Geringverdienende ja gar nicht aus ihrer pre-
kären Situation herausbringen.

Die Linke fordert hingegen die Einführung eines flä-
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns,


(Florian Bernschneider [FDP]: Tataa, tataa, tataa!)


der in der laufenden Wahlperiode auf 10 Euro pro
Stunde erhöht wird und Jahr für Jahr in dem Maße
wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Ich habe mich schon gefragt, wann das kommt! – Manfred Grund [CDU/CSU]: 20, 30, 50 Euro!)


– Ich hoffe, man hört Ihre Zwischenrufe.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Man liest Ihren Blödsinn!)


Damit verbunden wollen wir eine deutliche Anhe-
bung des Eckregelsatzes für Hartz-IV-Beziehende auf





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)

500 Euro sowie des Kinderregelsatzes. Mittelfristig
brauchen wir eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie
Mindestsicherung.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Sozialismus für alle!)


Was die sogenannten bildungsfernen Schichten – ein
schrecklicher Begriff für mich – anbelangt, treten wir für
eine gebührenfreie und gute Bildung für alle Kinder und
Jugendlichen ein, unabhängig vom Geldbeutel und vom
Bildungsstand der Eltern. Dies fängt an mit gebühren-
freier, ganztägiger und hochwertiger Kinderbetreuung.
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, auf
diese Weise könnten Sie tatsächlich schon frühzeitig die
aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit
das bürgerschaftliche Engagement stärken. Fangen Sie
endlich damit an! Denn Ehrenamt darf keine Frage des
Geldbeutels, der Ausbildung oder der Herkunft sein.

In der Antwort auf Frage 55 schreiben Sie, dass sich
Erwerbslose seltener bürgerschaftlich engagieren. Laut
Freiwilligensurvey 2004 sind 27 Prozent aller Erwerbs-
losen engagiert. Ich finde, das ist schon eine beachtliche
Quote. Aber ist Ihnen das Engagement dieser Menschen
überhaupt willkommen? Ich glaube nicht, wenn man be-
denkt, dass künftig – das sollte man sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen – Ehrenamtsentschädigungen wie
Erwerbseinkommen behandelt und somit auf die monat-
liche Regelleistung angerechnet werden sollen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui! – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das ist doch von uns gar nicht gemeint! Das stimmt einfach so nicht!)


Indem Sie möglichst viele Menschen in die Freiwilli-
gendienste drücken wollen, verlieren Sie zudem aus den
Augen, dass sich viele zum Beispiel in Erwerbslosenini-
tiativen engagieren. Sie müssen daher die Rahmenbedin-
gungen für bürgerschaftliches Engagement auch außer-
halb der Freiwilligendienste stärken.

Hier war schon oft von Anerkennung die Rede. Die
Anerkennungskultur muss unter anderem durch regel-
mäßige Berichterstattung in allen Medien, insbesondere
den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sowie
durch stärkere Nutzung des Internets für Information
und aktive Beteiligung gestärkt werden.


(Florian Bernschneider [FDP]: Sie wollen dem öffentlichen Rundfunk vorschreiben, was er zu senden hat! Unglaublich!)


Bürgerschaftliches Engagement muss als wichtige
Qualifikation gerade bei Einstellungen im öffentlichen
Sektor berücksichtigt werden. Flächendeckende Kompe-
tenznachweise sind deshalb nötig.

Das Antrags- und Abrechnungsverfahren für öffentli-
che Zuwendungen muss einfacher, verständlicher sowie
transparenter sein. Weiterbildung von Engagierten hat
als Bildungsurlaub zu zählen. Und es müssen kostenfreie
Qualifikations- und Fortbildungskurse angeboten wer-
den. Ein weiteres Stichwort möchte ich noch nennen,
nämlich Versicherungsschutz während der Ausübung
des Ehrenamts.
Der Linken ist insgesamt wichtig, dass bürgerschaftli-
ches Engagement nicht reguläre Arbeits- und Ausbil-
dungsplätze verdrängt und dass es nicht Bund, Länder
und Kommunen Stück für Stück von der Erfüllung ge-
sellschaftlicher Aufgaben befreit. Um aber Aufgaben der
öffentlichen Daseinsvorsorge erfüllen zu können, müs-
sen Länder und Kommunen dazu auch finanziell in die
Lage versetzt werden. Die Linke hat diesbezüglich zahl-
reiche Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Bei-
spielsweise fordern wir, dass die Gewerbesteuer zur
Gemeindewirtschaftsteuer unter Einbeziehung aller un-
ternehmerisch Tätigen weiterentwickelt und eine Vermö-
gensteuer als Millionärsteuer eingeführt wird.

Aber nicht nur die Rahmenbedingungen des bürger-
schaftlichen Engagements auch außerhalb der Freiwilli-
gendienste müssen gestärkt werden, sondern ebenso das
Wechselspiel des Engagements mit Familie und Beruf.
Hier steht die Bundesregierung völlig blank da. Gesetzli-
che Initiativen zur Vereinbarkeit von regelmäßigem
Engagement mit Familie, Schule, Ausbildung und Beruf
sowie Maßnahmen für eine engagementfreundliche Zeit-
politik, zum Beispiel bezogen auf die Arbeitszeiten,
plant die Bundesregierung nicht, wie die Antwort auf
Frage 16 zeigt. Das ist ein Armutszeugnis.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie betonen immer voller Freude, dass Engagement-
bereitschaft und Kompetenzbewusstsein der Bürgerin-
nen und Bürger gewachsen sind. Dann verkünden Sie
das doch nicht nur scheinheilig, sondern tragen dem
auch politisch Rechnung, indem Sie eine politische Kul-
tur der Beteiligung fördern! Denn die Menschen wollen
sich nicht nur im Kleinen engagieren, sondern ebenfalls
in der großen Politik und in ihrem Lebensumfeld mitbe-
stimmen. Und sie sind auch fähig dazu. Führen Sie end-
lich Volksentscheide auf Bundesebene ein!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710811500

Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710811600

Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Staatssekretär

Kues! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
„bürgerschaftliches Engagement“ ist natürlich viel um-
fassender, Herr Koch; es lässt sich nicht auf die Funktion
als Ausfallbürge für staatliche soziale Verantwortung re-
duzieren.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hat er doch gerade gesagt!)


Sehr viele Menschen engagieren sich – das sage ich als
eine, die aufgrund einer solchen Tätigkeit überhaupt erst
zu einer Partei gekommen ist – deshalb bürgerschaftlich,
weil sie, ob allein oder gemeinsam mit anderen, irgend-
etwas in ihrem Lebensumfeld verbessern oder verändern
wollen. Sie wollen möglicherweise nichts direkt mit eta-
blierten Strukturen zu tun haben. Es gibt sogar viele Ini-





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

tiativen, die bewusst auf Staatsgeld verzichten, weil sie
nicht staatsnah sein wollen, weil sie kreativ, lebendig
und engagiert in ihrem persönlichen Lebensumfeld wir-
ken wollen. Deshalb ist es viel zu kurz gegriffen, wenn
Sie in dem bestehenden Diskurs sagen, dass alles ganz
furchtbar sei, weil der Staat sich aus der sozialen Verant-
wortung zurückziehe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben dabei die vielen Menschen nicht im Blick, die
sich engagieren wollen, die etwas unternehmen wollen,
unabhängig davon, ob es dafür eine Schublade oder ei-
nen Kasten gibt. Diese Menschen mit in den Blick zu
nehmen, ist aber ganz wichtig, wenn man über bürger-
schaftliches Engagement in der Breite spricht.

Natürlich ist die Sorge nicht ganz unbegründet, dass,
wenn der Staat sich in sozialen Kernfragen aus der Ver-
antwortung zieht, bürgerschaftliches Engagement als Er-
satz für staatliche Leistung herhalten muss. Aber das ist
nur ein Teil des Diskurses. Den anderen Teil blenden Sie
aus. Das reduziert die Debatte so weit, dass sie der Sache
und dem Engagement der vielen Menschen nicht gerecht
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein zweiter Punkt. Ich finde, dass die Debatte über
das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ – auch
wenn Sie, Herr Grübel, sich bemüht haben, deutlich zu
machen, dass die Regierung hier wirklich etwas vorhat –
vonseiten der jetzigen Bundesregierung unglaublich lei-
denschaftslos begleitet wird, insbesondere vonseiten der
Ministerin und ihres Ministeriums.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


Wo sind denn die flammenden Plädoyers für bürger-
schaftliches Engagement? Wo ist die Leidenschaft in Be-
zug darauf, gemeinsam mit den Ländern, Städten und
Gemeinden darüber zu diskutieren, wie wir in dieser
Frage weiter vorankommen? Wo ist der aktuelle Bezug?
Wir haben doch genügend Gelegenheiten – massive Zu-
stimmung zu und Beteiligung an Volksentscheiden, an
Volksabstimmungen, die Vorgänge um Stuttgart 21, die
Auswahl von Begriffen wie „Wutbürger“ –, darüber zu
diskutieren, was in dieser Gesellschaft eigentlich los ist.
Warum wenden sich Menschen von der etablierten Poli-
tik ab? Warum fordern sie andere Formen der Einmi-
schung ein? Wir haben wirklich viele aktuelle Anlässe,
um vertieft darüber zu diskutieren.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Was ist Ihre Antwort darauf? Die nationale Engage-
mentstrategie! Sie haben sieben Punkte auf wie vielen
Seiten auch immer aufgeschrieben, die eigentlich nichts
Neues beinhalten, sondern seit Jahren, ob von der Gro-
ßen Koalition oder in anderen Konstellationen, in ir-
gendeiner Art und Weise durchgeführt wurden oder wer-
den und weitergeführt werden. Was ist das Besondere an
dieser nationalen Engagementstrategie? Das können we-
der Sie noch die Ministerin erklären; die Ministerin kann
auf diesem Feld ohnehin nur sehr wenig erklären.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das war jetzt aber unterste Schublade!)


– Nein, das ist so, Frau Fischbach. Ich begleite das
Thema seit fünf Jahren, und ich sage Ihnen: Die jetzige
Ministerin entwickelt bei diesem Thema keine Leiden-
schaft, und das ist auch der Grund, weshalb wir so wenig
darüber reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein weiteres Thema: der Bundesfreiwilligendienst.
Der Bundesfreiwilligendienst muss jetzt für die Behaup-
tung herhalten, dass etwas ganz Besonderes passiert.
Herr Grübel, es gibt aber ganz viele Baustellen, an denen
Sie nichts geregelt haben: Wir haben verschiedene Frei-
willigendienste, die alle unterschiedlich wirken. Wir ha-
ben immer noch kein Freiwilligenstatusgesetz; es ist
auch unklar, wann es kommen soll.

Wir haben keine Anschlussregelung – ich finde es
wirklich nicht in Ordnung, dass Sie in der Öffentlichkeit
immer wieder das Gegenteil vermitteln – für das Bun-
desprogramm „Freiwilligendienste aller Generationen“.
Wir bemühen uns seit Jahren um dieses Programm, und
zwar parteiübergreifend. Die fehlende Anschlussrege-
lung muss man kritisch ansprechen. Wir hatten da nie ei-
nen Dissens. Wir haben immer gesagt: Das ist ein inte-
ressantes Angebot, weil es einen anderen Blick auf das
Thema der älter werdenden Gesellschaft eröffnet, weil es
dem Wunsch Älterer gerecht wird, sich einzubringen,
weil es eine Antwort auf die Frage des Miteinanders der
Generationen bietet. Jetzt sagen Sie ein bisschen ver-
schwiemelt: Wir haben ja demnächst den Bundesfreiwil-
ligendienst, der für alle Generationen offen ist. – Das ist
aber etwas ganz anderes und deckt sich überhaupt nicht
mit dem Programm „Freiwilligendienste aller Generatio-
nen“, das sehr gut nachgefragt wird und viel Zuspruch
hat; das sagt nur kein Mensch.

Wir haben keine Anschlussregelung für die Freiwilli-
gendienste aller Generationen. Herr Kues, wo bleibt
denn die Anschlussregelung? Soll das alles jetzt wirklich
durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden? Das
wäre etwas substanziell völlig anderes: Beim Bundes-
freiwilligendienst könnten sich ältere Menschen am
Ende ihres Berufslebens nicht einfach vier oder fünf
Stunden in der Woche engagieren; wir reden hier von ei-
nem Dienst. Der große Unterschied liegt darin – das wis-
sen Sie –, dass man sich beim Bundesfreiwilligendienst
zu mindestens 20 Stunden Engagement, wenn nicht so-
gar noch mehr, verpflichten muss. Das ist doch etwas
ganz anderes; das geht an den Bedürfnissen vieler älterer
Menschen, die sich engagieren wollen, völlig vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Florian Bernschneider [FDP]: Es gibt doch andere Varianten!)


Dies besagt auch der Freiwilligensurvey. Es gibt viele äl-
tere Menschen, die sich engagieren wollen, aber nicht
sozusagen in einem Halbtagsjob oder mit 25 Wochen-





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

stunden und mehr, sondern für vier oder fünf Stunden in
der Woche.

Ich konnte in der kurzen Zeit nur zwei Beispiele nen-
nen. Sie machen aber deutlich: Sie produzieren hier zwar
viele Hochglanzbroschüren und viele warme Worte nach
außen, aber bewegen bei diesem Thema im Moment sehr
wenig Substanzielles und diskutieren darüber auch sehr
wenig. Wir führen nicht zusammen und fragen nicht,
was in den einzelnen Ressorts gemacht wird. Welche tol-
len Ideen oder Projekte zum bürgerschaftlichen Engage-
ment werden denn im Außenministerium, im Gesund-
heitsministerium oder im Innenministerium verfolgt?
Das Familienministerium könnte sich doch einmal da-
rum kümmern. Sie sind erst jetzt, im April, auf die Idee
gekommen, eine Arbeitsgruppe dazu einzurichten, um
zusammenzuführen, was in den unterschiedlichen Fel-
dern passiert. Ich glaube, damit werden wir dem aktuel-
len gesellschaftlichen Bedürfnis der Menschen, sich
einzubringen, sich zu engagieren und fördernde, unter-
stützende Strukturen zu nutzen, nicht gerecht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710811700

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710811800

Deshalb muss man Sie an dieser Stelle kritisieren und

Sie ermuntern, aktiver zu werden und sich nicht nur auf
die Schulter zu klopfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710811900

Das Wort hat nun Klaus Riegert für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1710812000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde

es schön, dass sich die SPD der Fleißaufgabe gestellt hat,
sich 70 Fragen zum bürgerschaftlichen Engagement aus-
zudenken.


(Ute Kumpf [SPD]: Wir haben sie erarbeitet!)


Ich finde aber auch, dass wir die Ministerien dafür loben
sollten, dass sie mit dem gleichen Engagement auf fast
50 Seiten Antworten gegeben haben.


(Caren Marks [SPD]: Hinter den Fragen steckt was! Die Antworten füllen nur Papier!)


Ich richte mich damit an die Zuschauerränge, denn hier
wurde versucht, den Eindruck zu vermitteln, die Ant-
worten seien dürftig. Das sind fast 50 Seiten Antworten
auf 70 Fragen aus vielen Bereichen. Ich denke, damit ha-
ben sich die Ministerien Anerkennung verdient.

Wenn ich daran denke, wie das Bundesverkehrsminis-
terium für den Feuerwehrführerschein gekämpft hat,
dann komme ich zu dem Schluss: Wir sollten nicht im-
mer nur meckern, sondern auch einmal sagen, dass da
gute Arbeit geleistet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die einen vermissen die Strategie und die anderen die
Leidenschaft. Sie wissen, dass unser früherer Stuttgarter
Oberbürgermeister Rommel einmal gesagt hat: Demo-
kratie ist nicht da, um Begeisterung zu organisieren. –
Ich glaube, dass das Ministerium das weite Feld in den
Blick nimmt. Man hat gemerkt, dass wir sehr stark ins
Klein-Klein gekommen sind.

Es handelt sich um ein Konsensthema, Frau Kumpf,
das sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen
eignet. 1995 haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion eine Arbeitsgruppe eingerichtet und über 60 Orga-
nisationen und Verbände angehört. Dann haben wir eine
Große Anfrage an unsere eigene Regierung gerichtet,
gegen Widerstände aus der Regierung; denn man hat es
nicht so gern, wenn die eigene Regierungskoalition eine
Große Anfrage einbringt. Am 5. Dezember 1997 führten
wir das erste Mal nach dem Krieg eine Debatte über bür-
gerschaftliches Engagement und Ehrenamt.

Daraus ist eine Enquete-Kommission erwachsen. Ich
habe mir die Unterlagen noch einmal herausgesucht. Es
lohnt sich, sie zu lesen.


(Ute Kumpf [SPD]: Ich kenne das!)


Der Bericht ist ein dicker Wälzer, der schöne Sondervo-
ten enthält, von denen man das eine oder andere durch-
aus zitieren kann, beispielsweise zur direkten Demokra-
tie. Er enthält eine wunderbare Passage:

Die direktdemokratischen Elemente haben in den
Kommunen mit zu einer „neuen Gewaltenteilung“
beigetragen und sie haben damit dem Partizipa-
tionsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger Rech-
nung getragen.


(Zuruf des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


– Auf kommunaler Ebene. – Jetzt raten Sie mal, welcher
Sachverständige ein Sondervotum abgegeben hat! Das
war Ihr Sachverständiger, nämlich Professor Dr. Roland
Roth. Er hat in einem Sondervotum ausführt:

Diese Einschätzung überzeichnet die Möglichkei-
ten von Referenda in der politischen Kultur der
Bundesrepublik Deutschland.

Ihr eigener Sachverständiger hat so Stellung bezogen.


(Ute Kumpf [SPD]: Stimmt doch! Sie kennen doch die Quoren und die Hürden!)


Dann haben wir richtigerweise einen Unterausschuss
gegründet.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Oppo-
sition und uns. Sie fordern auf der einen Seite immer:
Gesetze, Gesetze, Gesetze. Wann bringt ihr dieses Ge-
setz oder jene Verordnung?


(Ute Kumpf [SPD]: Nein!)






Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)

Auf der anderen Seite beklagen Sie Bürokratie. So funk-
tioniert das natürlich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Wir brauchen doch Gesetze, um Bürokratie abzubauen! Das wissen Sie doch auch, Kollege Riegert!)


Wir sind für einen freiheitlichen Ansatz und die Über-
nahme von Verantwortung. Wir sind gemeinsam der
Meinung, dass wir eine Anerkennungskultur entwickeln
müssen. Der Bürger muss in der Tat im Mittelpunkt ste-
hen.


(Caren Marks [SPD]: Ja!)

Aber neben den Rahmenbedingungen auf Bundes-

ebene sind auch wichtig die Länder und Kommunen,
Verbände, Vereine und Stiftungen, die Arbeitswelt, der
Bereich „Erziehung und Bildung“ und die Medien. Des-
halb glaube ich, dass wir den Kreis der Adressaten viel
weiter fassen müssen, statt immer nur zu rufen: Was
macht das Ministerium? Wo bleibt die Leidenschaft der
Ministerin?


(Mechthild Rawert [SPD]: Aber die Frage ist doch spannend!)


Schauen Sie sich die aktuellen Programme und Initia-
tiven an! Es gibt den Bundesfreiwilligendienst, die „Ak-
tion zusammen wachsen“, FSJ, FÖJ, „weltwärts“, die
Civil Academy; übrigens vom BBE gemeinsam mit der
BP AG initiiert. Sie haben den Vorwurf in den Raum ge-
stellt, man wolle die Netzwerke abwürgen.


(Ute Kumpf [SPD]: Das tun Sie doch! Die Mittel werden doch gekürzt! Das wissen Sie doch, Herr Riegert!)


Ich kann Ihnen Ihr eigenes Votum vorlesen. Sie haben
selber beschlossen:

Die Selbstorganisation der Bürgergesellschaft trägt
dem Bedürfnis nach einer nationalen Interessen-
vertretung bürgerschaftlichen Engagements ebenso
Rechnung wie dem Anliegen einer Vernetzung der
Sektoren. Sie kann nicht vom Staat initiiert werden,
sondern muss sich aus bestehenden Strukturen der
Bürgergesellschaft heraus bilden und sich selbst
ihre Form geben.

Das kann doch nicht heißen, dass wir als Bund acht
Jahre lang diese Veranstaltung finanzieren und 240 Mit-
glieder – beispielsweise die Deutsche Bank – keine
Drittmittel einbringen, um das Vorhaben entsprechend
zu unterstützen. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist,
dass das BBE Drittmittel einwirbt und auch selbst für
Mittel sorgt.

Weil sie nicht hängen geblieben sind, darf ich Ihnen
die vier strategischen Ziele der nationalen Engagement-
strategie noch einmal kurz nahebringen.

Erstens. Der Ressortkreis. Frau Haßelmann, in den
sieben Jahren, in denen Sie mitregiert haben, gab es kei-
nen Koordinationskreis. Jetzt sitzt man in den Ministe-
rien zum Thema Engagementpolitik zusammen und hat
zum ersten Mal konkrete Themen vereinbart. Man wird
auch die Arbeit in der Bund-Länder-Gruppe intensivie-
ren.
Zweitens. Neue Kooperationen. Zu nennen ist die Zu-
sammenarbeit – Markus Grübler hat es angeführt – mit
dem Bundesverband Deutscher Stiftungen und mit Un-
ternehmen. In diesem Bereich sind Förderprogramme
geplant, etwa zum sozialen Unternehmertum, und Wir-
kungsmessungen.

Drittens. Dialogforen. Im nationalen Forum, das seit
dem 1. März der Deutsche Verein betreibt, gibt es zwei
Foren zu Engagement und Integration. Im Herbst wird es
drei Foren zu Engagement und Bildung geben. Ziel ist
es, die Rahmenbedingungen zu verbessern.

Viertens. Anerkennungskultur. Zu nennen ist die Ver-
gabe des Deutschen Engagementpreises. Ich glaube, die
23 Millionen Engagierten in Deutschland haben es ver-
dient, dass wir ihnen unter dem Motto „für mich. für uns.
für alle“, das wir gemeinsam mit der Sparkasse und den
kommunalen Spitzenverbänden tragen, unseren Dank
und unsere Anerkennung zeigen, aber auch unsere wei-
tere Unterstützung zusagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710812100

Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1710812200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

setzen uns heute aufgrund der Antworten auf die An-
frage der SPD-Fraktion zur Engagementstrategie zu ei-
ner, wie ich finde, durchaus guten Zeit mit dem Thema
„bürgerschaftliches Engagement“ auseinander. Das ge-
schieht nicht irgendwie am Rande, am Donnerstagabend
zum Beispiel, oder zu irgendeiner anderen Zeit, sondern
jetzt am Donnerstagnachmittag, vielleicht mit ein wenig
mehr Öffentlichkeit. Das ist schon wieder ein Fortschritt,
den wir gemeinsam erzielt haben.

Was bedeutet eine solche Engagementstrategie? Ei-
gentlich soll das eine Politik aus einem Guss sein. Für uns
Sozialdemokraten ist der Bereich des bürgerschaftlichen
Engagements ein eigenständiges Politikfeld. Wir brau-
chen dazu ein abgestimmtes Konzept. Das scheint es in
der derzeitigen Strategie nicht zu geben. Die 50 Seiten
umfassenden Antworten – um da ein wenig von dem Lob
zurückzunehmen – sind Bestandteil dessen, was in der
Engagementstrategie schon aufgeführt worden ist. Damit
sind nicht automatisch die guten Fragen beantwortet, die
wir gestellt haben.

Die Strategie, die vonseiten der Bundesregierung vor-
gelegt wurde, ist nur eine Zusammenstellung von bereits
laufenden Projekten und Initiativen. Das wiederum ist
nicht wirklich Politik aus einem Guss.


(Beifall bei der SPD)


Was bedeutet eine Engagementstrategie noch? Es
wäre gut, wenn es hier zu besonderen Initiativen kom-
men würde, um im Bereich des bürgerschaftlichen Enga-
gements fortschrittlich zu sein. Wo aber sind diese Initia-
tiven? Neben dem Sammeln der weiteren Projekte fehlt
es an Initiative; es fehlt eine Neuerung im Bereich des





Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)

bürgerschaftlichen Engagements. Zu Zeiten der Großen
Koalition hat Peer Steinbrück als Finanzminister immer-
hin die „Hilfen für Helfer“ auf den Weg gebracht. Wir
waren in dem Bereich innovativ und haben gesagt: Die
Ehrenamtler, die dort aktiv sind, wollen wir mit unseren
Möglichkeiten und auch mit Gesetzen – Gesetze bedeu-
ten nämlich nicht immer gleich automatisch neue Büro-
kratie,


(Caren Marks [SPD]: Verlässlichkeit!)


sondern können durchaus auch eine Entlastung sein, lie-
ber Herr Riegert – unterstützen.


(Beifall bei der SPD)


Wir waren initiativ. Wo aber sind die Erneuerungen
und Initiativen der schwarz-gelben Bundesregierung?
Fehlanzeige an dieser Stelle! Sie sagen – das ist schon
mehrfach erwähnt worden –: Der große Wurf zum bür-
gerschaftlichen Engagement ist der Bundesfreiwilligen-
dienst.


(Florian Bernschneider [FDP]: Das ist doch auch was!)


Zitat aus mehreren Reden: Das ist unsere Leistung; das
ist das Größte, was in den vergangenen Jahren auf dem
Gebiet der Engagementpolitik erreicht worden ist.

Ich will Ihnen die Widersprüche dazu aufzählen. Sie
waren es, Herr Grübel, der eben gesagt hat, bürger-
schaftliches Engagement dürfe nicht verstaatlicht wer-
den.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)


Sie haben, ebenso wie Herr Riegert, deutlich gemacht:
Wir wollen keine Verstaatlichung des bürgerschaftlichen
Engagements.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)


Wieso aber dann ein staatlich organisierter Freiwilligen-
dienst, zentral organisiert vom Bundesamt für Zivil-
dienst oder demnächst Bundesamt für zivile Fragen oder
wie auch immer Sie es nennen wollen? Das ist keine Er-
neuerung und auch nicht wirklich eine Entstaatlichung
von bürgerschaftlichem Engagement.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


Sie haben eine große Chance vertan. Der Wegfall des
Zivildienstes und die Neuorganisation der Dienste boten
die Chance, einen Teil des Dienstes in anderer Form wei-
terzuführen. Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass
FSJ und FÖJ weiter ausgebaut worden wären. Sie hätten
aber auch eine Antwort auf die Frage geben müssen, wie
man bürgerschaftliches Engagement in struktureller Hin-
sicht besser unterstützen kann. Sie hingegen stellen die
Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements bei je-
der Haushaltsberatung erneut infrage. Dabei geht es nicht
nur um das Bundesnetzwerk, sondern auch um die Frei-
willigenagentur, die Mehrgenerationenhäuser und die
Freiwilligendienste aller Generationen, die schon ange-
sprochen worden sind. Immer sagen Sie: Schluss mit die-
sen Projekten! Sie finden keine Anschlussfinanzierung
und keine Anschlusslösung. Ihre Antwort lautet: Wir ha-
ben ja den Bundesfreiwilligendienst. – Dazu kann ich nur
sagen: Das ist viel zu kurz gesprungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


Sie weisen darauf hin, was die Mehrgenerationenhäu-
ser jetzt alles leisten sollen. Sie sollen quasi die Freiwil-
ligenagenturen ersetzen, die Freiwilligendienste aller
Generationen beherbergen usw. Die Frage, wie es mit
den Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll, haben
Sie aber noch nicht beantwortet.


(Florian Bernschneider [FDP]: Das stimmt doch nicht!)


Wir können aber nicht mit unfertigen Konzepten andere
unfertige Konzepte ergänzen.

Da gerade das Thema „direkte Demokratie“ ange-
sprochen worden ist und von abweichenden Voten im
Zusammenhang mit dem Kommissionsbericht die Rede
war, sage ich: Natürlich ist es fortschrittlich, wie die
Kommunen mit der Bürgerbeteiligung umgehen. Aber
es gibt dabei auch Schwierigkeiten. Es ist sehr schwer,
Mehrheiten zu organisieren. Im Raum stand nicht die
Aussage, dass das schlecht ist, sondern im Raum stand
die Forderung nach einer Ausweitung auf die Bundes-
ebene. Wir sind für die Bundesebene zuständig. Hierzu
ist von schwarz-gelber Seite aber leider nichts zu hören.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])


In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Stärken Sie die
Infrastruktur für das bürgerschaftliche Engagement!
Lassen Sie da nicht nach! Denn die Kosten, die durch ei-
nen Wegfall des bürgerschaftlichen Engagements entste-
hen würden, würden den Bundeshaushalt an anderer
Stelle deutlich stärker belasten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710812300

Das Wort hat nun Florian Bernschneider für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1710812400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Natürlich sind die Freiwilligendienste eine Form
bürgerschaftlichen Engagements. Deswegen spricht gar
nichts dagegen, auch an dieser Stelle über die Freiwilli-
gendienste zu reden. Ich glaube, es spricht auch nichts
dagegen, das bisher Erreichte herauszustellen:


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)






Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

Mit dem Freiwilligendienstkonzept der Koalition erhal-
ten so viele Menschen wie nie zuvor die Gelegenheit,
noch in diesem Jahr einen Freiwilligendienst anzutreten.
Deswegen sage ich Ihnen, bei aller Anerkennung der so-
zialdemokratischen Erfolge für die Freiwilligendienste,
ganz selbstbewusst: Selbst wenn das Freiwilligendienst-
konzept das Einzige wäre, was die Koalition geschafft
hätte, wäre das in anderthalb Jahren mehr als das, was
die SPD in elf Jahren Regierungsbeteiligung in diesem
Bereich erreicht hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie können sich darauf verlassen. Wir werden es nicht
dabei belassen. Sie sprechen zu Recht einige Fragen an,
um die wir uns bei den Freiwilligendiensten noch küm-
mern müssen. Manchmal frage ich mich aber auch, wa-
rum Sie sich diese Fragen nicht gestellt haben, als Sie in
Regierungsverantwortung standen.

Sie fordern zum Beispiel immer wieder vehement,
dass ein Freiwilligendienststatusgesetz vorgelegt wird.
Gestatten Sie mir aber diese Kritik: Wenn Sie sich auf
der einen Seite damit rühmen, das FSJ Sport, das FSJ
Kultur sowie die Dienste „weltwärts“ und „kulturweit“
eingeführt zu haben, können Sie auf der anderen Seite
nicht uns die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass
Sie es dabei versäumt haben, für einheitliche Rahmenbe-
dingungen zu sorgen.

Wir nehmen diese Herausforderung an. Wir arbeiten
an einem Freiwilligendienststatusgesetz. Viel wichtiger
ist aus meiner Sicht aber, dass wir bei allen bisherigen
Schritten den Wunsch nach einheitlichen Rahmenbedin-
gungen beachtet haben. Mit dem gleichen Taschengeld,
den gleichen pädagogischen Rahmenbedingungen und
der gleichen Anzahl an Urlaubstagen im FSJ, im FÖJ
und im Bundesfreiwilligendienst haben wir einen Teil
dazu beigetragen, dass die Rahmenbedingungen gleich
sind. Mit 200 Euro Förderung im FSJ und im FÖJ haben
wir nicht nur die Förderung heraufgesetzt, sondern erst-
mals auch eine gleiche Förderung bei FSJ und FÖJ ein-
geführt. Der Kollege Grübel hat die Angleichung beim
Kindergeld angesprochen. Das kann man uns also nicht
vorwerfen.

Trotzdem vergessen wir die Vielfalt nicht. Sie führen
in Ihrer Großen Anfrage aus, dass es darum geht, zu-
künftig mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu
bürgerschaftlichem Engagement zu bewegen. Sie sagen
auch, dass sich mehr Menschen aus einem sozial be-
nachteiligten Umfeld bürgerschaftlich engagieren sollen.

Genau das tun wir ja: zum einen mit zusätzlich
50 Euro für sozial Benachteiligte, für diejenigen, die ei-
nen besonderen pädagogischen Förderbedarf haben, und
zum anderen durch die Schaffung des neuen Einsatzbe-
reichs Integration im Bundesfreiwilligendienst.

Die Freiwilligendienste stehen auch vor der Heraus-
forderung des demografischen Wandels; mein Kollege
Golombeck hat es schon angesprochen. Unsere Gesell-
schaft wird älter, wobei die Älteren aber immer fitter
bleiben. Deswegen ist es richtig, dass wir Personen, die
älter als 27 sind, die Gelegenheit geben, sich im Bundes-
freiwilligendienst zu engagieren. Ich glaube, das ist an-
gesichts des demografischen Wandels eine wichtige Bot-
schaft.

Natürlich sind die Freiwilligendienste aller Genera-
tionen unheimlich wichtig, um zu lernen, wie es funktio-
niert. Sie waren in der Vergangenheit erfolgreich. Daher
wäre es fahrlässig, wenn wir die Erfahrungen aus den
Freiwilligendiensten aller Generationen jetzt nicht nut-
zen. Es wäre aber auch fahrlässig – es wird ja immer
wieder von Verstetigung geredet –, die Chance zu ver-
passen, die Freiwilligendienste aller Generationen, auch
wenn sie nur ein Modellprojekt sind, jetzt im Bundes-
freiwilligendienst aufgehen zu lassen.

Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt eingehen;
dieser betrifft die jungen Menschen. Auch Sie hinterfra-
gen den Zusammenhang zwischen verkürzten Lernzeiten
und der Möglichkeit von bürgerschaftlichem Engage-
ment. Natürlich bleibt einiges zu tun, um zu gewährleis-
ten, dass die Jugendlichen auch bei verkürzten Abitur-
zeiten die Gelegenheit haben, sich weiterhin sozial,
bürgerschaftlich zu engagieren. Ich sage aber auch, dass
hier der falsche Ort ist, um zum Beispiel über die Ent-
rümpelung von Lehrplänen zu sprechen.

Wir können hier aber sehr wohl darüber reden – das
zeigt die gestrige Sitzung des Familienausschusses –,
wie wir Schule und bürgerschaftliches Engagement noch
näher zusammenführen können. Die Kriegsgräberfür-
sorge hat uns gestern aufgezeigt, dass 25 000 junge
Menschen im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engage-
ments für die Kriegsgräberfürsorge tätig sind. Das funk-
tioniert aber auch nur, weil es einen engen Kontakt zwi-
schen der Kultusministerkonferenz und den Schulen gibt.
Das ist ein Bereich, in dem wir als Engagementpolitiker
auf Bundesebene noch einiges tun können. Packen wir
es an!

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1710812500

Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1710812600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die durchaus gelungene Große Anfrage der SPD
und die sehr gute Antwort der Bundesregierung haben es
eigentlich nicht verdient, dass wir hier ständig versu-
chen, aufeinander einzuschlagen.


(Ute Kumpf [SPD]: Machen wir nicht! Wir diskutieren! – Sönke Rix [SPD]: Wir diskutieren nur!)


Vielleicht kann man über dieses Thema, bei dem Kon-
sens besteht, einmal in aller Ruhe einen Gedankenaus-
tausch durchführen, statt jede Gelegenheit nutzen zu
wollen, um der Regierung völlig unhaltbare Vorwürfe zu
machen. Das ist diesem Thema unangemessen.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben in Ihrer Großen Anfrage eine Definition
von Bürgergesellschaft gegeben, die ich voll und ganz
unterschreibe. Die Bürgergesellschaft setzt sich aus vie-
len Initiativen – aus Bürgerinitiativen, aus Spontaninitia-
tiven, aus Nachbarschaftshilfe – zusammen. Wir haben
von dem Beispiel Kriegsgräberfürsorge gehört. Wir ha-
ben bereits von den Initiativen, die von der Feuerwehr
und dem THW gestartet werden, gehört. Es ist wichtig,
dass wir eine Bürgergesellschaft haben, in der viele
Menschen bereit sind, selbstlos einen Dienst für die Ge-
meinschaft zu erbringen. Das haben wir in Deutschland,
und darüber dürfen wir uns freuen.

Die Bürgergesellschaft, liebe Frau Haßelmann, ist
nicht eine Institution, in die der Staat allzu sehr eingrei-
fen sollte. Ich glaube auch nicht, dass das Ihre Meinung
ist,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil!)


aber in Ihrer Rede wurde der Anschein erweckt, als wür-
den Sie so denken. Die Bürgergesellschaft bewegt sich
vielmehr in einem freien Raum neben dem Staat, neben
der Wirtschaft und neben der Privatsphäre der Familie.
Dort handelt und agiert die Bürgergesellschaft. Ohne die
Bürgergesellschaft wäre der Staat gar nicht in der Lage,
alle seine Aufgaben zu erfüllen. Denken wir nur an den
privaten Bereich, an den Pflegedienst und daran, welche
Nachbarschaftshilfe gerade bei pflegebedürftigen Nach-
barn geleistet wird. Das ist Bürgergesellschaft, und diese
haben wir in Deutschland; das darf man einmal ganz of-
fen sagen.

Ich möchte noch etwas dazu bemerken. Es gibt den
berühmten Satz von Böckenförde: Der Staat kann nur
existieren, wenn Voraussetzungen da sind, die er aber
selbst nicht garantieren kann. – Diese Voraussetzungen
wachsen in der Bürgergesellschaft durch den Austausch
der Menschen miteinander. Hier werden Wertvorstellun-
gen und Verhaltensmuster entwickelt, nach denen die
Bürger leben und die der Staat braucht, damit er über-
haupt regieren kann. Ohne die Entwicklung von Verhal-
tensweisen wäre der Staat hilflos, er wäre ohnmächtig.
Diese Entwicklung haben wir in der Bundesrepublik
Deutschland; auch das dürfen wir klar und entschieden
sagen. Eine Eigenschaft der Bürgergesellschaft besteht
darin, dass sie von Wertvorstellungen geprägt ist, die
sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Es geht
also um die eigene Kultur. Es geht darum, dass wir in der
Bürgergesellschaft unsere eigene Kultur fortentwickeln.
Das geschieht auch im Austausch mit denen, die zu uns
gekommen sind, und zwar durch Auseinandersetzung.
Die Geschichte jedes Volkes ist geprägt vom Ringen um
die eigene Kultur. Es geht nicht ohne Auseinanderset-
zungen. Dies kann aber nicht vom Staat geleistet wer-
den. Es kann auch nicht von der Bürokratie kontrolliert
werden. Es muss vielmehr in einem freien Raum gesche-
hen, und zwar im freien Raum der Bürgergesellschaft.
Wir müssen versuchen, diesen freien Raum zu bewah-
ren.
Wir brauchen die Bürgergesellschaft – ich greife nur
einen Aspekt heraus – insbesondere im Hinblick auf die
Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger. Wenn wir unsere Kultur für die nächsten Ge-
nerationen bewahren wollen, brauchen wir die Integra-
tion. Sie alle wissen, dass Integration nicht Assimilation
bedeutet. Integration heißt also nicht, dass unsere auslän-
dischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ihre eigene Her-
kunft aufgeben sollen. Sie sollen auch ihre eigene Ge-
schichte und Kultur nicht vergessen. Integration heißt,
dass die verschiedenen Gruppierungen in einer Gesell-
schaft miteinander leben können. In einer solchen Ge-
sellschaft muss Respekt und Achtung vor der Meinung
und der Auffassung des anderen herrschen. Das gehört
zur Grundeigenschaft der Bürgerinnen und Bürger in ei-
ner freien Gesellschaft. Genauso muss sich die Bürger-
gesellschaft entwickeln.

Wir können es uns nicht leisten, uns abzuschotten.
Man muss auf die Menschen ausländischer Herkunft zu-
gehen. Gerade das wird von den Freiwilligendiensten
und in den Vereinen geleistet. Denken wir einmal an den
Sportverein: Wenn sich dort Kinder ausländischer Her-
kunft engagieren und einen Dienst leisten, dann werden
sie viel schneller ein Teil der Gesellschaft. Bürgergesell-
schaft heißt Teilhabe. Teilhabe geht aber nicht ohne En-
gagement. Engagement und Teilhabe sind die zwei Sei-
ten derselben Medaille.

Es kommt darauf an – das wurde vorhin schon gesagt –,
dass auch die Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländi-
scher Herkunft bereit sind, sich zu engagieren. Dies ge-
schieht aber nicht; das ist Tatsache. Nur etwa 23 Prozent
der Menschen mit Migrationshintergrund, die bei uns le-
ben, engagieren sich in der Bürgergesellschaft. Das ist
zu wenig. Auch der Rest muss sich engagieren. Nur so
kann ein vernünftiges Miteinander entstehen. Das ist die
große Aufgabe, die die Bürgergesellschaft zu leisten hat.
Das ist – neben vielen anderen Aufgaben auch – die
große Aufgabe Integration.

Sie haben das Thema Integration in Ihrer Großen An-
frage in einer hervorragenden Weise angesprochen. Auch
in der Antwort der Bundesregierung ist es zu finden. Ich
sehe die Integration als eine ganz wichtige Aufgabe an.
Wenn sie uns nicht gelingt – die Frau Bundeskanzlerin
sagt, es sei die Schlüsselaufgabe für unsere Gesellschaft –
und wenn wir die Menschen, die bei uns leben, nicht
zum vernünftigen Miteinander bewegen können, dann
werden wir, die Deutschen, eines Tages Fremdlinge in
unserem eigenen Land sein. Wir müssen versuchen, dies
zu vermeiden und die Bürgergesellschaft zu stärken.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710812700

Damit schließe ich die Aussprache.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Demon-
stration und Anwendung von Technologien





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

zur Abscheidung, zum Transport und zur dau-
erhaften Speicherung von Kohlendioxid

– Drucksache 17/5750 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Katrin Kunert, Wolfgang
Nešković, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Verbot der Speicherung von
Kohlendioxid in den Untergrund des Hoheits-
gebietes der Bundesrepublik Deutschland

(CO2-Speicher-Verbotsgesetz – CSpVG)


– Drucksache 17/5232 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Koeppen, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer,
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Umfassende Datenbasis für Nutzungsmöglich-
keiten des Untergrunds schaffen

– Drucksache 17/3056 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine
Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre
ich keinen Widerspruch.

Für die Bundesregierung erteile ich der Kollegin
Katherina Reiche das Wort.

Ka
Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1710812800


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
CCS, also die Abscheidung, der Transport und die dau-
erhafte Speicherung von Kohlendioxid, ist nicht nur für
Deutschland, sondern auch international von großer Be-
deutung. Länder wie China, Australien, Kanada und die
USA setzen große Hoffnungen in diese Technologie und
unternehmen dazu Forschungsanstrengungen.

CCS bedeutet, dass CO2 in Industrie- und Stromer-
zeugungsanlagen abgetrennt wird, damit es im An-
schluss in tief liegenden Gesteinsschichten sicher ge-
speichert werden kann. Dieser Technologie wird – das
habe ich gerade erwähnt – international große Bedeu-
tung beigemessen. Es geht darum, den CO2-Ausstoß ins-
gesamt, weil wir uns Klimaschutzzielen verpflichtet ha-
ben, zu mindern. Auch Deutschland hat sich verpflichtet,
den Herausforderungen des Klimawandels durch eine
drastische Reduktion der CO2-Emissionen zu begegnen.
Wir haben uns beim Klimaschutz sehr ehrgeizige Ziele
gesetzt. Wir wollen den Umfang der globalen Treibhaus-
gasemissionen bis zum Jahr 2050 halbieren. Angesichts
der hohen Pro-Kopf-Emissionen in den Industrieländern
werden die Industrieländer den größten Beitrag dazu
leisten müssen.

Die Treibhausgasemissionen sollen in Deutschland
bis zum Jahr 2050 gegenüber 1990 um 80 bis 95 Prozent
reduziert werden. Mit unserem Energiekonzept haben
wir den Fokus auf einen deutlich beschleunigten Ausbau
erneuerbarer Energien und auf die Steigerung der Ener-
gieeffizienz gesetzt. Das ist und bleibt unser Kompass,
auch bei den Entscheidungen, die jetzt anstehen. Für den
Umstieg in eine Energieversorgung, die auf erneuerba-
ren Energien basiert, brauchen wir mehr effiziente Gas-
und Kohlekraftwerke. Hierfür brauchen wir klima-
freundliche Lösungen.

CO2 entsteht nicht nur bei der Stromproduktion, son-
dern auch bei Industrieprozessen. Deshalb hat auch die
Industrie ein großes Interesse daran, über eine Technolo-
gie zu verfügen, die es erlaubt, Industrieprozesse um-
weltfreundlich und klimafreundlich zu gestalten. Dies
betrifft die Stahlerzeugung, die Zement- und Kalkindus-
trie, Raffinerien und andere Produktionszweige. Hier
sind in den vergangenen Jahren massive Anstrengungen
unternommen worden, um die Prozesse effektiver zu ge-
stalten. Gleichwohl wird hier auch weiterhin CO2 emit-
tiert werden; physikalisch und chemisch geht es gar
nicht anders. Der Reduktion von CO2-Emissionen sind
bei diesen Prozessen Grenzen gesetzt. Also braucht man
neue Technologien, die es ermöglichen, Industriepro-
zesse in Zukunft wirtschaftlich und klimafreundlich
durchzuführen.

Der WWF erklärt mit Blick auf CCS in einer Stel-
lungnahme Folgendes:

Aus heutiger Sicht benötigen wir dazu den Einsatz
von CCS-Technologien. Daher müssen wir die
CCS-Technologie schnellstmöglich auf ihre Einsatz-
fähigkeit prüfen und entscheiden, ob Emissionen in
geologischen Formationen im Untergrund gespei-
chert werden können.

Ein Blick über den Tellerrand zeigt – ich habe es ganz
zu Anfang meiner Rede gesagt –: Weltweit setzen ver-
schiedene Staaten wie China, die USA, Australien und
Indien weiterhin auf Kohle. Da wir ein Interesse an ei-
nem erfolgreichen globalen Klimaschutz haben müssen,
sollten auch wir die Option CCS weiterhin verfolgen.

Der Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafol-
genforschung, Ottmar Edenhofer, hat in einem Zeitungs-
interview ausgeführt:

Die weltweiten Kohlevorkommen sind so groß
– vor allem in China, Indien und den USA –, dass





Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche


(A) (C)



(D)(B)

ein internationales Abkommen zum Klimaschutz
wohl nur zustande kommt, wenn man eine Option
für die Kohle anbietet.

Mit Blick auf die globale Energieerzeugung ist das Pro-
blem also noch drängender. Wenn wir hierfür keine Lö-
sungen finden, werden wir die globalen Klimaschutz-
ziele nicht erreichen können.

An dieser Stelle setzt CCS an. Ich möchte ausdrück-
lich betonen: Diese Technologie ist eine Option, eine
Möglichkeit, eine Chance. Ich finde, wir sollten sie nut-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die CCS-Technologien befinden sich noch im Entwick-
lungsstadium. Sie sind im großtechnischen Maßstab
noch nicht getestet. Viele Fragen sind noch offen: Fra-
gen zur Wirtschaftlichkeit, zu Leckagen, verfügbaren
Speicherpotenzialen, anderen Nutzungsmöglichkeiten,
aber auch zu Umweltrisiken. Viele Fragen sind skepti-
scher und kritischer Natur. Wir haben darauf reagiert.

Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich im
Bereich der Speicherung strikt auf Erforschung und
Demonstration beschränkt. Die Möglichkeit, eine Spei-
cherzulassung zu beantragen, ist zeitlich und auch
mengenmäßig begrenzt. Selbst wenn man für die De-
monstrationsspeicher eine Betriebsdauer von 40 Jahren
unterstellt, würden dadurch nur 2,5 bis 5 Prozent der ge-
genwärtig bekannten Speicherpotenziale in Anspruch
genommen werden.

Bereits für die Erprobung sind höchste Umwelt- und
Sicherheitsstandards vorgesehen. Ein Speicher kann un-
ter anderem nur dann zugelassen und betrieben werden,
wenn die Langzeitsicherheit gewährleistet ist. Ebenso
muss Vorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und
Technik getroffen werden. Bei allen wichtigen Schritten
ist eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung durchzu-
führen. Auch die Belange der Oberflächeneigentümer
und andere Nutzungsmöglichkeiten des Untergrunds
werden weitestgehend geschützt.

Die Länder erhalten auf ausdrücklichen Wunsch
wirksame Mitspracherechte. Sie können Gebiete festle-
gen, in denen die Speicherung zulässig ist, oder auch Ge-
biete, in denen die Speicherung nicht zulässig ist. Ich
meine, dass diese Regelung den Befürwortern und den
Skeptikern von CCS gerecht wird. Gegen den begründe-
ten Willen eines Landes ist die Speicherung dort nicht
möglich. Die Gebietsauswahl ist anhand von fachlichen
und gerichtlich nachprüfbaren Kriterien zu begründen.

Außerdem gilt das CCS-Gesetz in allen Bundeslän-
dern unmittelbar. Das Märchen einer Lex Brandenburg
bleibt auch bei mehrfacher Wiederholung ein Märchen.
Kein Land muss nochmals gesetzgeberisch tätig werden,
um in die Demonstration einzusteigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir können unserer weltweiten Vorbildfunktion im
Klimaschutz gerecht werden. Eine zuverlässige CCS-
Technologie „Made in Germany“ kann helfen, die natio-
nalen und globalen Klimaschutzziele zu erreichen und
auf dem Schlüsselmarkt der Zukunft eine führende Rolle
zu spielen. Ich möchte gerne um Ihre Unterstützung da-
für werben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710812900

Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPD-

Fraktion.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1710813000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ja, wir führen heute eine Debatte mit dem Ziel, eine
EU-Richtlinie umzusetzen. Wir haben auf EU-Ebene ge-
wisse Vorgaben zum Thema CCS bekommen. Die Mit-
gliedstaaten sind aufgefordert, national zu entscheiden,
wie sie mit dem Thema umgehen wollen.

In der Tat kann man manche Ihrer Argumente aufgrei-
fen. Ich will gleich auf einige eingehen. Zunächst will
ich inhaltliche Punkte ansprechen, die für die SPD-Frak-
tion beim Thema CCS von besonderer Bedeutung sind.

Anders als Sie es dargestellt haben, Frau Staatssekre-
tärin, sind wir nicht der Auffassung, dass das Thema
CCS zu einem entscheidenden Bestandteil einer Klima-
schutzstrategie werden sollte. Wir sind der Auffassung,
dass wir alle bereits vorhandenen Instrumente nutzen
müssen, um darauf unsere Klimaschutzstrategie aufzu-
bauen. Das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 um
40 Prozent zu senken, muss in jedem Fall ohne CCS er-
reicht werden, weil diese Technologie zurzeit nicht ein-
geplant werden kann. Deshalb soll sich an diesem As-
pekt alles Weitere orientieren.

Ich kann zu durchaus unterschiedlichen Bewertungen
kommen, inwiefern CCS möglicherweise an welchen
Stellen gebraucht wird. Sie haben recht: Es gibt durch-
aus auch Ökoverbände – Sie haben einen genannt; ich
will das Öko-Institut nennen –, die es für möglich halten,
dass wir die Minderungsbeiträge, die wir im Laufe der
nächsten 40 Jahre leisten müssen, nicht mit anderen In-
strumenten erreichen und daher CCS insbesondere für
industrielle Prozesse brauchen. Ich kann das heute nicht
ausschließen. Wir wissen das nicht.

Von daher gilt: Ja, es ist richtig, in Forschung, Ent-
wicklung und auch in einige Demonstrationsprojekte
einzusteigen. Für uns hat aber der Forschungsaspekt
Priorität. Ein wesentlicher Forschungsbereich sollte sich
dabei der Frage widmen, wie man das abgeschiedene
CO2 wiederverwenden kann. Nicht die Verpressung und
Speicherung, sondern die Wiederverwendung muss klar
im Mittelpunkt stehen.


(Beifall bei der SPD)


Ich glaube, dass dieser Punkt von enormer Bedeutung
für die künftige Akzeptanz des Verfahrens sein wird.

Entscheidend ist für uns aber auch, dass die gesetzli-
chen Regelungen eindeutig erkennen lassen, dass die
vorgesehenen CCS-Projekte nur Demonstrationszwe-
cken dienen. In dieser Hinsicht habe ich bei dem vorlie-
genden Gesetzentwurf Zweifel. Sie schreiben zwar





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

gleich am Anfang, dass es sich erst einmal nur um De-
monstrationsprojekte handeln soll. Das gesamte Gesetz
ist aber so angelegt, dass klar zu erkennen ist, dass Sie
hier schon Regelungen treffen, die über Demonstrations-
projekte hinausgehen. Ich sage Ihnen ganz klar: Dafür
werden Sie die Zustimmung der SPD-Bundestagsfrak-
tion nicht erhalten.


(Beifall bei der SPD)


Ich will noch ein paar grundsätzliche Punkte anspre-
chen, über die wir schon zur Zeit der Großen Koalition
diskutiert haben. Schon damals gab es unterschiedliche
Auffassungen über die zu schaffenden Rahmenbedin-
gungen und Grundlagen. Es müssen höchstmögliche An-
forderungen an Sicherheits- und Umweltstandards
gestellt werden. Wir wollen Transparenz und Bürgerbe-
teiligung in den anstehenden Verfahren ebenso wie klare
haftungsrechtliche Regelungen und klare Regelungen
bezüglich der Nachsorgebeträge.

Ich könnte jetzt viele Punkte nennen, möchte aber nur
zwei herausgreifen. Wir teilen die Bedenken einiger
Bundesländer – insbesondere des Landes Brandenburg –,
die der Meinung sind, dass die vorgesehenen Haftungs-
regelungen und Versorgungsregelungen nicht ausrei-
chen, dass das alles zu unkonkret ist und dass man vieles
in rechtlicher Hinsicht offenlässt. Nach unserer Auffas-
sung ist die vorgesehene Sicherheitsleistung in Höhe von
3 Prozent deutlich zu gering. Sie sehen die Möglichkeit
vor, nach 30 Jahren die Verantwortung des Betreibers für
die Speicherstätten auf das Land zu übertragen. Diese
Zeitspanne ist deutlich zu kurz bemessen. Hier muss es
eine andere Regelung geben.


(Beifall bei der SPD)


Der Hauptkritikpunkt betrifft allerdings eine Rege-
lung, die in dieser Form neu ist. Das ist die sogenannte
Länderklausel. Das hört sich zunächst nach einem Mei-
lenstein des Föderalismus an. Die Länder dürfen nach
gewissen Abwägungen alleine entscheiden, ob sie CCS-
Speicher auf ihrer Landesfläche zulassen oder nicht. Für
mich ist das kein Akt besonderer Föderalismusfreund-
lichkeit. Vielmehr dokumentieren Sie im Endeffekt hier
Ihre eigene Handlungsunfähigkeit in Berlin. Sie sind
nicht in der Lage, eine klare Regelung herbeizuführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das hat unterschiedliche Auswirkungen. Auf der ei-
nen Seite haben potenzielle Investoren keinerlei verläss-
liche Planungsgrundlagen. Auf der anderen Seite schie-
ben Sie den Ländern quasi den Schwarzen Peter zu. Frau
Reiche, der Bund findet CCS wichtig und gut, traut sich
aber nicht, die rechtlichen Grundlagen für entsprechende
Speicher zu schaffen. Das sollen die Länder entscheiden.
Sie dürfen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten,
zum Beispiel unter touristischen, abwägen. Ich erwarte
aber, dass eine Bundesregierung, die CCS für geeignet
hält und für die diese Technologie ein wichtiger Be-
standteil der Klimaschutzstrategie ist, sagt, wo gespei-
chert werden soll. Schieben Sie diese Entscheidung nicht
auf die Bundesländer ab!

(Beifall bei der SPD)


Was werden die Länder jetzt machen? Das ist ansatz-
weise schon zu erkennen. Die Länder müssen jetzt eine
Regelung schaffen. Die entsprechenden Entscheidungen
werden je nach wahltaktischen und anderen Überlegun-
gen unterschiedlich ausfallen. Entscheidend ist aber die
Frage, nach welchen rechtlichen Kriterien entschieden
werden soll. Die Landesregierungen müssen nach einer
Güterabwägung individuell entscheiden. Wir wissen,
wie das im Endeffekt ausgeht. Über jeden Antrag und je-
des Verfahren wird gerichtlich entschieden werden.

Kritik kommt aber nicht nur aus den Reihen der Op-
position, sondern auch aus Bundesländern, die von Mi-
nisterpräsidenten der Union regiert werden. Daher sage
ich ganz klar: An dieser Stelle müssen Sie jetzt hier in
Berlin Farbe bekennen. Wenn Sie CCS wollen, dann
müssen Sie der Speicherung nach bestimmten Kriterien
Vorrang einräumen. Wenn Sie CCS nicht wollen, dann
könnten Sie Projekten im Bereich der erneuerbaren
Energien, zum Beispiel der Geothermie, Vorrang einräu-
men. Sie müssen auf jeden Fall klar sagen, welche Pro-
jekte Vorrang haben, damit die Länder wissen, wie sie in
Zukunft mit möglichen Speicherstätten vor Ort umgehen
sollen. Aber in seiner jetzigen Fassung können wir dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen.

Ich will noch eine andere Sache ansprechen, die – wie
ich glaube – immer wieder benutzt wird, um die Diskus-
sion in Deutschland in eine ganz bestimmte Richtung zu
lenken. Mittlerweile sagen selbst Energiekonzerne, CCS
für energetische Prozesse werde es in Deutschland wahr-
scheinlich nicht geben. Nach meiner ganz persönlichen
Einschätzung werden wir sie auch nicht brauchen, weil
die fossilen Kraftwerke im Rahmen unserer energiepoli-
tischen Strategie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts vom
Netz genommen sein werden. Einige sagen, möglicher-
weise kann Biomethan noch eine Rolle spielen; aber das
muss man sehen.

Entscheidend aber ist die Frage, was in den Ländern
passiert – Sie haben vorhin einige genannt: Indien und
China –, die zurzeit in hoher Zahl zusätzliche Kohle-
kraftwerke bauen. Wir wissen alle, dass sie beim Klima-
schutz enorme Probleme haben werden. Muss man daher
nicht auch Möglichkeiten schaffen, dass sie in die Lage
versetzt werden, CCS einzusetzen? Ich bin insofern bei
Ihnen, als ich der Meinung bin: Wir müssen da helfen,
damit die Energieversorgung in diesen Staaten CO2-är-
mer wird. Das heißt für mich aber, dass wir nicht nur
Technologien erforschen müssen, die vielleicht in
15 Jahren einsetzbar sind, um dann Fehler beispiels-
weise beim Bau von Kohlekraftwerken sozusagen wie-
der einzufangen, sondern dass wir jetzt Technologien
liefern müssen, die schon heute CO2-frei sind. Auf die-
sem Gebiet haben wir schon enorme Erfolge. Das sollte
doch die Strategie unserer Energieaußenpolitik sein.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710813100

Herr Börnsen hat das Bedürfnis, Ihnen eine Zwi-

schenfrage zu stellen.






(A) (C)



(D)(B)


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1710813200

Ja, bitte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710813300

Bitte schön.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1710813400

Herr Kollege, Ihre Ausführungen verunsichern mich

ein wenig.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1710813500

Das tut mir leid.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1710813600

Das können Sie nachher abstellen.

Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir – wie auch
im Entwurf der Bundesregierung vorgesehen – die Wie-
derverwendung von CO2 verfolgen sollten. Der dama-
lige Umweltminister Sigmar Gabriel hat sich vor zwei
Jahren an dieser Stelle mit Vehemenz für CCS einge-
setzt.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ministerpräsident Carstensen aber nicht!)


Ich frage mich, wie es bei Ihnen zu dieser Richtungsän-
derung kommt, zumal die Bundesregierung nicht mehr
eine Gesamtlösung favorisiert, sondern nur noch ein De-
monstrationsprojekt realisieren will, damit wir unter den
Gesichtspunkten der Gefahrenproblematik und der Wirt-
schaftlichkeit eine Lösung finden können. Wie kommt es
also, dass Sie jetzt drei Schritte zurückgehen und gar
nicht mehr für CCS eintreten?

Da meine Kollegin von den Grünen mich gerade da-
ran erinnert hat, dass sich hierzu der Ministerpräsident
von Schleswig-Holstein derart geäußert hat, das sei mit
ihm nicht zu machen, muss ich bemerken: Es war der da-
malige Umweltminister, der gesagt hat: Gut, dann ste-
cken wir diesen Entwurf wieder in die Kiste und machen
etwas Neues; dann müssen aber auch die Länder Vor-
schläge machen.

Die Länder haben Vorschläge gemacht. Sie haben
querbeet, A- wie B-Länder, gesagt: Wir möchten gern
beteiligt werden, weil das ein Bürgerrecht ist. – Jetzt ha-
ben wir diese Beteiligung. Stimmen Sie mit mir darin
überein?


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1710813700

Das war jetzt eine Reihe von Fragen. Ich möchte mit

der ersten Frage anfangen.

Ich möchte klarstellen, dass ich nicht gesagt habe, ich
sei gegen CCS. Ich habe deutlich gemacht, dass ich bei
industriellen Prozessen sehr wohl eine große Notwen-
digkeit für den Einsatz sehe, dass ich aber die Erforder-
lichkeit für den energetischen Bereich anzweifle. Trotz-
dem müssen wir alles tun, um die Technologie zu
erforschen – mit einem Schwerpunkt auf Wiederverwer-
tung und nicht auf Verpressung. Das noch einmal zur
Klarstellung meiner Position.
Was Sigmar Gabriel angeht: Herr Börnsen, Sie sind ja
auch schon ein alter Hase, wenn ich das einmal so sagen
darf. Sie wissen, wie das in der Großen Koalition gelau-
fen ist. Es gab die Vereinbarung, gemeinsam ein CCS-
Gesetz zu verabschieden. Dieses Vorhaben entstand
nicht im luftleeren Raum; ich habe eben auch schon die
europäischen Vorgaben angesprochen. Dann gab es Ver-
handlungen zwischen der Union und der Bundestags-
fraktion der SPD. Ich nenne Ihnen nur einige Punkte, die
wir jetzt wiederfinden. Das ist zum Beispiel die Frage
der Haftungsbeschränkung oder die Frage, nach wie vie-
len Jahren die Verantwortung übergeben werden kann.

Wir haben damals auch im Interesse der öffentlichen
Haushalte versucht, die Situation zu verbessern und die
Verpflichtungen der Speicherbetreiber heraufzusetzen.
Das alles hat Ihre Fraktion verhindert. Es ist ja nicht so,
dass sich damals Sigmar Gabriel hier hingestellt und ge-
sagt hat: Ich bin Umweltminister und mache das so, wie
ich es mir vorstelle. – Hätte er all das machen können,
was er gewollt hätte, hätten wir in den vier Jahren der
Großen Koalition noch mehr erreicht. Sie haben an vie-
len Stellen gebremst.

Der entscheidende Punkt ist aber – auch das gehört
zur Ehrlichkeit dazu –: Herr Kauder und Herr Großmann
haben ein halbes Jahr vor der Wahl gesagt: Die Pläne
zum Thema CCS lassen wir jetzt ganz fallen. – Denn
Herr Großmann hatte damals die Vorstellung, dass eine
mögliche neue Koalition nicht nur ein Gesetz für die
Laufzeitverlängerung, sondern auch ein Gesetz für CCS
verabschiedet, welche seinen Vorstellungen entsprechen.
Das war damals so. – So viel zur Erläuterung dessen,
was in der Großen Koalition abgelaufen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle
abschließend ganz klar: Ich will nicht, dass man nun aus
der zu befürchtenden Sorge einiger Menschen in diesem
Land, was die Verpressung von CO2 angeht, die man ja
sachlich diskutieren kann und diskutieren muss, das
Thema CCS komplett diskreditiert. Aber es gibt gewisse
Rahmensetzungen – ich habe einige für die SPD-Frak-
tion genannt –, die für uns ganz entscheidend sind, um
dann einem solchen Gesetzentwurf auch zustimmen zu
können.

Zum Thema Länderklausel – Entschuldigung, ich
habe das eben nicht beantwortet; ich wollte der Frage
nicht aus dem Weg gehen –: Ja, wir sind für die Beteili-
gung der Länder, ja, wir sind dafür, dass man die Länder
anhört, ja, wir sind dafür, dass man auch die Meinung
der Länder einfließen lässt. Wir sind aber auch dafür,
dass man dann ein Bundesgesetz schafft, das der Ab-
sichtserklärung der Bundesregierung entspricht, indem
man sagt: Wir wollen CCS, und es wird nach den von
uns festgelegten Kriterien umgesetzt. – Jetzt wird es in
die Beliebigkeit der Länder gestellt, die je nach Wahl-
termin und parteitaktischen Dingen sagen: „Jetzt wollen
wir es mal gerade nicht“, und nach der Wahl wollen sie
es wieder. So kann es nicht funktionieren.





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

Ich bitte Sie einfach, gerade auch bei diesem Punkt
nachzusteuern und Ihrer Verantwortung als Bundesregie-
rung nachzukommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710813800

Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1710813900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

Thema CCS, CO2-Abscheidung und -einlagerung, ist ein
Thema, bei dem ich mir immer wieder die Frage stelle:
Wie machen wir eigentlich Politik? Da sieht man die
Notwendigkeit, dass wir ein Gesetz bekommen, zum ei-
nen, weil die Europäische Union eine Richtlinie geschaf-
fen hat, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind,
CO2-Abscheidung und -einlagerung auf ihrem Territo-
rium zu ermöglichen.


(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Stimmt doch gar nicht!)


Zum anderen besteht die objektive Notwendigkeit, diese
Technologie zumindest zu erproben, um zu schauen, ob
wir sie in unserem Land einführen können.

Wir wissen auch, dass es Widerstände gibt, insbeson-
dere in den betroffenen Regionen. Heraus kommen dann
diese üblichen Politikerreden: „Ja, wir sind für CCS,
aber vielleicht doch nicht ganz so“, und man steht vor
der Frage: Wie komme ich aus dieser Nummer wieder
heraus?

Meine Damen und Herren, wir als Abgeordnete haben
die Verpflichtung, Dinge, die wir für richtig halten, auch
als richtig zu bezeichnen. Wenn sich Herr Becker hier
hinstellt und sagt: „Bis 2020 brauchen wir die CO2-Ab-
scheidung nicht für unsere Klimaschutzstrategie, weil
das alles bis 2020 noch gar nicht im Einsatz ist“, dann
sage ich: Das, Herr Becker, hat auch niemand behauptet.
Aber die Klimaschutzstrategie in Deutschland sieht eine
CO2-Einsparung von 80 bis 95 Prozent bis 2050 vor.


(Dirk Becker [SPD]: D’accord!)


Das bedeutet, eine Einsparung von 95 Prozent nicht nur
bei den energiebedingten Emissionen, sondern auch bei
den industriellen


(Dirk Becker [SPD]: Das habe ich doch gesagt!)


und in den Sektoren wie Verkehr und Landwirtschaft.
Wer glaubt, 95 Prozent wären einzusparen, ohne dass
auch bei den industriellen Emissionen angesetzt wird,
die zum Teil prozessbedingt sind – das heißt, Sie können
Aluminium nicht ohne diese Emissionen produzieren –,
und sich dann hier hinstellt und sagt: „Wir brauchen das
nicht für eine Klimaschutzstrategie“, der hat die Heraus-
forderungen für 2050 nicht verstanden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk Becker [SPD]: Ich habe das ausdrücklich gesagt!)

Entweder nimmt man das 95-Prozent-Ziel nicht ernst,
entweder will man die CO2-Abscheidung nicht, oder
man nimmt billigend in Kauf, dass sich diese Industrien
irgendwann aus Deutschland verabschieden. Das kann
man ja wollen; aber wer glaubt, die Aluminiumindustrie
verabschiedet sich und die Automobilindustrie bleibt
hier, der hat die Produktionszusammenhänge in diesen
Industrien nicht verstanden. Wenn wir die energieinten-
siven Unternehmen aus dem Land jagen, dann werden
wir auch andere wichtige Industrien verlieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat mit CCS gar nichts zu tun, Herr Kauch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710814000

Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Becker zulassen?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1710814100

Nein, vielen Dank.

Meine Damen und Herren, CO2-Abscheidung und -Ein-
lagerung in die Erde ist in erster Linie nichts, was zum
Thema Kohleverstromung gehört, auch wenn es oft an-
ders dargestellt wird. Das Ganze ist eine Frage der Si-
cherung unserer industriellen Kerne mit Blick auf die
Mitte unseres Jahrhunderts. Deswegen müssen wir diese
Technologien entwickeln und erproben, und es darf nicht
so weit kommen, dass wir sie irgendwann aus dem Aus-
land werden importieren müssen. Noch sind wir führend
bei diesen Technologien, und wir sollten diesen Vor-
sprung nicht verspielen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage im Hinblick auf die Bundesregierung ganz
kritisch: Es gibt noch keine einheitliche Haltung in den
Koalitionsfraktionen zu der sogenannten Länderklausel.
Die Frontlinien verlaufen nicht so sehr zwischen Par-
teien, sondern zwischen Regionen. Ich muss sagen: Ich
halte es für äußerst kritisch, dass sich Bundesländer
komplett aus ihrer bundespolitischen Solidarität verab-
schieden können. Wenn wir die Logik der Länderklausel
auf andere Themen übertragen, dann stellen wir fest,
dass sich Länder demnächst auch aus dem Ausbau von
Stromnetzen, aus der nuklearen Endlagerung


(Marco Bülow [SPD]: Das machen sie doch schon! – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Bayern macht es!)


und Ähnlichem verabschieden können. Es gibt nun ein-
mal bundespolitische Aufgaben, die nur in bestimmten
Regionen gelöst werden können. So wie diese Länder in
einigen Fragen zu Recht die Solidarität des Bundes ein-
fordern, so erwarte ich auch, dass sie die Verpflichtung
zur Solidarität mit der Bundespolitik ernst nehmen,
wenn sie selbst gefordert sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710814200

Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Becker.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1710814300

Herr Kauch, ich habe nur eine Bitte – man kann in-

haltlich anderer Auffassung sein –: Nehmen Sie zumin-
dest zur Kenntnis, dass ich zwischen der Stromproduk-
tion der Energiewirtschaft und der industriellen
Produktion ganz bewusst getrennt habe. Ich habe aus-
drücklich gesagt, dass CCS nach den vorliegenden Stel-
lungnahmen, beispielsweise nach der des Öko-Instituts,
im Rahmen der Strategie bis 2050 erforderlich werden
könnte. Aus diesem Grund sollte man es gerade für in-
dustrielle Prozesse erforschen. Das habe ich mehrfach
betont. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.

Noch eine Frage. Sie haben hier deutlich gemacht,
dass man gewisse Sachen nun zur Kenntnis nehmen
muss. Ist davon auszugehen, dass Sie auch in parteiinter-
nen Prozessen beispielsweise Herrn Sander aus Nieder-
sachsen von Ihren Positionen überzeugen? Bisher tritt er
öffentlich durchaus kritisch auf. In diesem Zusammen-
hang wird auch Herr Kubicki genannt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710814400

Herr Kauch, Sie möchten reagieren. Bitte schön.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1710814500

Herr Kollege, ich nehme sehr wohl zur Kenntnis, dass

Sie erwähnt haben, dass dies auch ein Thema für den Be-
reich der industriellen Prozesse ist. Ich wünsche mir,
dass auch die Sozialdemokraten – das gilt gerade für Sie,
der Sie aus Nordrhein-Westfalen kommen, wo es indus-
trielle Kerne gibt – für diese Technologie kämpfen und
nicht nur Seminare dazu halten, wofür sie gut oder auch
schlecht sein könnte. Das ist mein Punkt: Man muss für
die Dinge, die man für richtig hält, auch einmal kämp-
fen.

Ein Zweites. Natürlich gibt es unterschiedliche Auf-
fassungen – in der Union, in der FDP und im Zweifel
auch in Ihrer Partei, zumindest auf regionaler Ebene.
Wir werden auf unserem Bundesparteitag am Wochen-
ende genau diese Frage zur Abstimmung stellen. Es gibt
einen Leitantrag, in dem das Thema CO2-Abscheidung
alternativ dargestellt wird: Entweder man entscheidet
sich für eine Länderklausel oder für den Ausschluss be-
stimmter Gebiete aus fachlichen Gründen, aber nicht des
gesamten Landesgebietes. Das muss zur Abstimmung
gestellt werden. Man muss schauen, wie die Mehrheiten
sind. Ich werde mich auf dem Parteitag mit den Partei-
freunden auseinandersetzen, die anderer Auffassung
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710814600

Jetzt hat die Kollegin Bulling-Schröter das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710814700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ihnen liegen heute zwei Gesetzentwürfe vor: einer, in
dem Regeln für die geplante Abscheidung und unterirdi-
sche Verpressung von Kohlendioxid aufgestellt werden,
und ein zweiter, in dem eine solche Verpressung verbo-
ten wird. Die Linksfraktion hat den zweiten eingebracht.
Wir sind nämlich der Meinung, dass CCS eine Sack-
gasse ist; diese Technologie ist ein gefährlicher und teu-
rer Irrweg.


