Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in unsereTagesordnung eintreten.Seit unserer letzten Sitzung haben die Kolleginnenund Kollegen Gabriele Lösekrug-Möller, Heinz Paulaund Dr. Ilja Seifert ihre 60. Geburtstage gefeiert. ImNamen des Hauses noch einmal herzliche Gratulationund alle guten Wünsche!
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die KolleginChristine Lambrecht anstelle des ausgeschiedenenKollegen Olaf Scholz neues ordentliches Mitglied imGemeinsamen Ausschuss und im Vermittlungsaus-schuss werden soll. Darf ich dazu Ihr Einverständnisfeststellen? – Das sieht so aus. Dann ist die Kollegin inbeide Ausschüsse gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern, wozu auch die Vereidi-Redegung eines Bundesministers gehört, die nach dieserZusatzpunktliste heute Mittag, voraussichtlich zwischen12.30 und 13.00 Uhr – stellen Sie sich darauf bitte ein –,vorgenommen werden soll:ZP 1 Vereinbarte Debattezum Hilfsantrag PortugalsZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Ge-sundheitZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 29a) Beratung des Antrags der AbgeordRöspel, Dr. Ernst Dieter RossmanPeter Bartels, weiterer AbgeordneFraktion der SPDtzung, den 12. Mai 2011.01 UhrKampf gegen wissenschaftliches Fehlverhaltenaufnehmen – Verantwortung des Bundes fürden Ruf des Forschungsstandortes Deutsch-land wahrnehmen– Drucksache 17/5758 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinMüller , Marieluise Beck (Bremen), VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKriterien und Anforderungen für eine parla-mentarische Beteiligung an der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik der EU– Drucksache 17/5771 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 4 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einestextGesetzes zur Änderung des Bundesversor-gungsgesetzes und anderer Vorschriften– Drucksache 17/5311 –Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 17/5793 –Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. Birkwald
rucksache 17/5796 –ichterstattung:neten Renén, Dr. Hans-ter und dersch– DBerAbgeordnete Axel E. Fischer
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinRoland ClausAlexander BondeZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPzu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zurFestlegung der technischen Vorschriften fürÜberweisungen und Lastschriften in Euro undzur Änderung der Verordnung Nr. 924/2009 vom 16. Dezember 2010 – KOM(2010)775 endg.Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund-lich gestalten– Drucksache 17/5768 –ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten UweKekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai1959 kündigen – Für eine unabhängige und ef-fektive WHO– Drucksache 17/5769 –Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit hier Änderungen vorgesehen sind und soweit erfor-derlich, abgewichen werden.Aufgrund der vereinbarten Debatte zum HilfsantragPortugals und der Aufsetzung von zwei weiteren Zusatz-punkten nach den Tagesordnungspunkten 15 bzw. 17verschieben sich die nachfolgenden Tagesordnungs-punkte jeweils nach hinten. Die Tagesordnungspunkte18 und 26 werden abgesetzt.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgendeGesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutz-gesetzes und weiterer Gesetze– Drucksache 17/5178 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Wahl eines Mitglieds des ParlamentarischenKontrollgremiums gemäß Artikel 45 d desGrundgesetzes– Drucksache 17/5754 –Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf der Druck-sache 17/5754 dafür den Kollegen Dr. Hans-Peter Uhlvor.Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren.Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentari-sche Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist ge-wählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder desBundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens311 Stimmen erhält.Die Wahl erfolgt mit blauer Stimmkarte und blauemWahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweitnoch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in derLobby entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf,dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Namen trägt.
– Der Deutsche Bundestag nimmt mit Faszination dieersten Annäherungsversuche zwischen dem Vorsitzen-den der SPD-Fraktion und dem neuen Vorsitzenden derFDP-Fraktion zur Kenntnis, dem ich bei dieser Gelegen-heit herzlich zu seiner neuen Aufgabe gratuliere.
Gültig sind nur Stimmkarten, die mit einem Kreuzbei „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ versehen sind. Un-gültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuzoder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätzeenthalten.Die Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimm-karte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie dieStimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergebenSie bitte den Schriftführern an der Wahlurne Ihren Wahl-ausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kannnur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wer-den.Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführerbitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alleWahlurnen besetzt? – Das ist offenkundig der Fall.Dann eröffne ich den Wahlgang.An der Urne am Ausgang zur Abgeordnetenlobbyscheint noch ein Schriftführer zu fehlen. Könnten sichdie Geschäftsführer bitte darum kümmern?Ist noch ein Mitglied des Hauses im Saal anwesend,das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offen-sichtlich nicht der Fall. Ich schließe die Wahl und bittedie Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl werden wirIhnen später bekannt geben.1)Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, nehmen Sie bitte wieder Platz.1) Ergebnis Seite 12293 B
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich rufe den Zusatzpunkt 1 unserer Tagesordnung auf:Vereinbarte Debattezum Hilfsantrag PortugalsHierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP sowie ein Entschließungs-antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ge-schäftsführende portugiesische Regierung hat sich An-fang April angesichts fortgesetzten Vertrauensverlustesund sich massiv verschlechternder Refinanzierungsbe-dingungen an den Finanzmärkten gezwungen gesehen,internationale Finanzhilfen zu beantragen. Die Verhand-lungsführer der Europäischen Kommission, der Europäi-schen Zentralbank und des Internationalen Währungs-fonds, die daraufhin nach dem vorgesehenen vereinbartenMechanismus die entsprechenden Prüfungen vorgenom-men und Verhandlungen mit der portugiesischen Regie-rung geführt haben, sind zwischenzeitlich zu derEinschätzung gekommen, dass die Tragfähigkeit der por-tugiesischen Staatsverschuldung durch ein striktesfinanz- und wirtschaftspolitisches Reformprogrammwiederhergestellt werden kann. Wir sollten den portugie-sischen Bürgerinnen und Bürgern diese Chance nicht ver-wehren.Neben der geschäftsführenden portugiesischen Regie-rung haben sich auch die beiden größten Oppositionspar-teien auf die Ziele dieses finanz- und wirtschaftspoliti-schen Programms verpflichtet. Das ist wichtig; denn eskann keine Finanzhilfen auf der Basis unverbindlicherZusagen geben. Im Übrigen wird jedes Programm seineZiele nur erreichen, wenn die Bevölkerung des betref-fenden Landes den Weg mitgeht, wenn sie sieht, dass derWeg notwendig und richtig ist – zu einer nachhaltigenWiederherstellung der portugiesischen Staatsfinanzenund der dauerhaften Stärkung der WettbewerbsfähigkeitPortugals. Das ist der Weg, der Portugal eine Zukunfts-perspektive eröffnet. Es handelt sich um ein ehrgeizigesMaßnahmenpaket, über das die europäischen Finanz-minister am Montag und Dienstag der kommenden Wo-che zu beraten und zu befinden haben. Wir haben unsgestern um das notwendige Einvernehmen mit demHaushaltsausschuss bemüht und geben dem Bundestagheute, wie es die gesetzliche Regelung vorsieht, Gele-genheit zur Stellungnahme.Das Maßnahmenpaket ist ehrgeizig, aber auch mach-bar. Die portugiesische Regierung hat im Übrigen in denvergangenen Monaten schon erhebliche Konsolidie-rungsanstrengungen unternommen und hat sich ver-pflichtet, weitere Maßnahmen in einer Größenordnungvon 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zur Reduzie-rung des Defizits in Kraft zu setzen: Es sollen Gehälterim öffentlichen Dienst sowie Renten jenseits eines Min-destbetrags für die sozial Schwächeren gekürzt oderzusätzlich besteuert werden. Die Beschäftigung im öffent-lichen Dienst soll um jährlich 1 bis 2 Prozent zurückge-führt werden. Im Gesundheitssystem sollen 550 MillionenEuro eingespart werden. Die Transfers an nachgeordneteEbenen sollen gekürzt werden. Die öffentlichen Unter-nehmen kommen – das scheint mir besonders wichtig –auf den Prüfstand; sie müssen ihre Kosten um 15 Prozentreduzieren. Die Effizienz der Verwaltung soll gesteigertund die Haushaltskontrolle intensiviert werden. Der An-wendungsbereich ermäßigter Mehrwertsteuersätze wirdreduziert, und Ausnahmen von der Körperschaft- undEinkommensteuer werden abgebaut. Verbrauchsteuernwie etwa die Tabaksteuer und auch die Immobiliensteuersollen erhöht werden. Durch Privatisierungen sollen biszum Ende des Programms zusätzlich 5,5 MilliardenEuro aufgebracht werden.Ich nenne diese einzelnen Punkte, damit man ein Ge-fühl dafür bekommt, dass es sich wirklich um ein durchkonkrete Maßnahmen unterlegtes und deswegen als trag-fähig zu beurteilendes Programm handelt.Aber Schwerpunkt des Programms sind Strukturrefor-men für die Wirtschaft. Denn das eigentliche ProblemPortugals ist seit vielen Jahren, dass die Wachstumszah-len der portugiesischen Wirtschaft und die Wettbewerbs-fähigkeit ungenügend sind. Portugal hat seit 2000, alsoseit über zehn Jahren, ein durchschnittliches Wachstumvon nicht mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.Das hat zu einem hohen Leistungsbilanzdefizit geführt. DieNettoauslandsverschuldung Portugals liegt bei 110 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts. Der private Sektor ist mit260 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hoch verschul-det. Die öffentliche Verschuldung ist nicht so hoch wiein anderen europäischen Mitgliedsländern.Um mehr Wachstum zu ermöglichen, müssen die Ar-beitsmärkte flexibilisiert werden. Vor allen Dingen jungeMenschen brauchen eine bessere Beschäftigungsper-spektive. Deswegen hat die portugiesische Regierungeine Reihe von Maßnahmen vorgesehen, um zu einergrößeren Effizienz, einer stärkeren Beschäftigung undeiner größeren Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zukommen.Auf der Grundlage dieses Programms ist es vertretbarund richtig, Finanzhilfen bis zu 78 Milliarden Euro zurVerfügung zu stellen, um Portugal den Weg zu denFinanzmärkten in einer angemessenen Zeit wieder zu er-möglichen. Der Internationale Währungsfonds wird sichmit einem Drittel daran beteiligen; die anderen zweiDrittel müssen vom EFSF, also der Gemeinschaft derEuro-Länder, und dem EFSM, dem Fonds der 27 Mit-gliedsländer der Europäischen Union, getragen werden,wobei die Aufteilung der zwei Drittel zwischen den bei-den Fonds am Montag noch im Einzelnen abschließendbehandelt werden muss. Das ist noch nicht im Letztengeklärt.Ich glaube, dass wir vorschlagen können, dass wir– unter den noch zu vereinbarenden Bedingungen – die-
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sem Programm, diesen Vorschlägen zustimmen. Ich bitteum die Stellungnahme des Deutschen Bundestags dazu.Meine verehrten Damen und Herren, liebe Kollegin-nen und Kollegen, die Situation Portugals zeigt erneut,wie ernst wir die Gefahr von Ansteckungseffekten in derEuro-Zone nehmen müssen. Portugal ist weniger starkverschuldet als andere Euro-Staaten. Portugal hat nicht– um ein weiteres Problem zu nennen – wie Irland einenweit überdimensionierten Bankensektor. Dennoch ist esaus den genannten Gründen zu einer dramatischen Ver-schlechterung der Refinanzierungsbedingungen gekom-men. Das zeigt, wie wichtig eine verstärkte, frühzeitigewirtschaftliche Überwachung potenzieller Krisenstaatenund die Umsetzung von Strukturreformen in der Euro-Zone insgesamt sind.Deswegen ist es gut, dass wir im vergangenen Jahr inder Europäischen Union die Stärkung des Stabilitäts-und Wachstumspakts beschlossen haben, dass wir mitden makroökonomischen Überwachungsverfahren nichtnur die Haushaltsentwicklung beobachten, sondern auchein stärkeres Augenmerk auf die wirtschaftliche Ent-wicklung richten, dass wir mit dem Euro-Plus-Pakt fürmehr Wettbewerbsfähigkeit Möglichkeiten gefunden ha-ben, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit aller Mit-gliedsländer zu verbessern.All das wird seine Wirkung nicht über Nacht zeigen.Wir haben es mit Problemen zu tun – es sind mehr Pro-bleme, als wir vor einem Jahr gehofft haben –, die ihreUrsachen im Grunde in Fehlern der Vergangenheit ha-ben, mit denen wir aber umgehen müssen, weil wir inunserem ureigensten – auch deutschen – Interesse diewirtschaftliche und politische Integration Europas ver-teidigen und die Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeitder Europäischen Währungsunion gewährleisten müs-sen. Wir müssen in diesem Zusammenhang uns und un-sere Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder und wiederdaran erinnern, dass wir von der wirtschaftlichen Inte-gration und der europäischen Währungsgemeinschaftgroße wirtschaftliche und soziale Vorteile haben.Wir hätten die Finanz- und Bankenkrise des Jahres2008 nicht annähernd so gut überstanden – die Folgenwie der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um4,7 Prozent waren schwer genug –, wenn wir nicht dieEuropäische Währungsunion gehabt hätten. Fast zweiDrittel unserer Exporte gehen in andere europäischeLänder. Ohne die gemeinsame Währung hätten wirstarke Aufwertungstendenzen gehabt. Ohne die Europäi-sche Währungsunion hätten wir nicht die gute Ent-wicklung des Arbeitsmarkts, der Wirtschaft und – dieErgebnisse der Steuerschätzung werden heute bekanntgegeben – der öffentlichen Finanzen.
Deswegen gehen wir diesen Weg, auch wenn schwie-rige Entscheidungen erforderlich sind, die keinem leicht-fallen und bei denen wir die Aufgabe haben, sie immerwieder gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbür-gern zu begründen. Denn die europäische Einigung wirdam Ende nur gelingen, wenn wir die Mitbürgerinnen undMitbürger wieder und wieder von der Richtigkeit undVerantwortlichkeit unserer Entscheidungen überzeugen.Wir handeln im besten Interesse aller Europäer und vorallen Dingen aller Deutschen; denn wir haben in mehrals einem halben Jahrhundert nicht weniger als anderepolitisch und wirtschaftlich von der europäischen Eini-gung profitiert. Wir tun das Beste für die Zukunft unse-rer Kinder und nachfolgender Generationen, wenn wirdie europäische Einigung auch für die Zukunft leistungs-fähig und nachhaltig halten. In Zeiten der Globalisierungkann keiner von uns in Europa seinen Interessen gerechtwerden, ohne dass wir in Europa zu gemeinsamen politi-schen, finanziellen und wirtschaftlichen Entscheidun-gen fähig sind und so unsere Interessen in der Weltwahrnehmen; daran müssen wir uns erinnern.
Das gilt auch für Griechenland. Natürlich weiß ich,dass die vielen Meldungen, die Entwicklung der Zins-sätze an den Finanzmärkten und all diese Dinge für er-hebliche Beunruhigung sorgen. Liebe Kolleginnen undKollegen, damit es ganz klar ist: Wir haben mit Grie-chenland vor etwas mehr als einem Jahr eine Kreditver-einbarung getroffen. Die Kredite werden in vierteljährli-chen Raten ausbezahlt. Die Grundlage jeder Auszahlungsind vierteljährliche Berichte des Internationalen Wäh-rungsfonds, IWF, der Europäischen Zentralbank und derEuropäischen Union dazu, ob sich das Programm verein-barungsgemäß weiterentwickelt. Diese Berichte sind Vo-raussetzung für jede Entscheidung. Den letzten Berichtgab es im März. Angesichts wachsender Gerüchte aufden Finanzmärkten darüber, dass die Situation kritischerwird, habe ich schon im April gesagt, dass wir uns dennächsten Bericht im Juni besonders sorgfältig anschauenwerden. Denn wir werden keine unverantwortlichen Ent-scheidungen treffen, aber wir können unsere Entschei-dungen nur auf der Grundlage klarer Analysen treffen.Der nächste Bericht des IWF, der EZB und der Europäi-schen Kommission über die Entwicklung in Griechen-land steht im Juni an. Auf der Grundlage dessen werdenwir entscheiden.Wenn sich herausstellen sollte, dass Griechenland nichtin dem zeitlichen Rhythmus, wie es in den vergangenenJahren zugrunde gelegt wurde, an die Finanzmärkte zu-rückkehren kann, dann muss darüber gesprochen werden,welche zusätzlichen Maßnahmen insbesondere Grie-chenland ergreifen kann und was zusätzlich getan wer-den kann, um dieses Problem zu lösen. Ohne klare Kon-ditionen werden wir keine zusätzlichen Maßnahmenbeschließen können. Denn alles andere würde Zweifelan der Verlässlichkeit dessen hervorrufen, was wir heuteund in der nächsten Woche auch im Hinblick auf Portu-gal zu entscheiden haben. Nur Verlässlichkeit kann dieGrundlage für verantwortliche Entscheidungen sein.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Wir wer-den ständig gewarnt, wir mögen bei jeder Überlegungdahin gehend, dass auch der private Sektor an den Kos-ten für irgendwelche Maßnahmen beteiligt werdenkönne, auf die Reaktion der Finanzmärkte achten. Dasist richtig. Wir sind in die Finanzmärkte eingebunden.Wir haben ein Interesse an funktionierenden Finanz-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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märkten und ein Interesse daran, dass das Vertrauen derinternationalen Finanzmärkte in Europa erhalten bleibt.
Auch der Bund muss sich in diesem Jahr in einer Grö-ßenordnung von weit über 300 Milliarden Euro an denFinanzmärkten refinanzieren. Das Vertrauen der Finanz-märkte ist eine Conditio sine qua non. Aber Vertrauen indie Nachhaltigkeit unserer wirtschaftlichen Ordnungsetzt auch voraus, dass nicht die Gewinnchancen bei denInvestoren und die Risiken beim Steuerzahler liegen.
Deswegen brauchen wir Regelungen, die das Ver-trauen nicht gefährden. Diese haben die Bundeskanzle-rin und die Bundesregierung im Europäischen Ratdurchgesetzt. An den Regelungen, die im Rahmen desVertrages über den Europäischen Stabilisierungsmecha-nismus im Einzelnen ausgehandelt werden, wird dieBundesregierung festhalten. Sie sind am Ende Voraus-setzung nicht nur dafür, dass wir Entscheidungen treffenkönnen, sondern auch dafür, dass wir das Vertrauen derMenschen überall in Europa, auch in unserem Land, indie Fairness und die soziale Vertretbarkeit der von uns zutreffenden Entscheidungen erhalten können.Es kann nicht sein, dass es auf Dauer eine derart klareTrennung von Chancen und Risiken gibt. Deswegenmüssen wir diesen Weg gehen.Wir werden auch im Hinblick auf Griechenland undden Europäischen Stabilisierungsmechanismus daraufachten. Wir werden das, was wir im Deutschen Bundes-tag beschlossen haben, in Europa gemeinsam vertreten.Wir sind in Europa nicht allein. Aber wir werden unsereVerantwortung wahrnehmen. Meine Bitte, mein Appellan uns alle ist: Lassen Sie uns unserer Verantwortung ge-recht werden! Aber lassen Sie uns nie vergessen, dassunsere Verantwortung vor allen Dingen auch darin liegt,dass wir die Nachhaltigkeit der europäischen Einigungwirtschaftlich und politisch nicht gefährden. Das ist dasWichtigste, was wir im Interesse unserer Zukunft zu leis-ten haben.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Schäuble, Ihnen nehmen wir Ihre uneinge-schränkte europäische Überzeugung ohne Zweifel ab.Aber Ihr Problem ist doch in Wahrheit, dass Ihre eigenenTruppen aus dem Regierungslager täglich anders funken,nicht nur der Koalitionspartner, sondern auch das ge-samte Regierungslager.
Ist nicht die ganze Wahrheit, dass die Bundeskanzle-rin und der Außenminister auch hier im Parlament stän-dig mit ängstlichem Blick auf die Innenpolitik und dieinnere Lage der Koalitionsparteien schauen, anstatt sichoffen ihrer Verantwortung zu stellen?
Mit anderen Worten: Die große Angst dieser Regierunghat einen Namen, und dieser Name ist Europa. Das warvor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen so – ich erinnereSie daran –, das war vor dem letzten Sommer so, das warvor den Wahlen in Baden-Württemberg so und nach denMärzbeschlüssen im Europäischen Rat. Im Zusammen-hang mit dem künftigen Rettungsschirm haben Sie sichwieder vor der Debatte im Bundestag gedrückt und ge-hofft, dass man die parlamentarische Beratung möglichstweit in den Herbst hinein schieben kann. Ich sage Ihnen:So kann man mit dem Parlament nicht umgehen, und sokann man auch mit europäischer Verantwortung nichtumgehen.
Frau Bundeskanzlerin, Herr Finanzminister, das sageich auch deshalb, weil sich nach meiner Erinnerung die-ses Parlament der europäischen Verantwortung nie ent-zogen hat. Die ganze Wahrheit ist doch: Nicht das Parla-ment ist der Regierung jemals in den Arm gefallen,wenn Deutschland in der europäischen Pflicht war, son-dern es sind Ihre eigenen Leute, derer Sie sich nicht si-cher sind und vor denen Sie Angst haben. Das ist dochder Grund dafür, weshalb wir uns seit Wochen und Mo-naten ein, wie ich jedenfalls finde, ganz und gar unwür-diges Schauspiel miteinander liefern.Herr Finanzminister, Sie enthalten uns wichtige Bera-tungsunterlagen vor. Was im Nachbarland Österreichselbstverständlich ist, nämlich die Vorlage des Textesdes Vertrages zum europäischen Stabilisierungsmecha-nismus, das soll offenbar hier in Deutschland nicht gel-ten. Ich könnte auch zugespitzt sagen: Der Spiegel kenntIhre geheimsten Termine im europäischen Ausland; aberdieses Parlament darf nicht wissen, welche VerträgeDeutschland schließt. Das kann nicht sein. Das ist aucheine Frage der Selbstachtung dieses Hauses.
Wir können uns jetzt einmal fragen: Was hat es ei-gentlich gebracht, dass wir mehrfach nicht zur richtigenZeit im Deutschen Bundestag offen und ehrlich mitei-nander gestritten haben, sondern immer wieder versuchtworden ist, die notwendigen Debatten hinauszuschie-ben? Wenn wir zurückschauen, sehen wir doch, dass wirin den letzten anderthalb Jahren jedes Mal von der Wirk-lichkeit eingeholt worden sind. Wenn Sie so wollen, hatam Ende auch die Unerbittlichkeit der Märkte dafür ge-sorgt, dass Ihr Handeln gekennzeichnet wird als das, wases ist, nämlich als mutloses Herumdoktern an Sympto-men, immer zu spät, nie vor der realen Entwicklung,
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Dr. Frank-Walter Steinmeier
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sondern immer hinterherhinkend und meistens getriebenvon anderen. Ich sage Ihnen: Europa erwartet anderesvon Deutschland und anderes von dieser Regierung.
Es ist ja nicht nur die böse Opposition, Frau Merkel,die hier im Bundestag gelegentlich sagt und auch heutewieder sagen muss, dass mit Blick auf die letzten 10 bis15 Jahre das Ansehen Deutschlands und der deutschenRegierung in Europa auf dem Tiefpunkt angekommenist. Das finden Sie auch, wenn Sie sich einmal die Zei-tungen aus der letzten Zeit anschauen. Der Altmeisterder deutschen Außenpolitik, Hans-Dietrich Genscher,beschreibt im Tagesspiegel nach Analyse der Lage – ichfinde, das ist ein Artikel, der für Sie in der FDP hochbri-sant ist –:Von Deutschland ist jetzt eine aktive Rolle gefor-dert und Handlungsfähigkeit der Regierung.Was heißt das mit anderen Worten? Es ist doch auchseine Analyse, dass diese Bundesregierung und die sietragenden Parteien für alles Mögliche stehen – für Streit,für populistische Anwandlungen –; aber sie stehen ebennach Genschers Ansicht ganz offenbar für eines nicht:für eine aktive Rolle in Europa und für handlungsfähigePolitik. Diese Analyse teile ich, meine Damen und Her-ren.
Es ist nicht so, dass ich nur Häme empfinde. Ich weiß,dass das ein schwieriger Parteitag für Sie wird. Aberdeshalb schauen wir alle natürlich genau hin, was imVorfeld des Parteitages geäußert wird.
Ich sehe – und nicht nur ich – Anträge etwa aus demLandesverband Hessen, in denen der Bundestagsfraktionund den Aktiven im Kabinett vorgeworfen wird, sie hät-ten die Europäische Union in eine Transferunion umge-wandelt und so gegen fundamentale liberale Überzeu-gungen verstoßen. Vom hessischen Landesverbandwerden Sie aufgefordert, die Einführung einer europäi-schen Finanztransaktionsteuer kategorisch abzulehnen.Ich sage Ihnen: Sie gehen hier einen gefährlichen Weg.Wenn es ein Thema gibt, das sich aus meiner, aus unse-rer Sicht für Populismus nicht eignet, und bisher war dasunsere gemeinsame Überzeugung,
dann ist das die Europapolitik. Bei diesem Thema brau-chen wir klare Linien und Verlässlichkeit.
Ich habe im vergangenen Jahr gemeinsam mit PeerSteinbrück einen Vorschlag veröffentlicht – wir habenihn nicht zurückgehalten –, wie ein europäisches Gesamt-konzept in der gegenwärtigen Finanzkrise und in derKrise der Europäischen Währungsunion aussehenkönnte. Wir haben gesagt: Das funktioniert nur dann,wenn Deutschland bereit ist, in einer solchen Situationeine Führungsrolle zu übernehmen. Sie wollten das da-mals nicht hören. Sie haben im Dezember des vergange-nen Jahres gesagt, so schlimm werde das alles nichtkommen und wir sollten aufhören, den Teufel an dieWand zu malen. Ich erinnere mich noch sehr genau andie erregten Zurufe, die es in diesem Parlament aus demRegierungslager, auch von der Regierungsbank gegebenhat, als ich gesagt habe: Wir dürfen nicht zulassen, dassdie EZB zur Bad Bank Europas wird.Wie sieht das heute, gut ein halbes Jahr später, aus?Für fast 80 Milliarden Euro hat die EZB am Sekundär-markt Staatsanleihen gekauft. Vermutlich liegen ebensoviele riskante Bankanleihen im Depot. Der Nachfolgervon Herrn Trichet wird ein verdammt schwieriges Erbeantreten. Warum? Weil die europäischen Regierungen,auch die deutsche, nicht den Mut hatten, nach einem ver-nünftigen und mutigen Gesamtkonzept zu handeln. Dasist der Grund.
Peer Steinbrück und ich haben damals gewusst, dassunser Vorschlag nicht besonders populär war und in derdeutschen Öffentlichkeit und bei den Medien nicht nurauf Zustimmung stoßen würde. Aber wir haben gesagt:Wir werden so etwas brauchen wie einen intelligentenHaircut; wir werden so etwas brauchen wie einen perma-nenten Rettungsschirm; und wir werden, wenn es unsgelingt, die europäischen Wirtschaftspolitiken mit einergemeinsamen europäischen Wirtschaftsregierung stärkerzusammenzuführen, auch den Weg für eine limitierteZulassung von Euro-Bonds freimachen müssen. „Wirwollen das nicht!“, haben Sie damals gerufen. In allenPunkten sind Sie sechs Monate später von der Realitäteingeholt worden. Natürlich haben wir inzwischen eineSpielart der Transferunion, auch wenn sie nicht so hei-ßen darf. Natürlich haben wir in Zukunft eine Art euro-päischer Anleihen; nur Euro-Bonds dürfen sie nicht ge-nannt werden. Natürlich wird es am Ende auchUmschuldungen und Haircuts geben müssen und geben.Die Frage ist nur: Wie werden sie ausgestaltet, und wannwerden sie kommen? Warten wir, bis alle privaten Gläu-biger aus dem Schneider sind, oder gelingt es uns nochvorher, private Banken und Versicherungen in Mithaf-tung zu nehmen? Alle in Europa wissen das, nur die Re-gierung verhält sich wie die drei chinesischen Affen:nichts sagen, nichts sehen, nichts hören. So geht dasnicht.
Statt zu sagen, was ist, hat sich so eine Art Orwell’scherNeusprech durchgesetzt. Wir haben eine Transferunion, dienicht so heißen darf, Euro-Bonds, die keine sind, und amEnde werden Sie den Haircut, der kommen wird, als sanfteRasur verkaufen. Man kann das so machen; das bestreite ichnicht. Man kann damit eine Koalition wie diese vielleichteine Zeit lang über die Runden retten. Aber man muss wis-sen, was dabei auf der Strecke bleibt: die eigene Glaubwür-digkeit auf jeden Fall, aber auch – und das ist schlimmer –die Zustimmung zu diesem großen europäischen Projekt, andem wir Interesse haben sollten. Ich hätte vor einem, vor an-derthalb Jahren noch jeden für verrückt erklärt, der gesagt
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hätte: Das gemeinsame europäische Projekt kann irgend-wann einmal in Gefahr geraten. – Inzwischen bin ich mirnicht mehr so sicher. Dabei muss uns doch bewusst sein:Ohne Europa und ohne die europäische Integration wäredie Geschichte dieses Landes anders verlaufen. Wir wol-len und wir brauchen dieses Europa. Das sage ich, obwohlich weiß, dass es zuhauf Defizite und Unzulänglichkeitengibt. Aber wir dürfen dieses Europa nicht den Stimmun-gen, nicht den Stammtischen, nicht dem Boulevard über-lassen. Es ist unsere Aufgabe, die Ärmel hochzukrem-peln, rauszugehen und dafür zu kämpfen. Wir dürfennicht zulassen, dass erodiert, was von Generationen voruns aufgebaut worden ist.Lassen Sie uns hier offen und ohne Orwell’schenNeusprech über Europa debattieren, auch darüber, wasuns dieses Europa wert ist.