(Beifall bei der LINKEN)


CCS wird, wenn überhaupt, frühestens 2030 groß-
technisch verfügbar sein. Dann aber werden die erneuer-
baren Energien schon deutlich billiger sein als eine fos-
sile Stromerzeugung mit CCS. Da dies so ist, müsste
CCS gegenüber regenerativen Energien schon jetzt mas-
sive Vorteile haben; denn sonst könnten wir es ja gleich
bleiben lassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hat CCS also solche Vorteile, etwa bei der Sicherheit?
Wohl kaum!

Schauen wir uns allein das Drama um die Asse an.
Die abenteuerlichen Fehleinschätzungen von Wissen-
schaftlern und Unwahrheiten der Politiker verschlagen
einem hier förmlich den Atem. Mit den strahlenden Erb-
lasten dessen, was angeblich Hunderttausende von Jah-
ren sicher sein sollte, werden sich noch Generationen he-
rumschlagen.

Milliarden Tonnen von CO2 sollen ewig sicher sein
und in der Erde bleiben. Wem, bitte schön, wollen Sie
diesen Unsinn erzählen? Das glaubt einfach niemand.
Wie sich Klüfte und Störungen tief in der Erde exakt ver-
halten, wenn aggressive Gase unter hohem Druck ver-
presst werden, kann ernsthaft niemand sicher voraussa-
gen.

In Schleswig-Holstein sickern aufgrund natürlicher
Prozesse schon jetzt extrem salzhaltige Wässer nach
oben. Etwa ein Drittel der Trinkwasserreservoire sind
deshalb nicht mehr nutzbar. Was ist, wenn der hohe
CCS-Verpressungsdruck diese Salzpampe auch in ande-
ren Gegenden irgendwann nach oben drückt? Das Süß-
wasser wäre dann für riesige Gebiete unwiederbringlich
unnutzbar. Überdies: Kohlendioxid ist zwar nicht giftig
wie Kohlenmonoxid, wenn man aber bei Unfällen daran
erstickt, weil es die Luft verdrängt, dann nützt das herz-
lich wenig.

Dass die Erneuerbaren all diese Risiken nicht haben,
ist klar. Bei Sonne und Wind haben wir auch keine Res-
sourcenprobleme. Setzen wir dagegen weiter in großem
Umfang auf Kohle, so machen wir uns – insbesondere
bei der Steinkohle – abhängig von bedenklichen Impor-
ten. Im Zusammenhang mit der Braunkohle zerstören
wir mit Landschaft und Siedlungen nicht nur unsere Hei-
mat, sondern auch den Wasserhaushalt.

CCS wirkt dabei wie ein Turbogenerator. Wegen der
miesen Effizienz der Technik brauchen wir je Kilowatt-
stunde ein Drittel mehr Brennstoff. Dazu habe ich von
Ihnen noch nichts gehört.





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Macht CCS wenigstens Sinn, weil die Großkraft-
werke länger Grundlaststrom liefern können? Das ist ge-
nauso Unfug; denn die schwankende Einspeisung von
erneuerbaren Energien muss in ein flexibles System von
Erzeugung, Verbrauch und Speicherung eingebettet sein.
2030 wird sicher noch Platz für schnelle Gaskraftwerke
sein – heute Vormittag wurde darüber diskutiert –, nicht
aber für eine Armada von trägen Kohlekraftwerken mit
angeschlossenem Chemiewerk zur CO2-Reinigung.


(Beifall bei der LINKEN)


Bliebe noch die Mär von CCS als Hilfsbringer für
kaum vermeidbare Prozessemissionen in der Industrie,
etwa für Stahlwerke oder Zementfabriken. Das ist ja das
Totschlagargument gegen grundsätzliche CCS-Kritiker,
ähnlich wie das absurde Technologieversprechen der
Biomasse-CCS, mit dem irgendwann Treibhausgase aus
der Atmosphäre gemolken werden sollen, um sie unter
der Erde verschwinden zu lassen.

Ich darf dazu anmerken, dass die Industrie selbst gar
nicht an CCS allein für Stahl und Kalk glaubt, und zwar
nicht nur wegen der horrenden Kosten, sondern auch
deshalb, weil es ohne die Infrastruktur für Kohle-CCS
auch kein Industrie-CCS geben wird. Allein wegen der
Prozessemissionen wird niemand ein eigenes Pipeline-
und Speichersystem aufbauen, und Biomasse ist dem
Wesen nach dezentral zu ernten. Wer hier CCS einsetzen
möchte, der erzeugt entweder gigantische Verkehrs-
ströme oder Monokulturen.

Was bleibt also von CCS? Die anvisierten geologi-
schen Formationen könnten rechnerisch im besten Fall
die Emissionen einer halben Kraftwerksgeneration auf-
nehmen. Danach ist sowieso Schluss. Dafür hinterlassen
wir unseren Enkeln ein neues Endlagerproblem für Tau-
sende Generationen. Das Ganze rechnet sich nicht, und
energiewirtschaftlich behindert es die Energiewende.

Warum also wollen Sie CCS? Allein um die Laune
weniger Konzerne zu bedienen, mit Subventionen noch
ein paar Jahrzehnte länger Kohle verstromen zu können?
Ich frage Sie: Reicht dies als Begründung aus?


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710814800

Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710814900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben gerade ei-
nige durchaus berechtigte und richtige Kritikpunkte in
Bezug auf CCS aufgezählt


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und legen hier einen Gesetzentwurf vor, der CCS kom-
plett ausschließen soll. Reist man aber durch das Land
Brandenburg, stellt man fest, dass CCS dort ein konkre-
tes Thema ist. An der dortigen Landesregierung ist Ihre
Partei beteiligt. Man trifft auf einen Wirtschaftsminister,
den ich als den größten CCS-Befürworter in Deutsch-
land wahrnehme.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie sollten wenigstens in dieser Debatte ehrlich zuge-
ben, dass auch Sie da einen riesigen internen Konflikt
haben und Diskussionen führen. Anderenfalls ist das,
was Sie hier machen, Populismus und nicht mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Herr Kauch, Sie haben sich eben ein bisschen ober-
lehrerhaft hier hingestellt und angekündigt,


(Otto Fricke [FDP]: Was machen Sie jetzt gerade?)


Sie würden jetzt prozessbedingte Emissionen erklären
und sagen, wie das alles zu laufen habe. Dann führten
Sie als Beispiel die Aluminiumindustrie an. Es mag sein,
dass ich mich täusche; aber ich habe noch nie davon ge-
hört, dass in der Aluminiumindustrie prozessbedingte
CO2-Emissionen entstehen. Das ist bei der Stahlindustrie
und der Zementindustrie der Fall. Wenn Sie sich schon
hier hinstellen, dann erklären Sie das bitte auch richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])


Von Frau Reiche habe ich eben fast die gleiche Rede
gehört wie vor zwei Jahren:


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das war eine gute Rede!)


Weltweit setze man auf CCS-Technologie; das alles
finde weltweit statt. Schauen Sie doch einmal genau hin:
In Europa wird im Moment kein einziges CCS-Projekt
durchgeführt. Wir haben eine Richtlinie, die 27 Staaten
vorschreibt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.
Realität ist aber, dass erst eine Handvoll von Staaten
diese Richtlinie umgesetzt hat und viele mittlerweile
auch erklären, dass das für sie kein Thema ist. Keine
Spur mehr von der Euphorie, die wir da vor zwei Jahren
hatten!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])


Das einstige Musterland Norwegen, das bei CCS
weltweit Vorreiter sein wollte und auch einige Versuche
unternommen hat, hat alle Projekte eingestellt – erst vor
kurzem in Mongstad, weil man dort Probleme mit dem
Stoff hatte, der das CO2 aus dem Rauchgas abscheidet,
weil er hochgiftig ist.

All das sollte dazu führen, dass wir das Thema CCS
sehr viel realistischer und sehr viel nüchterner betrach-
ten, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist kein Wunder, dass die Euphorie vorbei ist; denn
CCS löst keine Probleme, sondern verlagert die Pro-
bleme nur an eine andere Stelle. CCS ist eine End-of-
Pipe-Technologie und wird – auch das ist eben schon an-
geklungen – erst in 10 bis 15 Jahren zur Verfügung ste-
hen, wenn überhaupt. Man kann Zweifel daran haben, ob





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

es überhaupt dazu kommen wird. Aber falls diese Tech-
nologie zur Verfügung stehen wird, dann wird das erst in
10 bis 15 Jahren der Fall sein. Das Ganze wird ein Drit-
tel mehr Kohle verbrauchen und damit unwirtschaftlich
sein.

Das heißt, die Erneuerbaren sind zu diesem Zeitpunkt
die wesentlich bessere Klimaschutzalternative. CCS in
der Energiewirtschaft hat deutschlandweit und europa-
weit überhaupt keine Perspektive.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dirk Becker [SPD] und Wolfgang Nešković [DIE LINKE])


Sie können den Menschen in Brandenburg doch über-
haupt nicht erklären, dass man auf der einen Seite ein
Riesenloch gräbt, um Kohle abzubauen, und dafür Land-
schaften zerstört und Menschen umgesiedelt werden
müssen, während auf der anderen Seite 30 Kilometer
weiter CO2 in die Erde gepresst wird, womit man den
Menschen dort ebenfalls Probleme macht und Sorgen
bereitet. So etwas ist nicht zukunftsfähig. Das ist einfach
keine nachhaltige Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Nešković [DIE LINKE])


Es ist nicht so, dass bei diesem Thema der Widerstand
hauptsächlich aus den Umweltverbänden, von den Grü-
nen usw. käme. Wenn ich mir die Stellungnahmen aus
Schleswig-Holstein, aus Niedersachsen und aus Meck-
lenburg-Vorpommern anschaue, stelle ich fest, dass auch
Christdemokraten und Freidemokraten das Ganze kri-
tisch sehen und Widerstand leisten. Das ist auch der
Grund dafür, dass Sie, nachdem die Große Koalition vor
zwei Jahren einen ersten Anlauf unternommen hat und
nachdem die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regie-
rungserklärung nach der Wahl gesagt hat, sie werde noch
vor Weihnachten 2009 einen CCS-Gesetzentwurf vorle-
gen, erst zwei Jahre später damit kommen. Sie haben in-
tern Konflikte, die Sie letztendlich nicht gelöst bekom-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])


Dann haben Sie, um Akzeptanz für Ihren Gesetzent-
wurf zu gewinnen, eine Länderklausel erfunden, die es
den Ländern ermöglichen soll, komplett aus dem Thema
CCS auszusteigen. Der Kollege Becker hat es eben
schon gesagt: Wenn wir das zum Regelfall bei Gesetzen
machen, dann gute Nacht! Hier sehe ich große Schwie-
rigkeiten. Das Interessante ist aber, dass man diese Län-
derklausel auch so interpretieren kann, dass das Ganze
gar nicht funktioniert, dass die Länder das gar nicht leis-
ten werden und es Ihnen nur darum geht, den Schein zu
wahren, indem Sie Schleswig-Holstein und Niedersach-
sen überzeugen, dabei mitzumachen, und so die Mehr-
heit im Bundesrat sichern.

Ich würde Ihnen empfehlen: Tun Sie mit diesem Ge-
setzentwurf das einzig Richtige:


(Zuruf von der LINKEN: Ab in die Tonne!)

Führen Sie ihn einem sinnvollen Zweck zu, nämlich dem
Papierrecycling! Das hat dieser Gesetzentwurf verdient.
Gehen Sie zurück auf Los! Machen Sie, wenn überhaupt,
ein reines CCS-Forschungsgesetz! Stecken Sie die vie-
len 100 Millionen Euro, die wir von der EU für dieses
Thema bekommen, in die erneuerbaren Energien!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710815000

Herr Kollege.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710815100

Stecken Sie das Geld, wenn Sie bei prozessbedingten

Emissionen sparen wollen, in die Forschungsförderung
von neuen Verfahren und neuen Materialien! Damit
könnten Sie helfen, CO2-Emissionen in diesem Bereich
zu vermeiden. Das wäre der richtige Weg. Damit käme
man auch bei diesem Thema voran.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710815200

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1710815300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kaum ein anderes Thema wird mit so viel Ambivalenz
diskutiert wie CCS, quer durch alle Fraktionen und alle
Parteien, zum Beispiel auch in meinem Bundesland
Brandenburg, aber auch in den Naturschutzverbänden,
bei den NGOs, bei der Exekutive, in den Ministerien,
und vor allen Dingen auch in der Gesellschaft.

Deswegen möchte ich versuchen, in dieser Debatte
einfach einmal die Kausalität aufzuzeigen und das
Ganze anhand von drei Fragen zu hinterfragen, nämlich,
warum wir überhaupt ein CCS-Gesetz machen, was CCS
überhaupt ist und, schließlich, für wen wir CCS machen.
Ich werde versuchen, so unaufgeregt, so ideologiefrei
und so ergebnisoffen wie nur möglich vorzugehen. Auf
der einen Seite sagen die Gegner, es handle sich um eine
Horrortechnik und eine Risikotechnologie, ohne über-
haupt sicher zu wissen, ob es so ist, weil CCS ja noch
gar nicht erprobt ist. Auf der anderen Seite sagen die Be-
fürworter, es handle sich um die Wunderwaffe gegen den
Klimawandel und CCS werde letztendlich ein Export-
schlager.

Nun zur ersten Frage, warum CCS. Ich glaube, es gibt
einen Konsens in diesem Hause, dass es einen Klima-
wandel gibt; jedenfalls sagt das ein erheblicher Teil der
Wissenschaft. Gestern hatten wir Professor Schellnhuber
im Umweltausschuss. Er hat das wieder mit Vehemenz
vorgetragen. Der IPCC, der Weltklimarat, sagt, dass wir
die Emissionen des Klimakillers und Treibhausgases
CO2 begrenzen müssen, um das Ziel, die Erde um nicht
mehr als 2 Grad zu erwärmen, zu erreichen. Durch CCS
können bis 2050, Herr Kollege Becker, 15 bis 20 Prozent





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

der CO2-Emissionen eingespart werden. Diese Zahl
wurde gestern auch genannt. Wenn wir gemeinsam den
Klimawandel bekämpfen und dieses 2-Grad-Ziel errei-
chen wollen, dann dürfen wir nicht nur den Mund
spitzen, sondern dann müssen wir auch pfeifen, dann
können wir nicht nur planen, sondern müssen auch an-
fangen, zu bauen. Wenn wir bauen wollen, brauchen wir
aber ein entsprechendes Werkzeug.

Dieses Werkzeug – damit komme ich zu der Frage,
was CCS ist – ist relativ neu; es liegt noch eingepackt in
der Werkzeugkiste. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir es
herausnehmen und ausprobieren sollen oder ob wir es
unangetastet lassen. Die Frage, ob wir Chancen oder nur
Risiken sehen, ist deshalb eine ganz bedeutende. Ich
möchte zitieren, was der WWF dazu sagt. Warum? Zum
einen ist in der Kürze der Zeit das, was ich nun als Zitat
bringe, anders nicht besser zu sagen. Zum anderen han-
delt es sich beim WWF um einen neutralen Betrachter
der Situation, der wohl kaum im Verdacht steht, einem
Industriekonzern oder einem Energieversorger auf den
Leim zu gehen. Wörtlich sagt ein Vertreter von WWF-
Deutschland:

„Es bringt nichts, die Technik ungeprüft zu verteu-
feln und damit leichtfertig eine Chance im Klima-
schutz zu verspielen“,

Weiter oben steht:

CCS könne als Übergangstechnik eine wichtige
Rolle im Rahmen einer ambitionierten Klima-
schutz-Strategie spielen. Der WWF sieht vor allem
in den schnell wachsenden Schwellenländern wie
China Einsatzgebiete für die Technik.

Außerdem heißt es: CCS ist

zwar kein Patentrezept im Kampf gegen den Klima-
wandel; an der weiteren Erforschung der umstritte-
nen Technologie führe aber kein Weg vorbei.

Das finde ich auch. Wir sollten nicht ohne Not auf
diese Technologie verzichten. Ich bin immer dafür, die
Chancen zu sehen. Deswegen halte ich es auch für sinn-
voll, diese Technologie auszuprobieren, zunächst im
Rahmen der Demonstration in Brandenburg.

Damit bin ich beim dritten Punkt: Für wen machen
wir diese Technologie? Natürlich beschäftigen wir uns
mit ihr, um dem Klimawandel entgegenzutreten. Auf der
anderen Seite machen wir diese Technologie – auch das
sage ich klipp und klar – für unseren Industrie- und
Hochtechnologiestandort Deutschland, mit allem, was
dazugehört; auch die Arbeitsplätze in Deutschland spie-
len dabei eine Rolle. Ich möchte nicht, dass durch
Carbon Leakage die gesamte Industrie abwandert, nicht
nur aus Deutschland, sondern letztendlich auch aus
Europa.

Für den Weg zu den erneuerbaren Energien haben wir
ein Energiepaket geschnürt, dessen Umsetzung jetzt
noch beschleunigt wird. Wir sind uns einig, dass wir das
wollen. Dabei haben wir ein Zieldreieck festgelegt: Ver-
sorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klima-
schutz. Um alle drei Ziele zu erreichen, brauchen wir
– das ist meine Meinung – diese Technologie.
Ich komme zu meinem Fazit. Sicherheit steht an ers-
ter Stelle. Aber wie sicher die Technologie ist, können
wir nur bei einer Demonstration feststellen. Es gibt eine
Testanlage in Ketzin. Dort kann man schon bei einer
kleinen Menge sehen, dass die Speicherung sicher ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710815400

Herr Kollege, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen

gerne eine Zwischenfrage stellen.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1710815500

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710815600

Würden Sie gleich danach auch noch eine Zwischen-

frage der Kollegin Behm zulassen? Dann haben Sie die
Möglichkeit, beide zusammen zu beantworten.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1710815700

Selbstverständlich.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710815800

Danke schön. – Sie haben über den Erhalt von Ar-

beitsplätzen gesprochen. Ich habe in meiner Rede ge-
sagt: Wenn wir CCS anwenden, dann können durch die
Abscheidung CO2-Emissionen einer halben Generation
von Kohlekraftwerken gebunkert werden; danach sind
die Speicher voll. Das wissen wir. Wenn Sie aber Indus-
trie-CO2 abscheiden wollen, dann dürfen Sie kein
Kohle-CO2 abscheiden, weil Sie Gesteinsformationen
für das Industrie-CO2 brauchen.

Im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen habe ich
gesagt, dass die Industrie das nicht bezahlen wird, weil
es sehr teuer ist. Sie haben zu den Kosten bisher nichts
gesagt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710815900

Frau Behm, bitte.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710816000

Wenn ich meine Frage direkt stellen darf, ist das wun-

derbar. – Sie haben gerade gesagt, Kollege Koeppen,
dass man davon ausgehen kann, dass die CO2-Abschei-
dung in der Versuchsanlage in Ketzin sicher abgelagert
wird. Ist Ihnen bekannt, dass die Versuchsanlage Ketzin
früher ein Erdgasspeicher war und dass an dieser Stelle
ein Dorf mit Namen „Knoblauch“ stand, das aufgegeben
werden musste, als sich in den Kellern der Wohnhäuser
plötzlich Gas feststellen ließ? So viel zum Thema Si-
cherheit. Ist Ihnen das bekannt, und woraus resultiert
Ihre Aussage, dass die Lagerung in Ketzin sicher ist? Sie
wissen so gut wie ich, dass in der Versuchsanlage bisher
reines CO2 eingelagert wurde und erst seit der vergange-
nen Woche CO2 aus der Kohleverbrennungsabschei-
dung, das ja verunreinigt ist, eingelagert wird. Wie kom-
men Sie also zu Ihrer Aussage?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1710816100

Erst einmal zu der Frage von Frau Bulling-Schröter.

Für mich ist CO2 letztendlich ein Rohstoff. Deswegen ist





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

CCS, die Abscheidung und die Einlagerung bzw. Spei-
cherung, für mich eine vorübergehende Technologie, die
trotzdem erprobt werden muss.

Früher oder später werden wir natürlich auch auf
Kohlekraftwerke verzichten – früher oder später. Wir ha-
ben eine begrenzte Speicherkapazität; das ist wahr. Wir
werden das Klima nicht in Deutschland, schon gar nicht
in Brandenburg retten. Aber wir können die Technologie
sehr gerne in Deutschland, in Brandenburg demonstrie-
ren, sie erforschen und zeigen, dass sie zum einen sicher
ist und zum anderen die gewünschten Effekte hat.

Ich erinnere einfach nur an den Transrapid: Wir woll-
ten den Transrapid mit Riesengewinnen als tollen Ex-
portschlager nach Asien verkaufen; aber dann haben wir
selbst – nicht wir alle, sondern eher die linke Seite des
Hauses – den Transrapid als eine Risikotechnologie ver-
teufelt.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist Geschichtsklitterung! Nicht einmal die Industrie war für Ihr Produkt!)


Warum sollte denn der Chinese oder der Inder sagen:
„Jawohl, wir wollen den Transrapid“ – oder auch CCS –,
wenn nicht einmal wir selbst in der Lage sind, den
Transrapid auf einer 70 Kilometer langen Strecke vom
Münchener Flughafen bis in die Innenstadt zu erproben?
So ist das auch bei CCS.

Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass Ihre Argu-
mente nicht stimmen. Es geht nicht darum, das gesamte
CO2 hier in Deutschland zu speichern, sondern nur einen
Teil. Jetzt geht es erst einmal um die Speicherung von
8 Millionen Tonnen CO2 im Rahmen einer Exploration,
um zu erkennen, ob es funktioniert oder nicht.

Damit komme ich zur zweiten Frage. Wenn mir die
Wissenschaftler in Ketzin sagen, dass sie davon ausge-
hen, dass die Einlagerung dieser Mengen – sie berech-
nen das für mehrere Größen – nach ihren Erkenntnissen
sicher ist – –


(Heiterkeit des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Sie können gern lachen. Wenn Sie den Wissenschaft-
lern in Bezug auf die Aussagen zum Klimawandel ver-
trauen, dann können Sie auch den Wissenschaftlern ver-
trauen, die sagen: Nach unseren Jahren der Erprobung
gehen wir davon aus, dass es sicher ist. Da wurden ver-
schiedene Drücke ausprobiert, da wurde gespeichert und
eingelagert, da wurde beobachtet, wohin sich das CO2
ausbreitet usw. Natürlich wurde – genau wie beim Kli-
mawandel – über Computersimulationen berechnet, wie
sich das verhält. Da sind Geologen usw. am Werk. Es tut
mir leid: Ich vertraue dann schon den Aussagen dieser
Wissenschaftler, die sagen: Sie können nach den Jahren
der Erprobung davon ausgehen – das wurde berechnet –,
dass ein entsprechendes Großprojekt sicher ist. – Das ist
meine Antwort darauf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich komme zu meinem Fazit zurück:
Erstens. CCS muss sicher sein; das muss nachgewie-
sen sein. Deswegen gibt es die entsprechende Demon-
stration.

Zweitens. Wir brauchen Transparenz; wir brauchen
die Akzeptanz und die Beteiligung der Bürger vor Ort,
aber auch der Länder. Die Bürger müssen nicht nur mit
Informationen bedacht werden, sondern auch mit einer
Wertschöpfungsabgabe – wie auch immer sie gestaltet
wird –, die ausgeschüttet wird, wenn es Beeinträchtigun-
gen gibt. Die Länderklausel – die Frau Staatssekretärin
hat es bereits gesagt – ist eine Handreichung an die Bun-
desländer: Sie können sagen, wie sie mit der Speiche-
rung umgehen. Ich halte das für ein legitimes Mittel.

Der letzte Punkt. Wir müssen die Nutzung von CCS
evaluieren und auswerten. Letztendlich müssen wir mit
Daten und Fakten demonstrieren, dass die Spekulatio-
nen, Horrorszenarien, Vermutungen und Ahnungen durch
Wissen ersetzt werden.

Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710816200

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1710816300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Die Unverträglichkeit mit der Gesundheit, die
Angst um Leib und Leben und – mehr noch – den Ver-
lust von Raum und Zeit: All dies verbanden die Men-
schen mit der Einführung der Dampflok in Deutschland.
Ich meine die Eröffnung der Strecke Nürnberg–Fürth im
Jahr 1835. Der Mensch könne eine derartige Geschwin-
digkeit gar nicht aushalten, so die allgemeine Meinung.
Die tatsächlichen Folgen der Einführung des Eisenbahn-
verkehrs waren ein Aufblühen der wirtschaftlichen Leis-
tungsfähigkeit und ein gewaltiger Ausbau der Infrastruk-
tur.

Die Dampflok ist weg, die Bedenken sind geblieben.
Um den Ausstoß von Kohlendioxid durch Kraftwerke in
die Atmosphäre zu senken, soll nun in Deutschland die
unterirdische Verbringung von CO2 zunächst einmal ge-
testet werden – nicht mehr und nicht weniger. Denn
diese Methode, CCS, muss ihre wirklichen Potenziale
für Industrie und Stromerzeugung erst noch zeigen.


(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


Besonders die Sicherheit der Speicher ist nachzuwei-
sen. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Zu-
verlässigkeit der Technik auch in Demonstrationsvorha-
ben erprobt werden kann. Am Computer geht das nicht.
Ohne Probe gibt es keinen Nachweis. Nur im prakti-
schen Verfahren können die offenen Fragen zu Umwelt-





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)

risiken, Speicherpotenzialen und Kosten realistisch be-
antwortet werden. Hierauf wird die Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe mit ihrer weltweit an-
erkannten Professionalität stets ein waches Auge haben.
Eine weitere Frage ist die nach dem Rohstoff CO2. Das
jetzt so verteufelte Klimagas Kohlendioxid könnte in ab-
sehbarer Zukunft als wichtiger Rohstoff lediglich auf ge-
wisse Zeit eingelagert werden, quasi als Zwischenspei-
cher.

Jedenfalls sollten wir positiver an die Sache herange-
hen. Doch auch hier werden, wie damals in Nürnberg,
Besorgnisse und Befürchtungen in der Bevölkerung
wach. Das ist teilweise verständlich. Aus diesem Grund
wird CCS nicht etwa flächenhaft eingeführt, sondern es
wird lediglich die rechtliche Grundlage für die Erkun-
dung, die Errichtung und den Betrieb von Demonstra-
tionsvorhaben geschaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Langfristig wollen wir den Ausstoß von Treibhausga-
sen um 80 bis 95 Prozent reduzieren, das CO2 also quasi
abschaffen. Dabei dürfen wir allerdings nicht diejenigen
Industriezweige übersehen, die aus rein technischen
Gründen nicht in der Lage sind, ihren CO2-Ausstoß noch
weiter zu verringern. Es sind dies vor allem diejenigen
Unternehmen, die am Anfang der Wertschöpfungskette
in Deutschland stehen. Würden wir dieser wirtschaftli-
chen Basis unseres Landes die Perspektive nehmen, wä-
ren diese Firmen mit ihren Arbeitsplätzen in Deutsch-
land nicht mehr zu halten.


(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


Das gilt dann auch für die Nachfolgenden in der indus-
triellen Wertschöpfungskette. Das will niemand. Also
müssen wir schon allein dafür Optionen eröffnen.

Für den Vollzug und die Durchführung des Gesetzes
werden die Länder zuständig sein. Gleichwohl sollten
gerade diejenigen Bundesländer, die im Länderfinanz-
ausgleich von der Wirtschaftskraft der anderen – und so-
mit auch von deren CO2-Emissionen – besonders profi-
tieren, über ihren eigenen Schatten springen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710816400

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710816500

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr

Kollege Krischer, mit den Linken ist es noch sehr viel
schlimmer, als Sie es beschrieben haben. Wenn Sie eben
Frau Bulling-Schröter zugehört haben, dann konnten Sie
feststellen, dass sie sich bei dieser Gelegenheit auch
noch gegen die Braunkohle positioniert hat.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sehr gut! – Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Position als solche ist vernünftig!)


Das ist Doppelzüngigkeit, die man den Linken an dieser
Stelle vorhalten muss. Denn das tun Sie hier im Plenum
gerne; aber draußen vor Ort, wo Braunkohle abgebaut
wird, positionieren sich die Linken und ihre Gewerk-
schaftsfreunde ganz gern gegenteilig. Es wäre schon
sinnvoll, wenn Sie, um die Öffentlichkeit nicht zu täu-
schen, eine Klärung herbeiführen könnten und uns mit-
teilten, was Sie eigentlich wollen. Sind Sie dafür oder
sind Sie dagegen? Das ist die spannende Frage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Bulling-Schröter, Sie haben in diesem Zusam-
menhang auch einen Vergleich zwischen der CO2-Endla-
gerung und der Endlagerung von Kernbrennstoffen ge-
zogen. Das zeigt, dass es Ihnen darum geht, eine Verun-
sicherungsstrategie aufzubauen, die letztendlich zu ei-
nem CCS-Verbot führen soll, das Sie in Ihrem Gesetz-
entwurf grundsätzlich vorschlagen.


(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Die Linke verunsichert halt gern! – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Frau Präsidentin, darf ich eine Frage stellen?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710816600

Möchten Sie die Frage von Frau Bulling-Schröter zu-

lassen?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710816700

Selbstverständlich.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710816800

Bitte schön.


(Cajus Caesar [CDU/CSU]: So viel Redezeit!)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710816900

Apropos Verunsicherung: Der Petitionsausschuss be-

fasst sich momentan mit 80 000 Petitionen zum Thema
CCS bzw. dem Verbot von CCS.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: 50 Prozent!)


Glauben Sie, dass nur wir die Menschen verunsichern?
Oder glauben Sie, dass Menschen auch eigenständig
denken können?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1710817000

Ich gehe davon aus, dass Menschen eigenständig den-

ken, absolut.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Es gibt im Übrigen auch Petitionen aus Bayern! Dort haben Sie die Mehrheit!)


Es gibt insbesondere in Bayern Menschen, die selbst-
ständig denken. Ich würde mich auch dazu zählen. Im
Übrigen weiß ich noch nicht, was Sie mir jetzt mit dem
Hinweis sagen wollen. Sie werden im Laufe meiner





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(B)

Rede mitbekommen, dass ich nicht ein glühender Fan
dieser Technologie bin und auch nicht derjenige, der
sagt: CCS löst unsere Probleme; wir können das CO2-
Problem umfassend und schnellstmöglich lösen. Das ist
überhaupt nicht der Fall. Ich sage nur: Man sollte nicht
unnötig und zusätzlich – auch wenn man die Risiken und
Bedenken sieht – noch eins draufsetzen und den Teufel
an die Wand malen. Im Übrigen sollte man in seiner
Politik konsistent sein und nicht hier etwas anderes for-
dern als draußen im Lande. Da werde ich ja wohl recht
haben, liebe Frau Bulling-Schröter.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Da ist Bayern das beste Beispiel dafür, oder?)


Im Übrigen bitte ich auch darum, nicht so zu tun, als
ob wir jetzt in die großindustrielle Anwendung gingen.
Das ist nicht wahr. Mehrfach ist schon betont worden,
dass es um Erforschung, Erprobung und Demonstration
geht. Ich habe heute in einigen Reden durchgehört, dass
das bezweifelt wird. Aber, meine Damen und Herren,
das steht ausdrücklich im Gesetz. Im Gesetz steht eben-
falls ausdrücklich, dass 2017 eine Evaluation erfolgt.
Erst dann wird entschieden, wie es mit dieser Technolo-
gie weitergeht. Insofern, Herr Kollege Becker, verstehe
ich die kategorische Ablehnung der SPD nicht, die Sie
angekündigt haben; denn das ist die Unzeit dafür.

Ich habe bereits unterstrichen, dass ich kein glühender
Anhänger dieser Technologie bin. Es gibt Eigentums-
rechte, die Probleme machen, und es gibt Risiken, über
die man diskutieren muss. Ich sage aber auch: In der jet-
zigen Phase tun wir uns energiepolitisch ausgesprochen
schwer; denn wir sehen, dass die Erfüllung von Klima-
zielen bei uns zunehmend schwieriger wird, wenn wir
früher aus der Kernenergie aussteigen, was wir alle tun
wollen. In dieser Phase Denkverbote und Versuchsver-
bote zu verhängen, wäre falsch. Deshalb muss man sich
mit diesem Thema auseinandersetzen.

Ich bin der Meinung, dass wir diese Technologie na-
tional eher weniger nutzen werden. Das ist nur eine Pro-
gnose; die muss nicht richtig sein. Das kann sich im
Laufe der Erprobungsphase in eine andere Richtung ent-
wickeln. Wenn wir aber wirklich auf dieses 95-Prozent-
Ziel zusteuern wollen, müssen wir eine Idee haben, was
wir mit den Prozessen tun, bei denen CO2 logischer-
weise entsteht. Wir müssen überlegen, wie wir mit dieser
Thematik umgehen wollen.

Ich sage ganz offen: Wenn man eine solche Strategie
verfolgt, dann kann es nicht sein, dass das in Form der
Deindustriealisierung Deutschlands geschieht, indem
man Unternehmen aus unserem Land vertreibt. Das hilft
niemandem, und es hilft schon gar nicht dem Klima.

Ich glaube, dass wir diese Technologie mit Blick auf
die internationale Situation prüfen müssen. China hat
seit dem Jahr 2000 den CO2-Ausstoß von ehemals 3 Mil-
liarden Tonnen mehr als verdoppelt und hatte zeitweise
einen jährlichen Zuwachs an CO2-Ausstoß, der so groß
ist wie der gesamte CO2-Ausstoß in Deutschland.

Das sage ich deshalb so nachdrücklich, weil ich in der
Debatte, die wir hier führen, ein wenig die Relationen
vermisse. Manches von dem, was wir hier diskutieren,
stimmt mit Blick auf die internationalen Zahlen nicht.
Man kann nicht so tun, als würden wir auf der Ökoinsel
Deutschland die Welt retten. Das ist ein falscher Ansatz.
Wir müssen die Realität im Blick behalten.

Wenn man einen Strich unter das Ganze zieht, muss
man realistischerweise sagen: Die Kohle dieser Welt
wird verbrannt werden. Die Frage ist: Mit welcher Tech-
nologie? Gelingt es uns, dafür Ersatz zu schaffen? Im
Hinblick auf den Energiehunger einer immens wachsen-
den Weltbevölkerung bin ich skeptisch – das sage ich Ih-
nen ganz offen –, dass uns das mit ein paar Windrädern
gelingen wird. Ich bin eher der Meinung, dass die fossi-
len Brennstoffe auf dieser Welt noch eine ganze Weile
eine Rolle spielen werden. Deshalb muss sich Deutsch-
land überlegen, ob wir nicht im Rahmen einer Technolo-
gieführerschaft das eine oder andere anbieten können.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710817100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/5750, 17/5232 und 17/3056 an die Aus-
schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-
den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Raju
Sharma, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen
und kirchlichen Einrichtungen stärken

– Drucksache 17/5523 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Innenausschuss

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort dem Kollegen Raju Sharma für die
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710817200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Linke hat einen Antrag zum Kirchenarbeitsrecht vorge-
legt. Linke und Kirchen – da gehen natürlich gleich die
Schubladen auf: DDR, SED, Unrecht gegen Gläubige.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Danach riecht der Antrag!)


Ja, wir sind die Rechtsnachfolgerin der SED.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Schlimm genug! Schämt euch!)


(D)






Raju Sharma


(A) (C)



(D)(B)

Ja, wir wissen um das in der DDR begangene Unrecht an
Gläubigen. Aber auch: Ja, wir stellen uns unserer Verant-
wortung. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst,
und wir kennen die Geschichte.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das wüsste ich!)


– Herr Kollege, ein Wort dazu: Ich sagte gerade, dass wir
uns unserer Verantwortung stellen, anders als so manche
Blockflöten und Schalmeien aus Ihren Reihen.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das wüsste ich!)


Wir stellen uns mit unserem Antrag nicht gegen die
Kirchen und erst recht nicht gegen die Gläubigen. Wir
stellen uns mit unserem Antrag an die Seite von
1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
bei den Kirchen und den kirchlichen Einrichtungen. Ihre
Rechte wollen wir schützen. Wir wollen, dass ihnen und
ihrer Arbeit die nötige Achtung entgegengebracht wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Antrag für
alle Fraktionen dieses Hauses zustimmungsfähig ist. Ich
will das kurz belegen: Die FDP versteht sich als Partei
der freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs.


(Pascal Kober [FDP]: Und der Religionsfreiheit!)


Wir leisten uns aber ein Sonderarbeitsrecht, das es den
Kirchen ermöglicht, ihren Beschäftigten bis zu 30 Pro-
zent niedrigere Löhne zu zahlen, als sie auf dem Markt
üblich sind.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Nun mögen Sie mit Lohndumping im Prinzip kein Pro-
blem haben.


(Otto Fricke [FDP]: Das ist ein Irrtum!)


Hier aber haben wir eine Bevorzugung der Kirchen ge-
genüber anderen privaten Dienstleistern, die sich auf
demselben Markt tummeln. Wenn Sie fairen Wettbewerb
haben wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu.


(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Darum geht es Ihnen! Es geht Ihnen um die Volkssolidarität! Es geht Ihnen gar nicht um die Kirchen!)


Die Union stellt sich als Partei dar, die sich insbeson-
dere dem Schutz der Familien verschrieben hat. Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kürz-
lich die Kündigung eines Chorleiters für unrechtmäßig
erklärt, weil die Kündigung durch die katholische Kirche
ein Verstoß gegen das Recht auf persönliche Lebensge-
staltung darstellte und das Recht auf Schutz der Familie
verletzt wurde, weil der Familie der nötige Schutz ver-
weigert wurde. Folgen Sie dem Gericht: Stimmen Sie
unserem Antrag zu.


(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Der Gerichtshof hat nicht gegen die Kirche, sondern gegen die Bundesrepublik Deutschland geurteilt!)


– Ja, aber die katholische Kirche hat gekündigt. Insofern
stimmt das schon.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage das nur!)


– Das ist auch gut. Ich glaube sowieso, dass wir bei den
Grünen mit unserem Antrag offene Türen einrennen
müssten. Die Erzdiözese Köln hat kürzlich einem Reli-
gionslehrer und renommierten Theologen die Lehrbe-
fugnis mit der Begründung entzogen, dass er schwul ist.
Das kommt faktisch einem Berufsverbot aufgrund der
sexuellen Orientierung gleich. Volker Beck, ein Kollege
aus Ihren Reihen, hat diesen Vorgang als hanebüchen be-
schrieben.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da hat er recht!)


Damit hat er völlig recht. Deshalb fordere ich Sie auf:
Stimmen Sie unserem Antrag zu.


(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht heute nicht zur Debatte! Es ist die erste Lesung!)


Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die
SPD versteht sich als Partei, die sich insbesondere für
die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
starkmacht. Hier aber haben wir ein Sonderarbeitsrecht.
Wir haben ein Arbeitsrecht zweiter Klasse für 1,3 Mil-
lionen Beschäftigte in Kirchen und kirchlichen Einrich-
tungen. Das wollen wir nicht, und das könnt auch ihr
nicht wollen. Deswegen: Stimmt unserem Antrag zu.


(Beifall bei der LINKEN)


Unser Antrag ist weder weltfremd noch blauäugig. Es
ist ein Unterschied, ob jemand als Pfarrer in der Kirche
beschäftigt ist oder als Putzfrau.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein!)


Jemand, der in seiner Predigt am Sonntag den Gläubigen
den Kopf wäscht, hat eine andere Verantwortung als die-
jenigen, die am Montag den Kirchenboden schrubben.
Aber ihre Rechte und ihre Interessen haben wir vor al-
lem im Blick. Sie wollen wir schützen, und wir wollen,
dass ihnen und ihrer Leistung gebührender Respekt ent-
gegengebracht wird, und zwar nicht erst im Himmel-
reich, sondern schon auf Erden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: In der Kirche wird kein Kopf gewaschen, Herr Kollege! In der Kirche wird gebetet!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710817300

Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1710817400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben
eine sehr kluge Entscheidung getroffen; denn sie haben
die mühsam ausgehandelten Kirchenartikel der Weima-
rer Reichsverfassung einfach in Art. 140 des Grundge-
setzes übernommen. Für das kirchliche Arbeitsrecht gilt
die maßgebliche Garantie des Art. 137 Abs. 3 der Wei-
marer Reichsverfassung, in dem steht:

Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet
ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der
Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie ver-
leiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder
der bürgerlichen Gemeinde.

Diese klare Unterscheidung, was die Kirche selbststän-
dig regeln kann und was Sache des Staates ist, ist übri-
gens eine der großen Errungenschaften der Neuzeit, an
der wir festhalten wollen. Aus dem Antrag der Linken
kann man nur eines entnehmen, nämlich dass sie es so
wie in der alten DDR halten will, wo der Staat definiert
hat, was Kirche ist, und nicht die Kirche. Dagegen weh-
ren wir uns entschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein bisschen zu einfach!)


Die Unterscheidung zwischen einem Pfarrer und an-
deren Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die Sie
eben vorgenommen haben, können Sie nicht machen.
Das muss die Kirche definieren. Kirche ist von ihrem
Auftrag her nicht nur Seelsorge und Verkündigung, son-
dern genauso und wesentlich auch tätige Nächstenliebe,
also Caritas und Diakonie. Ohne Caritas und Diakonie
gibt es keine Kirche. Wenn also die Kirchen ihre Angele-
genheiten und ihr Arbeitsrecht verfassungsgemäß selbst-
ständig regeln können, dann gilt das selbstverständlich
auch für die karitativen und diakonischen Einrichtungen
und Dienste.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber kann man aber auch diskutieren!)


Ich finde, wir können in Deutschland froh sein, dass
Caritas und Diakonie mit einer Vielzahl von Kranken-
häusern, Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Kin-
dertagesstätten, Schuldnerberatungs- und Suchtbera-
tungsstellen sowie vielen weiteren Diensten zur sozialen
Infrastruktur in unserem Land beitragen und konkret die
Not vieler Menschen lindern helfen. Ich bin froh, dass es
die Kircheneinrichtungen in unserem Land gibt, und ich
will, dass sie auch in Zukunft bestehen bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das wollen wir auch!)


Übrigens, die konkrete Hilfe für Menschen in Not und
Armut, mit Behinderung und Krankheit ist meines Er-
achtens das glaubwürdigste Zeichen für die Ernsthaftig-
keit des Doppelgebots, der Gottes- und Nächstenliebe,
dem Christinnen und Christen verpflichtet sind. Was be-
deutet die eigenständige Regelung der Angelegenheiten
der Kirchen praktisch?

Erstens. Die Kirchen regeln die Vergütung ihrer Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Gremium, das
paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bzw.,
um es in der Sprache der Kirchen zu sagen, von Dienst-
nehmern und Dienstgebern besetzt ist, in dem keiner die
andere Seite überstimmen kann. Alle kirchlichen Ein-
richtungen sind an diese Tarifregelungen, die gemein-
sam gefunden worden sind, gebunden. Diese von den
paritätisch besetzten Kommissionen festgelegten Tarif-
gehälter sind übrigens in der Regel höher als die Gehäl-
ter, die bei anderen nichtkirchlichen Wohlfahrtsorganisa-
tionen oder im privatgewerblichen Bereich gezahlt
werden.


(Beifall des Abg. Karl Schiewerling [CDU/ CSU] – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war in der Vergangenheit so! Das ist nicht mehr so!)


– Doch, es ist nach wie vor so. Es gibt keinen Fall, in
dem schlechter bezahlt wird als nach von Gewerkschaf-
ten ausgehandelten Tarifverträgen. Das zeigt übrigens,
dass die Mitarbeitervertreter der Kirche sehr erfolgreich
Löhne aushandeln.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da, glaube ich, irren Sie!)


Zweitens. Die Mitbestimmung der kirchlichen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgt über gewählte Mit-
arbeitervertretungen. Das ist sozusagen die Bezeichnung
für kirchliche Betriebsräte. Während im Geltungsbereich
des staatlichen Betriebsverfassungsgesetzes gerade ein-
mal 30 Prozent aller Betriebe einen Betriebsrat haben,
haben im Bereich von Kirche, Caritas und Diakonie
65 Prozent aller Betriebe Mitarbeitervertretungen. Bei
Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten sind sogar in
85 Prozent der Betriebe Mitarbeitervertretungen vorhan-
den. Im Gegensatz zur Behauptung der Linken gibt es
also nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung. Die
Gewerkschaften in Deutschland würden Jubelchöre ohne
Unterlass anstimmen, wenn wir in der freien Wirtschaft
eine Betriebsratsquote von 65 bzw. 85 Prozent hätten,
wie es sie bei der Kirche gibt. Dazu kommt, dass diese
Mitarbeitervertretungen Dachorganisationen auf Diöze-
san-, Landes- und Bundesebene mit aus Kirchenmitteln
bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bilden kön-
nen, um auch auf übergeordneter Ebene ihre Interessen
zu vertreten.

Nun ist im Antrag der Linken sowie in einer früheren
Anfrage des Bündnisses 90/Die Grünen problematisiert
worden, dass es einzelne kirchliche und karitative Ein-
richtungen bzw. Teile von diesen gebe, die sich ausglie-
dern, um die Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts
und des kirchlichen Vergütungssystems zu umgehen. Ei-
nes muss klar sein: Wer Rosinen pickt und nicht das
ganze Recht anwendet, der kann irgendwie auch nicht
zum Bereich des Kirchendienstes gehören. Für den gilt
dann das staatliche Arbeitsrecht und das Betriebsverfas-
sungsgesetz. Das gilt selbstverständlich auch für das
Streikrecht und die Organisation der Beschäftigten in





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Gewerkschaften, die die Tarifverträge für die Beschäf-
tigten aushandeln. Man kann nicht halb, man kann nur
ganz bei der Kirche dabei sein.

Wer zur Kirche gehört und wer nicht, definiert aller-
dings nicht der Staat. Das muss die Kirche selber defi-
nieren. So hat zum Beispiel der Deutsche Caritasverband
im Jahre 2007 in seinen tarifpolitischen Leitlinien ein-
deutig bestimmt: Ausgründungen oder Ausgliederungen
aus tarifpolitischen Gründen sind nicht zulässig. Punkt.
Basta. Der Vorsitzende des Caritasverbandes meiner
Heimatdiözese, Weihbischof Dr. Bernd Uhl, hat in ei-
nem Zeitschriftenartikel klar formuliert:

Wer aus der kirchlichen Tarifgemeinschaft aus-
schert, kann deren Vorteile nicht mehr in Anspruch
nehmen.

In diesem Bereich muss Klarheit herrschen. Deswe-
gen begrüße ich sehr, dass die deutschen Bischöfe vorha-
ben, in der Grundordnung des Kirchendienstes für eine
Klarstellung zu sorgen. Zum Kirchendienst gehört nur,
wer das Tarifsystem und das gesamte kirchliche Arbeits-
recht anerkennt. Wer sich aus Teilen davonschleichen
will, ist eben nicht mehr dabei und fällt unter die staatli-
chen Regelungen. Vor diesem Hintergrund stellt man
fest, dass der Antrag der Linken in die vollkommen fal-
sche Richtung geht. Deswegen sagen wir Ja zu kirchli-
chem Selbstbestimmungsrecht. Dazu müssen sich aber
auch alle an die vereinbarten Regelungen halten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710817500

Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1710817600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es handelt sich offenkundig um eine ausgesprochen sen-
sible Materie. Es macht daher wenig Sinn, jetzt mit
Schaum vor dem Mund hier herumzuwüten.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das macht nie Sinn!)


– Das macht nie Sinn, sagt der Herr Kollege aus Frank-
furt, immer inspiriert von Oswald von Nell-Breuning,
soviel ich weiß. Sie haben neulich einen Mindestlohn
vorgeschlagen, der ausreichen soll, um im Alter eine
gute Rente zu erzielen. Sie haben die Firma Lidl mit
10 Euro pro Stunde genannt. Aber das nur am Rande.

Zum Antrag selbst: Der Kollege Sharma hat um die
Zustimmung aller Fraktionen gebeten, weil der Antrag
zustimmungsfähig für alle Fraktionen sei. Das Problem
der Linkspartei ist, dass sie bei diesem Antrag große
Probleme innerhalb ihrer eigenen Partei hat. Ich will Ih-
nen zwei Sätze aus einer Meldung von heute Vormittag
zitieren. Da heißt es:

Die religionspolitischen Sprecher der Linken-Land-
tagsfraktionen lehnten in einer Sitzung am Mitt-
wochabend in Berlin einen Antrag der Bundestags-
fraktion ab, der am Donnerstag im Bundestag
beraten werden sollte.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Hört! Hört!)


Bezogen auf den Kollegen Ramelow – allseits bekannt –
heißt es weiter:

Der Antrag könne jedoch so interpretiert werden,
dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht infrage
gestellt werde. „Der Tendenzschutz ist ein Gut, das
die Linke bei Parteien und Gewerkschaften respek-
tiert“, sagte Ramelow. Das müsse auch bei den Kir-
chen gelten.

Es gibt offenkundig Probleme mit dem Antrag bei der
Linken selbst.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Jeder versteht den Antrag! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon hat Herr Sharma uns aber nichts erzählt! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bei den Linken gibt es immer wieder Erstaunliches!)


Bevor Sie die übrigen Fraktionen auffordern, dem An-
trag zuzustimmen, sollten Sie erst einmal dafür sorgen,
dass die eigenen Reihen in Ordnung gebracht werden.


(Abg. Raju Sharma [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Kollege, Sie wollen sich mit einer Zwischenfrage
äußern? Frau Präsidentin?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710817700

Herr Kollege Sharma, bitte schön.


Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710817800

Herr Kollege Schreiner, sind Sie bereit, zur Kenntnis

zu nehmen, dass die Linke eine wirklich plurale und plu-
ralistische Partei mit vielen Meinungen ist?


(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das merkt man! Erschreckend liberal!)


Der von mir sehr geschätzte Bodo Ramelow ist jemand,
der pointierte Meinungen hat und sie auch sehr deutlich
artikulieren kann. Er spricht aber nicht für die Fraktion
der Linken im Deutschen Bundestag, für die ich heute
gesprochen habe und für deren Antrag ich heute bei Ih-
nen geworben habe. So ist es halt bei uns.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst wenn Herr Ramelow zustimmt!)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1710817900

Herr Kollege, es nutzt wenig, wenn die Linksfraktion

hier im Bundestag etwas einbringt, das von ihren Länder-
organisationen unisono abgelehnt wird.





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)


(Otto Fricke [FDP]: Das macht die SPD nie, oder?)


Sie verwechseln Pluralität der Organisation mit völliger
Zerstrittenheit der Organisation. Das ist ein Unterschied.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Insofern sehe ich
nicht ein, warum wir Ihnen jetzt dabei helfen sollten, für
Ordnung in den eigenen Reihen zu sorgen. Das ist Ihr
Bier und Ihre Angelegenheit.

Ich will zunächst einmal ein paar Sätze zum Verständ-
nis Ihres Antrags sagen, weil er auf den ersten Blick we-
nig einleuchtend erscheint. Der Kollege Weiß hat eben
die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung angespro-
chen, die im Rahmen von Art. 140 des Grundgesetzes
Gegenstand unserer Verfassung geworden sind. Der Hin-
tergrund ist, dass wir in Deutschland eine säkulare
Rechtsordnung haben. Es besteht die gleiche Freiheit für
die weltanschaulichen Überzeugungen aller Bürger. Auf
dieser Grundlage ist ein kooperatives Verhältnis zu den
Religionsgemeinschaften entstanden, das sich aus mei-
ner Sicht bewährt hat und dessen Grundzüge nicht ange-
griffen werden sollten. – Das sage ich vorneweg zum
besseren Verständnis.

Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass die ent-
sprechenden Kirchenartikel der Weimarer Reichsver-
fassung übernommen worden sind. Daraus folgen die
sogenannten kirchlichen Selbstbestimmungsrechte und
Sonderregelungen bei der Behandlung von Beschäftig-
ten. Dies nennen die Kirchen den sogenannten Dritten
Weg, der, jedenfalls nach dem Verständnis der beiden
christlichen Kirchen, für einen angemessenen Ausgleich
der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen in den
kirchlichen Einrichtungen sorgen soll. Das ist die Aus-
gangslage bzw. der Hintergrund des offenkundigen Kon-
flikts.

Ich will hinzufügen: Im Kern geht es darum, dass das
Grundrecht der Religionsfreiheit und das Grundrecht der
Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Grundgesetz zum Aus-
gleich gebracht werden müssen. Das ist kein staatlicher
Vorgang, sondern ein ständiger dynamischer Prozess.

Ich will aus Sicht meiner Fraktion und meiner Partei
klarstellen: Das Verhältnis Staat/Kirche hat sich in
Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten
grundsätzlich bewährt; dies gilt auch für das kirchliche
Selbstbestimmungsrecht. Soweit es aber auf einzelnen
Feldern oder in Einzelfällen zu Missbräuchen kommt,
müssen diese abgestellt werden, am besten möglichst
rasch und durch die Kirchen selbst. Es geht nicht darum,
die Kirchen an den Pranger zu stellen. Aber wenn es
Missbräuche gibt – es gibt offenkundig welche –,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


dann müssen sie abgestellt werden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen haben sich die Grünen vor wenigen Mo-
naten darum bemüht, mehr Klarheit zu schaffen. Die
Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen
haben eine Kleine Anfrage gestellt. Die Antworten der
Bundesregierung bestehen weitestgehend aus kahlen
Flächen. Es wird nichts vernünftig klargestellt. Die Bun-
desregierung stellt sich offenkundig dümmer, als sie
wirklich ist.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Da bin ich mir manchmal nicht ganz sicher! – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bedauerlicherweise ist das so. Herr Kollege Brauksiepe,
Sie sind ausdrücklich ausgeschlossen, weil Sie an der
Beantwortung der Fragen nicht beteiligt waren. So kann
man mit parlamentarischen Anfragen einer Fraktion
nicht umgehen. Dann kann man auch gleich die Finger
davon lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Raju Sharma [DIE LINKE])


Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und weil ich nur
wenige Minuten Redezeit habe, möchte ich nur zwei Be-
merkungen zum konkreten Inhalt des Antrags der Links-
fraktion machen. Sie führen in Ihrem Antrag wörtlich
aus – ich zitiere –:

Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände … haben sich
von der Bindung an die Tarife des öffentlichen
Dienstes gelöst … Die neuen Vergütungsordnungen
sollen Wettbewerbsvorteile erzielen, indem das
Vergütungsniveau abgesenkt wird.

In Ihrem Antrag heißt es weiter: Durch Ausgründungen
von Betriebsteilen und niedrig bezahlte Leiharbeit sollen
zusätzliche Kostenvorteile erzielt werden. – Das heißt
im Klartext – das ist meine Interpretation; ich bin näm-
lich sehr für Klartext –: Die kirchlichen Einrichtungen
bemühen sich systematisch darum, sich durch das Instru-
ment des Lohndumpings einen zentralen Wettbewerbs-
vorteil zu verschaffen. Wenn das richtig wäre, dann
müsste das abgestellt werden. Die Sonderregelungen im
kirchlichen Arbeitsrecht dürfen nicht dazu da sein, sich
Privilegien zulasten der Arbeitnehmerschaft, der Be-
schäftigten bei den Kirchen, zu verschaffen.

Das wird allerdings, ähnlich wie es der Kollege Weiß
eben gesagt hat, zumindest von der Caritas, der Wohl-
fahrtsorganisation der katholischen Kirche, entschieden
bestritten. Die Caritas hat mir heute Morgen schriftlich
mitgeteilt, dass die Löhne und Gehälter im kirchlichen
Dienst, jedenfalls bei der Caritas, in der Regel deutlich
über den tariflich vereinbarten Löhnen lägen. Insofern
sei der sogenannte Dritte Weg, was die arbeitsrechtliche
Konstruktion betrifft, kein Wettbewerbsvorteil. Es be-
stehe aber ein massiver Druck der Kostenträger.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es!)






Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

Alle Einrichtungen, die im Pflegebereich oder in ande-
ren Bereichen der sozialen Dienstleistungen tätig sind,
beklagen, dass der Druck der Kostenträger immer uner-
träglicher wird. Dass sich das auch in der Lohngestal-
tung niederschlägt, ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Es
ist aber kein Spezifikum der kirchlichen Einrichtungen.
Dass die kirchlichen Einrichtungen gegebenenfalls da-
runter zu leiden haben, steht außer Frage.

Ich stelle die Behauptung streitig, dass vonseiten
kirchlicher Einrichtungen – wie Sie sagen, von Caritas
und Diakonischem Werk generell – systemisch Lohn-
dumping betrieben wird, um Wettbewerbsvorteile zu er-
reichen. Das muss geklärt werden. Die Aussagen stehen
sich außerordentlich kontrovers gegenüber. Wenn dem
so wäre, wäre das auf Dauer nicht hinnehmbar.

Das zweite Beispiel, das Sie in Ihrem Antrag nennen,
leuchtet mir ein. Sie beschreiben den Zusammenschluss
von kirchlichen Einrichtungen zu Interessenverbänden
wie dem VdDD, dem Verband diakonischer Dienstgeber
in Deutschland. Der Verband diakonischer Dienstgeber
– bei den Kirchen heißt es Dienstgeber statt Arbeitgeber –
sei Mitglied in der BDA, der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände, geworden und dort so-
gar im Vorstand vertreten. Das ist einem kirchlichen Ver-
band völlig unbenommen. Aber wenn das so ist, dann
müssen die Gewerkschaften dieselben Rechte im kollek-
tiven Arbeitsrecht haben, wie es andernorts der Fall ist.

Man kann nicht von einem Dritten Weg reden, wenn
man auf der einen Seite Mitglied in der Bundesvereini-
gung der deutschen Arbeitgeberverbände ist und damit
alle Möglichkeiten der organisierten Arbeitgeberseite
ausnutzt, aber auf der anderen Seite sagt, die Arbeitneh-
mer müssten sehen, wie sie mit den angebotenen Rege-
lungen zurechtkommen. Das geht nicht. Das wäre ein
nicht zu ertragender Widerspruch und müsste in der
Konsequenz geändert werden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Ich komme zum Schluss. Wir wollen unsererseits die
Vorgänge sorgfältig prüfen. Es sind fast 2 Millionen
Menschen betroffen. Mit insgesamt 1,7 Millionen Be-
schäftigten sind die Kirchen der größte Arbeitgeber in
Deutschland.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Es geht also nicht um irgendein Thema, sondern um ei-
nen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmerschaft und ihre
Arbeits- und Lohnbedingungen. Wir wollen und werden
das Gespräch darüber suchen.

Die Kirchen wären gut beraten, wenn sie auch in ihrer
Funktion als Arbeitgeber Vorbild wären.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht auch um die Glaubwürdigkeit dessen, was der
Kollege Weiß eben Caritas genannt hat, nämlich tätige
Nächstenliebe. In dem Fall beginnt die tätige Nächsten-
liebe bei den eigenen Beschäftigten. Man kann sie nicht
über Lohndumping und anderes in die Ecke drücken.

Frau Präsidentin, ich habe Ihre Hinweise bemerkt und
komme zum letzten Satz.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710818000

Das geht aber schon über die Nächstenliebe hinaus.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1710818100

Der beste Beitrag der Kirchen wäre, wenn sie ihrer-

seits vorhandene Missstände möglichst rasch abschaff-
ten. Das wäre der beste Beitrag dazu, dass das bewährte
Verhältnis zwischen Kirche und Staat auch in Zukunft
vom Grundsatz her in Deutschland nicht infrage gestellt
wird. Wir haben genügend Konflikte. Mehr brauchen
wir wirklich nicht.

Schönen Dank, Frau Präsidentin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710818200

Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1710818300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, in
der Tat ist die FDP die Partei, die sich der sozialen
Marktwirtschaft und auch dem Wettbewerb verschrieben
hat und die sich verantwortlich fühlt, Religionsfreiheit
nicht nur in der Bundesrepublik zu erhalten, sondern
auch weltweit dafür einzutreten.

Das Thema, über das wir heute sprechen, ist im Kern
eine Frage der Religionsfreiheit. Das lassen Sie in Ihrem
Antrag außer Acht, aber – darauf hat der Kollege
Schreiner glücklicherweise schon hingewiesen – Ihr
Kollege aus dem thüringischen Landtag, der dortige
Fraktionsvorsitzende, hat das sehr wohl verstanden. Er
kritisiert den Antrag, den Sie als Bundestagsfraktion der
Linken eingebracht haben, mit den Worten – ich zitiere
Bodo Ramelow –:

Der Tendenzschutz ist ein Gut, das die Linke bei
Parteien und Gewerkschaften respektiert.

Das müsse auch bei den Kirchen gelten.

Es geht also bei den Kirchen um ein besonderes Ar-
beitsverhältnis, das eben nicht vom Kapital auf der einen
Seite und Arbeit auf der anderen Seite und von der Frage
der Gewinnmaximierung bestimmt ist. Bei den Kirchen
geht es vielmehr um den kirchlichen Auftrag, nämlich
die Verkündigung des Wortes Gottes in Wort und Tat.
Wie sie das tun, ist Auftrag und Verantwortung der Kir-
chen selbst. Das können und wollen wir nach dem im
Grundgesetz verankerten Grundsatz der Religionsfrei-
heit den Kirchen nicht vorschreiben, auch nicht den
kirchlichen Arbeitgebern. Sie haben als Beispiel ge-
nannt, dass der Verkündigungsauftrag für einen Pfarrer
etwas anderes bedeutet als für eine Reinigungskraft, die





Pascal Kober


(A) (C)



(B)

die Kirche säubert. Das mag Ihnen plausibel erscheinen.
Die Grundsätze unserer Verfassung, die die Religions-
freiheit festschreiben, geben den Kirchen aber das Recht,
dies selbst zu definieren. Wir respektieren das und wol-
len den Kirchen in diesen Fragen nicht hineinreden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Kirchen verfahren – das ist von Kolleginnen und
Kollegen schon beschrieben worden – nach dem System
des sogenannten Dritten Weges. Es handelt sich um eine
besondere Sozialpartnerschaft. Warum sollte es im Übri-
gen nicht etwas Besonderes in unserer Gesellschaft ge-
ben? Auch hier ist es möglich, Vergleiche zu ziehen und
voneinander zu lernen. Sozialpartnerschaft bedeutet zu-
nächst eine paritätisch besetzte arbeitsrechtliche Kom-
mission, die eine Verständigung erzielt. Die verbleiben-
den Sachkonflikte werden durch eine neutrale und
verbindliche Schlichtung geklärt. Das System des Drit-
ten Weges ist sowohl durch das Bundesverfassungsge-
richt als auch durch das Bundesarbeitsgericht anerkannt
worden. Durch die Gestaltung des Schlichtungsverfah-
rens ist zudem ausgeschlossen, dass sich eine einzelne
Partei mit ihren Vorstellungen durchsetzen kann. Es ist
empirisch belegbar, dass die Schlichtungsverfahren re-
gelmäßig die Interessen beider Seiten angemessen be-
rücksichtigen. Die Regelung des Dritten Weges stellt si-
cher, dass die Interessen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter gewahrt werden, aber auch auf Arbeits-
kampfmittel verzichtet werden kann. Auch das wird
durch den Dritten Weg sichtbar. Es würde nicht dem
Selbstverständnis der Kirchen entsprechen, auf Mittel
des Arbeitskampfes wie beispielsweise den Ausschluss
von Mitarbeitern zurückzugreifen.

Der Antrag der Linken im Bundestag stellt in seinem
Grundtenor die Religionsfreiheit sowie die Trennung
von Staat und Kirche in der Bundesrepublik infrage.
Dies lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion entschie-
den ab. Wir treten für diese Unterscheidung, aber auch
für die Selbstständigkeit beider Institutionen ein. Nach
dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist es Angele-
genheit der Kirche, zu klären, welche Berufsbilder es in
ihr gibt und wie die jeweiligen Berufsbilder an der Erfül-
lung des Verkündigungsauftrags mitwirken. Die Kirchen
haben auch die Verantwortung, darüber zu entscheiden,
ob die Zugehörigkeit zur Kirche Voraussetzung für die
Einstellung ist, genauso wie Sie es zur Voraussetzung
machen können, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Linkspartei beispielsweise nicht zugleich Mitglieder
der FDP sind. Ich erinnere daran, dass Sie etwas für sich
selber in Anspruch nehmen, das Sie den Kirchen verwei-
gern wollen. Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten konse-
quent und aufrichtig Ihre Positionen vertreten.

Wir werden Ihren Antrag ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710818400

Der Kollege Josef Winkler hat das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Fraktion hat sich im Rahmen einer
Kleinen Anfrage mit dem sogenannten Dritten Weg der
Kirchen auseinandergesetzt. Es wurde bereits gesagt,
dass die Antwort der Bundesregierung recht dürftig ist.
Für uns scheint aber erkennbar zu sein, dass die Bundes-
regierung bis zum heutigen Tag nichts für veränderungs-
bedürftig und kritikwürdig hält. Diese Ansicht teilt
meine Fraktion explizit nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir befinden uns im Dialog sowohl mit der Arbeitge-
berseite als auch mit der Arbeitnehmerseite, auch mit
den Gewerkschaften, die versuchen, auf dem Klageweg
Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch-
zusetzen und auszubauen. Es geht uns aber nicht darum,
mit dem Finger auf die Kirche zu zeigen und ihre Tätig-
keit im sozialen Bereich schlechtzureden. Diese Arbeit
sollte vielmehr gewürdigt werden. Die Vielzahl der
kirchlichen Einrichtungen, die in allen Bereichen des so-
zialen Lebens unserer Gesellschaft tätig sind, sollten un-
sere Unterstützung finden. Ihnen allen gebührt unser
Dank für das, was sie tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass in der Sozialbranche die Ökonomisierung um
sich gegriffen hat, ist auch nicht ein spezielles Problem,
das nur die Kirchen betrifft. Das ist nicht nur dort, son-
dern in allen sozialen Einrichtungen so. Deshalb sollte
man nicht einfach mit dem Zeigefinger in Richtung Kir-
chen argumentieren. Der Kostendruck ist nun einmal so,
wie er ist. Er ist aber keine Folge des kirchlichen Selbst-
bestimmungsrechts, sondern die Konsequenz aus der
Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen in der Gesell-
schaft insgesamt. Vor diesem Hintergrund wie die Linke
zu argumentieren, ist ein wirklich „unterkomplexer An-
satz“. Man kann nicht einfach das kirchliche Selbstbe-
stimmungsrecht abschaffen, nur weil es Probleme gibt.
Mit dieser Generalisierung verfolgen Sie einen falschen
Ansatz, den wir nicht mittragen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben in Ihrem Antrag auch nicht ein einziges
Mal – und das wohl aus gutem Grund – Bezug darauf
genommen, wie das Ganze in die Verfassung der Bun-
desrepublik Deutschland hineingekommen ist. Sie sa-
gen, es sei eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, dass
die Kirchen ihre Tätigkeit im erzieherischen und sozia-
len Bereich theologisch herleiteten. So haben Sie es in
Ihrem Antrag zumindest suggeriert. Dazu sage ich: Das
haben Sie nicht zu beurteilen. Wenn die Kirchen das
theologisch herleiten, dann leiten die Kirchen das theo-
logisch her, und das hat der Staat zu akzeptieren. Da
kann sich die Linksfraktion hier im Bundestag ruhig auf
den Kopf stellen. Die Linksfraktionen in den Bundeslän-

(D)






Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)

dern wollen das ja gar nicht ändern, wie wir eben gehört
haben.

Auch wir sehen, dass es natürlich ein Problem ist,
dass nicht gestreikt werden kann, auch wenn die Arbeit-
geberseite bei den Kirchen nicht aussperren darf. Man
wird doch wohl auch darüber diskutieren dürfen, ob das
noch zeitgemäß ist.

Ich denke auch, dass die Nichtgeltung der Antidiskri-
minierungsregeln in den kirchlichen Betrieben ein Pro-
blem darstellt. Es wäre den Kirchen zumindest nicht ver-
wehrt, die Stufenregelung wie früher freiwillig jetzt
schon anzuwenden. Je verkündigungsnäher ein Arbeit-
nehmer ist, desto eher könnte man sagen: Die Kirche
muss das selbst entscheiden.

Ich halte es aber für absolut abwegig – und es gibt
keinen Fall, der mir logisch erscheint –, dass zum Bei-
spiel einer Putzfrau gekündigt werden darf, weil sie
nicht die gleiche Konfession hat. Es tut mir leid, aber da
müssen die Kirchen mit gutem Beispiel vorangehen und
dürfen das Recht, das sie haben, nicht ausnutzen. So
sieht es meine Fraktion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Über diesen Widerspruch, der vorhanden ist, wollen
wir diskutieren. Ich bin von der Möglichkeit nicht be-
sonders überzeugt, dass wir einfach Recht setzen und die
Kirchen vor vollendete Tatsachen stellen. Ob das über-
haupt verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist noch eine
andere Frage. Wir sollten aber die kritischen Punkte, die
wir sehen, im Dialog mit den Kirchen und den Gewerk-
schaften in den nächsten Monaten – natürlich auch in
den Ausschüssen – diskutieren und konkretisieren. Wir
sollten auch den widersprüchlichen Zahlen, die Kollege
Schreiner angesprochen hat, auf den Grund gehen. Ich
bin mir sicher, dass die beiden großen Kirchen, wenn es
da wirklich Probleme gibt, bereit sind, hierzu in einen
Dialog mit dem Deutschen Bundestag einzutreten.

Ich halte es nicht für vernünftig, so vorzugehen, wie es
die Linksfraktion vorschlägt, nämlich einfach einmal
eine Gesetzesänderung zu beschließen und dann zu sa-
gen: Nun schaut einmal, wo ihr bleibt. Das ist kein wirk-
liches Dialogangebot. Deshalb sind wir uns noch nicht si-
cher, wie wir mit dem Antrag in der zweiten Lesung
umgehen werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710818500

Ulrich Lange hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1710818600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich stelle zunächst eines erfreut fest: Mit Ausnahme
der Linken – der Bundestagsfraktion der Linken, muss
ich jetzt genauer sagen – herrscht hier bei uns im Hohen
Haus doch ein grundsätzlicher Konsens darüber, dass
kirchliches Arbeitsrecht, die kirchliche Selbstbestim-
mung und die Trennung von Kirche und Staat, dessen
Ausdruck das Ganze ist, bei uns letztlich unangefochten
bleiben müssen. Denn wir alle wissen, was die Kirchen
über Jahrhunderte in diesem Land geleistet haben. Es
geht am Ende nicht, wie in Ihrem Antrag steht, darum,
wie viel Prozent der Bundesbürger einer der beiden gro-
ßen Kirchen angehören, sondern – wie vorhin schon
ganz richtig betont worden ist – es geht um das religiöse
Verständnis der Kirchen an sich, ihr eigenes Profil und
ihren Daseinszweck mit der Caritas, wie der Kollege
Weiß vorhin so schön sagte, als Wesensäußerung der
Kirche.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Lin-
ken, kann ich auch nicht ganz nachvollziehen, wenn Sie
letztlich von einem Konzern Kirche sprechen; denn vie-
les, was die Kirche, die kirchlichen und die caritativen
Einrichtungen in unserem Land leisten, könnten Sie auf
einem freien Markt nicht anbieten. Sie hätten nieman-
den. Das müsste am Ende der Staat machen. Deswegen
glaube ich, dass hier das Gewachsene eine sehr gute Ba-
sis ist, auf der wir weitermachen wollen.

Über die Vorteile des Dritten Weges ist auch schon
gesprochen worden. Die Stellung der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter ist beileibe nicht so schwach, wie uns
der Antrag der Linken suggerieren möchte.

Lassen Sie mich aber kurz ganz speziell auf das
Thema Loyalitätsverstoß eingehen. Sie sagen, ein Loya-
litätsverstoß würde – wie es das Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte, das Sie zitiert haben,
besagte – letztlich zu einem Kündigungsautomatismus
führen. Da haben Sie entweder das Urteil nicht ganz
richtig gelesen oder nicht ganz richtig verstanden.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Beides! Beides ist richtig!)


– Ich wollte jetzt noch die Auswahl lassen. – Sie haben
letztlich unterschlagen, dass der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte – mit Urteil vom 3. Februar die-
ses Jahres noch einmal bestätigt – ganz klar gesagt hat,
dass das deutsche Kirchenrecht, das kirchliche Arbeits-
recht, grundsätzlich mit europäischem Recht vereinbar
ist. Die Entscheidung in der Klage dieses Organisten ist
letztlich eine Abwägungsfrage gewesen, eine reine Ein-
zelfallentscheidung. Denn zum Beispiel hat der Europäi-
sche Gerichtshof für Menschenrechte am 3. Februar die
Kündigung einer Kindergärtnerin für rechtens erklärt ge-
nau mit dem Argument, dass die Religionsfreiheit der
Beschwerdeführerin nicht verletzt worden sei. Es geht
also letztlich immer um die Einzelfallabwägung und die
Einzelfallbetrachtung.

Lieber Kollege der Linken, die Kirchen verstehen das
kirchliche Arbeitsrecht nicht als Freibrief. Das wissen
auch wir hier im Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachtet man das
Gros der arbeitsrechtlichen Judikatur des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte und auch unserer Ar-
beitsgerichte zu den kirchlichen Arbeitsverhältnissen,
dann zeigt dies, dass man sehr wohl bereit ist, die Beson-
derheit dieses kirchlichen Arbeitsverhältnisses mitzutra-





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

gen, und das – ich sage das jetzt ausdrücklich – nicht nur
wegen Art. 140 des Grundgesetzes, mit dem wir Teile
der Weimarer Reichsverfassung übernommen haben,
sondern weil wir – das zeigt auch der Konsens in diesem
Haus – wissen, welche Leistungen die Kirchen hier für
uns als Gesellschaft erbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gleichzeitig – das möchte ich auch deutlich unterstrei-
chen – ist dieses verfassungsrechtlich gebotene Entge-
genkommen auch eine Verpflichtung für die Kirchen,
entsprechend als Vorbild zu handeln. Überall dort, wo
das nicht der Fall ist, muss sich die Kirche selber fragen,
ob sie dieses Arbeitsrecht dann in Anspruch nehmen
kann.

Ich sage für die Christlich-Soziale und die Christlich-
Demokratische Union: Wir wollen ein ausgewogenes
christliches, kirchliches Arbeitsrecht auch in einer profa-
neren Zukunft. Ich sage allen ein herzliches „Vergelts
Gott!“, die in kirchlichen Einrichtungen ihren Dienst
tun. Wir stehen weiter zu ihnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ottmar Schreiner [SPD]: Wir sind hier nicht im Festzelt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710818700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5523 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Die Federführung
soll beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan
Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert
Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz),
Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Gestaltung der zukünftigen europäischen
Forschungsförderung der EU (2014-2020)


– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager,
Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Stärkung des Europäischen Forschungs-
raums – Die Vorbereitung für das 8. For-
schungsrahmenprogramm in die richtigen
Bahnen lenken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Europäische Forschungsförderung in den
Dienst der sozialen und ökologischen Er-
neuerung stellen

– Drucksachen 17/5492, 17/5449, 17/5386,
17/5802 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Es ist vorgesehen, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bun-
desregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas
Rachel.

T
Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1710818800


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Europäische Union ist ein großer Frie-
dens- und Freiheitsraum. Europa ist ein großer Binnen-
markt für Waren und Dienstleistungen. Europa ist der
uns verbindende Kulturraum, der die Vergangenheit und
die Zukunft prägen wird. Europa muss aber auch ein
Raum für Forschung und Innovation sein. Deshalb hat
die Bundesregierung sehr frühzeitig damit begonnen,
sich an der Diskussion über die Fortentwicklung des
8. Forschungsrahmenprogramms mit eigenen program-
matischen Vorstellungen zu beteiligen.

Mit ihrem Grünbuch hat die Europäische Kommission
zu Beginn dieses Jahres die Debatte darüber angestoßen,
wie Forschung und Innovation in einem gemeinsamen
strategischen Rahmen zu einem stärker wissensbasierten
und nachhaltigen Wachstum beitragen können. Die Bun-
desregierung befürwortet diesen integrativen Ansatz, den
wir auch in der Hightech-Strategie der Bundesregierung
vertreten, und setzt auf einheitliche Fördermodalitäten.
Sie will, dass wir keine starren, sondern flexible Regelun-
gen bekommen, um neue Chancen und Herausforderun-
gen in einem kontinuierlichen Prozess aufgreifen zu kön-
nen.

Ich freue mich, dass sich die im Bundestag vertrete-
nen Fraktionen über die herausragende Bedeutung von
Forschung und Entwicklung einig sind. Ich sehe viele
Parallelen in den Anträgen der Fraktionen, zum Beispiel
in der Fokussierung auf die großen gesellschaftlichen
Herausforderungen, in dem klaren Bekenntnis zum Vor-
rang der Verbundforschung als dem Kernstück der euro-
päischen Forschungsförderung sowie in der Forderung
nach einer deutlichen Vereinfachung der Förderverfah-
ren. Gerade in dieser Vereinfachung entscheidet sich die





Parl. Staatssekretär Thomas Rachel


(A) (C)



(D)(B)

Akzeptanz des 8. Forschungsrahmenprogramms in unse-
ren Ländern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Darüber hinaus freuen wir uns über die große Zustim-
mung der christlich-liberalen Koalition zur Orientierung
der künftigen europäischen Forschungspolitik am Exzel-
lenzprinzip. Mit dem exzellenzgetriebenen Forschungs-
rahmenprogramm haben wir in Europa eine weltweit an-
erkannte Marke etabliert. Daher ist es unverständlich,
dass aus den Reihen der Opposition eine Abschwächung
des Exzellenzprinzips zugunsten von Kohäsionszielen
angestrebt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Anstatt die für den Erfolg des Rahmenprogramms
notwendige Exzellenz der europäischen Forschung
durch Kohäsionsziele zu verwässern, sollten wir gerade
mithilfe des Strukturfonds Brücken für eine bessere Be-
teiligung strukturschwacher Regionen am Forschungs-
programm bauen. Den Weg der Angleichung der euro-
päischen Forschungslandschaft auf einem mittelmäßigen
Niveau werden wir nicht mitgehen; denn ein solcher
Weg nützt weder den europäischen noch den deutschen
Interessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In diesem Zusammenhang möchte ich darauf verwei-
sen, dass keineswegs alle neuen Mitgliedstaaten im Rah-
menprogramm unterrepräsentiert sind. Es besteht viel-
mehr ein sehr uneinheitliches Bild in der Beteiligung der
Mitgliedstaaten. Unsere Analysen zeigen, dass das er-
folgreiche Einwerben von Fördermitteln im europäischen
Wettbewerb maßgeblich von der jeweiligen Ausgestal-
tung der regionalen und nationalen Politik abhängt.

Wir sind bereit, in der nächsten Förderperiode unse-
ren Beitrag für eine Heranführung der im Programm bis-
lang unterrepräsentierten Regionen zu leisten. Wir sind
hier für kreative und innovative Ideen offen. Hier sind
Lösungsansätze denkbar, die eine Art Hilfestellung für
Einrichtungen und Unternehmen aus den neuen Mit-
gliedstaaten darstellen. Eine Vermischung des Exzel-
lenzprinzips mit dem Kohäsionsprinzip in einem einzi-
gen Programm ist aus unserer Sicht jedoch kein
gangbarer Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Forschungsrahmenprogramm ist ein wichtiges
Instrument für ein wissensbasiertes, nachhaltiges und in-
tegratives Wachstum. Deshalb werden wir einer Ent-
kopplung von wirtschaftlichen und forschungspoliti-
schen Zielsetzungen, wie sie die Fraktion Die Linke
fordert, nicht zustimmen. Sie steht auch im fundamenta-
len Widerspruch zur Europa-2020-Strategie. Wir wollen
uns sowohl den Herausforderungen der Gesellschaft
stellen als auch gleichzeitig neue Wachstumspotenziale
ermöglichen. Aus dem Gemeinsamen wird der Mehr-
wert für die Europäische Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Euro-
päische Forschungsrat hat die grundlagenorientierte Pio-
nierforschung in der europäischen Forschungslandschaft
nach vorne gebracht. Konzipiert als wissenschaftsgelei-
tetes Förderprogramm für exzellente und unabhängige
Forschung, gehört der Europäische Forschungsrat be-
reits jetzt zu den herausragenden neuen Elementen des
europäischen Forschungsraums. Durch einen Impuls von
Bundesforschungsministerin Annette Schavan während
der deutschen EU-Präsidentschaft ist dieser Europäische
Forschungsrat geschaffen worden.

Der ERC stärkt den innereuropäischen Exzel-
lenzwettbewerb um die besten Köpfe in ganz Europa
und trägt so auch zur Attraktivität des Europäischen For-
schungsraums für Forscherinnen und Forscher – übri-
gens auch aus Drittstaaten – bei. Dies wollen wir stär-
ken. Der ERC muss der Leuchtturm der europäischen
Grundlagenforschung sein.

Die Opposition hat Angst vor einem klaren Exzel-
lenzprinzip im 8. Forschungsrahmenprogramm.


(Lachen der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Für uns dagegen ist Exzellenz die entscheidende Grund-
lage für die Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunftsfä-
higkeit dieser Europäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Voraussetzung für den Erfolg des Gemeinsamen Stra-
tegischen Rahmens für Forschung und Innovation ist
zweifellos eine gesamteuropäische Diskussion über die
Schwerpunkte im europäischen Haushalt. Wir wollen
eine Neuausrichtung des EU-Haushalts zugunsten der
Zukunftsinvestitionen und zugunsten von Forschung und
Innovation. Dafür setzen wir uns ein. Das sollte unser
gemeinsames Ziel sein.

Die Bundesregierung wird die Aufgabe der Sicherung
der wissenschaftlichen und technologischen Leistungs-
fähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit Europas mit ihrer
klaren Programmatik voranbringen, sodass wir die Zu-
kunft für die Menschen in Europa gemeinsam erfolg-
reich gestalten können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710818900

Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. –

Als Nächster hat unser Kollege René Röspel für die
Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön,
Kollege René Röspel.


(Beifall bei der SPD)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1710819000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das 7. Forschungsrahmenprogramm ist ein tat-
sächliches Schwergewicht in der europäischen Politik –
nicht nur wegen seines finanziellen Volumens von





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

54 Milliarden Euro, das hier bereitgestellt wird, sondern
gerade auch wegen seines Inhalts. Es geht nämlich um
die Förderung europäischer Forschungspolitik und For-
schungsvorhaben.

Mittlerweile haben glücklicherweise viele Länder
verstanden – Deutschland schon länger –, wie wichtig
Bildung, Forschung und Innovationen sind – nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Europa.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen ist es sehr gut, dass sich der Deutsche Bun-
destag und die Bundesregierung in diesem Jahr schon
seit längerer Zeit damit befassen, die Erstellung des
8. Forschungsrahmenprogramms zu begleiten und die
Weichen frühzeitig zu stellen. Das 8. Forschungsrah-
menprogramm wird nämlich eine ähnlich wichtige Be-
deutung wie das 7. Forschungsrahmenprogramm haben.
Deswegen wäre es gut und angemessen gewesen, wenn
wir als Deutscher Bundestag eine gemeinsame, klare
Position entwickelt und nach Brüssel gesandt hätten, um
deutlich zu machen, was Deutschland für richtig und
sinnvoll hält.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wäre möglich gewesen. Herr Rachel, Sie haben
die Gemeinsamkeiten angesprochen. Es gibt viele Ge-
meinsamkeiten aus deutscher Sicht, die sicherlich alle
Fraktionen in einem klaren, knappen Antrag unterschrie-
ben hätten.

Wir alle wollen, dass das 8. FRP finanziell mindes-
tens genauso stark ausgestattet wird wie das 7. For-
schungsrahmenprogramm; vielleicht könnte man den
Etat sogar erhöhen. Wir sind überzeugt, dass das Pro-
gramm „Verbundforschung“, in dem verschiedene Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen europäi-
schen Ländern miteinander ein Thema bearbeiten,
erfolgreich war. Wir sehen, dass der Europäische For-
schungsrat, wo Fördergelder nach Exzellenz, also nach
wissenschaftlicher Qualität, an junge Nachwuchswissen-
schaftler oder erfahrene Wissenschaftler vergeben wer-
den, ein erfolgreiches Projekt ist, vergleichbar der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft. Wir alle sind überzeugt
– das wäre ein weiterer Punkt –, dass Wissenschaftlerin-
nen stärker gefördert werden müssen, als es jetzt der Fall
ist, nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäi-
scher Ebene.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Wir wissen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs bes-
ser gefördert werden muss. Ein letztes Beispiel: Ja, wir
brauchen eine Vereinfachung der Verfahren bei den eu-
ropäischen Fördermitteln, nicht nur bei der Antragstel-
lung, sondern auch bei der Abrechnung.

Das alles hätten wir in einen gemeinsamen interfrak-
tionellen Antrag kleiden können. Das wäre ein starkes
Signal an Brüssel gewesen. Wir hätten sagen können:
Das deutsche Parlament will diese Kernforderungen im
8. Forschungsrahmenprogramm verwirklicht sehen. –
Leider ist das nicht gelungen. Wir als SPD, als Opposi-
tion, waren dazu bereit, ein gemeinsames Paket zu
schnüren. Ich kenne die Schwierigkeiten, die eine Regie-
rungskoalition hat. Aber wir haben in der letzten Legis-
laturperiode durchaus gezeigt, dass es von Regierungs-
seite möglich ist, etwas Gemeinsames dort zu machen,
wo es sinnvoll ist. Jetzt aber werden die Bundesrepublik
Deutschland, das deutsche Parlament als zersplittert
wahrgenommen, weil es unterschiedliche Anträge und
einen Antrag, der die Mehrheit finden wird, gibt. Das
finde ich sehr schade, und das ist dem Thema nicht ange-
messen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Allerdings gibt es auch eine Reihe von Unterschieden
in der Bewertung.


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das ist der Grund!)


– Nein, die hätte man in anderen Anträgen aufgreifen
können. Bei den vielen Gemeinsamkeiten hätten wir
schon einen guten Antrag auf den Weg bringen können. –
Die Differenzen will ich benennen. Gerade ist das Exzel-
lenzprinzip angesprochen und Rot-Grün der Vorwurf ge-
macht worden, wir wollten mit unserem Antrag das Ex-
zellenzprinzip aufweichen. Das ist zwar ein interessanter
rhetorischer Versuch, aber es ist genau umgekehrt.
Schauen wir uns den Antrag der CDU/CSU an – den
kann man übrigens gut knicken –


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und was in ihm über Exzellenz steht. Wir betonen in un-
serem rot-grünen Antrag ausdrücklich das Bekenntnis zur
Exzellenz. Wir sagen, dass es unbestritten ist, dass Exzel-
lenz, also die wissenschaftliche Qualität, das bestim-
mende Prinzip sein muss, aufgrund dessen Fördermittel
vom Europäischen Forschungsrat vergeben werden müs-
sen. Was steht aber im Antrag der CDU/CSU? Wenn das
Exzellenzprinzip verwässert wird, dann in diesem Papier.
Auf Seite 2 steht, dass Exzellenz das wichtigste Krite-
rium sei, an anderer Stelle, dass Exzellenz Priorität habe
und das ausschließliche Kriterium sei. In Punkt 3 aber
schreiben Sie, es sei die „Marktrelevanz bei der Vergabe
von Fördermitteln zu berücksichtigen, damit die For-
schungsförderung einen noch größeren Beitrag zur wirt-
schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit leisten kann …“. Auf
Seite 4 wird es noch toller. Dort steht, die Marktrelevanz
sei neben dem Exzellenzkriterium wichtig, und vor allem
müssten die Forschungsprojekte bereits am Anfang stär-
ker auf ihre Marktrelevanz geprüft werden – nicht auf die
Exzellenz, sondern auf die Marktrelevanz. Das finde ich
allerdings schon sehr spannend. Sie sind es, die das Ex-
zellenzprinzip verwässern, weil Sie ein neues Kriterium
einführen, die Marktrelevanz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

Ich will Ihnen sagen, warum diese Abkehr einen rich-
tig großen Fehler darstellt. Ich will zwei Beispiele nen-
nen.

Erstes Beispiel. Wenn Sie Exzellenz als wichtiges
Kriterium sehen, aber Marktrelevanz berücksichtigen,
dann setzen Sie das Ziel, dass das Forschungsrahmen-
programm einen Beitrag zur, wie Sie sagen, wirtschaftli-
chen Wettbewerbsfähigkeit leisten soll. Wir allerdings
sehen – so habe ich die Leitlinien der Bundesregierung
und auch die Europäische Kommission und das Parla-
ment verstanden – das Forschungsrahmenprogramm als
einen Beitrag, die großen Herausforderungen unserer
Gesellschaft zu bewältigen: Klima, Energie, Umwelt-
schutz, Gesundheit, demografische Veränderung und Al-
ter. Es ist also die Frage zu stellen, was wir tun und wie
wir forschen müssen, damit Menschen gesünder leben
und damit sie im Alter länger fit bleiben.

Das alles kann dazu führen, dass dabei marktrelevante
Produkte herauskommen. Aber das ist nicht das Kernziel.
Das kann nach unserer Auffassung auch dazu führen, dass
Sozial- und Geisteswissenschaften stärker berücksichtigt
werden und nicht nur technologische Forschung betrie-
ben wird. Sie erreichen also das Ziel, das wir verfolgen,
nämlich die großen Herausforderungen in den Bereichen
Gesundheit und Umwelt anzunehmen, überhaupt nicht,
wenn Sie Marktrelevanz als zusätzliches Kriterium ein-
führen.

Zweites Beispiel. Wenn, wie Sie schreiben, vor jeder
Förderung eines Forschungsprojektes die Marktrelevanz
geprüft werden muss, bedeutet das den Tod von Grund-
lagenforschung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei Grundlagenforschung kann Marktrelevanz nämlich
nicht nachgewiesen werden. Auch bei Forschung im Ge-
sundheitsbereich, bei der es ja darum geht, die Situation
von Menschen zu verbessern, weiß man nicht, ob am
Ende ein marktrelevantes Produkt herauskommt. Ich
finde – das war vielleicht der Grund, warum der Rede-
beitrag der Bundesregierung gleich am Anfang kam –,
dass Sie vom Exzellenzprinzip tatsächlich in einer fal-
schen Weise Abschied nehmen. Das bedauern wir sehr.

Einen weiteren Differenzpunkt möchte ich noch ab-
schließend nennen – meine Redezeit läuft ab –: Wir glau-
ben, dass die geforderte Energiewende es nötig macht,
auf europäischer Ebene über Veränderungen bei der For-
schungsförderung im Energiebereich nachzudenken, und
zwar hin zu mehr Klimaforschung und zur Erforschung
von erneuerbaren Energien und von Energieeffizienz. Da-
mit können wir die großen Herausforderungen, vor denen
sich Europa und Deutschland gestellt sehen, auch besser
angehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710819100

Wir danken Ihnen, Herr Kollege. – Als Nächster

spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Professor
Dr. Martin Neumann. Bitte schön, Kollege Neumann,
Sie haben das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1710819200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die zentrale Frage, die sich hier im Saal stellt,
ist die Frage nach den Merkmalen des weiteren Ausbaus
des Europäischen Forschungsraums. Wenn man sich die
Anträge anschaut – wir haben ja gestern im Ausschuss
sehr ausführlich darüber gesprochen –, dann stellt man
fest, dass wir in der Tat recht dicht beieinanderliegen,
einmal abgesehen vom Antrag der Linken. Dazu gibt es
tatsächlich deutliche Differenzen.

Ich will an dieser Stelle einen ganz wichtigen Punkt
hervorheben: Wir haben ein unterschiedliches Verständ-
nis von der Zielstellung. Wir wollen mit unserem Antrag
nicht erreichen, dass es ein europäisches Forschungssys-
tem gibt, sondern wir wollen einen gemeinsamen Euro-
päischen Forschungsraum definieren. Das ist ein ganz
gravierender Unterschied. Worin besteht der Unter-
schied? Wir wollen, dass die Mitgliedstaaten, also auch
wir und damit unser Forschungsstandort Deutschland,
selbst für die Leistungsfähigkeit der nationalen For-
schungssysteme Verantwortung übernehmen. Das heißt,
wir wollen primär in den nationalen Forschungssystemen
die Schwerpunktsetzung, die Gestaltung der Forschungs-
infrastruktur, die Förderung von wissenschaftlichem
Nachwuchs und – das ist ganz wichtig und wird auch im-
mer wieder angesprochen – die Partizipation von Frauen
in der Wissenschaft vornehmen. Das Forschungsrahmen-
programm der EU ist also als gemeinsame Initiative ge-
dacht, unter dessen Dach die Koordinierung und Verzah-
nung der jeweiligen nationalen Forschungsstandorte und
-strukturen stattfindet.

Ein weiterer Punkt ist ganz deutlich hervorzuheben:
Bei den Veranstaltungen in Brüssel, die wir gemeinsam
besucht haben, haben wir festgestellt, dass die Vereinfa-
chung ein ganz wichtiges Kriterium ist. Viele Partner,
die sich an diesen Programmen beteiligen wollen, stöh-
nen nämlich immer wieder darüber, dass alles sehr
schwierig ist. Wenn man schon weiß, dass das For-
schungsrahmenprogramm sehr schwierig ausgestaltet
ist, dann darf man die Programme nicht noch weiter
überladen. Das genau tun Sie aber, wenn Sie fordern,
dass weitere Dinge aufgenommen werden, zum Beispiel
das Kriterium der Forschungsstrukturförderung für ex-
zellenzschwache Regionen bei der Vergabe von Förder-
mitteln. Wir wollen nicht – das will ich hervorheben,
weil es für uns wichtig ist –, dass die Kohäsionspolitik
entscheidend bei der Vergabe von Fördermitteln sein
soll.

Wir haben gestern im Ausschuss sehr ausführlich da-
rüber gesprochen, dass für die Kohäsionspolitik in Eu-
ropa eine Vielzahl von Instrumenten und Fördermitteln
vorgesehen ist, die dann natürlich auch von den jeweili-
gen Ländern für die Förderung der Forschungsinfra-





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)

struktur verwendet werden können. Ich möchte deshalb
nochmals ganz deutlich auf den Kohäsionsfonds hinwei-
sen, der ausreichend Mittel bereithält, um exzellenz-
schwache nationale Forschungssysteme besser aufzu-
stellen und leistungsfähiger zu machen. Dieser Punkt ist
für uns sehr wichtig, und ihn möchten wir an dieser
Stelle sehr deutlich hervorheben. Nur so ist es nach un-
serer Auffassung möglich, dass der Europäische For-
schungsrat auch in Zukunft Erfolge und hervorragende
Leistungen erzielt.

In der gestrigen Ausschusssitzung ist von Ihnen, Frau
Sager, und gerade auch von Herrn Röspel das Kriterium
der Marktrelevanz als Widerspruch dargestellt worden.
Wir finden, dass sich dieses Kriterium in den Zusam-
menhang der Verbundforschung einfügt und dass es kein
Widerspruch ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Wir
wollen, dass in der Forschung – das muss man an dieser
Stelle noch einmal deutlich sagen; Staatssekretär Rachel
hat es ebenfalls hervorgehoben – ausschließlich das Ex-
zellenzkriterium gilt, während bei der Entwicklung die
Marktrelevanz neben der Exzellenz berücksichtigt wer-
den muss. Das Kriterium der Marktrelevanz steht also
aus unserer Sicht in keinem Widerspruch zu den anderen
Kriterien, sondern trägt vor dem Hintergrund der Europa-
2020-Strategie zu der Schaffung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit mittels wirtschaftlicher Innova-
tion bei.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-
tion, Sie meinen, wir müssten auch im Forschungsrah-
menprogramm berücksichtigen, wie man schwächere
Partner einbeziehen kann. Das war, glaube ich, der Kern
Ihrer Ausführungen. In dem bilateralen Twinning-Pro-
gramm werden Fördermittel an exzellenzstarke Partner
vergeben, die dann innerhalb des Programms schwä-
chere Partner und Regionen mitnehmen, sodass die
schwächeren Partner durch die Kooperation wachsen
können. Vielleicht ist das Twinning-Programm somit
auch die Antwort auf Ihre Frage, wie man die struktur-
schwachen Regionen besser fördern und sie möglicher-
weise in die Entwicklung mit einbeziehen kann.

Der Gedanke der Kooperation und Partnerschaft
steckt nicht nur – das ist ein ganz wichtiger Punkt – in
dem bilateralen Twinning-Programm. Ich möchte hier
einen weiteren Schwerpunkt nennen, der diesen Gedan-
ken beinhaltet, nämlich die Verbundforschung, die ins-
besondere die Zusammenarbeit von Hochschulen, For-
schungseinrichtungen und der Wirtschaft, vor allem mit
den kleinen und mittleren Unternehmen, anstrebt.

Genau diese Kooperationen sind nach meiner persön-
lichen Überzeugung Innovationstreiber für den europäi-
schen Markt. Deshalb benötigen diese Projekte unsere
politische Rückendeckung.

Zu Beginn ist hier die Frage gestellt worden, warum
wir keinen gemeinsamen Antrag gestellt haben. Ich habe
gerade auf die wesentlichen Unterschiede hingewiesen.
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass es nicht
sein kann, dass wir unserer Bundesregierung für diese
Diskussion in Europa einen Minimalkonsens an die
Hand geben. Vielmehr wollen wir einen starken Antrag
haben. Dabei sind das Exzellenzkriterium und die
Marktrelevanz entscheidend und zentral, und nur unter
Berücksichtigung dieser Kriterien hätte möglicherweise
ein konsensfähiger Antrag entstehen können.

Wir haben einen konsistenten Antrag vorgelegt und
die Gründe genannt, warum wir Ihre Anträge ablehnen
werden. Wenn Ihnen an einem politischen Signal in
Richtung Europa gelegen ist, wie Sie es im Ausschuss
geäußert haben, lade ich Sie sehr herzlich ein, sich unse-
rem Antrag anzuschließen.


(René Röspel [SPD]: Umgekehrt wäre es auch möglich!)


Ich bedanke mich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710819300

Vielen Dank, Herr Kollege Professor Neumann. –

Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Dr. Petra Sitte. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Sitte.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710819400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann,

glaube ich, mit meinem Beitrag sehr gut an die Rede von
Herrn Röspel anschließen. Die Diskussionen um das
8. Forschungsrahmenprogramm fallen immerhin in eine
Zeit, da sich existenzielle Fragen der Zukunft in einer
völlig neuen Schärfe stellen. Ob Finanzkrise, Klimawan-
del oder Fukushima – Störfälle und Krisen schrecken die
Menschen in der gesamten Welt auf. Es hat sich in dieser
Situation gezeigt, dass weder Politik noch Wissenschaft
zuverlässige Voraussagen und Handlungsoptionen zur
Beherrschung solch komplexer Systeme für Szenarien
des Zusammenbruchs bieten konnten. Tausende Opfer
heute und in der Zukunft sowie unabsehbare Folgen und
Kosten für die menschliche Gemeinschaft erfordern von
uns einen anderen Umgang mit entgrenzten Risiken. Es
kann hier also niemand mehr so tun, als hätten Wissen-
schafts- und Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund die-
ser Ereignisse kein massives Legitimationsproblem. Viel
zu groß ist der Vertrauensverlust.

Wissenschaft und Wirtschaft müssen Fragen einer zu-
tiefst verunsicherten und kritischen Öffentlichkeit in ei-
ner ganz neuen Dimension und Konsequenz beantwor-
ten. Vor diesem Hintergrund muss der bisherige Fort-
schrittskonsens neu diskutiert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Risikoforscher sprechen von einer weltweiten Gemein-
samkeit der Gefahr. Als Fazit formulieren sie die politi-
sche Vision: Kooperiere oder scheitere! Das deckt sich
zu 100 Prozent mit den Positionen der Linken. Im Um-
kehrschluss heißt doch Ihre Position zur Marktrelevanz
der Forschung nichts anderes als: Konkurriere und schei-
tere! Unser Antrag trägt deshalb die Überschrift „Euro-
päische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen
und ökologischen Erneuerung stellen“.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)

Wissenschaft und Forschung können einerseits Eu-
ropa neue Perspektiven für eine moderne, sozial-ökolo-
gische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ge-
ben, andererseits entscheidende Beiträge zur gerechteren
Lösung gesellschaftlicher Konflikte über europäische
Grenzen hinaus leisten.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist Karl Marx durch die Hintertür!)


Meine Damen und Herren von der Koalition, dafür brau-
chen wir sehr viel Exzellenz.

Wir haben nichts Geringeres als die Frage zu beant-
worten: Wie wollen wir und wie können wir in Zukunft
leben? Der Koalitionsantrag – das ist schon angedeutet
worden – folgt ziemlich unbeeindruckt der alten Logik,
als hätte es die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht gege-
ben, als würde in Fukushima nicht immer noch der
Rauch aufsteigen. Das liest sich im Koalitionsantrag wie
folgt – ich zitiere –:

Die zukünftige Forschungs- und Innovationsförde-
rung muss … noch klarer … auf die technologische
Führungsrolle und die industrielle Wettbewerbsfä-
higkeit Europas ausgerichtet werden.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Darum geht es doch auch!)


An anderer Stelle heißt es:

Die Bemühungen Europas bei der Forschungs- und
Innovationsförderung sollen das Potenzial für wirt-
schaftliches Wachstum haben.

Es ist mir, ehrlich gesagt, schleierhaft, wie man glau-
ben kann, unter dieser Prämisse tatsächlich Lösungen für
die großen gesellschaftlichen Herausforderungen erar-
beiten zu können. Gerade dieses einseitige wirtschafts-
und technologiezentrierte Herangehen hat doch erst die
Konflikte hervorgebracht und sie verschärft.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bundestag hat es unlängst für nötig erachtet, eine
Enquete-Kommission einzusetzen, die sich vor allem
mit der Frage beschäftigt, ob nicht gerade diese Wachs-
tumslogik eine zentrale Ursache der Probleme ist. Nach
Ansicht der Koalition soll die Wirtschaft nicht nur weiter
die Themen setzen, sondern sogar noch dominanter.
Wohl wahr: Das sehen wir ausdrücklich anders.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sagen: Öko-sozial statt marktradikal.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ökokommunismus!)


Die Linke will die Forschungsförderung – da kann ich
sehr schön an Herrn Röspel anschließen – konsequent an
den Großzielen bei der Armutsbekämpfung, der Gesund-
heit, der Ernährung sowie beim Klima- und Umwelt-
schutz ausrichten. Dabei ist insbesondere der Wissens-
transfer in ärmere Regionen der Erde auszubauen. Be-
zogen auf Osteuropa bedeutet das: Die osteuropäischen
EU-Mitglieder, die bisher weniger als 5 Prozent der EU-
Forschungsförderung erhalten, müssen deutlich stärker
eingebunden werden.

Des Weiteren soll die Energieforschung Innovationen
bei den erneuerbaren Energien und effizientere Spei-
chertechnologien liefern. Sozial- und Geisteswissen-
schaften sollen an Vorschlägen zur Konditionierung so-
zialer Sicherungssysteme arbeiten. Schließlich soll das
Programm zur Sicherheitsforschung konsequent zivil
ausgerichtet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Vor diesem Hintergrund ist die Technikfolgen- und Risi-
koabschätzung auch in Bezug auf Katastrophenmanage-
ment, Ursachenforschung, soziale Konflikte und ethi-
sche Fragen der Wissensanwendung erheblich auszu-
bauen.

Meine Damen und Herren, das europäische For-
schungsprogramm muss entscheidend dazu beitragen,
dass Globalisierung zu einem stärkeren gesellschaftli-
chen Ausgleich führt; es muss Impulse setzen. Die Ko-
operation muss gezielt gestärkt werden; denn – ich erin-
nere Sie an die Vision der Zukunftsforscher –: Wer nicht
kooperiert, der scheitert.

Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710819500

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Petra Sitte für die

Fraktion Die Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Krista Sager.
Bitte schön, Frau Kollegin Krista Sager.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710819600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das

7. Forschungsrahmenprogramm der EU hat gerade ein-
mal einen Anteil von 5,5 Prozent am jetzigen EU-Haus-
halt. Die 27 EU-Staaten sind weit davon entfernt, ihr
Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
auszugeben, zu erreichen. Das wird dem Anspruch einer
wissensbasierten Gesellschaft und Ökonomie nicht ge-
recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


– Da könnten ruhig alle klatschen.

Wenn wir uns anschauen, welche Steigerungsraten
andere Staaten im Forschungsbereich zu verzeichnen ha-
ben, dann müssten wir ein gemeinsames Ziel haben: Das
8. Forschungsrahmenprogramm muss im nächsten EU-
Haushalt einen größeren Stellenwert haben.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das haben wir gesagt!)


Wir sind weit davon entfernt, dass das eine Selbstver-
ständlichkeit ist. Das allein wäre schon ein ziemlich gu-
ter Grund dafür gewesen, dass sich der Bundestag in der
Forschungspolitik in einigen Punkten in einem gemein-
samen Antrag aufstellt.





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich finde es wirklich bedauerlich, dass die Koalition das
noch nicht gelernt hat.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Ihr könnt euch doch anschließen!)


Ich kann Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition: In anderen Ausschüssen haben Ihre
Kolleginnen und Kollegen das bereits gelernt, und ich
hoffe, dass das bei Ihnen auch irgendwann einmal der
Fall sein wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Wir werden immer besser!)


Die europäischen Staaten stehen vor großen gemein-
samen Herausforderungen: Energiewende, Klimawan-
del, demografischer Wandel sind nur einige davon. Das
spricht dafür, dass wir größere Anstrengungen in der
Forschung brauchen. Das spricht aber auch dafür, dass
wir die gemeinsamen Forschungsanstrengungen stärker
auf diese Herausforderungen fokussieren. Das bedeutet
aber auch, dass wir uns von Ansätzen, die sich heute als
Fehlschläge und Fehlinvestitionen herausgestellt haben,
schleunigst verabschieden. Das Kernfusionsprojekt
ITER wird keinen Beitrag zur Energiewende leisten,
also müssen wir aussteigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das sehen wir anders!)


Der Euratom-Vertrag passt nach Fukushima noch weni-
ger in die Zeit als bisher, also müssen wir uns überlegen,
wie wir da herauskommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diesen Überlegungen verweigern Sie sich bisher.

Wir stimmen in der Frage überein, dass die Verbund-
forschung und die Grundlagenforschung durch den Eu-
ropäischen Forschungsrat einen großen Beitrag zu einem
europäischen Mehrwert in der Forschung leisten. In die-
sem Punkt besteht kein Dissens.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Richtig! Genau!)


Herr Neumann, Herr Kaufmann und Herr Rachel, wenn
Sie das Hohelied des Europäischen Forschungsrates sin-
gen, entgegne ich Ihnen: Das Kriterium Marktrelevanz
darf dabei keine Rolle spielen. Vielmehr gilt das Krite-
rium Exzellenz, das heißt, es wird überprüft: Was sind
die vielversprechendsten Ansätze,


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Die Verbundforschung, Frau Sager!)


und wer sind die besten Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler? Die sollen zum Zuge kommen. Das ist ein
völlig anderes Kriterium als das der Marktrelevanz, das
Sie einführen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Auch wir legen großen Wert darauf, dass die Geistes-
und Sozialwissenschaften in Zukunft sowohl in interdis-
ziplinären Projekten als auch auf eigenen Forschungs-
feldern einen Beitrag leisten und im Forschungsförder-
programm angemessen berücksichtigt werden. Aber
Forschung ist immer nur so gut wie die Forscherinnen
und Forscher. Deswegen finden wir es besonders wich-
tig, dass wir die Personenprogramme stärken, beispiels-
weise die Nachwuchsförderung über das Marie-Curie-
Programm, aber auch durch die personenbezogenen Pro-
gramme des Europäischen Forschungsrates. Wenn wir
die besten Köpfe und die besten Talente für die europäi-
sche Forschung gewinnen wollen, dann müssen wir da-
für sorgen, dass Frauen in der Europäischen Union stär-
ker an der Forschungsförderung beteiligt werden. Hier
brauchen wir mehr Verbindlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Dann leisten Sie einen Beitrag!)


Herr Rachel, wir wollen das Kriterium der Exzellenz
nicht aufgeben, wir wollen es in der Forschungsförde-
rung beibehalten. Es kann Ihnen aber doch nicht egal
sein, ob die Mitgliedstaaten, die bisher unterdurch-
schnittlich von der Forschungsförderung profitierten,
nach wie vor zu der Struktur dieser Programme und zu
diesen Kriterien stehen. Das heißt, Sie müssen ihnen
Brücken bauen. Ich halte es für einen Fehler der Bundes-
regierung, dass Sie innerhalb der Europäischen Union so
wenig bündnisfähig denken.

Dass mit Mitteln des Kohäsionsfonds die Forschungs-
infrastruktur gefördert wird, halte ich für selbstverständ-
lich, Herr Neumann. Wir schlagen zudem ein Programm
vor, mit dem wir dafür sorgen, dass Forscherinnen und
Forscher in den forschungsschwächeren Ländern eine
Chance bekommen, aus diesen Ländern heraus den An-
schluss an die Spitzenforschung auf europäischer Ebene
zu finden. Das ist mit Twinning nicht getan. Sie müssen
dafür sorgen, dass in diesen Ländern Forschung zu ver-
nünftigen Bedingungen betrieben werden kann. Das
würde für die Zukunft eine vernünftige Bündnispolitik
auf europäischer Ebene bedeuten, vor allem im Hinblick
auf den Europäischen Forschungsrat und die Exzellenz-
kriterien.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung, die die Ver-
handlungen zum 8. Forschungsrahmenprogramm nun
sehr forciert angehen muss, wenigstens einige Vor-
schläge der Opposition mit auf den Weg nimmt. Ich
glaube, Sie wären damit gut beraten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710819700

Vielen Dank, Frau Kollegin Krista Sager. – Jetzt für

die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Stefan
Kaufmann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1710819800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden An-
trag der Koalitionsfraktionen präsentieren wir der EU-
Kommission die Vorstellungen des Bundestages zur
Ausgestaltung der künftigen EU-Forschungsförderung.
Diese Stellungnahme erfolgt ganz bewusst – das muss
man auch einmal sagen – im Rahmen des nächste Woche
zu Ende gehenden Konsultationsprozesses. In den An-
trag sind im Übrigen zentrale Forderungen der deutschen
Forschungsorganisationen eingeflossen. Dies bestätigt
auch das am 16. April vorgelegte Papier der Allianz der
Wissenschaftsorganisationen, der ich an dieser Stelle
ausdrücklich für ihre konstruktive Unterstützung bei die-
sem Prozess danken möchte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Schwerpunkt des Nachfolgeprogramms zum
7. FRP wird weiterhin deutlich auf der Forschung liegen.
Doch begrüßen wir den im Grünbuch dargestellten koor-
dinierten Ansatz der Kommission von Forschung und
Innovation. Das ist ein neuer Ansatz; denn damit kann
die gesamte Wertschöpfungskette von der Grundlagen-
forschung bis zur Markteinführung aus einem Programm
gefördert werden. Es werden deutliche Synergieeffekte
erreicht. Dies dient letztlich der Stärkung der europäi-
schen Wettbewerbsfähigkeit. Dort, Herr Kollege Röspel,
spielt dann auch das Kriterium Marktrelevanz eine
Rolle. Das ist also kein Widerspruch.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was das Ganze mit Marktradikalität zu tun hat, Frau
Kollegin Sitte, vermag ich nicht zu erkennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ziel muss es sein, das künftige Rahmenprogramm so
auszugestalten, dass Europa seine Spitzenstellung im
Bereich Forschung und Innovation beibehält und aus-
baut. Das ist kein Selbstläufer. Darin liegt die große He-
rausforderung für die EU in den beginnenden Etatbera-
tungen.

Wichtigste Forderung in unserer Stellungnahme ist
daher der Ruf nach einer deutlichen Erhöhung der Mittel
für die zukünftige Forschungsförderung. Ohne eine
deutliche Mittelerhöhung sind die ambitionierten Ziele
der Strategie „Europa 2020“ nicht zu erreichen. Folglich
hat der Industrieausschuss des Europaparlaments bereits
einstimmig eine knappe Verdoppelung der Mittel des
7. FRP auf zukünftig 100 Milliarden Euro gefordert.
Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Finanzierung
der Großprojekte ITER und Galileo im Forschungsrah-
menprogramm verbleibt und nicht über einen eigenen
Haushaltstitel erfolgen wird.
Zweitens muss die Exzellenz – das wurde mehrmals
angesprochen – das wichtigste Kriterium bei der Ver-
gabe von Fördermitteln sein. Kohäsionsziele dürfen bei
der Forschungs- und Innovationsförderung keine Rolle
spielen. Bei der Forschung kann es nur um einen Wett-
bewerb zwischen Spitzenleistungen und Spitzenfor-
schung gehen. Forschungsmittel nach Regionen zu
verteilen oder eine Nivellierung in Europa bei der For-
schung anzustreben, kann und darf nicht unser Ziel sein.
Der Aufbau von Exzellenz in strukturschwachen Regio-
nen sollte einzig aus Mitteln der Kohäsionspolitik, das
heißt über die Strukturfonds, finanziert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die EU-Finanzmittel im Bereich der Kohäsionspoli-
tik sind mehr als sechsmal so hoch wie jene für die For-
schungsförderung. Diese Strukturfondsmittel müssen
derzeit zu mindestens 10 Prozent für Forschung ausge-
geben werden. Dementsprechend stehen ganz erhebliche
Summen für strukturschwache Mitgliedstaaten bereit,
um eine exzellente Forschungsinfrastruktur aufzubauen.
Ein ganz erfolgreiches Beispiel ist das ELI-Projekt, Ex-
treme Light Infrastructure. Das ist ein Laser-Infrastruk-
tur-Projekt, das sich momentan in Tschechien, Ungarn
und Rumänien im Aufbau befindet. Ein vierter Standort
wird gesucht. Hier wird eine gigantische Investition von
mehr als 700 Millionen Euro aus den Strukturfonds
finanziert. Das ist ein hervorragendes Beispiel, wie
durch Kohäsionsmittel Spitzenforschung in den neuen
Mitgliedstaaten geschaffen werden kann. Die besten
Wissenschaftler dieser Disziplin werden dorthin folgen
und weitere exzellente Forschungsbereiche aufbauen.
D
Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1710819900
mithilfe der Strukturfonds Brücken für die
neuen oder für strukturschwache Mitgliedstaaten bauen.
Nur dann können wir den europäischen Forschungsraum
insgesamt stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dem gleichen Ziel dient das von uns vorgeschlagene
Twinning-Programm. Hier können echte Win-win-Situa-
tionen geschaffen werden, die ganz Europa stärken.

Drittens treten wir – das ist bereits deutlich gewor-
den – für eine deutliche Erhöhung des Etats des Europäi-
schen Forschungsrates ein. „Deutlich“ heißt – ich will
das einmal benennen – mindestens Verdoppelung, besser
eine Verdreifachung der Mittel.


(René Röspel [SPD]: Oha!)


Der Europäische Forschungsrat wurde der Deutschen
Forschungsgemeinschaft nachempfunden und ist in we-
nigen Jahren zu einer europäischen Forschungsmarke
geworden.

Viertens setzen wir uns für die Fortführung der Verbund-
forschung auf hohem Niveau ein. Die Verbundforschung
muss auch zukünftig Kernstück der Forschungsförderung
sein. Auch hier muss die Exzellenz ausschlaggebend
sein. Die Marktrelevanz soll zukünftig aber gerade bei
der Verbundforschung stärker berücksichtigt werden.


(René Röspel [SPD]: Was denn jetzt?)






Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

Weitere wichtige Forderungen in unserem Antrag
sind die finanzielle Aufstockung der Marie-Curie-Maß-
nahmen, die Vereinfachung der Antragsverfahren, kla-
rere Strukturen bei den Instrumenten und eine bessere
Vernetzung der Maßnahmen der EU einerseits und der
Mitgliedstaaten andererseits. Bei der Vereinfachung der
Antragsverfahren ist die Kommission bereits vorausge-
gangen. Sie hat im Januar Sofortmaßnahmen eingeleitet,
die unseres Erachtens allerdings nicht ausreichen, um
vor allem kleinen und mittleren Unternehmen die Bean-
tragung von Fördermitteln schmackhaft zu machen. Die
Antragsbearbeitungszeiten müssen deutlich verkürzt
werden. Als hervorragendes Beispiel dient das KMU-
Programm „Eurostars“.

Was wollen die Oppositionsfraktionen? Der Antrag
der Linken weist deutliche Unterschiede zu unserem auf.
Sie wollen in der Tat – das haben Sie hier nicht bestritten –
das Exzellenzkriterium aufweichen. Sie wollen die Mit-
tel aus dem Forschungsrahmenprogramm nach Kohä-
sionsgesichtspunkten verteilen. Damit würden Sie den
allermeisten deutschen Forschungseinrichtungen einen
Bärendienst erweisen. Wir müssen die Diskussion über
die Forschungsinfrastrukturen in den neuen und in den
strukturschwachen Mitgliedstaaten führen, aber nicht in
vorauseilendem Gehorsam und nicht zulasten der Spit-
zenforschung in Ostdeutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit einiger Freude habe ich den Antrag von Rot-Grün
zur Kenntnis genommen; auch das darf ich sagen, Frau
Kollegin Sager und Herr Kollege Röspel. In der Tat
stimmen unsere Forderungen weitgehend überein. Ihr
Vorschlag, strukturschwache Mitgliedstaaten durch den
Ausbau von Wissenschaftlerstipendien besser zu beteili-
gen, ist zwar gut, jedoch aus unserer Sicht nicht nachhal-
tig genug. In der Summe werten wir Ihren Antrag als
wichtiges Zeichen der Geschlossenheit in der Sache.

Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem Antrag und
den darin enthaltenen umfassenden und konkreten Vor-
schlägen zur künftigen Ausgestaltung der Forschungs-
und Innovationsförderung in Europa einen konstruktiven
Beitrag zum Konsultationsprozess leisten. Lassen Sie
uns ein starkes Signal des Deutschen Bundestages nach
Brüssel senden. Ich lade Sie herzlich ein, zuzustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710820000

Sie haben rechtzeitig aufgehört; sonst wäre das starke

Signal des Präsidenten gekommen. Vielen Dank, Kol-
lege Dr. Kaufmann. – Jetzt für die Fraktion der Sozialde-
mokraten unser Kollege Michael Gerdes. Bitte schön,
Kollege Michael Gerdes.


(Beifall bei der SPD)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1710820100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gest-

rige Ausschusssitzung und die heutige Debatte zeigen,
dass die hier vertretenen Fraktionen durchaus ähnliche
Ansätze zur Zukunft der europäischen Forschungsförde-
rung verfolgen. Wir alle sind uns darin einig, dass der
Stellenwert von Forschung und Entwicklung stetig
wächst, und wir alle gehen davon aus, dass wirtschaftli-
ches Wachstum, sichere Arbeitsplätze und nachhaltiger
Wohlstand vor allem von wachsendem Wissen und Inno-
vationen abhängen.

Europa soll ein Forschungsraum sein, in dem intelli-
gente Lösungen für soziale und technische Probleme ge-
funden werden, ein Forschungsraum, in dem Wissen-
schaftler mobil und unter besten Bedingungen arbeiten,
ein Forschungsraum, in dem sich auch kleine und mitt-
lere Unternehmen in Forschungsprojekte einbringen
können.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb brauchen wir gut durchdachte Förderstrukturen.
Das gilt national, aber auch innerhalb der Europäischen
Union. „Gut durchdacht“ heißt einerseits, Schwerpunkte
zu setzen. Wir meinen damit die Suche nach Antworten
auf die großen Fragen unserer Zeit. Wie wir heute schon
hörten, sind das zum Beispiel die Energiewende, der Kli-
mawandel und vor allen Dingen die vielschichtigen
sozialen Herausforderungen. Das heißt, europäische For-
schungsförderung darf nicht nur auf technische Neue-
rungen, mehr Patente oder größeren Absatz von High-
techprodukten abzielen, sondern wir brauchen auch
Erkenntnisse im sozialwissenschaftlichen Bereich.


(Beifall bei der SPD)


Auf der anderen Seite müssen sich die steigende Be-
deutung von Forschung und Entwicklung sowie die an-
dauernden Rufe nach mehr Innovationen auch in der
Finanzplanung der EU widerspiegeln. Schaut man sich
die finanzielle Ausstattung der Forschungsrahmenpro-
gramme der EU an, fällt zunächst auf, dass in den
vergangenen Jahren durchaus immer mehr Geld bereit-
gestellt worden ist. Das Volumen des 7. Forschungsrah-
menprogramms ist im Vergleich zu seinem Vorgänger-
programm verdreifacht worden. Das ist auf den ersten
Blick beachtlich; aber in der Relation zu den Agraraus-
gaben der EU entspricht das Finanzvolumen für Wissen,
Forschung und Innovation keinesfalls unseren Vorstel-
lungen.


(Beifall bei der SPD)


Wir fordern in unserem Antrag eine größere finanzielle
Gewichtung des Forschungsbereichs. Hier stimmen wir
mit den Koalitionsfraktionen überein.

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationen
entstehen aber nicht allein durch Investitionen in For-
schungseinrichtungen oder Großprojekte. Innovationen
setzen auch eine gute allgemeine sowie berufliche Bil-
dung, lebenslanges Lernen, soziale Kompetenzen und
umfassende Infrastrukturen voraus. In dieser Hinsicht
gibt es noch erhebliche Unterschiede zwischen den ein-
zelnen Mitgliedstaaten der EU.

Die europäische Forschungspolitik steht vor der gro-
ßen Herausforderung, innovationsstarke und innova-
tionsschwache Mitgliedstaaten zu koordinieren. Auf-
grund der unterschiedlichen Ausprägung der Bildungs-





Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)

und Forschungslandschaft macht es durchaus Sinn, For-
schungspolitik und Strukturpolitik miteinander zu ver-
knüpfen. Exzellenz- und Spitzenforschung sind dringend
notwendig; dazu nimmt der Antrag von Rot-Grün aus-
drücklich Stellung. Andererseits müssen aber auch struk-
turschwache Regionen die Chance haben, gute Ideen
hervorzubringen und davon zu profitieren. Herr Staats-
sekretär Rachel, wir haben keine Angst. Exzellente For-
schung und Kohäsion müssen sich aus meiner Sicht
nicht ausschließen. Eine Forschungspolitik, die sich
allerdings ausschließlich auf Spitzenforschung und Ex-
zellenz konzentriert, würde das Wohlstandsgefälle inner-
halb der EU sicherlich verschlimmern. Das ist ange-
sichts der bestehenden Unterschiede zwischen West- und
Osteuropa politisch nicht wünschenswert.

Das Ziel der europäischen Forschungsförderung muss
heißen: Exzellenz auf der Grundlage von grenzüber-
schreitender Vernetzung und Interaktion. Die Stärke der
Forschungspolitik in der EU ist die Verbundforschung.
Diese muss in jedem Fall erhalten bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um die Vermehrung von Wissen durch Koopera-
tion, es geht um das gegenseitige Lernen und um die Ar-
beit an gemeinsamen Herausforderungen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710820200

Wir haben zu danken. – Als Nächster spricht für die

Fraktion CDU/CSU unser Kollege Professor Dr. Heinz
Riesenhuber. Bitte schön, Herr Kollege.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1710820300

Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen! Liebe Kollegen! Über Europa kann man sich oft
ärgern. Wir haben den Tag mit einer Debatte über die
Probleme des Euro, über die Probleme Portugals und
Griechenlands begonnen. Jetzt reden wir über etwas, das
für Europa eine glanzvolle gemeinsame Vision darstellt.
Ich finde es beglückend, dass es hier ein so hohes Maß
an Übereinstimmung im Bundestag gibt.


(René Röspel [SPD]: Das beglückt auch mich!)


Lieber Herr Röspel, wenn die Differenzen nicht groß
sind, hätte es eigentlich möglich sein sollen, einen ge-
meinsamen Antrag einzubringen.


(René Röspel [SPD]: Völlig einverstanden! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Es ist, wenn die Differenzen so gering sind, auch mög-
lich, dass Sie unserem Antrag zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René Röspel [SPD]: Oder umgekehrt!)


Freunde, wenn ich hier versuche, die Differenzen zu be-
greifen, dann wird es für mich intellektuell schwierig. Es
ist eine Stärke unserer Forschungspolitik, dass wir sie
– auch über wechselnde Regierungen hinweg – dank der
Übereinstimmung in den wichtigen Fragen gemeinsam
vorangebracht haben.

Jetzt gibt es zusätzlich zu unserer nationalen For-
schungspolitik die europäische Forschungspolitik. Die
Ausgaben der europäischen Forschungspolitik bei uns
betragen etwa 2,5 Prozent der gesamten Forschungsmit-
tel in Deutschland pro Jahr. Das heißt, dass man die Mit-
tel gezielt dort einsetzen muss, wo sie einen strategi-
schen Zuwachs bewirken, wo sie etwas bewirken, das
man national nicht erreichen kann. Manche der Forde-
rungen, die vorgebracht wurden, sind richtig, aber nicht
unbedingt europäisch. Ich finde die Stärke der Geistes-
wissenschaften, Orientierungswissen zu vermitteln und
nicht nur allgemein zu spekulieren, großartig.

Ihr Beitrag kann gut sein, wenn es gelingt. Ob das in
einem europäischen Netzwerk besser aufgehoben ist als
im nationalen Netzwerk, bleibt abzuwarten. Wir alle
aber wissen: Es gibt auch bei europäischen Programmen
geistes- und sozialwissenschaftliche Begleitforschung.


(René Röspel [SPD]: Wir wissen es nicht, können es aber auch nicht ausschließen!)


Wenn wir die Projekte anschauen, über die wir reden,
dann sieht man, dass sie alle einen faszinierenden Mehr-
wert haben. Sie haben das Ziel, eine europäische Wis-
sensgesellschaft zu schaffen. Sie sollen mit einer starken
Wissenschaft neue Produkte, neue Problemlösungen,
neue Dienstleistungen für die Märkte und damit neue
Arbeitsplätze in einer offenen und wettbewerbsstarken
Welt dauerhaft sichern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Verbundforschung ist gepriesen worden. Wir ha-
ben eine sehr reife und komplexe Forschungspolitik in
Deutschland. Über die Jahrzehnte haben viele in glanz-
voller Weise dazu beigetragen. Was in der Verbundfor-
schung an Modellen bei uns erarbeitet wurde, ist heute
auch Teil der europäischen Programme. Das gilt zum
Beispiel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
zwischen Firmen, zwischen Wissenschaft und Unterneh-
men, wie wir sie in den 80er-Jahren im Rahmen von
EU REKA entwickelt haben. Die Verbundforschung ist
heute das Kernelement des 7. Forschungsrahmenpro-
gramms der EU.

Zu Recht ist auch auf die Kohäsionsmittel hingewie-
sen worden. Es sind nicht nur Mittel für Arme. Es gibt
auch hier in Deutschland starke Bundesländer. Nord-
rhein-Westfalen hat seine Innovationswettbewerbe 2007
bis 2013 mit weit über 600 Millionen Euro aus den Ko-
häsionsmitteln ausgerichtet. Freunde, nutzt das! Das
Geld ist da. Man muss es nur holen. Das ist eine Frage
der überlegenen wissenschaftlichen Intelligenz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)

Ich spreche nicht über den Nachwuchs. Europa kann
einen Beitrag dazu leisten, mehr Frauen in den wissen-
schaftlichen Beruf und die jungen Leute in die MINT-
Fächer zu kriegen. Das ist eine der Aufgaben, die Europa
mit dem Marie-Curie-Programm angeht. Das ist aber
auch eine Aufgabe nationaler Natur. Die kleineren und
mittleren Unternehmen müssen stärker in die europäi-
sche Verbundforschung einbezogen werden. Wenn die
Bearbeitungszeit von Förderanträgen, wie der Bundesrat
bemängelt, im Schnitt wirklich 400 Tage beträgt, dann
muss ich sagen: Da kann kein Unternehmen überleben.
Der, der damit zu arbeiten versucht, macht sich zu einem
Staatsunternehmen. Der kann alles andere auf dem
Markt vergessen. Das heißt also: Hier müssen bessere
Strukturen hineingebracht werden, zum Beispiel durch
die zweistufige Antragsstellung. Diese Strukturen müs-
sen handhabbar sein und in kurzen Zeiten zu Entschei-
dungen führen. Man muss der Erste am Markt sein. Man
darf nicht der Letzte sein, nur weil man auf den Bearbei-
ter gewartet hat. Dies ist ein wesentlicher Punkt.

Ich möchte noch weitere Aspekte nennen: Der ERP/
EIF-Dachfonds zur Förderung von Wagniskapitalinves-
titionen in deutsche Technologieunternehmen wurde
2004 mit 500 Millionen Euro aufgelegt und im Jahre
2010 um weitere 500 Millionen Euro aufgestockt. Die
Hälfte des Kapitals kommt vom European Investment
Fund, EIF. Wir unterstützen die Vernetzung der europäi-
schen Strukturen, damit wir eine starke Infrastruktur be-
kommen. Ich möchte auch die Beratungsprogramme, die
europäischen Netzwerke, das Enterprise Europe Net-
work und die Zusammenfassung der Beratungen zu
möglichen Förderungsmöglichkeiten – nicht nur im Hin-
blick auf Programme, sondern auch im Hinblick auf
mögliche Partnerschaften – nennen.

All das ist eine komplexe Welt vielfältiger Möglich-
keiten. Frau Sager, ich zähle auch ITER dazu; denn die
Forschung ist nicht für heute, Forschung ist etwas für
morgen. Wenn wir in den 80er-Jahren nicht mit Begeis-
terung die Windenergie vorangebracht hätten, könnten
Sie heute Ihre Mühlen hier nicht bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist die Wahrheit. So werden wir heute am ITER ar-
beiten, damit in 30 Jahren glückliche Menschen sagen:
Frau Sager hat uns mit Leidenschaft unterstützt. Deshalb
kriegen wir Strom aus Kernfusion in einer Weise, die
umweltfreundlich und risikoarm ist. Daher werden wir
Frau Sager ein bronzenes Denkmal auf den Marktplatz
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier entsteht große Vielfalt. Das gilt auch für Europas
Aktivitäten im Weltraum. Zum Beispiel wirkt man an
der Strukturierung im Rahmen von Galileo mit. Ich
würde mich freuen, wenn man hernach damit beginnen
würde, auch die marktgängigen Betriebssysteme mit
aufzubauen. Dass man sich an dieser Stelle beteiligt, ist
gut. In der Raumfahrt muss man ein Zusammenspiel
zwischen Europa und der ESA organisieren. Die starken
ESA-Strukturen müssen allerdings erhalten bleiben. Bei-
des gehört nämlich zusammen. Hier spielt man ein ge-
meinsames Spiel.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710820400

Wir könnten Ihnen ewig zuhören.


(Zurufe von der CDU/CSU: Wir auch! – Oh ja!)



Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1710820500

Dann tun Sie es.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710820600

Das war mein erster Versuch, Kollege Riesenhuber.


Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1710820700

Hochverehrter Herr Präsident, –


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710820800

Allein für diese Anrede gibt es ein bisschen Redezeit

obendrauf. Ich bitte Sie trotzdem, zu Ihrem Schlusssatz
zu kommen.


Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1710820900

– ich weiß die Mahnung zu würdigen.


(Vereinzelt Heiterkeit)


Ich habe immerhin die Einleitung meiner Rede unterge-
bracht.

Ich darf zum Schluss betonen: Ich stimme denjenigen
zu, die darauf hinweisen, dass wir für eine Erhöhung der
Forschungsetats kämpfen müssen. Auf europäischer
Ebene wollten wir bis 2010 bei den Forschungsausgaben
einen Anteil von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
erreichen.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Richtig!)


Derzeit liegen wir bei einem Anteil von 2 Prozent.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Richtig!)


In Deutschland betragen die Forschungsausgaben inzwi-
schen 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn in
Europa durchschnittlich 3 Prozent erreicht werden sol-
len, dann muss Deutschland auf einen Anteil von
4 Prozent hinarbeiten. Nicht alle Länder werden sich
gleich entwickeln können. Wir werden kämpfen müssen,
um dieses Ziel zu erreichen.

Wenn wir es geschafft haben, dann haben wir aller-
dings alles: die Konzepte, die Strukturen, die nationalen
Programme und den frohgemuten Unternehmungsgeist,
der insbesondere dem Deutschen Bundestag in glanzvol-
ler Weise zu eigen ist. Wenn dieser fröhliche Unterneh-
mungsgeist in die Wissenschaft, in die Wirtschaft und in
die europäischen Strukturen ausstrahlt, dann werden wir
einen Aufbruch erleben, der wichtiger als alle Strukturen





Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)

und alles Geld ist. Es geht um die Freude an der Zukunft.
Zukunft geschieht, wenn man sich auf sie freut. Darauf
wollen wir hinarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710821000

Herr Kollege, es lohnt sich immer, Ihnen zuzuhören.

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf Drucksache 17/5802. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/5492 mit dem Titel „Gestaltung der
zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU

(2014–2020)“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-

lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –
Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion
der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5449 mit dem Titel
„Stärkung des Europäischen Forschungsraums – Die Vor-
bereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die
richtigen Bahnen lenken“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und der Sozialdemokraten.
Enthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5386 mit dem
Titel „Europäische Forschungsförderung in den Dienst
der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen und das Bündnis 90/Die Grünen.
Gegenprobe! – Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? –
Das sind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nach Cancún – Europäische Union muss ihr
Klimaschutzziel anheben

– Drucksache 17/5231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu ei-
nem globalen Klimaschutzabkommen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Internationaler Klimaschutz vor Cancún –
Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten
zum Ziel

– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

EU-Klimaschutzziel erhöhen

– Drucksachen 17/3998, 17/4016, 17/4529,
17/5402 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Frank Schwabe
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Dr. Hermann Ott

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott,
Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
ben

– Drucksachen 17/2485, 17/4069 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Dr. Hermann Ott

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider-
spruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster steht unser
Kollege Frank Schwabe für die Fraktion der Sozialde-
mokraten auf meiner Rednerliste. Ihm gebe ich jetzt das
Wort. Bitte schön, Kollege Frank Schwabe.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1710821100

Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Damen und

Herren! Wer zu spät kommt, den braucht man eigentlich





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

nicht mehr. So geht es dem Herrn Umweltminister
Röttgen in der europäischen Klimaschutzdebatte. Für die
Staatssekretärin gilt: mitgefangen, mitgehangen. Herr
Röttgen kommt in der europäischen Klimaschutzdebatte
zu spät, weil jetzt die entscheidenden Weichenstellungen
getroffen werden.


(Beifall des Abg. Ulrich Kelber [SPD])


Wir reden uns seit Monaten und Jahren den Mund
fusselig. Wir reden über die notwendige Verschärfung
des CO2-Reduktionsziels auf 30 Prozent in der Europäi-
schen Union, die die effizienteste Volkswirtschaft der
Welt sein und auch bleiben soll. Dafür gibt es zig Argu-
mente, die ich nicht alle vortragen kann. Es gibt schöne
Broschüren, in denen man das alles nachlesen kann. Wir
haben das oft diskutiert. Die Zuspitzung der Ziele in der
Europäischen Union ist nicht wegen den USA, wegen
China oder der Vereinten Nationen notwendig, sondern
sie kommt uns zugute. Wir brauchen sie deshalb, weil
Deutschland bzw. die Europäische Union weltweit an
der Spitze der effizienten und zukunftsfähigen Ökono-
mien stehen soll.

Diese Woche wurde über ein interessantes Beispiel
aus China berichtet. Es ist immer davon die Rede, dass
wegen unserer Klimaschutzziele alles sehr problema-
tisch sei und dass es die Wirtschaft schwer habe. Aus ei-
ner Untersuchung der Beraterfirma Roland Berger geht
hervor, dass von 2008 bis 2010 die Herstellung alternati-
ver Technologien in China um 77 Prozent gewachsen ist.
Damit liegt China beim Einsatz und der Produktion von
grünen Technologien gemessen am Bruttoinlandspro-
dukt weltweit auf Platz zwei der Volkswirtschaften nach
Dänemark. China war vorher auf Platz sechs. Deutsch-
land ist auf Platz drei. Das heißt, China hat Deutschland
bei den grünen Technologien überholt.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nach dem Bremsmanöver von Schwarz-Gelb!)


Das ist ein Signal, das uns herausfordert, unsere nationa-
len und europäischen Ziele so anzupassen, dass wir in-
ternational wieder an die Spitze der Volkswirtschaften
kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist nicht selbstlos, sondern ziemlich egoistisch ge-
dacht. Aber wir haben darüber hinaus auch weltweite
Verantwortung dafür, dass der Klimawandel gestoppt
wird und wir international andere Entwicklungspfade
schaffen können.

Bald gibt es weltweit 7 Milliarden Menschen. 2 Mil-
liarden bis 3 Milliarden Menschen haben keinen Zugang
zu Energie. Sie werden aber Zugang zu Energie haben
wollen. Das können wir ihnen nicht verwehren. Mittler-
weile sind jedes Jahr – auch das ist eine Nachricht aus
dieser Woche – mehr als 200 Millionen Menschen von
Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren,
Erdbeben oder Stürmen betroffen. Mindestens jedes
zweite Opfer ist ein Kind. Schon 70 Prozent aller Kata-
strophen sind klimabedingt, wie UNICEF Deutschland
heute festgestellt hat. Wenn man das alles weiß, dann
kann es nicht sein, dass wir innerhalb der Europäischen
Union weiter auf der Bremse stehen.

Das verstehe ich vor allem deshalb nicht, weil wir in
Deutschland mittlerweile auf dem Weg sind, ein gewis-
ses Einvernehmen über die Energiepolitik zu erzielen.
Das wird zumindest in der Presse berichtet. Im Parla-
ment besteht von rechts bis links Einigkeit darin, dass
Deutschland von 1990 bis 2020 die Treibhausgase um
40 Prozent reduzieren soll. Insofern ist es eine relativ
einfache mathematische Aufgabe, das komplementäre
Ziel innerhalb der Europäischen Union auszurechnen:
Das sind 30 Prozent. Ich kann nicht verstehen, warum
sich die Koalition nicht endlich zu diesem klaren Signal
an die Europäische Union durchringen kann.


(Beifall bei der SPD)


Wenn das so überzeugend ist und mathematisch klar
hergeleitet werden kann, dann bleiben nur bestimmte
sachfremde Gründe. Dann muss ich Ihnen vorwerfen,
dass Sie sich im Zangengriff von Lobbyisten befinden,
die gerade unterwegs sind. Sie kommen auch zu mir und
rechnen mir dubiose Dinge vor. Wenn man das hinter-
fragt, dann stellt sich heraus, dass es von vorne bis hin-
ten nicht stimmt. Sie haben wohl in der Energiepolitik
jegliche Orientierung verloren; vielleicht gelten auch die
mathematischen Grundsätze bei Ihnen nicht mehr.


(Beifall des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich glaube, es liegt auch daran, dass Sie einen Umwelt-
minister haben – das kann ich Ihnen nicht ersparen –, der
als Schöngeist, Schönredner oder Schönwetterminister
unterwegs ist, viel redet, spannende Texte schreibt und
schon immer alles besser wusste. Aber wenn etwas zu
bestimmen ist, dann erreicht er leider relativ wenig. Das
ist meine Analyse.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir über die Rahmenbedingungen für den Kli-
maschutz reden, geht es nicht darum, die Wirtschaft zu
überlasten. Genau darum geht es nicht. Es geht um klare
Rahmenbedingungen. Wenn man mit einzelnen Unter-
nehmern spricht, dann sagen sie: Jawohl, vieles ist
machbar, aber wir brauchen klare Rahmenbedingungen.
Wir brauchen internationale und europäische Rahmen-
bedingungen. Wir brauchen im Übrigen auch nationale
Rahmenbedingungen.

Die Akteure der Koalition schieben sich aber nur den
Schwarzen Peter gegenseitig zu. Ein Beispiel dafür war
die gestrige Sitzung des Umweltausschusses des Deut-
schen Bundestages. Dort haben wir erlebt, dass Herr
Röttgen es auf die FDP schiebt, dass es in Deutschland
noch kein Klimaschutzgesetz gibt. Herr Kauch hat das mit
Hinweis auf die Union zurückgewiesen. Heute wird die
FDP, wenn ich das richtig gelesen habe, in dieser Debatte
gar nicht Stellung nehmen. Es hilft aber nichts, sich den
Schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben. Wir brauchen
vielmehr klare Rahmenbedingungen in Deutschland und
innerhalb der Europäischen Union.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Ich kann Ihnen Folgendes nicht ersparen: Wir werden
wahrscheinlich von den Umweltpolitikern der Union
gleich wieder ein Plädoyer für das 30-Prozent-Ziel in-
nerhalb der Europäischen Union hören, mit dem Hin-
weis darauf, dass es auch einen entsprechenden Be-
schluss in ihren Reihen gibt; das ist löblich. Es gibt auch
ein großes Einvernehmen unter den Umweltpolitikern
auf internationaler Ebene. Aber am Ende handelt es sich
um ein Muster ohne Wert, weil jetzt die Entscheidungen
in der Europäischen Union anstehen. Jetzt entscheiden
das Europaparlament, die Kommission und der Europäi-
sche Rat. Genau jetzt ist die letzte Möglichkeit, ein kla-
res Ziel vorzugeben. Aber diese Möglichkeit verpassen
Sie.

Es gibt eine schöne Broschüre des Climate Action
Network Europe, in der man alle Argumente nachlesen
kann. Dort lässt sich folgendes Zitat finden:

Wir glauben, dass eine Erhöhung des Reduktions-
ziels auf 30 % für Europa der richtige Schritt ist. Es
ist eine Politik zur Sicherung von Arbeitsplätzen
und Wachstum, für Energiesicherheit und zur Ab-
wendung von Klimarisiken. Und vor allem ist es
eine Politik für Europas Zukunft.

Dieses Zitat stammt vom Juli 2010, unterschrieben von
Dr. Norbert Röttgen, dem deutschen Umweltminister.
Umgesetzt ist leider nichts.

Ich appelliere an Sie, den Umweltminister nicht im
Regen stehen zu lassen und endlich das Signal aus
Deutschland an die Europäische Union zu setzen: Wir
sind für 30 Prozent.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710821200

Das Wort hat der Kollege Andreas Jung für die CDU/

CSU-Fraktion.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1710821300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist die erste Debatte über Klimaschutz, die wir hier im
Bundestag nach der Katastrophe von Fukushima führen.
Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg darüber
einig, dass man nach dieser Katastrophe in Japan nicht
einfach weitermachen kann, dass es kein Weiter-so ge-
ben kann, sondern dass es eine Neubewertung und teil-
weise eine Neupositionierung geben muss. Das ist das
eine.

Das andere ist: Beim Klimaschutz darf es kein Zu-
rückweichen geben. Klimaschutz muss die Priorität be-
halten, die die Bundesregierung, egal welche Fraktionen
sie getragen haben, ihm immer beigemessen hat. Falsch
wäre die Botschaft: Das wichtigste Ziel ist jetzt, so
schnell wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen,
und das Erreichen anderer Ziele wie der Klimaschutz-
ziele können wir hintanstellen; das hat nicht mehr die
gleiche Priorität. – Das wäre grundfalsch. Nur weil uns
die Katastrophe von Japan die Risiken der Kernenergie
noch deutlicher vor Augen geführt hat, sind die Heraus-
forderungen und die Probleme des Klimaschutzes keinen
Deut geringer geworden. Wir müssen beides unter einen
Hut bekommen. Wir wollen auf der Grundlage eines
breitestmöglichen Konsenses einen schnelleren Verzicht
auf die Kernenergie verwirklichen. Aber gleichzeitig
dürfen wir keinen Deut bei den Klimazielen nachlassen.
Wir müssen beim Klimaschutz weiter vorankommen.
Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Werden Sie konkret!)


Wir wissen, dass die Herausforderung noch größer ist.
Bei der Erarbeitung eines Energiekonzepts, an der viele
beteiligt sind – die Fraktionen, die Regierung sowie die
Ethikkommission unter Leitung von Herrn Professor
Töpfer und Herrn Professor Kleiner, über das viele ge-
sellschaftliche Debatten geführt werden –, geht es nicht
nur um ökologische, sondern auch um wirtschaftliche
Notwendigkeiten und soziale Belange. Das alles muss in
einem Konzept so zusammengefasst werden, dass wir
am Ende die Überzeugung haben: Das ist ein gutes Mo-
dell für Deutschland und gibt nicht nur in Deutschland,
sondern auch in der Europäischen Union und auf inter-
nationaler Ebene Impulse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wahr ist – der Kollege Schwabe hat es angesprochen –,
dass wir Umweltpolitiker in der Union es für richtig hal-
ten und wollen, dass die Europäische Union das nach-
vollzieht, was wir in Deutschland bereits beschlossen
haben. Wir wollen in unserer Klimaschutzpolitik näm-
lich nicht darauf warten, was andere machen. Wir kön-
nen nicht einfach sagen, wir würden ja Dinge umsetzen,
aber nur, wenn erst einmal andere vorangehen, sondern
wir haben gesagt: Wir wollen unbedingt, egal was die
anderen machen, bis zum Jahr 2020 unsere Treibhaus-
gase um 40 Prozent reduzieren. Das ist der Beschluss der
Bundesregierung. Ich bin mir sicher, dieser Punkt hat
auch die Unterstützung des gesamten Hauses.