Wir sind für europäische Solidarität, und wir sind für dieHilfen für Portugal samt dem Paket. Dazu stehen wir.Aber ich sage Ihnen voraus: Die Zustimmung der deut-schen Öffentlichkeit für diese europäische Politik ist inGefahr, wenn wir den Eindruck erwecken, dass dieNutznießer dieser Solidarität nicht die Staaten und dieMenschen in den europäischen Staaten sind, sondern Fi-nanzanleger und Banken. Europäische Solidarität mussmehr sein. Sie funktioniert auf Dauer nicht ohne Beteili-gung der Finanzmärkte. Machen Sie deshalb endlich denWeg für die Finanztransaktionsteuer frei. Sorgen Sie da-für, dass sie in Europa eingeführt wird. Auch das ist Teileiner europäischen Solidarität.
Ein letzter Satz aus dem Artikel von Hans-DietrichGenscher, der mir ernst ist und der vielleicht in schwieri-gen Debatten auf dem FDP-Parteitag hilft:Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wirnicht.Herzlichen Dank.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
kann ich Ihnen das Ergebnis der Wahl eines Mitglieds
des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Art. 45
des Grundgesetzes mitteilen: abgegebene Stimmen 568,
ungültige Stimmen 2, gültig folglich 566 Stimmen. Mit
Ja haben gestimmt 401 Mitglieder des Deutschen Bun-
destages, mit Nein 138. 27 Kolleginnen und Kollegen
haben sich der Stimme enthalten. Damit hat der Kollege
Dr. Hans-Peter Uhl die erforderliche Mehrheit von min-
destens 311 Stimmen nicht nur erreicht, sondern auch
überboten und ist damit gewählt.1) Herzlichen Glück-
wunsch!
1) Namensverzeichnis der Teilnahme an der Wahl siehe Anlage 2
Nächster Redner ist der Kollege Luksic für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Nach Irland nimmt nun auch Portugal die Hilfe desEuro-Rettungsschirms in Anspruch. Lassen Sie michgleich zu Beginn meiner Rede deutlich sagen: Es liegtim europäischen und im deutschen Interesse, einen un-kontrollierten Zahlungsausfall Portugals zu verhindern;denn die Auswirkungen auf die Finanzstabilität der ge-samten Euro-Zone wären nicht absehbar. Deswegen istes richtig, dass wir Verantwortung übernehmen. HerrSteinmeier, Sie haben eben von Verantwortung und Soli-darität gesprochen. Aber als es darauf ankam, als es umden Rettungsschirm für Griechenland ging, haben Sieund die SPD sich aufgrund der bevorstehenden Wahl inNRW, also aufgrund innenpolitischer Erwägungen – Siekritisieren sonst immer, die Regierung würde so etwastun –, enthalten. Deswegen sollte die SPD bei diesemThema ganz zurückhaltend sein.
Die harten Bedingungen des Rettungsschirms erfüllenihre Funktion. Es gibt keine Anreize, die Staatsverschul-dung weiter in die Höhe zu treiben. Der Rettungsschirmist die Ultima Ratio. Portugal hat sich lange gesträubt,unter den Rettungsschirm zu gehen. Das zeigt, dass dieseKonstruktion richtig ist. Der Rettungsschirm ist keinSelbstbedienungsladen; er ist vielmehr ein Rettungsnetz.Die Reißfestigkeit dieses Netzes wird von dem betroffe-nen Land selbst bestimmt. Die europäischen Staatenspannen das Netz; die Stärke der Seile wird von demLand bestimmt, das das Rettungsnetz braucht. Ohne ge-nügend eigene Anstrengungen, ohne Strukturreformenund Haushaltskonsolidierung, reißt dieses Netz. Deswe-gen ist es gut und richtig – das ist Teil der Politik derBundesregierung –, dass es auch im Fall von Portugaldie Hilfen nur im Zusammenhang mit einem ehrgeizigenwirtschaftlichen Anpassungsprogramm gibt, das dazubeitragen soll, dass Portugal wieder auf eigenen Beinenstehen kann. Das ist im deutschen Interesse, das ist imeuropäischen Interesse. Deshalb müssen wir hier helfen.
Portugal wird mit dem Hilfspaket von insgesamt78 Milliarden Euro zwei Jahre lang von den Finanz-märkten unabhängig sein. Es hat also Zeit, sich zurefinanzieren, den Haushalt zu konsolidieren und dienotwendigen Strukturreformen anzugehen. Das Haupt-problem Portugals ist die mangelnde Wettbewerbsfähig-keit. Allerdings ist es nur bedingt mit Griechenland und
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Oliver Luksic
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Irland vergleichbar; denn Portugal hat ein funktionieren-des Staatswesen und eine industrielle Basis, auf der manaufbauen kann. Es kommt jetzt darauf an, die Wettbe-werbsfähigkeit zu steigern. Deshalb liegt der Schwer-punkt in dem Anpassungsprogramm auch auf den Struk-turreformen. Die Bedingungen des Hilfspakets und dieeuropäische Kontrolle machen dies möglich.Das Hilfspaket ist kein Selbstzweck, sondern Hilfezur Selbsthilfe. Die drei Kernelemente sind: Haushalts-konsolidierung, eine Strategie für den Finanzsektor mitBankenreform und Rekapitalisierung sowie – das ist dasWichtigste – tief eingreifende und sofort einsetzendeStrukturreformen im Arbeitsmarkt, im Justizsystem, beider Infrastruktur und auch im Dienstleistungsbereich.Die Auflagen der internationalen Gemeinschaft sindstreng. Portugal verpflichtet sich, bis 2013 Einsparungenin Höhe von 10 Prozent des BIP durchzuführen. Bis2013 soll das Maastricht-Kriterium wieder eingehaltenwerden. Das wird durch die regelmäßige neutrale Über-prüfung durch IWF, EZB und Kommission vor der Aus-zahlung weiterer Tranchen garantiert. Ich glaube, in derdeutschen Öffentlichkeit gibt es zu wenig Verständnisdafür, was das wirklich heißt. Politisch heißt das für Por-tugal die Aufgabe eines großen Teils politischer Souve-ränität. Es sind große und schmerzhafte Einschnitte, diezugemutet werden. Das Programm der neuen Regierung– wir werden jetzt Wahlen in Portugal haben – wird zueinem großen Teil durch die Bedingungen des Hilfspa-kets schon vor dem Koalitionsvertrag festgeschrieben.Für uns muss aber klar sein: Nur wenn diese Reformenwirklich umgesetzt werden, wenn die Versprechungen inPortugal eingelöst werden, kann und darf auch gezahltwerden.
Das Programm der Regierung ist ambitioniert. Im öf-fentlichen Dienst in Portugal werden die Löhne einge-froren. Die Renten werden gekürzt, die Bezugsdauer desArbeitslosengeldes wird gesenkt, das Überstundengeldwird gedeckelt.
Die Zahl der Rathäuser und Gemeindeverwaltungenwird verringert. Privatisierungen im Energiebereich, beider Post und der Telekommunikation stehen an. LiebeKollegen der Linkspartei, es werden auch Steuern er-höht, um die finanzielle Basis zu stärken. Auch wird derFinanzsektor reguliert. Deswegen noch einmal, was dasRettungsnetz angeht: Die Portugiesen haben es selbst inder Hand, ob das Netz hält oder nicht. Jedenfalls sind dieLeistungen, die sich Portugal vornimmt, sehr ambitio-niert und ehrgeizig. Davor sollten auch wir im Deut-schen Bundestag, glaube ich, hohen Respekt haben.
Jetzt kommt es darauf an, dass sich auch die Opposi-tionsparteien in Portugal an das halten, was angekündigtwurde. Sie haben dem in einem Brief zugestimmt. Dasist wichtig und notwendig.Die EU ist handlungsfähig. Geeignete Instrumente fürden Umgang mit Schuldenstaaten wurden gefunden. Esmuss aber klar sein: Euro-Rettungsschirm und ESMkönnen nur Notfallmaßnahmen sein. Jetzt ist es umsowichtiger, die Weichen für die Zukunft zu stellen, damites keine Dauerhilfen gibt. Deswegen brauchen wir inEuropa eine Stabilitätskultur und eine marktwirtschaftli-che Entwicklung der Euro-Länder. Vor allem müssenVerstöße wirksam sanktioniert werden. Deshalb ist esumso wichtiger, dass wir bei den Verhandlungen inBrüssel, die jetzt anstehen, gerade beim Economic-Governance-Paket dafür sorgen, dass wir die Ursachenneuer Krisen bekämpfen und nicht nur an den Sympto-men herumdoktern. Darum muss der Stabilitäts- undWachstumspakt so geschärft werden, dass die Mitglied-staaten ihre Haushalte in Ordnung bringen. Bei Verstö-ßen müssen früher Sanktionen verhängt werden. Siemüssen automatisch erfolgen, damit sie auch endlicheinmal angewendet werden. Das ist nämlich das Pro-blem, das wir in Europa haben.
Zu einer wirksamen Konsolidierung gehören auch dieAufnahme von Schuldenbremsen in das nationale Rechtder Mitgliedstaaten, die Integration des Euro-Plus-Paktsin die Rechtstexte, ein europäischer Rahmen für dieFinanzinstitute, die keine Grenzen kennen, eine straffereBankenregulierung, Regeln für staatliche Insolvenz undvor allem – das wird der Hauptknackpunkt der Verhand-lungen in Brüssel sein – die private Gläubigerbeteiligungim ESM. Sowohl im Hinblick auf den ESM als auch aufmögliche weitere Hilfen für Griechenland ist es wichtig,dies in Brüssel zu verankern. Wir wissen, wie schwierigdas ist, weil sowohl die EZB als auch die Mehrzahl derMitgliedstaaten der Europäischen Union hier große Be-denken haben. Insofern ist es ein umso größerer Erfolgder Bundesregierung, dass sie durchgesetzt hat, dass esmit dem ESM im Rahmen der CACs eine Beteiligungprivater Gläubiger geben wird. Das ist ein Erfolg dieserBundesregierung.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zur Parlamentsbetei-ligung. Diese muss gestärkt werden. Das hat sich auchim Falle Portugals gezeigt. Die FDP-Bundestagsfraktionist der Meinung, dass wir das Parlament durchaus nochproaktiver informieren können.
Es wird, auch im Hinblick auf den zukünftigen ESM, be-sonders wichtig sein, dass es für die Auslösung vonHilfszusagen und Änderungen der Instrumente oder derAusleihkapazität einen Parlamentsvorbehalt gibt. Ohnediesen würde es, wie ich glaube, schwierig sein, einem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12295
Oliver Luksic
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ESM zuzustimmen. Ich bin der festen Überzeugung,dass die Parlamentsbeteiligung die Regierung nichtschwächt. Im Gegenteil: Sie stärkt die Regierung beiVerhandlungen auf europäischer Ebene in Brüssel. Diesliegt nicht nur im Interesse des Parlaments, sondern auchim Interesse der Bundesregierung.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde,dass wir heute eigentlich eine Regierungserklärung derBundeskanzlerin zur Situation sowohl in Griechenlandals auch in Portugal hätten verlangen können und müs-sen.
Frau Bundeskanzlerin, auch wenn Sie sich freiwillig indie letzte Reihe der FDP-Fraktion setzen, ändert diesnichts daran, dass Sie für das, was dort geschehen ist,hier rechenschaftspflichtig sind.Der Weg, den man mit Blick auf Griechenland gegan-gen ist, ist gescheitert. Dort findet nicht nur ein in jederHinsicht nachvollziehbarer Generalstreik statt. Viel-mehr sind dort alle Methoden gescheitert, so wie wir esübrigens von vornherein vorausgesagt haben. Jetzt wen-den Sie dieselben Methoden bei Portugal an. Das kannnicht gutgehen.
Herr Bundesfinanzminister, am Freitag nahmen Sie aneinem Treffen teil. Ein bisschen haben Sie davon erzählt;aber es war ja in gewisser Weise ein Geheimtreffen. Ichfinde, das Parlament hat einen Anspruch darauf, zu er-fahren, was die Finanzminister der Euro-Zone dort ver-einbart haben.Was Griechenland betrifft, haben Sie gesagt, manmüsse strikte und harte Sparauflagen erteilen, dieserWeg werde aus der Krise hinausführen. Er hat aber nochtiefer in die Krise hineingeführt. Wann ziehen Sie darausSchlussfolgerungen?
Ich möchte, dass unserer Bevölkerung eine Frage be-antwortet wird: Sind Länder wie Griechenland, Irlandund Portugal in einer Krise, weil die Leute dort faul undraffgierig sind – so lautet eine immer wieder anklin-gende rassistische Antwort –, oder hat das, wie wir mei-nen, ganz andere Ursachen? Darüber muss aufgeklärtwerden. Jeder Staat steht privaten Banken gegenüber.Diese privaten Banken geben einem Staat gerne Kredite,und zwar deshalb, weil der Staat ein sicherer Gläubigerist, der immer artig die Zinsen zahlt. Dies führt dazu,dass Staaten immer mehr Kredite aufnehmen. Dadurchsteigt nicht nur die Belastung hinsichtlich der Raten,sondern auch die Belastung hinsichtlich der Zinsen. VonProblemstaaten – diese drei Länder sind solche – verlan-gen die Banken dann immer höhere Zinssätze, sodass esirgendwann unbezahlbar wird. Dadurch werden alleHaushalte belastet. Nun stellt sich die Frage: Was kannman dagegen tun? Ein Mittel wäre, Steuergerechtigkeitherzustellen. Aber dieser Vorschlag wird niemals ge-macht, auch nicht in Bezug auf ein anderes Land. DieRenten sollen gekürzt werden. Aber Steuergerechtigkeitherzustellen, das wird niemals verlangt. Das ist aber eineder wichtigsten Voraussetzungen.
Apropos FDP: Alle neoliberalen Parteien im Bundes-tag machen immer wieder das Gegenteil. Sie sagen, dieSteuern müssten gesenkt werden.
FDP und Union haben die Vermögensteuer abgeschafft.SPD und Grüne haben den Spitzensteuersatz der Ein-kommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt.