Die Konsequenz daraus, wenn wir das für uns für
richtig halten, ist, dass wir das dann auch in der Europäi-
schen Union umsetzen wollen. Deshalb teilen wir die
Forderung, dass die Europäische Union ebenfalls unbe-
dingt ihr Ziel, gegenüber dem Jahr 1995 bis zum
Jahr 2020 auf minus 30 Prozent zu kommen, festschrei-
ben sollte.

Wahr ist, hierüber gibt es innerhalb der Koalitionspar-
teien und der Regierung eine Diskussion, so wie es sie in
ganz Europa gibt. Es haben sich bisher nur wenige Staa-
ten bereit erklärt, diesen Schritt zu gehen. Deshalb ist
noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Diese Überzeu-
gungsarbeit leisten wir in unseren Fraktionen, diese
Überzeugungsarbeitet leistet Norbert Röttgen in der Re-
gierung. Wir tun alles andere, als ihn im Regen stehen zu
lassen. Wir unterstützen ihn auf diesem Weg. Norbert
Röttgen wirbt gemeinsam mit den Umweltministern von
Frankreich und Großbritannien für genau diesen Schritt.
Wir wollen, dass er dabei Erfolg hat. Frank Schwabe hat
gesagt, er sei einer, der die Dinge nur ankündige, aber
nicht umsetzen könne. Aber die letzten Wochen zeigen





Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)

doch, dass es gerade aus Sicht der Umweltpolitik jetzt
möglich ist, Forderungen, die man schon länger erhoben
hat, auch umzusetzen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nachdem man im Oktober das Gegenteil abgefeiert hat! 28. Oktober!)


Das werden wir beim Energiekonzept in den nächsten
Wochen sehen. Davon sind wir überzeugt, und die Wei-
chen dafür sind gestellt. Ich bin guten Mutes, dass das
auch bei der Weichenstellung in Europa gelingt.

Eines will ich aber schon zurückweisen. Mein Ein-
druck ist nicht, dass es andere Regionen in der Welt gibt,
die uns bei den Anstrengungen für den Klimaschutz
überholen, sondern mein Eindruck ist, dass unser Impuls
gebraucht wird, um andere mitzuziehen und anderen zu
zeigen: Wir gehen voran, und deshalb müsst auch ihr in
China, ihr in den USA und ihr in anderen Industriestaa-
ten und in anderen Schwellenländern diesen Weg mit
uns gehen. Ich glaube, darum wird es in den nächsten
Wochen gehen.

Darum wird es auch auf dem Weg gehen, den wir jetzt
nach Durban einschlagen. Wir reden auf der Grundlage
der heute vorliegenden Anträge auch noch einmal über
die Frage: Was war das Ergebnis von Durban, und was
sind die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind? Wir
wissen, da haben wir bisher allenfalls die halbe Strecke
des Weges zurückgelegt. Cancún ist nicht zum Fiasko,
nicht zur Niederlage, nicht zum Scherbenhaufen gewor-
den. Es ist aber gerade nur dieser Prozess gerettet wor-
den. Diesen müssen wir jetzt zum Abschluss bringen. Es
gibt viele Staaten, die noch nicht so weit sind, die diese
Dinge nicht so konsequent angehen, wie wir das tun.

Deshalb bleibt es das Ziel der Bundesregierung, mit
Unterstützung der Koalitionsfraktionen ein internationa-
les Abkommen hinzubekommen. Deshalb sind wir auch
bereit, mit anderen Staaten ambitioniert voranzugehen,
sind bereit, bei einzelnen Themen zusammenzuarbeiten,
zum Beispiel beim Emissionshandel. Vor wenigen Wo-
chen ist es uns gelungen, hier wichtige Weichen zu stel-
len, indem wir die 100-prozentige Auktionierung durch-
gesetzt und damit den Druck auf die Kohlekraft
erheblich verstärkt haben, auch indem wir den Flugver-
kehr einbeziehen.

Wir meinen, von alledem muss das Signal an unsere
internationalen Partner ausgehen: Wir wollen ein Ergeb-
nis, wir wollen die Herausforderung Klimaschutz ge-
meinsam angehen. Erfolg können wir nur international
und gemeinsam haben, und dafür arbeiten wir.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710821400

Frau Kollegin Bulling-Schröter ist nun die nächste

Rednerin für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710821500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Noch steht bei der Koalition nicht fest, wann wirklich
aus der Atomkraft ausgestiegen werden soll. Fest steht
allerdings bereits, dass der Braunkohle ein neuer Früh-
ling beschert werden soll, sollten die AKWs früher vom
Netz gehen. So jedenfalls könnte man das jüngste Ener-
giepapier der CDU verstehen.

Und ich frage mich: Braucht man für den Übergang
tatsächlich mehr Braunkohleverstromung, und wie steht
es dann um die Klimaschutzziele? Wir, die Linke, mei-
nen, Deutschland kann sein Klimaschutzziel von 40 Pro-
zent Reduzierung bis zum Jahr 2020 trotzdem erreichen,
auch ohne Kernenergie und ohne zusätzliche Braun-
kohle.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist zunächst möglich, weil Deutschland seine Ex-
portüberschüsse im Strombereich zurückfahren kann,
seine Anlagen stilllegen kann. Außerdem wirkt hier der
Emissionshandel wunderbar regulierend. Der feste De-
ckel, die gesetzte Emissionsobergrenze, wird über teu-
rere Zertifikate zum einen dafür sorgen, dass die fossilen
Kraftwerke stärker auf Gas als auf die emissionsstärkste
Energieform Kohle setzen müssen, zum anderen wird
die emissionshandelspflichtige Industrie mehr zu schul-
tern haben. Dessen ungeachtet muss Deutschland end-
lich mehr im Verkehrssektor tun. Beispielsweise muss
der Zuwachs an Schwerlastverkehr gebremst werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht zuletzt geht es darum, einen Durchbruch in dem
Sektor der energetischen Gebäudesanierung zu schaffen.
Klar ist, dass es hier erheblich mehr Geld aus öffentli-
chen Kassen geben muss, als bislang vorgesehen. Sonst
stehen wir vor einer Mietenexplosion.

Der preiswerteste und umweltfreundlichste Strom ist
natürlich der, der nicht verbraucht wird. Darum muss
endlich ein Top-Runner-Programm zum Durchbruch
kommen, das dynamische Energieeffizienzstandards mit
absoluten Verbrauchsobergrenzen für elektrische Geräte
setzt.


(Beifall bei der LINKEN)


Also noch mal: Top-Runner-Programm!

Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen Einkommen
sollten beim Kauf stromsparender Geräte finanzielle Un-
terstützung erhalten. Wir halten das sozial und ökolo-
gisch für absolut sinnvoll.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich wird die Energiewende auch sonst Geld kos-
ten. Machen wir uns nichts vor! Dann muss man natür-
lich fragen: Wer bezahlt? Das interessiert ja die Bürge-
rinnen und Bürger.

Die Linke meint, den größten Brocken müssen die
Energiekonzerne schultern; denn sie haben ja in den ver-
gangenen Jahren exorbitante Gewinne eingefahren, zig
Milliarden allein aus den Preiseffekten des Emissions-
handels, zudem aus ihrer Oligopolstellung.





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Wie kommt es sonst, dass die Stromrechnung für ei-
nen Durchschnittshaushalt zwischen 2000 und 2009 um
324 Euro jährlich stieg, dabei aber nur 40 Prozent dieser
Steigerung mit Umlagen für Erneuerbare, Kraft-Wärme-
Kopplung und Steuern erklärlich sind?


(Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!)


Offensichtlich resultieren 60 Prozent aus Monopolprofi-
ten der marktbeherrschenden großen Vier. Das kann man
beweisen, auch wenn Sie hier motzen. Solche leistungs-
los erzielten Extragewinne müssen beschnitten und kas-
siert werden.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, kassiert, genau!)


– Für den Staatshaushalt kassiert werden, klar.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie im Sozialismus!)


Dies kann beispielsweise durch eine deutliche Erhöhung
der Brennelementesteuer geschehen. Damit könnten un-
ter anderem Sozialtarife für einkommensschwache
Haushalte finanziert werden.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Da bleibt noch was übrig! Da könnte man sich noch was einfallen lassen!)


Wir fordern zudem die unverzügliche Wiedereinführung
der Börsenaufsicht – das können Sie sofort unterstützen –
für den Spothandel im deutschen bzw. europäischen
Strommarkt und ein gesetzliches Verbot des Insiderhan-
dels an Strombörsen. – Da müssten Sie von der CDU/
CSU jetzt klatschen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Warum eigentlich?)


Auch die angekündigte Markttransparenzstelle muss
endlich ihre Arbeit aufnehmen.

Unter dem Strich haben wir also genug finanzielle
Reserven und regulatorische Handhabe, zusätzliche
Emissionen und steigende Preise zu verhindern. Darum
lassen sich auch Atomausstieg und Klimaschutzziele ge-
meinsam bewältigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss: Denken Sie daran, was der chinesische
Botschafter kürzlich zu Herrn Professor Schellnhuber
vom WBGU sagte: Wenn es ein Land in der Welt gibt, das
aus Atomkraft und Kohle zugleich aussteigen kann, ohne
an Wohlstand zu verlieren, dann ist das Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Und Luxemburg! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Dann schnell weg aus Deutschland! Das geht schief, die Veranstaltung!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710821600

Der Kollege Michael Kauch gibt seine Rede zu Proto-

koll1).

1) Anlage 7
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Ott für
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.


Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710821700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Seit Anfang der Legislaturperiode, also seit mittler-
weile eineinhalb Jahren, fordert die gesamte Opposition
im Bundestag, dass die EU ihr Klimaziel auf 30 Prozent
anhebt und dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.
Diese Forderung ergibt sich aus drei sehr einfachen Er-
wägungen:

Erstens. Soll die globale Erwärmung unterhalb von
2 Grad bleiben, dann müssen die Industriestaaten ihre
CO2-Emissionen massiv senken. Wenn wir länger war-
ten, dann wird es nicht nur teurer – es könnte völlig un-
möglich werden.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: So ist es!)


Die Katastrophe eines kippenden Klimasystems muss
unter allen Umständen verhindert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens. Ein globales Klimaabkommen wird auch
dieses Jahr in Durban nicht abgeschlossen werden. Die
Glaubwürdigkeit der Industrieländer ist in den Ländern
des Südens massiv erschüttert und sogar verloren gegan-
gen. Neues Vertrauen gewinnt die EU nur dadurch, dass
sie als Vorreiterin vorangeht und deutlich macht, dass
ein nachhaltiger Umbau der Wirtschaft möglich ist.

Drittens. Der Pfad zur solaren Wirtschaft macht näm-
lich nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch
Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die ein-
drucksvoll die wirtschaftlichen Vorteile eines höheren
Reduktionsziels darlegen. Die jüngste Studie des Pots-
dam-Instituts für Klimafolgenforschung zusammen mit
der Universität Oxford zeigt: Bei einem Minderungsziel
von 30 Prozent würden die Investitionen in Europa von
18 auf bis zu 22 Prozent des Bruttosozialprodukts stei-
gen. Dadurch würden bis zu 6 Millionen neue Jobs ent-
stehen. Das Bruttoinlandsprodukt würde sich um bis zu
620 Milliarden Euro erhöhen. Wer solche ökonomischen
Chancen leichtfertig vergibt, der soll fortan bei allen
wirtschaftlichen Diskussionen schweigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich bin der festen Überzeugung, dass es Europas
Pflicht und Chance ist, eine zweite industrielle Revolu-
tion auf den Weg zu bringen. Diese neue, solare Revolu-
tion kann von Europa ausgehen, wenn wir es richtig ma-
chen, und dann zusammen mit den Menschen in Asien,
Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent weiter-





Dr. Hermann Ott


(A) (C)



(D)(B)

entwickelt werden. Das Ganze kann sogar mit unseren
Freunden in den USA geschehen, wie ich hinzufügen
möchte. Ich bin als Klimapolitiker Berufsoptimist.

Das kommende solare Zeitalter gibt uns die Chance,
eine Welt zu schaffen, die in hohem Maße menschenge-
recht ist: weil sie dezentral organisiert werden kann, weil
sie nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Natur be-
ruht und weil einige der Hauptgründe für kriegerische
Konflikte wegfallen. Denn Frieden auf der Welt ist nach
unserer festen Überzeugung nur dann möglich, wenn
auch Frieden mit der Natur gemacht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition, eine solche Welt kommt nicht von allein.
Sie muss erarbeitet und erkämpft werden. Dazu gehören
neben der Vision auch Mut und Durchhaltevermögen.

Der nach Fukushima von Bundeskanzlerin Merkel
betriebene Atomausstieg reduziert bei einem entspre-
chenden Ausbau der Erneuerbaren als Nebeneffekt auto-
matisch den CO2-Ausstoß. Eine Stromversorgung aus
50 Prozent Erneuerbaren bis 2020 ist keine Utopie, son-
dern nach Ansicht von Fachleuten gut machbar, ebenso
wie 100 Prozent Vollversorgung durch Erneuerbare bis
zum Jahre 2030.

Warum bekommt der Bundesumweltminister dann
nicht die Unterstützung seiner eigenen Fraktion? Muss
ich noch einmal daran erinnern? Ein von den Opposi-
tionsfraktionen im Umweltausschuss eingebrachter An-
trag für ein 30-Prozent-Ziel der EU wurde von der Ko-
alitionsmehrheit abgelehnt.


(René Röspel [SPD]: Hört! Hört!)


Herr Göppel, Kollege Jung, hier sitzen diejenigen, die
sich für einen solchen Antrag einsetzen; das ist völlig
klar. Aber in der Energiedebatte heute Morgen saßen
hier Fuchs, Pfeiffer und andere.


(Ulrich Kelber [SPD]: Man muss die Teufel auch mal aufzählen!)


Das, was ich beschreibe, ist der Konflikt, den Sie inner-
halb Ihrer eigenen Fraktion lösen müssen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist doch kein Konflikt in den Personen, sondern in der Sache!)


Unterstützen Sie Ihren Umweltminister! Haben Sie doch
keine Angst vor Ihrer eigenen Courage! Unterstützen Sie
das, was die Menschen in diesem Lande wollen, nämlich
eine saubere Energieversorgung und mehr Klimaschutz!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Mit einer Lobbypolitik für die alten, fossilen Struktu-
ren wird in Zukunft kein Staat mehr zu machen sein, und
– lassen Sie mich das anfügen – es werden auch keine
Wahlen mehr zu gewinnen sein.

(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Für die Grünen!)


Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710821800

Josef Göppel ist der letzte Redner zu diesem Tages-

ordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1710821900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

reden zum wiederholten Male über die Anhebung des
europäischen Klimaschutzzieles. Der Deutsche Bundes-
tag hat sich über alle Fraktionen hinweg darauf verstän-
digt, dass Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2020
um 40 Prozent reduziert. Ich sage ganz klar, Herr Kol-
lege Ott: Ich erwarte als Abgeordneter der Koalition,
dass sich alle Mitglieder der Bundesregierung dem Vor-
stoß des Bundesumweltministers anschließen und jetzt
im Europäischen Rat für die Anhebung des europäischen
Ziels eintreten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Die eigenen Leute klatschen nicht!)


Da wir bereits im Jahr 2011 eine Senkung um 17,3 Pro-
zent erreicht haben, sind 20 Prozent bis zum Jahr 2020
nämlich kein glaubwürdiges Ziel mehr. Genau dieses
Problem kennen ja alle, die an Klimaschutzverhandlun-
gen teilnehmen. Wenn sich die Europäische Union nicht
bewegt, dann scheitert Durban. Das ist absehbar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb können wir in Bezug auf den Temperaturanstieg
auch nicht beim 2-Grad-Ziel bleiben. Das genau ist der
Punkt, um den es geht.

Wo liegen aber die Hinderungsgründe? Natürlich ist
die Angst vorhanden, dass Europa mit einem höheren
Klimaschutzanspruch wirtschaftlichen Schaden nehmen
würde.

Das Wirtschaftsministerium hat bei der Prognos AG
und der GWS eine Studie in Auftrag gegeben – wie im-
mer für teures Geld. Sie haben festgestellt, dass die An-
hebung des Klimaschutzzieles auf 30 Prozent zu viele
Nachteile für die europäische Wirtschaft mit sich brin-
gen würde. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass es
schon in allen Ländern Steuererleichterungen für die
energieintensive Industrie gibt. Es wurde auch nicht be-
rücksichtigt, dass wir eine preisdämpfende Wirkung zu
verzeichnen haben, wenn weniger Primärenergie aus
Drittländern eingekauft werden muss, und es wurde
nicht berücksichtigt, dass durch Klimaschutzinvestitio-
nen auch neues Wachstum generiert wird.





Josef Göppel


(A) (C)



(D)(B)

Deswegen ist die entscheidende Frage: Wie schätzen
wir das ein? Bringt eine Vorreiterrolle Nachteile, isoliert
sie uns, oder bringt sie uns Vorteile? Die bisherigen wirt-
schaftlichen Erfahrungen unseres Landes auch auf dem
Sektor der erneuerbaren Energien sind doch eindeutig:
Mit einem energischen Vorangehen isolieren sich
Deutschland und Europa nicht, sondern setzen sich inter-
national an die Spitze.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genau diese Spitzenposition wird unserem Land Vorteile
verschaffen.

Mir hat gerade einer aus meiner Fraktion ins Ohr ge-
flüstert: Wir wollen bezahlbare Strompreise. Der Mann
hat recht. Ich will auch bezahlbare Strompreise. Wir
werden aber sehen, dass in Zukunft nur noch saubere
Stromquellen bezahlbar sein werden, weil die Folgekos-
ten des Nichtstuns sehr viel höher als die Investitionen
sind, die wir jetzt für den Klimaschutz brauchen.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710822000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/5231 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist beruhigend. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 b. Hier
geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 17/5402.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3998 mit dem Titel
„Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu einem globalen
Klimaschutzabkommen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Das Erste war die Mehrheit. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
17/4016 mit dem Titel „Internationaler Klimaschutz vor
Cancún – Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum
Ziel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Mehrheiten
sind nicht unterschiedlich. Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist mehrheitlich angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4529
mit dem Titel „EU-Klimaschutzziel erhöhen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist ebenfalls angenommen. Bei dem Tagesordnungs-
punkt 11 c geht es um die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
ben“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf der Drucksache 17/4069, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2485
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Auch
diese Beschlussempfehlung ist angenommen.

Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 10:

Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung

Europäische Nachhaltigkeitsstrategie

– Drucksache 17/5295 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.


(Unruhe)


– Das ist doch kein Grund, zu randalieren. Wenn diejeni-
gen, die an diesem Punkt nicht mehr teilnehmen wollen,
unauffällig den Saal verlassen, finden diejenigen, die
dazu jetzt das Wort erhalten, umso ungeteiltere Auf-
merksamkeit. Darf ich vorher feststellen, dass es Einver-
nehmen dazu gibt, dass die Aussprache eine halbe
Stunde dauern soll? – Das ist offenkundig der Fall. Dann
verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1710822100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach intensiven Beratungen in den letzten Monaten wer-
fen wir heute einen Blick über unsere nationale Nachhal-
tigkeitsstrategie hinaus auf die europäische Perspektive
nachhaltiger Entwicklung. Ich freue mich sehr, dass es
gelungen ist, die Unterrichtung im fraktionsübergreifen-
den Konsens ohne Sondervoten einzelner Fraktionen im
Beirat zu verabschieden. Dies unterstreicht noch einmal
den Ansatz, nachhaltige Entwicklung legislaturperioden-
übergreifend und jenseits politischer Auseinandersetzun-





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

gen zu begleiten. Allen, die hieran mitgewirkt haben,
danke ich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
sehr herzlich.

Alois Glück, der ehemalige bayerische Landtagsprä-
sident und Vordenker zum Thema Nachhaltigkeit, be-
zeichnete das Prinzip der Nachhaltigkeit als den zentra-
len Kompass, wenn wir einen guten Weg in die Zukunft
gestalten wollen.

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird dabei von zwei Di-
rektiven bestimmt, nämlich dem Längerfristigen und
dem Ganzheitlichen. Diese beiden Parameter haben wir
bei den Beratungen zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie er-
leben können. Wir haben herausgearbeitet, dass die EU-
Nachhaltigkeitsstrategie mehr und längerfristiger ist als
die Strategie „Europa 2020“. Und wir haben gespürt, wie
ganzheitlich die Fragestellungen sind. Von daher ist es
lobenswert, dass wir anhand von zehn Themenfeldern
sowie Indikatoren strukturiert gearbeitet haben, um un-
seren Kolleginnen und Kollegen im Parlament einen
Überblick über diese breite Materie zu geben.

Von daher können wir heute gar nicht auf alle Berei-
che eingehen, sondern ich darf mich auf einige wesentli-
che Aspekte konzentrieren. Bei der Bewertung der euro-
päischen Nachhaltigkeitsstrategie ergibt sich insgesamt
ein sehr gemischtes Bild. In einigen Bereichen liegt die
EU weit vorne, in vielen Bereichen sind allerdings noch
erhebliche Anstrengungen notwendig. Eine wichtige Er-
kenntnis bei der Betrachtung der einzelnen Indikatoren
ist, dass einige Länder Vorreiter sind und andere um ein
Vielfaches dahinter zurückliegen.

Dies zeigt, dass Nachhaltigkeit und Leitlinien nach-
haltiger Entwicklung noch nicht überall in der EU als
wichtiges Zukunftsinstrument in die Politik integriert
sind. Hier ist aus unserer Sicht die EU gefordert, in allen
Mitgliedstaaten für eine entsprechende Ausrichtung na-
tionaler Strategien zu werben.

Dabei kämpft die europäische Nachhaltigkeitsstrate-
gie im Gegensatz zu unserer nationalen mit einem gra-
vierenden Geburtsfehler: Die zur Begleitung der Strate-
gie erforderlichen Indikatoren sind nicht politisch
konsentiert, sondern von Eurostat entwickelt und ohne
politische Beratung eingeführt worden. Entsprechend
niedrig ist ihre Relevanz.

Aus unserer Sicht ist es zwingend erforderlich, dass
sich die EU bei der Weiterentwicklung der europäischen
Nachhaltigkeitsstrategie auch die Zeit nimmt, die Indi-
katoren politisch zu diskutieren. Nur so kann es gelin-
gen, die Verzahnung der europäischen Nachhaltigkeits-
strategie und der nationalen Nachhaltigkeitsstrategien zu
verbessern. Bei unserer gemeinsamen Befassung mit der
europäischen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir auch
feststellen können, wie gut der Parlamentarische Beirat
für nachhaltige Entwicklung im deutschen Parlament
verankert ist.

Mit klaren Aufgaben und Kompetenzen treiben wir
unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie voran. Solch
klare Kontrollmechanismen bezüglich der Umsetzung
der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie fehlen in der
EU.
Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie enthält neben zahl-
reichen wichtigen und sinnvollen Indikatoren aber auch
einige, bei denen durchaus kritisch hinterfragt werden
sollte, ob diese Indikatoren uns wirklich weiterbringen.
Hierzu gehört der Indikator „gute Staatsführung“. Si-
cherlich ist eine gute Staatsführung mit Blick auf eine
nachhaltige Entwicklung wichtig. Allerdings ist die Be-
wertungsgrundlage des Indikators bemerkenswert: Eine
Vertrauenserklärung gegenüber dem EU-Parlament von
mehr als der Hälfte der EU-Bürger als positiven Befund
zu werten, ist vor dem Hintergrund, dass die Wahlbetei-
ligung zum Europaparlament beständig abnimmt, sehr
gewagt. Auch die Quote von 98,5 Prozent als Zielvor-
gabe für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch
die nationalen Regierungen sagt kaum etwas über die
gute Staatsführung der EU aus, müsste doch diese Quote
bei 100 Prozent liegen.

Letztlich sind die vorhandenen Indikatoren eher frag-
würdig, sodass der Parlamentarische Beirat zu Recht
empfiehlt, dieses Themenfeld aus dem Bereich der Indi-
katoren zu streichen und als ein weiteres Thema von be-
sonderer Bedeutung ohne Indikatorenmessungen in den
allgemeinen Teil der Nachhaltigkeitsstrategie zu verla-
gern.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Nachhaltigkeit muss Leitprinzip der europäischen Poli-
tik sein sowie umfassend und konsequent Berücksichti-
gung finden. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist eine Zu-
kunftsstrategie: Wenn Nachhaltigkeit als politische,
gesellschaftliche und ökonomische Querschnittsaufgabe
begriffen wird, kann sie zum Innovationsmotor werden.
Technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher
Fortschritt muss sich an diesem Prinzip messen lassen.
Wichtig ist dabei, dass die Leitlinien nachhaltiger Ent-
wicklung auf der europäischen Ebene nicht zugunsten
kurzfristiger Zielvorgaben verdrängt werden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710822200

Nächster Redner ist der Kollege Franz Müntefering

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1710822300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

wurde schon gesagt: Europa hat den Fortschrittsbericht
zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt.
Wir haben als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige
Entwicklung das Thema aufgenommen und einen Be-
richt an den Bundestag gegeben. Die Drucksache liegt
vor. Heute findet eine kurze Debatte statt.

Wir haben Fragen gestellt, weil wir wissen wollten,
wie denn die Entwicklung in Europa ist, wie synchron
sie in den Mitgliedsländern läuft bzw. in welchem Maße
sie nicht übereinstimmt. Die erste Frage, die wir gestellt
haben, ging an die Bundesregierung. Wir haben gefragt,
wie sie denn die Indikatoren, die Europa benutzt, sieht.
Wir haben festgestellt – das war ziemlich ernüchternd –,





Franz Müntefering


(A) (C)



(D)(B)

dass die Indikatoren, mit denen Europa den Fortschritt
misst, nicht von den Mitgliedstaaten anerkannt worden
sind. Die Mitgliedstaaten sind zwar beteiligt worden,
aber im Endergebnis ist es so, dass die Mitgliedstaaten
und Europa den Fortschritt mit unterschiedlichen Maß-
einheiten messen. Das ist nicht gut. Deshalb muss man
versuchen, dies zu synchronisieren. Das ist notwendig,
damit man weiß, worüber man redet, wenn man über
Nachhaltigkeit und Fortschritt miteinander spricht.


(Beifall bei der SPD)


Trotzdem ist es wichtig und richtig, dass wir uns auch
über die Inhalte austauschen und das, was wir erkennen
können, ansprechen, soweit das in so kurzer Zeit hier
möglich ist. Ich nenne ein paar Stichworte.

Stichwort „natürliche Ressourcen“. Es ist klar gewor-
den, dass es in Europa immer weniger Wälder und im-
mer weniger Grün gibt, Wasser im vergleichbaren Um-
fang wie in den Jahren zuvor genutzt wird. Wenn man
das zu der schlichten Wahrheit in Relation setzt, dass die
Bevölkerungszahl in Deutschland von jetzt 81 Millionen
auf 68 Millionen bis zum Zeitraum 2050/2060 sinken
wird, stellt sich die Frage, wie wir unsere Landschaft be-
planen und welche Konsequenzen sich aus solchen Zah-
len für die Zukunft des Landes ergeben. Eines müssen
wir jedenfalls lernen. Bei den meisten von uns in
Deutschland ist im Kopf, dass der Mangel an Wasser
und Grün hauptsächlich andere Kontinente betrifft. Aber
auch Europa ist davon in hohem Maße und in immer
stärkerem Maße betroffen. Es ist wichtig, dass wir dieses
Problem nicht unterschätzen.


(Beifall bei der SPD)


Stichwort „öffentliche Gesundheit“. Ich spreche das
Thema an, weil es in Europa durchgängig so ist, dass
arm zu sein, also wenig Geld zu haben, immer mit einer
unterdurchschnittlichen Versorgung im Gesundheitsbe-
reich verbunden ist. Das ist ein deutsches Problem und
auf jeden Fall in Europa ein weitverbreitetes Problem
und deshalb etwas, was wir im Blick haben müssen und
was in die europäischen Kategorien stärker einbezogen
werden muss.

Stichwort „soziale Sicherheit und Einbeziehung in
unsere Gesellschaft“. Die Trennung zwischen Arm und
Reich wird größer, die Schere geht weiter auseinander.
Wir glauben, dass die Instrumente, die Europa nutzt, um
das zu messen, nicht besonders aufschlussreich sind.
Man nimmt die reichsten 20 Prozent und die ärmsten
20 Prozent, aber die Extreme sind dann nicht wirklich zu
erkennen. Jedenfalls ist das eine Entwicklung, die in Eu-
ropa durchgängig zu beobachten ist.

10 Prozent der jungen Leute in Europa kommen ohne
Abschluss aus der Schule. Wir sind in Deutschland et-
was besser geworden: Anfang dieses Jahrhunderts waren
es pro Jahr 89 000, inzwischen sind es 58 000. Aber be-
ruhigen kann uns das nicht. Das sind in zehn Jahren un-
gefähr 600 000 junge Leute, die ohne Schulabschluss in
Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geschoben wer-
den. Deshalb ist dieses Thema – 10 Prozent der jungen
Leute in Europa kommen ohne Abschluss aus der
Schule – eine der größten Herausforderungen, vor denen
Europa steht. Das muss auch in Europa auf die Tages-
ordnung gesetzt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir die junge Generation ernst nehmen wollen,
muss dieses Thema neben allen anderen wichtigen The-
men, die wir in Europa zu besprechen haben, auf die Ta-
gesordnung; denn die Wirkungen sind noch in 20 oder
30 Jahren in aller Massivität zu spüren.

Es ist festgestellt worden, dass in Deutschland, aber
auch in anderen Ländern die Frauen in der Entlohnung
deutlich schlechter gestellt sind als die Männer. Das ist
oft genug konstatiert worden und muss nun endlich be-
hoben werden, sowohl in Deutschland als auch an-
derswo.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Stichwort „Demografie“. Die Altersarmut ist in den
letzten sieben Jahren in Europa gewachsen. Wir haben
eine lange Phase in Europa gehabt, wo die ältere Genera-
tion relativ besser dastand als die jüngere. In den letzten
sieben Jahren hat sich dieser Trend verändert. Wenn man
sich nun klarmacht, dass in Deutschland, aber auch in
Europa insgesamt die Lebenserwartung steigt, dass die
Zahl der Älteren zunimmt, und wenn man davon aus-
geht, dass sie weniger verfügbar haben, stellt man fest,
dass es hier um eine Frage nicht nur sozialer Dimension,
sondern auch ökonomischer Dimension geht. Die Bin-
nenkaufkraft und die Leistungsfähigkeit werden an die-
ser Stelle abnehmen. Das ist nicht nur ein Minus an
Lebensqualität, sondern, was die volkswirtschaftliche
Dynamik angeht, auch eine große Gefahr, die wir sehen
müssen.

Was die Beschäftigung und die Arbeitsplätze im Be-
reich der 55- bis 64-Jährigen angeht, ist Europa ein
Stück vorangekommen; die Beschäftigung liegt bei etwa
50 Prozent. Wir sind in Deutschland bei etwa 60 Pro-
zent. 1998 waren wir bei etwa 36 Prozent. Das ist eine
gute Entwicklung; aber trotzdem bleibt es nötig und
dringend erforderlich, in ganz Europa auch den Älteren
eine Chance zu geben, am Arbeitsmarkt teilzuhaben.


(Beifall bei der SPD)


Ich nenne drei Punkte, die uns in dem, was Europa
uns geliefert hat, fehlen. Es gibt erstens keine qualifi-
zierte Auseinandersetzung mit den Finanzen, weder mit
den öffentlichen Finanzen, mit den Haushalten, noch mit
der privaten Finanzindustrie. Das ist hochärgerlich.
Denn Nachhaltigkeitspolitik kann sich nicht darauf redu-
zieren lassen, zu versuchen, die verschüttete Milch auf-
zunehmen, sondern wir müssen auch als Politik auf die
öffentlichen Finanzen und die private Finanzindustrie
Einfluss haben. Sonst kann man nachhaltige Politik in
Europa nicht organisieren. Auch das ist eine Konse-
quenz aus dem, was wir da lesen.


(Beifall bei der SPD)






Franz Müntefering


(A) (C)



(D)(B)

In dem gesamten Bericht fehlt zweitens die Integra-
tion, die Inklusion, ein Thema, das wir dringend aufneh-
men müssen in Europa, in Bezug auf Zuwanderung, auf
Einwanderung, aber auch auf Binnenwanderung in Eu-
ropa. Was findet da eigentlich statt? Was bedeutet das?
Wer soziale Stabilität haben will, muss sich auch um die-
ses Thema kümmern.

Drittens steht in dem Bericht nichts zur Demokratie.
Ich finde, das ist eine Schwäche, die wir uns nicht leisten
können. Europa hat viele Probleme. Wir haben auch das
Problem, dass wir immer wieder neu aufpassen müssen,
dass die Demokratie auch stimmt, dass die Menschen-
rechte eingehalten werden, dass die Medienöffentlich-
keit garantiert ist, und zwar in ganz Europa; ich will gar
keine Adressen nennen.


(Beifall bei der SPD)


Das ist etwas, über das wir miteinander sprechen müs-
sen. Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie nicht
partiell nur noch formal vorhanden ist und von der Sub-
stanz her den Anforderungen nicht genügt wird.

Nun haben wir unseren Bericht gegeben. Der Bundes-
tag und die Bundesregierung lesen das hoffentlich, spre-
chen darüber und erkennen, dass etwas getan werden
muss. Durch Reden allein passiert nichts; wir haben oft
genug darüber geredet. Deshalb die Aufforderung des
Parlamentarischen Beirats: Lasst uns die Dinge mitei-
nander anpacken und Europa organisieren und voran-
bringen, nicht nur bei den großen Themen, die uns jeden
Tag berühren, sondern auch da, wo es konkret um die
einzelnen Menschen und deren Lebensqualität geht.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710822400

Die Rede des Kollegen Johannes Vogel für die FDP-

Fraktion wird zu Protokoll genommen.1)

Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710822500

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Des-
halb hat auch die EU eine Nachhaltigkeitsstrategie. Lei-
der scheint sie aber eher nur auf dem Papier zu stehen,
als dass sie eine Handlungsgrundlage ist. Das hat auch
der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung
des Bundestages festgestellt.

Alles andere als nachhaltig war der Druck der EU auf
Griechenland, für den Euro-Rettungsschirm Löhne, Ge-
hälter und Investitionen zu kürzen. Wie von der Linken
vorausgesagt, brach daraufhin die Wirtschaftsleistung
ein. Das war unverantwortlich.


(Beifall bei der LINKEN)


1) Anlage 6
Verantwortlich wäre gewesen, die gravierende Steuer-
hinterziehung in Griechenland – nach Schätzungen geht
es hier um 30 Milliarden Euro pro Jahr – zu bekämpfen.
Diese einseitige, nicht nachhaltige Politik verurteilt die
Linke. Jetzt, ein Jahr nach dem Ausbruch der griechi-
schen Finanzkrise, plant der griechische Finanzminister,
mit 3 000 zusätzlichen Beamten die Steuerhinterziehung
zu bekämpfen und so die Staatseinnahmen zu erhöhen.
Das ist der Anfang einer nachhaltigen Finanzpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Bundesrepublik werden jedes Jahr weit über
50 Milliarden Euro Steuern hinterzogen. Jeder zusätzli-
che Steuerprüfer holt davon etwa 1 Million Euro in die
Staatskasse zurück. Deshalb fordert die Linke mehr
Steuerprüfer.


(Beifall bei der LINKEN)


Das wäre für den Bundeshaushalt nachhaltig und ein
Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Jeder Lohnsteuerzahler
wird überprüft, aber Betriebsinhaber und Millionäre ha-
ben wegen fehlenden Personals in den Finanzämtern
gute Chancen, bei Schummeleien nicht erwischt zu wer-
den.


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn sondergleichen! Noch nie eine Firma von innen gesehen und dann so einen Scheiß erzählen!)


Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch nicht nachhal-
tig.

Bei Empfängern von ALG II, beim Kindergeld, beim
BAföG und beim Wohngeld wird gnadenlos überwacht.
Der kleinste Fehler eines Leistungsempfängers führt
zum Verlust von Leistungen und beim Bezug von
ALG II zu erbarmungslosen Sanktionen. Wer Steuern in
Millionenhöhe hinterzogen hat, geht bei rechtzeitiger
Selbstanzeige straffrei aus.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Quatsch! Stimmt doch gar nicht! Es gibt keine Straffreiheit mehr!)


Da sagt die Linke: So nicht!


(Beifall bei der LINKEN)


Auch in anderen Bereichen wird bei der Nachhaltig-
keit geschludert. Zum Schutz des Klimas legte die EU
neue Grenzwerte für das Treibhauspotenzial von Kälte-
mitteln in Klimaanlagen von Pkw fest. Dabei wurde aber
nicht nur die Begrenzung des internen Energiever-
brauchs der Klimaanlagen vergessen; auch der Gesund-
heitsschutz kam unter die Räder. Zum Schutz des Klimas
wurde für neue Pkw-Typen ein Verbot des Einsatzes des
bisherigen Klimakillers R 134 a erlassen. Die EU hoffte
auf den Einsatz von CO2, doch die Autoindustrie setzte,
um Entwicklungskosten zu sparen, auf R 1234 yf statt
CO2. Im Falle einer undichten Klimaanlage oder eines
Feuers nach einem Unfall entsteht daraus aber Fluss-
säure, welche die Lungen von Insassen, Helfern und Un-
beteiligten verätzen kann. Das ist ein Skandal.

Die Linke forderte sofort ein Verbot des Einsatzes ge-
sundheitsgefährdender Kühlmittel in Pkw. Aber statt mit





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

uns gemeinsam einen Weg zu finden, wie dieses Ge-
sundheitsrisiko verhindert werden kann, schmetterten
Sie von der Regierungskoalition unsere Initiative ab. Im
September sollen die ersten Pkw mit dem Kühlmittel
R 1234 yf im Handel sein. Das kann doch nicht ihr Ernst
sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern Sie auf, eine Entscheidung zu treffen, die
dazu führt, dass kein einziger Mensch verletzt werden
kann.

Jetzt komme ich zur Nachhaltigkeitsprüfung zurück.
Hätte es in diesem Fall eine Nachhaltigkeitsprüfung ge-
geben, wäre der Skandal nicht passiert. Hätten wir mehr
Finanzbeamte und Steuerprüfer, zum Beispiel 500 in
Nordrhein-Westfalen, könnten wir die Finanzen der
Bundesrepublik nachhaltig verbessern.

Wir, Die Linke, unterstützen die Arbeit des Parlamen-
tarischen Beirats für Nachhaltigkeit, weil über die Nach-
haltigkeitsprüfung Fehler erkannt werden können. Wir
haben nur eine Welt und ein Leben, und deshalb müssen
wir sorgsam damit umgehen. Das ist der Kern von Nach-
haltigkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das war nix!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710822600

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die

Kollegin Frau Dr. Wilms das Wort.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710822700

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Nach dem kurzen Ausflug in
die Autoklimaanlagenwelt möchte ich auf das zurück-
kommen, was wir im Parlamentarischen Beirat für nach-
haltige Entwicklung machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)


Nach knapp vier Monaten steht wieder eine Unter-
richtung durch den Parlamentarischen Beirat für nach-
haltige Entwicklung auf der Tagesordnung dieses Hohen
Hauses. Vielleicht fragen Sie sich, warum wir nicht mehr
Papiere auf den Tisch legen. Das kann ich Ihnen gerne
erklären, gerade auch den Zuschauerinnen und Zuschau-
ern auf der Tribüne: Es dauert mehrere Monate, bis wir
im Beirat ein Papier zustande bringen; denn wir arbeiten
anders als in den Ausschüssen, nämlich interfraktionell.
Für das, was wir hier auf den Tisch legen, wollen wir die
Zustimmung aller fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses
erreichen. Deshalb handelt es sich um eine ganz beson-
dere Debatte. Wir einigen uns auf einen gemeinsamen
Nenner, den wir im Hause über lange Zeit beibehalten
können, hinter dem wir alle stehen können – und dies
heute zu einem Papier quer durch alle Themenfelder,
nämlich zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Das
ist unsere Arbeitsweise im Parlamentarischen Beirat.

Europakritiker und Europaskeptiker haben in den ver-
gangenen zwei bis drei Jahren nicht wenige Argumente
an die Hand bekommen. Finanzmarktkrisen und Ret-
tungsschirme bestätigen Skeptiker und Kritiker. Laut
Eurobarometer glaubten Ende 2010 nicht einmal die
Hälfte der EU-Bürger, dass die Krise überwunden sei. In
Deutschland waren es sogar etwas mehr als die Hälfte.
Diese Skepsis ist nicht verwunderlich, wenn man sich
den Bericht des europäischen Statistikamtes zur Euro-
päischen Nachhaltigkeitsstrategie anschaut.

Die Tagung des Beirats, die Ende März in Brüssel zu-
sammen mit den Kollegen aus der EU stattgefunden hat,
zeigte auch, dass dort bislang insgesamt nur ein geringes
Interesse am Thema Nachhaltigkeit vorhanden ist. Ein
nachhaltiger Staatshaushalt ist schließlich kein Thema,
mit dem man Stimmen gewinnen kann; im Gegenteil:
Sparprogramme werden in Europa sogar bestreikt. Bei
der Nachhaltigkeit geht es aber um weit mehr. Es geht
um die Zukunftsfähigkeit jedes einzelnen Staates und
von Europa als Ganzes,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


und zwar nicht nur im Bereich Finanzen, sondern auch
in den Bereichen Ökologie und sozialer Zusammenhalt.

Lassen Sie mich das am Beispiel Verkehr darstellen.
2008 hatte der Verkehr mit knapp einem Drittel den
größten Anteil am Endenergieverbrauch in Europa. Hier
steckt also ein riesiges Potenzial für Energieeinsparung.
Das ist aber auch eine enorme Herausforderung. Das
Güterverkehrsvolumen stieg seit 2000 um ein Viertel an.
Laut Prognosen wird es noch weiter steigen. Wie kom-
men wir aus dieser Falle heraus? Das Zauberwort für
nachhaltigen Verkehr heißt: Kostenwahrheit. Jedes Ver-
kehrsmittel muss für sämtliche Umweltbeeinträchtigun-
gen aufkommen. Nur dann haben auch umweltfreund-
liche Verkehrsmittel eine reelle Chance.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


All diese Herausforderungen haben eines gemeinsam:
Wir brauchen einen Systemwechsel, einen neuen Denk-
ansatz. Derzeit wird überwiegend der Produktionsfaktor
Arbeit besteuert, der Produktionsfaktor Boden bzw. Na-
tur dagegen kaum. Scheinbar waren Ressourcen immer
in unendlicher Menge vorhanden. Diese Annahme ist
falsch. Unsere Erde ist nicht reproduzierbar, bislang je-
denfalls. Lassen wir unseren Nachkommen auch noch
etwas davon übrig.

Die Nachhaltigkeitsziele in Europa müssen Priorität
erhalten und über allen anderen bereichsübergreifenden
Zielen stehen, auch über der Wachstumsstrategie Europa
2020. Vor allen Dingen muss sich Europa endlich die
Mühe machen, diese Ziele politisch zu debattieren und
festzulegen und das Ganze nicht nur über das Statistik-
amt abwickeln zu lassen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710822800

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich

dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1710822900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sprechen heute über die Nachhaltigkeitsstrategie der Eu-
ropäischen Union. Natürlich geht es dabei um Instru-
mente, um Verfahren und um Managementregeln.

Ich finde es wichtig, noch einmal in den Mittelpunkt
zu stellen, warum wir über diese Verfahrenswege disku-
tieren und worum es in der Sache geht. In der Sache geht
es darum, dass wir in der gesamten Europäischen Union
den Gedanken der Nachhaltigkeit voranbringen wollen.
Wir wollen dahin kommen, sagen zu können: Wir leben
in der Europäischen Union nicht auf Kosten der Zukunft.
In den Bereichen Wirtschaft und Soziales, Finanzen und
Umwelt leben wir nicht auf Kosten von morgen, sondern
berücksichtigen die Belange künftiger Generationen.

Das durchzusetzen, erfordert wiederum die Diskus-
sion über Instrumente und Verfahren. Deshalb haben wir
uns als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Ent-
wicklung des Deutschen Bundestages mit diesen Fragen
im Hinblick auf Europa befasst. Wir machen uns stark
dafür, dass es eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
gibt, die ambitioniert ist, die überzeugend ist, die in die
Mitgliedstaaten ausstrahlt und dort Wirkung entfaltet.
Das ist das Ziel. Wir stellen fest, dass auf dem Weg zu
diesem Ziel noch erhebliche Hürden zu überwinden
sind. Ich will drei Punkte kritisch herausgreifen.

Erstens. Die Indikatoren der Europäischen Nachhal-
tigkeitsstrategie sind nicht politisch diskutiert und entwi-
ckelt worden. Sie wurden quasi von Eurostat ohne de-
mokratische Rückkoppelung vorgegeben. Das ist schon
ein Geburtsfehler, weil demokratische Legitimation die
Voraussetzung für Akzeptanz ist. So werden diese Indi-
katoren die Strahlkraft, die wir uns von ihnen erhoffen,
gerade nicht entwickeln können. Ich glaube, das ist ein
Punkt, der sich ändern muss


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dringend!)


und bei dem die Europäische Union eine Weiterentwick-
lung betreiben sollte.

Zweitens. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
ist eine Ergänzung der Lissabon-Strategie. Es mag Sinn
machen, Synergien zu suchen, wo sie möglich sind. Das
entspricht aber nicht der Bedeutung der Nachhaltigkeit,
wie wir sie sehen. Wir glauben, dass Nachhaltigkeit der
Überbau ist – sie muss über allem stehen –, dass andere
Strategien sich hier einfügen müssen und aus diesem Ge-
danken der Nachhaltigkeit heraus zu entwickeln sind. Es
darf gerade nicht umgekehrt sein: Nachhaltigkeit als Ab-
leger von anderen Strategien. Auch das muss sich än-
dern. Die Nachhaltigkeit muss in der EU durch diese for-
male Frage stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Drittens. Letztlich ist es eine Frage der institutionel-
len Behandlung der Nachhaltigkeit. Wir glauben, dass
die Nachhaltigkeit auf europäischer Ebene im Parla-
ment, in der Kommission und im Rat auch durch ihre
formale Behandlung gestärkt werden sollte.
Ich fange an beim Parlament. Wir sind nicht in der Si-
tuation, dass wir dem Europäischen Parlament Rat-
schläge für seine interne Organisation zu geben haben.
Wir wollen aber Überzeugungsarbeit leisten und mit Eu-
ropaparlamentariern – wir haben vor kurzem das Ge-
spräch gesucht – darüber debattieren, ob sie nicht das-
selbe machen wollen wie wir im Bundestag. Wir halten
es für einen Fortschritt, dass wir einen Beirat haben, der
sich fächerübergreifend mit Nachhaltigkeit befasst und
quasi eine Wachhundfunktion übernimmt, der in allen
Fachbereichen und bei allen Materien sagt: Hier muss
Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, hier läuft etwas
schief, und hier müssen wir etwas ändern. – So etwas
gibt es im Europäischen Parlament bislang noch nicht.
Wir würden gerne einen Impuls an die Europaparlamen-
tarier geben, dass sie diesen bei uns erfolgreichen Weg
ebenfalls gehen.

Ich nenne ein Beispiel, warum dieser Weg erfolgreich
ist. Es geht auf eine Initiative des Parlamentarischen
Beirats für nachhaltige Entwicklung zurück, dass das
Bundeskanzleramt – auf immer wiederkehrendes steti-
ges Drängen – ein eigenes Referat für Nachhaltigkeit
eingerichtet hat. Fragen aus diesem Bereich unterliegen
damit dort einer prominenten Behandlung und erlangen
eine große Bedeutung. So etwas gibt es in der Kommis-
sion der Europäischen Union bislang noch nicht. Wir
meinen, an dieser Stelle sollte ein Impuls gegeben wer-
den. Hier sollte es eine Weiterentwicklung geben, damit
der Gedanke der Nachhaltigkeit innerhalb der Kommis-
sion gestärkt wird.


(Beifall der Abg. Manfred Grund [CDU/CSU] und Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dasselbe gilt für die Ebene des Rates. Wir sind der
Meinung, dass im Rat eine Arbeitsgruppe „Nachhaltige
Entwicklung“ eingerichtet werden sollte, und zwar aus
denselben Gründen, die für Parlament und Kommission
gelten. Wir brauchen all dies, um die formalen Voraus-
setzungen dafür zu schaffen, dass die Nachhaltigkeit in-
haltlich einen höheren Stellenwert in der Europäischen
Union bekommt. Wenn das alles gelingt, haben wir, so
glaube ich, auf europäischer Ebene eine überzeugende
Strategie, die mit den Nationalstaaten abgestimmt ist.
Dann können die Indikatoren und Regeln von den Natio-
nalstaaten ergänzt und übernommen werden. Dann ge-
lingt es uns in der Europäischen Union insgesamt, eine
nachhaltige Politik vernünftig umzusetzen.

Wie man an den Beispielen sieht, haben wir noch ein
gutes Stück Arbeit vor uns. Wir nehmen die Herausfor-
derung an. Die Vorlage zeigt, dass wir im Parlamentari-
schen Beirat für nachhaltige Entwicklung fraktionsüber-
greifend daran arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1710823000

Ich schließe die Aussprache.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/5295 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Darüber gibt es
offensichtlich keinen Streit. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Neuen „Krippengipfel“ einberufen – Ausbau
der frühkindlichen Bildung und Betreuung vo-
ranbringen

– Drucksache 17/5518 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 30 Minuten dauern. – Dazu gibt es keinen
Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1710823100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute Abend über eines der wichtigsten
sozial- und familienpolitischen Vorhaben dieses Jahr-
zehnts, über den Ausbau der Bildungs- und Betreuungs-
angebote für Kinder unter drei Jahren. Es geht dabei um
nichts Geringeres als um die frühkindliche Bildung der
Kinder und um die Unterstützung von erwerbstätigen El-
tern, die Familie und Beruf partnerschaftlich miteinan-
der vereinbaren wollen, sowie um die Bekämpfung von
Familienarmut.

Wenn wir den Fachkräftebedarf von heute und von
morgen bewältigen wollen, ist die Lösung der Vereinbar-
keitsfrage ein Schlüsselthema. Niemand darf den Aus-
bau der Krippenplätze und den ab 2013 bestehenden
Rechtsanspruch infrage stellen. Das ist in diesem Haus
heute Abend und darüber hinaus hoffentlich Konsens.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe bei diesem Thema aber zunehmend den Ein-
druck, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung und ins-
besondere die zuständige Bundesfamilienministerin
Schröder in einer anderen Welt leben als der Rest der
Republik.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Warum ist das so? Seit Monaten sind Schlagzeilen zu le-
sen wie diese: „Alte Bundesländer: Kitaplatz nur für je-
des sechste Kleinkind“. Eine weitere Schlagzeile: „Krip-
penausbau gefährdet“. In einer GEW-Studie heißt es:
Nie wurden Erzieherinnen und Erzieher so dringend be-
nötigt wie heute. In den Bremer Nachrichten vom
22. Juli letzten Jahres war sogar zu lesen:

Augen zu und durch. Wider besseres Wissen hält
Bundesfamilienministerin Kristina Schröder am
Kita-Konzept fest und versucht, den Lauf der Dinge
schönzureden.

Das Nichthandeln der Regierung fällt also nicht nur der
Opposition auf. Es fällt auch den Medien und der gesam-
ten Fachwelt auf.

Die Kommunen schlagen Alarm und sagen, dass sie
beim Krippenausbau definitiv mehr Unterstützung brau-
chen.

Deutschland wird – das ist ganz aktuell – in der Ende
April veröffentlichten OECD-Studie zur Familienpolitik
ermahnt, mehr und schneller in Strukturen wie Kinder-
betreuung und Ganztagsschulen zu investieren. Trotz des
Ausbaus in den vergangenen Jahren habe die Betreuung
der Kinder in Deutschland immer noch erhebliche Män-
gel, so die Studie.

Wenn man auf den Spielplätzen, insbesondere im Sü-
den und im Westen der Republik, mit den Müttern
spricht, wird klar: Viele Frauen bleiben oft länger zu
Hause, weil ihre Kinder auf den Wartelisten für einen
Krippenplatz stehen. Lange Auszeiten nach der Geburt
eines Kindes sind häufig nicht der Wunsch der Frauen,
sondern das Resultat fehlender Bildungs- und Betreu-
ungsangebote insbesondere für die unter Dreijährigen.
So, meine Damen und Herren von der Regierung, sieht
die Realität in unserem Lande aus.

Doch was hört und liest man von der Bundesregie-
rung? Seit ihrem Amtsantritt wird die zuständige Bun-
desfamilienministerin Schröder nicht müde, zu beteuern,
dass die Ausbaudynamik erfreulich sei und es keinen
Anlass zur Sorge gebe. Das ist interessant. Auch die
Bundeskanzlerin sieht, wie wir vor kurzem hören und le-
sen konnten, keinen Handlungsbedarf. Das ist vergan-
gene Woche auf der Hauptversammlung des Deutschen
Städtetages deutlich geworden. Sie sagte in ihrer Rede
zum Ausbau der Betreuung:

Wir werden sehen, wie sich die Fragen jetzt entwi-
ckeln. Wir sollten keine Kassandrarufe ausstoßen …

Frau Bundeskanzlerin, nur vom Zuschauen und Abwar-
ten werden die Eltern und die Kinder in unserem Land
nicht die Betreuungsplätze bekommen, die sie benöti-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diesen Optimismus der Bundesregierung – oder
sollte man schon von Ignoranz sprechen? – teilen weder
die SPD-Bundestagsfraktion noch die Kommunen oder
die Expertinnen und Experten und schon gar nicht die
Eltern in unserem Land. Wie kann man ernsthaft ignorie-
ren, dass zahlreiche Familien händeringend auf einen
Betreuungsplatz für ihre Kleinkinder warten und keinen
bekommen? Es ist doch fatal, wenn Mütter und Väter
mangels Betreuungsangeboten nicht arbeiten können.
Da hilft es auch nicht viel, dass die Arbeits- und Sozial-





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)

ministerin fordert, wir müssten mehr Fachkräfte gewin-
nen. Vor allem Alleinerziehende haben ohne ausrei-
chende Betreuungsplätze keine Chance auf dem Arbeits-
markt und damit auch keine Chance, ihren Lebensunter-
halt selbst zu bestreiten.

Zahlreiche Expertinnen und Experten gehen davon
aus, dass der Bedarf an Betreuungsplätzen deutlich hö-
her ausfällt, als die Bundesregierung bisher annimmt.
Die bundesdurchschnittliche Betreuungsquote von 35 Pro-
zent, die bis 2013 erreicht werden soll, gilt längst als
überholt. Insbesondere in den städtischen Regionen
dürfte der Bedarf auf 40 und zum Teil bis auf 60 Prozent
steigen. Auch das ist die Realität.

Das Problem ist vor allem dort besonders groß, wo
die Betreuungsquote besonders niedrig ist. So liegt bei-
spielsweise in Teilen Niedersachsens – Herr Staatssekre-
tär, das ist unser Bundesland – die Betreuungsquote bei
nur circa 10 Prozent. Da ist noch viel zu tun. Ja, es gibt
einen Ausbau von Plätzen, aber ich denke, dieser geht
viel zu langsam vonstatten. Handlungsbedarf besteht
auch bei dem weiteren Ausbau der Qualität der Betreu-
ung. Neben einer ausreichenden Zahl der Betreuungs-
plätze dürfen wir auch die Qualität der Betreuungs- und
Bildungsangebote für unsere Kinder nicht außer Acht
lassen.


(Beifall bei der SPD)


Wir dürfen auch nicht vergessen, wie wichtig die Ge-
winnung pädagogischer Fachkräfte ist. DGB, Verdi und
GEW warnen davor, dass der enorme Bedarf an Erziehe-
rinnen und Erziehern im frühkindlichen Bereich nicht
gedeckt wird. Zu Recht weisen sie immer wieder darauf
hin, dass dieser wichtige Beruf aufgewertet und besser
bezahlt werden muss. Ich sage Ihnen: Sie haben die SPD
an Ihrer Seite.


(Beifall bei der SPD)


Für all diese Probleme, die ich genannt habe, müsste
die Bundesregierung und allen voran Frau Schröder
dringend mit Ländern und Kommunen gemeinsame Lö-
sungen entwickeln.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein, das ist falsch! Verdi ist der Tarifpartner!)


Wir brauchen schnellstmöglich einen neuen Krippengip-
fel. Warum verweigert sich die Familienministerin dieser
notwendigen Forderung? Die SPD-Bundestagsfraktion
fordert in ihrem Antrag, einen solchen Krippengipfel
endlich erneut einzuberufen. Der letzte fand im Jahr
2007 statt. Wir wollen, dass der Ausbau der Betreuung
gerade auch im Bereich von Ganztagsangeboten be-
schleunigt wird.

Wir fordern schon länger, dass der Betreuungsbedarf
realistisch ermittelt wird und dass die regionalen Unter-
schiede und die Fachkräftebedarfe dabei berücksichtigt
werden. Wir brauchen hier endlich Transparenz; denn
nur so können wir bei der angestrebten Zahl der Betreu-
ungsplätze, bei der Gewinnung von Fachkräften und
auch bei der Finanzierung gezielt nachsteuern. Wir brau-
chen einen nationalen Bildungspakt für die frühkindliche
Bildung, und wir brauchen eine Fachkräfteoffensive, die
ihren Namen wirklich verdient.

Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Die Ministerin
müsste sich jetzt eigentlich nur noch an die Arbeit ma-
chen. Es reicht nicht aus, in Reden die bessere Verein-
barkeit von Familie und Beruf zu betonen. Wir fragen
uns: Wo bleiben die konkreten Maßnahmen?


(Beifall bei der SPD)


Was tun Sie von der Regierungskoalition, um den
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz zu sichern? Was
unternehmen Sie, um die Kommunen beim Ausbau an
frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten zu
unterstützen? Durch Ihre Politik, Herr Staatssekretär
Kues, haben Sie die finanzielle Lage in den Kommunen
verschärft. Ob wegbrechende Steuereinnahmen oder
massive Kürzungen bei der Städtebauförderung: Sie tun
genau das Gegenteil von dem, was für die Kommunen
dringend notwendig wäre.

Wir wollen, dass Familien echte Wahlfreiheit haben
und Beruf und Familie tatsächlich vereinbaren können.
Aber das ist bislang noch nicht der Fall. Die meisten
Paare wollen Familie und Beruf partnerschaftlich verein-
baren. Sie haben dabei in unserem Land nach wie vor
viel zu große Hürden zu überwinden. Fehlende Krippen-
plätze sind dabei noch immer die größte Hürde.

Eine moderne Familien- und Gleichstellungspolitik
muss dafür sorgen, dass echte Partnerschaftlichkeit ge-
lebt werden kann. Diese Bundesregierung und allen vo-
ran die Familienministerin müssen endlich in der Reali-
tät ankommen und die Kommunen mehr als bisher beim
Krippenausbau unterstützen. Die SPD wird die Bundes-
regierung nicht aus der Verantwortung entlassen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710823200

Vielen Dank, Frau Kollegin Caren Marks. – Nächster

Redner ist unser Kollege Marcus Weinberg für die CDU/
CSU. Bitte schön, Herr Kollege Weinberg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michaela Noll [CDU/CSU]: Jetzt kommt endlich mal was Vernünftiges!)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1710823300

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und

Herren! Liebe Frau Marks! Erstens. Wenn Herr Beck in
Rheinland-Pfalz Ihre Lyrik umgesetzt hätte, dann wären
wir in dieser Republik beim Ausbau von Krippenplätzen
wesentlich weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Rheinland-Pfalz lag noch vor wenigen Jahren bei einer
Betreuungsquote von 9 Prozent. Mittlerweile liegt man
dort bei 17 Prozent. Das ist eine deutliche Steigerung.
Wer aber aus dem Nichts kommt, kann sich nur steigern.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Zweitens. Sie haben nicht die Interpretationshoheit in
Bezug auf das, was Familie und Frauen wollen. Wir
schaffen Angebote.


(Caren Marks [SPD]: Das ist zu wenig!)


Sie fordern aber, dass alle Kinder einen Krippenplatz be-
kommen. Das ist familienpolitisch einfach falsch. Wir
wollen Familien fördern, ihnen Angebote unterbreiten
und somit eine Wahlfreiheit lassen. Wir wollen diese Fa-
milien nicht zwingen, ihre Kinder in die Krippe zu ge-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin froh über jede Familie, über jede Mutter und je-
den Vater – das sage ich als junger Vater –, die diese
Aufgabe wahrnehmen.

Drittens. Sie haben anscheinend nichts von dem mit-
bekommen, was die Bundesregierung in den letzten Jah-
ren – übrigens auch zur Zeit der Großen Koalition – auf
den Weg gebracht hat. Deshalb ist solch eine Debatte
immer sinnvoll und gut, weil man Ihnen noch einmal er-
läutern kann, wie sich die Dinge geändert haben, seitdem
wir mit den Liberalen zusammen die Verantwortung ha-
ben.

Es reicht ein Blick auf die beiden Ressorts Familie
und Bildung. Sie sprechen immer von der Vereinbarkeit
in diesen Bereichen. Wir sprechen vom Bildungsauftrag
für die Kinder.


(Caren Marks [SPD]: Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich davon gesprochen habe, Herr Kollege!)


Schauen Sie sich den Haushaltsentwurf des zuständigen
Ministeriums einmal an. Das Budget ist mittlerweile von
4,5 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 6,4 Milliarden
Euro gestiegen. Das ist eine Steigerung um mehr als ein
Drittel. Vergleichen Sie das einmal mit den Mitteln für
das Ressort Bildung und Forschung unter Rot-Grün. Wir
haben viele Maßnahmen in die Wege geleitet, gerade im
Bereich der frühkindlichen Bildung, die über das BMBF
finanziert werden. Hier ist das Gesamtvolumen um
54 Prozent, also auf mittlerweile 11,65 Milliarden Euro,
gestiegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Koalition hat zwei Ressorts zum Schwerpunkt ih-
rer Arbeit gemacht – das gilt auch für die finanzielle
Ausgestaltung –: Familie und Bildung. Das beweist
deutlich, wo unsere Schwerpunkte liegen.

Richtig ist – darüber muss man nicht streiten –, dass
insbesondere die Flächenländer aufgefordert sind, beim
Ausbau noch zuzulegen. Wir von der Koalition haben
Ende des vergangenen Jahres in unserem Antrag deut-
lich gemacht, dass hier noch Luft nach oben ist.

Insgesamt kann man sagen, dass es seit Inkrafttreten
des Kinderförderungsgesetzes im Dezember 2008 unter
der Großen Koalition mittlerweile rund 130 000 zusätz-
liche Angebote in der Kindertagesbetreuung gibt, davon
102 000 Angebote in Einrichtungen und 28 000 in der
Tagespflege. Vor dem KiFöG wurde jedes siebte Kind
betreut. Heute ist es jedes fünfte Kind. Das heißt, bun-
desweit ist die durchschnittliche Betreuungsquote von
13,6 auf 20,4 Prozent gestiegen. Das ist viel, und das ist
gut. Das ist aber noch nicht genug.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Laut Nationalem Bildungsbericht 2010 hat sich die
Zahl des Personals in Kindertagesstätten im Jahre 2009
um 42 000 Beschäftigte erhöht. Richtig ist auch: Wir
brauchen bis zum Jahr 2013 35 000 bis 40 000 weitere
Erzieher und dazu noch 25 000 Beschäftigte in der Ta-
gespflege.

Sie sagten, dass der Bund bei diesem Projekt nichts
tut. Wir investieren gerade 4 Milliarden Euro in den
Ausbau; das zeigt, der Bund hat hier Verantwortung
übernommen. Außerdem geben wir 770 Millionen Euro
ab 2014 für die Betriebskosten aus.


(Caren Marks [SPD]: Dafür hat die SPD in der Großen Koalition lange verhandeln müssen! Das haben wir nämlich in der Großen Koalition gesetzlich geregelt!)


Der Ministerin zu unterstellen, sie würde kein Interesse
mehr an diesem Projekt haben, ist fatal.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nicht nur das! Das ist eine glatte Lüge!)


Es ist auch ein falsches Zeichen für die Öffentlichkeit,
wenn Sie mit solchen nicht unterlegten Argumenten rhe-
torisch zu glänzen versuchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zur frühkindlichen Bildung – auch das ist ein interes-
santer Punkt –: Der Bildungsbericht, den man immer zu-
rate ziehen sollte, belegt, wie stark die Bildungsbeteili-
gung der unter Dreijährigen – dies ist im Bildungsbericht
explizit erwähnt worden – gestiegen ist: in den alten
Ländern auf 15 Prozent und in den neuen Ländern sogar
auf 45 Prozent. Es gibt sogar eine Bildungsbeteiligung
bei Vier- und Fünfjährigen. Ich glaube, wir sind uns ei-
nig, dass man angesichts dessen sagen kann: Betreuung
und Bildung in Kitas sind richtig und wichtig. Hier lie-
gen wir mittlerweile bei einer Quote von 95 Prozent. Das
ist im Bereich der frühkindlichen vorschulischen Bil-
dung ein guter Wert.

Es stellt sich die Frage: Was tut die Bundesregierung
noch? Zum Ausbau, also zur Quantitätssicherung,
kommt in den nächsten Jahren die Qualitätssicherung,
die ebenfalls von großer Bedeutung ist, hinzu. Ich erin-
nere daran, dass wir im Jahre 2008 das Aktionspro-
gramm „Kindertagespflege“ gemeinsam mit den Län-
dern auf den Weg gebracht haben. Zwischen 2006 und
2009 stieg der Anteil der Tagespflegepersonen mit ent-
sprechender Qualifikation von 8 auf rund 22 Prozent.
Zeitgleich hat sich der Anteil der Menschen, die ohne
Qualifizierung in der Tagespflege arbeiten, auf rund
14 Prozent halbiert. Das ist das Verdienst dieses Pro-
gramms.

Außerdem gibt es die „Offensive Frühe Chancen“.
Falls Sie es noch nie gemacht haben, rate ich Ihnen: Be-
suchen Sie einmal Kitas in Ihrem Wahlkreis!





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Diana Golze [DIE LINKE]: Dazu sage ich gleich auch noch etwas! – Caren Marks [SPD]: Ich habe das Gefühl, dass Sie gar nicht wissen, worüber Sie da reden!)


400 Millionen Euro werden für die Sprachförderung in
Kitas ausgegeben. Es stehen also jeweils 25 000 Euro
für eine zusätzliche Halbtagsstelle zur Verfügung.

Darüber hinaus gibt es das Programm „Mehr Männer
in die Kitas“. Erst vor wenigen Wochen haben wir da-
rüber diskutiert, dass wir gerade Jungen fördern müssen,
weil sie im Hinblick auf die Bildungsentwicklung hinter
den Mädchen zurückliegen, bei der Lesekompetenz zum
Beispiel etwa ein Jahr. Sie haben damals argumentiert,
dass wir jetzt die Männer und nicht mehr die Frauen för-
dern würden, was – Verzeihung – völliger Unsinn ist. Je-
der, der sich fachlich auskennt und die entsprechenden
Entwicklungen bewerten kann, wird Ihnen bestätigen:
Wir brauchen mehr Männer in Kitas und Grundschulen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)


Die Bundesregierung hat dieses Programm, das ein Vo-
lumen von 13 Millionen Euro hat, auf den Weg gebracht.
Auch das war sicherlich richtig und wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Koalition hat bereits im Dezember letzten Jahres
erste Maßnahmen eingeleitet. Hätten Sie unseren dama-
ligen Antrag gelesen, wüssten Sie, wohin wir wollen.
Wir wollen insbesondere eine Qualitätssteigerung erzie-
len. Das Ziel, das wir uns für das Jahr 2013 gesetzt ha-
ben, verfolgen wir nach wie vor. In den nächsten Jahren
kommt es darauf an, die Qualität in diesem Bereich zu
steigern. Das heißt, Gewinnung von männlichen Erzie-
hern – das habe ich schon angesprochen –, freiwillige
Zertifizierung von Kitas unter wissenschaftlicher Beglei-
tung, weitere Qualifizierung, Verbesserung der Aus- und
Fortbildung. Ich denke beispielsweise an das WiFF; in
diesem Rahmen findet unter anderem die Weiterbildung
pädagogischer Kräfte statt. Es gibt weitere Programme,
die die Bundesregierung ebenfalls finanziert, um eine
Qualifizierung durchzuführen. Bei allem Respekt: Dass
Sie sich hier hinstellen und all das ignorieren, mag Ihrer
Oppositionsrolle geschuldet sein. Das hat aber nichts mit
objektiver Wahrnehmung zu tun. Ein wenig Respekt vor
den Maßnahmen, die diese Bundesregierung ergriffen
hat, sollten Sie schon haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Aha! Alle Experten irren sich also, nur Sie haben recht!)


Ihr Antrag, in dem Sie fordern, einen Krippengipfel
einzuberufen, ist relativ begrenzt und überschaubar. Das
ist einfach zu wenig. Wir werden die Entwicklungen
weiterhin beobachten; das gilt auch im Hinblick auf den
Ausbau.


(Caren Marks [SPD]: Genau! Mit dem Fernglas!)

Ich glaube, die Bundesregierung hat den richtigen Weg
eingeschlagen. Dabei werden wir sie auch weiterhin un-
terstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Diese Rede war ein Beweis für Ihre Parallelwelt!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710823400

Kollege Weinberg, vielen herzlichen Dank. – Als

Nächste spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
gin Frau Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710823500

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Es ist richtig: Seit einigen Jahren
ist die frühkindliche Bildung endlich ein zentrales
Thema auf der politischen Agenda. Ziel ist es, einen
Rechtsanspruch auf einen Kitabetreuungsplatz für jedes
Kind ab dem ersten Lebensjahr zu schaffen. Die Opposi-
tion ist sich darin einig, dass bislang viel zu wenig getan
wurde, um dieses Ziel zu erreichen. Inzwischen helfen
auch die Lobreden von Herrn Weinberg und der Fami-
lienministerin nicht mehr, um über den traurigen Fakt
hinwegzutäuschen, dass das Erreichen dieses erklärten
Ziels zu scheitern droht. Seit Jahren weisen Fachver-
bände, Wissenschaftler und Gewerkschaften darauf hin,
dass dieses Scheitern quasi von vornherein angelegt war,
weil man ganz bestimmte grundlegende Fragen nicht be-
achtet, sondern konsequent ausgeblendet hat.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach dem tat-
sächlichen Bedarf. Das haben Sie eben kritisiert, Herr
Weinberg. Das Deutsche Jugendinstitut hat bereits im
Jahr 2007 darauf hingewiesen, dass der tatsächliche Be-
darf an Krippenplätzen wahrscheinlich höher ist als von
der damaligen schwarz-roten Bundesregierung ange-
nommen. Jüngere Daten bestätigen dies. Laut einer
Forsa-Umfrage wünschen sich inzwischen zwei Drittel
der Eltern eine frühzeitige Betreuung für ihren Nach-
wuchs. Demzufolge werden laut Deutschem Städtetag
nicht nur 750 000, sondern 1,3 Millionen Kitaplätze be-
nötigt. Gibt es darauf eine Reaktion der Bundesregie-
rung? Nein, Fehlanzeige.

Die Linke fordert seit langem, dass der Bund sich
endlich dauerhaft und in größerem Umfang als bisher an
der Finanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligen
muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Er darf Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht
allein lassen. Dies gilt sowohl für die zahlenmäßige Auf-
stockung der Betreuungsplätze als auch für die Qualifi-
zierung und Bezahlung des zukünftigen Personals.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Doch was bisher als Antwort von der Bundesregie-
rung kam, war zum einen Zahlenschummelei – das ma-





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)

chen Sie ja immer gerne – und zum anderen die Wieder-
holung der fast unverschämten Forderung, die Länder
sollten sich endlich ein bisschen mehr Mühe geben und
die Portemonnaies aufmachen; dann werde das alles
schon klappen. Sie übernehmen keine langfristig ange-
legte Verantwortung, um das offenkundige Problem end-
lich zu überwinden.