Es passiert, wie gesagt, immer das Gegenteil. Irgend-wann steht man vor einem Problem, Herr Steinmeier:vor dem Problem, dass man soziale Leistungen plötzlichnicht mehr bezahlen kann. Dann muss man entweder denWeg des Sozialabbaus gehen, wie Sie es mit derAgenda 2010 getan haben, oder man muss sich höherverschulden.
In der Regel passiert übrigens beides zeitgleich: Manverschuldet sich höher und baut Sozialleistungen ab.Dieser Weg ist aber falsch; denn wenn die Schuldenwachsen, steigen die Zinslasten weiter. Das heißt, manist in einem Teufelskreis. Wenn man Sozialabbau be-treibt, dann sinken die Steuereinnahmen. Das heißt, auchdas ist keine Lösung, sondern bewirkt nur eine Verschär-fung des Problems.Zurück zu Griechenland, Irland und Portugal. Die pri-vaten Ratingagenturen haben das Recht, Staaten einzu-schätzen, und zwar gerade dann, wenn die Finanzmärkteentfesselt sind. Wenn die privaten Ratingagenturen mit-teilen, dass diese drei Staaten nichts taugen, dann hat daszur Folge, dass die Zinslasten noch größer werden. Da-mit wären sie zahlungsunfähig, und es bleibt ihnen keinanderer Weg, als sich an die Europäische Union und denInternationalen Währungsfonds zu wenden.
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12296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dr. Gregor Gysi
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Man muss aber auch fragen, warum das so ist. Wasmüssen denn die Staaten bezahlen? Sie müssen ihreSchulden bei den privaten Banken abzahlen. Was ist mitden Auslandsbanken? Die deutschen Banken und Versi-cherungen haben Forderungen gegenüber Griechenlandund Portugal. Wenn sich unsere Bundesregierung hiersehr bemüht, dann sollten Sie ehrlicherweise sagen, dasses Ihnen auch und vordergründig darum geht, dass dieDeutsche Bank und die deutschen Versicherungen alleihre Gelder zurückbekommen. Das steckt nämlich da-hinter.
Wenn die Staaten wirklich pleitegingen – wobei ich mirnicht vorstellen kann, wie das aussehen soll – –
– Ja, aber unser Ziel war, dass Sie pleitegehen, und dasist uns auch einigermaßen gelungen.
– Quatschen Sie doch nicht immer so ein dummes Zeug!Hören Sie zu! Sie können etwas lernen.
Es gibt noch einen anderen Weg. Man könnte einenStaat per Gesetz entschulden. Das hätte aber zwei Kon-sequenzen: Zum einen würde man von den Banken niewieder Geld geliehen bekommen. Zum anderen würdenauch die deutschen Banken und Versicherungen furcht-bar darunter leiden.Ich nenne einmal die Zahlen in Bezug auf Griechen-land, damit unsere Bevölkerung weiß, worum es geht.Die Allianz-Versicherung hat gegenüber der griechi-schen Regierung Forderungen in Höhe von 3,5 Milliar-den Euro, die Münchener Rückversicherung 2,2 Milliar-den Euro, die Deutsche Bank 1,6 Milliarden Euro unddie Commerzbank 3 Milliarden Euro. Insgesamt schul-det der griechische Staat all diesen Einrichtungen25,4 Milliarden Euro. Das zu sichern, ist die vordringli-che Aufgabe der Bundesregierung. Das sagen Sie nie,Herr Schäuble. Ich finde, diese Wahrheit muss auch aufden Tisch.
Jetzt stellt sich die Frage, wie man dieses Problem lö-sen könnte. Es ist ganz einfach: nur durch das schwedi-sche Modell. Dann muss man dazu bereit sein, dass allegroßen Privatbanken, ob in Griechenland, Portugal oderDeutschland, durch die jeweiligen Staaten übernommenwerden. Damit werden die Schulden, Zinslasten etc. re-guliert.
– Ich weiß, dass die SPD konservativ ist. Als Konserva-tive können Sie meinetwegen später alles wieder repri-vatisieren. Die großen Privatbanken nicht zu überneh-men, ist aber ein gigantischer Fehler.
Was haben Sie denn beschlossen? Nach der Pleite derHypo Real Estate in Deutschland haben Sie beschlossen,die Hypo Real Estate zu übernehmen. Die Große Koali-tion hat sie verstaatlicht. Das heißt, dass die Bürgerinnenund Bürger mit ihren Steuergeldern eine Forderung derDeutschen Bank gegen die Hypo Real Estate bezahlenmussten. 10 Milliarden Euro aus den Steuergeldern derBürgerinnen und Bürger haben wir der Deutschen Bankgezahlt. Das führte dazu, dass die Deutsche Bank großeGewinne machte, riesige Dividenden an ihre Großaktio-näre ausschüttete und Boni an all ihre Ackermänner ver-teilte. Das ist ungerecht. Hätten wir auch die DeutscheBank übernommen, wäre das Ganze nicht passiert.
Sie lehnen diesen Weg ab. Der Internationale Währungs-fonds hat aber gerade festgestellt, dass die Banken nachder Krise noch mächtiger geworden sind, als sie schonvor der Krise waren.Was sagen Sie jetzt den betroffenen Ländern? Wel-chen Weg gehen Sie? Sie sagen erstens, dass diese Län-der von der EU und vom Internationalen WährungsfondsGeld gegen höhere Zinsen bekommen. Zweitens sollensie öffentliches Eigentum verkaufen. Das können sie al-lerdings nie mehr zurückkaufen; sie werden diesbezüg-lich entmündigt. Mein Vorredner hat recht damit, dassdas eine Einschränkung der Souveränität dieser Staatenbedeutet. Drittens müssen die betroffenen Länder Ren-ten, Löhne, Sozialleistungen und Investitionen drastischsenken.
Was sind die Folgen? Erstens. Unbeteiligte und Un-schuldige bezahlen die Krise. Zweitens. Es ist sozialgrob ungerecht. Drittens führen sinkende Einkommender Bevölkerung zu sinkenden Steuereinnahmen. Diesinkende Kaufkraft der Bevölkerung führt zu einerSchwächung der Binnenwirtschaft. Das wiederum führtebenfalls zu sinkenden Steuereinnahmen. Sie haben ei-nen Teufelskreis organisiert, aus dem Griechenland garnicht mehr herauskommen kann. Diesen Teufelskreisschlagen Sie jetzt auch Portugal vor.
An Griechenland gingen 110 Milliarden Euro. DieFrage ist: Wie viel soll nun hinzukommen? Dies wurdevom Bundesfinanzminister nicht beantwortet. An Irlandgingen 85 Milliarden Euro, und an Portugal sollen78 Milliarden Euro gehen. Aber Portugal ist nicht Irland.Dort hatten wir keine Immobilienblase. Die Staatsver-schuldung ist viel geringer. Was sind eigentlich die Pro-bleme dort? Eine gigantisch hohe Verschuldung, undzwar sowohl des Staates als auch der privaten Haushalte!Lassen Sie mich Ihnen zu den privaten Haushalten inPortugal eine Zahl nennen. Wenn man sämtliche Ein-kommen eines ganzen Jahres in Portugal addiert – Ren-ten, Sozialleistungen, kleine Einkünfte, hohe Einkünfte –und dieser Summe die Verschuldung der privaten Haus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12297
Dr. Gregor Gysi
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halte gegenüberstellt, dann kommt man zu dem Ergeb-nis, dass die Verschuldung im Vergleich zum gesamtenJahreseinkommen der portugiesischen Bevölkerung bei130 Prozent liegt. Wer ist daran schuld? Der deregulierteprivate internationale Finanzmarkt! Dagegen machenSie gar nichts. Das ist das Problem. Dadurch wachsenständig die Zinslasten.
Portugal hat Auslandsschulden in Höhe von220 Milliarden Euro, gegenüber Deutschland 33 Milliar-den Euro. Wir haben also ein Eigeninteresse, Portugal zuhelfen. Wir müssen doch nicht immer so tun, als ob dasGanze altruistisch wäre. Gerade Deutschland ist eben-falls auf die Hilfe angewiesen. Es gibt aber eine weitereUrsache. Sie besteht in den harten und unsozialen Spar-auflagen. Schauen wir uns einmal an, was Sie bisher inder EU – jetzt kommt noch einiges hinzu – gemacht ha-ben: Kürzung des Arbeitslosengeldes in Portugal um20 Prozent, Verkürzung der Bezugszeiten des Arbeitslo-sengeldes von 36 auf 18 Monate, Gehaltskürzungen imöffentlichen Dienst um 5 Prozent, Anhebung der Mehr-wertsteuer auf 25 Prozent, Kürzung der Pensionen. Derin Portugal gesetzlich geregelte Mindestlohn in Höhevon 475 Euro pro Monat darf in den nächsten Jahrennicht mehr erhöht werden. Das alles haben Sie festge-legt.
– Natürlich hat das die EU festgelegt. Das alles sind dieAuflagen der EU.
– Die Bundesregierung war aber führend daran beteiligt.Wenn Sie das nicht mitbekommen haben, tut es mir leid.Das Problem ist, dass dieser Teufelskreis gar nichtfunktionieren kann. Wenn Sie dafür sorgen, dass der por-tugiesische Staat immer geringere Steuereinnahmen hat:Wie soll er denn dann aus der Krise herauskommen? Ichsage es noch einmal: Es hat in Griechenland nicht funk-tioniert, und es kann auch in Portugal nicht funktionie-ren. Nun muss Portugal öffentliches Eigentum im Wertvon 5,3 Milliarden Euro verkaufen. Verkehrsprojekteund andere Investitionen müssen gestrichen werden.Wir müssen aber auch die Handelsungleichgewichtein der Europäischen Union und vor allen Dingen in derEuro-Zone berücksichtigen. Deutschland hat im Märzeinen neuen Rekord in seiner Geschichte aufgestellt.98,3 Milliarden Euro war der Wert dessen, was wir ex-portiert haben. Ein neuer Rekord! 60 Prozent der Ex-porte gingen in die Europäische Union.
– Aber diese Plusseite Deutschlands ist gleichzeitig dieNegativseite anderer Staaten, auch Portugals.
Ihre einseitige Orientierung am Export wird zu einemimmer größeren Problem. Wodurch ist Ihnen denn dieserRekord gelungen? Er ist Ihnen gelungen, weil Sie dieRenten, die Sozialleistungen und die Löhne gekürzt ha-ben.
Herr Kollege Gysi, ich ahne, dass Ihnen noch vieles
zu diesem Thema einfällt. Aber die Redezeit gibt das
nicht mehr her.
Ich verstehe das, Herr Präsident. Aber ich muss Ihnen
ehrlich sagen: Es sind noch so viele wichtige Dinge, die
ich Ihnen zu sagen habe.
Sie könnten mir das jetzt vertrauensvoll übergeben.
Dann gebe ich Ihnen eine Zusage.
Es ist bedauerlich, dass Sie das nicht mehr erfahren
werden.
Zum Schluss sage ich nur: Wir müssen vier Schritte
gehen. Wir müssen die Wirtschaft Portugals durch einen
Marshallplan stärken und brauchen dort keine Sozialkür-
zungen und Privatisierungen. Irland, Griechenland und
Portugal brauchen geringere Zinsen. Das sind kurzfris-
tige Dinge. Langfristig brauchen wir ein schwedisches
Modell und endlich die Regulierung der Finanzmärkte
durch Verbot von Hedgefonds, Leerverkäufen und die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Deutschland
muss seine einseitige Orientierung am Export aufgeben.
Es braucht höhere Löhne, höhere Renten, höhere Sozial-
leistungen, eine höhere Kaufkraft und endlich eine Stär-
kung der Binnenwirtschaft und nicht eine einseitige
Orientierung am Export.
Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie:
Sie müssen mit unserer Unterstützung rechnen.Gestern im Haushaltsausschuss wollten sich Ihre Ab-geordneten anfangs einer Formulierung verweigern,nämlich dass wir das Einvernehmen erteilen, dass Portu-gal an dieser Stelle geholfen wird.
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12298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Jürgen Trittin
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Was sind das in Ihren Reihen für Zustände, dass Dinge,die Ihr eigener Bundesfinanzminister ausgehandelt hat,nicht mehr das Einvernehmen der Fraktion finden!
Heute Morgen lese ich, dass sich 19 Abgeordnete ausIhren Reihen gegen den Europäischen Stabilisierungs-mechanismus stellen wollen. Ich kann nur unterstrei-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie das hier im Bun-destag durchbekommen wollen, dann ist es an der Zeit,dass Sie sich endlich so verhalten wie die österreichischeRegierung auch und diesem Haus den Vertragsentwurfvorlegen. Das ist das Mindeste, was man hier an Respektvor dem Grundgesetz erwarten kann.
Es ist richtig, Portugal zu helfen. Wir halten das fürnotwendig und für ein Gebot der Solidarität in Europa.Wenn man das nicht täte, wäre das schlecht für Portugal,aber auch schlecht für uns. Würden wir den Liquiditäts-vorteil, den wir und die anderen Zahlenden in diesemEFSF haben, nicht an Portugal weitergeben
– ja, wir führen einen Transfer von Liquidität durch; dasist der Mechanismus, Herr Kollege –, dann würde sichPortugal Mitte Juni in einer Größenordnung von mindes-tens 10 Prozent auf den internationalen Kreditmärktenrefinanzieren müssen. Wenn wir all das Richtige, washier über die Schwierigkeiten und die Härten des portu-giesischen Anpassungsprozesses gesagt worden ist, ernstnehmen, dann kann ich nur sagen: Das ist hart, aber imVergleich dazu, dass sie sich sonst mit 10 Prozent refi-nanzieren müssten, ist das eine vergleichsweise leichteÜbung. Die Sozialkürzungen, die bevorstehen würden,wenn wir Portugal nicht helfen würden, die möchte ichmir nicht ausmalen, und da möchte ich auch nicht aufder Ecke der Linken sitzen, die heute sagt, diese Hilfesolle nicht gewährt werden.
Portugal ist nicht Irland, und Portugal ist auch nichtGriechenland. In allen drei Fällen gibt es unterschied-liche Gründe für die krisenhafte Entwicklung und auchdie Zerrüttung der Staatsfinanzen, die daraus resultiert.Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, das Reform-programm in Portugal ist ein anderes als das in Irland.Wir haben es mit einer Finanzierung zu einem Drittelüber Einnahmen, auch Steuererhöhungen, zu tun. Eswerden ermäßigte Körperschaftsteuersätze gemindert,und es gibt eine Einschränkung von Steuervergünstigun-gen.Ich glaube immer noch, dass man darüber streitenkann, ob das sozial ausgewogen und ökonomisch ver-nünftig ist. Aber dieses Programm geht wenigstens einenSchritt in die Richtung, dass man ein Stück daraus ge-lernt hat, dass man nur mit Sparen und Austerität Ländernicht aus der Krise holen kann. Man muss sparen, aberman muss auch investieren; man muss Haushalte sanie-ren, und man muss die Wettbewerbsfähigkeit stärken,wenn man aus dieser Krise in Europa rauskommen will.