Die Umsetzung des Rechtsanspruchs wird mantraar-
tig herbeigeredet, aber in der Praxis geschieht nichts.
Das zeigen auch die „Projektchen“, die Herr Weinberg
eben angesprochen hat, wie das Projekt „Offensive
Frühe Chancen“. 400 Millionen Euro zusätzlich für
Sprachförderung: Das klingt erst einmal gut. Ich habe
mir das aber in der Praxis konkret angeschaut. Ich habe
Kitas besucht und gesehen, was wirklich vor Ort an-
kommt. Das ist nicht einmal ein Tropfen, sondern nur
ein Tröpfchen auf den heißen Stein. Von dem Geld kön-
nen höchstens Halbtagsstellen geschaffen werden. Das
heißt, die Kommunen müssen schon jetzt massiv drauf-
legen, wenn sie das Programm in Anspruch nehmen und
qualitativ hochwertige Arbeit leisten wollen. Im Rahmen
einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 bis 25 Stunden
sollen die Beschäftigten individuelle Sprachförderung
durchführen, dokumentieren, Elternarbeit leisten, sich
vernetzen und weiterbilden. Können Sie mir einmal er-
klären, wie sie das mit 25 Stunden bewerkstelligen und
wie sie von dieser Arbeit leben sollen? Darauf bekommt
man von der Bundesregierung keine Antwort. Sie müs-
sen sich darüber bewusst sein: Wenn Sie so etwas ma-
chen, dann muss es so angelegt sein, dass es mehr bringt
als eine schöne Pressekonferenz.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zurück zum Antrag. Auch wir sehen die Notwendig-
keit, alle Beteiligten erneut an einen Tisch zu holen. Ein
neuer Krippengipfel wird aber nur dann Erfolg haben,
wenn von vornherein klar und deutlich herausgestellt
wird: Der Bund kann und darf sich nicht länger aus sei-
ner Verantwortung stehlen. Er muss seinen finanziellen
Anteil am Ausbau der Kindertagesbetreuung ausweiten
und am realen Bedarf ausrichten. Die Qualität der Be-
treuung und Bildung muss eine viel größere Rolle spie-
len. Eine realistische und aktualisierte Bedarfsanalyse ist
eine notwendige Voraussetzung dafür. Ich frage mich,
warum Sie diese nicht endlich erfüllen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Das fragen wir uns alle!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710823600

Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Jetzt käme für

die Fraktion der FDP Frau Kollegin Miriam Gruß. Sie
hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass unsere Kol-
legin Katja Dörner die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ist. Bitte schön, Frau Kollegin,
Sie haben das Wort.

1) Anlage 9

Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710823700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Debatte bis zu diesem Zeitpunkt hat
schon völlig klargemacht, dass wir weiterhin vor sehr
großen Herausforderungen stehen, was den Kitaausbau
angeht. In rund zwei Jahren soll der Rechtsanspruch in
Kraft treten. Das steht so im Gesetz, und daran darf auf
keinen Fall gerüttelt werden. Ich glaube, darin sind wir
uns auch einig. Aber trotzdem müssen wir es immer wie-
der betonen, weil der Rechtsanspruch zurzeit von der ei-
nen oder anderen Seite durchaus infrage gestellt wird.

Wenn wir allein davon ausgehen, was die Bundesre-
gierung an Schätzungen vorgelegt hat und worauf auch
ihre Finanzierungsvereinbarungen basieren – es wird
von einem Betreuungsbedarf von 35 Prozent der unter
Dreijährigen ausgegangen –, dann müssen wir in diesen
knapp zwei Jahren rund 280 000 zusätzliche Kitaplätze
schaffen. Die Ministerin selbst hat im vergangenen
Herbst gesagt: Der Ausbau der Kinderbetreuung muss
weiter an Dynamik gewinnen. – Leider können wir diese
Dynamik in den letzten Wochen und Monaten nicht in
dem Maße feststellen, wie es notwendig wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir die Sache realistisch angehen – das sollte
man tun – und den Bedarf genauso realistisch einschät-
zen wie das DJI – die Zahlen sind schon genannt
worden –, dann ist es völlig offenkundig, dass wir mit ei-
ner Betreuungsquote von 35 Prozent vorne und hinten
nicht zurechtkommen werden. Tatsächlich müssen wir
von durchschnittlich 39 Prozent ausgehen. Das ent-
spricht rund 360 000 zusätzlichen Plätzen, die wir in den
verbleibenden zwei Jahren noch schaffen müssten. Da
klafft eine riesige Finanzierungslücke. Vor allem die
Kommunen werden einfach im Regen stehen gelassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Grünen haben schon im letzten Jahr einen ent-
sprechenden Antrag gestellt und die Bundesregierung
aufgefordert, endlich eine solide Bedarfserhebung vor-
zunehmen und auf der Grundlage einer solchen Erhe-
bung eine vernünftige Finanzierungsvereinbarung vor-
zulegen. Für eine solche Finanzierungsvereinbarung
muss man tatsächlich alle wieder an einen Tisch holen:
Bund, Länder und Kommunen. Wir haben das in unse-
rem damaligen Antrag zwar nicht Krippengipfel wie die
SPD genannt. Aber unser Anliegen war das gleiche. Un-
ser Antrag ist im Dezember abgelehnt worden. Wertvolle
Zeit ist vertan worden, die wir hätten gut nutzen können,
um endlich vernünftig zu planen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beim Kitaausbau haben sich nur wenige mit Ruhm
bekleckert. Die Bundesregierung betreibt immer weiter
eine Vogel-Strauß-Politik, steckt den Kopf in den Sand.
Sie geht weiter von einem Bedarf von 35 Prozent aus,
obwohl bekannt ist, dass das nicht realistisch ist. Wenn
mehr Plätze benötigt werden, haben die Betroffenen
eben Pech. Es gibt kein zusätzliches Geld. Das darf auf
keinen Fall so weitergehen.





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär: Was macht ihr jetzt in NRW?)


– Ich komme zu NRW, Herr Kues. Das ist ein wunderba-
res Stichwort.

Die Ministerin hat zu dem Anteil, den die Länder
durch die Umverteilung der Umsatzsteuerpunkte erhal-
ten, gesagt: Das ist eine Blackbox. – Die schwarz-gelbe
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat, bevor sie
zum Glück abgewählt wurde, 70 Millionen Euro, die sie
durch die Umsatzsteuerpunkteverteilung erhalten hat
und die für die Finanzierung des Kitapersonals gedacht
waren, einfach im Landeshaushalt versickern lassen; das
Geld ist weg. Es wurde den Kitas und den Kommunen
entzogen. Das hat Schwarz-Gelb zu verantworten, und
das hat Rot-Grün zum Glück beendet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber andere Länder verfahren weiter so. Das muss ein
Ende haben.

Man muss aber auch die Kommunen daran erinnern,
dass seit 1992 im KJHG verankert ist, dass Kitaplätze
nach Bedarf geschaffen werden sollen. Das hat man aber
nicht gemacht. Auch die Kommunen hatten offensicht-
lich in den letzten 20 Jahren zum Teil andere Prioritäten,
als in den Kitaausbau zu investieren.

Natürlich müssen wir auch über Qualität sprechen.
Dieses Thema ist schon mehrfach angesprochen worden.
Wir wollen unbedingt die Fachkraft-Kind-Relation ver-
bessern. Wir wollen mehr Sprachförderung und wollen
mehr Kindern mit Behinderung – Inklusion ist ein gro-
ßes Thema – die Möglichkeit geben, Regeleinrichtungen
zu besuchen. Das alles müssen die Kitas leisten. Mit den
derzeitigen Regelungen insbesondere auf Bundesebene
werden wir nicht klarkommen.

Wir Grüne veranstalten am Samstag in einer Woche
einen eigenen Kitagipfel, auf dem wir nicht nur den qua-
litativen Ausbau, sondern auch den quantitativen Aus-
bau in umfassender Weise besprechen werden. Wir ha-
ben gelernt: Auf diese Bundesregierung kann man nicht
bauen. Man darf nicht darauf warten, dass sie etwas tut.
Deshalb machen wir es selber. Sie alle sind herzlich ein-
geladen. Ich hoffe sehr, dass wir zu besseren Regelungen
für die Kitas kommen und es tatsächlich schaffen, den
quantitativen Ausbau bis 2013 hinzubekommen, aber
auch deutlich mehr für die Qualität zu tun. Das sind wir
den Eltern und insbesondere den Kindern schuldig.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710823800

Vielen Dank, Frau Kollegin Dörner. – Der Kollege

Norbert Geis, der als Nächster für die Fraktion der CDU/
CSU spricht, wird gleich sagen, ob er diese Einladung
annimmt.


(Heiterkeit)

Bitte schön, Herr Kollege Norbert Geis.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1710823900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich habe mich noch nicht entschieden, weil ich
von dieser Einladung erst jetzt Kenntnis bekommen
habe. Ich muss erst in meinem Terminkalender nach-
schauen.

Ich möchte eines sagen: Hier wird wirklich schwarz-
weiß gemalt. Das kann man so nicht stehen lassen. Sie
wissen doch genauso gut wie ich und wie wir alle, dass
der Bund bis zum Jahr 2013 4 Milliarden Euro für den
Ausbau und Neubau der Kindertagesstätten bereitstellt
und dass die Länder verpflichtet sind, gleichermaßen
4 Milliarden Euro bereitzustellen. Auch die Kommunen
sind nach diesem Gesetz verpflichtet, 4 Milliarden Euro
zur Verfügung zu stellen. Das sind insgesamt
12 Milliarden Euro. Vor dem Hintergrund kann man
doch nicht behaupten, dass sich der Bund, der in Vorlage
getreten ist, da zurückgehalten hätte.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: So ist es!)


Der Bund hat sehr wohl seine Aufgabe gesehen, obwohl
das eigentlich Aufgabe der Länder und der Kommunen
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Bund ist aber bereit, daran mitzuwirken, weil er die
Notwendigkeit und die Bedeutung sieht.

Man darf auch nicht vergessen, dass der Bund eben-
falls bereit ist, sich an den Folgekosten zu beteiligen. Er
tut dies immerhin mit 770 Millionen Euro pro Jahr. Auch
das darf nicht übersehen werden. Sich hier hinzustellen
und zu sagen, der Bund habe eine Vogel-Strauß-Politik
gemacht, ist wirklich völlig verkehrt. Das kann man so
nicht stehen lassen. Auch Sie wissen, dass das falsch ist.
Solche Dinge darf man nicht einfach behaupten. Immer-
hin ist das hier ein Forum – auch wenn nur wenige Men-
schen anwesend sind –, auf das von draußen genau ge-
schaut und über das dann berichtet wird. Man sollte
schon bei der Wahrheit bleiben.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710824000

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage

unserer Kollegin Caren Marks?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1710824100

Bitte.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710824200

Bitte schön, Frau Kollegin.


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1710824300

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Geis, ich bin Ih-

nen sehr dankbar, dass Sie noch einmal geschildert ha-
ben, was wir in der Großen Koalition gemeinsam er-
reicht haben: 4 Milliarden Euro seitens des Bundes, die
für den Ausbau der Krippenplätze bereitgestellt werden.





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)

Sie waren während der Großen Koalition leider noch
nicht in unserem Ausschuss, deshalb möchte ich Ihnen
mitteilen: Insbesondere den Einstieg in die Finanzierung
der Betriebskosten hat die SPD nach hartem Ringen mit
der CDU/CSU, dem damaligen Koalitionspartner,
durchgesetzt. Es ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt,
sich darauf einfach nur auszuruhen.

Meine Frage an Sie ist: Wäre es angesichts der Tatsa-
che – das haben auch andere Kollegen vorhin nach mei-
ner Rede noch einmal betont; es gibt auch entsprechende
Zahlen vom DJI und einigen anderen Expertinnen und
Experten –, dass der damals angenommene notwendige
Ausbau der Betreuung auf 35 Prozent längst nicht mehr
ausreicht, sondern dass der Bedarf schon weitaus höher
ist, nicht angebracht, dass der Bund noch etwas oben
draufsattelt, wie es auch die Länder und Kommunen ma-
chen müssten, um den Rechtsanspruch überhaupt umset-
zen zu können? Ich verweise in diesem Zusammenhang
darauf, dass sich die Kosten für die Länder und Kommu-
nen insgesamt sehr viel stärker nach oben entwickelt ha-
ben, als mit den verabredeten 4 Milliarden Euro abzude-
cken ist.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1710824400

4 Milliarden Euro sind ja nicht wenig, das ist schon

ein beachtlicher Betrag. Wenn man überlegt, dass auch
die Länder 4 Milliarden Euro drauflegen müssen und
4 Milliarden Euro von den Kommunen kommen, dann
meine ich, dass mit 12 Milliarden Euro insgesamt eine
Summe erreicht ist, um Investitionen in den Ausbau und
Neubau von Kindertagesstätten zu tätigen, die zunächst
einmal ausreichen müssten. Man muss die Entwicklung
abwarten.

Ich glaube, Sie gehen auch von einer falschen An-
nahme aus. Es ist nicht so, dass die Eltern ihre Kinder im
Alter von einem bis drei Jahren gleich in die Kita schicken
wollen. Viele Eltern wollen das nämlich nicht. Sie bedau-
ern in Ihrem Antrag, dass die Betreuung in der Bundesre-
publik Deutschland nur zu 23 Prozent gewährleistet sei.
Sie erwecken den Eindruck, als sei die Betreuung, die
durch die Eltern erfolgt, keine Betreuung. Auch Tages-
mütter betreuen. Meine sehr verehrte Frau Kollegin, all
dies sollten Sie bedenken.

Ihre Frage war, ob wir mit einer Quote von 35 Prozent
zurechtkommen werden. Ich antworte Ihnen darauf:
Warten wir doch erst einmal ab. Tätigen wir erst einmal
die Investitionen. Auch die Länder und Kommunen soll-
ten erst einmal ihren Pflichten nachkommen und inves-
tieren. Der Bund ist in Vorleistung getreten. Die Länder
und Kommunen müssen nachziehen. Das gilt insbeson-
dere für das Land Nordrhein-Westfalen. Dort ist nämlich
fast nichts geschehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710824500

Herr Kollege Geis, lassen Sie eine weitere Zwischen-

frage, nämlich des Kollegen Schwartze, zu?

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1710824600

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710824700

Bitte schön, Herr Kollege.


Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1710824800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Geis, Sie spra-

chen gerade das Land Nordrhein-Westfalen an. Ich kann
bestätigen, mit dem U-3-Ausbau hängt man da wirklich
weit zurück. Ist Ihnen aber bekannt, dass die alte
schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen
bis 2013 nur ganze 30 Millionen Euro für den U-3-Aus-
bau eingeplant hatte und dass deshalb Rot-Grün die Fi-
nanzierung komplett umstellen musste, damit der U-3-
Ausbau vor Ort überhaupt stattfinden kann?


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Unter Rot-Grün hatten wir gar keine Krippenplätze! Gucken Sie sich die Zahlen an!)


Der Bund gibt für Nordrhein-Westfalen 480 Millionen
Euro aus. Das Land hatte bis 2013 30 Millionen Euro
eingeplant. Wie bewerten Sie das?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1710824900

Der Bund ist in Vorleistung getreten, und das Land

konnte sich zurückhalten. Aber jetzt, da der Bund seine
Vorleistung bis zum Jahr 2013 erbringt, müssen die Län-
der dann auch anfangen, ihre Leistung zu erbringen.
Deswegen kann man der alten Regierung in Nordrhein-
Westfalen den Vorwurf so vielleicht nicht machen. Sie
hatte ja den Vorteil, dass der Bund bereits Bereitschaft
erklärt hatte, Leistungen zu erbringen.


(Caren Marks [SPD]: Das ist auch eine Realität!)


Sie hat sich natürlich auf der Leistung des Bundes ausge-
ruht. Das gilt aber auch für andere Länder. Aber jetzt ist
es an der Zeit, dass die Länder antreten und ihre Leis-
tung erbringen, die der Bund längst erbracht hat.


(Caren Marks [SPD]: Da lacht sogar der Staatssekretär!)


Das ist das, was Sie dabei mit bedenken sollten. – Danke
schön.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es besteht
bei uns allen überhaupt kein Zweifel daran, dass die
frühkindliche Erziehung ein ganz bedeutender Faktor ist.
Klugheit und Dummheit sind den Menschen nicht in die
Wiege gelegt. Sarrazin mag ja in vielem recht haben,
aber er hat nicht darin recht, dass die Intelligenz den
Menschen angeboren ist. Wichtig und richtig ist, dass
die Menschen unterschiedliche Begabungen haben und
dass diese Begabungen geweckt werden müssen. Des-
halb brauchen wir auch – das ist richtig – die frühkindli-
che Erziehung, und deswegen haben die Koalitionsfrak-
tionen längst vor Ihnen den Antrag eingebracht, dass die
Bundesregierung darauf bedacht sein muss, die Bin-
dungs- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder im Alter
von einem Jahr bis drei Jahren voranzubringen.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)

Es wurde angeregt, ein Strategiepaket zur frühkindli-
chen Bildung zu schnüren, an dem sich sowohl der Bund
als auch die Kommunen und die Länder beteiligen.


(Caren Marks [SPD]: Dann müssen wir es ja nur noch machen!)


Das ist von uns bereits angeregt worden. Der Antrag ist
längst verabschiedet worden, bevor Sie überhaupt daran
gedacht haben, Ihren Antrag einzureichen. Auch das darf
man mal in Ruhe sagen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
uns also alle einig, dass es richtig ist, die frühkindliche
Bildung voranzutreiben, aber wir sind uns in dem Weg
dahin nicht einig. Das wird in der heutigen Diskussion
wieder klar und deutlich. Wir, die Koalitionsfraktionen,
setzen nämlich auch auf die Erziehungsleistung der El-
tern, nicht nur auf die der Kita.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Trotzdem wollen wir die Kita nicht hintanstellen. Aber
wenn Sie sagen – dazu habe ich vorhin schon was gesagt –,
dass nur 23 Prozent der Kinder in Deutschland betreut
würden,


(Caren Marks [SPD]: Ja!)


dann sage ich: Nein, in Deutschland werden viel mehr
Kinder betreut, nämlich auch durch Tagesmütter und
insbesondere durch die Eltern. Das müssen wir realisti-
scherweise sehen.


(Zuruf von der LINKEN)


Wir müssen ein Weiteres beachten. Wir müssen se-
hen, dass die Eltern oft viel besser in der Lage sind, die
Kinder zu betreuen und sie zu erziehen, weil sie viel nä-
her an den Kindern sind, was auch eine hochqualifizierte
Erzieherin nicht leisten kann, wozu sie außerstande ist.

Die frühkindliche Erziehung ist nämlich zunächst ein-
mal eine Frage der subtilen Beobachtung, damit das ein-
zelne Kind dann rechtzeitig den richtigen Schritt in seiner
Entwicklung machen kann. Diese subtile Beobachtung
wird am ehesten von der Mutter und dem Vater geleistet.
Das ist etwas, meine sehr verehrten Damen und Herren
von der SPD, von der Linken und von den Grünen, was
Sie völlig übersehen. Wir sind für die Kita insbesondere
dort, wo die Erziehungsleistung nicht vom Elternhaus er-
bracht wird. Wir sind insbesondere für die Kita für Kinder
mit Migrationshintergrund,


(Zuruf von der LINKEN: Aha!)


weil wir wissen, dass die Kinder in ihren Elternhäusern,
mit ihren Eltern nicht deutsch reden. Es ist sehr wichtig,
dass die Kinder schon im frühesten Alter lernen, sich auf
Deutsch zu verständigen, weil sie sonst mit den anderen,
denen eine andere Erziehung zuteilwird, nicht mithalten
können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir erkennen also, wir sind auf der richtigen Spur, wenn
wir sagen: Die Kita ist wichtig. Auf der anderen Seite ist
aber auch die Förderung der Eltern bei ihrer eigenen Er-
ziehungsleistung wichtig. Wir dürfen nicht übersehen,
dass dort eine große Leistung erbracht wird. Deswegen
müssen wir beides würdigen, Kita und Elternhaus, und
wir müssen beides auch fördern.


(Zuruf der Abg. Caren Marks [SPD])


Das tun wir vielleicht noch ein bisschen zu wenig. Wir
sollten auch die Eltern fördern, die daheim bleiben und
daheim ihre Kinder erziehen; denn diese Erziehungsleis-
tung ist nicht geringer als die in der Kita.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten den Eltern die Wahlmöglichkeit lassen.
Wir sollten den Eltern sagen dürfen: Ihr könnt wählen,
ob euer Kind in die Kita geht oder ob ihr es daheim er-
zieht. Ich betone: Diese Wahlmöglichkeit müssen wir
den Eltern lassen. Das Erziehungsrecht der Eltern ist ein
Menschenrecht; das dürfen wir nicht übersehen.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Das sagen Sie mal den Müttern und Vätern, die auf einen Platz warten!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710825000

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Sie waren der

letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5518 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dem widerspricht
niemand. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetzes

– Drucksache 17/5761 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Als erste Rednerin spricht für die Fraktion der CDU/
CSU unsere Kollegin Gitta Connemann. Bitte schön,
Frau Kollegin Connemann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1710825100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die ei-

nen erkennt man an ihren Taten, die anderen an ihrem
Getue.“ An diese Feststellung eines Georg-Büchner-
Preisträgers habe ich im Vorfeld dieser Debatte gedacht,





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

als ich den einen oder anderen Beitrag zu dem vorliegen-
den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Presse
las. Taten haben wir als christlich-liberale Koalition
vollbracht, und zwar vor zwei Monaten, im März, als wir
die Voraussetzung für eine Lohnuntergrenze in der Zeit-
arbeit geschaffen haben. Sobald die Tarifpartner einen
Antrag stellen, wird die Bundesregierung eine Lohnun-
tergrenze festlegen. Damit haben Zeitarbeitnehmerinnen
und Zeitarbeitnehmer dank unseres Gesetzes endlich ei-
nen gesetzlichen Anspruch darauf, dass der tarifliche
Mindestlohn nicht unterschritten wird. Dies gilt übrigens
für verleihfreie Zeiten wie für Verleihzeiten, für inländi-
sche wie für ausländische Betriebe. Damit haben wir uns
für die Herausforderung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
seit dem 1. Mai ebenso wie für das Problem billiger
Konkurrenz aus dem Ausland gewappnet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das beste Gesetz bedarf allerdings der Kontrolle; das
wissen wir. Deshalb hat die Bundesregierung jetzt einen
Gesetzentwurf vorgelegt. Der Zoll erhält damit auch für
den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung erweiterte
Prüfungs-, Kontroll- und Sanktionsinstrumente. Der
Bußgeldrahmen wird erhöht werden, und die Befugnisse
der Zollbehörden einerseits und der Bundesagentur für
Arbeit andererseits werden sehr sorgfältig abgegrenzt.
Darauf wird der Kollege Lehrieder noch eingehen.

„Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen
an ihrem Getue.“ Die Opposition – die SPD vorneweg –
hat im Vorfeld der Einbringung dieses Gesetzentwurfs
einmal mehr eine Generaldebatte um die Zeitarbeit ange-
stoßen. Ihr Abscheu und Ihre Empörung ist aber offen-
sichtlich nur Getue, meine Damen und Herren von der
SPD. Vor einigen Tagen haben sämtliche Mitglieder des
Ausschusses für Arbeit und Soziales einen offenen Brief
erhalten. Absender dieses Briefes, Frau Kollegin Hiller-
Ohm, war der Konzernbetriebsrat der Mediengruppe
Madsack. Dieser Betriebsrat beklagt, dass die Madsack-
Gruppe immer mehr Zeitarbeitnehmer beschäftige, von
den Redaktionen bis zur Zustellung – nicht nur in Spit-
zenzeiten, sondern dauerhaft, ohne Chance auf Über-
nahme, mit negativen Folgen für die Stammbelegschaft.

Ich habe mich natürlich informiert, wer hinter Mad-
sack steht; das sollten wir tun. Auf wen bin ich gesto-
ßen? Auf die DDVG, Ihr Medienimperium, meine Da-
men und Herren von der SPD.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Schau an! – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


– Da brauchen Sie nicht zu lachen. Das ist Ihr Unterneh-
men. – Sie halten den größten Anteil an Madsack, und
damit haben Sie erheblichen Einfluss auf die Geschäfts-
politik. Meine Damen und Herren von der SPD, ohne Sie
passiert bei Madsack nichts. Deswegen empfehle ich Ih-
nen dringend: Reden Sie nicht, sondern handeln Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU)


„Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen
an ihrem Getue.“ Wir diskreditieren die Zeitarbeit nicht;
denn wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeit-
arbeit kann für Geringqualifizierte ein Weg aus der Ar-
beitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei Drittel der
Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma anfangen, vor-
her nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat keinen Be-
rufsabschluss. Als Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeit-
nehmer sind sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Sie haben volle Arbeitnehmerrechte: beispielsweise
Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,
während des Urlaubs und an Feiertagen, Mutterschutz
und auch Elternzeit.

Auf der anderen Seite wird durch die Zeitarbeit die
Flexibilität der Unternehmen erhöht. Sie ermöglicht Be-
weglichkeit bei Auftragsspitzen oder besonderen Projek-
ten – es sei denn, man ist verantwortlich für Madsack.
Diese Flexibilität wollen wir erhalten, aber wir wollen
auch die Fairness in der Zeitarbeit sichern. Das haben
wir unter Beweis gestellt, indem wir den Schritt gegan-
gen sind, die Möglichkeit einer Lohnuntergrenze einzu-
führen, und dies gesetzlich verankert haben.

Wir müssen aber noch weiter gehen, sofern es zu ei-
nem Missbrauch des Instruments kommen sollte. Ein
solcher zeichnet sich gegebenenfalls infolge eines Ur-
teils des Bundesarbeitsgerichts ab.

Sie wissen, dass wir in der christlich-liberalen Koali-
tion und in der Großen Koalition inzwischen in insge-
samt neun Branchen allgemein verbindliche Branchen-
mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
eingeführt haben.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört! 3,9 Millionen Arbeitnehmer!)


Bislang galten diese Mindestlöhne für alle Mitarbeiter,
die in der jeweiligen Branche tätig waren, zum Beispiel
auch für Zeitarbeitnehmer. Wenn also ein Zeitarbeitneh-
mer im Gebäudereinigerhandwerk eingesetzt wird, er-
hält er den Mindestlohn für Gebäudereiniger – egal wo
er tätig wird. Das ist ein gutes Prinzip.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!)


Diesen Grundsatz hat das Bundesarbeitsgericht jetzt
allerdings infrage gestellt.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Wie schade!)


Danach sollen Zeitarbeitnehmer nur noch dann den Bran-
chenmindestlohn erhalten, wenn der Entleihbetrieb in den
Geltungsbereich der Branche fällt. Leider wird diese Lü-
cke, die sich aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts er-
gibt, genutzt. Es gibt inzwischen neue Geschäftsmodelle
mit nur einem Ziel: Mindestlohnhopping. Gebäudereini-
gungsunternehmen firmieren jetzt beispielsweise als
Zeitarbeitsunternehmen. Das ist aber Scheinzeitarbeit
statt Zeitarbeit. Das Instrument wird also missbraucht.

Deswegen schließen wir uns als Union der Forderung
des Unternehmerverbands Deutsches Handwerk und
auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes an, die vorge-
schlagen haben, eine Änderung in § 8 Abs. 3 Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz vorzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dort soll künftig geregelt werden, dass für die Entloh-
nung durch den Verleiher allein entscheidend sein soll,





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

welche konkrete Tätigkeit der Leiharbeitnehmer ausübt.
Wir unterstützen dieses Anliegen; denn wir wollen Miss-
brauch verhindern. Das ist unser Petitum. Wir werden
auch weiterhin versuchen, den Zeitarbeitnehmern selbst
ein Stück mehr wörtlicher Gerechtigkeit zukommen zu
lassen.

Im Gesetz wird zurzeit nach wie vor der diskriminie-
rende Begriff „Leiharbeit“ verwendet. Diese Begrifflich-
keit ist bereits rechtlich nicht haltbar; denn bei der Leihe
handelt es sich um die unentgeltliche Überlassung von
Sachen. Hier geht es nicht um Sachen, sondern um Men-
schen, Menschen, die hart arbeiten und denen wir Ge-
rechtigkeit zukommen lassen wollen. Deshalb werden
wir insoweit gegebenenfalls einen Änderungsantrag vor-
legen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710825200

Vielen Dank, Frau Kollegin Gitta Connemann. – Jetzt

spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau
Kollegin Hiller-Ohm.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1710825300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist er-

freulich, dass die Bundesregierung heute einen Gesetz-
entwurf zur Kontrolle eines Mindestlohnes in der Leih-
arbeit vorgelegt hat.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bis jetzt ist es richtig!)


Notwendig wäre allerdings erst einmal, dass es über-
haupt einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, dessen Ein-
haltung dann auch kontrolliert werden kann. Leider ist
dies noch immer nicht der Fall.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Seit einer Woche haben wir den, Frau Kollegin!)


Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
bis heute noch keine entsprechende Rechtsverordnung
vorgelegt. Das ist mehr als ärgerlich; denn die gesetzli-
chen Grundlagen für einen Mindestlohn in der Leihar-
beit sind bereits geschaffen. Im Vermittlungsausschuss
zur Reform der Regelsätze haben wir den Weg hierfür
gegen den massiven Widerstand der Regierungsfraktio-
nen CDU/CSU und FDP frei gemacht. Nun müssen sich
die Tarifparteien einigen, und hier hakt es zurzeit. Es
wäre fatal, wenn der Mindestlohn in der Leiharbeits-
branche jetzt noch an der Arbeitgeberseite scheitern
würde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Leider habe ich von Appellen der zuständigen Ar-
beitsministerin zu einer raschen Einigung der Tarifpar-
teien in den Medien bisher nichts vernehmen können.
Ganz im Gegenteil, noch am 18. April verkündete
Ministerin von der Leyen stolz im ZDF-Morgenmagazin
– ich zitiere –: „Neu haben wir jetzt eingeführt einen
Mindestlohn in der Zeitarbeit. Denn das ist auch eine
Branche, wo ich mir Sorgen gemacht habe, und deshalb
war es so wichtig, jetzt auch zum 1. Mai den Mindest-
lohn in der Zeitarbeit einzuführen, damit wir keine Dum-
pinglöhne haben, die über das Ausland hier nach
Deutschland importiert werden.“


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Recht hat sie!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau
Connemann, das sind tolle Worte. Wenn man der Minis-
terin Glauben schenkt, muss man annehmen, dass es be-
reits seit dem 1. Mai einen Mindestlohn gibt. Den haben
wir aber noch nicht. Deshalb ist die Äußerung der Minis-
terin im Morgenmagazin eine glatte Fehlinformation.
Frau Ministerin – oh, sie ist ja gar nicht da bei so einer
wichtigen Debatte –, ich frage Sie: Wo bleibt der ver-
sprochene Mindestlohn? Wir brauchen endlich eine Ab-
sicherung für die rund 800 000 Beschäftigten in der
Leiharbeit. Wir wollen Taten sehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Genau! Madsack!)


Nun haben wir zwar noch immer keinen allgemein-
verbindlichen Mindestlohn in der Leiharbeit, aber im-
merhin bringen wir das notwendige Gesetz zu dessen
Kontrolle heute schon mal auf den Weg. Mit dem Ge-
setzentwurf wird die Vereinbarung in der Protokollerklä-
rung des Vermittlungsausschusses zu den Regelsätzen
weitgehend umgesetzt. Die Kontroll-, Melde- und Sank-
tionsbestimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegeset-
zes sollen in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz über-
tragen werden. Die Zuständigkeiten der einzelnen
Behörden wie Zoll, Bundesagentur für Arbeit, Renten-
versicherung und Finanzämter werden klarer geregelt
und besser miteinander vernetzt. Das begrüßen wir.

Seit dem 1. Mai dieses Jahres können auch Leiharbei-
ter aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten in Deutsch-
land ohne Arbeitserlaubnis arbeiten. Dafür sieht der Ge-
setzentwurf die Einführung eines Meldesystems vor.
Inländische Unternehmen müssen der Zollverwaltung
künftig anzeigen, wenn sie Leiharbeiter aus dem euro-
päischen Ausland beschäftigen. Auch das ist ein notwen-
diger Schritt. Auch sollen Sanktionen bei Verstößen ge-
regelt und an das Entsendegesetz angepasst werden.

Ob der Bußgeldrahmen von bis zu 500 000 Euro bei
den schwarzen Schafen in der Leiharbeitsbranche die ab-
schreckende Wirkung haben wird, die wir uns wün-
schen, wird die Erfahrung zeigen. Ganz wichtig ist je-
doch, dass die Kontrolle vernünftig funktioniert und es
hier nicht zu Reibungsverlusten, Drehtüreffekten und
Schlupflöchern kommt. Hier müssen wir ganz genau
aufpassen.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich müssen auch die Rechte und Informations-
möglichkeiten der Leiharbeitnehmer verbessert werden.
Sie müssen über ihre Rechte in ihrem Einsatzbetrieb bei
uns in Deutschland genau Bescheid wissen. Wir hätten
uns deshalb eine Beratungsstelle für Arbeitnehmer aus





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

dem europäischen Ausland gewünscht. Eine solche Be-
ratungsstelle ist im Gesetzentwurf jedoch nicht vorgese-
hen.

Problematisch finden wir auch, dass von einem Un-
terschreiten der Lohnuntergrenze betroffene Arbeitneh-
mer ihren Lohn individuell gerichtlich geltend machen
müssen. Unternehmen, die den Mindestlohn nicht zahlen
und vom Zoll erwischt werden, müssen zukünftig mit
Sanktionen rechnen. Das ist gut. Diese Regelung verhilft
den Arbeitnehmern jedoch nicht zum Ausgleich ihres
entgangenen Lohns. Sie müssten ihren Arbeitgeber ver-
klagen. Welches Gericht jeweils zuständig ist und wie
die Vollstreckung im Ausland geregelt sein soll, lässt der
Gesetzentwurf ebenfalls offen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Des Weiteren fehlt eine Regelung für Leiharbeitneh-
mer, die in Tätigkeiten beschäftigt werden, für die Min-
destlöhne vereinbart wurden, deren Betrieb allerdings
nicht der Mindestlohnbranche angehört.

Ich nenne ein Beispiel: Ein Krankenhaus, das früher
festangestellte Maler und Lackierer beschäftigte, vergibt
diese Arbeit jetzt an ein Leiharbeitsunternehmen. Der
Arbeitnehmer hat nun keinen Anspruch auf den Min-
destlohn für das Maler- und Lackiererhandwerk. Dieser
liegt zurzeit für ungelernte Arbeitnehmer bei 9,50 Euro
und für Gesellen bei 11,50 Euro, also weit über dem an-
gekündigten Mindestlohn für die Leiharbeitsbranche.

Ich befürchte, dass dies zu einer Ausweitung der
Leiharbeit, zu Wettbewerbsverzerrungen und einer
Schwächung der Handwerksbetriebe in Deutschland
führen wird.


(Beifall bei der SPD)


Leider sagt der Gesetzentwurf auch nichts zur Durch-
setzung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Ar-
beit“. Das Schlupfloch für Verleihfirmen, niedrigere
Löhne an ihre Leiharbeiter zu zahlen, als sie die Stamm-
belegschaften erhalten, ist weiterhin offen. Das bedauern
wir sehr.

Im Vermittlungsausschuss hat sich die schwarz-gelbe
Seite so uneinheitlich gezeigt, dass keine Lösung verein-
bart werden konnte. Noch nicht einmal nach vier Mona-
ten sollten Leiharbeiter so wie die Stammbelegschaft be-
zahlt werden,


(Zuruf der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


weil sich Schwarz und Gelb untereinander zerstritten
hatten. Neun Monate war das Angebot, mit dem sich
CDU und CSU von der FDP am Nasenring durch die
politische Arena haben führen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Den wenigsten Menschen, die in der Leiharbeit tätig
sind, hätte diese Regelung geholfen. Kaum ein Leihar-
beiter bleibt länger als maximal drei oder vier Monate im
gleichen Entleihbetrieb.


(Zuruf von der SPD: Neun Monate! Unglaublich!)

Schlimm, dass Schwarz-Gelb an dieser wichtigen Stelle
Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer verhindert hat.


(Beifall bei der SPD)


Es ist unwürdig, dass Leiharbeiter im selben Betrieb
für die gleiche Tätigkeit schlechter bezahlt werden als
ihre festangestellten Kollegen. Es darf keine Arbeitneh-
mer erster und zweiter Klasse geben,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und das, Frau Connemann, gilt für alle Arbeitnehmer,
egal in welchem Betrieb sie angestellt sind, ob bei der
Kirche – darüber haben wir vorhin diskutiert – oder


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bei der SPD!)


in einem Betrieb,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Der SPD!)


an dem die SPD beteiligt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Madsack!)


– Sie haben Madsack angesprochen. Die SPD hält daran
eine Beteiligung von 20 Prozent. Die Zuhörerinnen und
Zuhörer werden sich selber ein Urteil über Ihre Angriffe
hier bilden.


(Beifall bei der SPD)


Bedauerlich ist auch, dass sich Arbeitsministerin von
der Leyen weder im Kabinett noch in ihrer Fraktion in
dieser so wichtigen Frage durchsetzen konnte. Sie stellte
am 24. März 2011 im Plenum ganz richtig fest – ich zi-
tiere –:

Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen für die
gleiche Leistung in demselben Betrieb dauerhaft
ungleich bezahlt werden.

Frau Ministerin, auch wenn Sie dieser Debatte heute
nicht beiwohnen: Ändern Sie diesen unwürdigen Zu-
stand. Wir sind hier an Ihrer Seite.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710825400

Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. –

Als nächste Rednerin würde auf meiner Liste Frau Kol-
legin Gabriele Molitor für die Fraktion der FDP stehen.
Sie hat aber ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)

Ich darf allerdings die Anwesenheit unserer neuen
Parlamentarischen Staatssekretärin, Kollegin Ulrike
Flach, auf der Regierungsbank zum Anlass nehmen, ihr
herzlich zu gratulieren. Sie sitzt ja jetzt zum ersten Mal
auf dieser Bank. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kolle-
gin!


(Beifall)


1) Anlage 8





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Nächste Rednerin auf meiner Liste zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist Frau Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Jutta
Krellmann.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710825500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im mana-

ger magazin vom 26. April dieses Jahres stand: „Eine
Branche rettet ihr Geschäftsmodell.“ Gemeint ist damit
der Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser garantiert der
Branche satte Gewinne und lässt den Leiharbeitsbe-
schäftigten auch weiterhin nur Krümel übrig. Fakt ist:

Erstens. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist durch Ihr
Gesetz vom Tisch. Leiharbeit bleibt Lohndumping ohne
Wenn und Aber.

Zweitens. Die eh schon niedrigen Löhne in der Leih-
arbeit bleiben, wie sie sind. Wir reden von 7,79 Euro im
Westen und 6,89 Euro im Osten.

Drittens. Der miese Mindestlohn in der Leiharbeit si-
chert den Leiharbeitsfirmen auch nach der Arbeitneh-
merfreizügigkeit fette Gewinne. Im Klartext heißt das:
Ein polnischer Leiharbeitnehmer wird ebenso schlecht
bezahlt wie sein deutscher Kollege.

Viertens. Dann gibt es noch die Werkverträge. Sie er-
lauben den Firmen, den miesen Mindestlohn in der Leih-
arbeit noch zu unterbieten. Ich finde, das ist ein absoluter
Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Kein Wunder, dass der Chef von Randstad, Herr
Eckard Gatzke, das neue Gesetz der Bundesregierung in
höchsten Tönen lobt. Fragen Sie mal die Millionen Leih-
arbeitsbeschäftigten in Deutschland, was sie davon hal-
ten. Die Linke sagt: Es gibt keinen Grund, warum am
gleichen Arbeitsplatz Beschäftigte unterschiedlich ent-
lohnt werden,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ach!)


außer wenn es darum geht, die Taschen der Branchen-
bosse zu füllen. Im Grunde setzen Sie noch einen drauf:
die Leiharbeit in der Bürgerarbeit. Die Bürgerarbeit ha-
ben Sie als Arbeitsbeschaffung für Langzeitarbeitslose
erfunden. Fest steht: Die Menschen werden gering be-
zahlt und sind nicht voll sozialversicherungspflichtig be-
schäftigt. Nach ihrer Bürgerarbeit droht den Beschäftig-
ten wieder Hartz IV; denn von 900 Euro für 30 Stunden
oder 600 Euro für 20 Stunden brutto kann kein Mensch
leben. Das Programm ist ein Flop. Von 34 000 vorgese-
henen Stellen werden bis Ende März nur 1 400 besetzt.

Nach Ansicht der Gewerkschaft Verdi und der Linken
sind die Kommunen verpflichtet, den Tarif des öffent-
lichen Dienstes in der Bürgerarbeit zu zahlen. Das würde
200 bis 300 Euro mehr pro Bürgerarbeitsplatz kosten.
Doch die Kommunen sind klamm und lehnen das ab.
Jetzt greift die Bundesregierung in die Trickkiste: Leih-
arbeit ist nun in der Bürgerarbeit zugelassen;

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Furchtbar!)


somit gilt für diese Beschäftigten nicht mehr die unterste
Tarifentlohnung des öffentlichen Dienstes. Damit wer-
den sie praktisch um 1 Euro pro Stunde beschissen.
Wenn Ihre Empörung im Fall Schlecker nicht nur leeres
Geschwätz war, dann müssten Sie bei der Anweisung
aus Ihrem Ministerium knallrot anlaufen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Die weiß nicht, wovon sie redet!)


Frau von der Leyen, ich fordere Sie – auch in Abwe-
senheit, übermittelt durch Herrn Brauksiepe – auf, die
Leiharbeit in der Bürgerarbeit sofort zu stoppen.


(Beifall bei der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Nein! Genau das nicht! Sie wissen nicht, wovon Sie reden!)


Hätten Sie auf uns gehört, wäre Lohndumping in der
Leiharbeit längst Geschichte. Mit unserem Gesetzent-
wurf wäre Leiharbeit wieder für die Abdeckung von
Auftragsspitzen da. Frankreich macht uns das praktisch
vor: Leiharbeiter bekommen den gleichen Lohn wie
Stammbeschäftigte plus 10 Prozent Flexibilitätsprämie,
und das funktioniert, auch in zehn weiteren europäischen
Ländern.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710825600

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710825700

Selbstverständlich gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710825800

Frau Kollegin Gitta Connemann will Ihnen eine Zwi-

schenfrage stellen. – Bitte schön, Frau Kollegin.


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1710825900

Frau Kollegin Krellmann, Sie haben gerade in Ihrer

Rede gesagt: wenn man sie denn gefragt hätte. Ich frage
Sie jetzt, wie Sie sich ein Arbeitsleben sinnvollerweise
vorstellen, ob nach den Modellen, für die wir uns hier
einsetzen, oder nach den Modellen in Berlin. Denn wir
konnten am 18. April dieses Jahres einem Bericht in der
Berliner Morgenpost entnehmen, dass die BSR Hunderte
von Tagelöhnern beschäftigt; das ist in Berlin. Es wird
deutlich, dass die Schneewinterhilfskräfte mit Billigung
des Wirtschaftssenators jeweils Eintagesverträge – die
Betonung liegt auf „Eintagesverträge“ – zu niedrigeren
Löhnen erhalten haben. Ich nenne Ihnen gerne den Na-
men des Wirtschaftssenators: Er heißt Harald Wolf, ge-
hört der Linken an und ist Aufsichtsratschef der BSR.
Wie beurteilen Sie ein solches Arbeitgeberverhalten?


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710826000

Ein solches Arbeitgeberverhalten kann man nicht

rechtfertigen, und solchen Dingen muss man nachgehen.
Das, was ich gesagt habe, gilt für den Bund, für Berlin
und Brandenburg, für Hessen, für Niedersachsen und für
die friesische Küste, wo Sie herkommen. Gleiches Geld





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

für gleiche Arbeit ist ein Grundprinzip. Dazu stehe ich,
und dafür trete ich ein.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Dann kämpfen Sie erst mal in Ihren Reihen!)


Das gilt insbesondere für Leiharbeitnehmer, und zwar an
jedem Arbeitsplatz und in jedem Land. Insofern gilt das
für Deutschland und für andere Länder. Ich wäre Ihnen
sehr dankbar, wenn Sie mir den Artikel zur Verfügung
stellen würden, damit ich da nachhaken und erfahren
kann, was da passiert ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Gerne!)


Zum Abschluss möchte ich sagen: Wir, die Linke,
werden gemeinsam mit den Gewerkschaften und den
Betroffenen beim Thema „Gleiches Geld für gleiche Ar-
beit“ keine Ruhe geben und versuchen, das durchzuset-
zen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710826100

Sie haben noch eine Chance, eine Frage zuzulassen.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710826200

Das mache ich wieder sehr gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710826300

Dann wird Ihre Redezeit natürlich verlängert. Vielen

Dank. – Bitte schön, Frau Kollegin.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wir haben ja noch was von der Frau Molitor einzuholen!)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1710826400

Liebe Frau Kollegin, Sie haben jetzt die Leiharbeit in

der Bürgerarbeit so massiv kritisiert.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ja!)


Wäre es Ihnen lieber, in Wirklichkeit keine Arbeitsplätze
im Bereich der Bürgerarbeit zu haben, als dass eine Ver-
mittlungsorganisation, also ein Dienstleistungsunterneh-
men, das Management der Bürgerarbeit für die Kommu-
nen übernimmt? Seitdem es die Klarstellung der
entsprechenden Regelung gibt, wächst die Anzahl der
bewilligten Stellen; die betroffenen Menschen, die Lang-
zeitarbeitslosen, sind sehr froh. Wie schätzen Sie diese
Arbeit ein? Die Leiharbeit in diesem Bereich ist doch
mit der Leiharbeit, über die Sie gesprochen haben, über-
haupt nicht identisch.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710826500

Ich weiß nicht, ob Sie mir nicht richtig zugehört ha-

ben.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Doch!)


Die Leiharbeit in der Bürgerarbeit ist im Grunde ein
Weg, die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes zu um-
gehen. Im Grunde war geplant – das wissen Sie ganz ge-
nau –, dass die Vorschriften des TVöD – das sind die In-
formationen, die ich habe – angewendet werden sollen.
Jetzt wird hier die Möglichkeit genutzt, über die Hinter-
tür des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes die Leihar-
beit zu nutzen. Die entsprechenden Arbeitnehmer erhal-
ten nun den Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser
Mindestlohn beträgt genau 1 Euro pro Stunde weniger
als der Lohn, den die Menschen heute erhalten. Das
empfinde ich als eine Sauerei gegenüber den Betroffe-
nen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut!)


Das sind Langzeiterwerbslose, die ein Recht darauf ha-
ben, für ihre Arbeit wenigstens einen Lohn entsprechend
der untersten Entgeltgruppe des Tarifvertrages des öf-
fentlichen Dienstes zu erhalten, nicht nur den Mindest-
lohn in der Leiharbeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir reden hier nicht über Leiharbeit. Sie lassen das zu,
obwohl das keine Leiharbeit ist.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Schauen Sie sich die Praxisbeispiele an!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710826600

Jetzt, Frau Kollegin, bitte den Schlusssatz, den Sie an-

gekündigt hatten.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710826700

Ich kann jetzt den Schlusssatz noch einmal sagen: Wir

werden uns auf jeden Fall dafür einsetzen, dass Equal
Pay in allen Bereichen durchgesetzt wird. Wir werden
versuchen, gemeinsam mit den Gewerkschaften und den
Betroffenen das zu bekommen, was wir politisch von Ih-
nen nicht kriegen.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710826800

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann für die Fraktion

Die Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke.
Bitte schön, Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Zunächst einmal muss ich meinem Är-
ger über Verfahren der Bundesregierung Luft machen.
Die Reform der Arbeitnehmerüberlassung wurde über ein
Jahr lang lautstark angekündigt. Dann legte die Bundes-
regierung einen Gesetzentwurf vor, der keine Lohnunter-
grenze vorsah. Die Lohnuntergrenze folgte im Laufe des
Verfahrens über einen Änderungsantrag. Heute, im drit-
ten Anlauf, kommt nun ein Gesetzentwurf zur Kontrolle
der Schwarzarbeit. Mittlerweile haben wir die Arbeitneh-
merfreizügigkeit, aber noch keine allgemeinverbindlich
erklärte Lohnuntergrenze. Es wurde viel Zeit vertrödelt.
Ich kann das gesamte Verfahren nur als miserabel be-
zeichnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt aber zum Inhalt. Anscheinend bin ich mehr oder
weniger die Einzige, die zum Gesetzentwurf redet. Die
gute Nachricht ist, dass die Meldepflicht eingeführt
wird, und vor allem, dass die Einhaltung der Lohnunter-
grenze von den Behörden der Zollverwaltung kontrol-
liert und ihre Verletzung entsprechend dem Verfahren
bei Nichteinhaltung der Mindestlöhne nach dem Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz sanktioniert wird.

Jetzt habe ich aber eigentlich nur noch kritische An-
merkungen. Die Bundesregierung hat einen zusätzlichen
Personalbedarf von 156 Stellen für die Zollverwaltung
berechnet, und zwar auf der Grundlage von 700 000 Leih-
arbeitskräften; tatsächlich sind es aber über 900 000. Der
Clou kommt noch: Über die zusätzlichen Mittel soll erst
beim nächsten Haushalt entschieden werden. Meine
Frage ist also: Soll der Mindestlohn in der Leiharbeit die-
ses Jahr überhaupt nicht kontrolliert werden oder, wenn
doch, nur zulasten der Kontrolle der Einhaltung der ande-
ren Mindestlöhne? Dazu kann ich nur sagen: Das wäre
unverantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem ist es absolut unverständlich, dass die Ein-
haltung der Drehtürklausel nicht von der Zollbehörde,
sondern von der Bundesagentur für Arbeit kontrolliert
werden soll. Abgesehen davon, dass die BA dafür gar
nicht ausgestattet ist, ist sie, milde ausgedrückt, nicht für
effektive und umfassende Kontrollen bekannt. Im Ge-
genteil: Die Überprüfungsquote im Jahr 2008 lag gerade
einmal bei 9 Prozent und 2009 sogar nur bei 8,5 Prozent
der Verleihfirmen, und dies, obwohl sich die Zahl der
Leiharbeitskräfte im gleichen Zeitraum nahezu verdop-
pelt hat. Jetzt soll die BA auch noch die Einhaltung der
Drehtürklausel kontrollieren. Das kann ich nur als
schlechten Treppenwitz bezeichnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Josip Juratovic [SPD] und Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Letztes Jahr habe ich in einer Kleinen Anfrage nach-
gefragt, wie und nach welchen Kriterien die Bundes-
agentur für Arbeit Verleihfirmen prüft. Die Antwort war
ernüchternd: Verleihfirmen mit unbefristeter Erlaubnis
werden zwar kontrolliert, aber nur im Fünfjahresrhyth-
mus. Da kann ich nur sagen: Eine bessere Einladung
zum Missbrauch kann es überhaupt nicht geben.

Die Bundesagentur für Arbeit ist immerhin selbstkri-
tisch und realistisch; denn in ihrer Stellungnahme zum
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz stand – ich zitiere aus-
zugsweise –:

Mit Blick auf die im Koalitionsvertrag der Bundes-
regierung vereinbarte Aufgabenkritik der BA könnte
auch überlegt werden, die ordnungspolitische Auf-
gabe des AÜG … z. B. auf den Zoll zu übertragen
und die BA damit weiter auf die Kernaufgabe Ver-
mittlung zu fokussieren.

Das sind klare Worte, aber sie werden ignoriert. Es
scheint so, als ob die Bundesregierung mit ihrer hochge-
lobten Drehtürklausel nicht ernst machen will. Wir mei-
nen aber, dass Kontrollen in angemessener Zahl notwen-
dig sind, und zwar durchgeführt von den Profis der
Zollbehörde.

Ich kann also nur hoffen, dass die Regierungsfraktio-
nen im Laufe des Verfahrens den Gesetzentwurf noch
nachbessern werden. Wenn nicht, dann war die Empö-
rung über den Missbrauch, beispielsweise bei Schlecker,
vor allem heiße Luft. Eine solche Politik der Bundesre-
gierung hilft niemandem, weder den Beschäftigten noch
den seriösen Verleihfirmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710826900

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Der letzte Redner zu
diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Paul
Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Kollege Paul Lehrieder.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1710827000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,

liebe Kollegen! Heute befassen wir uns in erster Bera-
tung mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeit-
nehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetzes.

Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, wenn Sie bei
den Vorrednern aufgepasst hätten, dann hätten Sie fest-
gestellt, dass sie sich sehr wohl in weiten Bereichen ihrer
Reden mit dem Gesetzentwurf beschäftigt haben.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In weiten Sphären! – Gegenruf der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Nach bayerischem Verständnis, ja!)


Sie waren nicht die Erste, die über diesen Gesetzentwurf
gesprochen hat.

Im Gesetzentwurf sind weitgehende Kontrollmecha-
nismen verankert, die für die Einhaltung der festgelegten
Arbeitsbedingungen und auch der Lohnuntergrenze sor-
gen sollen. In der letzten Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Gesetzesentwurfs zur Änderung
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und zur Verhin-
derung des Missbrauchs in der Leiharbeit hat der Deut-
sche Bundestag am 24. März dieses Jahres, also vor we-
nigen Wochen, entscheidende Verbesserungen auf dem
Gebiet der Leiharbeit auf den Weg gebracht und auch ei-
nen branchenspezifischen Mindestlohn für die Leihar-
beit eingeführt, der – Frau Kollegin Müller-Gemmeke,
darauf können Sie sich verlassen – von der Bundesregie-
rung in Kürze sicherlich umgesetzt werden kann,


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wo ist der Mindestlohn? Gar nichts wird umgesetzt!)


Letzteres insbesondere im Hinblick auf die Arbeitneh-
merfreizügigkeit, welche ab dem 1. Mai dieses Jahres





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

für immerhin 77 Millionen Europäer, auch für Deutsche,
gilt.

Die Angst vor einer gewaltigen Einwanderungswelle
und vor massivem Lohndumping war groß. Die Statisti-
ken und Hochrechnungen belegen allerdings, dass diese
Angst unbegründet war. Lohndumping verhindern wir
erfolgreich durch die Einführung eines branchenspezifi-
schen Mindestlohnes und eines wirkungsvollen Kon-
troll- und Sanktionsmechanismus durch den heute vor-
liegenden Gesetzentwurf.

Den neuen Regelungen in der Leiharbeit ist es auch
zu verdanken, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit als
große Chance zu sehen ist: als Mittel gegen den Fach-
kräftemangel, als Maßnahme gegen die Azubilücke und
als willkommenes Arbeitskräftepotenzial für etwa
1 Million offene Stellen, die wir derzeit in Deutschland
haben.

Die Zeitarbeit ist ein auf dem Arbeitsmarkt bewährtes
Instrument. Sie darf nicht als Mittel zur Absenkung von
Arbeitslöhnen und zur Verschlechterung von Arbeitsbe-
dingungen genutzt werden. Insoweit besteht in diesem
Hohen Hause Konsens. Dies wird gesetzlich gewährleis-
tet, dies muss aber auch kontrolliert und, falls nötig,
sanktioniert werden.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben natürlich recht:
Wenn sich der Branchentarifvertrag nicht auch auf die
Leiharbeit erstreckt, dann müssen wir überlegen – wie die
Kollegin Connemann völlig zu Recht in ihrer Eingangs-
rede ausgeführt hat –, ob der § 8 Abs. 3 Arbeitnehmer-
Entsendegesetz eine entsprechende Änderung erfahren
muss und ob wir das, was die Gerichte zwischenzeitlich
anders bewerten, anpassen müssen. Darüber werden wir
uns austauschen müssen. Im Übrigen ist dies heute die
erste Lesung. Wir werden jetzt in den Fachausschüssen
darüber beraten und diesen Gesetzentwurf im Detail dis-
kutieren.

Natürlich wäre es sehr wünschenswert, einen Arbeits-
markt zu haben, auf dem es ausschließlich feste und un-
befristete Anstellungsverhältnisse gibt. Da wir uns aber
nicht in einem isolierten Vakuum befinden, sondern auf
einem Arbeitsmarkt, auf dem global vernetzte Unterneh-
men agieren, müssen wir jede Chance ergreifen, die
Menschen Arbeit bietet – nicht nur den Hochqualifizier-
ten, sondern allen Menschen.

Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeitar-
beitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbil-
dung. Zeitarbeit zu haben ist besser als gar keine Arbeit.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur wenn es gute Arbeit ist, Herr Kollege, sonst nicht!)


Die Zeitarbeit ist eine realistische Chance, die zu einer
festen Beschäftigung führen kann. Die Flexibilität der
Zeitarbeit machte es möglich, in den letzten Krisenjah-
ren auch Geringqualifizierten und Arbeitslosen eine
Chance auf Beschäftigung zu bieten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


So konnte der konjunkturelle Aufschwung schneller in
Beschäftigungsverhältnisse umgesetzt werden. Eine Stu-
die des Instituts der deutschen Wirtschaft, die erst am ver-
gangenen Dienstag veröffentlicht wurde, kam zu dem Er-
gebnis, dass Zeitarbeitnehmer jeden siebten Euro des
Aufschwungs erwirtschaftet haben. Zeitarbeitnehmer tru-
gen damit 15 Prozent des deutschen Wirtschaftswachs-
tums im Jahr 2010.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hätte ich gerne einen Beweis dafür!)


Angesichts eines Zeitarbeitnehmeranteils von knapp über
2 Prozent zeigt diese Berechnung die wesentlich höhere
volkswirtschaftliche Bedeutung der knapp 900 000 Zeit-
arbeitnehmer bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hätten aber auch reguläre Arbeitsverhältnisse sein können!)


Aber, meine Damen und Herren, was helfen faire
Lohnuntergrenzen, wenn sie nicht eingehalten werden?
Was helfen sie, wenn Menschen schwarzarbeiten? Ver-
trauen allein reicht hier sicherlich nicht aus. Wir brau-
chen effektive Kontroll- und Sanktionsinstrumente. Der
Gesetzentwurf verspricht eine effiziente und wirkungs-
volle Kontrolle darüber, dass Arbeitgeberpflichten ein-
gehalten werden. Diese wichtige Aufgabe soll von den
Behörden der Zollverwaltung übernommen werden.

Das Gesetz setzt zudem die Protokollerklärung zum
Beschluss des Vermittlungsausschusses über das Gesetz
zur Ermittlung von Regelbedarfen nach dem II. und XII.
Sozialgesetzbuch um. Konkret werden die Befugnisse
der Zollverwaltung im Bereich der Prüfung, Verfolgung
und Ahndung in den nachfolgend genannten Punkten er-
weitert und von denen der Bundesagentur für Arbeit als
Erlaubnisbehörde abgegrenzt.

Arbeitgebern werden besondere Mitwirkungspflichten
auferlegt. So soll bei verdachtsunabhängigen Kontrollen
die Einhaltung einer festgelegten Lohnuntergrenze über-
prüft werden können. Darüber hinaus werden weitere Ar-
beitgeberpflichten festgesetzt. Bestimmte Dokumente,
wie beispielsweise Lohnunterlagen und Arbeitszeitauf-
zeichnungen, müssen erstellt und aufbewahrt werden.
Außerdem besteht die Pflicht eines ausländischen Verlei-
hers zur Meldung von nach Deutschland entsandten Ar-
beitnehmern.

Meine Damen und Herren, wir werden weitere Punkte
im Laufe des Verfahrens diskutieren müssen. – Ich sehe,
der Präsident macht sich dezent hinter mir bemerkbar.
Bevor er mir das Mikrofon ausschaltet, wünsche ich Ih-
nen noch einen schönen Abend und bedanke mich für
die konstruktiven Beiträge. Frau Kollegin Hiller-Ohm,
ich glaube, dass wir dieses Gesetz vielleicht sogar ge-
meinsam auf den Weg bringen können. Ich bitte um Ihre
Zustimmung zu unserem guten Gesetzentwurf.

Danke schön.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das liegt an Ihnen!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710827100

Vielen Dank, Herr Kollege. – Noch ist der Abend

nicht zu Ende. Wir haben noch eine Reihe von Tagesord-
nungspunkten, und ich lade alle herzlich ein, auch noch
dazubleiben.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5761 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere
Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfe-
gesetzes

– Drucksache 17/5521 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin steht
auf meiner Liste Frau Kollegin Dr. Martina Bunge für
die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710827200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Linke legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der
endlich ein schon lange hin- und hergewälztes Problem
für eine begrenzte Zahl betroffener Frauen im Osten lö-
sen soll.

Zwischen August 1978 und März 1979 wurden in der
DDR Frauen mit Hepatitis-C-Virus verseuchtem Anti-D-
Immunglobulin behandelt. Bei Rhesusfaktor-Unverträg-
lichkeit sollte damit verhindert werden, dass spätere
Kinder mit Schädigungen geboren werden. Allerdings
erlitten dadurch fast 3 000 Personen eine chronische He-
patitis-C-Virus-Infektion, die diverse Folgeerkrankun-
gen mit sich bringt. Hier lag ganz offensichtlich ein gro-
ber Fehler der damals Verantwortlichen vor.

Gut war, dass am 1. Januar 2000 das Anti-D-Hilfege-
setz in Kraft trat. Darüber sollten die Betroffenen neben
Leistungen der Heil- und Krankenbehandlung ab einem
bestimmten Ausmaß der Schädigung finanzielle Hilfen
als Einmalzahlung und als Rente bekommen. Leider
zeigte sich, dass die Bewilligungspraxis von Land zu
Land, von Versorgungsamt zu Versorgungsamt sehr un-
terschiedlich war und ist.
Wie sicher viele von Ihnen erhalte auch ich immer
noch und immer wieder Schreiben von Betroffenen, die
um ihre Rente kämpfen. Die Betroffenen haben die ver-
seuchte Anti-D-Immunprophylaxe erhalten und klagen
nun über verschiedene gesundheitliche Beschwerden.
Die Versorgungsämter meinen aber, es sei nicht ausrei-
chend belegt, dass die Anti-D-Prophylaxe der Grund für
diese Beschwerden ist. Ich finde, es ist zutiefst unwür-
dig, dass jemand, der einen solchen Schaden sogar nach-
gewiesen hat, jetzt beweisen muss, dass die Folgeerkran-
kung durch eben diese Anti-D-Immunprophylaxe ent-
standen ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie alle wissen, dass es fast unmöglich ist, zu bewei-
sen, dass ein bestimmtes Symptom auf eine bestimmte
Ursache zurückzuführen ist. Deshalb behilft man sich
mit Wahrscheinlichkeiten. Und dann kommt es zu der
Situation, dass bei einem Versorgungsamt die Wahr-
scheinlichkeit ausreicht und ein anderes meint, dass die
Wahrscheinlichkeit nicht ausreicht. Die Betroffenen füh-
len sich zu Recht willkürlich behandelt.

Ja, wir Politikerinnen und Politiker haben uns bereits
ausführlich damit befasst. Nachdem die zuständigen Be-
richterstatter aller Fraktionen des Ausschusses für Ge-
sundheit jahrelang viele Male mit Betroffenen und mit
Vertretern des Bundesministeriums für Gesundheit zu-
sammengesessen haben, habe ich als damalige Aus-
schussvorsitzende 2008 einen Brief an die damalige
Ministerin gesandt. Leider haben sich die Fraktionen
nicht auf eine Meinung verständigen können, aber
Grundtenor war, dass das BMG für eine einheitliche An-
wendung dieses Gesetzes Sorge tragen soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Nichts ist bislang geschehen. Daher sind wir in der Pra-
xis von einer einheitlichen Handhabung weit entfernt.

Die Linke hat sich jetzt entschlossen, einen Gesetz-
entwurf vorzulegen, weil im aktuellen Grundlagenpapier
der Bundesregierung zu den Patientenrechten zu lesen
ist:

Im Falle eines groben Behandlungsfehlers, der ge-
nerell geeignet ist, den Schaden herbeizuführen,
wird vermutet, dass der Fehler für den Eintritt des
Schadens ursächlich war. Das heißt, dass der Be-
handelnde den Gegenbeweis antreten muss, dass
ein Fehler den Schaden nicht verursacht hat.

Im Antrag der SPD zu Patientenrechten steht übrigens
das Gleiche. Nichts anderes formuliert die Linke in dem
heute vorliegenden Gesetzentwurf. Diese Frauen sollen
entschädigt werden, ohne dass sie den Beweis erbringen
müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke will ein würdiges Verfahren, das den durch
die Anti-D-Immunprophylaxe Geschädigten endlich zu
ihrem Recht verhilft. Geben Sie sich einen Ruck und set-
zen Sie hier ein Zeichen.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710827300

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. – Jetzt für die

Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Karin
Maag. Bitte schön, Frau Kollegin Maag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1710827400

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Vorfälle, die zu
dem Anti-D-Hilfegesetz geführt haben, nun schon ein
paar Jahre zurückliegen, 1978 und 1979, will ich versu-
chen, sie zusammenzufassen, um uns gemeinsam auf
den neuesten Stand zu bringen. Es geht um Frauen, die
zwischen August 1978 und März 1979 in der ehemaligen
DDR zur Immunprophylaxe geimpft wurden. Die Imp-
fung war bei bestimmten Gesundheitsrisiken nach der
Schwangerschaft vorgesehen und diente dazu, bei Rhe-
susfaktor-Unverträglichkeiten nach Geburten Schäden
bei den folgenden Kindern zu verhindern.

Innerhalb dieses halben Jahres wurden 6 773 Frauen
mit diesen Anti-D-Immunglobulinen behandelt. Weil die
Impfchargen im damaligen Bezirksinstitut für Blut-
spende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft ver-
seucht worden waren, wurden rund 4 600 Personen – das
ist der Stand von heute –, also die behandelten Frauen,
ihre Kinder und etliche weitere Kontaktpersonen aus
dem familiären Bereich, kontaminiert. Derzeit, Stand
vom 31. Dezember letzten Jahres, sind 2 615 Personen
als Schadensfälle nach dem Anti-D-Hilfegesetz aner-
kannt.

Ich glaube, es steht uns gut an, wenn wir sagen, dass
diesen Opfern auch heute noch unser Bedauern und un-
ser Mitgefühl gehören, und dies umso mehr, als sie na-
türlich auch heute noch, Frau Bunge, regelmäßig zu Un-
tersuchungen müssen und damit weiterhin schwer
belastet sind.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Auch deshalb sollte man ihnen nicht so viele Sorgen machen!)


– Ich komme noch dazu, Frau Bunge. Machen Sie sich
keine Gedanken. – Ich möchte darauf hinweisen, dass
wir nicht vergessen sollten, dass diese Frauen zweimal
geschädigt wurden: zum einen durch die kriminellen
Machenschaften im Institut in Halle – Arzt und Apothe-
ker wurden strafrechtlich verurteilt; aber das hilft den
Betroffenen wenig –, zum anderen natürlich auch durch
die frühere Einordnung in der DDR lediglich als Impf-
schaden.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!)


Zu DDR-Zeiten durfte es keinen Arzneimittelskandal
geben, also hat man die Frauen wie bei Impfschäden ent-
schädigt und ihnen damit den Anspruch auf eine höhere
Rente, eben nicht nur nach Versorgungsgesichtspunkten,
ebenso versagt wie ein Schmerzensgeld.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es!)


Mit dieser Einordnung als Impfschaden ist der Vor-
gang über den Einigungsvertrag in unser Rechtssystem
übernommen worden. Die Betroffenen waren weitere
zehn Jahre – da haben Sie recht, Frau Bunge – von Ent-
schädigungsleistungen ausgeschlossen. Um diese huma-
nitäre und soziale Lage der infizierten Frauen zu verbes-
sern, hat der Bundestag im Jahre 2000 nach vielen
Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die für die
Ausführung immer noch zuständig sind, ein eigenes Ge-
setz, das sogenannte Anti-D-Hilfegesetz, beschlossen.
Es ist ein eigenständiges Gesetz; parallel gibt es andere,
zum Beispiel das HIV-Hilfegesetz.

Die Rentenleistungen sind heute nach dem Grad der
Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelt. Sie reichen
von Beträgen von 272 bis 1 088 Euro monatlich. Diese
Rentenleistungen werden jetzt, so wie die normale
Rente, zum 1. Juli 2011 dynamisiert. Über die Einmal-
zahlung haben wir schon gesprochen. Die Zahlungen
werden durch Heil- und Krankenbehandlungsansprüche
in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungs-
gesetzes ergänzt. Jetzt kann man sagen: Gott sei Dank
hat sich die medikamentöse Therapie der chronischen
Hepatitis C stetig verbessert. Die Heilungschancen sind
erheblich gestiegen. Sie liegen jetzt bei 50 bis 75 Pro-
zent.

Ich möchte noch auf eines hinweisen, das mir im Zu-
sammenhang mit Ihrem Vorschlag wichtig ist. Das Anti-
D-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Branden-
burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An-
halt und Thüringen als Auftragsverwaltung ausgeführt.
An den Kosten haben sich auch die übrigen Bundeslän-
der in Deutschland nach einem bestimmten Kosten-
schlüssel beteiligt. Jetzt komme ich zu dem, was Sie be-
anstandet haben. Das Bundesgesundheitsministerium
lädt die Akteure regelmäßig ein und stellt über diese re-
gelmäßigen Kontrollen die einheitliche Durchführung si-
cher. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass dort
am Anfang – das hat auch der Bundesrechnungshof auf-
gegriffen – einiges schieflief.

Frau Bunge, Sie wollen jetzt mithilfe einer Änderung
des Anti-D-Hilfegesetzes die Beweislast umkehren. Ich
halte das für rechtlich falsch und für politisch unklug
und schwierig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das
so sehe: Das Anti-D-Hilfegesetz wurde vor elf Jahren
hier im Bundestag einvernehmlich verabschiedet. Alle
Fraktionen, auch die PDS, waren sich damals einig, dass
es sich – so hat es damals Frau Nickels formuliert – um
eine ausgewogene Balance eines sehr komplexen Sys-
tems von Hilfen und Finanzierung handelt.

Dieser mühsam hergestellte Kompromiss zwischen
allen Beteiligten – also zwischen Bund, Ländern sowie
weiteren Akteuren; ich habe die Beratungssituation be-
reits genannt – mit diesem guten Ergebnis wäre erneut
ins Wanken geraten – das ist wiederum ein Zitat von
Frau Nickels –, wenn nur ein Element aus diesem Be-
reich herausgebrochen wäre. Das haben sogar Sie bzw.
die PDS damals eingesehen. Frau Bunge, an solche Ver-
einbarungen muss man sich dann aber auch halten.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Vor zehn Jahren konnte man die Umsetzung nicht erkennen! Die sehen wir jetzt! Nach zehn Jahren!)






Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)

– Lassen Sie mich fortfahren.

Wir haben das Anti-D-Hilfegesetz auch evaluiert. In
unseren Besprechungen haben wir auf eine einheitliche
Rechtsanwendung hingewirkt. Meine Fraktion, Frau
Bunge, hat bereits 2004 die Frage nach der Rechtsquali-
tät dieser Entschädigungszahlungen gestellt. Die dama-
lige Bundesregierung hat ausdrücklich klargestellt, dass
es sich bei den Regelungen im Anti-D-Hilfegesetz nicht
um einen Bestandteil des sozialen Entschädigungsrechts,
sondern um eine eigene Rechtsgrundlage handelt.

Ich will hier jetzt eigentlich nicht Ihre sehr schlanke
Begründung aufwerten. Ich will aber trotzdem erläutern,
warum ich Ihre Forderung für wichtig halte. Wäre dies
ein Bestandteil des Entschädigungsrechts, könnte man
unter bestimmten Bedingungen eine Beweiserleichte-
rung im Hinblick auf den Ursachenzusammenhang zu-
lassen. Wir kennen so etwas aus dem Infektionsschutz-
gesetz. Diese Rechtslage entspricht auch der Rechtslage
in anderen Bereichen des Entschädigungsrechts.