Das ist das, wozu ich von Ihnen, Frau Bundeskanzle-rin, eine Botschaft völlig vermisse. Sie bewegen sichnach wie vor in der Logik des Strafens, des Zwingensund der Austerität. Aber es wird kein Gedanke daraufverschwendet, in welcher Weise auch und gerade dieseLänder realwirtschaftlich wieder auf einen Kurs ge-bracht werden können, mit dem ihre Krise tatsächlichüberwunden wird und sie nicht kaputtgespart werden.Sie haben in meinen Augen kein Konzept für die Über-windung der Krise.Ich will da gar nicht die Anträge aus der FDP zitieren.Mich würde schon mal interessieren, Herr Bundesaußen-minister, was Sie als jemand, der von Berufs wegen Eu-ropa verpflichtet ist, in dieser Debatte eigentlich sagenwürden: Stehen Sie dazu, dass wir zur Sicherung Euro-pas einen gemeinsamen Rettungsschirm brauchen?
Stehen Sie als Außenminister zu der Idee eines gemein-samen Europas, oder wollen Sie weiterhin die Schäfflersund anderen Neoliberalen in Ihrem Laden gegen Europamobilisieren lassen? Ich vermisse, dass Sie gelegentlichdoch mal zu solch einem Thema außenpolitisch etwassagen.
Aber es gibt dabei ja ein weiteres Problem. Sie habenmit Ihrer Haltung die Krise nicht verkürzt, sondern ver-längert und verschärft.
– Nein, das haben Sie nicht. – Die Bundeskanzlerinmeint, sie hätte sie ausgelöst. Also, davor muss ich sie inSchutz nehmen. Das haben Sie nicht.
Aber haben wir nicht dazu beigetragen, dass der Weg ausdieser Krise länger ist, als es notwendig gewesen wäre?Haben Sie nicht mit dem Beharren auf bestimmte Zins-sätze im Solidaritätspakt die Schwierigkeiten dieserStaaten mit vergrößert?
Ich will diese Fragen in aller Ernsthaftigkeit stellen. Wirstehen heute vor der Situation, dass Ihnen internationalniemand mehr abnimmt, dass es am Ende des Tagesohne eine Umschuldung Griechenlands gehen wird. Diemeisten Experten sind auch der Auffassung, dass wahr-scheinlich auch in Irland kein Weg daran vorbeiführt.
Wir diskutieren heute schon – auch das leugnen Sie na-türlich – ein neues Paket auch für Griechenland. Das ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12299
Jürgen Trittin
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wahrscheinlich unausweichlich. Aber, Frau Merkel,wenn das unausweichlich ist: Warum haben Sie nichtden Mut, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Das istso, wir müssen dieses Paket und dieses Problem gemein-sam bewältigen“?Was machen Sie stattdessen? Sie wiederholen denFehler, den Sie schon Irland gegenüber gemacht haben.Wäre es nicht klüger gewesen, bei Irland mit der glei-chen Härte darauf zu dringen, dass Irland seine lächerli-chen Körperschaftsteuersätze anhebt, wie Sie darauf ge-drängt haben, dass Irland 5,8 Prozent Zinsen auf dieeuropäischen Kredite bezahlt? Das war die falsche Prio-ritätensetzung,
das hat die Krise in Irland ökonomisch verlängert, und esführt uns in die Nähe der Umschuldung. Das ist das Pro-blem. Nun wollen Sie den gleichen Fehler im Falle Por-tugals fortsetzen.Damit wir uns da nicht missverstehen: Auch ichglaube, dass es einen bestimmten Aufschlag auf die refi-nanzierten Kosten geben muss. Der Zinsvorteil kannnicht vollständig weitergegeben werden, weil wir in einRisiko gehen, ein Risiko, das dieses Haus und dieserBundeshaushalt im gegebenen Falle mitzutragen haben.Aber Sie müssen mir doch mal erklären, warum wir,wenn wir das Geld für den Fonds für 2,7 Prozent aufdem Kreditmarkt aufnehmen, es an Portugal für6 Prozent weitergeben wollen, während selbst der Inter-nationale Währungsfonds nur 3,2 Prozent oder 4,2 Pro-zent verlangt. Wollen wir Portugal helfen, Frau Bundes-kanzlerin, oder wollen wir an der Hilfe verdienen?Wollen wir Portugal abzocken? Das sind doch die Fra-gen, die sich an dieser Stelle stellen.
Ich glaube, wir sind in Europa in einer sehr ernsten Si-tuation. Wir erleben dieser Tage, wie eine kleine, frem-denfeindliche Partei in Dänemark die gesamten europäi-schen Bürgerinnen und Bürger als Geisel nimmt undgegen das Grundrecht auf Freizügigkeit versucht, in Eu-ropa wieder Grenzkontrollen durchzusetzen. Wir sind ineiner Situation, in der der Zusammenhalt Europas in ei-ner Weise herausgefordert wird, die wir alle als Europäerschon lange nicht mehr für möglich gehalten haben.Wie agiert man in einer solchen Krise? In einer sol-chen Situation sind doch europäische Überzeugung undStandfestigkeit das Richtige und nicht das Wegduckenvor solchen Mechanismen.
Nicht das Bedienen des Stammtisches, sondern das Be-kenntnis zu einem gemeinsamen Europa mit seinenGrundfreiheiten, das ist die Herausforderung.Dazu gehört auch konsistentes, glaubwürdiges Han-deln. Deswegen ist es richtig, Portugal zu helfen. Aberes ist schädlich, ökonomisch kurzsichtig, falsch und kri-senverlängernd, in dieser Weise zu versuchen, an derHilfe zu verdienen. Deswegen müssen Sie dafür sorgen,dass die Zinssätze an dieser Stelle gesenkt werden. Wirdürfen nicht mehr verlangen, als selbst der IWF verlangt.Vielen Dank.
Norbert Barthle ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Herr Kollege Trittin, ich will zunächst ein-mal feststellen: Wären Sie im Haushaltsausschuss dabeigewesen, hätten Sie zur Kenntnis nehmen dürfen, dasswir der Bundesregierung, dem Bundesfinanzminister dasEinholen des Einverständnisses sogar vollumfänglich at-testiert haben;
das ist schriftlich festgehalten und nachzulesen. Dies istdeshalb vollumfänglich geschehen, weil der Bundes-finanzminister schon am Montagabend die Obleute in-formiert hat. Das hätte er nicht tun müssen; das hat erfreiwillig getan. Ihre Kollegin Hinz war ebenfalls dabei.
Die Bundesregierung hat an dieser Stelle alles Notwen-dige getan.Auch an die Opposition gerichtet sage ich: Ich finde,es ist schon kleinkariert, wenn die einzige Kritik, die Siezu äußern haben, sich daran festmacht, dass es in denReihen der Koalition einige Andersdenkende gibt. Ichbin überzeugt: Diese Personen gibt es auch bei Ihnen.Allerdings interessiert das in der Öffentlichkeit momen-tan niemanden. Wenn das alles ist, was Sie an Kritik zuäußern haben, dann sind wir ganz gut aufgestellt.Eines muss man eingestehen: Wir diskutieren nichtzum ersten Mal über eine Hilfe für ein Euro-Land, das inSchwierigkeiten geraten ist. Griechenland war der An-fang; ein Sonderfall bis heute. Ich beteilige mich nichtan den Spekulationen um Griechenland; da bin ich ganzbeim Bundesfinanzminister. Wir sollten in aller Ruhe ab-warten, was die Prüfungen durch den IWF, durch dieEZB und die EU-Kommission im Juni ergeben. Danachsollten wir über weitere Schritte nachdenken, und wirsollten nicht vorher schon den Teufel an die Wand ma-len.Wir haben im Dezember vergangenen Jahres Irlandunter strengen Auflagen unter den Rettungsschirm ge-holt. Heute klopft Portugal an. Es ist das zweite Euro-
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12300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Norbert Barthle
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Land, das – nicht zuletzt zur Reorganisation der Banken-landschaft und zwecks Wiederherstellung seiner Liqui-dität – unter den Rettungsschirm schlüpfen möchte. Wirsind aufgefordert, an dieser Stelle wirksam zu helfen.Wir kennen die Verfahren. Wir müssen das Rad nichtneu erfinden. Das hilft uns weiter, soll aber nicht denEindruck erwecken, als ob es Routine wäre. Ganz imGegenteil: Es gibt ernstzunehmende Fragen, die dieMenschen in diesem Zusammenhang an uns stellen, undwir greifen diese Fragen auf: Wie soll es weitergehen?Wann zieht ihr die Reißleine? Gibt es keine Alternati-ven? Wie schützt ihr die Steuerzahler? Lassen Sie michversuchen, einige dieser Fragen zu beantworten.Wie soll es weitergehen? Zunächst einmal ist derEuro-Rettungsschirm ein vorübergehender Mechanis-mus. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir die Zeit, diewir jetzt haben, nutzen, um einen dauerhaften Mechanis-mus im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanis-mus, ESM, zu verankern. Für uns ist es dabei wichtig,dass im ESM alle Entscheidungen einstimmig erfolgen,dass also niemals gegen unsere Interessen entschiedenwerden kann. Für uns ist es weiterhin wichtig, dass alleHilfen konditioniert erfolgen, sprich: mit Gegenleistun-gen, entsprechenden Reformen verbunden sind. Außer-dem ist für uns ganz wichtig, dass die Gläubigerhaftungin diesem Regelmechanismus verankert wird und dassdamit risikobehaftete Spekulationen nicht zulasten derBürger, sprich: der Steuerzahler, stattfinden können.Zweite Frage: Wann zieht ihr die Reißleine? Auch da-rauf gibt es eine Antwort. Wenn Euro-Staaten Hilfen be-antragen, dann gibt es eine ganze Latte von Prüfungenund Vereinbarungen, insbesondere zu den damit verbun-denen Auflagen. Wenn diese Regularien den Überprü-fungen standhalten, ist Hilfe berechtigt.Wir schenken aber niemandem etwas. Die Wahrneh-mung der deutschen Öffentlichkeit ist an dieser Stellediametral entgegengesetzt zu der Wahrnehmung in denbetroffenen Ländern.
Gerade durch die Demonstrationen in Griechenland wirddies jetzt wieder augenfällig gezeigt.Die Euro-Rettung ist deshalb auch im ureigenen deut-schen Interesse zu betrachten. Wer, wenn nicht wir, pro-fitiert denn vom Euro? Ich will nur ganz kurz beispiel-haft benennen: Die Stabilität unserer Währung mussgesichert werden und ist gesichert. Die Transaktionskos-ten fallen weg. Allein das macht für die Betroffenen eineEntlastung von 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr aus.Wir haben keine Wechselkursschwankungen. Das gibtSicherheit. Wir haben eine hohe Preistransparenz in ganzEuropa. Jeder weiß, was ein Glas Bier in Paris, in Ma-drid, in Mailand, in Berlin und sonst wo kostet.
Durch den gemeinsamen Heimatmarkt – so nenne ichihn einmal – gibt es sehr viele individuelle Vorteile, dieich jetzt gar nicht im Einzelnen erläutern will.Dritte Frage: Gibt es denn keine Alternativen zu im-mer neuen Hilfen? Diese Frage wird von den Bürgernimmer wieder gestellt.Selbstverständlich gibt es auch andere Wege, über dieman nachdenken kann. Wir sind nicht so vermessen, zuglauben, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen.Es gibt immer wieder ernstzunehmende Experten, dieuns zuhauf gute Ratschläge dafür geben, was mangrundlegend anders machen könnte. Eines muss man andieser Stelle aber festhalten: Die sind nicht in der Verant-wortung. Die Verantwortung für das, was wir machen,müssen wir übernehmen. Wir müssen uns deshalb sehrgenau überlegen, was wir machen. Das tun wir; denn dieEuro-Rettung ist kein Spielplatz, auf dem es um theoreti-sche Alternativen geht.Ich kenne niemanden, der über Alternativen redet undmir präzise voraussagen kann, was am Ende dabei he-rauskommt. Das ist das Entscheidende; denn wenn beimEuro etwas schiefläuft, dann hat dies verheerende Fol-gen – nicht nur für Deutschland, sondern auch fürEuropa und, wenn man so will, für die ganze Welt. Dassdas so ist, kann man daran ablesen, dass der IWF, einewirklich internationale Organisation, die EZB und dieEU-Kommission der 27 Mitgliedsländer und nicht nurder 17 Länder, die den Euro haben, an der jeweiligenRettung beteiligt sind, egal, welcher Rettungsmechanis-mus greift. Alle beteiligen sich an diesen Rettungsmaß-nahmen. Allein schon dadurch zeigt sich die Bedeutung.Ich kann deshalb nur davor warnen, über das Szenarionachzudenken, ein Mitgliedsland aus dem Euro-Raumoder aus der Währung herauszudrängen. Selbst für Län-der, die keine gemeinsame Währung haben, ist einStaatsbankrott ein Desaster. Noch schlimmer wäre es,wenn dies in einem gemeinsamen Währungsraum ge-schehen würde. Die Folgen wären wirklich unbeschreib-lich.Jetzt komme ich zur letzten Frage: Wie schützt ihr unsSteuerzahler? Gerade mit dem, was wir tun, zielen wirdarauf ab, die Steuerzahler zu schützen; denn wir gebenGarantien und keine Haushaltsmittel. Wir geben Sicher-heiten für Kredite, deren Rückzahlung wir erwarten. Wirwollen keine Transferunion. Wir wollen keinen europa-weiten Länderfinanzausgleich. Wir wollen eine starkeEuropäische Union mit einer stabilen Währung. Wirwollen eine europäische Solidarität.Solidarität setzt Stabilität voraus. Deshalb tun wir al-les, damit auch Portugal durch die entsprechenden Auf-lagen zur Stabilität zurückkehrt, und durch Stabilitätwird dann wieder Solidarität erzeugt.Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir kontrollierenalles, was wir machen, von Anfang an. Wir kontrollierendies durch die vierteljährlichen Quartalsberichte auchwährend des Verlaufs. Wir kontrollieren an dieser Stellenicht nur unsere eigene Regierung, sondern wir schauenauch aufmerksam, was in den betroffenen europäischenLändern geschieht. Damit können wir immer gesichertsagen, ob jetzt ein weiterer Schritt erfolgen kann oderauch nicht. Dies prüfen wir regelmäßig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12301
Norbert Barthle
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In diesem Sinne werben wir um das Vertrauen für un-seren Weg. Wir sind davon überzeugt: Der Weg, den wireinschlagen, ist der richtige.