Jetzt kommt die Begründung, warum es nicht geht:
Ausschließlich zugunsten der Opfer, um höhere Renten
zu ermöglichen und um überhaupt Einmalzahlungen ge-
währen zu können, ist man damals den Weg über die
Schadenersatzleistungen gegangen. Nach allgemeinen
zivilrechtlichen Grundsätzen – die können wir hier nicht
durch ein Gesetz im Einzelfall außer Kraft setzen – trägt
der Anspruchsteller im Bereich des Schadenersatzes die
Beweislast für alle anspruchsbegründenden Vorausset-
zungen. Damit verbietet sich die Beweislastumkehr
schlicht aus Rechtsgründen. Ich gehe einmal davon aus,
dass Sie sich an die einmal vereinbarte Rechtswahl auch
halten wollen.

Sie haben in mehreren Anfragen das Thema der Dar-
legungs- und Beweislast aufgebracht – im Einzelfall
durchaus zu Recht. Die jeweilige Bundesregierung hat
Ihnen aber auch gut begründet geantwortet, dass und wa-
rum eine Rechtsänderung nicht in Betracht kommt.
Auch der Petitionsausschuss hat im Hinblick auf eine
Sammelpetition betroffener Frauen nicht anders ent-
schieden.

Ich will jetzt nicht „nur“ erklären, warum Ihr Gesetz-
entwurf nicht gut ist. Ich habe durchaus schon von den
betroffenen Frauen im Osten gehört, auch wenn ich aus
dem Westen komme. Auch mir ist diese Problematik be-
kannt. Ich will konstruktiv auf Folgendes hinweisen: Der
Rechtsanwalt des Deutschen Vereins HCV-Geschädig-
ter verfolgt nämlich eine andere Zielrichtung. Er küm-
mert sich um die Verbesserung der Gestaltung der
Nr. 26.10 AHP. Das sind die Anhaltspunkte für die soge-
nannte Gutachtertätigkeit und deren Nachfolgeregelung.
Das erscheint mir der konstruktivere und vernünftigere
Ansatz. Das sage ich Ihnen jetzt privat und persönlich.

Für mich gilt: Im Ergebnis können wir mit der Rege-
lung, die im Jahre 2000 getroffen wurde, zufrieden sein.
Es ist gelungen, eine deutlich bessere Entschädigung als
damals zu DDR-Zeiten üblich zu erreichen. Handlungs-
bedarf mit der Zielrichtung der Beweislastumkehr, wie
von Ihnen gefordert, sehe ich deshalb nicht. Ich sehe das
im Übrigen auch nicht im Hinblick auf das Patienten-
rechtegesetz. Meines Wissens sind wir in diesem Fall
nicht Rechtsnachfolger und somit auch nicht der Behan-
delnde, den Sie gerade zitiert haben, geworden.

Umgekehrt, Frau Bunge – auch dies will ich Ihnen
nicht ersparen –, empfinde ich es als für die Betroffenen
sehr belastend, wenn Sie immer wieder Erwartungen
und Hoffnungen wecken, die Sie nicht erfüllen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Noch einmal: 2 615 im Raum stehende Schadensfälle
sind anerkannt; das sind rund zwei Drittel. Unzumutbar
ist das also sicherlich nicht. Ich will nicht verhehlen,
dass es in Einzelfällen Probleme gegeben hat. Es geht
aber um Einzelfallgerechtigkeit. Dafür sind die Gerichte
zuständig. Einzelne Gerichte, die sich mit solchen Fällen
befasst haben, haben sich wegen der AHP übrigens an
das Bundesarbeitsministerium gewandt, um dort mög-
licherweise Änderungen herbeizuführen. Ich halte dies
für einen relativ gut gangbaren Weg.

Frau Bunge – ich spreche jetzt Sie persönlich an, weil
Sie zu den Initiatoren dieses Gesetzentwurfes gehören –,
mir wäre es lieb, wenn Sie in den östlichen Bundeslän-
dern keine unerfüllbaren Hoffnungen wecken würden.
Helfen Sie den Menschen vor Ort! Wir haben eine gute
Regelung. Belassen Sie es dabei, und versuchen Sie, im
Einzelfall konstruktiv mitzuwirken!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710827500

Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Maag. – Jetzt

spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kol-
lege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege
Lemme.


(Beifall bei der SPD)



Steffen-Claudio Lemme (SPD):
Rede ID: ID1710827600

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Frau Flach, erst einmal sage ich Ihnen im Namen
meiner Fraktion herzlichen Glückwunsch zu Ihrem
neuen Amt als Staatssekretärin.

Der Deutsche Bundestag berät nicht zum ersten Mal
diese Problematik und diesen Tatbestand, der in der Ge-
samtschau letztlich nur betroffen machen kann. Ich muss
sagen: Mich hat er betroffen gemacht. Es war immer
mein Verständnis von Politik und Parlamentarismus,
dass wir uns vor allem der Menschen annehmen müssen,
denen Unrecht widerfährt, so wie im hier vorliegenden
Fall der Infektion von rund 3 000 jungen Müttern mit
Hepatitis C in den Jahren 1978 bis 1979 in der DDR.

Diese Mütter erhielten nach der Geburt ihres ersten
Kindes eine damals vorgeschriebene Anti-D-Immunpro-
phylaxe, bei der mehrere klar identifizierte Chargen mit
dem Hepatitis-C-Virus verseucht waren. Meine persönli-
che Bestürzung rührt daher, dass die Infektion nicht etwa
durch einen mangelnden Grad wissenschaftlicher Kon-
trollierbarkeit der Präparate verursacht wurde, sondern





Steffen-Claudio Lemme


(A) (C)



(D)(B)

dass die Verabreichung mit dem Wissen um die Folgen
einer Hepatitis-C-Infektion und damit vorsätzlich ge-
schehen ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich habe lange
in der DDR gelebt. Umso schockierender ist es für mich,
mit den Dimensionen dort erlittenen Unrechts konfron-
tiert zu werden. Hepatitis-C-Viren verursachen eine
Form der Leberentzündung, die im schlimmsten Fall ei-
nen chronischen Verlauf bis hin zum Tode durch Leber-
versagen nehmen kann. Eine wirksame Therapie zur
Überwindung der Krankheit steht bis heute nicht zur
Verfügung.

Für die Betroffenen bedeutet dies schlicht, die Krank-
heit akzeptieren und mit ihr leben zu müssen. Besonders
belastend ist dabei die stete Gefahr der Übertragung der
Krankheit, etwa auf den Partner oder auf Familienange-
hörige. All diese Herausforderungen machen es notwen-
dig, dass wir den Betroffenen zur Seite stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sozialdemokraten haben dies in der Vergangenheit in
Regierungsverantwortung getan. Wir haben im
Jahre 2000 gemeinsam mit dem Bündnis 90/Die Grünen
unter der damaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea
Fischer das Anti-D-Hilfegesetz auf den Weg gebracht.
Wir haben dafür gesorgt, dass die Betroffenen und Ange-
hörigen nach Anerkennung ihrer Schädigung durch Ein-
malzahlungen, Rentenbezüge und die Übernahme der
Kosten für Heil- und Krankenbehandlungen unterstützt
wurden. Für uns stehen die Belange der Patientinnen und
Patienten grundsätzlich im Mittelpunkt.

Aufgrund unserer Politik haben wir heute die Unab-
hängige Patientenberatung. In der gemeinsamen Selbst-
verwaltung wirken Vertreterinnen und Vertreter der Pa-
tienten mit, und die Betroffenen haben mit dem
Patientenbeauftragten der Bundesregierung eine zentrale
Anlaufstelle.


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Wir sind noch nicht am Ziel. Mit unseren Vorschlägen
für ein modernes Patientenrechtegesetz wollen wir noch
einen Schritt weitergehen, um für Patientinnen und Pa-
tienten Rechtssicherheit zu schaffen. Neben der unseres
Erachtens dringend notwendigen Zusammenfassung von
unterschiedlichen Rechten in einem einzigen Patienten-
rechtegesetz fordern wir grundsätzliche Beweiserleichte-
rungen bei Behandlungsfehlern. Hingegen lehnen wir
eine vollständige bzw. generelle Beweislastumkehr aus
heutiger Sicht aus guten Gründen ab.

Doch kommen wir zurück auf den hier zu diskutieren-
den Fall. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird jene Be-
weislastumkehr für diesen speziellen Betroffenenkreis
gefordert. Denn nach über 30 Jahren besteht heute viel-
fach das Problem der mangelnden Nachweisfähigkeit
von Hepatitis C. Auch der kausale Zusammenhang zwi-
schen der Anti-D-Impfung in der DDR und der letztend-
lichen Erkrankung wird immer wieder infrage gestellt.
Ich stelle hier unmissverständlich klar: Diese Umstände
und Hürden sind nicht im Sinne der Betroffenen und ent-
sprechen nicht dem Anliegen des Gesetzes.

Mehrfach hat der Betroffenenverband, der Deutsche
Verein HCV-Geschädigter, auf Probleme hingewiesen.
Insbesondere ist die Uneinheitlichkeit der Anwendung
des Anti-D-Hilfegesetzes und die damit verbundene un-
terschiedliche Anerkennungspraxis durch die Versor-
gungsämter in den Ländern kritisiert worden.

Im Entschließungsantrag zu diesem Sachgegenstand
in der 16. Legislaturperiode haben wir in der Großen
Koalition nochmals unterstrichen, dass für die einheitli-
che Anwendung des Gesetzes Sorge zu tragen ist, was
ich für meine Fraktion an dieser Stelle nochmals bekräf-
tige.


(Beifall bei der SPD)


Wir sehen auch heute die ausführenden Länder, aber
auch das Bundesgesundheitsministerium als Aufsichts-
behörde in der Pflicht.

Mit Blick auf die Kernforderungen des Gesetzent-
wurfs gebe ich zu bedenken, dass sowohl die defizitäre
Finanzlage des Bundes als auch der Länder keinen Spiel-
raum für eine Ausweitung der Mittel bietet. Jede dahin
gehende Forderung ist zurückzuweisen.


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Ich fordere die Bundesregierung jedoch auf, den in
der Vergangenheit bereits stattgefundenen Erfahrungs-
austausch zu Fragen der einheitlichen Durchführung des
Gesetzes wieder neu zu beleben, und rege eine erneute
Erörterung des Sachverhaltes im Rahmen der im kom-
menden Monat stattfindenden 84. Gesundheitsminister-
konferenz an.

Nach Überweisung des Gesetzentwurfs an den zu-
ständigen Ausschuss für Gesundheit wird es meines Er-
achtens besonders darauf ankommen, die betroffenen
Frauen anzuhören, um einen noch konkreteren Einblick
zu erhalten. Abhilfe muss meines Erachtens in erster Li-
nie pragmatisch und primär im Rahmen einer Optimie-
rung der bestehenden Anerkennungspraxis gesucht wer-
den. Ein positives Ergebnis ist nur im Konsens zwischen
den beteiligten Akteuren zu erreichen.

Was zählt, ist die Verbesserung der Situation der Be-
troffenen, für die das Gesetz einstmals mehrheitlich ver-
abschiedet wurde. Ihnen muss unsere ganze Aufmerk-
samkeit gelten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710827700

Wir haben zu danken. Vielen Dank, Kollege Lemme.

Jetzt hätte nach meiner Rednerliste unsere Kollegin
Christine Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDP
das Wort. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll. Das ist so ver-
einbart.1)

1) Anlage 10





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Harald
Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte
schön, Kollege Dr. Terpe.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710827800

Herr Präsident! Lassen Sie mich zunächst darauf hin-

weisen, dass auf der Regierungsbank ein neues Gesicht
zu sehen ist. Herzlichen Glückwunsch, Frau Staatssekre-
tärin, zu Ihrem neuen Amt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verseuchung
von Blutprodukten mit Hepatitis-C-Viren und die daraus
entstandenen Infektionen sind schon mehrfach Thema
im Parlament gewesen. Dies betraf nicht nur die Frauen,
die in der DDR um das Jahr 1979 mit einer verunreinig-
ten Charge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wur-
den. Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die
sich in den 80er-Jahren mit Hepatitis-C-Viren durch ver-
seuchte Blutprodukte infizierten, obwohl staatliche Be-
hörden die Risiken bereits hinlänglich erkannt hatten.
Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mit dem
sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin eine gesetzli-
che Entschädigungsregelung. Infizierte Frauen erhalten
eine Entschädigung entweder als Einmalzahlung oder als
monatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung der HCV-
Infektion mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von
10 bzw. 30 Prozent einhergeht. So weit die gesetzliche
Regelung.

In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen;
das wissen wir alle. Dies betrifft vor allem die Frage, ob
die gesundheitliche Schädigung in einem ursächlichen
Zusammenhang mit der Infektion steht, insbesondere
dann, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze
liegt; darüber hat es die meisten Diskussionen gegeben.
Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeit den
betroffenen Frauen. Wir wissen jedoch, dass eine Reihe
unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schädigun-
gen durchaus auf eine Infektion mit Hepatitis C zurück-
zuführen ist, was man vielleicht primär nicht annehmen
würde. Dazu zählen neben den typischen Leberentzün-
dungen mit Fibrosen Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lun-
gen- und Gelenkerkrankungen sowie neuropsychiatri-
sche Erkrankungen wie Depressionen. In diesen Fällen
könnte die von den Linken vorgeschlagene Beweislast-
umkehr möglicherweise eine Hilfe für einzelne betrof-
fene Frauen sein, die aus dem Anti-D-Hilfegesetz resul-
tierenden Entschädigungsleistungen in Anspruch zu
nehmen. Ob diese Vermutung tatsächlich zutrifft, ob den
Frauen damit wirklich geholfen ist, werden wir sicher im
Laufe der weiteren parlamentarischen Diskussion klären
können.

Beweislastumkehr hin oder her, eines ist klar: Am
Ende bleibt die Entschädigung im Rahmen des Anti-D-
Hilfegesetzes auch dann eine Ermessensentscheidung,
wenn der Zusammenhang zwischen Infektion und Schä-
digung belegt ist; denn ein Gutachter entscheidet, wel-
chen Grad die Schädigung hat. Dieser Schädigungsgrad
bestimmt letztendlich darüber, ob eine Entschädigung
gezahlt wird und wenn, in welcher Form; das ist eine
gutachterliche Frage. Liegt der Grad der Schädigung
beispielsweise unter 30 Prozent, wird keine monatliche
Rente gezahlt. Eine solche Bewertung ist nur bis zu ei-
nem gewissen Grade objektivierbar, und sie ist weitge-
hend unabhängig davon, wer die Beweislast für die Ur-
sachen der gesundheitlichen Schädigung trägt.

Ich habe vor einigen Jahren in Mecklenburg-Vorpom-
mern selbst als Arzt im Rahmen einer ständigen Arbeits-
gruppe bei der Begutachtung solcher Fälle mitgewirkt.
Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kollegen, die
daran beteiligt waren, haben es sich bei diesen Entschei-
dungen niemals einfach gemacht. Wir haben versucht,
den Frauen auch in den Fällen gerecht zu werden, wo
nur eine eher unspezifische Symptomatik wie die schon
beschriebenen Depressionen oder Müdigkeitssymptome
vorgelegen hat. Dabei hat man sich immer am wissen-
schaftlichen Standard orientiert.

Ich will vor diesem Hintergrund nicht verhehlen, dass
ich Zweifel habe, ob die von den Linken vorgeschlagene
Lösung den Frauen weiterhilft. Vielleicht ist ein außerge-
richtliches Verfahren auf Basis verbindlich verordneter
Begutachtungskriterien, die immer wieder wissenschaft-
lich angepasst werden müssen, in Gutachterausschüssen
der bessere Weg.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710827900

Wir haben Ihnen zu danken. Kollege Dr. Harald

Terpe, vielen Dank.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5521 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere
Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
und anderer Vorschriften

– Drucksache 17/5311 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/5793 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/5796 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)

Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Alexander Bonde





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Sie sind damit einverstanden. Ich glaube, ich kann es mir
aus Zeitgründen sparen, die Namen der Kolleginnen und
Kollegen vorzulesen, sodass wir direkt zur Abstimmung
kommen können.

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5793,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 17/5311 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die So-
zialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand.
Stimmenthaltungen? – Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Der Gesetzent-
wurf ist damit in der zweiten Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
in der vorherigen Beratung angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Birgitt Bender, Kai Gehring, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Rehabilitierung und Entschädigung der nach
1945 in Deutschland wegen homosexueller
Handlungen Verurteilten

– Drucksache 17/4042 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen mir hier vor. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4042
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Die Überweisung ist somit beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zur
Festlegung der technischen Vorschriften für
Überweisungen und Lastschriften in Euro und
zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/

1) Anlage 13
2) Anlage 11
2009 vom 16. Dezember 2010 – KOM(2010)
775 endg.

Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund-
lich gestalten

– Drucksache 17/5768 –

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). –
Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen mir vor.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/5768. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind die
Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Fraktion Die Linke enthält sich. Der Antrag
ist damit angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingun-
gen für die innergemeinschaftliche Verbrin-
gung von Verteidigungsgütern

– Drucksache 17/5262 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)


– Drucksache 17/5794 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium hier vor.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1710828000

Verteidigungs- und Sicherheitsfragen wurden seit

dem Ende des Kalten Krieges weitgehend von der euro-
päischen Integration ausgeschlossen. Damit waren die
Verteidigungsmärkte fast gänzlich vom Binnenmarkt
ausgeschlossen und blieben national zersplittert. Die
überwiegend nationale Organisation der Verteidigungs-
märkte in der EU führte angesichts strenger Haushalts-
beschränkungen sowie steigender Kosten für Verteidi-
gungsgüter zunehmend zu Problemen. Voneinander
abweichende Politiken zogen oftmals einen hohen büro-
kratischen Aufwand und verschwenderischen Umgang
mit Verteidigungsausgaben nach sich. Auch sind unsere
nationalen Märkte in Europa oft zu klein, um hochwer-
tige Ausrüstung zu erschwinglichen Preisen herzustellen
und zu beschaffen. All diese Probleme haben meines Er-
achtens unsere Europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik insgesamt geschwächt.

3) Anlage 14

Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)

Um erstens die bestehende Zersplitterung zu über-
winden, zweitens die Wettbewerbsfähigkeit der europäi-
schen Verteidigungsindustrie zu erhalten und drittens
eine angemessene Ausrüstung der Streitkräfte sicherzu-
stellen, hat die Kommission bereits im Dezember 2007
ein Maßnahmenpaket vorgestellt, zu dem auch die hier
beratene Richtlinie über die innergemeinschaftliche Ver-
bringung von Verteidigungsgütern (2009/43/EG) zählt.
Meine Fraktion begrüßt die Umsetzung dieser Richtlinie
durch die Bundesregierung ausdrücklich, da damit die
Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Marktes
geschaffen wird.

Auch hat dann endlich dieses Durcheinander an un-
einheitlichen und überzogenen einzelstaatlichen Geneh-
migungsverfahren beim Handel mit Verteidigungsgütern
ein Ende. Durch das Wirrwarr an Genehmigungssyste-
men wird den Unternehmen nicht nur ein beträchtlicher
Verwaltungsaufwand zugemutet, sondern es werden
auch erhebliche Vorlaufzeiten, teilweise von bis zu meh-
reren Monaten, verursacht. Der daraus hervorgehende
Verwaltungsaufwand der Unternehmen und Behörden
verursacht jährlich Kosten von rund 433 Millionen
Euro. Auch unsere deutschen Unternehmen verlieren
viel Zeit und Geld mit der gegenwärtigen Regelung. Ex-
porte von Verteidigungsgütern aus der Bundesrepublik
erfordern üblicherweise eine Einzelgenehmigung, die
beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle,
BAFA, zu beantragen ist. Über politisch heikle Fälle ent-
scheidet zusätzlich das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie und bei Bedarf der Bundessi-
cherheitsrat. Der Rüstungsexportbericht der
Bundesregierung weist für das Jahr 2009 insgesamt
16 202 Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von insge-
samt rund 5 043 Millionen Euro aus. Abgelehnt wurden
128 Anträge, im Vorjahr 52. Das zeigt, dass der teil-
weise erhebliche bürokratische Aufwand in keinem Ver-
hältnis zum tatsächlichen Kontrollbedarf steht.

Ich habe es immer geschätzt, dass das deutsche Recht
– im Vergleich zu anderen europäischen Rechtsformen –
schon heute zur Verfahrenserleichterung die Möglichkeit
vorsieht, anstelle von Einzelgenehmigungen sogenannte
„Sammelausfuhrgenehmigungen“ oder „Allgemeinge-
nehmigungen“ zu erteilen. Diese Verfahren privilegieren
zuverlässige Exporteure, die im großen Stil am Außen-
wirtschaftsverkehr teilnehmen. Sind die Voraussetzungen
erfüllt, können sie exportieren, ohne zuvor einen Antrag
auf Erteilung einer Einzelexportgenehmigung beim
BAFA stellen zu müssen. Unsere Exporteure haben den
Vorteil schnellerer Liefermöglichkeit und Planungssi-
cherheit. Das spart Zeit und Geld. Konkret soll der EU-
Rechtsrahmen die Mitgliedstaaten veranlassen, den An-
wendungsbereich von Sammelausfuhr- und Allgemeinge-
nehmigungen auszuweiten.

Wir in der CDU/CSU setzen uns mit Nachdruck für
die Umsetzung der sogenannten Verteidigungsgüter-
richtlinie ein. Für unsere betroffenen Unternehmen ver-
einfacht es das Exportkontrollverfahren, unnötige büro-
kratische Hemmnisse werden abgebaut, und zugleich
kann eine stärke Fokussierung auf sensitive Verteidi-
gungsgüterexporte in Drittstaaten erfolgen. All das ge-
schieht, ohne dass die nationalen Mitgliedstaaten die
Zu Protokoll
Kontrolle über ihre Sicherheitsinteressen verlieren.
Nach wie vor können die Mitgliedstaaten selbst ent-
scheiden, welche Güter für die verschiedenen Genehmi-
gungsarten in Betracht kommen, und die Bedingungen
für diese Genehmigungen festlegen. Auch der Umstand,
dass die Richtlinienumsetzung nur geringfügige gesetz-
liche Änderungen erfordert, spricht für die innergemein-
schaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern. Die
bevorzugten Allgemeingenehmigungen können auf der
Grundlage unserer bestehenden und gut funktionieren-

(das Außenwirtschaftsgesetz, die Außenwirtschaftsverordnung und das Kriegswaffenkontrollgesetz)


Mit den verbesserten Bedingungen für den Handel
zwischen den europäischen Verteidigungsunternehmen
ebnet der Vorschlag darüber hinaus den Weg für eine
verstärkte industrielle Zusammenarbeit und optimierte
Versorgungsketten. Davon profitieren sowohl große wie
auch kleine und mittlere Unternehmen in mehreren Mit-
gliedstaaten. Das stärkt auch das gegenseitige Ver-
trauen zwischen den Mitgliedstaaten.

Wir alle wissen um die Sensibilität dieses Bereiches.
Den Mitgliedstaaten wird deshalb bei der Schaffung ei-
nes europäischen Marktes für Verteidigungsgüter eine
besondere Rolle zuteil. Die Verbringung von Verteidi-
gungsgütern in der EU unterlag bislang 27 verschiede-
nen nationalen Genehmigungssystemen, die sich in Ver-
fahren, Umfang und Fristen erheblich unterscheiden.
Diese Unterschiede stellten ein wichtiges Hindernis für
die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unterneh-
men dar – in wirtschaftlicher sowie technischer Hin-
sicht. Wichtig ist deshalb, dass die Kommission den na-
tionalen Mitgliedstaaten auch weiterhin Richtlinien
vorgibt, die für einen einheitlichen Rechtsrahmen sor-
gen. Verbindliche Gemeinschaftsinstrumente sind uner-
lässlich für eine höhere Effizienz der europäischen Ver-
teidigungsmärkte! Es ist aber genauso wichtig für ein
einheitliches europäisches Kontrollsystem.

Die Bundesregierung kommt mit ihrem Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/5262 zur Umsetzung der Richtlinie
zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemein-
schaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern erstens
ihrer Pflicht nach, die erforderlichen Rechts- und Ver-
waltungsvorschriften bis zum 30. Juni umzusetzen, und
zweitens trägt sie damit zur Schaffung eines gemeinsa-
men europäischen Marktes für Verteidigungsgüter bei.
Deutschland wahrt seine legitimen Sicherheitsinteressen
und sorgt gleichzeitig für die Einhaltung der Binnen-
marktgesetze. Dies ist im Interesse aller: der Steuerzah-
ler, der Streitkräfte und der Unternehmen. Dem Gesetz-
entwurf ist zuzustimmen.


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1710828100

Heute verabschieden wir den Gesetzentwurf der Bun-

desregierung zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai
2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die inner-
gemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgü-
tern. Die sogenannte Verteidigungsgüterrichtlinie ist ein
wichtiger Schritt zur Förderung eines europäischen



gegebene Reden

Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(B)

Marktes für Verteidigungsgüter. Die im Jahr 2009 ver-
abschiedete Richtlinie 2009/43/EG ist Bestandteil des
EU-Verteidigungspakets, zu dem ebenfalls die Richtlinie
über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe be-
stimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungs-
aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit
sowie die Mitteilung „Eine Strategie für eine stärkere
und wettbewerbsfähigere europäische Verteidigungs-
industrie“ gehören. Die Verteidigungsgüterrichtlinie
muss bis 30. Juni 2011 in deutsches Recht umgesetzt
werden und bis zum 30. Juni 2012 in Kraft treten. In der
Vergangenheit haben unterschiedliche Rechts- und Ver-
waltungsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten im Vertei-
digungsbereich zu einer Behinderung des Güterverkehrs
und zu einer Verzerrung des Wettbewerbs geführt. Die
Problematik der verschiedenen Verfahrensweisen wird
laut der Europäischen Kommission an den geschätzten
Mehrkosten von 433 Millionen Euro pro Jahr deutlich.
Mit der Verteidigungsgüterrichtlinie schaffen wir es, das
Genehmigungsverfahren für festgelegte Rüstungs-
exporte zu vereinfachen und den Handel innerhalb der
Europäischen Union zukünftig zu erleichtern. Kernbe-
standteil der Richtlinie ist die Ausweitung des An-
wendungsbereichs von Allgemein- und Globalgenehmi-
gungen. Nach der bisher gängigen Praxis waren
Einzelgenehmigungen für Rüstungsexporte auch inner-
halb der Europäischen Union die Regel. Allgemeinge-
nehmigungen, die von den Mitgliedstaaten veröffentlicht
werden, gelten nach Vorgabe der Verteidigungsgüter-
richtlinie, wenn es sich bei dem Exportempfänger um die
Streitkräfte eines EU-Mitgliedstaates oder um ein durch
ein Zertifizierungsverfahren berechtigtes Unternehmen
in einem EU-Mitgliedstaat handelt. Hinzu kommen vo-
rübergehende Exporte für Vorführungen, Gutachten,
Ausstellungen bzw. zur Wartung und Reparatur an den
ursprünglichen Lieferanten. Die bereits angesprochene
Globalgenehmigung wird für einen Zeitraum von min-
destens drei Jahren an einen bestimmten Lieferanten er-
teilt, der dann zur Lieferung von Verteidigungsgütern an
einen festgeschriebenen Empfängerkreis in einem bzw.
mehreren EU-Mitgliedstaaten berechtigt ist. Die deut-
sche Verteidigungsindustrie wird einen großen Nutzen
aus dem vereinfachten Genehmigungsverfahren ziehen.
Unternehmen können in Zukunft Verteidigungsgüter ex-
portieren, ohne zuvor eine Einzelgenehmigung beantra-
gen zu müssen. Dies wird zu kürzeren Lieferzeiten führen
und den Unternehmen auf längere Sicht Planungssi-
cherheit verschaffen. Zudem darf nicht außer Acht ge-
lassen werden, dass es die Neuregelung gerade kleinen
und mittleren Unternehmen ermöglichen wird, sich im
europäischen Verteidigungsmarkt zu etablieren. Wir alle
sind uns bewusst, dass die europäische Integration in
einem solch sensiblen Bereich nur unter strengen
Voraussetzungen vollzogen werden darf. Eine Verein-
heitlichung der Genehmigungsverfahren der EU-Mit-
gliedstaaten darf nicht zu einer Aushöhlung unserer
nationalen Exportkriterien führen. Die wichtigste Vo-
raussetzung für die Umsetzung der Richtlinie 2009/43/
EG ist für mich daher, dass die Mitgliedstaaten die Kon-
trolle über ihre eigenen Rüstungsexportkriterien behal-
ten. Unsere inhaltlichen Maßstäbe für die Beurteilung
von Rüstungsexporten – die „Politischen Grundsätze
Zu Protokoll
der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern“ sowie der „Gemein-
same Standpunkt des Rates der Europäischen Union“
von 2008 – bleiben unverändert bestehen. Ferner blei-
ben die Bestimmungen über Exporte in Drittstaaten un-
berührt. Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfol-
gen weiterhin einzelfallbezogen und unter besonderer
Berücksichtigung der außenpolitischen Situation sowie
der Menschenrechtslage im Empfängerland. Genehmi-
gungen werden auch in Zukunft nur erteilt, wenn zuvor
der Endverbleib im Endempfängerland sichergestellt ist.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist die Bundes-
regierung ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Richt-
linie 2009/43/EG nachgekommen. Durch die daraus
resultierende Entbürokratisierung der Exporte von Ver-
teidigungsgütern innerhalb der Europäischen Union
wird die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Ver-
teidigungsindustrie gestärkt. Darüber hinaus bringt die
Verteidigungsgüterrichtlinie eine Vereinfachung der Be-
lieferung der Bundeswehr mit Verteidigungsgütern mit
sich. Nicht vergessen werden darf in der Debatte, dass
auch die Exportkontrollbehörden durch das neue Ver-
fahren entlastet werden und sich in Zukunft stärker auf
die Kontrolle von Rüstungsexporten in Drittländer kon-
zentrieren können. Die Angleichung der Genehmigungs-
verfahren für Rüstungsexporte innerhalb der Europäi-
schen Union, die nun mit dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung umgesetzt wird, ist vor diesem Hinter-
grund zu begrüßen.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1710828200

Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die

Umsetzung einer EU-Richtlinie. Es handelt sich dabei
um die Richtlinie der Europäischen Union zur Vereinfa-
chung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche
Verbringung von Verteidigungsgütern. Ziel dieser Richt-
linie ist die Vereinfachung der Vorschriften und Verfah-
ren für die Verbringung von Verteidigungsgütern zwi-
schen den EU-Mitgliedstaaten. So soll das reibungslose
Funktionieren des Binnenmarktes sichergestellt und
mögliche Wettbewerbsverzerrungen abgeschafft werden.
Darüber hinaus sollen Innovationen, industrielle Zusam-
menarbeit und Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungs-
industrie der EU gefördert werden. Im deutschen Recht
müssen dafür das Außenwirtschaftsgesetz, AWG, die Au-
ßenwirtschaftsverordnung, AWV, die Verordnung zur Re-
gelung von Zuständigkeiten im Außenwirtschaftsverkehr,
das Kriegswaffenkontrollgesetz, KrWaffKontrG, sowie
die Erste Verordnung über Allgemeine Genehmigungen
nach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen
geändert werden.

Der SPD-Bundestagsfraktion ist es besonders wich-
tig, dass sichergestellt ist, dass durch eine europäische
Harmonisierung die deutschen Regeln nicht aufge-
weicht werden, und sie möchte, dass an den restriktiven
deutschen Rüstungsexportregeln auch in den EU-Be-
stimmungen festgehalten wird. Dazu haben wir auch ei-
nen Antrag mit dem Titel „Mit Transparenz und parla-
mentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von
Rüstungsexporten“ eingebracht. Wir möchten zu einer
„Kultur der Zurückhaltung“ und „restriktiven“ Be-
gegebene Reden

(D)





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

handlung von Rüstungsexporten zurückkehren und wol-
len die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch die
Hintertür einer europäischen Harmonisierung verwäs-
sern. Außerdem mahnen wir eine schnellere und verläss-
lichere Veröffentlichung des Rüstungsexportberichtes,
spätestens sechs Monate nach Ablauf des jeweiligen Ka-
lenderjahres, an. Was soll sich aber mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf ändern? In Zukunft ist die Erteilung
von Allgemeinen Genehmigungen und Globalgenehmi-
gungen, Sammelausfuhrgenehmigungen, vorgesehen.
Außerdem werden ein europaweites Zertifizierungsver-
fahren und ein Kommunikationsportal beim Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, eingeführt.
Konkret sieht es so aus, dass für die Allgemeinen Geneh-
migungen die existierende und schon in § 1 Abs. 2 AWV
normierte Allgemeinverfügung genutzt wird, während
das Kriegswaffenkontrollgesetz, welches den Erlass von
Allgemeinen Genehmigungen nur in Sonderfällen vor-
sieht, dementsprechend geändert wird, dass Allgemeine
Genehmigungen als Verordnungen der Bundesregierung
erteilt werden können. Durch die nun vorliegende Geset-
zesänderung wird die freiwillige Zertifizierung des aus-
führenden Unternehmens eingeführt. Eine vorherige
Zertifizierung wird zwar den Verwaltungsaufwand der
ausführenden Unternehmen im Genehmigungsverfahren
verringern und langfristig die Verwaltungskosten redu-
zieren. Trotz allem dürfen die Zertifikate nicht „ewig“
gelten. Im Entwurf ist eine maximale Gültigkeit von
höchstens fünf Jahren vorgesehen. Jedoch sollte die Ma-
ximaldauer nur in seltenen Fällen ausgenutzt werden.
Eine kürzere Geltungsdauer birgt die Möglichkeit, bei
Neubeantragung regelmäßig und in kürzeren Abständen
die Voraussetzungen für die Beurteilung der Zuverläs-
sigkeit der Antragsteller zu überprüfen; denn wir reden
über den hochsensiblen Bereich der Rüstungsexporte.
Hier sollten wir häufiger hinschauen und prüfen.

Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für Transpa-
renz gerade bei der Ausfuhr von Gütern in diesem hoch-
sensiblen Bereich ein. Aus diesem Grund begrüßen wir
die Normierung der bisher schon geltenden Praxis zu
den Informations- und Buchführungspflichten. Jedoch ist
es unbefriedigend, dass Endverwendung und Endver-
wender nur, soweit bekannt ist, angegeben werden müs-
sen. Hier wäre eine striktere Regelung angebracht gewe-
sen, um den Endverbleib überprüfen und sicherstellen zu
können und den ungewollten Weitertransport zu minimie-
ren bzw. auszuschließen. Auch Verteidigungsgüter im
Sinne des Gesetzes bzw. der Richtlinie müssen dem
Grundsatz der Endverbleibsklausel unterliegen. Die
durch das vorliegende Gesetz vorgesehenen Änderungen
setzen die europäischen Vorgaben um. Die Regelungen
gelten für die Lieferung oder Beförderung von Waffen
bzw. sonstigen Gütern, die militärisch genutzt werden
können, zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Für andere Lieferungen außerhalb der Europäi-
schen Union gelten die bisherigen Regelungen weiterhin.
Auch wenn es sich also nur um die Umsetzung von euro-
päischen Vorgaben handelt, gilt gerade vor dem Hinter-
grund der Allgemeinen Genehmigungen und Globalge-
nehmigungen das Gebot der besonderen Wachsamkeit
an den EU-Außengrenzen. Wir brauchen größtmögliche
Transparenz bezüglich eventueller Weiterverbringung
Zu Protokoll
dieser hochsensiblen Güter aus der Europäischen
Union.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1710828300

Der vorliegende Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung

der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung
der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Ver-
bringung von Verteidigungsgütern ist ausdrücklich zu
begrüßen. Mit dem eingebrachten Entwurf des Gesetzes
soll eine Rechtslage geschaffen werden, die sowohl den
Standort Deutschland als auch den europäischen Rüs-
tungsmarkt durch die angestrebte Vereinfachung und
den Bürokratieabbau im Rahmen der Zertifizierung von
Rüstungsgütern attraktiver macht, die Rechtssicherheit
für Rüstungsgüter deutlich verbessert und sich punktge-
nau auf das Wesentliche ausrichtet.

Die diesem Entwurf zugrunde liegende Idee, die Ko-
operationsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie
zu stärken, ist als zentrale Komponente einer zukünfti-
gen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ausdrücklich und nachhaltig zu begrüßen. Die sinnvolle
Umsetzung der Richtlinie wird die anfallenden Kosten
für die Unternehmen auf ein Mindestmaß reduzieren und
durch die innovative Umsetzung der Zertifizierungsver-
fahren Kosteneinsparungen für Unternehmen und Mit-
gliedstaaten mit sich bringen. Die Umsetzung der Richt-
linie soll der Vereinheitlichung des Zertifizierungs-
verfahrens im europäischen Rüstungsmarkt dienen und
wird diesem Ziel auch gerecht.

Die Einführung eines empfängerbezogenen Zertifizie-
rungsverfahrens, im Zusammenhang mit der Allgemein-
genehmigung, kann zwar zu anfänglichen zusätzlichen
Kosten auf Behörden- und Unternehmensseite führen.
Auf mittelfristige Sicht wird es aber durch den unkom-
plizierteren Warenaustausch zu wechselseitigen Einspa-
rungen kommen. Das Zertifizierungsverfahren stellt ei-
nen grundlegenden Systemwechsel im Ausfuhrgeneh-
migungsverfahren der Mitgliedstaaten dar. Die Allge-
meinen Genehmigungen entlasten die betreffenden Un-
ternehmen in ihrem Anwendungsbereich von dem Erfor-
dernis, Einzel- bzw. Sammelausfuhrgenehmigungen zu
beantragen.

Die zertifizierten Unternehmen werden nun größere
Rechts- und Planungssicherheit beim Bezug von Vertei-
digungsgütern erlangen. Zudem werden – unabhängig
von der Umsetzung der Verteidigungsgüterrichtlinie –
die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um Verwal-
tungsakte im Außenwirtschaftsverkehr im Zuständig-
keitsbereich des Bundesamtes für Wirtschaft und Aus-
fuhrkontrolle, BAFA, elektronisch zu beantragen und zu
übermitteln. Durch Nutzung des elektronischen Kommu-
nikationsportals des BAFA kann es zu weitergehenden
Kosteneinsparungen der betreffenden Unternehmen
kommen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den Ge-
setzentwurf als maßgeblichen Schritt zur Vereinfachung
der Verbringung von Rüstungsgütern und zur Schaffung
einheitlicher Marktstandards auf dem europäischen
Rüstungsmarkt. Hiervon profitieren sowohl die Streit-
kräfte der europäischen Mitgliedstaaten als auch die



gegebene Reden





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

von dieser Richtlinie erfassten Verteidigungsgüter pro-
duzierenden Unternehmen. Wir sind davon überzeugt,
dass mit den in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maß-
nahmen die europäischen Vorgaben erreicht werden, die
Rechtssicherheit für deutsche Rüstungsunternehmen ge-
stärkt und die Genehmigungsverfahren von Rüstungsgü-
tern im europäischen Binnenmarkt entscheidend verbes-
sert werden.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710828400

Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf der

Bundesregierung, der die EU-Richtlinie zur Verein-
fachung der Bedingungen der Verbringung von Rüs-
tungsgütern innerhalb der EU – kurz: Verteidigungs-
güterrichtlinie – in nationales Recht umsetzen soll. Im
Kern geht es um die Schaffung eines Lizensierungssys-
tems. Es soll europäischen Rüstungsfirmen ermöglichen,
nach Durchlaufen einer Zuverlässigkeitsprüfung, eine
zeitlich befristete Genehmigung für den Austausch von
Rüstungsgütern mit anderen, lizensierten Unternehmen
zu erhalten. Einzelne Ausfuhren müssen dann nur noch
im Nachhinein gemeldet werden. Die Verbringung von
Rüstungsgütern innerhalb der EU wird also vereinfacht
und die Kontrolle gelockert. Die vorliegenden Ände-
rungsvorschläge für das Außenwirtschaftsgesetz, die
Außenwirtschaftsverordnung, das Kriegswaffenkontroll-
gesetz und die Verordnung über allgemeine Genehmigun-
gen setzen die Forderung der europäischen Richtlinie
fast wörtlich um. Die Kriterien für die Zuverlässigkeits-
prüfung werden direkt in nationales Recht überführt.
Verstöße werden mit Bußgeldern belegt, was ebenso den
Forderungen der EU entspricht.

Eine solch direkte und gesetzlich bindende Umset-
zung einer EU-Richtlinie hätte ich mir persönlich auch
für den Gemeinsamen Standpunkt der EU für die Kon-
trolle der Ausfuhr von Militärtechnologien und Militär-
gütern gewünscht. Mit gesetzlicher Bindungskraft hätten
die dort enthaltenen Kriterien für Rüstungsexporte zahl-
reiche Ausfuhren deutscher Firmen in äußerst fragwür-
dige Empfängerländer verhindert. Andere Staaten sind
uns da einen Schritt voraus und haben dem Kodex diese
gesetzliche Bindungskraft verliehen. Auf europäischer
Ebene besteht in der Konsequenz ein Gefälle zwischen
den Mitgliedstaaten der EU, was die Einhaltung des
EU-Kodex für Rüstungsausfuhren betrifft. Ähnliche Un-
terschiede in der Anwendung sind auch bei der Verteidi-
gungsgüterrichtlinie zu befürchten. Die Staaten sind
zwar angehalten sich über mögliche Verstöße und Fehl-
verhalten der Rüstungsfirmen auszutauschen, eine
Überwachung oder zumindest Unterstützung durch eine
europäische Einheit ist jedoch nicht vorgesehen. Somit
bleibt es fraglich, ob die Zertifizierungsstandards tat-
sächlich überall gleich streng angewandt und über-
wacht werden. Fälle sind denkbar, in denen Mitglied-
staaten aus nationalen Interessen davon absehen,
fragwürdige Geschäftspraktiken von Unternehmen bzw.
Verstöße gegen die Zertifizierungskriterien gegenüber
den anderen Mitgliedstaaten anzuzeigen. Die strategi-
sche Bedeutung der Rüstungsindustrie wird mancherorts
äußerst stark gewichtet, und somit bestünde hier ein be-
sonderer Anreiz, das Regelwerk zumindest bis aufs Äu-
ßerste auszureizen.

Auch wenn die Verteidigungsgüterrichtlinie formell
die Ausfuhr von Rüstungsgütern an Staaten jenseits der
Grenzen der Europäischen Union nicht berührt, sind
auch hier Auswirkungen zu befürchten. Teilkomponen-
ten, die im Rahmen der hier vorgeschlagenen Änderun-
gen leichter in andere EU-Mitgliedstaaten geliefert wer-
den, könnten dort verbaut und weiter ausgeführt werden.
Da die Exportstandards und Exportpolitiken der ande-
ren Mitgliedstaaten teilweise weniger streng sind als die
der Bundesregierung, ist zu befürchten, dass noch mehr
deutsche Rüstungsgüter weltweit in den Umlauf gelan-
gen und auch kritische Empfängerländer deutsche
Rüstungsgüter erhalten. Wer nun auf die deutsche End-
verbleibskontrolle und Reexportklauseln verweist, dem
möchte ich das Beispiel der mit deutschen Komponenten
bestückten Panzerabwehrraketen vor Augen führen, die
via Frankreich auf beiden Seiten des Libyen-Konfliktes
ihren Dienst verrichten.

Die aufgezeigten Risiken sind natürlich nicht aus-
schließlich an dem vorgelegten Gesetzentwurf festzuma-
chen, er trägt aber zu einer Aufweichung des deutschen
Rüstungsexportregimes bei. Das dürfen wir nicht zulas-
sen, schon gar nicht auf diese Art und Weise, auf die die
Bundesregierung versucht hat, diesen Gesetzentwurf
völlig ohne Debatte durch das Parlament zu bringen. Als
Grünenfraktion werden wir ihn deshalb ablehnen. Die
Bundesregierung wäre besser beraten, sich europaweit
für eine restriktivere und besser kontrollierte Rüstungs-
exportpolitik einzusetzen. Was die Transparenz und par-
lamentarische Kontrolle der Genehmigungspraxis der
Regierung betrifft, sind uns viele unserer europäischen
Nachbarn deutlich voraus. Daran könnten wir uns ein
Beispiel nehmen. Wenn europäische Standards verein-
heitlicht werden, dann sollte dies nicht nur bei der ver-
einfachten Verbringung, sondern vor allem auch bei der
Ausfuhrkontrolle geschehen!


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710828500

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5794, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5262 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke. Enthaltungen? – Keine. Der Ge-
setzentwurf ist in der zweiten Beratung so angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsergebnis
wie in der vorherigen Abstimmung angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so-
wie den Zusatzpunkt 6 auf:





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit

(14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen),
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut –
Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO
in der „Global Health Governance“ stärken

– Drucksachen 17/5486, 17/5800 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Stephan Stracke

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr. Harald Terpe, Marieluise Beck (Bremen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

„Global Health Governance“ stärken – Ge-
sundheitsversorgung in Entwicklungs- und
Schwellenländern voranbringen

– Drucksachen 17/3437, 17/5801 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss (Wesel I)

Karin Roth (Esslingen)

Helga Daub
Niema Movassat
Uwe Kekeritz

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai
1959 kündigen – Für eine unabhängige und ef-
fektive WHO

– Drucksache 17/5769 –

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben.1) –
Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen dem Präsidium hier vor.

Tagesordnungspunkt 19 a. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion
der Sozialdemokraten mit dem Titel „Gesundheit ist ein
globales öffentliches Gut – Rolle der Weltgesundheitsor-
ganisation WHO in der ‚Global Health Governance‘
stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5800, den Antrag der
Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/5486
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –
Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.

1) Anlage 12
Tagesordnungspunkt 19 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „,Global Health Governance‘ stär-
ken – Gesundheitsversorgung in Entwicklungs- und
Schwellenländern voranbringen.“ Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5801, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/3437 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – So-
zialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.

Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5769
mit dem Titel „Vertrag zwischen IAEO und WHO vom
Mai 1959 kündigen – Für eine unabhängige und effek-
tive WHO“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion
Die Linke, und das ist eine Stimme der Sozialdemokra-
ten. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfrak-
tionen. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der SPD mit
einer Ausnahme. Der Antrag ist abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Situation der Sinti und Roma in Europa ver-
bessern

– Drucksache 17/5767 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1710828600

10 bis 12 Millionen Roma leben in Europa. Sie bilden

in den europäischen Staaten die größte historisch ge-
wachsene ethnische Minderheit. Zu ihnen zählen neben
der Gruppe der Sinti die Kalé, Gitanos, Manouches,
Fahrende und Gens du Voyage. Die Aufzählung der
Gruppen, die sich selbst zu den Roma zählen, ist Indiz
für die Vielzahl der Traditionen, unterschiedlicher
Lebensweisen und Lebenssituationen. Die Kultur der
Roma ist fester Bestandteil ihrer ethnischen Identität.

Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

Ihre religiösen Bräuche sind untrennbar mit kulturellen
Ausdrucksformen verbunden. Unser Antrag erwähnt
auch, dass die Sprache der Roma, ihre Reinheitsgebote
und ihr Rechtssystem feste Bestandteile ihrer Identität in
unterschiedlicher Intensität und Ausprägung sind.
Heute sind schätzungsweise 80 Prozent der Roma sess-
haft. Mehr als 1 800 nationale Romaorganisationen ge-
hören dem European Roma and Travellers Forum an,
das eine privilegierte Stellung innerhalb des Europara-
tes einnimmt und dem Teilnahme an den Entscheidungs-
prozessen des Europarates eingeräumt sowie dessen
Unterstützung zugesichert werden. Auch die große Viel-
falt innerhalb der Roma-Gemeinschaft bringt es mit
sich, dass keine pauschalen Lösungen für die Verbesse-
rung der Situation dieser Minderheit aus dem Ärmel ge-
schüttelt werden können.

Und doch sind bereits – ungeachtet der noch immer
in vielen Ländern Europas schwierigen Situation der
Roma – erste Lösungsansätze gefunden, die es dringend
zu implementieren gilt. Wichtig ist – das will ich betonen –,
dass sowohl die EU-Mitgliedstaaten mit ihren nicht den
Roma angehörenden Bürgerinnen und Bürgern als auch
die Roma und ihre Organisationen selbst in gemein-
schaftlicher Verantwortung an den notwendigen Verbes-
serungen mitarbeiten wollen und müssen.

Es reicht nicht, zu fordern und die Rahmenbedingun-
gen für eine Integration der Roma-Kinder und der Ju-
gendlichen ins Schulsystem der europäischen Staaten zu
schaffen. Die Roma müssen ihren Kindern auch die
Möglichkeit einräumen, die Schule zu besuchen. Der
Anteil der Romakinder im Schulalter macht es dringend
notwendig, dass die staatlichen Schulsysteme die Kinder
aufnehmen. 35,7 Prozent der Roma sind unter 15 Jahre
alt. Einer Erhebung des Open Society Institute aus dem
Jahr 2008 zufolge besuchen nur rund 10 Prozent der Ro-
makinder eine Sekundarschule, eine nur begrenzte Zahl
schließt die Grundschule ab. Bildung jedoch ist der
Schlüssel zur Integration. Schule weist Lebenschancen
zu und ist in den Mitgliedstaaten der EU eine unver-
zichtbare Institution der Sozialisation.

Diese Chancen müssen durch die jungen Roma er-
griffen werden; denn der Mehrheit der Roma im er-
werbsfähigen Alter fehlt die notwendige Bildung für
zahlreiche Arbeitsstellen. Oft jedoch fehlt der Wille, der
die Voraussetzung für Integration ist, der Wille, neue
Wege zu gehen. Die Roma selbst sind aus ihren Traditio-
nen heraus auf Separation bedacht. Nach wie vor sind
Roma europaweit Intoleranz und Vorurteilen ausgesetzt.
Sie sind insbesondere von Diskriminierung betroffen,
vor allem in den gesellschaftlichen Bereichen des Woh-
nens, des Arbeitens, der Bildung und der medizinischen
Versorgung. Diese Diskriminierung findet weniger
durch die jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen, son-
dern aus dem Alltagsverständnis der Menschen heraus
statt.

Die Problemlage ist also sehr komplex. Umso begrü-
ßenswerter sind die Ansätze auf europäischer Ebene.
Für die Förderung der Integration der Roma steht be-
reits ein legislatives, finanzielles und politisches Instru-
mentarium zur Verfügung. Mit verschiedenen Struktur-
Zu Protokoll
fonds, wie mit dem Europäischen Sozialfonds, hält die
EU Geldmittel bereit, die auch für die gesellschaftliche
Integration der Roma und anderer benachteiligter
Gruppen in Anspruch genommen werden können.

Unter dem spanisch-belgisch-ungarischen Ratsvor-
sitz wurde die soziale und wirtschaftliche Integration
der Roma zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht. Am
5. April 2011 veröffentlichte die Europäische Kommis-
sion eine Mitteilung zu einem europäischen Rahmen für
nationale Strategien zur Integration der Roma. Sie ver-
anschlagt im EU-Haushalt dafür bis zu 26,5 Milliarden
Euro, um die Mitgliedstaaten bei ihren Maßnahmen zur
Verbesserung der sozialen Integration auch der Minder-
heit der Roma zu unterstützen.

Die Achtung und der Schutz von Minderheiten zählen
zu den Kopenhagener Kriterien. Diese müssten eigent-
lich alle Staaten erfüllen, bevor sie der Europäischen
Union beitreten können. Aber wie in einigen anderen
Bereichen auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfah-
ren in der Frage der Roma sehr leichtfertig über gravie-
rende Defizite, die es bis zum heutigen Tage gibt,
hinweggegangen. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür
dankbar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das
Schicksal und die Situation der Roma dieses Jahr zu ei-
nem zentralen Thema gemacht hat, und das vor dem
Hintergrund, dass es in Ungarn selbst problematische
Situationen gibt.

In Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskri-
minierung noch eine Ausgrenzung der Roma. Aber es
gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche
Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem
Hause vermutlich klar. Wichtig ist, dass die in Deutsch-
land lebenden Sinti und Roma alle Möglichkeiten der
Teilhabe haben. Deutschland trägt bereits auf europäi-
scher Ebene zur Integration der Roma bereits auf viel-
fältige Weise bei. In den Ländern des westlichen Balkans
fördert Deutschland aktiv sowohl in internationalen Fo-
ren wie der OSZE und des Europarates als auch durch
verschiedene bilaterale Projekte die Integration der
Roma. Ein Beispiel ist die Förderung zahlreicher Pro-
jekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen des Stabi-
litätspaktes sowie im Rahmen der Menschenrechte. Viel
gemeinsame Arbeit ist noch zu leisten, durch die Mit-
gliedstaaten und alle Bürgerinnen und Bürger, Roma
wie Nichtroma. Integration ist immer eine gemeinsame
Sache und kann auch nur durch das Zusammenwirken
der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit gelingen.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1710828700

Der uns seit diesem Mittwoch morgen vorliegende

Antrag der CDU/CSU und FDP zu der Situation der
Sinti und Roma liest sich, wie sich Waschlappen anfüh-
len. Keine einzige der zwölf Forderungen verlangt von
der Bundesregierung in Zukunft ein Mehr an Engage-
ment. Stattdessen bleiben Sie Ihrem „Weiter so!“-Motto
treu. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie diesen Antrag tat-
sächlich aus bloßer Verlegenheit eingebracht haben. Ihr
mangelndes Interesse an dem Thema und Ihre man-
gelnde Handlungsbereitschaft bleiben dennoch nicht
verborgen.
gegebene Reden




Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)

Ich bedauere sehr, dass Sie Ungarn und dessen aktu-
ellen EU-Ratsvorsitz für die Fortsetzung des Engage-
ments in der Romadekade und bei der Verabschiedung
des Rahmenbeschlusses für die nationalen Strategien
zur Romaintegration loben, aber zu den aktuellen Vor-
kommnissen in Ungarn schweigen. Spätestens kurz vor
Ostern wurde auch in unserer Presse bekannt, dass
Rechtsradikale in Ungarn zurzeit Jagd auf Roma ma-
chen: „Kommt nur raus, ihr Zigeuner, heute Abend wer-
det ihr sterben“, so etwas musste der 13-Jährige von
Rechtsextremisten verprügelte Romajunge aus Gyöngy-
öspata, einem 2 800-Seelen-Dorf in der Nähe von Buda-
pest, hören. Und das ist kein Einzelfall. „Schutzmach-
ten“ und Bürgerwehren haben sich gebildet. Mit
Schlägen, Steinen und Fackeln attackierten sie wieder-
holt die Romabewohner seines Dorfes. Zu Ostern gab es
einen rechtsradikalen Ansturm auf das Dorf, woraufhin
das Rote Kreuz 300 Romabewohner mit Bussen evaku-
ierte. Die ungarische Regierung nannte dies einen „lang
geplanten Ausflug“, ich nenne dies „Augen verschlie-
ßen“. Die allgemeinen rechtsradikalen Tendenzen und
die aktuellen Ausbrüche finden bei der rechtskonservati-
ven Alleinregierung unter Victor Orban leider kein poli-
tisches Gegengewicht.

Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass Sinti
und Roma die bei weitem unbeliebteste ethnische Min-
derheit in Europa ist. Unabhängig davon, dass es gene-
rell diskriminierend ist, Sympathien nach Gruppenzuge-
hörigkeiten zu verteilen – der Antiziganismus gewinnt in
Europa an Fahrt, trotz zahlreicher guter Initiativen und
Programmen der Europäischen Union. So begrüße ich
ausdrücklich die Initiative des Europäischen Parla-
ments, welche alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, na-
tionale Integrationsstrategien bis zum Ende des Jahres
vorzulegen.

Auch Sie erwähnen und begrüßen diese Strategie in
Ihrem Antrag. Aber leider verpassen Sie die Möglich-
keit, eine deutsche nationale Strategie anzukündigen
und die Situation in unserem Land kritisch zu reflektie-
ren. Es wird gefordert, die Wohn-, Bildungs-, Arbeits-
und Gesundheitssituation in anderen europäischen Län-
dern zu verbessern. Sicherlich gibt es Abstufungen:
Roma in Ungarn, Rumänien oder der Slowakei leben un-
ter noch schwierigeren Bedingungen als in Deutschland.
Aber Zoni Weisz hat bei seiner Rede im Januar 2011 vor
dem Deutschen Bundestag keinen Zweifel gelassen: Wir
müssen uns auch in Deutschland mit der Lebenssitua-
tion der Sinti und Roma beschäftigen. Auch in Deutsch-
land sind Romakinder überdurchschnittlich häufig in
Haupt- und Sonderschulen beschult, haben kaum Aus-
sicht auf höhere Bildungsabschlüsse oder reguläre Be-
schäftigung. Wir müssen uns hier im Rahmen der natio-
nalen Integrationsstrategien mit Romaverbänden und
dem Zentralrat zusammensetzen und gemeinsam Lö-
sungsansätze entwickeln.

Etwas mehr hätte ich mir auch zu dem Thema Rück-
führungen in das Kosovo versprochen. Denn auch Sie
wissen, die Lebenssituation von Roma, Ashkali und
Ägyptern ist im Kosovo von Diskriminierung und daraus
resultierender extremer wirtschaftlicher Not geprägt.
Deshalb muss unserer Meinung nach in jedem Einzelfall
Zu Protokoll
besonders sorgfältig geprüft werden, ob den Betroffenen
die Rückkehr ausnahmsweise zumutbar ist. Ist dies nicht
der Fall, darf keine Abschiebung erfolgen. Es gibt nach
wie vor im Kosovo keine ausreichende Aufnahme- und
Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder
mittellose Rückkehrer. Unterstützung gibt es weder von
kosovarischen noch von internationalen Institutionen.
Zwar hat die kosovarische Regierung 2007 ein Pro-
gramm zur Reintegration von Rückkehrern aufgelegt.
Aber die Behörden halten ihre diesbezüglichen Ver-
pflichtungen nicht ein. Abgeschobene Rückkehrer sind
deshalb entweder völlig auf sich selbst gestellt oder auf
Hilfe aus dem Familienverbund angewiesen. Eine
UNICEF-Studie belegt dies und weist auf die Auswir-
kungen hin: Kinder können nicht mehr in die Schule ge-
hen, Familien leben wohnungs- und obdachlos. Per-
spektive: null. Ich frage mich, wie Sie dies in Kenntnis
dieser Situation mit Ihrem christlichen Gewissen und
mit unserem Grundgesetz zu rechtfertigen glauben. Ich
appelliere an Sie: Nehmen Sie die Aufforderung zur Ent-
wicklung einer nationalen Strategie ernst, entwickeln
Sie diese mit den Romaverbänden und dem Zentralrat.
Holen Sie die Bundesländer und Gemeinden ins Boot.
Stoppen Sie die unreflektierten Abschiebungspläne und
setzen Sie sich für eine humanere Lösung ein. Nehmen
Sie Ihre Verantwortung innerhalb Europas wahr und
verwandeln Sie Ihr „Weiter so!“ in ein „Mehr Engage-
ment“. Wie Sie das machen können, dürfen Sie gern un-
serem demnächst eingereichten Antrag entnehmen.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1710828800

Wie wir im März angekündigt haben, bringen wir nun

einen eigenen Antrag der christlich-liberalen Koalition
zur Integration der Sinti und Roma in den Deutschen
Bundestag ein. Inhaltlich ausgewogen und sachorien-
tiert, zielt er auf eine effektive Verbesserung der gesell-
schaftlichen Situation der Roma und Sinti in Deutsch-
land und Europa ab. Der als „Porajmos“ bezeichnete
Völkermord an den europäischen Sinti und Roma in der
Zeit des Nationalsozialismus bedingt die besondere his-
torische Verantwortung Deutschlands gegenüber diesen
Menschen. Mit seiner bewegenden Rede in diesem Haus
hat uns Zoni Weisz am 27. Januar, dem Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus, an unsere Geschichte
erinnert. Er war der erste Vertreter der Sinti und Roma,
der bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
das Wort ergriffen hat. Mit dem Begriffspaar „Sinti und
Roma“ wird die etwa 10 bis 12 Millionen Menschen um-
fassende und damit größte ethnische Minderheit Europas
bezeichnet. Es ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von
Volksgruppen, die in allen Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union beheimatet sind. Sie leben bereits seit Jahr-
hunderten in Europa. Sie gehören zu uns, das wird allzu
häufig vergessen.

Seit einigen Jahren beobachten wir europaweit er-
schreckenderweise einen zunehmenden Schub von Ras-
sismus und Nationalismus, der sich häufig gegen Sinti
und Roma richtet. So auch derzeit in Ungarn, wo die
rechtsextreme und offen antiziganisch auftretende Partei
Jobbik als drittstärkste Partei im ungarischen Parla-
ment sitzt. Eine selbsternannte Bürgerwehr hat in den



gegebene Reden

Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

letzten Monaten mehrfach mit provokanten Aufmär-
schen die ungarischen Roma in Angst und Schrecken
versetzt. Wie es scheint, reicht dieses rechtsextreme Ge-
dankengut auch bis tief in die ungarische Polizei hinein.
In vielen Ländern Europas sind Sinti und Roma Intole-
ranz und Vorurteilen ausgesetzt. Im gesellschaftlichen
Alltag findet ihre Diskriminierung vor allem in den Be-
reichen des Wohnens, des Arbeitens, der Bildung und
der medizinischen Versorgung statt. Die Situation gro-
ßer Teile der Sinti und Roma hat sich während der letz-
ten Jahrzehnte in dieser Hinsicht erheblich verschlech-
tert. Heute wohnen diese Menschen häufig segregiert,
teilweise kommt es zu einer Ghettoisierung, ihre Stadt-
viertel werden stigmatisiert. Europaweit werden über-
durchschnittlich viele ihrer Kinder in Sonderschulen oder
in reine Schulen für Sinti und Roma mit vereinfachtem
Lehrplan abgeschoben. Dadurch erhalten ihre Kinder
eine deutlich schlechtere Schulbildung als ihre Altersge-
nossen, verlieren jede Chance auf gesellschaftliche Inte-
gration, Arbeit und damit auf individuelle Freiheit. Dies
verstärkt Armut und Perspektivlosigkeit unter den Sinti
und Roma und fördert ihre soziale, kulturelle und wirt-
schaftliche Ausgrenzung. Teilweise werden sie sogar Op-
fer von offener, fremdenfeindlicher, körperlicher Gewalt.

Darüber hinaus ist uns als FDP besonders daran
gelegen, auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Über-
durchschnittlich häufig werden Sinti und Roma Opfer
von Menschenhandel; in einigen EU-Staaten machen sie
bis zu 80 Prozent der Opfer aus. Meist geschieht dies
zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung oder der Zwangs-
arbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der Armut die-
ser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart mit Perspek-
tivlosigkeit und einem eingeschränkten Zugang zu
rechtsstaatlichen Mitteln. Daher halte ich es für richtig,
dass unser Antrag die Bundesregierung auffordert, auch
in Zukunft bei der Bekämpfung des Menschenhandels
verstärkt auf die Sinti und Roma zu achten.

Unser vorliegender Antrag benennt all diese komple-
xen und interdependenten Probleme deutlich. Auch die
Bundesregierung hat diese Probleme erkannt und be-
teiligt sich aktiv an nachhaltigen Lösungen auf natio-
naler, aber eben besonders auf europäischer Ebene. In
Deutschland – um nur zwei konkrete Beispiele zu
nennen – arbeitet die Bundesregierung im Beirat der An-
tidiskriminierungsstelle des Bundes eng mit dem Zentral-
rat Deutscher Sinti und Roma zusammen. Sie unterstützt
das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti
und Roma in Heidelberg und stärkt damit die For-
schungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Auch die
Bundesländer und Kommunen sind in Form von kulturel-
len und sozialen Projekten sehr aktiv, um die gesell-
schaftliche Integration der Sinti und Roma zu fördern,
wobei gleichzeitig ihre Identität, Kultur und Sprache
gewahrt werden müssen.

Anhand einiger Beispiele möchte ich außerdem kurz
verdeutlichen, dass die Bundesregierung auch ihre in-
ternationalen Verpflichtungen und ihre Verantwortung
gegenüber den Sinti und Roma ernst nimmt. Aktuell ist
die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht bemüht, ihre
Integration in Deutschland und Europa zu unterstützen.
Dazu gehört nicht nur die aktive Rolle der Bundes-
Zu Protokoll
regierung in internationalen Foren wie der OSZE oder
dem Europarat. Das Auswärtige Amt fördert zahlreiche
Menschenrechtsprojekte zur Unterstützung der Sinti und
Roma im Rahmen des EU-Stabilitätspaktes für Süd-
osteuropa. Die Bundesregierung unterstützt EU-weite
Kampagnen wie „Dosta!“, die durch Aufklärung zum
Abbau von Vorurteilen und Ausgrenzung beitragen, und
macht sich in der EU dafür stark, die Europäische
Grundrechtecharta als Teil des Primärrechts konse-
quent in die Praxis umzusetzen.

Genau hier müssen wir unsere Arbeit fortsetzen und
uns um eine europaweite Integration der Sinti und Roma
bemühen. Folgerichtig fordert unser Antrag daher die
Bundesregierung auf, sich weiterhin bi- und multilateral
für die Verbesserung der Situation der Sinti und Roma in
Europa einzusetzen. Zoni Weisz hat uns ermahnt, es
dürfe nicht sein, dass Sinti und Roma im 21. Jahrhundert
immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance
auf eine bessere Zukunft beraubt werden. Ich denke, un-
ser Antrag zeugt davon, dass wir uns seine Mahnung zu
Herzen nehmen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710828900

Bereits zum dritten Mal befasst sich das Plenum des

Deutschen Bundestages in diesem Jahr, also 2011, mit
der Situation der Sinti und Roma in der Geschichte und
aktuell, in Europa und hierzulande. Das ist bemerkens-
wert, aber auch nötig. Sinti und Roma sind die in Europa
am meisten – vielfach systematisch – diskriminierte Be-
völkerungsgruppe. In Frankreich wurden sie des Landes
verwiesen. In Rumänien müssen sie in Ghettos leben. In
der Slowakei wurde ihnen gleichberechtigte Bildung
verwehrt. In Ungarn trommeln rechte Schlägertrupps
zur Hatz gegen sie, ohne dass der Staat die so bedrohten
Sinti und Roma hinreichend schützt.

Aber auch die Bundesrepublik Deutschland ist nicht
frei von Schuld. Zwei Drittel aller hier lebenden Sinti
und Roma fühlen sich benachteiligt und ausgegrenzt,
schätzt der Zentralrat der Sinti und Roma ein. Und der
Deutsche Presserat gibt kund: In jeder seiner Sitzungen
müsse er sich mit Beschwerden zum medialen Umgang
mit Sinti und Roma befassen. Ich belasse es bei dieser
knappen Schilderung. Aber schon sie zeigt: Es gibt aku-
ten Handlungsbedarf.

Die EU-Kommission hat Anfang April 2011 einen
„Rahmen für nationale Strategien zur Integration der
Roma bis 2020“ beschlossen. Nach einer umfangreichen
Analyse mit Handlungsempfehlungen mündet er in das
„Fazit: Jetzt ist Handeln angezeigt“, und zwar im Drei-
klang „EU, national und regional“. Diesem Anliegen,
so unterstelle ich positiv, folgen die CDU/CSU und die
FDP mit ihrem Antrag „Situation der Sinti und Roma in
Europa verbessern“, zumal einige Passagen textgleich
mit der EU-Vorlage sind. Aber das ist noch kein Gütesie-
gel.

In der Kürze der Zeit kann ich nur auf wenige Mängel
hinweisen. Sie beginnen bei den zwölf Schlussfolgerun-
gen. Bestenfalls vier davon haben etwas mit der Lage
der Sinti und Roma hierzulande zu tun. Zwei Drittel klin-
gen wie ein außenpolitisches Kommuniqué. Ich finde,



gegebene Reden

Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

die Linke findet: So darf man sich vor den eigenen Pro-
blemen nicht wegducken. Ich empfehle den Antragsstel-
lern zudem: Geben Sie ihre zwölf Empfehlungen einmal
Bürgerinnen und Bürgern zu lesen, die nicht im Politik-
deutsch verfangen sind. Ich garantiere, die werden nur
„Bahnhof“ verstehen, so allgemein und unverbindlich
sind sie formuliert. Niemand wird dort ein entschlossenes
„jetzt ist Handeln angezeigt“ herauslesen.

Sie weichen akuten Problemen weiterhin stur aus.
Drei will ich exemplarisch benennen: Erstens. CDU/
CSU und FDP bleiben bei der umstrittenen Abschiebe-
praxis von Sinti und Roma ins kriegs- und krisenge-
schüttelte Kosovo, also ins asoziale Unbestimmte. Laut
UNICEF erzeugt die Bundesrepublik Deutschland damit
– Zitat – „eine Generation entwurzelter Flüchtlingskin-
der“, Kinder übrigens, die zum größten Teil hier gebo-
ren wurden und hier zuhause sind. Das ist inhuman und
unverantwortlich.

Zweitens. Ich finde es unbillig, wenn CDU/CSU und
FDP in anderen EU-Ländern gleichberechtigte Bildung
für Sinti und Roma fordern, daheim aber nichts dafür
tun. Auch hierzulande haben Sinti- und Romakinder
keine gleichberechtigten Bildungschancen. Die Bundes-
regierung beklagt es und erklärt sich zugleich für nicht
zuständig. Das ist schizophren, aber logisch, weil das
Bildungssystem falsch ist. Auch darüber ist zu reden.

Drittens und abschließend: Natürlich fehlt nicht der
Verweis auf die Geschichte der Sinti und Roma, auf den
Versuch des NS-Regimes, sie auszurotten, und auf die
dadurch wahrzunehmende besondere Verantwortung
Deutschlands. Ein Denkmal südlich des Reichstagsge-
bäudes soll demnächst daran erinnern.

Viele Sinti und Roma haben eine viel irdischere
Sorge. Die Gräber ihrer Holocaustüberlebenden sollen
eingeebnet werden, weil deren Frist nach deutscher
Friedhofsordnung abgelaufen sei. Holocaust und deut-
sche Friedhofsordnung? Ich finde das instinktlos und
geschichtsvergessen. Aber auch dazu findet sich im Ko-
alitionsantrag kein Lösungsvorschlag.

Die Linke plädiert für eine ehrliche und offene Bera-
tung des vorliegenden Antrags in den Ausschüssen. Wir
sind dazu bereit. Dazu gehört aber auch, dass man die
Unbill der Sinti und Roma nicht länger als fremdes Leid
ansieht, sondern als gesellschaftliches Problem. Es geht
auch nicht um Minderheitenrechte, sondern um ver-
briefte Bürgerrechte. Ergo: Jetzt ist Handeln wirklich
angesagt!


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710829000

Es ist gut, wenn sich die Bundesregierung für die Ver-

besserung der Situation der Sinti und Roma in Europa
einsetzen will. Es bleibt nur die Frage, warum die Koali-
tionsfraktionen nur nach Rumänien, Ungarn und Bulga-
rien blicken, anstatt damit anzufangen, die Lage der
Roma und Sinti hier in Deutschland zu verbessern. So
würde die Bundesregierung zugleich mehr Glaubwür-
digkeit gegenüber den EU-Mitgliedstaaten gewinnen,
wenn es darum geht, die Diskriminierung der Sinti und
Zu Protokoll
Roma in diesen Ländern anzugehen, was richtig und
wichtig ist.