Herr Kollege.
Herzlichen Dank.
Carsten Schneider ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Barthle, Sie haben mit dem Satz geschlos-sen, dass Sie um das Vertrauen werben – nicht nur desBundestages, sondern sicherlich auch der Bevölkerung.Nun will ich Ihnen zugestehen, dass das Vertrauen derBevölkerung in die Stabilisierungsmaßnahmen des Euro– und nicht nur der Bevölkerung, sondern auch derer, dieuns Geld geben; das sind letztlich die Versicherungenund Banken –
entscheidend dafür ist, dass wir dauerhaft eine Stabilisie-rung der Euro-Zone erreichen. Die Frage ist nur: Wie in-formieren Sie dieses Parlament seit einem Jahr über alledie Dinge, die mit dem Euro und der Staatsfinanzie-rungskrise zusammenhängen?
Sie informieren häppchenweise. Sie sind Getriebeneder Märkte. Sie sind Getriebene Ihrer eigenen Skepsis inder Koalition. Es ist ja so, dass Sie in Bezug auf die Zu-stimmung zu den Maßnahmen für die Stabilisierung desZusammenhalts Europas in Ihrer Koalition heftigen Wi-derstand haben.
Schließlich sind es Ihre Mitglieder, die gegen die ver-schiedenen Maßnahmen vor dem Verfassungsgerichtklagen, und nicht etwa die Opposition.Das, was Sie hier tun, ist durch Verheimlichen, Trick-sen und Leugnen gekennzeichnet. Das gilt ganz klarauch bei dem Punkt Griechenland. FinanzministerWolfgang Schäuble hat heute kurz ausgeführt, es gebedarüber Diskussionen. Darüber gibt es keine Diskussio-nen, sondern es ist klipp und klar: Griechenland wird mitden bisher zugesagten 110 Milliarden Euro nicht aus-kommen. Vorgesehen war, dass Griechenland sich imJahr 2012 zum Teil wieder selbstständig am Kapital-markt refinanziert. Schon jetzt steht fest, dass das nichtgelingen wird. Deswegen wäre es notwendig gewesen,heute an dieser Stelle im Deutschen Bundestag darüberKlarheit zu schaffen, anstatt Geheimtreffen in Luxemburgzu veranstalten und diese zu leugnen, um dann amMontag im Ecofin eine Lösung zu präsentieren. DerBundestag ist der Ort, an dem so etwas diskutiert werdenmuss.
In der Frage der Krisenprävention geht es darum, wiewir die Stabilität der Euro-Zone hinbekommen. Es gehtdoch gar nicht um die Stabilität des Euro. Zu Beginn ha-ben Sie ja immer gesagt, es gehe um den Euro. Der Eurosteigt und fällt. Das hat relativ wenig damit zu tun.
Vielmehr geht es darum, ob Länder bankrottgehen undob sie in der Euro-Zone bleiben. Damit stellt sich dieFrage, ob es die Europäische Union so, wie sie sich bis-her erfolgreich entwickelt hat, weiter geben wird. DieseFrage hängt elementar mit der Haushalts- und Finanz-politik und letztendlich auch mit einer weiteren koordi-nierten Wirtschaftspolitik zusammen.Man muss ganz klar sagen, dass das bisher dazu – ins-besondere zum Punkt Griechenland – Vorgelegte einfachnicht überzeugend ist. Es ist ein Leugnen der wirtschaft-lichen Situation Griechenlands, wenn Sie behaupten,2013 könnten die Griechen wieder an den Kapitalmarktgehen. Das ist eine pure Illusion. Sie können doch nichternsthaft glauben, dass das einem Land möglich ist, das2013 eine Gesamtverschuldung von 160 Prozent des Brut-toinlandsprodukts, der wirtschaftlichen Leistung, aufwei-sen wird.Deswegen ist es meines Erachtens klüger, schnellSchritte zu gehen, die es Griechenland dauerhaft ermög-lichen, wieder selbstständig zu arbeiten.
Diese Schritte sind: Erstens. Die einseitigen Sparpaketeund Austeritätsmaßnahmen, die hier gemacht wurden,führen nicht zu stärkerem Wirtschaftswachstum. Es istrichtig, Wirtschaftsreformen durchzuführen. Aber es istfalsch, auf Investitionen zu verzichten. Das wäre aucheine Aufgabe der Europäischen Union.
Zweitens. Eine Möglichkeit, den europäischen Mar-shallplan für die Peripheriestaaten Südosteuropas zufinanzieren, wäre die Einführung einer Finanztrans-aktionsteuer. Ich komme darauf noch zurück.
Drittens: Gläubigerbeteiligung. Was erleben wir mo-mentan? Sie können derzeit kurzläufige Anleihen Grie-chenlands kaufen und erzielen bei sechsmonatiger Lauf-zeit eine Rendite, die zwischen 10 und 13 Prozent proJahr liegt – und das nahezu gefahrlos, weil Sie zugesagthaben, dass es bis 2013 keinerlei Einschnitte oder Gläu-bigerbeteiligung gibt. Das heißt, das Kasino ist zurück.Die deutschen und europäischen Steuerzahler finanzie-
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Carsten Schneider
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ren die Gewinne und Renditen von Hedgefonds in die-sem Land. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich meine, dass es an dieser Stelle sinnvoller wäre,diese Gläubiger, die das Ganze im Übrigen zum Teilauch schon abgeschrieben und wertberichtigt haben,auch an den Restrukturierungsmaßnahmen zu beteiligen.Eine Option, die Sie bei dem kurzfristigen Stabilisie-rungsmechanismus ausgeschlossen haben, wäre gewe-sen, das Modell der Brady Bonds, die in Mexiko hervor-ragend funktioniert haben, zu nutzen, um europäischeGarantien zu geben, aber auch den privaten Gläubigernihre Mittel mit einem Kursabschlag zurückzuzahlen, da-mit sie sich im Rahmen einer Wertberichtigung an derKonsolidierung beteiligen.
Das wäre ein Befreiungsschlag gewesen, der Griechen-land auch geholfen hätte.Stattdessen erleben wir, dass Sie europaweit isoliertsind.
Sie sind in der Frage der Gläubigerbeteiligung beimESM isoliert. Sie haben das zwar mit den Staats- undRegierungschefs grob vereinbart, aber die halbe Welt istdagegen.Sie sind isoliert in der Frage, wie es mit der Europäi-schen Zentralbank weitergeht. Herr Sarkozy und HerrBerlusconi bestimmen mittlerweile, wie die Finanzpoli-tik in Europa aussieht. Diese beiden bestimmen durchAuftritte und Festlegungen, wer der neue Chef der Euro-päischen Zentralbank wird. Ich will klar sagen: Ich habenichts gegen Herrn Draghi; ich halte ihn für kompetent.Aber dass Deutschland keine Rolle mehr bei dieserwichtigen Personalie spielt und auch sonst in europäi-schen Institutionen überhaupt nicht mehr vorkommt, istauch ein Ergebnis Ihrer Isolationspolitik auf europäi-scher Ebene.
Sie haben den Bundesbankpräsidenten im Regen ste-hen lassen, als er die verdeckte Staatsfinanzierung inForm der Aufkaufprogramme der EZB kritisierte. Diesmacht die EZB jetzt so handlungsunfähig und so willfäh-rig, dass sie jedwede private Gläubigerbeteiligung ab-lehnt.
Ich will schlussendlich aus einem bemerkenswertenArtikel von Frau Berschens aus der heutigen Ausgabedes Handelsblatts zitieren:Die Kosten der Schuldenkrise werden allein denSteuerzahlern aufgebürdet – und zwar schleichend.Zentralbanker und Regierungen setzen darauf, dassdie Bevölkerung die komplexen Zusammenhängenicht durchschaut – und brav zahlt. Doch dieseStrategie des Durchwurstelns birgt am Ende dasgrößte aller systemischen Risiken: den Aufstandder Bürger gegen die Europäische Währungsunion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe,dies geschieht nicht. Allerdings erfüllt es mich mitSorge, wenn ich mir Ihre Politik dazu anschaue.
Das Wort erhält nun der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Für die Stärkung des Vertrauens derBürger in Europa, Herr Kollege Schneider, haben Sie mitIhrer Rede, wie ich glaube, nichts, aber auch gar nichtsgetan. Dafür etwas zu tun, ist aber auch Ihre Aufgabe alsOpposition,
im Übrigen auch die Aufgabe der Grünen angesichts dergewachsenen Verantwortung, die sie in diesem Land tra-gen.Meine Damen und Herren, als Erstes ein Wort an dieAdresse derjenigen, die der FDP einen europaskepti-schen Kurs vorgeworfen haben:
Herr Steinmeier, wenn man auf stabile Währung achtet,wenn man auf strikte Kriterien achtet, wenn man strikteKriterien haben will, damit es in Zukunft in Europa nichtso läuft wie in der Vergangenheit, dann ist das keine eu-ropaskeptische Politik, sondern eine Politik zur StärkungEuropas. Das ist die Aufgabe, die dieses Land, diese Re-gierung und diese Koalition haben und wahrnehmenwollen. Das ist der Unterschied.
Ich will Ihnen auch genau sagen, warum das so ist,und zwar, ohne dass ich damit einen Vorwurf verbinde,weil ja alle irgendwie daran beteiligt waren. Angesichtsder Tatsache, dass in Europa in den vergangenen Jahr-zehnten in nahezu allen Ländern Schulden gemacht wor-den sind, dann Kriterien aufgeweicht worden sind undman nicht genau kontrolliert hat, ob sich noch jeder da-ran hält, kann man doch nur zu einem Ergebnis kommen,nämlich: Wir müssen besser aufpassen, wir müssen kon-kret aufpassen, und wir müssen die Dinge machen, dienotwendig sind für einen stabilen Euro.In diesem Zusammenhang wundere ich mich, dass dieehemalige rot-grüne Koalition ihre eigene Vergangenheit
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Otto Fricke
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vergessen hat. Ich will sie jetzt einmal loben. Wo standdenn die Bundesrepublik Deutschland vor sieben Jahren,also 2004/2005? Sie war der kranke Mann Europas. Dasfing im Jahr 2000 an.
Langsam wurde es besser. Warum wurde es besser? Wa-rum gilt denn Deutschland heute in Europa als Kraftzen-trale? Warum schauen denn nach zehn Jahren auf einmalalle auf Deutschland und sagen: „Wir brauchen Deutsch-land als Lokomotive“? Weil wir Reformen gemacht ha-ben, weil Sie während Ihrer Zeit als Koalition Reformengemacht haben, die zwar unangenehm und schwierigwaren und mit Einschnitten einhergingen, aber richtigwaren! Jetzt sagen Sie den Ländern, die diese Reformennicht gemacht haben: Macht das mal nicht! Geht nichtden deutschen Weg! – Fordern Sie doch lieber die Län-der – Portugal, Griechenland, vielleicht auch Irland undandere Länder – auf, das zu tun, was Sie während IhrerRegierungszeit getan haben, und schlagen Sie sich nichtmit Enthaltungen und Ähnlichem in die Büsche! Daswürde Ihnen viel besser anstehen.
Nun auch ein deutliches Wort an die Adresse derjeni-gen, die meinen, es wäre Deutschland gedient, wennman beim Euro nicht hilft. Ich will hier ganz klar unddeutlich sagen: Eine egozentrische Sicht nach demMotto „Wir haben unsere Aufgaben gemacht, uns gehtes gut, das war’s“ wird es mit uns nicht geben. Es darfsie nicht geben. Es ist unsere europäische Verantwor-tung, unseren Familienmitgliedern in Europa – wir sindTeil dieser Familie – zu sagen: Ja, wir helfen euch.
– Und Sie sitzen hier und hören einfach einmal zu; dashilft.
Was haben Sie denn dagegen, festzustellen, dass wir Teilder europäischen Familie sind?
Ich hoffe, dass wenigstens das noch auf die Unterstüt-zung der SPD trifft. Die Unterstützung der FDP hat dieseAussage jedenfalls.
Wir haben unsere Exportstärke dem Euro zu verdan-ken. Wir haben die Stärke an vielen Stellen in unsererGesellschaft Europa zu verdanken. Das gilt auch für denWirtschaftsaufschwung und die Investitionsfreudigkeitin Deutschland. Es hat auch etwas damit zu tun, dass derWechselkurs des Euro so ist, wie er ist. In Gesprächenmit Amerikanern und anderen hört man: Die Chinesenhalten ihren Wechselkurs künstlich niedrig. – Auch unskönnte man die Höhe des Wechselkurses des Euro vor-werfen. Denn – das will ich den Bürgern klar und deut-lich sagen – bei welchem Wechselkurs wäre denn zumBeispiel die D-Mark gegenüber dem Dollar: bei 1,90oder bei 2? Wir wissen es nicht, aber er wäre wohl weithöher.Deswegen kann man sagen: Wir verdanken Europasehr viel. Dieser Dank ist Teil unserer Europafreundlich-keit und unserer Europaverantwortung. Es sind die zweiSeiten derselben Medaille: Auf der einen Seite sagen wirunsere Hilfe zu – allerdings nicht so, wie es die SPDoder die Grünen wollen, und erst recht nicht so, wie esdie Linke will –;
auf der anderen Seite knüpfen wir daran konkrete Bedin-gungen und klare Aussagen. Denn wir wollen das Spiel,wie es in den letzten zehn Jahren gespielt worden ist,nicht fortführen.
Meine Damen und Herren, es geht doch eigentlich da-rum, dass wir erwarten können und müssen, dass, wennwir uns in Europa solidarisch verhalten, die anderenLänder Europas stabil sind. Herr Schneider, im Zusam-menhang mit dem, was Sie zu Spekulationen gesagt ha-ben, will ich eines eindeutig feststellen. Sie haben hierbehauptet, dass man in sechsmonatige griechische An-leihen gehen könne. Es gibt aber gar keine sechsmonati-gen griechischen Anleihen mehr.
Sie sind vom Markt; die Laufzeit ist zu Ende. Wir habenGriechenland an dieser Stelle vom Markt genommen.Sie scheuen sich davor, zu sagen, wie viel Milliarden derSteuerzahler noch aufbringen muss, wenn Sie nicht be-reit sind, sich an Reformprogrammen zu beteiligen,wenn Sie sich beim EFSF und bei den Griechenland-Hil-fen enthalten.
Aufgrund der großen Verantwortung, die Sie haben,müssen Sie klarstellen, wo Sie bereit sind, mitzumachen,und an welcher Stelle Sie nur kritisieren und sich in dieBüsche schlagen wollen.
Zum letzten Punkt. Im Zusammenhang mit dem Euro-päischen Stabilitätsmechanismus, den wir jetzt erarbei-ten, würde ich der SPD empfehlen, Herrn Sarrazin ein-mal ein bisschen genauer zuzuhören
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Otto Fricke
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– da braucht man nicht zu lachen –, und zwar HerrnSarrazin von den Grünen. Arbeiten Sie gemeinsam mitder Koalition daran – das ist eine Einladung –, dass wirbeim ESM eine gute Parlamentsbeteiligung erreichen.Ich persönlich kann an dieser Stelle nur sagen: Die bis-herigen Verfahren beim EFSF reichen nicht aus. Hiermuss mehr Transparenz, mehr Klarheit geschaffen wer-den. Aber ich will ausdrücklich für dieses Parlament sa-gen: Wir können uns in Zukunft nicht mehr dahinter ver-stecken, dass die Dinge auf der Regierungsebeneentschieden werden. Wir müssen auch auf der Parla-mentsebene regelmäßig und klar sagen, wann und wa-rum wir unseren europäischen Freunden helfen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Bartholomäus
Kalb für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir den Maßnahmen zur Euro-Stabilisie-
rung zustimmen, dann machen wir das mit Sicherheit
nicht leichtfertig. Der Abstimmung gehen sehr intensive
Beratungen voraus. Jeder Einzelne trifft eine Güterabwä-
gung. Wir haben eine Verantwortung, und dieser muss
sich jeder Einzelne stellen. Das gestehe ich jeder Kolle-
gin und jedem Kollegen in diesem Hause zu. Trotzdem
haben wir, wie bereits von den meisten Vorrednern ge-
sagt, die wichtige Verpflichtung, für die Stabilität des
Euros und damit für den gemeinsamen Euro-Raum und
das gemeinsame Europa einzustehen.
Wir haben gestern im Haushaltsausschuss sehr lange
und sehr intensiv beraten. Herr Kollege Schneider, da-
rum kann ich Ihre Vorwürfe gegenüber dem Finanz-
minister überhaupt nicht teilen; ich muss sie zurückwei-
sen. Sie haben den Begriff „verheimlichen“ gebraucht
und gesagt, er hätte uns etwas verheimlicht. Der Bundes-
finanzminister Dr. Schäuble hat sich gestern im Haus-
haltsausschuss nicht nur um das gesetzlich vorgesehene
Einvernehmen bemüht, sondern in sehr umfassender und
erstaunlich offener Art und Weise über alle Zusammen-
hänge informiert und alle Fragen beantwortet, die man
normalerweise draußen auf der Straße nicht beantworten
kann. Dafür möchte ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminis-
ter, an dieser Stelle ganz herzlich danken.
Ich möchte auf das zurückkommen, was Herr
Steinmeier gesagt hat. Ich meine, hier ist in unzulässiger
Vereinfachung einiges durcheinandergebracht worden,
was die Refinanzierungsbedingungen beim EFSM und
bei der EFSF auf der einen Seite und die Bedeutung von
Staatsanleihen auf der anderen Seite anbelangt. Er hat
sich für Euro-Bonds ausgesprochen. Wir sind ausdrück-
lich dagegen. Die Frage, wie sich die Bundesrepublik
Deutschland refinanziert, ist eine ganz andere Frage als
die, wie sich die anderen Institutionen refinanzieren.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass EZB,
IWF und Kommission mit den Portugiesen ein sehr ehr-
geiziges Programm ausgearbeitet haben, das die Grund-
lage der Hilfsmaßnahmen bilden wird. Wir werden na-
türlich daran beteiligt sein, entsprechend unserem Anteil
an der EFSF in Höhe von 27 Prozent. Wir begrüßen ganz
ausdrücklich, dass hier ein gemeinsames, ein sehr strin-
gentes Programm mit dem Ziel vorgelegt worden ist, den
portugiesischen Haushalt zu konsolidieren, aber auch die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Portugals zu erhöhen.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen Gedan-
ken einbringen. Ich könnte mir schon vorstellen – das ist
eine Aufgabe nicht nur der Euro-Zone, sondern der Eu-
ropäischen Union insgesamt –, dass überprüft wird, ob
die in Rede stehenden Länder, die der Hilfe bedürfen,
mit den zur Verfügung stehenden EU-Mitteln aus den
verschiedenen Programmen umfangreichere Maßnah-
men ergreifen könnten, um ihre wirtschaftliche Leis-
tungsfähigkeit stärker zu verbessern, als das bisher der
Fall war. Ein effizienterer Mitteleinsatz wäre hier sicher-
lich angesagt.
Vorhin ist von Kollegen darauf hingewiesen worden,
wie bedeutsam die Stabilität des Euro für uns und die ge-
samte Euro-Zone im Hinblick auf unsere Marktsituation,
unsere Wettbewerbssituation und unsere Exportsituation
ist. Ein Kollege hat schon gesagt: Wir Deutschen hatten
in den letzten Jahren Exporte in Höhe von 800 bis
900 Milliarden Euro zu verzeichnen; davon gingen rund
zwei Drittel in den Bereich der Europäischen Union, da-
von wiederum der überwiegende Anteil in den Bereich
der Euro-Zone. Man kann sich also leicht ausmalen, was
die Stabilität des Euro für uns bedeutet. Deswegen sind
diese Maßnahmen auch im deutschen Interesse.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus Zeit-
gründen kann ich auf viele andere Punkte, die angespro-
chen werden müssten, nicht mehr eingehen. Wir sind
insgesamt für den Euro verantwortlich; es müssen nicht
nur die Länder handeln, die jetzt der Hilfe bedürfen. Wir
haben gerade ein nationales Programm grundgesetzlich
verankert – und auf europäischer Ebene vereinbart –, das
der Konsolidierung der Haushalte dient. Die Bundesre-
publik Deutschland hat derzeit eine Verschuldung von
83 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Herr Kollege.
Insofern müssen auch wir einen gewaltigen Beitragleisten, damit wir auf den zulässigen Wert von60 Prozent zurückkommen. Als größte Wirtschaftsna-tion in der Euro-Zone ist es nicht unbedeutend, wie wiruns verhalten und was wir hier tun.
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Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
All diese Maßnahmen sind koordiniert vorzunehmen.
Hätte man die Regeln des Maastricht-Vertrags, die Theo
Waigel erarbeitet hat, durchgehend eingehalten und die
Kriterien streng beachtet, dann hätten wir heute manches
Problem nicht zu bewältigen.
Herzlichen Dank.
Michael Meister ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Ein-druck am Ende dieser Debatte ist, dass sie zwar sehrkontrovers war, es in diesem Haus aber gleichzeitig einebreite Zustimmung dafür gibt, die notwendige Hilfe fürPortugal unter den genannten Kriterien und Konditionenzu gewähren und vonseiten des Bundestages ein klaresSignal zu geben, dass wir dies für richtig halten. Das istein bemerkenswertes Signal. Wir machen von unseremRecht, als Parlament Stellung zu nehmen, heute Ge-brauch. Ich will sagen: Wir tun das in verantwortlicherWeise. Deshalb sollte auch niemand Furcht haben, wennwir dieses Parlamentsrecht bezogen auf den ESM einfor-dern. Wir zeigen heute, dass wir mit diesem Instrumentverantwortlich umgehen.
Dass sich der Deutsche Bundestag in solche Debatteneinschaltet, ist ein Beitrag zur Stärkung des Euro undnicht eine Infragestellung der Stabilität unserer Wäh-rung.
Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir den ESM schaf-fen, im Falle der Aktivierung des ESM eine Beteiligungdes Deutschen Bundestages ausdrücklich vorsehen. Au-ßerdem sollten wir für den Fall einer Veränderung derInstrumente des ESM einen Gesetzesvorbehalt schaffen.Das ist mein Verständnis davon, wie der Deutsche Bun-destag mit diesen Dingen umgehen sollte.
Heute Morgen ist von verschiedenen Kollegen einklares Bekenntnis zu Europa eingefordert worden. Ichglaube, niemand braucht die Unionsfraktion dazu aufzu-fordern. Ja, wir sind für Europa. Die Frage ist aber dochnicht, ob wir für Europa sind. Die Frage ist vielmehr, fürwelches Europa wir stehen. Herr Steinmeier, stehen wirfür ein Europa, das Prinzipien hat, in dem jeder seineVerantwortung an seinem Platz wahrnimmt und wo jederfür das haftet, was er tut, und Eigenverantwortung über-nimmt?
Stehen wir für ein Europa, in dem alle erkennen, dasswir eine gemeinsame Pflicht zur nachhaltigen Stabilitätder Währung haben? Oder heißt „Bekenntnis zu Europa“Laisser-faire? Heißt es: „Wir sagen Ja, und dann darf je-der tun, was er will, aber alle müssen die Folgen unver-antwortlichen Handelns gemeinsam tragen“? Wir stehenfür ein prinzipiengeleitetes Europa. Wir ringen darum,dass die Prinzipien auch in schweren Zeiten eingehaltenwerden. Denn wir benötigen sie für den dauerhaften Er-halt unserer Wertegemeinschaft.
Ich will darauf hinweisen, dass in der Regierungszeitdes Bundeskanzlers Gerhard Schröder – damals hat derheutige Fraktionsvorsitzende der SPD Mitverantwortunggetragen – an zwei Stellen wesentliche Voraussetzungendafür geschaffen wurden, dass wir nun in einer schwieri-gen Lage sind.
Erstens. Die Aufnahme Griechenlands wurde geneh-migt, ohne dass die Voraussetzungen erfüllt waren.
Da wurden Prinzipien verletzt. Das ist das Problem, überdas wir reden: Halten wir Prinzipien ein, oder verletzenwir Prinzipien?
Zweitens. Wir als Deutsche haben im Rahmen derDebatte über den Maastricht-Vertrag nicht, wie wir esjetzt tun, darum gerungen, ihn zu stärken, um künftigeKrisen zu vermeiden.
Es ist nur ein Beitrag dazu geleistet worden, die Voraus-setzungen aufzuweichen und uns damit ein Stück weit indie Krise hineinzuführen. Deshalb sage ich: Wir brau-chen Prinzipien und müssen auch in schwierigen Zeitenum diese Prinzipien ringen.
Es wird immer wieder die Führungsrolle Deutsch-lands eingefordert. Ich verstehe unter dem Begriff Füh-rungsrolle nicht – das möchte ich ausdrücklich sagen –,dass man schaut, wohin alle laufen, und dann versucht,schneller zu laufen als alle anderen. Ich verstehe unterdem Begriff Führungsrolle, dass man nachdenkt, in wel-che Richtung man zu laufen hat. Man muss außerdemversuchen, in der Diskussion die richtige Richtung vor-zugeben. An der Stelle möchte ich dem Bundesfinanz-minister Wolfgang Schäuble und unserer Bundeskanzle-rin ein ausdrückliches Lob aussprechen. Denn nichtjeder führt die Diskussion über die richtige Richtung undsteht dazu, wenn andere etwas leichtfertig damit umge-hen. Deshalb möchte ich beide sowie die gesamte Regie-rung bestärken, darum zu ringen, dass wir in die richtigeRichtung gehen und nicht nur schnell laufen. Das sollte
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Dr. Michael Meister
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geschehen, und dahinter sollten wir als Parlament ste-hen.Zur Frage der angemessenen Zinsen. Herrn Trittinsehe ich gerade leider nicht mehr, will aber seine Fragedurchaus aufgreifen. Wir haben ein Jahrzehnt erlebt, indem den Ländern, über die wir heute im Wesentlichenreden – die Peripherieländer –, durch den Beitritt zumEuro-Raum ohne jegliche Konditionen ein niedrigesZinsniveau gewährt wurde.
Sie hatten eine riesige ökonomische Chance, ihre Wirt-schaft, ihren Wohlstand und ihren Arbeitsmarkt durchniedrige Refinanzierungskosten nach vorne zu bringen.Sie wurde leider nicht genutzt.
Es kann doch nicht sein, dass wir denselben Fehlerzweimal machen. Vielmehr müssen wir diesen Länderndie Chance geben, Zugang zum Kapitalmarkt zu fairenKonditionen zu haben, indem wir sie durch unsere Hilfs-aktionen, durch das Programm, dabei unterstützen. Wirmüssen aber auch darauf achten, dass das Ganze wirk-lich zu einer nachhaltigen Veränderung der Strukturen indiesen Ländern führt, sodass sie wieder eine Chance ha-ben, sich dauerhaft selbst am Kapitalmarkt zu finanzie-ren. Das muss der Weg sein. Es geht nicht, dass nachHilfe gerufen, Geld gegeben und eigentlich keine Ver-antwortung für die Zukunft wahrgenommen wird.Meine Damen und Herren, ich will die Frage nachden Alternativen aufgreifen. Herr Schneider, ich habeviel Kritik gehört, was wo möglicherweise nicht richtiggemacht wird. Die Frage lautet doch: Wo ist denn der al-ternative Weg? Als wir vor vier Jahren über die FrageIKB diskutiert haben, gab es viele, die gesagt haben, wirsollten keine Banken retten. Als es einige Monate späterzum Zusammenbruch von Lehman Brothers kam, habenviele gesehen, dass wir bei den Kosten plötzlich überganz andere Größenordnungen reden.Noch sind wir in der Lage, zu überlegen, was die rich-tigen Schritte sind und wie wir die Situation im Hinblickauf unser Vorgehen kontrollieren. Wenn das Ganze außerKontrolle gerät, wenn wir auf den Finanzmärkten und inder Wirtschaft über sich entwickelnde Ansteckungsge-fahren plötzlich in eine unkontrollierbare Lage geraten,wird das, was wir derzeit als Hilfspakete diskutieren– der Überzeugung bin ich –, gemessen an den Folge-kosten dann eher kleine Beträge bedeuten. Darum rateich dringend, dass wir zwar kontrovers debattieren unddie Argumente austauschen, dass wir aber nicht nur sa-gen, was der falsche Weg ist, ohne klar aufzuzeigen, wodie Alternative ist und welche Folgen sie hat.Ich glaube, wir müssen dabei die Sorgen der Men-schen in Deutschland, aber auch in Portugal, Griechen-land und Irland berücksichtigen. Denn wir müssen dieMenschen überzeugen und dürfen nicht glauben, dasswir ihnen einfach sagen können, was richtig ist. Nein,wir müssen sie bei diesem Prozess mitnehmen. Es ist einProzess, den wir für sie durchführen und nicht für uns.
Herr Kollege.