Die Bundesregierung kritisiert die soziale, kulturelle
und wirtschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung
der Roma und Sinti in Europa zu Recht. Im Kosovo wer-
den Roma beispielsweise sowohl auf ethnischer als auch
auf religiöser und gesellschaftlicher Ebene diskrimi-
niert. Kosovo-Roma sind dort gravierenden Einschrän-
kungen in Bezug auf ihr Recht auf Freizügigkeit und ihre
anderen fundamentalen Menschenrechte ausgesetzt, ein-
schließlich schwerwiegender gesellschaftlicher und ad-
ministrativer Diskriminierungen, die sie insbesondere
daran hindern, ihre politischen, sozialen und wirtschaft-
lichen Rechte auszuüben. UNHCR beobachtet ihre Dis-
kriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Gesund-
heitswesen, Bildung, Recht auf Eigentum und Zugang zu
Polizei und Gerichten. Trotz all dieser offensichtlichen
und zum Beispiel von UNICEF gut dokumentierten
Missstände hat sich die Bundesregierung entschieden,
am 12. April 2010 ein Rücknahmeabkommen mit der ko-
sovarischen Regierung abzuschließen, das die Rückfüh-
rung von fast 12 000 Angehörigen der Minderheiten der
Roma, Ashkali und Kosovo-Ägypter vorsieht. Da hilft es
auch nicht, wenn die Bundesregierung behauptet, sie
würde die Rückkehrer mit Angeboten und dem Rück-
kehrprojekt „URA II“ unterstützen. Die Unterstützungs-
maßnahmen werden nur in Priština angeboten, also
kann nur eine geringe Anzahl von Personen davon pro-
fitieren, da der Großteil der zurückgeführten Roma nicht
in Priština lebt. Fahrten nach Priština können sich aber
nur die Wenigsten leisten. Die Hilfsangebote laufen also
ins Leere. Außerdem dürfen nur Rückkehrer aus Baden-
Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und
Sachsen-Anhalt an „URA II“ teilnehmen. Roma aus an-
deren Bundesländern erhalten diese Hilfe nicht. Schließ-
lich läuft die Unterstützung durch „URA II“ schon nach
sechs Monaten aus. Das erwähnt die Bundesregierung
nicht, auch nicht die Tatsache, dass „URA II“ nichts da-
ran ändert, dass Roma im Kosovo weder eine Lebens-
perspektive noch Lebensgrundlage finden. Eine Einglie-
derung ist im Kosovo nicht möglich, weil es eigentlich
nichts gibt, in das die Rückkehrer und ihre Familien ein-
gegliedert oder integriert werden können. 90 Prozent
der Roma im Kosovo sind arbeitslos und können keine
wirtschaftliche Existenz aufbauen. Die kosovarischen
Behörden haben schlichtweg nicht die Kapazitäten,
12 000 Angehörige von Minderheiten aufzunehmen und
erfolgreich zu integrieren. Untersuchungen der OSZE
haben ergeben, dass in den Bereichen Gesundheit, Bil-
dung, Beschäftigung und Unterbringung keinerlei Maß-
nahmen oder finanzielle Mittel vorgesehen sind, um
zurückgeführte Personen wieder in die Gesellschaft ein-
zugliedern. Das führt dazu, dass diese Menschen oftmals
über keinerlei Unterstützung verfügen oder keine Infor-
mationen über den Zugang zu den genannten minimalen
Leistungen erhalten.

Nicht grundlos richtete sich der Menschenrechtskom-
missar der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parates, Thomas Hammerberg, an Bundeskanzlerin
Angela Merkel und wies darauf hin, dass es derzeit un-
verantwortlich und inakzeptabel sei, Angehörige von



gegebene Reden





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)

Minderheiten in das Kosovo abzuschieben. Erschwerend
kommt hinzu, dass deutsche Behörden Angehörige der
Roma oft ohne gültige Papiere in das Kosovo abschie-
ben. Ohne gültige Personenstandsdokumente können
aber keinerlei Hilfen oder Leistungen beantragt werden.
Die Bundesregierung ist also dringend aufgefordert,
niemanden ohne gültige Papiere in das Kosovo zurück-
zuführen und das deutsch-kosovarische Rücknahmeab-
kommen für Roma aus dem Kosovo auszusetzen.

Besonders schwierig ist die Lage von Romakindern
im Kosovo. 37 Prozent von ihnen leben in extremer Ar-
mut, das heißt von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag.
Fast 5 000 Kinder sind von den durchgeführten oder ge-
planten deutschen Rückführungen in das Kosovo betrof-
fen, zwei Drittel von ihnen sind hier in Deutschland
geboren. Bei ihnen handelt es sich nicht um eine „Rück-
führung“, sondern um eine Abschiebung in ein fremdes
Land. Eine Studie von UNICEF hat ergeben, dass drei
von vier zurückgeführten Kindern im Kosovo die Schule
nicht mehr besuchen. Dieses Ergebnis ist alarmierend.
Ein beträchtlicher Anteil hat keine Geburtsurkunde und
kann damit auch das Recht auf Bildung, medizinische
Versorgung oder soziale Unterstützung nicht durchset-
zen. Sowohl in Deutschland als auch im Kosovo müssen
viele Kinder in den Flüchtlingsfamilien wegen chroni-
scher Erkrankungen der Erwachsenen viel zu früh viel
zu viel Verantwortung übernehmen.

In Deutschland schränkt das Ausländer- und Asyl-
recht den Zugang von Kindern aus Flüchtlingsfamilien
zu Bildung, medizinischer Versorgung und sozialer Teil-
habe gravierend ein. So müssen sie beispielsweise vor
Arztbesuchen eine behördliche Genehmigung einholen,
damit Behandlungskosten übernommen werden. Statt
mit dem Finger auf osteuropäische Staaten zu zeigen,
sollte die Bundesregierung erst einmal vor der eigenen
Haustür kehren. Beginnen könnte sie damit, dem Kin-
deswohl in allen Belangen oberste Priorität einzuräu-
men. In Deutschland hätte das zur Konsequenz, dass
asyl- und ausländerrechtliche Bestimmungen dahin-
gehend geändert werden, dass Flüchtlingskinder nicht
länger diskriminiert werden. Bei Entscheidungen über
Aufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete muss
das Wohl des Kindes der ausschlaggebende Faktor sein.
Kinder und Jugendliche aus dem Kosovo, die in
Deutschland gut integriert sind, sollten ein dauerhaftes
Bleiberecht erhalten. Schon aus humanitären Gründen
sollten Romakinder nicht in das Kosovo zurückgeführt
werden. Sie würden in ein Land und in eine Umgebung
verpflanzt, in der sie keinerlei Chancen auf ein men-
schenwürdiges Leben und eine normale Entwicklung ha-
ben.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710829100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5767 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Staatsminister für Ostdeutschland bestellen

– Drucksache 17/5522 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.


Manfred Behrens (CDU):
Rede ID: ID1710829200

Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der Frak-

tion Die Linke zum Thema „Staatsminister für Ost-
deutschland bestellen“. Mit der Bundestagsdrucksache
17/5522 fordert die Fraktion Die Linke die Berufung ei-
nes „Staatsministers für Ostdeutschland“ und deklariert
die Bestellung des Parlamentarischen Staatssekretärs
beim Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Christoph
Bergner, als Zeichen der „Diskriminierung der Belange
Ostdeutschlands“. Zudem bezeichnet die Fraktion Die
Linke die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregie-
rung für die Neuen Bundesländer als Zeichen „fehlen-
der Innovation und andauernder Ignoranz der Bundes-
regierung beim Thema Ostdeutschland“.

Wir können dieser Argumentation nicht folgen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht ganz deutlich zum
Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister
des Innern, Herrn Dr. Christoph Bergner. Im März 2011
übernahm er die Aufgabe des Beauftragten der Bundes-
regierung für die Neuen Bundesländer von Thomas de
Maizière, der zuvor Bundesinnenminister und zugleich
Beauftragter war.

Als Beauftragter koordiniert Herr Dr. Christoph
Bergner sehr wichtige Politikfelder der Bundesregie-
rung für die neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-
Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Er vertritt deren Interessen nach innen und außen. Dazu
arbeitet Herr Dr. Christoph Bergner mit den Bundes-
ministerien und Regierungen der neuen Bundesländer
zusammen. Im Bundesministerium des Innern wird er in-
haltlich vom Arbeitsstab „Angelegenheiten der Neuen
Bundesländer“ unterstützt. Innerhalb der Referate küm-
mern sich zahlreiche Mitarbeiter um einzelne wichtige
politische Belange. Die Themengebiete reichen von
Wirtschafts- und Investitionsförderung über Infrastruk-
tur, Forschungs- und Gesundheitspolitik bis hin zur Auf-
arbeitung des SED-Unrechts.

Bereits diese personelle Ausstattung spricht eindeutig
für eine hohe Priorität, die die Bundesregierung dem
Thema verleiht. Darüber hinaus ist Herr Dr. Christoph
Bergner ehemaliger Ministerpräsident des Landes Sach-
sen-Anhalt und in seiner seit November 2005 ausgeüb-
ten Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern in besondere Weise geeignet,
die Belange wahrzunehmen.

Die Forderung, dass die Funktion „Staatsminister für
Ostdeutschland“ 21 Jahre nach der Wiederherstellung
der staatlichen Einheit Deutschland erfolgen soll, ist

Manfred Behrens (Börde)



(A) (C)



(D)(B)

eindeutig der Klientelpolitik der Fraktion Die Linke ge-
schuldet, die sich vorzugsweise als Anwalt der Belange
der neuen Länder versteht.

Ihre Behauptung, sehr geehrte Damen und Herren
von der Fraktion Die Linke, dass Ostdeutschland groß-
flächig von ökonomischer Schwäche betroffen sei, ist
schlichtweg falsch. Denn 20 Jahre nach dem Mauerfall
hat die ostdeutsche Wirtschaft in vielen Bereichen auf-
geholt. Die Zahlen und Bilanzen der Forschungsinsti-
tute sind eindeutig. Das Produktivitätsniveau in den
neuen Bundesländern ist seit der Wiedervereinigung um
40 Prozent auf mehr als 70 Prozent gestiegen. Natürlich
ist der „Gesamtrückstand“ noch nicht aufgeholt, aber
der Angleichungsprozess verläuft sehr ordentlich und
zufriedenstellend. Die Wirtschaftsleistung in den neuen
Bundesländern steigt an.

Es war unmittelbar nach der deutsch-deutschen Wie-
dervereinigung schier unmöglich, die Wirtschaftsleis-
tung von null auf hundert hochzufahren. Die Vorausset-
zungen dafür waren einfach nicht gegeben. Inzwischen
hat sich dies geändert. Das haben wir der klugen Politik
der CDU-geführten Bundesregierung sowie der CDU-
geführten Landesregierungen zu verdanken.

Auch die folgenden Jahre werden noch dazu genutzt,
die Wirtschaft in den neuen Bundesländern weiter zu un-
terstützen, damit das Niveau der alten Bundesländer er-
reicht werden kann. In den vergangenen zwei Jahrzehn-
ten hat sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern
sehr gut entwickelt. Der Fortschritt ist beachtlich und
lobenswert. Vor allem gemessen an der Wirtschaftslage
vor dem Mauerfall ist dieser Fortschritt in Branden-
burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An-
halt und Thüringen beachtlich. Ich wiederhole es gern in
aller Deutlichkeit: Die Aussage der Fraktion Die Linke,
dass Ostdeutschland großflächig von ökonomischer
Schwäche betroffen sei, ist schlichtweg falsch. Schauen
Sie sich die Erfolgsmodelle in den neuen Bundesländern
an. Die Regionen im thüringischen Jena und in Sonne-
berg weisen eine Arbeitslosenquote von 6 bzw. 7 Prozent
auf. Auch der gesamte Wartburgkreis um Eisenach hat
aktuell 7 Prozent. Die Kaufkraft ist stark gestiegen.

Nehmen Sie das Beispiel Sachsen-Anhalt. Der Land-
kreise Börde weist mit 8,4 Prozent die geringste Quote in
Sachsen-Anhalt auf. Auch zahlreiche Regionen in Sach-
sen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wei-
sen ähnlich positive Zahlen auf. Insgesamt ist die Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft
sehr erfolgreich. Die CDU/CSU ist zudem fest ent-
schlossen, diesen erfolgreichen Weg weiterzugehen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion fragt sich, wieso nach
über zwei Jahrzehnten deutsch-deutscher Wiederver-
einigung noch immer von „Ostdeutschland und West-
deutschland“ gesprochen wird. Das Ziel ist doch, eine
Gesellschaft zu schaffen, in welcher der gesamtdeutsche
Gedanke dominiert und nicht gedanklich zwischen Ost-
und Westdeutschland unterschieden wird. Die Menschen
sollen sich als „Deutsche“ fühlen, nicht als Ost- oder
Westdeutsche. Einzig und allein die Fraktion Die Linke
versucht, diese Begrifflichkeiten aufrechtzuerhalten und
damit ihre Spartenpolitik zu legitimieren. Das ist nicht
Zu Protokoll
anständig, wenn man sich das eigentliche Ziel vor Au-
gen führt!

Es ist inzwischen eine neue Generation herange-
wachsen. Diese Generation ist 1990 geborenen und in-
zwischen 21 Jahre alt. Für diese jungen Bürgerinnen
und Bürger existiert kein Ostdeutschland und West-
deutschland. Für sie gibt es nur ein gemeinsames
Deutschland. Und das ist positiv. Die Spaltungspolitik
der Fraktion Die Linke sollte diesen Prozess nicht stop-
pen dürfen. Insgesamt lehnt die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion den Antrag damit allumfassend ab.


Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1710829300

Unbestritten ist, dass die ostdeutschen Bundesländer

besondere Beachtung verdienen. Unbestritten ist auch,
dass sie diese notwendige Beachtung von dieser Bundes-
regierung nicht erhalten. Schauen wir auf die letzten
Haushaltsberatungen, die massive soziale Einschnitte
zur Folge hatten, oder aber auch aktuell auf die ge-
plante Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung,
die im Wesentlichen darin besteht, dass die Herabstu-
fung der Wasserwege ausschließlich den Osten Deutsch-
lands betrifft. Wir stellen fest, dass die Belange Ost-
deutschlands nicht berücksichtigt werden. Im Gegenteil,
verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre
Entscheidungen treffen Ostdeutschland stets besonders
hart.

Ich glaube jedoch nicht, dass Ihre Politik davon ab-
hängt, ob der Beauftragte Minister oder Staatssekretär
ist. Nein, ich glaube viel eher – und einen anderen
Schluss lässt Ihre Politik nicht zu – , dass die Interessen
Ostdeutschlands generell keine hohe Priorität bei Ihnen
genießen – egal bei wem und in welcher Form dieses
Amt auch angesiedelt ist! Anders lässt sich Ihr Verhalten
nicht erklären. Wenn dann da noch Herr Bergner als Zu-
ständiger für Ostdeutschland in einem Interview sagt,
die Aufgabe sei bescheidener geworden, bestätigt mich
das nur in meiner Auffassung. Wie kann man denn nur
davon reden, dass die Aufgabe bescheidener geworden
sei? Wo wird denn hier der Maßstab angelegt? Wenn wir
natürlich den Haushaltsplan mit seinen Kürzungen für
Ostdeutschland als Maßstab nehmen, lässt sich zwar
schlussfolgern, dass die Koalition der Meinung ist, dass
die Aufgabe „bescheidener“ geworden ist. Der Aufga-
benumfang hat sich aber mitnichten geändert, eher wohl
die Aufgabenbeschreibung, und das wird sich in Zukunft
noch deutlicher zeigen.

Es reicht heute schon nicht mehr und in naher Zu-
kunft schon gar nicht mehr aus, den Blick nur Richtung
Ost und West zu wenden und hier miteinander zu verglei-
chen. Das wäre zu kurz gesprungen. Die Disparitäten
zeichnen sich geografisch nämlich nicht nur zwischen
Ost und West ab, wie der Antrag der Linken suggeriert,
sondern auch zunehmend zwischen dem Norden und
dem Süden Deutschlands. Wir müssen Deutschland und
seine Regionen ganzheitlich betrachten. Damit meine
ich, dass wir in jeder Himmelsrichtung sowohl struktur-
schwache Regionen als auch prosperierende Gegenden
vorfinden. Das sind keine Charakteristika mehr, die man
typischerweise dem Osten oder dem Westen zuordnen



gegebene Reden

Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)

kann. Und eben dieser Entwicklung muss Rechnung ge-
tragen werden, zum Beispiel bei der Struktur der För-
derprogramme. Es kommt nicht auf den Titel desjenigen
an, der sich insbesondere für die Belange Ostdeutsch-
lands einsetzen soll. Es kommt darauf an, wie es derje-
nige versteht, seine Aufgabe mit Leben zu erfüllen. Es ist
im weitesten Sinne nicht Aufgabe eines Einzelnen, son-
dern es müssen alle, in diesem Fall die gesamte Koali-
tion, an einem Strang ziehen. Unserer Unterstützung für
die ostdeutschen Belange, für die Interessen struktur-
schwacher Regionen im Gesamten können Sie sich
sicher sein. Leider ist es hier mit Ihrem Enthusiasmus
nicht weit her. Das ist bedauerlich; denn hier geht es um
die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Die
nächsten anstehenden Beratungen werden zeigen, wie
ernst Sie diese Thematik nehmen.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1710829400

Gegenstand dieser Debatte ist ein Antrag der Partei

Die Linke, in dem sie fordert, den Beauftragten der Bun-
desregierung für die Neuen Bundesländer formell zum
„Staatsminister für Ostdeutschland“ im Bundeskanzler-
amt zu machen. Ich persönlich komme übrigens aus
Thüringen, mitten in Deutschland, und fühle mich als
Mitteldeutscher. Ich frage mich also, warum wir die Auf-
gaben des jetzigen Beauftragten geografisch einschrän-
ken sollten. Schon von 1998 bis 2002 hatte der Beauf-
tragte den Titel eines Staatsministers. Dies lag aber an
der Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes. In den
Ministerien heißt die gleiche Funktion „Staatssekretär“.
Eine besonders kreative Idee ist das also nicht. Das ei-
gentliche Ziel, billige und plumpe Kritik, ist deutlich und
hier nur in eine andere Verpackung gehüllt. Auch dieser
Antrag reiht sich ein in die Kategorie „Schublade“. Im-
mer wenn die Kreativität ausbleibt, greift man in die
Schublade und zieht einen Antrag. Deshalb ist der An-
trag nicht ernst gemeint. Der vorgelegte Antrag beinhal-
tet keine kreativen Ideen, wie der Aufbau Ost vollendet
werden kann. Entscheidend ist bei der Bewertung, ob er
den Menschen in Ost- und Mitteldeutschland etwas
bringt oder ob es sich um reine Symbolpolitik handelt.
Mit dem auf den ersten Blick wohlklingenden Posten ei-
nes „Staatsministers für den Osten“ will man die Men-
schen glauben machen, dass damit die Probleme besser
gelöst werden könnten. Dies ist nicht so. Nicht Titel, son-
dern Taten sind entscheidend.

Bemerkenswert ist, dass sich hier die Linke wieder
einmal als Anwalt der Ostdeutschen aufspielt, obwohl
sie für die ganze Misere bis vor 20 Jahren, für die struk-
turellen Nachteile der Neuen Bundesländer verantwort-
lich sind. Während ihrer 40-jährigen Regierungszeit und
unter einer fatalen Ideologie, zu der sich einige Unver-
besserliche zurücksehnen, wurden in der ehemaligen
DDR große Betriebe unwirtschaftlich und unproduktiv,
der Mittelstand komplett zerschlagen und Kleinstunter-
nehmen jeglicher Bewegungsspielraum genommen. In-
sofern klagen die Antragsteller hier Missstände an, für
die sie selbst die Hauptverantwortung tragen.

Statt irgendwelche „Postenplanspiele“ zu betreiben
und „Funktionärsschach“ zu spielen, ist es deshalb we-
sentlich hilfreicher und produktiver, sich weiter darauf
Zu Protokoll
zu konzentrieren, wie wir die noch bestehenden Pro-
bleme inhaltlich lösen. Genau das haben alle Bundesre-
gierungen seit 1990 gemacht, und das macht die jetzige
Bundesregierung mit Engagement und Weitsicht. Und
das vermisst man bei den Linken. Nur mit einem populis-
tischen Etikettenwechsel werden Konzepte und Ideen
nicht anders und vor allem nicht besser. Im Vordergrund
muss also stehen, wie wir die nach wie vor bestehenden
Probleme und Notwendigkeiten angehen, um die deut-
sche Einheit so bald wie möglich endgültig zu vollenden.
Dies möchte ich hier gerne noch einmal benennen: Das
ist zum einen die immer noch sehr hohe Abwanderung.
Noch immer reißt der Strom vor allem junger, gut ausge-
bildeter Menschen vom Osten in den Westen nicht ab.
Die Folge sind massive demografische Probleme: Über-
alterung, Frauenmangel, Verödung von Städten und Re-
gionen. Darauf müssen wir uns einerseits einstellen,
weil die Entwicklung nicht ganz zurückgedreht werden
kann. Die Bundesregierung erarbeitet hierfür gerade
eine Demografiestrategie, die noch dieses Jahr zu-
kunftsweisende Maßnahmen aufzeigen wird, die auch
auf den Westen angewendet werden können. Anderer-
seits müssen wir auch die Ursachen bekämpfen. Richtig
ist, dass die ostdeutschen Regionen im Durchschnitt bei
der Wirtschaftskraft, trotz aller positiven Entwicklun-
gen, noch immer hinterherhinken. Ein Schlüssel, dies zu
überwinden, liegt unter anderem in der Stärkung der
Innovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unter-
nehmen in Verbindung mit wirtschaftsnahen For-
schungseinrichtungen. Auch hier ist die Bundesregie-
rung sehr engagiert, indem sie unter anderem die
Innovationsförderung auf hohem Niveau hält.

Auf die neuen Länder werden massive Finanzierungs-
schwierigkeiten zukommen. Dem muss entgegengewirkt
werden durch eine konsequente Durchführung des Soli-
darpakts II und Übergangsregelungen für das Auslaufen
der EU-Förderung. Auch diesbezüglich hat die Bundes-
regierung unter Federführung des Bundesinnenministe-
riums sehr gute Arbeit bei den Verhandlungen auf EU-
Ebene geleistet und viel erreicht. Auch andere Ansatz-
punkte hat die Bundesregierung erkannt und betreibt sie
mit Nachdruck und Engagement. Diese sind:

– Anwerbung internationaler Investoren durch bessere
Vernetzung und Bekanntmachung der Vorzüge Ost-
und Mitteldeutschlands im Ausland

– Sicherung des Fachkräftebedarfs durch regionen-
spezifische Ansätze

– Förderung des strukturellen Zusammenwachsens der
mittelosteuropäischen Regionen.

Schließlich möchte ich auch betonen, dass wir die
Aufarbeitung des Unrechts der SED-Diktatur weiterhin
vorantreiben müssen, um dieses Kapitel endlich ab-
schließen zu können und die Versöhnung der Menschen
zu ermöglichen. Auch hier sind die Bemühungen dieser
Bundesregierung beispielhaft. So überarbeiten wir ge-
rade das Stasiunterlagengesetz und stellen sicher, dass
bei der Aufarbeitung nicht nachgelassen wird. Gerade
an diesem Punkt haben sich die Urheber des vorgelegten
Antrags bislang nur durch Geschichtsklitterung und



gegebene Reden

Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

Verharmlosung hervorgetan. Konstruktive Beiträge ver-
misst man hingegen.

Zur Vollendung der deutschen Einheit müssen viele
verschiedene Ressorts beitragen, die vom Bundesbeauf-
tragten koordiniert werden. Das Innenministerium hat
sich als sehr guter Ort erwiesen, die genannten Pro-
bleme anzugehen. Im Mittelpunkt muss weiterhin stehen,
auf welche Weise und mit welchem Engagement die Pro-
bleme angegangen werden und nicht, wie man das
Ganze benennt oder wo man es ansiedelt. Und in dieser
Hinsicht hat diese Bundesregierung bewiesen, dass sie
verstanden hat, was notwendig ist, und dass sie gewillt
ist, mit großem Engagement das Notwendige umzuset-
zen, und zwar in allen betroffenen Ressorts. Das hat sie
getan, das tut sie und das wird sie tun. In diesem Zusam-
menhang betrachte ich es auch geradezu als Beleidi-
gung, wenn die Linke in ihrem Antrag schreibt, dass der-
zeit die Belange Ost- und Mitteldeutschlands „mit noch
geringerem Engagement“ vertreten würden oder wenn
sie gar der Bundesregierung „andauernde Ignoranz“ in
dieser Beziehung vorwirft. Soll das heißen, dass das En-
gagement bisher „gering“ war? Soll das heißen, dass
der Transfer von Hunderten Milliarden, der Aufbau ei-
ner höchst modernen Infrastruktur, die mühevolle und
sensible Aufarbeitung von 40 Jahren sozialistischer Dik-
tatur, der beispiellose wirtschaftliche Aufholprozess Er-
gebnis eines „geringen“ Engagements des Bundes wa-
ren? Und in einem weiteren Punkt geht der vorgelegte
Antrag an der Realität vorbei. Die Belange Ost- und
Mitteldeutschlands werden auch weiterhin eine starke
Stimme im Bundeskabinett haben. Es ändert sich nichts
daran, dass die Koordinierungsfunktion an oberster
Stelle im Bundesinnenministerium angesiedelt ist. Der
Bundesinnenminister wird also weiterhin die Belange
Ost- und Mitteldeutschlands vertreten, sowohl in der Öf-
fentlichkeit als auch im Bundeskabinett. Dass ihm dies
ein wichtiges Anliegen ist, hat Hans-Peter Friedrich bei
der Amtsübernahme immer wieder, auch in einem per-
sönlichen Gespräch mit mir, ausdrücklich versichert.
Der vorgelegte Antrag ist abzulehnen, weil er reine Sym-
bolpolitik ist und inhaltlich nichts dazu beiträgt, dass
die Problem Ost- und Mitteldeutschlands gelöst werden.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710829500

In den zurückliegenden Jahren haben die Menschen

in Ostdeutschland ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen.
Das hat maßgeblich mit ihrer ungebrochenen Tatkraft
und ihrem Willen, die gesellschaftliche Transformation
erfolgreich zu gestalten, zu tun. Ostdeutsche Bundeslän-
der sind führend bei der Entwicklung und Nutzung
erneuerbarer Energien, einer zeitgerechten landwirt-
schaftlichen Produktionsweise, sie besitzen Vorsprünge
und nutzbaren Sachverstand in der möglichen und
machbaren Verbindung von Erwerbsarbeit und Kinder-
betreuung, in der gezielten Gesundheitsversorgung, in
der nachhaltigen Bildungs- und Ausbildungspolitik. Und
es ließe sich noch vieles mehr aufzählen. Warum also
immer wieder Ostdeutschland? Muss das denn noch
sein, mehr als 20 Jahre nach der deutschen Einheit?
Weshalb sieht sich meine Fraktion immer wieder ge-
zwungen, Anträge in dieses Parlament einzubringen, die
sich explizit mit der Situation in Ostdeutschland be-
schäftigen? Die Antwort ist so einfach wie wahr. Auch
Zu Protokoll
20 Jahre nach der deutschen Einheit herrscht – trotz des
Erreichten – keine innere Einheit. Die Löhne in Ost-
deutschland liegen im Schnitt rund ein Fünftel unter, der
Anteil der Hartz-IV-Beziehenden dagegen deutlich über
dem Bundesdurchschnitt. Rund 2 Millionen Ostdeutsche
haben ihre Heimat seit der Einheit in Richtung West-
deutschland verlassen, um dort Arbeit zu finden. Die
schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt wirkt sich bereits
heute auf die kommenden Generationen aus: In vielen
ostdeutschen Städten leben mehr als ein Drittel aller
Kinder in Armut. Es herrscht eine fortgesetzte Ren-
tenungerechtigkeit zwischen ost- und westdeutschen
Rentnern, die ebenfalls aufgrund der verfestigten Lohn-
differenz in Ost und West an die kommenden Generatio-
nen weitergegeben werden wird.

Die Antwort auf die von mir formulierten Fragen,
auch wenn die Mehrheit der anderen hier im Hohen
Hause vertretenen Fraktionen die Position der Linken
nicht teilt, kann nur lauten: Ja, sich insbesondere mit
den ostdeutschen Bundesländern und der Situation ihrer
Bevölkerung zu beschäftigen, ist zwingendes politisches
Gebot. Doch in der Bundesregierung scheint Ost-
deutschland dauerhaft abgeschrieben worden zu sein.
Seit März 2011 wurde die Funktion des Beauftragten der
Bundesregierung für die neuen Bundesländer vom neu
berufenen Bundesminister des Inneren, Hans-Peter
Friedrich, an seinen Parlamentarischen Staatssekretär,
Dr. Christoph Bergner, übertragen. Es ist zu erwarten,
dass die Belange Ostdeutschlands zukünftig mit einem
noch geringeren Interesse vonseiten der Bundesregie-
rung vertreten werden, als dies in den zurückliegenden
Jahren der Fall gewesen ist.

Wir als Linke sind hingegen überzeugt, dass, obwohl
die soziale und ökologische Situation in Ostdeutschland
die Menschen vor große Herausforderungen stellt und
obwohl der industrielle Nachbau West als Entwicklungs-
pfad für den Osten endgültig gescheitert ist, in Ost-
deutschland große Potenziale und Chancen für die re-
gionale und gesamtdeutsche Entwicklung liegen. Doch
diese müssen durch eine kluge Politik befördert und un-
terstützt werden.

Die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern
haben den Grundstein gelegt, dass Ostdeutschland Im-
pulsgeber und Innovationsmotor für einen sozial-ökolo-
gischen Umbau der Gesellschaft werden kann. Darin
werden sie von der Linken unterstützt. Wir als Linke
fordern die Bundesregierung und die Mehrheit dieses
Parlaments auf, sich uns anzuschließen. Einen Staats-
minister für Ostdeutschland zu bestellen und die Ost-
deutschlandpolitik der Bundesregierung auf die Höhe
der Zeit zu befördern, kann dabei nur ein erster, aber
notwendiger Schritt sein. Im Übrigen könnte der Staats-
minister dann zugleich aus seinem Amte den Komplett-
umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin
managen. Der aktuelle Teilungskostenbericht der Bun-
desregierung, der dem Haushaltsausschuss vorliegt,
zeigt einmal mehr, wie unsinnig, ineffektiv, unökologisch
und enorme Summen an Steuergeldern verschleudernd
die Aufteilung der Bundesregierung auf zwei Standorte
ist. Eine die gesamte Bundesregierung beheimatende
Bundeshauptstadt Berlin wäre zudem ein wichtiges
Signal für die innere Einheit der Republik.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710829600

Die Fraktion Die Linke schlägt die Umbenennung des

Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bun-
desländer in „Staatsminister/in für Ostdeutschland“
vor. Insbesondere mit dem Recht zur Teilnahme an den
Sitzungen der Bundesregierung soll die Person mehr
Mitwirkungsrechte erhalten.

Ein genauer Blick in die Geschäftsordnung der Bun-
desregierung allerdings zeigt, dass Staatssekretäre auf
Wunsch des zuständigen Ministers ohnehin an den Kabi-
nettssitzungen teilnehmen dürfen. Das gilt auch für Be-
amte aus den Ministerien, bei besonderem Wunsch und
Antrag des Ministers. Ob die Politik für Ostdeutschland
wahrnehmbar ist, hängt doch nicht vom Titel auf der Vi-
sitenkarte ab, sondern von der Persönlichkeit, die diese
Funktion mit konkreten Inhalten füllt. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, nach Ihrem Vorschlag am
Anfang dieser Legislaturperiode zur „Einsetzung eines
Ausschusses für die Herstellung gleichwertiger Lebens-
verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland“ ist es
nun der zweite Antrag, in dem Sie ausschließlich auf
Strukturveränderungen abzielen, ohne auf derzeit beste-
hende Handlungsspielräume einzugehen. Mit diesem
Schaufensterantrag zeigen Sie leider nur, dass Ihnen of-
fensichtlich die politischen Ideen ausgehen. Statt Hand-
lungsansätze für die vor uns liegenden Aufgaben in den
Regionen Ostdeutschlands zu entwickeln, fallen Ihnen
nur neue Gremien und Funktionen ein.

Dennoch, wir teilen Ihre Kritik an der Bundesregie-
rung, die dem Aufgabenfeld Aufbau Ost ohne erkennba-
res Konzept begegnet. Auch wir sehen den Bundesbeauf-
tragten für die neuen Länder im falschen Ressort
angesiedelt. Der Arbeitsstab für die Angelegenheiten
der neuen Bundesländer wurde Herrn Dr. Thomas de
Maizière, CDU, aufgrund seiner Reputation und Erfah-
rungen zugeordnet und so rein formal und nicht sachbe-
zogen dem Innenministerium übertragen. Wir teilen zu-
dem die Ansicht, dass mit dem neuen Amtsinhaber
Dr. Hans-Peter Friedrich, CSU, der sich bislang wenig
mit aktuellen Fragestellungen Ostdeutschlands befasste,
das Thema ganz aus dem gesellschaftlichen und politi-
schen Fokus zu rücken droht. Angesichts des auslaufen-
den Solidarpakts und des Auslaufens der EU-Ziel-1-
Förderung, der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung
und der demografischen Verwerfungen in Ostdeutsch-
land ist dringend ein Paradigmenwechsel im Aufbau Ost
geboten. Gefordert sind neue Politikansätze, neue ge-
sellschaftliche Debatten.

Wir fordern die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel
deshalb auf, die künftige Politik für die ostdeutschen
Bundesländer zur Chefsache zu erklären, das Amt des
Bundesbeauftragen der Bundesregierung für die neuen
Länder wieder im Kanzleramt zu verankern – so wie be-
reits in den Jahren 1998 bis 2002 – und es entsprechend
den Herausforderungen als Querschnittsressort mit ins-
besondere finanziellen Handlungsspielräumen auszu-
statten.

Wir dürfen nicht vergessen: In Deutschland versteti-
gen sich räumliche Disparitäten. Wir haben de facto
wirtschaftlich potente Wachstumskerne neben abgekop-
pelten Regionen mit spezifischen strukturellen Proble-
men, gerade in ländlichen Regionen, die durch den de-
mografischen Wandel zusätzlich benachteiligt sind. Die
wirtschaftliche Entwicklung stagniert und der Anstieg
des Bruttoinlandsprodukts im Osten war im letzten Jahr
niedriger als im Westen. Ostdeutschland hat nach wie
vor eine wesentlich höhere Arbeitslosenquote, das Brut-
tolohnniveau liegt bei rund 80 Prozent des Westniveaus.
Aber die aktuelle Politik der Bundesregierung erschwert
den Angleichungsprozess, statt ihn voranzutreiben. Die
Kürzungen der Bundesregierung, die mit steigenden So-
zialausgaben bei den ostdeutschen Kommunen verbun-
den sind, haben erhebliche strukturelle Auswirkungen.
Es ist an der Zeit, dass eine Akzentverschiebung von In-
frastruktur- zu Innovationsförderung angeschoben wird.
Angesichts der sinkenden Haushaltsbudgets muss eine
strategische Neuausrichtung der Förderpolitik jetzt und
nicht erst nach 2013 diskutiert werden. Das erfordert
eine ressortübergreifende Verankerung des Arbeitssta-
bes für die ostdeutschen Bundesländer im Bundeskanz-
leramt.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710829700

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5522 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden, somit ist die Überweisung auch beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzi-
sieren und die Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung reformieren

– Drucksache 17/5056 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Kein Personalabbau bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung – Aufgaben an ökolo-
gischer Flusspolitik ausrichten

– Drucksache 17/5548 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor, und ich ver-
zichte auf die Verlesung.

(A) (C)



(D)(B)


Matthias Lietz (CDU):
Rede ID: ID1710829800

Im Dezember des letzten Jahres sprach ich zum An-

trag der SPD-Fraktion „Zukunftsfähigkeit der WSV si-
chern“. In meinen damaligen Ausführungen hatte ich
kurz den Entwicklungsverlauf der Reform der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung skizziert, der bis dato statt-
gefunden hatte. Diesen Verlauf müssen Sie sich nämlich
vor Augen führen, wenn Sie über den heutigen Stand der
WSV-Reform sprechen. Ich führte aus, dass das Bundes-
verkehrsministerium bereits 1999 die Projektgruppe
„Entwicklungskonzepte für eine zukunftsorientierte
WSV – Konzentration der WSV auf Kernaufgaben“ ein-
richtete, die vor dem Hintergrund bisheriger und künfti-
ger Personaleinsparungen sowie knapper werdender
Haushaltsmittel die künftige Aufgabenstruktur und kon-
krete Umsetzungsvorschläge ermitteln sollte. Ziel des
Gutachtens war die zukunftsfähige Gestaltung der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Mit Blick
auf eine künftige Aufgabenstruktur der WSV und ihre
Kernaufgaben prüfte die Projektgruppe unter anderem:
Welche Aufgaben müssen oder sollen durch die WSV mit
welcher Intensität selbst wahrgenommen werden und
welche nicht? Welche Aufgaben können oder sollen
durch Dritte wahrgenommen werden? Wo können Auf-
gaben sogar ganz entfallen?

Der Abschlussbericht wurde 2001 vorgelegt. Aber
anschließend passierte viele Jahre nichts – nämlich ge-
nauso lange wie das Verkehrsministerium von der SPD
geführt wurde. Die damalige Führung des Hauses hatte
sich lieber dafür entschieden, bestehende Strukturen der
WSV zu zementieren, statt eine echte Reform der WSV in
Angriff zu nehmen und diese zukunftsfest zu machen.

Unter christlich-liberaler Führung hat das Bundes-
verkehrsministerium am 24. Januar 2011 einen Bericht
vorgelegt, mit dem erstmals ein ernsthafter Schritt in die
vom Bundesrechnungshof schon seit Jahren angemahnte
Reform der WSV beschritten wird.

Liebe Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke, Ihre Anträge stam-
men vom 16. März 2011 bzw. vom 14. April 2011 und
nehmen überwiegend Bezug auf den Bericht des Bundes-
verkehrsministeriums zur WSV-Reform vom 24. Januar
2011. Allerdings sind wir in der Diskussion schon einen
Schritt weiter.

Am 29. April 2011 legte das Bundesverkehrsministe-
rium seinen zweiten Bericht zur Reform der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung vor, in dem es weitere Maßgaben
des Haushaltsausschusses bezüglich der WSV-Reform
erfüllt und Nachbesserungen zum Januarbericht liefert.
Die ersten Schritte zu einer Reform der WSV sind also
getan. Und das große Echo, das damit ausgelöst wurde,
mahnt uns Parlamentarier, genau zu schauen, wie wir
den weiteren Reformweg beschreiten. Ebenso hat sich
der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in
seinen letzten Sitzungen ausführlich mit der Thematik
befasst und für seine Sitzung am 29. Juni 2011 eine öf-
fentliche Anhörung zu dem Thema beschlossen.

Die in Ihrem Antrag enthaltenen Ansätze, werte Da-
men und Herren der Grünen – wie zum Beispiel die Ka-
tegorisierung der Bundeswasserstraßen nicht nur nach
Zu Protokoll
den beförderten Tonnen pro Jahr vorzunehmen, sondern
weitere Faktoren in die Bewertung einfließen zu lassen
oder in die Kategorisierung der Netzstruktur der Bun-
deswasserstraßen nicht nur die messbaren Verkehrs-
ströme auf Wasserstraßen, sondern das gesamte Ver-
kehrsnetz zu analysieren und die vorhandenen bzw.
geplante Schienen-, Straßen- und Hafeninfrastruktur so-
wie regionale und volkswirtschaftliche Kriterien, Um-
welt- und Naturschutzaspekte und die Entwicklung des
Wassertourismus zu berücksichtigen –, werden in dieser
Anhörung auch eine wichtige Rolle spielen. Aufbauend
auf diesen Erkenntnissen, die in der Diskussion gewon-
nen werden, wird die Koalition mit dem Verkehrsminis-
terium die weiteren Schritte, die für die Reform notwen-
dig sind, analysieren. Dann wird es auch möglich sein,
zum Jahresende ein Gesamtkonzept zur Aufgaben- und
Personalstruktur und zur Aufbauorganisation der WSV
vorzulegen.

Dass dies nur im Dialog mit den Beschäftigten und
ihren Interessenvertretungen möglich ist, habe ich be-
reits in meiner ersten Rede zu diesem Thema deutlich
gemacht. An dieser Stelle möchte ich noch mal meine
Bereitschaft zur weiteren, aktiven Zusammenarbeit mit
den Beteiligten erklären. Dem vorliegenden Antrag der
Grünen entnehme ich die grundsätzliche Bereitschaft,
Veränderungen in der Struktur der WSV vorzunehmen.
Aber mit Blick auf die noch anstehenden Beratungen
und Anhörungen und den sich daraus ergebenden Dis-
kussionsbedarf empfehle ich meiner Fraktion die Ableh-
nung Ihres Antrages.

Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Fraktion
Die Linke, in ihrem Antrag notwendige Strukturverände-
rungen vorzunehmen und damit den Empfehlungen des
Bundesrechnungshofs zu folgen, ist dieser ebenfalls ab-
zulehnen.


Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1710829900

Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung

des Bundes ist ein Thema, das für die Gewährleistung
eines zentralen Zweiges der Infrastruktur unseres Lan-
des von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Des-
halb begrüße ich es sehr, dass es auch die Beachtung der
Opposition gefunden hat. Leider gehen die Ausführun-
gen der Antragsteller – wie so oft – in vieler Hinsicht
fehl. Bitte lassen Sie mich zu einzelnen Punkten Stellung
nehmen und so das Verständnis dieser Materie bei der
Opposition zu erweitern. Zunächst möchte ich betonen,
dass es sich bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
des Bundes um eine leistungs- und serviceorientierte
Organisation der Daseinsvorsorge mit hochmotivierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern handelt.

Die Fraktion der Linken, die schon in der Überschrift
ihres Antrages einen Personalabbau kategorisch ab-
lehnt, verkennt dies offensichtlich gründlich und ver-
wechselt die Daseinsvorsorge des Staates, die möglichst
günstig und effektiv mit unser aller Steuergeldern er-
bracht werden muss, mit einem öffentlich geförderten
zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, der unantastbar sein
muss. Dies ist natürlich ein großer Irrtum, der sich aber
leicht durch die ideologischen Scheuklappen der Sozia-
gegebene Reden




Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)

listen erklären lässt. Wir dagegen gehen mit den Steuer-
geldern, mit Geldern, die die werktätige Bevölkerung
hart erarbeitet, verantwortungsbewusst um. Gewissen-
hafte Treuhänder verschwenden nicht das ihnen anver-
traute Geld, sondern versuchen, es möglichst effektiv
einzusetzen. Genau darum geht es unter anderem bei der
von uns angestrebten Reform der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes. Wir werden und müssen
die Balance zwischen knappen Ressourcen, dem öffentli-
chen Interesse an einer funktionierenden Infrastruktur
und den berechtigten Interessen der Beschäftigten her-
stellen. Genau diesen Zweck verfolgt und erläutert die
nunmehr vorliegende Endfassung des zweiten Berichts
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung. Dieser Bericht ist – wie ich gleich erläutern
werde – grundlegend für die parlamentarische Beratung
dieses Themas im Verkehrsausschuss des Bundestages.
Auch der zweite Teil der Überschrift des Antrags der So-
zialisten zeugt von einer völlig verfehlten Schwerpunkt-
setzung: Es ist selbstverständlich, dass ökologische As-
pekte ausgewogen berücksichtigt werden, wenn eine so
komplexe Infrastruktur wie die der Wasserwege vorge-
halten wird.

Es ist aber geradezu absurd, eine ökologische Fluss-
politik – was dies auch immer sein mag – als zweitwich-
tigste Aufgabe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
des Bundes zu identifizieren. Da sind unsere Kollegen
von der Linken auf einem völlig falschen Dampfer! Pri-
mär geht es darum, die Voraussetzungen dafür zu schaf-
fen, dass möglichst viele Güter mit dem umweltfreundli-
chen Verkehrsmittel Schiff transportiert werden können.
Dies ist sicherlich ein effektiverer Umweltschutz als die
Verhinderung von Schiffstransporten durch eine unreflek-
tierte Renaturierung von Gewässern. Dazu gehört vor al-
lem, dass wir einen tragfähigen Spagat zwischen Durch-
führungs- und Gewährleistungsverwaltung garantieren.
Auch uns ist klar, dass eine Privatisierung von Aufgaben,
die nur von einem Oligopol von Anbietern erfüllt werden
können, zwar zu einer Senkung der Personalkosten führen
mag, gewiss aber eine Steigerung der Gesamtkosten zei-
tigt. Diese Gefahr hat das Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung in dem Bericht auch ausdrück-
lich benannt. Daher gilt, dass Privatisierung weder – wie
von Teilern der Opposition immer wieder apostrophiert –
ein das Gemeinwesen schädigendes Monster noch – wie
von Menschen ohne ökonomischen Sachverstand propa-
giert – ein Allheilmittel oder Selbstzweck ist. Es kommt
hier – wie so oft im Leben – auf den Einzelfall an.

Eine angemessene Lösung ergibt sich nicht durch
eine ideologische Betrachtung, sondern durch eine kon-
krete Abwägung aller Umstände im Einzelfall. Dies
leugnen nur Ideologen! Ähnliches – und auch darauf sei
in diesem Zusammenhang noch einmal eindringlich hin-
gewiesen – gilt selbstverständlich auch für staatliches
Know-how. Es ist doch klar, dass die Auslagerung von
Aufgaben nicht zu einem Totalverlust von Wissen bei
dem Staat, der Institution, der unsere Bürger vertrauen
können, führen darf. Die Endfassung des zweiten Be-
richts des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung an den Deutschen Bundestag zur Re-
form der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung beantwor-
Zu Protokoll
tet viele der in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
aufgeworfenen Fragen. Der vorliegende Bericht der
Verwaltung ist als Arbeitsgrundlage für die parlamenta-
rische Diskussion der Reform der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes gut geeignet. Dafür ge-
bührt Bundesminister Dr. Ramsauer unser Dank. Dieser
Bericht zeichnet in einer begrüßenswerten Klarheit die
zentralen Linien der zu beschreitenden Reform mit kräf-
tigen Strichen vor, die jedoch sicherlich an der einen
oder anderen Stelle neu gezogen werden müssen.

Bedauerlicherweise unterliegt der Staat – wie jeder
Privatmensch auch – dem Zwang, mit den verfügbaren
Mitteln auskommen und mit ihnen akzeptable Ergeb-
nisse erzielen zu müssen. Dies gilt auch für den Bereich
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Ich
möchte dies für die ökonomisch weniger geschulten Kol-
legen von der Linken noch ein wenig plastischer ausdrü-
cken: Aus dem Geld, das wir haben, müssen wir das
Beste machen. Und genau dies werden wir nach vielen
Jahren unerklärlicher Versäumnisse auch tatsächlich
tun. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung hat daher dankenswerterweise schon mit
der für dieses Haus typischen Transparenz und Stringenz
Vorschläge gemacht, welche Wasserstraßen in welchem
Maße unterhalten werden sollen. Damit liegt dem Aus-
schuss eine belastbare Grundlage für die Diskussionen
der Fachpolitiker untereinander, aber auch mit den Be-
troffenen vor. Es ist sehr zu begrüßen, wenn die Verwal-
tung parlamentarische Entscheidungen durch präzise
Vorarbeiten erleichtert und beschleunigt. Aus meiner
langjährigen kommunalpolitischen Tätigkeit weiß ich,
dass sogar exzellente Vorlagen der Verwaltung im Rah-
men der politischen Diskussion – insbesondere aufgrund
des intensiven Dialogs mit den betroffenen Menschen –
noch weiter optimiert werden können.

Ich glaube nicht, dass wir – wie von den Grünen ge-
fordert – zur Überwachung der Umsetzung der Vor-
schläge eine Regierungskommission „Wasserstraße“
einsetzen müssen. Dies obliegt dem Deutschen Bundes-
tag, dazu sind wir auch in der Lage. Ich bin absolut
überzeugt davon, dass die in dem Bericht aufgezeigten
Restrukturierungsvorschläge nach einem vernünftigen
Dialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die
ich als motivierte und vernünftige Menschen kennenge-
lernt habe, zu Ergebnissen führen werden, die alle Betei-
ligten werden tragen können.

Ich sehe der weiteren Entwicklung mit einem großen
Optimismus entgegen und bin sicher, dass am Ende eine
Lösung gefunden werden wird, die eine zukunftsfeste
Wasserinfrastruktur und Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung sichert. Die wenig zielführenden Anträge von
Grünen und Linken werden von uns abgelehnt.


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1710830000

Wir beraten heute die Anträge von Bündnis 90/Die

Grünen und der Linken, die sich beide mit der Reform
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes be-
schäftigen. Die SPD hat ihren Antrag „Zukunftsfähig-
keit der WSV sichern“ bereits am 1. Dezember 2010 ein-
gebracht. Die WSV ist eine Bundesverwaltung, die – und
gegebene Reden




Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)

das ist eine Besonderheit in Deutschland – vom obersten
Dienstherrn, dem Bundesverkehrsminister, bis hin zu
den Facharbeitern und Beschäftigten an den Schleusen
und Außenbezirken reicht. Ihr Aufbau hat also keine fö-
derale Struktur, und das gibt allein durch die dadurch
bedingt hohe Anzahl an Bundesbeschäftigten regelmä-
ßig Anlass für unberechtigte Kritik. 12 633,5 Stellen
oder Planstellen werden vom Ministerium für 2010 an-
gegeben: Viel zu viele für „nur“ 7 300 Kilometer Bun-
deswasserstraße und gerade einmal 12 Prozent des Gü-
terverkehrs, lautet der ewige Ruf der Unwissenden oder
Böswilligen. Gerne wird dabei außer Acht gelassen,
dass andere Verwaltungen in Bundes- und Landesbe-
schäftigte unterteilt sind. Allein in NRW kümmern sich
1 260 Landesbeschäftigte der Autobahnmeistereien um
die 2 170 Kilometer Autobahn des Bundes auf nord-
rhein-westfälischem Boden. Ein Fluss ist aber keine
Straße, und daher sind die Aufgaben der WSV vielfälti-
ger Natur. Die Regelung des Schiffsverkehrs von der
schwarzen Flotte bis zum Kanu ist nur ein Teilbereich.
Die Bundesregierung hat in ihrem Kernaufgabengutach-
ten 120 Produkte, also Tätigkeitsfelder, aufgelistet – und
damit kommen wir zu des Pudels Kern; denn die hoheit-
lichen Aufgaben können wahre Goldgruben sein. Die lu-
krativen sollen endlich verteilt werden, wenn es nach
dem Willen der FDP geht. 39 vergabefähige Produkte
hat der zweite Bericht zur Reform der WSV schon ausge-
macht, 12 weitere könnten nach Bildung eines Marktes
von Dritten ausgeführt werden. Wer glaubt, hier ginge es
um ökonomische Optimierung, also um Einsparung von
Steuermitteln, der irrt; denn viele Beispiele zeigen uns,
dass sich kein Markt entwickelt und Monopolstellungen
die Kosten in die Höhe treiben oder die Ausführungs-
qualität der Arbeiten in den Keller. Nur ein Beispiel, die
Nassbaggerei. Ich zitiere aus dem Bericht: „Die Erfah-
rungen mit der Nassbaggerei im Küstenbereich belegen,
dass ein Nachfragemonopol im Regelfall zumindest mit-
telfristig ein Anbietermonopol ausbildet, welches dann
zu enormen Kostensteigerungen führt.“ Wider besseres
Wissen soll aber weiter privatisiert werden. Es kann also
nicht um Optimierung oder Mitteleinsparung gehen.
Aber, bitte, um was geht es der Koalition, wenn nicht um
Privatisierung hoheitlicher Aufgaben, auch wenn man
vorher schon weiß, dass es hinterher teurer wird? Was
ist geschehen? Die Koalition fordert am 27. Oktober
2010 per Beschluss des Haushaltsausschusses den Um-
bau der WSV von einer Ausführungs- in eine Gewähr-
leistungsverwaltung samt Übersicht der Stelleneinspa-
rungen. Damit das Ministerium auch spurt, wird gleich
eine Stellensperre verhängt. Grüne und Linke springen
der Koalition bei. Es folgt am 24. Januar 2011 der erste
Bericht. Er versetzt uns ins Staunen; denn er präsentiert
zwar keine Einsparungen, und mehr Aufgaben vergeben
will er eigentlich auch nicht, doch dafür unterbreitet er
eine Kategorisierung der Bundeswasserstraßen, mit
sehr weitreichenden Folgen für die Binnenschifffahrt in
Deutschland. Ein Schreckgespenst, das seitdem alle, die
mit schiffbarem Wasser zu tun haben, in Alarmbereit-
schaft versetzt, und das zu Recht! Denn die Pläne des
Bundesministers offenbaren seine skandalöse Sicht auf
den Verkehrsträger Wasserstraße. Ganze Flusssysteme
drohen „trockengestellt“, Landstriche wirtschaftlich
Zu Protokoll
abgehängt zu werden. „Das war doch gar nicht bestellt“
ruft es gleich aus der FDP. Doch wie der Zauberlehrling
schon sagte, diese Geister wird man so schnell nicht
mehr los, und sie treiben uns bis heute um. Da hilft auch
kein Schreiben an den Verkehrsminister. Die FDP wirft
all ihre Namen in die Schale und erklärt mit Schreiben
vom 25. Februar 2011 dem Minister, was sie von ihm er-
warten. Das ist der Versuch, sicherzustellen, dass der
Minister auch versteht, was sie wirklich wollen.

Ein zweiter Bericht soll nun Klarheit schaffen. Viele
Menschen in der WSV, der Binnenschifffahrt, der verla-
denden Wirtschaft, der produzierenden Wirtschaft und
auch aus dem Bereich der Freizeitschiffer, Sportboote
und Wassertouristik warteten gespannt auf den 30. April
2011, den Tag der Zustellung des Berichts. Kopfschüt-
teln allerorten; denn nach wie vor ist absolut unklar, was
denn das Haus damit will. Wieder gibt es nichts einzu-
sparen, weder Personal- noch Sachmittel, ein paar
Standorte sollen zusammengelegt, doch keine Stellen
mehr abgebaut werden, als sowieso schon vereinbart,
weiterhin wird an der untragbaren Kategorisierung der
Wasserstraßen festgehalten, und niemand findet ein gu-
tes Wort dafür. Kritik aus allen Richtungen, die Minister-
präsidenten der Länder stehen Schlange, auch die der
CDU-Länder. Bei einer Onlineumfrage gaben
63 Prozent der Binnenschiffer dem Minister eine glatte
Sechs für seine Binnenschifffahrtspolitik, und wieder
stellt die FDP fest, dass das es nun wieder nicht war. Ich
zitiere den Kollegen Staffeldt: Ein ganz großer Wurf ist
damit noch nicht gelungen. – Ja, aber was wollen Sie
denn, meine Damen und Herren von der Koalition, was
der Herr Bundesminister nicht versteht? Es wird doch
alles nur noch schlimmer. Was bisher gelaufen ist, ist ein
ganz unwürdiges Spiel auf dem Rücken der Beschäftig-
ten der WSV, ein Paradestück dafür, wie man keine Re-
form einleitet. Wäre es nicht so schlimm, könnte man
über dieses Theater nur schmunzeln, doch es steht ein
Verkehrsträger auf dem Spiel, unserer bundeseigenen
Infrastruktur drohen dramatische Einschnitte, und
ganze Wirtschaftsbereiche bangen um ihre Transport-
mobilität. Wollen Sie die WSV reformieren? Ja, darüber
lässt sich reden, wir sind dabei, aber nicht so! Wo es
sinnvoll und möglich ist, kann und muss die Behör-
denstruktur effizienter werden. Den Privatisierungs-
wahn der FDP machen wir aber nicht mit. Sie wollen
das Wasserstraßennetz neu strukturieren und Mittel kon-
zentrieren? Ja, auch darüber können wir reden! Aber
vorher erklären Sie mir, warum ganze Bundeswasser-
straßen wegen Geldmangels renaturiert werden sollen,
Anlagen verfallen und wir Millioneninvestitionen in die
Infrastruktur zu Bauruinen verkommen lassen sollen,
während Sie der Binnenschifffahrt gleichzeitig das Geld
entziehen. Ihre Politik der geschlossenen Finanzie-
rungskreisläufe bringt uns in diese Situation. Seien Sie
ehrlich: Es wird noch enger für die Wasserstraße. Ich
appelliere an Sie: Steuern Sie um, setzen Sie auf die um-
weltfreundlichen Verkehrsträger, bringen Sie die Güter
auf die Wasserstraße und die Schiene, erfüllen Sie Ihre
eigenen Ansprüche aus dem Aktionsplan Güterverkehr
und dem Nationalen Hafenkonzept! Für all das brau-
chen wir auch eine schlagkräftige WSV vor Ort.



gegebene Reden

Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)

Zuletzt ein Wort zu den Anträgen. Einiges geht in die
richtige Richtung, und bei vielen Punkten sehe ich auch
Übereinstimmung; doch die Grünen denken immer noch
in schwarz und weiß. Sie fordern zwar zur Kategorisie-
rung der Wasserstraße zu Recht eine Erweiterung der
Kriterien, beurteilen die Wichtigkeit der Wasserstraße
aber selbst am aktuellen Verkehrsaufkommen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, es gibt nicht nur „wichtige“
und „unwichtige“ Wasserstraßen, wenn unwichtig be-
deutet, dass dort nur noch Gewässerpflege erfolgen soll.
Im Ganzen weht in Ihrem Antrag der Hauch ökologi-
scher Nostalgie, und Sie versuchen, einen Keil zwischen
Schifffahrt und Ökologie zu treiben. Für uns ist das kein
Widerspruch, ganz im Gegenteil. Den Schwenk der Lin-
ken nach ihrem Fehlgriff im ersten Haushaltsbeschluss
begrüße ich. Der Antrag hat mir aber entschieden zu
viele dirigistische und zudem unkonkrete Ansätze. Ich
freue mich auf die weitere parlamentarische Auseinan-
dersetzung.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1710830100

Die Diskussion über die Reform der Wasser- und

Schifffahrtsverwaltung des Bundes beschäftigt uns jetzt
schon seit einiger Zeit, und sie wird nicht von allen Sei-
ten immer mit der ihr angemessenen Objektivität ge-
führt. Insbesondere Sozialdemokraten und Linkspartei
lassen jegliche Sachlichkeit vermissen. Sie diskreditie-
ren die Reformüberlegungen bei jeder Gelegenheit und
schrecken nicht einmal davor zurück, in der Öffentlich-
keit die Unwahrheit zu verbreiten.

Sie behaupten, die Regierungsfraktionen würden die
Verwaltung privatisieren wollen. Dieses ist schlicht die
Unwahrheit. Wir haben immer gesagt, dass wir überprü-
fen wollen, ob und welche vergabefähigen Produktgrup-
pen es in der WSV gibt, die durch Vergabe an Dritte wirt-
schaftlicher zu betreiben sind, als wenn dieses in
Eigenleistung der Verwaltung geschieht. Im Sinne eines
aktivierenden Staates können Aufgaben auch externali-
siert werden. Ist dies nicht der Fall, so werden die Aufga-
ben weiter von der WSV wahrgenommen werden, ganz
nüchtern, sachlich und frei von irgendwelcher Ideologie.
In die beschriebene Richtung stößt auch der Antrag der
Linkspartei, eine Aneinanderreihung von objektiv fal-
schen Annahmen und Behauptungen, die überhaupt kein
Gesamtkonzept erkennen lassen. Sollten Ihre Vorstellun-
gen Realität werden, ist die Zukunftsfähigkeit der WSV
gefährdet und mit ihr die Sicherheit und Leichtigkeit der
Schifffahrt.

Dem Antrag der Grünen hingegen kann ich eine ge-
wisse Sympathie entgegenbringen. Nachdem Sie als Teil
der rot-grünen Regierung mit dafür verantwortlich wa-
ren, dass die Reformbemühungen des Kernaufgaben-
papiers von 2001 gestoppt wurden, scheint ein Umdenk-
prozess stattgefunden zu haben. So finden sich in Ihrem
Antrag einige Ansätze, bei denen wir nah beieinander
sind.

Im zweiten Bericht stellt das Bundesverkehrsministe-
rium auf eine Kategorisierung der Wasserstraßen auf
der Basis der im Jahr 2025 prognostizierten beförderten
Tonnage ab. Wie Sie bin ich der Ansicht, dass die reine
Zu Protokoll
Betrachtung der Tonnage zu wenig ist, um die Bedeu-
tung einer Wasserstraße bemessen zu können. Die von
Ihnen hier gewünschte Präzisierung durch zusätzliche
Parameter wie Containereinheiten, Personenschifffahrt
oder den Wassertourismus gehen aus meiner Sicht in die
richtige Richtung. Allerdings springen Sie zu kurz; denn
zur angemessenen Beurteilung bedarf es einer gesamt-
wirtschaftlichen Betrachtungsweise, bei der unter ande-
rem auch Wertschöpfungsketten und kombinierte Ver-
kehre mit einfließen müssen. Darüber hinaus wünsche
ich mir, dass das Ministerium Transparenz darüber
schafft, wie es zu seiner Verkehrsprognose gelangt ist.

Im Übrigen muss an dieser Stelle darauf hingewiesen
werden, dass die Reformüberlegungen der christlich-li-
beralen Koalition grundsätzlich erst einmal gar nichts
mit einer Kategorisierung der Wasserstraßen zu tun ha-
ben. Die Reform dient dem Zweck, die Wasser- und
Schifffahrtsstraßenverwaltung zukunftsfähig, effizient
und leistungsstark zu erhalten. Eine Kategorisierung
kann sinnvoll sein, darf aber natürlich erst erfolgen,
wenn eine sorgfältige Aufgabenkritik erfolgte.

Darum ist die Anfrage der Grünen nach Vorlage ei-
nes Gesamtkonzeptes zur Aufgaben- und Personalstruk-
tur und der daraus abzuleitenden Aufbauorganisation
sinnvoll. Gleiches gilt für den Aufgabenkatalog, in dem
Sie eine Unterscheidung sämtlicher Tätigkeiten der
WSV zwischen Gewährleistungs- und Durchführungs-
verantwortung wünschen. Welchen Zweck eine Regie-
rungskommission erfüllen soll, erschließt sich mir nicht.
Glauben Sie denn ernsthaft, dass durch die Hinzuzie-
hung zusätzlicher Verbände die Entscheidungsprozesse
flexibler, zielgerichteter und effizienter erfolgen? Hier
habe ich den Eindruck, dass es Ihnen ausschließlich da-
rum geht, Ihre eigene Klientel mit einzubringen, um der
WSV zusätzliche Aufgaben aufzuerlegen, die nicht dem
hoheitlichen Auftrag der Verwaltung entsprechen. Alles
in allem haben die Grünen einen nicht ganz uninteres-
santen Antrag vorgelegt, der aus meiner Sicht allerdings
noch erhebliche Mängel aufweist. Über den Antrag der
Linken habe ich genug gesagt. Ich freue mich auf die
weiteren Beratungen.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710830200

Die Linke steht an der Seite der Beschäftigten der

Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Ar-
beit der WSV so verändern, dass sie fit für die Zukunft
ist. Sie soll künftig stärker an einer ökologischen Fluss-
politik ausgerichtet werden. Die Regierungsparteien
wollen die WSV zu einer sogenannten Gewährleistungs-
verwaltung machen. Die Beschäftigten dort sollen nur
noch Arbeiten planen, fremdvergeben und kontrollieren,
ob auch alles richtig gemacht wird. Die Arbeitsplätze
von Wasserbauern, Binnenschiffern, Arbeitern und An-
gestellten bei der WSV werden weitgehend überflüssig.
Das ist keine Reform, das ist die Zerschlagung der WSV.
Diese Pläne müssen vom Tisch.

Die Sicherheit und der Betrieb auf den Flüssen liegt
im gesamtwirtschaftlichen Interesse. Die WSV ist für
den reibungslosen Ablauf auf einem der am stärksten be-
fahrenen Wasserstraßennetze verantwortlich, sie orga-



gegebene Reden

Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

nisiert die Notfallvorsorge bei Schiffsunfällen, macht
Schadstoffbekämpfung, schützt die Infrastruktur für den
gewerblichen und privaten Verkehr auf Flüssen und Ka-
nälen und arbeitet auch heute schon daran, einen guten
ökologischen Gewässerzustand zu bewahren oder wie-
der herzustellen. Das ist Daseinsvorsorge, und die ge-
hört in die öffentliche Hand.

Da hat nichts mit Stillstand zu tun oder mit sturem
Festhalten an überholten Strukturen. Die WSV hat viele
Umbauten hinter sich. Gemeinsam mit externen Bera-
tern und internem Sachverstand hat man die Organisa-
tion umgebaut. Meistens war Personalabbau der Grund,
dass die Arbeitsabläufe umgestaltet werden mussten.
Seit 1993 hat die WSV fast 5 000 Arbeitsplätze abge-
baut. Schon heute fehlen Fachkräfte für die Arbeit, die
dann an Fremdfirmen vergeben wird. Was übrigens teil-
weise teurer ist als vorher. Das bestätigt selbst das Ver-
kehrsministerium. Bis 2020 sollen nochmal 2 800 Stel-
len verschwinden. Jede weitere Kürzung beim Personal
stellt die Arbeitsfähigkeit der WSV infrage.

Die Linke will eine Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung erhalten, die bisherige Aufgaben aufgibt und neue
Aufgaben übernimmt, die für eine ökologische Flusspo-
litik nötig sind. Wir wollen einen Umbau, der Verkehrs-
verlagerung von der Betonstraße auf die Wasserstraße
möglich macht. Denn der Anteil des Güterverkehrs auf
umweltfreundliche Verkehrsträgern muss deutlich er-
höht werden, insbesondere beim Abtransport der Güter
aus den Seehäfen – übrigens eine Forderung, die im Na-
tionalen Hafenkonzept und dem Aktionsplan Güterver-
kehr und Logistik der Bundesregierung steht.

Wir wollen erreichen, dass wenig genutzte Gewässer
renaturiert werden, um einer ökologischen Flusspolitik
gerecht zu werden. Der Naturschutz muss stärker in die
Arbeit einbezogen werden, um eine naturnahe touristi-
sche Nutzung eines Flusses möglich zu machen. Das er-
fordert Personal, Ressourcen und fachliche Kompeten-
zen.

Die Pläne des Bundesverkehrsministeriums zur Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung schlagen immer höhere
Wellen, denn es gibt einen Sturm der Entrüstung. Es gibt
Protest der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Ich
zitiere: „Eine Umsetzung des Berichts würde die Leis-
tungsfähigkeit der WSV zerstören, die Wasserstraße als
Verkehrsträger und als ökologisches Gesamtsystem irre-
parabel schädigen, die WSV für die SteuerzahlerInnen
verteuern … und Arbeits- und Ausbildungsplätze, nicht
nur in der WSV, vernichten.“ So schreibt die Fachabtei-
lung beim Verdi-Bundesvorstand.

Es gibt Protest von immer größeren Teilen der Fach-
verbände und Wirtschaftsverbände aus der ganzen Re-
publik. Protest gibt es nicht nur von den Oppositions-
parteien, sondern auch aus den eigenen Reihen:

Wenn die Verkehrsministerkonferenz aller Bundeslän-
der die Pläne ablehnen und beschließen, dass „die er-
hebliche Unterfinanzierung im Wasserstraßenhaus-
halt“, die ja als Begründung herhalten musste, „durch
die erwogene Kategorisierung nicht kompensiert wer-
den“ kann, wenn die Verkehrsminister feststellen, dass
Zu Protokoll
der „Umbau der WSV von einer Ausführungs- zu einer
Gewährleistungsverwaltung die WSV in ihrer heutigen
Struktur infrage stellen“ würde, wenn sie beschließen,
dass es „sowohl den Erhalt als auch den Ausbau eines
leistungsfähigen Wasserstraßennetzes infrage“ stellen
würde, spätestens dann sollte ein Minister aufwachen
und umsteuern.

Der Bundesverkehrsminister wurde deswegen auch
heute bei der Bundeskanzlerin zum Rapport bestellt.
Herr Ramsauer, arbeiten Sie nicht gegen den Willen der
ganzen Republik!

Nicht nachvollziehbar ist die Position von Bündnis 90/
Die Grünen in der Frage Zukunft der WSV. Sie fordern
in ihrem Antrag, die WSV unter der Regie des Bundes-
rechnungshofs zu reformieren. Ich bezweifle, dass dort
die Kompetenz vorhanden ist, um die Aufgaben der WSV
zu beschreiben. Und dann noch zu fordern, dass bis zur
Vorlage eines Reformvorschlags auf Dienstvereinbarun-
gen mit Personalräten und Tarifvereinbarungen mit Ge-
werkschaften zu verzichten ist, das geht dann doch zu
weit. Das ist ein Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht
von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Umbaupläne
des Verkehrsministers sind ganz offenkundig auf Drän-
gen einer kleinen marktradikalen Minderheit, nämlich
auf Drängen der FDP, aus der Mottenkiste geholt wor-
den. Die CDU/CSU lässt sich von ihrem Koalitionspart-
ner treiben und stellt sich in der Diskussion mit Beschäf-
tigten so dar, dass sie die Beschäftigten lediglich vor
noch schlimmeren Plänen der FDP bewahren will. Ma-
chen Sie dem ein Ende!

Wir fordern die Bundesregierung auf, die WSV ange-
messen auszustatten, um den vielfältigen Anforderungen
der Binnenschifffahrt und einer umweltverträglichen
Verkehrspolitik zu genügen. Das Wiederbesetzungsmo-
ratorium und der Beförderungsstopp müssen aufgeho-
ben werden. Für die über 1 000 Auszubildenden muss es
eine angemessene Übernahmequote geben. Machen wir
gemeinsam die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung als
öffentliche Einrichtung zukunftsfest.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710830300

Unser Antrag lautet: „Neue Netzstruktur für Wasser-

straßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrts-
verwaltung reformieren“. Die Reform der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung beschäftigt uns nun schon eine
geraume Zeit – und derzeit sieht es nicht danach aus,
dass wir sie zügig zum Abschluss bringen könnten. Die
Berichte der Bundesregierung lassen sehr viele Fragen
offen. Schon der erste Bericht hatte viele Mängel. Offen-
sichtlich haben die Aufträge des Haushaltsausschusses
nicht zu mehr Klarheit im Bundesverkehrsministerium
geführt. Die Bundesregierung scheint selbst nicht zu
wissen, was sie eigentlich erreichen will. Deswegen
passt oft ein Ende nicht zum anderen. Zwar gibt es rich-
tige Ansätze, die wir begrüßen, nur fehlt die Eindeutig-
keit, wohin man damit will. Die Festlegung einer neuen
Netzstruktur der Bundeswasserstraßen ist ein richtiger
Ausgangspunkt. Aber nur wenn auch endlich strategi-
sche Ziele für das System Wasserstraße definiert und da-



gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

raus die notwendigen Aufgaben abgeleitet werden, kann
man die Verwaltung schließlich effizient organisieren.

Das Kernproblem dieser Reform ist jedoch, dass sie
im „stillen Kämmerlein“ ausgearbeitet wurde. Sogar
uns Abgeordneten wurde untersagt, die Direktionen,
Ämter und Außenbezirke zu besuchen. Fraktionsüber-
greifend haben wir uns dagegen ausgesprochen. Mit die-
sem Vorgehen hat das Verkehrsministerium bei allen Be-
troffenen nachdrücklich für Verunsicherung gesorgt.
Spekulationen über eine mögliche Zerschlagung wurde
breiter Raum gegeben – und damit der Erfolg der eige-
nen Arbeit gefährdet. Das ist absolut unverständlich.
Wir Grünen haben im letzten Jahr die ersten Ideen für
eine neue Netzstruktur vorgestellt und eine Reform der
Verwaltung gefordert. Wir haben die Regierungskoali-
tion im Haushaltsausschuss unterstützt und es uns nicht
als Opposition bequem gemacht. Dazu stehen wir, und
wir sehen uns hier auch in einer besonderen Verantwor-
tung, diese Reform erfolgreich umzusetzen. Ich gehe in
die Ämter und höre, wie dort die Reformvorschläge be-
wertet werden. Sehr oft konnte ich feststellen, dass vie-
len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Defizite ihrer
Verwaltung wohl bekannt sind und die Bereitschaft be-
steht, die Mängel zu beheben. Uns ist klar: Eine Reform
dieses Ausmaßes kann nur mit den Beschäftigten und
Betroffenen gemeinsam erfolgen.

Als Gegensatz zu dieser Bereitschaft vor Ort emp-
finde ich die Erarbeitung der Reform im Hause
Ramsauer. Hier scheint der echte Wille zu fehlen, wirk-
lich etwas ändern zu wollen. Ganze vier Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter im Verkehrsministerium hatten in
drei Monaten ein neues Konzept für über 10 000 Be-
schäftigte zu entwickeln – mit weitreichenden Auswir-
kungen für die Logistikbranche und auf ganze Regionen.
Die Ergebnisse dieses Vorgehens sind recht klar im
zweiten Bericht der Bundesregierung zu lesen. Zahlrei-
che Verbesserungsvorschläge und Präzisierungen wur-
den ignoriert und nicht aufgenommen. Vor allem das
Festhalten an der Tonnagemenge ist nicht nachvollzieh-
bar. Es ist nicht klar, wie man diese Mengen berechnet,
wenn der Bericht die Verkehrsprognose 2025 und dazu
nebulös „weitere Spezialprognosen“ zur Grundlage
nimmt. So rutscht etwa die Elbe im Gegensatz zum letz-
ten Bericht um eine Kategorie nach oben. Für wen soll
hier wirklich nachvollziehbar sein, auf welcher Grund-
lage diese Reform aufgebaut wird? Das Vorgehen ist
einfach nicht transparent. Neben dieser unklaren Daten-
grundlage ist jedoch auch die Festlegung der Netzstruk-
tur allein anhand der beförderten Tonnen pro Jahr nicht
zweckmäßig. Bestimmte Güter können nicht aussage-
kräftig in physischen Gewichtseinheiten gemessen wer-
den, sondern werden auch in der Anzahl der umgeschla-
genen und transportierten Container bewertet. Gerade
der steigende Anteil an Containern in der Schifffahrt
muss deswegen bei der Netzstruktur der Wasserstraßen
berücksichtigt werden. Mit dieser Datenbasis ist die ge-
samte Reform äußerst wackelig.

Damit sind die angegebenen Zeitpläne Makulatur. Im
Kern sind die beabsichtigten Abläufe sogar gefährlich:
Bevor überhaupt breit diskutiert wurde und der Haus-
haltsausschuss die Reformabsichten bewertet hat, will
das Ministerium bereits mit der Entwidmung und Rena-
turierung bestimmter Wasserstraßen beginnen, ohne
dass eine tragfähige Idee vorhanden ist, was die Auswir-
kungen der Entwidmungen sind. Bevor damit begonnen
wird, muss mit betroffenen Wassersport- und Tourismus-
verbänden sowie Ländern und Kommunen über eine
mögliche Übergabe oder die Neuregelung der Verant-
wortung gesprochen werden. Wenn hier die hoheitlichen
Aufgaben im Hauruckverfahren aufgegeben werden,
muss zukünftig bei jeder Ufersicherung oder Instandset-
zung durch die örtlichen Behörden eine Genehmigung
eingeholt werden. Außerdem würde eine Wasserstraße
mit ungeklärtem Folgestatus nicht mehr dem Bundes-
wasserstraßengesetz unterliegen, und demzufolge wäre
unklar, wie und durch wen dann die erst kürzlich aufge-
nommenen Ziele der Wasserrahmenrichtlinie umzuset-
zen sind. Hier merkt man besonders deutlich, dass die
Reform einzig aus verkehrspolitischer Sicht erfolgt –
und dann auch noch so schlecht.

Politik heutzutage kann jedoch die Probleme nicht
nur von einer Seite betrachten, sondern muss die Aus-
wirkungen auf viele Politikbereiche berücksichtigen. Bei
dieser Reform gibt es einen eklatanten Mangel aus der
Umwelt- und Naturschutzsicht sowie bei den Auswirkun-
gen auf den Tourismus und die regionale Wirtschaftsför-
derung. Wenn diese Aspekte nicht eingebunden werden,
wird die Reform entweder halbgar oder ganz scheitern
und definitiv zu höheren statt geringeren Kosten führen.
Insgesamt kann man damit nur sagen: Die Bundesregie-
rung hat bei dieser Reform weder gewollt noch gekonnt.
Der einzige Ausweg ist deswegen das Aussetzen der Re-
form und die sofortige Einsetzung einer Kommission, an
der alle Betroffenen beteiligt werden. Diese Kommission
soll die Umsetzung der neuen Netzstruktur der Bundes-
wasserstraßen und eine Verwaltungsreform der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung begleiten. In ihr sollen Ver-
treter der Schifffahrtsbranche, der Häfen, der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, von Bund, Ländern und
Kommunen sowie der Umwelt- und Naturschutzver-
bände und Expertinnen bzw. Experten für Verwaltungs-
reformen vertreten sein. Mit einem breiten Konsens kön-
nen hier Wege gefunden werden, um eine unumstrittene
Reform zu erarbeiten und umzusetzen. Ich fordere alle
Fraktionen und Betroffenen auf, sich für diese Kommis-
sion einzusetzen!


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710830400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/5056 und 17/5548 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Annette Groth, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschen-
rechte in Deutschland schützen, respektieren
und gewährleisten





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

– Drucksache 17/5390 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei mir vor.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1710830500

In Deutschland werden die Bürger- und Menschen-

rechte vom Grundgesetz und von den Landesverfassun-
gen gewährleistet. „Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar.“ Das ist der Leitsatz unserer Verfassung.

Deutschland hat alle zentralen Übereinkommen der
Vereinten Nationen, des Europarates und der Europäi-
schen Union zum Schutz der Menschenrechte nicht nur
unterzeichnet, sondern setzt sie auch um.

Die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung
der Menschenrechte finden in nur wenigen Ländern der
Welt auf so hohem Niveau, und zwar in allen Bereichen
des gesellschaftlichen Lebens, Anwendung wie in unse-
rem Lande.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1710830600

Deutschland ein Entwicklungsland in Sachen Men-

schenrechte – auf einer Stufe mit so finsteren Diktaturen
wie Nordkorea, Iran oder Saudi-Arabien? Nein, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei. Das sug-
gerieren sie schon mit der Überschrift Ihres Antrags,
und das findet sich so auch in manchen Forderungen
wieder. Das ist der falsche Ansatz für durchaus berech-
tigte Kritik in manchen Bereichen des Menschenrechts-
schutzes in Deutschland, und das diskreditiert Ihr Anlie-
gen schon im Ansatz.

Ich sage dies nicht, weil ich Kritik an der Menschen-
rechtslage in Deutschland für unzulässig halte. Im Ge-
genteil, bin ich doch im Gegensatz zu vielen Kolleginnen
und Kollegen der Union, vor allem der Innenpolitiker,
sehr davon überzeugt, dass eine solche innenpolitische
Kritik an der Menschenrechtslage notwendig, berechtigt
und im Übrigen auch im Aufgabenprofil des Menschen-
rechtsausschusses angelegt ist. Aber, wenn man Ihren
Antrag liest, drängt sich der Eindruck auf, dass in
Deutschland die Menschenrechtslage geradezu kata-
strophal ist und wir in einem Land leben, in dem es im
Menschenrechtsbereich in den letzten zehn Jahren keine
Fortschritte gegeben hätte. Wer das, was Sie in Ihrem
Antrag schreiben, liest, ohne die tatsächlichen Gegeben-
heiten zu kennen, der muss zu dem Schluss kommen,
dass bei den Menschenrechten in Deutschland alles im
Argen ist; denn sie malen alles schwarz, gehen immer
vom Schlimmsten aus und pauschalisieren. So sprechen
Sie von Menschenrechtsverletzungen bei Behinderten,
erwähnen aber mit keinem Wort, dass mit der Ratifizie-
rung der UN-Behindertenkonvention durch Deutschland
und der Schaffung der Monitoringstelle zur Einhaltung
dieser Konvention, angesiedelt beim DIM, die Verbesse-
rung für diese Menschen aktiv politisch vorangetrieben
wird. Hier wäre sachliche Detailkritik am Stand der Um-
setzung richtig und erforderlich, zum Beispiel bei der
Frage der Inklusion im Bildungsbereich.

Auch erwähnen Sie bei der Frage nach Menschen-
rechtsverletzungen gegenüber Homosexuellen mit kei-
ner Silbe die Verbesserungen für diese Gruppe durch die
Gesetzgebungsinitiativen unter Rot-Grün. Auch ver-
drängen Sie, dass nach langem Drängen insbesondere
der SPD mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung
zur Kinderrechtskonvention auch dort etwas zum Positi-
ven in Bewegung ist. Hier würden Sie unsere Unterstüt-
zung finden, wenn Sie unter Würdigung der auch von
allen Nichtregierungsorganisationen begrüßten Rück-
nahme mit uns gemeinsam fordern würden, dem nun
auch gesetzgeberische Umsetzungen im Bundesrecht
folgen zu lassen, im Aufenthaltsrecht oder Sozialrecht.
Genauso wenig thematisieren sie unser intensives Enga-
gement im Menschenrechtsausschuss, für die Kinder-
rechtskonvention ein Individualbeschwerdeverfahren zu
schaffen.

Es geht nicht darum, irgendetwas schönzureden. Das
ist auf keinen Fall mein Ziel. Aber ich finde es für eine
effektive und glaubhafte Menschenrechtsarbeit äußerst
gefährlich, so zu tun, als sei die Menschenrechtslage in
Deutschland grundsätzlich und komplett negativ und als
katastrophal einzuschätzen. Genauso gefährlich ist das
Gesundbeten von tatsächlich vorhandenen Missständen;
denn beides verstellt den Blick auf die Realitäten und
macht konkrete Schritte zur Verbesserung der Men-
schenrechtslage von zum Beispiel Kindern, älteren Men-
schen, Migranten und Migrantinnen und Behinderten
schwieriger. Kurz gesagt, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Linken: Ihr Bild der Realität vermittelt ei-
nen definitiv falschen Eindruck. Diese extrem negative
Sicht der Dinge ist falsch. Es gibt einiges zu tun, um die
Menschenrechtslage auch in Deutschland zu verbessern,
fürwahr, darüber debattieren wir immer wieder, gerade
im Menschenrechtsausschuss. Aber diesem durchaus be-
rechtigten Anliegen werden Sie mit Ihrer Pauschalkritik
nicht nur nicht gerecht, Sie konterkarieren darüber-
hinaus auch die Bemühungen derjenigen, die in oft mü-
hevoller Kleinarbeit Fortschritte im Detail erzielen wol-
len.

Die Selektivität Ihrer Wahrnehmung ergibt sich zum
Beispiel aus Folgendem: Sie kritisieren den 4. Staaten-
bericht Deutschlands zum Sozialpakt aus dem Jahr
2001. Für die Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens wäre es
dabei sicherlich nicht völlig falsch gewesen, zumindest
darauf hinzuweisen, dass bereits 2008 der 5. Staatenbe-
richt vorgelegt wurde. Dieser wurde erst vor wenigen
Wochen in der 46. Sitzung des zuständigen Fachaus-
schusses erörtert. Ergebnis war eine überwiegend posi-
tive Bewertung des Berichts und der Situation in
Deutschland, allerdings verbunden mit der Aufforde-
rung an den Gesetzgeber, das größte Defizit, nämlich die
ausstehende Ratifizierung des Fakultativprotokolls end-
lich zu beseitigen. Dieser Forderung schließt sich die
SPD-Fraktion nicht nur nachdrücklich an, wir haben
dies bereits auch im Deutschen Bundestag mehrfach an-
gesprochen und auch antragsmäßig eingebracht, aller-

Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

dings hat die Linksfraktion dies im Bündnis mit den
Koalitionsfraktionen abgelehnt.

Ein Großteil Ihrer zehn Forderungen ist in der Sub-
stanz nicht falsch, in der konkreten Frage nach Umset-
zung fehlt fast alles. So ist es schön und richtig, zu for-
dern, Kinder- und Altersarmut mit allen erforderlichen
Maßnahmen zu bekämpfen und ihr vorzubeugen. Nun
wäre man als interessierter Bürger diese Landes schon
interessiert, zu erfahren, was denn nach Auffassung der
Linksfraktion diese „erforderlichen Maßnahmen“ sind.
Antwort: Fehlanzeige.

Sie fordern in Ziffer 3 „Kindern und Jugendlichen

(…) frühzeitig Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe

und Entfaltung ihrer persönlichen Fähigkeiten einzu-
räumen und hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen“.
Prächtig! Wie wäre es denn mal mit eigenen Vorschlä-
gen, so wie es die SPD immer wieder getan hat, zum Bei-
spiel eine Streichung der Übermittlungspflicht des § 87
Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, wonach Kinder ohne
Aufenthaltsstatus von Schulen an die Ausländerbehör-
den gemeldet werden müssen? Zuviel verlangt?

Des Weiteren fordern sie – ich zitiere –, „die soziale,
gesellschaftliche und politische Partizipation der in
Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von Ge-
schlecht, Behinderung, Herkunft, Religions- oder Kon-
fessionszugehörigkeit, Hautfarbe oder sozialem Status,
zu gewährleisten“. Auch das ist eine gute und richtige
Forderung, die so pauschal und unkonkret jeder mittra-
gen möchte, der nicht als Rassist gelten will. Aber was
bedeutet das konkret in politisches Handeln übersetzt.
Auf welcher Gesetzgebungsebene und mit welcher kon-
kreten Gesetzgebungsinitiative soll diese Forderung in
die Realität umgesetzt werden? Also ehrlich, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linken: Diskriminie-
rungsfreiheit für alle Menschen in Deutschland zu for-
dern, ohne konkret zu benennen, was zum Beispiel bei
der Umsetzung des allgemeinen Gleichbehandlungsge-
setzes schief läuft, um nur ein Beispiel zu nennen, ist für
den, der politisch mit realen Gesetzgebungsinstrumen-
ten tatsächlich etwas verändern will, zu wenig. Das
reicht vielleicht für eine öffentlichkeitswirksame Insze-
nierung, aber nicht für die politisch-praktische Arbeit.

Wenn Sie in Ziffer 8 Ihres Antrages unter anderem
eine „sanktionsfreie und bedarfsdeckende Mindest-
sicherung“ fordern, so sollten Sie das schon erläutern.
Meinen Sie das in der Gesellschaft diskutierte bedin-
gungslose Grundeinkommen und damit eine Abkehr vom
Grundkonsens, nach dem gute Arbeit und Beschäftigung
und damit verbunden die Sicherung menschenwürdigen
Lebens durch eigene Arbeitsleistung einen Wert an sich
darstellen? Oder meinen Sie mit Sanktionsfreiheit
„nur“, dass bei staatlichen Transferleistungen, die von
allen, die Arbeit haben, mit erwirtschaftet werden, über-
haupt keine Regeln mehr gelten sollen? Fragen über
Fragen, jedenfalls mehr als Antworten.

Aber, um nicht in den Verdacht zu geraten, genauso
schwarzmalerisch mit Ihrem Antrag umzugehen, wie
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das
Bild der Menschenrechtslage in Deutschland zeichnen,
möchte ich erwähnen, dass wir zum Beispiel Ihre nun
Zu Protokoll
seltenerweise einmal konkret formulierte Forderung,
Flüchtlingskinder von 16 und 17 Jahren nach der Kin-
derrechtskonvention zu behandeln und verfahrensrecht-
lich nicht als Erwachsene einzustufen, zu 100 Prozent
unterstützen. Auch unterstützen wir die Forderung der
Linken, dass allen Kindern, auch und vor allem denen
ohne kontinuierliche Aufenthaltsgenehmigung, wie in
der Behindertenrechtskonvention und der Kinderrecht-
konvention rechtlich verbindlich vorgegeben, uneinge-
schränkter Zugang zu Bildungsstätten gewährt werden
muss.

Ja, es stimmt. Auch in Deutschland gibt es Defizite bei
der Umsetzung menschenrechtlicher Standards. Ein
Land, in dem alles zu 100 Prozent umgesetzt ist, gibt es
nicht. Die Bundesrepublik hat fast alle Menschenrechts-
verträge gezeichnet und ratifiziert, bei der Implementie-
rung gibt es noch einiges zu tun. Die SPD-Bundestags-
fraktion wird alles tun, um die selbst gesetzten
Ansprüche unseres Landes und unserer Gesellschaft
auch umzusetzen, immer wieder und mit konkreten Vor-
schlägen. Wir tun dies auch, um unserer eigenen Glaub-
würdigkeit willen, wenn wir die Umsetzung der Men-
schenrechte in anderen Staaten fordern. Mit einem
pauschalen Rundumschlag, der unser Land darstellt, als
seien wir in der Zeit vor der Aufklärung steckengeblie-
ben, werden wir diesem Ziel nicht gerecht.

Ich würde mir wünschen, dass die Regierungskoali-
tion in ihrer Menschenrechtsarbeit endlich den innen-
politischen Aspekt ernster nimmt und die Linke endlich
konkret brauchbare Sacharbeit im Menschenrechtsbe-
reich vorlegen würde, die sich nicht an der Vermarktung
ihrer eigenen Thesen orientiert.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1710830700

Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der

Fraktion Die Linke „Vom Anspruch zur Wirklichkeit:
Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren
und gewährleisten“ ab. Der Antrag erschöpft sich in ei-
nem Stakkato aus Behauptungen. Diese Behauptungen
werden in der Regel nicht belegt oder näher ausgeführt.
So wird zum Beispiel davon gesprochen, es würden bei
der Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit Muslime
benachteiligt.

Die verfassungsrechtlich garantierte innere und äu-
ßere Glaubensfreiheit in Deutschland ermöglicht auch
Muslimen das Praktizieren ihrer Religion ohne jegliche
Einschränkungen. Der Antrag der Linken negiert in jeg-
licher Hinsicht die Erfolge dieser christlich-liberalen
Koalition, welche im Koalitionsvertrag manifestiert und
umgesetzt wurden. So haben wir das Bleiberecht gelo-
ckert. Bei der Residenzpflicht möchten wir eine hinrei-
chende Mobilität, insbesondere im Hinblick auf eine zu-
gelassene Arbeitsaufnahme. Persönlich wünsche ich mir
auch ein Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Auslän-
der. Gerade als christlich-liberale Koalition haben wir
in unserem Koalitionsvertrag ein besonderes Augen-
merk auf die Menschenrechte im In- und Ausland gelegt.
Maßgabe unserer Politik ist der Art. 1 Abs. 2 des Grund-
gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, GG, der
lautet: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu un-



gegebene Reden

Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

verletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten
als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des
Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Daher würden wir uns als Bundesregierung verfas-
sungswidrig verhalten, wenn wir dies nicht beachten
würden. Als Bundesregierung sind wir dem Internatio-
nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte bei-
getreten, der den Rang eines Gesetzes hat.

Dies alles zeigt, wie ernst es uns mit der Einhaltung
der Menschenrechte in unserem Land ist. Mit unserem
Koalitionsantrag „Menschenrechte weltweit schützen“
haben wir für die gesamte Legislaturperiode und da-
rüber hinaus einen zielführenden und wegweisenden An-
trag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Hierin
wird ganz klar: Wir Liberale wollen starke Menschen-
rechte – national und international.

Der Antrag der Linken enthält aus Sicht der FDP-
Bundestagsfraktion nur abstruse Forderungen, die jegli-
cher Grundlage entbehren. Im Lichte dieser Ausführun-
gen kann dieser Antrag der Linken nur abgelehnt wer-
den.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710830800

Die Bundesregierung singt gern das Hohelied der

Menschenrechte. Gegenüber ausgewählten Ländern er-
hebt die Bundesregierung gern den moralischen Zeige-
finger, auch um von der Situation im eigenen Land abzu-
lenken. Art. 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen
ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wir haben
allerdings in der Bundesrepublik keinen Grund zur
Selbstzufriedenheit. Die Menschenwürde wird in diesem
Land alltäglich verletzt. Dies gilt vor allem für Kinder,
die in Armut leben, für die Ausgrenzung von Migrantin-
nen, Migranten und Flüchtlingen und von Menschen mit
Behinderungen. Gerade die konkrete Lebenssituation
der sozial Benachteiligten und Schwachen ist aber der
Lackmustest für unsere realen Menschenrechtsstan-
dards! Wer definiert in diesem Land eigentlich, was zu
einem Leben in Menschenwürde gehört?

Ich möchte diesen Zusammenhang am Beispiel der
Kinderarmut näher erläutern: Seit einigen Jahren steigt
die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland unaufhör-
lich an, und man fragt sich: Wieso ist das so? Laut aktu-
ellen Angaben der Kindernothilfe wachsen derzeit rund
3 Millionen Kinder unter Armutsbedingungen auf.
Hinzu kommt, dass unser Bildungssystem die Armut ze-
mentiert, weil es kaum Aufstiegschancen bietet. Laut ei-
ner aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung können
inzwischen Arbeiterkinder in den USA leichter studieren
als in Deutschland. Dieses Verhältnis war früher einmal
umgekehrt. 85 Prozent der Kinder mit Behinderungen
besuchen in Deutschland sogar Sonderschulen, und
keines dieser Kinder erreicht die Fach- oder die Hoch-
schulreife. Kinder- und Jugendarmut ist für ein wohlha-
bendes Land wie die Bundesrepublik ein gesellschafts-
politischer Skandal! Die großen Wirtschaftskonzerne
werden als Verursacher der Finanzkrise entlastet, und
bei der Armutsbekämpfung und anderen Sozialausgaben
wird gekürzt. Allein in meinem Bundesland Rheinland-
Zu Protokoll
Pfalz sind über ein Fünftel der 15- bis 18-Jährigen arm.
Die Ursache für Kinderarmut ist meist die Einkommens-
armut der Eltern. Küchenhilfen in Trier bekommen
4 Euro Stundenlohn, Überstunden werden mit einer
Pizza oder mit Bier entgolten. Wie soll damit eine Fami-
lie ernährt werden? Die Kinder aus solchen armen Fa-
milien gehen häufig ohne ein Pausenbrot in die Schule.
Weil den Eltern das Geld fehlt, müssen sie auch auf
bestimmte Freizeitaktivitäten wie einen Schwimmbadbe-
such verzichten oder können nicht an Klassenfahrten
teilnehmen. Kindergerechte Teilhabe und Menschen-
würde sehen anders aus!

Die sogenannte Reform-Agenda 2010 hat Millionen
Menschen in Deutschland in Armut gestürzt. Damit
wurde ein bislang ungekannter Raubbau vor allem an
den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Men-
schenrechten der Schwächsten unserer Gesellschaft be-
trieben. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn
zur Durchsetzung der Menschenwürde und der Men-
schenrechte von Millionen Betroffenen und ihren Kin-
dern. Um die Massenarmut zu bekämpfen, fordert die
Linke einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn
in Höhe von 10 Euro pro Stunde. Ansonsten gibt es keine
sozial gerechte Teilhabe in unserer Gesellschaft.

Die Bundesregierung könnte hierbei von unseren eu-
ropäischen Partnern lernen. Im Europarat fordert selbst
die Gruppe der Europäischen Volkspartei, das sind die
Konservativen, die Einführung von Mindesteinkom-
mensgarantien. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn
von 10,16 Euro pro Stunde. Auch in Frankreich gibt es
einen gesetzlichen Mindestlohn. Arbeit muss eben ange-
messen bezahlt werden, um ein Leben in Würde zu er-
möglichen. Das sind die Vorbilder, an denen sich die
Bundesregierung orientieren müsste. Stattdessen be-
treibt Schwarz-Gelb lieber eine Sündenbockpolitik, die
die Betroffenen selbst für ihre Misere verantwortlich
macht.

Menschenunwürdig ist auch Deutschlands Umgang
mit Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Bei
Flüchtlingen und Asylsuchenden haben wir ein men-
schenfeindliches Abschottungssystem geschaffen, für
das wir uns schämen müssen. Sofern wir Flüchtlinge
nicht vor den Mauern der Festung Europa im Mittel-
meer ertrinken lassen oder abweisen, behandeln wir
diejenigen, die es trotz allem zu uns schaffen und einen
Asylantrag stellen, praktisch wie Kriminelle.

Das Asylverfahren und insbesondere die Abschiebe-
praxis verletzen eindeutig die Menschenwürde der
Betroffenen. Oft werden ganze Familien auseinanderge-
rissen und zusätzlich traumatisiert. In Rheinland-Pfalz
finden beispielsweise regelmäßig „Rückkehrberatun-
gen“ mit Flüchtlingen statt. Für einen Laptop, einen
„Wirtschaftsplan“ für die Selbstständigkeit und etwas
Bargeld werden die Schutzsuchenden dann wieder abge-
schoben. Und dies wird dann als freiwillige Rückkehr
bezeichnet. Dabei fehlt doch in den Herkunftsländern oft
sogar der Stromanschluss für einen Laptop. So sieht die
Flüchtlingspolitik in Deutschland aus. Das spricht
Bände über das Verständnis von Menschenrechten!



gegebene Reden

Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)

Die Linke fordert einen sofortigen Abschiebestopp
und einen menschenwürdigen Umgang mit Schutzsu-
chenden und Asylsuchenden. Das Asylbewerberleis-
tungsgesetz und die Residenzpflicht gehören abgeschafft;
denn sie beschneiden elementare Menschenrechte. Es
reicht nicht aus, nur an die Vernunft der Bundesregie-
rung zu appellieren, dass sie die Würde und Rechte aller
in Deutschland lebenden Menschen besser achten möge.
Die Linke fordert die Konkretisierung des Sozialstaats-
gebots durch die Aufnahme sozialer Grundrechte in das
Grundgesetz. Dies ist notwendig, um künftig Verletzun-
gen insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kul-
turellen Menschenrechte in Deutschland besser zu be-
gegnen und vorzubeugen. Die vorhandenen deutlichen
Defizite vor allem in den Bereichen Armut, Arbeit, Woh-
nen, Gesundheitsversorgung und Bildung sind in aller-
erster Linie Menschenrechtsverletzungen, die umgehend
zu beseitigen sind. Nur in dem Maße, in dem Menschen
über soziale Grundrechte verfügen, werden Freiheits-
rechte umfassend wirksam. Ohne ein Mindestmaß an so-
zialer Gleichheit gibt es keine wirkliche Freiheit. Beides
gehört zusammen, es sind die beiden Seiten derselben
Menschenrechtsmedaille!


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710830900

Der Antrag der Fraktion Die Linke wählt einen An-

satz, den wir sehr begrüßen: bei der Menschenrechts-
politik nicht nur mit dem Finger auf ferne Staaten zu zei-
gen, sondern hier in Deutschland anzufangen. Die
Universalität der Menschenrechte zwingt uns dazu, vor
unserer Haustür die gleichen Standards anzulegen, die
wir von unseren internationalen Partnern weltweit ein-
fordern.

Dass in anderen Staaten die Menschenrechte in viel
stärkerer Weise als bei uns beeinträchtigt werden, ist uns
klar. Mit Schrecken schauen wir auf Folter, Vertreibung,
willkürliche Verhaftungen und vieles mehr, vor dem wir
uns in Deutschland nicht zu fürchten brauchen. Doch
auch in Deutschland gibt es menschenrechtliche Defi-
zite. Sei es die Gewalt gegen Minderheiten, die Diskri-
minierung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen
Gruppe, zunehmende Armut gerade von Kindern,
Barrieren beim Zugang zu Bildung, ungleiche Bezah-
lung von Frauen und Männern bis hin zum Pflegeskan-
dal im Alter – Verletzungen und Mängel ziehen sich
durch viele Bereiche. Menschen anderer Hautfarbe, an-
derer Religion oder anderer sexueller Orientierung wer-
den auch in der Bundesrepublik Opfer von Hetze und
tödlicher Gewalt, genauso wie Obdachlose oder Men-
schen mit Behinderungen. Und ein ums andere Mal wird
die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht
und dem Europäischen Gerichthof getadelt, endlich die
verfassungs- und europarechtswidrige Diskriminierung
von Schwulen und Lesben zu beenden. Aber anstatt eine
vorausschauende und menschenrechtskonforme Antidis-
kriminierungspolitik zu betreiben, lässt sich Schwarz-
Gelb lieber in regelmäßigen Abständen von den Gerich-
ten einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen. Was ist
eigentlich aus den Gleichstellungsversprechen der Libe-
ralen im Wahlkampf geworden?
Zu Protokoll
Wenn wir über den Menschenrechtsschutz in
Deutschland sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass
zuweilen Menschenrechtsverletzungen gar nicht von
staatlichen Akteuren verursacht werden, sondern von
transnational agierenden Unternehmen, und dass auch
deutsche Unternehmen Menschenrechtsverletzungen be-
gehen. Der weltweite Rohstoffhunger führt dazu, dass
Bodenschätze unter menschenrechtswidrigen Bedingun-
gen gefördert und Waren zu unmenschlichen Bedingun-
gen produziert werden. Das Schielen auf Profit führt
dazu, dass Unternehmen die von Staaten begangenen
Menschenrechtsverletzungen dulden oder zumindest in
fahrlässiger Weise fördern. Wir sehen aktuell an der
Klage von Opfern der Apartheid unter anderem gegen
die Daimler AG, dass auch deutsche Unternehmen bei
diesem Spiel beteiligt sein können. Was die Opfer dieser
Menschenrechtsverletzungen und Straftaten brauchen,
sind keine warmen Worte, sondern rechtliche Möglich-
keiten, auch noch nach langer Zeit ihre Schadenersatz-
ansprüche effektiv vor deutschen Gerichten geltend zu
machen. Die konservativ-neoliberale Koalition schweigt
dazu. Das einzige was ihr einfällt, sind freiwillige
Selbstverpflichtungen der Unternehmen, in denen sie
sich zur Einhaltung der Menschenrechte im Ausland
verpflichten können. Dieses Konzept aber hat sich über
die Jahrzehnte hinweg als weitestgehend gescheitert he-
rausgestellt. Um ihren extraterritorialen Staatenpflich-
ten nachzukommen, benötigt die Bundesrepublik endlich
Gesetze, die das Verhalten deutscher Unternehmen im
Ausland im Umgang mit den Menschenrechten klar re-
geln. Leider geht auch der Antrag der Fraktion Die
Linke hierauf nicht ein. Der vierte periodische Bericht
über die Durchführung des Paktes über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen in
der Bundesrepublik Deutschland vom 31. August 2001
kritisiert, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kultu-
rellen Rechte in Deutschland weniger Beachtung finden
und geringer gesichert sind als die bürgerlichen und
politischen Rechte. Diese WSK-Rechte werden in
Deutschland über das Sozialstaatsgebot geschützt und
gewährleistet. Leider begeht auch hier die aktuelle Bun-
desregierung einen schweren Fehler, indem sie das Fa-
kultativprotokoll zum UN-Sozialpakt nicht ratifiziert. Es
wurde über viele Jahre verhandelt. Seine Ratifikation
würde für die seit 1973 für Deutschland verbürgten wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unter an-
derem eine Individualbeschwerdemöglichkeit etablie-
ren. Deutschland war während der Entstehung des
Fakultativprotokolls ein verlässlicher Fürsprecher. Seit
2009 aber prüft die Bundesregierung nun die deutsche
Ratifikation des Protokolls. Nachdem zunächst für Ende
2010 ein Kabinettsbeschluss über die Ratifikation ange-
kündigt war, scheint nun der Prozess auf unbestimmte
Zeit ausgesetzt zu sein. Hat die Bundesregierung also
tatsächlich Angst davor, in Individualbeschwerden auf
eigene Missstände hingewiesen zu werden? Ein bisschen
mehr Selbstvertrauen wäre hier angebracht: denn ganz
so schlimm, wie es der Antrag der Fraktion Die Linke
darstellt, ist es um den deutschen Sozialstaat nicht be-
stellt. Eine Beschwerdeflut wird es also nicht geben.

Der Antrag der Fraktion Die Linke geht überdies von
einem falschen Verständnis der wirtschaftlichen, sozia-



gegebene Reden





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

len und kulturellen Rechte aus. Die Bundesregierung
muss sie respektieren, indem sie die Rechte der Bevölke-
rung nicht verletzt. Sie muss die Rechte schützen, indem
sie dafür sorgt, dass die grundlegenden Rechte nicht
durch Dritte verletzt werden, und sie muss diese Rechte
erfüllen, indem sie alles in ihrer Macht Stehende unter-
nimmt, um der Bevölkerung diese Rechte zu gewähren.
Die WSK-Rechte gewähren jedoch keinen Anspruch auf
soziale und wirtschaftliche Gleichheit, wie es sich die
Fraktion Die Linke vorstellt. Sie verpflichten die Bun-
desrepublik vielmehr, gewisse Minimalstandards zu er-
füllen und bei der konkreten Umsetzung durch Gesetze,
Verordnungen oder politische Maßnahmen keine Diskri-
minierungen zuzulassen. Die Forderung aus dem
Antrag, soziale Grundrechte ausdrücklich in das Grund-
gesetz aufzunehmen, ist darüber hinaus völlig antipoli-
tisch. Wie möchte die Fraktion Die Linke angesichts
einer noch nicht einmal einfachen Mehrheit zur Zwei-
drittelmehrheit einer Verfassungsänderung gelangen?
Zuletzt sei mir noch eines gestattet: Die Menschen-
rechtspolitik in Deutschland unter die Lupe zu nehmen
und stärker einzufordern, ist mir sehr sympathisch.
Wenn die Fraktion Die Linke jedoch über die Gegenwart
spricht und in die Zukunft blickt, dann sollte sie auch
über die Vergangenheit sprechen; denn wie es um das in-
nerstaatliche Menschenrechtsverständnis ihrer Vorgän-
gerpartei aussah, darf in diesem Fall nicht unerwähnt
bleiben. Dass die wirtschaftlichen, sozialen und kultu-
rellen Rechte in dem vorliegenden Antrag lautstark ein-
gefordert werden, ist umso bemerkenswerter, als dass
die bürgerlichen und politischen Rechte noch vor nicht
allzu langer Zeit von einigen jetzt noch in der Partei ak-
tiven Menschen mit Füßen getreten wurden. Wer glaub-
hafte Menschenrechtspolitik machen möchte, der sollte
sich mit seinen eigenen rechtsstaatlichen Verfehlungen
zunächst ernsthaft auseinandergesetzt haben. Eine Par-
tei, die ihre politischen Wurzeln auch in einem Unrechts-
staat hat, ist bei Forderungen nach der Einhaltung der
Menschenrechte im Innern nur dann glaubwürdig, wenn
sie ihre Position aus der Reflexion ihrer eigenen Ge-
schichte heraus gewinnt. Wir Grüne sind der festen
Überzeugung, dass sowohl Innen- als auch Außenpolitik
an den Menschenrechten ausgerichtet sein müssen;
denn nur wer innenpolitisch sich selbst genauso an den
menschenrechtlichen Standards misst und messen lässt,
wie er außenpolitisch andere danach beurteilt, kann
überzeugende Menschenrechtspolitik vertreten.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710831000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5390 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden, dann ist die Überweisung auch so be-
schlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Einsatz von Nanosilber in verbrauchernahen
Produkten zum Schutz von Mensch und Um-
welt stoppen

– Drucksache 17/3689 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei mir vor.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1710831100

Der Einsatz von Nanotechnologie ist inzwischen

nicht mehr aus unserem alltäglichen Leben wegzuden-
ken. Bereits jetzt kommt diese Zukunftstechnologie in
vielerlei Hinsicht zum Einsatz. In der Nanotechnologie
liegen große Chancen, zum Beispiel bei der Weiterent-
wicklung von hochwirksamen Medikamenten.

Die Bundesregierung hat es sich mit ihrem Aktions-
plan Nanotechnologie zum Ziel gesetzt, diese Zukunfts-
technologie näher zu erforschen, mit all ihren Chancen,
aber auch mit möglichen Risiken. Niemand verschließt
die Augen vor möglichen Risiken, aber wir müssen auch
verantwortlich damit umgehen. Panik ist ein schlechter
Ratgeber. Der Antrag der Grünen benennt ein wichtiges
Thema, wird diesem aber nicht in vollem Umfang ge-
recht. Sie schießen über das Ziel hinaus, wenn sie ein ge-
nerelles Verbot von Nanosilber verlangen. Immerhin ist
der Einsatz bestimmter nanohaltiger Silberprodukte in
Lebensmittelbedarfsgegenständen verboten, weder für
Nanoclay noch für Nanosilber gibt es eine Zulassung.

Gemäß der Bedarfsgegenständeverordnung müssen
Additive für Lebensmittelbedarfsgegenstände aus
Kunststoff seit dem 1. Januar 2010 sämtlich zugelassen
sein. Lediglich der Verkauf von Erzeugnissen, die im
Einklang mit den bis zum 31. Dezember 2009 geltenden
Vorschriften hergestellt oder eingeführt wurden, ist zu-
lässig. Es ist wichtig, dass wir mehr Informationen und
mehr Transparenz erhalten. In dieser Hinsicht spricht
der Antrag der Grünen ein wichtiges Anliegen an, aber
dies ist bereits von der Bundesregierung aufgegriffen
worden.

Bundesumweltminister Dr. Norbert Röttgen hat kürz-
lich auf der Abschlussveranstaltung der Nanokommis-
sion eine Nanodatenbank gefordert, damit eben mehr
Transparenz bei diesem wichtigen und mitunter kontro-
versen Thema besteht. Die Kennzeichnung von Nano-
produkten ist ebenfalls angedacht, befindet sich aber
derzeit noch im Abstimmungsprozess. Wir erwarten von
der Wirtschaft, dass sie dem Verbot der Verwendung von
Nanoclay und Nanosilber Rechnung trägt. Zudem wur-
den die für die Überwachung von Bedarfsgegenständen
zuständigen obersten Landesbehörden gebeten, diesem
Sachverhalt im Rahmen der amtlichen Überwachung
besondere Beachtung zu schenken und das BMELV über
eventuell veranlasste Maßnahmen in Kenntnis zu setzen.

Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)

Solange wir hier keine genaueren Informationen zum
Sachverhalt haben, sollten wir uns allerdings mit vorei-
ligen Verboten, wie in dem Antrag der Grünen gefordert,
zurückhalten.

Unstrittig dürfte sein, dass wir mehr Forschung über
die genaue Wirkung von Nanosilber auf Mensch und
Umwelt brauchen. Dies wird bereits vom Bundesinstitut
für Risikobewertung und vielen anderen Forschungsein-
richtungen getan. Ein wissenschaftliches Monitoring
und zugleich ein Sicherungssystem ist meiner Meinung
nach erforderlich. Das ist ein wichtiges Thema, mit dem
auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir keines-
wegs auf die leichte Schulter nehmen. Nach Überwei-
sung des Antrages an die entsprechenden Ausschüsse
wird hierüber in aller gebotenen Sorgfältigkeit noch ein-
mal beraten werden müssen.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1710831200

Die medizinische Verwendung von Silber ist uralt.

Schon im alten Ägypten wurden Wunden mit Silberfolien
behandelt. Silbersulfadiazin wurde in den 60er-Jahren
zu medizinischen Zwecken erfolgreich angewendet.
Heute erlebt Silber angesichts einer steigenden Anzahl
von antibiotikaresistenten Mikroorganismen in Form
von Nanosilber, das aufgrund anderer Eigenschaften
eine höhere Wirksamkeit hat, eine neue Blüte. So ist bei-
spielsweise die Beschichtung medizinischer Geräte zur
Aufrechterhaltung der Keimfreiheit ein ganz wichtiges
Anwendungsgebiet.

Die Verunreinigungsgefahr durch Keime, die heute
ein nicht unerhebliches Problem in Krankenhäusern
darstellt, kann in Zukunft erheblich reduziert werden.
Schon heute stecken sich in Deutschland jedes Jahr bis
zu 1 Million Menschen in Kliniken mit multiresistenten
Erregern an. Davon versterben 20 000 bis 40 000 Pa-
tienten jährlich. Die bislang genutzte Desinfektion mit
herkömmlichen Mitteln in Krankenhäusern ist oft unzu-
reichend, teuer und belastet zusätzlich die Umwelt.
Nanosilber wird wegen seiner hohen antibakteriellen
Eigenschaften aber nicht nur für medizinische Zwecke,
sondern auch in zahlreichen Produkten des Alltags
eingesetzt. In Lebensmitteln ist die Verwendung von Na-
nosilber nicht zugelassen. Der Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zielt auf ein vollständiges und
sofortiges Verbot der Verwendung von Nanosilber ab.

Silber ist in sehr hohen Dosierungen bedenklich. Ob
Nanosilber im täglichen Gebrauch allerdings ein Risiko
für Mensch und Umwelt darstellt, ist derzeit noch Ge-
genstand laufender wissenschaftlicher Untersuchungen,
da noch zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkennt-
nisse vorliegen. Die Anwendung von Nanosilber muss
verantwortungsvoll angegangen werden. Die offenen
Fragen, wie die nach eventuell auftretenden Resisten-
zen, müssen geklärt und Risiken ausgeschlossen werden.

Es gilt zu klären, in welchen verbrauchernahen Pro-
dukten Nanosilber überhaupt und in welcher Konzentra-
tion Verwendung findet. Auch die Auswirkungen auf das
Ökosystem, insbesondere die Belastung des Abwassers
und dessen Wiederaufbereitung in den Kläranlagen,
müssen untersucht werden. Wo stehen wir heute im Be-
Zu Protokoll
reich der Risikoforschung? Die Bundesregierung hat al-
lein 2010 14 Millionen Euro in Projekte der Risiko- und
Begleitforschung investiert. Der Anteil an Projekten der
Ressorts beläuft sich dabei derzeit auf 230 Millionen
Euro im Jahr und damit auf 6,2 Prozent; das ist interna-
tional Spitze! Zum Vergleich: USA 5 Prozent, UK 4 Pro-
zent und Japan 2,4 Prozent.

Auch ich bin der Meinung, dass wir mehr Erkennt-
nisse zu den potenziellen Risiken brauchen, bevor Nano-
technologie verstärkt in verbrauchernahen Produkten
eingesetzt wird, aber wir brauchen keine Panikmache.
Der Verbraucherschutz in Deutschland trägt dieser ho-
hen Verantwortung Rechnung. Nennen möchte ich das
laufende Projekt DaNa, das den Einfluss von unter-
schiedlichen nanosilberhaltigen Materialien von gebun-
denem Silber und gelösten Silbernanopartikeln auf
Organismen und Umwelt untersucht. Hier werden mög-
liche Wirkungen von Nanosilber geprüft, und es wird
mehr Transparenz geschaffen.

Wichtig auch das Projekt UMSICHT: Es untersucht
das Verhalten und den Verbleib von Silbernanopartikeln
in Textilien und beschäftigt sich mit der Gefährdungs-
und Risikoabschätzung für Silbernanomaterialien auf
die Umwelt. Werden neue Chemikalien oder Materialien
entdeckt oder entwickelt, müssen sie nach der gesetzli-
chen Vorgabe auf ihre Unbedenklichkeit getestet wer-
den. Hierfür gibt es Chemikalien-, Lebensmittel-,
Kosmetik- und Waschmittelverordnungen und weitere
Regularien. Wir haben in Deutschland eine ganze Reihe
Prüfungsregister: So regelt beispielsweise REACH als
Verordnung die Registrierung, Bewertung, Zulassung
und Beschränkung chemischer Stoffe.

Mit den bestehenden rechtlichen Regelungen ist also
ein umfassender Schutz des Verbrauchers gewährleistet.
Hersteller und Inverkehrbringer von Produkten, welche
unter dem Einsatz von Nanotechnologie hergestellt
werden, sind im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht für die
Einhaltung der verbraucherrechtlichen Vorschriften
verantwortlich. Auch müssen nach der europäischen
Kosmetikverordnung von 2009 kosmetische Mittel, die
Nanomaterialien enthalten, ab dem 1. Januar 2013 der
EU-Kommission vorab gemeldet werden. Die Bundes-
regierung beschäftigt sich mit den verschiedenen Risi-
ken, die sich im Bereich der Nanotechnologie ergeben
können. So sieht der Nanoaktionsplan 2015 der Bundes-
regierung eine aktive Begleitung der Diskussion auf na-
tionaler und europäischer Ebene vor. Dieser Prozess ist
noch nicht abgeschlossen.

Angesichts des noch laufenden Prozesses wissen-
schaftlicher Auseinandersetzungen mit dieser neuen
Technologie ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
übereilt und nicht zielführend. Es geht nicht um eine ge-
nerelle Erlaubnis oder um ein Verbot, sondern um eine
sinnvolle und konstruktive Auseinandersetzung mit den
Chancen und den Risiken, die sich hier ergeben. Große
Potenziale aus Zukunftstechnologien können nicht ein-
fach aufgrund von spekulativ geschürten Ängsten
beiseite geschoben werden. Das Marktpotenzial für na-
notechnologisch basierte Produkte ist gewaltig. Nano-
silber ist nur ein Aspekt.



gegebene Reden

Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

Für Nanoprodukte wird insgesamt ein Weltmarktvo-
lumen von 3 Billionen Euro im Jahr 2015 prognostiziert.
Besonders viele Hoffnungen richten sich auf das Poten-
zial der Nanotechnologie für die Lösung der großen
Probleme unserer Zeit: Ressourcenknappheit, Umwelt-
verschmutzung und Krankheiten.

Nanotechnologie schafft hochqualifizierte Arbeits-
plätze, schont die Ressourcen und verspricht Renditen
für den Wirtschaftsstandort – Made in Germany –
Deutschland. Wir haben derzeit in Deutschland insge-
samt 980 Unternehmen, die mit Nanotechnologie arbei-
ten, davon 242 Großunternehmen und 740 kleine und
mittelständische Unternehmen, KMU. Die Gesamtzahl
der Beschäftigten in dieser Zukunftstechnologie beläuft
sich derzeit auf etwa 63 000, Tendenz steigend. Lassen
sie uns die Chancen der Nanotechnologien nutzen und
dabei die Risiken rechtzeitig erkennen und damit umge-
hen. Was wir brauchen, ist keine Stigmatisierung, son-
dern Fortschritt mit Augenmaß und Verantwortungsbe-
wusstsein.


Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1710831300

Ein Zwerg steht hier im Mittelpunkt der Debatte und

wirft riesige Schatten. Winzig sind Nanopartikel, aber
riesig sind ihre Potenziale und Chancen, aber auch rie-
sig sind die Unsicherheit und Unklarheit über mögliche
Risiken und Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.
Fast unbemerkt werden immer mehr verschiedene Nano-
teilchen in unterschiedlichen Anwendungen eingesetzt,
obwohl sie noch in der Grundlagenforschung stecken.
Zu viele Fragen sind offen, mögliche Risiken noch zu
wenig erforscht. Große Hoffnungen und Erwartungen
liegen in der Nanomedizin, besonders in der Krebsthe-
rapie. Neue Krebstherapien werden bereits in klinischen
Studien erprobt. Die Anwendung von Nanomaterialien
bei Transportsystemen für Medikamente soll eine effi-
zientere Behandlung ermöglichen. Nanosilber kann
auch helfen, Krankheitserreger zu bekämpfen. Gerade
Nanosilber findet sich in immer mehr Produkten, die be-
sonders dicht an die Verbraucherin und den Verbrau-
cher herankommen und sogar gezielt zum Beispiel in die
Haut eingreifen. Silberverbindungen werden in Cremes
zum Konservieren genutzt oder sollen in Textilien anti-
bakteriell wirken oder üble Gerüche verhindern.

Die Warnung des Bundesamtes für Risikobewertung,
BfR, auf die Verwendung von nanoskaligem Silber oder
nanoskaligen Silberverbindungen in Lebensmitteln und
Produkten des täglichen Bedarfs zu verzichten, bis die
Datenlage eine abschließende gesundheitliche Risikobe-
wertung zulässt und die gesundheitliche Unbedenklich-
keit von Produkten sichergestellt werden kann, ist ernst
zu nehmen. Das BfR mahnt, dass bezüglich der Resis-
tenzausbreitung dringender weiterer Forschungsbedarf
besteht. Gerade eine Resistenz gegen Antibiotika kann
bei Silberexposition gebildet werden. Fragen zur Toxi-
kologie von Nanosilber, dem der Körper des Menschen
ausgesetzt ist, sind noch nicht hinreichend untersucht.
Auch hier sieht das BfR weiteren Forschungsbedarf. Zu
einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Nanokom-
mission in ihrem Bericht und in ihren Empfehlungen
2011. Dort heißt es: „Für die Toxikologie und Ökotoxi-
Zu Protokoll
kologie stehen zurzeit keine eindeutig akzeptierten Ent-
lastungskriterien zur Verfügung. Eine vorläufige Ein-
schätzung ist daher derzeit nicht möglich“.

Hinweise zu Gesundheitsgefahren müssen ernst ge-
nommen werden. Das gebietet des Vorsorgeprinzip des
Staates; denn in Art. 20 a des Grundgesetzes heißt es:
„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künfti-
gen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen
und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ord-
nung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von
Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die
Rechtsprechung“. Durch den stetig zunehmenden Ein-
satz von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten
steigt die tägliche Aufnahmemenge entsprechend. Die
Konsequenz ist daher klar: Wir können es nicht einfach
weiterlaufen lassen und warten, bis wir mehr wissen,
sondern müssen jetzt eine Entscheidung treffen, die die
Verbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen ge-
sundheitlichen Risiken schützt. Der Verzicht auf Nano-
silber in Kosmetika, Textilien, Reinigungsmitteln und
anderen verbrauchernahen Produkten ist daher angera-
ten. Gerade der unnötige Einsatz von Nanosilber bei ge-
sunden Menschen, bei denen die Sinnhaftigkeit und der
Nutzen der Nanoteilchen fraglich sind, muss so lange
untersagt werden, bis die Unbedenklichkeit nachgewie-
sen ist.

Wir fordern erstens eine intensive Erforschung von
toxikologischen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt
bei Nanotechnologien und eine Verdopplung der Mittel
zur Risikoforschung bei Nanopartikeln, zweitens eine
Kennzeichnung von Nanopartikeln bei allen verbrau-
chernahen Produkten, drittens ein Produktregister, das
alle Produkte auflistet, die Nanoteilchen enthalten, und
alle Forschungsergebnisse und bisher erforschte Aus-
wirkungen auflistet, viertens die Einrichtung einer Bera-
tungsstelle als Bundesbehörde, die Erfahrungen sam-
melt und den Erfahrungsaustausch unterstützt, und
fünftens ein Verbot des Inverkehrbringens von Produk-
ten im verbrauchernahen Bereich, zumindest im freiver-
käuflichen Bereich.

Nach Auskunft der Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion sind von 2009 bis
2012 für die Sicherheitsforschung im Bereich der Nano-
technologien circa 14,15 Millionen Euro pro Jahr ver-
teilt auf die Häuser BMBF, BMU, BMAS und BMELV
vorgesehen. Für die Forschung und Entwicklung von
Nanotechnologien waren für 2010 ungefähr 400 Millio-
nen Euro Bundesmittel eingeplant. Wir brauchen drin-
gend eine systematische Einbeziehung von Risikofragen
in die Sicherheitsforschung. Hierzu benötigen wir geeig-
nete Testverfahren zur Überprüfung der Wirkungen von
Nanoprodukten. Die Risikoforschung muss aufgrund der
vielen offenen Fragen zu Auswirkungen auf Mensch und
Umwelt schnellstmöglich intensiviert werden. Daher
fordern wir die Verdopplung der Bundesmittel für das
nächste Haushaltsjahr. Ab 2013 ist die Kennzeichnung
von nanoskaligen Bestandteilen in Kosmetika in der EU
verpflichtend. Demnach muss auf der Liste der Inhalts-
stoffe der Zusatz „(nano)“ nach der jeweiligen INCI-Be-
zeichnung hinzugefügt werden. Eine Kennzeichnung von
verbrauchernahen Produkten dient der Transparenz und



gegebene Reden

Rita Schwarzelühr-Sutter


(A) (C)



(D)(B)

lässt dem Verbraucher die Wahlentscheidung, ob er Nano-
produkte nutzen möchte oder nicht. Die Erfahrungen mit
dem Kraftstoff E10 in den letzten Monaten haben uns deut-
lich gemacht, dass der Verbraucher gerade bei der Einfüh-
rung von neuen Produkten oder Bestandteilen mitgenom-
men werden muss. Das bedeutet, dass die Konsumenten
frühzeitig und umfassend informiert und besonders über
alle Chancen und Risiken frühzeitig aufgeklärt werden
wollen. Keine noch so gute Technologie ist in der Lage,
sich durchzusetzen, solange sie nicht vom Verbraucher ak-
zeptiert wird. Deshalb plädiere ich für einen offenen Bür-
gerdialog. Es ist die Aufgabe aller Akteure – der Industrie,
der Wissenschaft, der Verbraucherorganisationen und
natürlich der Politik –, sich der öffentlichen Diskussion
über die Frage des Umgangs mit Nanotechnologie zu
stellen. Nur weitreichende Aufklärung über Chancen
und Risiken schafft Vertrauen.

Für Verbraucher ist es bisher beim Kauf kaum er-
sichtlich, welche Produkte mittels Nanotechnologie her-
gestellt wurden oder Nanomaterialien enthalten. Wir
müssen Markttransparenz für Verbraucherinnen und
Verbraucher durch ein öffentliches Produktregister
schaffen, das unter Beteiligung der Verbraucherver-
bände eingerichtet werden soll. Alle Produkte, die auf
dem Markt sind, müssen gemeldet und mit den Ergebnis-
sen sämtlicher Studien zu der Wirkung und den Auswir-
kungen aufgelistet werden. Jeder, der ein Nanoprodukt
erstmalig herstellen, importieren oder in den Verkehr
bringen will, muss verpflichtet werden, Informationen
über den Hersteller oder Importeur, die Identität des
Produktes sowie weitere Informationen über die im Pro-
dukt enthaltenen Nanomaterialen an eine öffentliche
Stelle zu melden. Selbstredend müssen vor allem
Grundlageninformation und Handlungswissen in ver-
ständlicher Form vermittelt werden.

Die Große Koalition hatte bereits 2009 im Bundestag
die Bundesregierung aufgefordert, „eine Informations-
quelle zu schaffen, die Bevölkerung, Politik und Wirt-
schaft über geltende Bestimmungen, Vorschriften und
Empfehlungen informiert und durch die zuständigen
Bundesbehörden laufend aktualisiert wird“. Dies muss
endlich umgesetzt werden. Hier ist Verbraucherministe-
rin Aigner gefragt, endlich aktiv zu werden. Auch die
Nano-Kommission empfiehlt in dem Schlussbericht die
Einrichtung einer Beratungsstelle auf Ebene einer Bun-
desbehörde. Eine solche Beratungsstelle solle Erfahrun-
gen aus der Anwendung der Kriterien zur vorläufigen
Einschätzung von Nanomaterialien sammeln und den
Erfahrungsaustausch organisieren. Im Sinne der Risiko-
vorsorge sollten verbrauchernahe Produkte mit Nanosil-
ber, solange eine fundierte Bewertung des Gesundheits-
und Resistenzrisikos nicht getroffen werden kann, nicht
mehr auf den Markt gebracht werden. Ein Verbot des In-
verkehrbringens von Produkten im verbrauchernahen
Bereich, zumindest im freiverkäuflichen Bereich, halten
wir für sinnvoll und notwendig. Die Möglichkeit, spe-
zielle Produkte zum Beispiel für Diabetiker noch im
Fachhandel, zum Beispiel in Apotheken etc., zu erhalten,
sollte bestehen bleiben. Bisher reagieren die Verbrau-
cher auf Nanoprodukte aufgeschlossen. Allerdings hal-
ten wenige den Einsatz in Lebensmitteln für wünschens-
Zu Protokoll
wert. Neben einer verstärkten Risikoforschung brauchen
wir einen intensiven Dialog mit den Verbraucherinnen
und Verbrauchern darüber, welche Funktionen und Ver-
besserungen von Produkten, die mit Nanotechnologie
erzielt werden können, die Gesellschaft überhaupt für
nötig und sinnvoll hält.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1710831400

Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag

der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat,
ein zumindest temporäres Verbot von verbrauchernahen
Produkten mit sogenanntem Nanosilber zu erlassen. Be-
gründet wird dieser weitreichende Eingriff in das Markt-
geschehen und die privaten Eigentumsrechte mit nicht
auszuschließenden Gesundheits- und Umweltrisiken.
Ganz konkret ist die Rede von einer möglichen toxischen
Wirkung von Nanosilber für den Menschen, von mögli-
chen Risiken durch eine Resistenzbildung gegenüber
Krankheitserregern und von Risiken durch einen mögli-
chen Eintrag in die Umwelt. Alle drei Punkte sind ernst
zu nehmen, halten aber einer kritischen Betrachtung des
derzeitigen Wissensstandes nicht statt. Ich bitte Sie da-
her, den vorliegenden Antrag abzulehnen. Lassen Sie
mich zur Erläuterung unserer Position zunächst ein
paar allgemeine Ausführungen zur Thematik machen,
um dann auf die einzelnen Punkte des Grünen-Antrags
gesondert einzugehen.

Seit langem ist Silber bekannt für seine antimikro-
bielle Wirksamkeit. Bereits die alten Römer machten
sich diese Eigenschaft zunutze und behandelten ihr Was-
ser mit Silbermünzen. In der Medizin spielt Silber seit
dem 19. Jahrhundert eine Rolle. Es ist jedoch nicht das
reine Silber, welches gegen Bakterien aktiv ist, sondern
es sind die freigesetzten Silberionen. Diese wirken auf
Bakterien toxisch, haben jedoch auf die Zellen von
Säugetieren keine schädliche Wirkung und werden von
Menschen in einer großen Konzentrationsspanne tole-
riert. Entgegen weit verbreiteter Annahme ist auch Na-
nosilber keine neue Erfindung der Nanotechnologien,
sondern bereits seit mehr als 100 Jahren bekannt und in
verschiedenen Produkten im Einsatz. Die Schweizer
Forscher von der Eidgenössischen Materialprüfungs-
und Forschungsanstalt EMPA haben dies vor kurzem in
einem Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift
„Environmental Science & Technology“ mit dem Titel
„Nanosilber: Neuer Name – altbekannte Wirkung“ noch
einmal verdeutlicht. Ihr Fazit: „Nano bedeutet weder,
dass etwas neu, noch, dass es von vorneherein schädlich
ist.“ Bereits in den 1920er-Jahren, als das sogenannte
kolloidale Silber auf den Markt kam, löste das zahlrei-
che Studien und entsprechende Regulierungen seitens
der Behörden aus. So berücksichtigt etwa der Grenzwert
für Trinkwasser Silbereinträge in nanopartikularer
Form. Lassen Sie mich nun auf die einzelnen Kritik-
punkte des Antrags der Grünen eingehen. Beginnen wir
mit einer möglichen Gesundheitsgefährdung. Das BfR
hat in seiner Stellungnahme vom Dezember 2009 vor al-
lem zwei Applikationen von Nanosilber bewertet: den
Einsatz in Lebensmittelkontaktmaterialien und in Kos-
metika. Für den Einsatz von Silberverbindungen in
kosmetischen Mitteln sieht das BfR derzeit keine wissen-



gegebene Reden

Dr. Lutz Knopek


(A) (C)



(D)(B)

schaftlich begründeten Hinweise auf eine Verbraucher-
gefährdung. Für Lebensmittelkontaktmaterialien aus
Kunststoff nimmt das BfR Bezug auf die europäische Be-
hörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. Diese hat einen
spezifischen Migrationsgrenzwert festgelegt, bei dem
ein Einsatz von Silber unbedenklich ist. Zudem ist zu be-
achten, dass für alle Lebensmittelkontaktmaterialien die
Anforderungen der EU-Verordnung 1935/2004 gelten.
Demnach müssen alle Materialien so hergestellt wer-
den, dass sie die menschliche Gesundheit nicht gefähr-
den. Dazu muss eine entsprechende Sicherheitsbewer-
tung durchgeführt werden. Die Empfehlung des BfR, auf
einen Einsatz von Nanosilber dennoch generell in kon-
sumentennahen Produkten zu verzichten, fußt auf der
Begründung, dass kein zusätzlicher Nutzen aus einem
solchen Einsatz erkennbar sei. Eine solche Feststellung
kann jedoch nicht pauschal getroffen werden, und die
Entscheidung, ob im Einzelfall ein Einsatz von Nanosil-
ber sinnvoll ist oder nicht, sollte aus unserer Sicht den
Konsumenten und Produzenten überlassen werden.
Richtig ist hingegen, dass noch keine abschließende ge-
sundheitliche Risikobewertung möglich ist. Dazu man-
gelt es noch an gesicherten wissenschaftlichen Erkennt-
nissen. Diese Tatsache allein rechtfertigt jedoch noch
keinen weitgehenden staatlichen Eingriff. Vielmehr hal-
ten wir es für die bessere Vorgehensweise, die bestehen-
den epistemologischen Unsicherheiten durch verstärkte
Forschungsanstrengungen zu beseitigen. Die schwarz-
gelbe Bundesregierung hat dazu mit dem Aktionsplan
Nanotechnologie den entsprechenden Rahmen geschaf-
fen.

Kommen wir zum zweiten Punkt des vorliegenden An-
trags, einer möglichen Gesundheitsgefährdung auf-
grund von Resistenzbildungen. Das BfR konstatiert,
dass bisher nur wenige Daten aus systematischen epide-
miologischen Studien zur Verbreitung von Resistenzen
gegenüber Silberionen existieren. Aktuelle Arbeiten zei-
gen zudem nur eine geringe Prävalenz von Silberresis-
tenz. Auch stellt das BfR klar, dass dies keine nano-
silberspezifische Problematik darstellt, sondern generell
für den Einsatz von Silber zutrifft. Insgesamt ist aber
auch hier der Wissensstand derzeit zu gering, um gesi-
cherte Aussagen treffen zu können. Weitere wissen-
schaftliche Forschung ist daher angebracht, bevor eine
Entscheidung über eine Einschränkung oder ein Verbot
von Nanosilber getroffen werden kann. Dritter und letz-
ter Kritikpunkt des vorliegenden Antrags am Einsatz von
Nanosilber in Verbraucherprodukten ist die Möglichkeit
eines Eintrags von Nanosilber in die Umwelt und damit
verbunden eine Gefährdung der aquatischen Umwelt.
Das UBA verweist in diesem Zusammenhang auf eine
Studie, die eine erhöhte Sterblichkeitsrate von Wasser-
flöhen bei Exposition mit Nanosilber gegenüber mikro-
skaligem Silber festgestellt hat. Entscheidend ist jedoch
die Frage, ob überhaupt eine relevante Exposition
zustande kommt. Im vom BMBF geförderten For-
schungsprojekt „UMSICHT – Abschätzung der Umwelt-
gefährdung durch Silbernanomaterialien: vom chemi-
schen Partikel bis zum technischen Produkt“ wird genau
dieser Frage nachgegangen. Erste Ergebnisse des Ho-
henstein-Instituts kommen zu dem Schluss, dass die
Freisetzung von Nanosilber aus Funktionskleidung
Zu Protokoll
durch Waschvorgänge vernachlässigbar ist. Zudem wer-
den freigesetzte Partikel fast vollständig durch Abwas-
serkläranlagen zurückgehalten. Eine aktuelle Studie der
Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwas-
serreinigung und Gewässerschutz, EAWAG, kommt zu
dem Schluss, dass nach gegenwärtigem Kenntnisstand
Nanosilber in Abwasserreinigungsanlagen gut elimi-
nierbar ist. Eine Kontamination der aquatischen Um-
welt in relevanten Mengen erscheint daher unwahr-
scheinlich.

Abschließend kann daher festgestellt werden, dass
der derzeitige wissenschaftliche Forschungsstand zum
Thema Nanosilber keine Rechtfertigung für weitrei-
chende staatliche Eingriffe, wie von den Antragstellern
gefordert, liefert. Vielmehr bedarf es weiterhin der kon-
tinuierlichen Generierung gesicherten Wissens, welches
dann gegebenenfalls eine Fortentwicklung des regulato-
rischen Rahmens nach sich ziehen kann. Selbstverständ-
lich wird sich meine Fraktion der weiteren Diskussion zu
diesem Themenkomplex, auch im Rahmen einer öffentli-
chen Anhörung, wie in einem Schreiben des BUND ges-
tern gefordert, nicht verschließen.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1710831500

Nanosilber kann eine giftige Wirkung entfalten. Das

Bundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt daher: Auf
den Einsatz von Nanosilber in Lebensmitteln und Pro-
dukten des täglichen Bedarfs sollte verzichtet werden,
bis die Datenlage eine abschließende Bewertung der ge-
sundheitlichen Risiken erlaubt. Nach neueren Studien
können Leber und Lunge geschädigt werden. Die Exper-
ten weisen darauf hin, dass auch das krebsauslösende
Potenzial von Nanosilber zu untersuchen ist.

Doch was tut die Bundesregierung? Nichts. In ihrer
Antwort auf unsere Kleine Anfrage „Einordnung ge-
sundheitlicher und umweltbezogener Risiken der Nano-
technologie“ vom 20. April 2011 behauptet sie schlicht:
„Erkenntnisse oder Anhaltspunkte über krebserregende
Wirkungen von nanoskaligem Silber liegen nicht vor.“
Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge werden daher
nicht eingeleitet. Mit anderen Worten: Was ich nicht
weiß, macht mich nicht heiß. Ist das schon vorsätzliche
Körperverletzung oder nur Untätigkeit im Amt? In je-
dem Fall kommt die Bundesregierung ihrer gesetzlichen
Pflicht zur gesundheitlichen Vorsorge nicht nach. Der
Antrag der Grünen, Nanosilber in verbrauchernahen
Produkten zu verbieten, ist daher richtig. Er wird von
der Linksfraktion unterstützt.

Die Linke sagt: Nanosilber hat in Lebensmitteln und
Gegenständen des täglichen Bedarfs nichts zu suchen.
Auch müssen Verbraucherinnen und Verbraucher über
Nanobestandteile in Produkten besser aufgeklärt wer-
den. Wie ist der Zusatznutzen durch Nanotechnologie
belegt? Welche gesundheitlichen und umweltbezogenen
Risiken gibt es? Diese Fragen sind bisher offen. Tatsa-
che ist: Verbraucherschutz kommt bei dem Thema nicht
vor. Natürlich sind Nanostoffe vor allem für die Indus-
trie von Bedeutung. Ein wichtiger Nutzen ergibt sich
auch in der Medizin. Die Bundesregierung gibt jährlich
rund 400 Millionen Euro zur Förderung der Nanotech-



gegebene Reden

Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

nologie aus. Für die Sicherheitsforschung und Risikobe-
wertung im Rahmen der Vorsorge werden aber nur
0,1 Prozent der Gelder aufgewendet. Mehr ist dem zu-
ständigen Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz die Gesundheit der Bür-
gerinnen und Bürger nicht wert. Das ist ein krasser
Gegensatz. Die Linke sagt: Das ist unverantwortlich.

Wir nehmen zur Kenntnis: Die Erforschung und Be-
wertung von gesundheitlichen und umweltbezogenen
Risiken, die von Nanostoffen ausgehen, ist bisher weit-
gehend vernachlässigt worden. Der Gesetzgeber ist der-
zeit nicht in der Lage, wirksame Vorsorgemaßnahmen zu
treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht. Das ist offen-
bar auch so gewollt. Viele Ergebnisse von Risikounter-
suchungen, die mit Fördergeldern des Bundes finanziert
wurden, sind für die staatliche Vorsorge nicht verwert-
bar. Sie wurden durch Unternehmen vorrangig zur
Abschätzung betriebswirtschaftlicher Risiken vorge-
nommen. Sie dienen sogar dazu, die Gefahren, die von
Nanostoffen ausgehen können, in der Öffentlichkeit he-
runterzuspielen. Folgerichtig heißt es dann auch im
Nanoreport der Bundesregierung, dass mögliche Risi-
ken der Nanotechnologie in den Bereichen Verbraucher-
, Arbeits- und Umweltschutz ein „Hemmnis bei der Ver-
marktung nanotechnologischer Produkte“ darstellen.
Der Gesetzgeber ist gefordert, geeignete Vorsorgemaß-
nahmen zu treffen. Das gilt besonders für den Schutz von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Branche
der Nanotechnologie. Schnellstmöglich sollte eine ge-
setzliche Regulierung und Kontrolle von Nanostoffen
durchgesetzt werden. Auch die Fördermittel des Bundes
für die Risikobewertung sind deutlich zu erhöhen. Alle
Stoffe, die mindestens eine nanospezifische Eigenschaft
aufweisen, sollten in einem behördlichen Register er-
fasst werden. Die Verbraucherinformation ist deutlich zu
verbessern. Die Bundesregierung fordern wir auf: Neh-
men Sie die Bedenken Ihrer eigenen Experten ernst und
setzen Sie das Verbot von Nanosilber durch. Gesund-
heitsvorsorge muss Vorfahrt haben.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1710831600

In der Nanotechnologie stecken unbestritten große

Potenziale. Neue Technologien und ihre konkreten An-
wendungen haben nicht nur Vorteile, sie bergen oft auch
Risiken für Mensch und Umwelt. Dies gilt in besonderem
Maße für das Nanosilber, das zunehmend in Produkten
des täglichen Bedarfs verwendet wird, etwa in geruchs-
hemmenden Sportsocken, in Zahnbürsten oder in Le-
bensmittelverpackungen.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommt in Be-
zug auf die Substanzen, über die wir heute hier beraten,
zu der eindeutigen Empfehlung, auf den Einsatz von Na-
nosilber in Lebensmitteln und Produkten des täglichen
Bedarfs zu verzichten, da die Datenlage eine abschlie-
ßende Bewertung der gesundheitlichen Risiken nicht er-
laubt. Diese Empfehlung wurde vor wenigen Wochen
nach einem Workshop mit zahlreichen Experten durch
das BfR noch einmal untermauert. Der BfR-Präsident,
Professor Dr. Dr. Andreas Hensel, kam nach der Veran-
staltung zu dem Schluss: „Die Diskussion hat die Mah-
nung des BfR zur Vorsicht bestätigt, denn es gibt nach
Zu Protokoll
wie vor zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkennt-
nisse über die spezifischen Wirkungen von Silberparti-
keln in Nanogröße.“ Neuere Studien ergaben laut BfR
deutliche Hinweise auf bisher für Silber nicht bekannte
Wirkungen. Dazu würden beispielsweise krankhafte Ver-
änderungen von Gewebe in der Leber und in der Lunge
gehören. Über die Auswirkungen auf die Fortpflan-
zungsorgane des Menschen und über die krebsauslösen-
den Potenziale gibt es laut BfR bisher zu wenige Er-
kenntnisse und Daten. Darüber hinaus besteht die
Gefahr, dass durch die großflächige Verbreitung von Na-
nosilber resistente Keime entstehen. Dann wäre Silber
langfristig als wirksame Waffe gegen antibiotikaresis-
tente Keime für die Medizin verloren.

Auch das Umweltbundesamt warnt vor Gefahren für
Wasserlebewesen und nützliche Bakterien durch Nano-
silber, das sich zum Beispiel beim Waschen aus Textilien
löst und über das Abwasser in die Umwelt gelangt. Alle
diese Warnungen hat die Bundesregierung bisher igno-
riert. Das ist fahrlässig. Die Experten sagen: Es gibt
Gefahren für die Gesundheit, und wir wissen noch zu
wenig über die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.
Deshalb müssen wir im Sinne des Vorsorgeprinzips und
im Sinne des Gesundheitsschutzes aktiv werden und die
Verwendung von Nanosilber in verbrauchernahen Pro-
dukten so schnell wie möglich einschränken.

Bisher gibt es nicht einmal eine Kennzeichnungs-
pflicht für Produkte, die Nanopartikel enthalten. Die Ver-
braucherinnen und Verbraucher haben keine Chance,
Produkte im Laden zu erkennen, die Nanosilber enthal-
ten. Auf diesem Weg hält eine weitere Substanz Einzug in
unseren Alltag und in die Umwelt, deren Wirkungen
nicht abzuschätzen sind und bei der Gesundheitsgefähr-
dungen bisher nicht ausgeschlossen werden können.
Dabei gibt mir besonders zu denken, dass in anderen
Ländern viel strengere Entscheidungen zum Umgang
mit Nanosilber getroffen worden sind. In den USA gilt
Nanosilber seit 2007 als Pestizid. Auch auf europäischer
Ebene gab es bereits Bestrebungen, die Kennzeich-
nungspflicht für Produkte mit Nanosilber zu regeln und
ein Nanomaterialienregister einzuführen. Dieses Vorha-
ben wurde bis heute leider vor allem durch die großen
Widerstände einiger Industrieverbände ausgebremst.
Mit unserem Antrag wollen wir dafür sorgen, dass Be-
wegung in dieses Thema kommt. Die Bundesregierung
muss endlich tätig werden. Den schleichenden Einzug
von Nanosilberpartikeln in unseren Alltag und in die
Umwelt wollen wir verhindern, solange Gefahren für
Mensch und Umwelt durch diese Substanz nicht ausge-
schlossen werden können. Wir fordern deshalb, das In-
verkehrbringen von verbrauchernahen Produkten mit
Nanosilber zu verbieten. Außerdem wollen wir, dass bis
zum Verbot dieser Produkte eine Liste aller mit Nanosil-
ber produzierten und in Deutschland erhältlichen ver-
brauchernahen Produkte erstellt wird. Diese Liste muss
leicht zugänglich sein und öffentlich gemacht werden.
Die Menschen sollen bis zum Verbot in die Lage versetzt
werden, Produkten, die Nanosilber enthalten, aus dem
Weg zu gehen. Ich beantrage die Überweisung unseres
Antrags an die zuständigen Ausschüsse und die feder-



gegebene Reden





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


führende Beratung im Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1710831700

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3689 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz liegen soll. – Widerspruch erhebt sich
nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Sie werden es nicht für möglich halten: Wir sind am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag,
13. Mai 2011, 9 Uhr, ein. Ich freue mich, wenn wir uns
wiedersehen.

Die Sitzung ist geschlossen.
Guten Abend und alles Gute, was immer Sie heute

noch vorhaben!