Danke, Herr Präsident. Ich habe mit einem Auge auf
die Uhr gesehen.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir redenheute im Kern über die Aktivierung des Rettungsschirmsfür Portugal. Keiner von uns hat sich gewünscht, dasswir dies irgendwann einmal tun müssen. Aber wir habenvor einem Jahr in diesem Hohen Hause die Vorausset-zungen dafür geschaffen, dass wir bei Notfällen, wie ak-tuell in Portugal, in der Lage sind, zu helfen, und zwarausreichend und so, dass diese Länder wieder auf denWachstums- und Entwicklungspfad zurückkommen kön-nen.Ich will nur – es ist schon sehr viel gesagt worden –ganz kurz auf das Memorandum of Understanding ein-gehen, das uns seit gestern vorliegt. Das wird die Grund-lage für die Hilfen sein, die Portugal in den nächsten dreiJahren empfangen wird. Wenn man sich dieses Memo-randum genau anschaut, stellt man fest: Es ist deutlichausgewogener, als es das für Irland seinerzeit war. Dassunsere Kritik an jenem Memorandum of Understandingrichtig war, zeigt, dass Irland Nachverhandlungen in die-ser Frage führt.Nur ganz kurz ein paar Hinweise: Die Aufteilung,dass das Konsolidierungsprogramm in Portugal zu zweiDritteln auf Ausgabenkürzungen, aber zu einem Drittelauf Einnahmeverbesserungen beruht, zeigt, dass es aus-gewogener ist. Die Kürzungen müssen gemacht werden.Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit. Sie werdenaber nicht bei den geringsten Renten durchgeführt,ebenso wenig bei den geringsten Löhnen. Dass aber dieMehrwertsteuer erhöht wird und Ausnahmen bei der Un-ternehmensteuer abgeschafft werden, ist ein richtigerPunkt. Ich glaube, dass dieses Konzept tragfähig seinwird.Wir wissen, dass es in Portugal im Moment nur eineamtierende Regierung gibt. Am 5. Juni sind dort Parla-mentswahlen. Das ist unter diesen Bedingungen eineganz schwierige Situation. Ich glaube aber, dass, egalwelche Parteien eine Mehrheit im portugiesischen Parla-ment stellen, diese in der Lage sein werden, dieses ambi-tionierte Programm umzusetzen. Wir werden weiter da-rauf achten, dass das geschieht.Ich muss Herrn Trittin, der leider nicht mehr anwe-send ist, an einer Stelle korrigieren, weil er das Memo-
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Michael Stübgen
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randum of Understanding offensichtlich nicht richtiggelesen hat. Die Behauptung, es gäbe bei den deutschenFinanzierungen einen unseriösen Zinsaufschlag, istfalsch. Das ist ganz eindeutig geregelt: Bei den Finanzie-rungskosten soll es einen Aufschlag von 208 Basispunk-ten geben. Das heißt, die EFSF bekommt einen Auf-schlag; sie finanziert sich zu ungefähr 3,6 Prozent. BeimIWF ist es niedriger. Deshalb wird ein niedrigerer Zinsweitergegeben. Das gilt auch für die Europäische Kom-mission. Dadurch kommen die Zinsunterschiede zu-stande. Das hat aber nichts mit einem unsolidarischenZinsaufschlag zu tun.Lassen Sie mich in den wenigen Minuten Redezeit,die ich noch habe, auf ein anderes Thema eingehen, dasheute schon mehrfach angesprochen worden ist. Zurzeitbefinden wir uns in den Verhandlungen zur Einrichtungdes Europäischen Stabilisierungsmechanismus. Darüberwird in der Bundesregierung, in der Europäischen Kom-mission und in vielen Ausschüssen unseres Hauses de-battiert. Unser Ziel ist es, einen dauerhaften Mechanis-mus zu schaffen. Bei diesem dauerhaften Mechanismuswollen wir aber Fehler, die wir bei den bisherigen Me-chanismen erkannt haben, ausschließen. Deshalb unter-stützt die CDU/CSU-Fraktion ganz nachhaltig das Zielder Bundesregierung und insbesondere von Bundes-minister Schäuble, dass dieser Mechanismus im Fall desVerlustes der Schuldentragfähigkeit, das heißt der dro-henden Insolvenz, zwingend die Gläubigerbeteiligungvorsieht.
Es ist bedauerlich, dass wir mit dieser Forderung in fastallen anderen Euro-Ländern auf extremen Widerstandstoßen. Diese Auseinandersetzung müssen wir aber füh-ren und gewinnen; denn sonst wird das kein nachhaltigerund tragfähiger Konsolidierungsmechanismus werden.In einem Punkt besteht im Moment noch eine Diffe-renz zwischen der Auffassung der Bundesregierung undzumindest den Europapolitikern im Bundestag; auchdarauf will ich kurz eingehen. Es geht um die grundsätz-liche Frage der Konstruktion des ESM und seiner Zu-ordnung. Die Bundesregierung hat uns in mehrerenSchriftsätzen mitgeteilt, dass sie davon ausgeht, dass derEuropäische Stabilisierungsmechanismus eine interna-tionale Finanzorganisation wie IWF, Weltbank etc. seinsoll. Ich glaube, es gibt einige gute Gründe für dieseAuffassung. Ich bin allerdings davon überzeugt, dassdiese Auffassung schlussendlich nicht tragfähig seinwird. Dazu noch einige kurze Sätze.Der Europäische Stabilisierungsmechanismus wirdeine europäische Angelegenheit sein. Er wird eine Insti-tution nach dem europäischen Komplementärrecht sein.Das sieht man erstens daran, dass wir für die Einrichtungden europäischen Vertrag ändern müssen. Das wärenicht nötig, wenn das eine unabhängige Institution wer-den würde. Zweitens werden die Europäische Kommis-sion und die EZB eine ganz herausgehobene Funktionhinsichtlich der Arbeit des ESM bekommen. Das Euro-päische Parlament erhält Informationsrechte hinsichtlichder Arbeit des ESM. Der Europäische Gerichtshof wirdbei Auseinandersetzungen letztinstanzlich entscheiden.Die Finanzminister der Euro-Länder und nicht von denParlamenten gestellte Experten werden der Gouver-neursrat dieser Einrichtung sein. Deswegen bin ich da-von überzeugt, dass die Grundlage für die Regelung derRechte des Deutschen Bundestages im Zusammenhangmit dem ESM – Beteiligungs- und Informationsrechte –der Europa-Artikel des Grundgesetzes, also Art. 23 desGrundgesetzes, sein muss. Ich bin überzeugt davon, dasswir uns am Ende darauf einigen werden.Noch ein Hinweis.
Lieber Herr Stübgen!
Ich bin gleich fertig. – Wir sollten den ESM anders
als den EFSF und den Griechenland-Fonds mit einer
großen Mehrheit im Bundestag beschließen. Dazu haben
wir jetzt die Chance, und diese sollten wir nutzen. Las-
sen Sie uns dafür arbeiten, dass wir das Gesetzeswerk
am Ende dieses Jahres mit großer Mehrheit beschließen
können!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU undFDP auf der Drucksache 17/5797. Hierzu liegen mirneun persönliche Erklärungen zur Abstimmung vor, diewir dem Protokoll beifügen1).Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ent-schließungsantrag mehrheitlich angenommen.
– Das ergibt sich ja auch aus den angekündigten Erklä-rungen zur Abstimmung, die dem Protokoll beigefügtwerden, wie von mir vor der Abstimmung mitgeteilt. Ander mehrheitlichen Zustimmung wird von niemandemernsthaft Zweifel angemeldet. Dann halten wir auch dasnoch einmal so fest.Nun stimmen wir über den Entschließungsantrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5798ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Entschlie-ßungsantrag ist genauso unzweifelhaft mit Mehrheit ab-gelehnt.1) Anlagen 3 bis 5
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12308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten IngridNestle, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENModernisierung der Stromnetze – Bürgernah,zügig, für erneuerbare Energien– Drucksache 17/5762 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auchdiese Aussprache 90 Minuten andauern. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im-mer wieder heißt es in den letzten Tagen, das Nadelöhrfür die Energiewende sei der Netzausbau. Zunächst ein-mal muss man sagen, dass das Datum für den endgülti-gen Atomausstieg nicht am Netzausbau hängt.
Schon in wenigen Jahren kann durch die fossilen Kraft-werke, deren Bau sowieso nicht mehr zu stoppen ist, dieVersorgungssicherheit in allen Regionen Deutschlands– auch ohne die Atomkraftwerke – sichergestellt werden.Aber natürlich brauchen wir die Netze für die Ener-giewende, Netze für erneuerbare Energien, Netze für diedezentralen Erneuerbaren, und zwar in bedeutendemUmfang und auf allen Ebenen. Wir brauchen SmartGrids, aktuell brauchen wir Verteilnetze, bald auch drin-gend Übertragungsnetze. Da habe ich eine erfreulicheNachricht: Gerade durch den schnellen Atomausstiegwird der Netzausbau deutlich erleichtert. Eine wirklicheEnergiewende ist die Voraussetzung für Akzeptanz. Nurwenn Sie es mit der regenerativen Zukunft ernst meinen,werden die Menschen neue Stromtrassen in ihrer Heimatakzeptieren.
Viele derjenigen, die hier in Berlin am lautestenschreien, der Netzausbau gehe nicht, die Bürger seien jadagegen, haben nie mit den Bürgern vor Ort gesprochen.
Bei vielen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertreternvor Ort habe ich einiges gelernt. Wir haben eine Um-frage bei 25 Bürgerinitiativen durchgeführt. Das Ergeb-nis macht Mut. Keine einzige der Bürgerinitiativen istgrundsätzlich gegen den Ausbau der Stromtrassen,
auch nicht vor ihrer eigenen Haustür, wenn die Netzewirklich für erneuerbare Energien gebaut werden, dieBürger ernsthaft beteiligt werden und Innovation ermög-licht wird.
Die größten Bremser des Netzausbaus sind nicht dieBürgerinnen und Bürger, es waren schon immer dieAtomkonzerne, die die Netze als das Einfallstor begrei-fen, durch das die erneuerbaren Energien ihnen Marktan-teile abnehmen werden.
Wir von den Grünen stehen zu unserer Verantwor-tung. Deshalb haben wir schon vor Fukushima ein Kon-zept zum Netzausbau vorgelegt. Auch in dem heute vor-liegenden Antrag zeigen wir auf, wie der Netzausbauvonstatten gehen kann. Hier die drei wichtigsten Punkte:Erstens. Wir brauchen eine transparente Bedarfspla-nung. Die Idee der Netzentwicklungspläne geht in dierichtige Richtung. Es ist gut, dass Sie unterschiedlicheSzenarien prüfen wollen. Aber Sie machen sich von denvier großen Netzbetreibern abhängig, und Sie wollennicht einmal ein Szenario vorlegen, in dem glaubwürdigein schneller Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Ener-gien dargestellt wird. Wir fordern: Daten in öffentlicheHand, nachvollziehbare Berechnung und wirklicheTransparenz. Welche Leitungen werden für erneuerbareEnergien gebraucht und welche nicht?
Zweitens. Echte Bürgerbeteiligung bedeutet: Die Bür-ger werden ganz am Anfang des Verfahrens beteiligt,wenn noch nicht alles entschieden ist. Dies bedeutet,dass auch andere Akteure als die Netzbetreiber Vor-schläge einbringen können, die diskutiert werden. Vorallem bedeutet es, dass wirklich etwas entschieden wer-den kann.Ein runder Tisch, bei dem schon am Anfang feststeht,dass sowieso nur wieder die Freileitung mit den altenGittermasten infrage kommt, ist eine Farce. Echte Bür-gerbeteiligung braucht Gestaltungsspielräume. Wir müs-sen auch finanzielle Gestaltungsspielräume öffnen.Wenn es nicht wirklich etwas zu entscheiden gibt, dannist eine Informationsoffensive, wie sie im Papier derBundesregierung beschrieben wird, nichts anderes alseine Verschwendung von Steuermitteln für einen PR-Gag. Das wird nicht helfen.
Drittens. Wir brauchen technische Innovationen, vielmehr Erdkabel, Smart Grids und Gleichstromübertra-gungen. Ich erkenne bei Ihnen leichte Fortschritte indiese Richtung, aber noch gleicht Ihr Fortschritt einer
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Ingrid Nestle
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Schnecke. Dabei können Sie sich ruhig trauen. Die Inno-vationen bei der Stromübertragung sind nicht zu teuer.Das Höchstspannungsnetz trägt nur mit winzigen2,5 Prozent zu den Stromkosten bei. Wir können es unsleisten, auch bei den Stromnetzen Hightechland zu blei-ben.Ich komme zum Schluss. Wir können die Netze aus-bauen – der schnelle Atomausstieg ist der erste Schritthierzu –, wenn wir alle hier im Parlament unserer Ver-antwortung gerecht werden. Ich bin bereit, einen fairenNetzausbau zu unterstützen. Wir können die Stromnetzeausbauen. Aber das geht nur mit den Bürgerinnen undBürgern. In diesem Sinne bitte ich Sie: Stimmen Sie un-serem Antrag zu!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fukushima istimmer noch auf der Tagesordnung – und das zu Recht.Es erfüllt uns alle mit erheblicher Sorge. Das Morato-rium war deswegen eine richtige Entscheidung. Wir ha-ben Zeit gebraucht und brauchen auch noch Zeit, diesehr intensiv genutzt werden muss, um so schnell wiemöglich in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zukommen. Nur muss es dabei immer drei Grundvoraus-setzungen geben. Die lauten für mich: bezahlbar, zuver-lässig und sauber.Sauber heißt: Wir müssen den Umstieg möglichstCO2-frei gestalten. Es darf daher nicht sein, dass wir dasEnergiekonzept aus den Augen verlieren. Wir wollenden benötigten Strom in Zukunft eben nicht importieren.Das ist aber das, was wir zurzeit machen müssen, weilwir, nachdem acht Kernkraftwerke von den Netzen ge-gangen sind, eben nicht genügend Strom haben. DieBundesnetzagentur hat bekannt gegeben, dass pro Tagzwischen 2 000 und 5 000 Megawatt – manchmal sogar6 000 Megawatt – importiert werden.Wie wollen wir die Kernkraftwerke zukünftig erset-zen? Sind Gas- und Kohlekraftwerke geeignet, dieStromversorgung zu sichern? Unser Problem ist, dasswir gesicherte Leistung brauchen. Nur wird das mitBlick auf die Klimaschutzvorstellungen, die wir haben,schwierig werden; denn wir müssen dann gleichzeitigversuchen, an anderer Stelle CO2 einzusparen. Das allesauf einmal zu bewerkstelligen, dürfte nicht sehr einfachsein.Allein die acht Kernkraftwerke, die wir zurzeit vomNetz genommen haben, ersparen uns knapp50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, wenn sie unter Voll-last laufen würden. Welchen Preis sind wir bereit für denAusstieg zu zahlen? Frau Kollegin, Sie sprachen davon,das sei gar nicht so teuer, es seien Mehrkosten von unge-fähr 2 Prozent. Der dena-Chef hat gesagt: Wenn wir diebenötigten Netze auf einer Länge von 4 400 Kilometernausbauen würden, würde allein das – und zwar unter derAnnahme, dass wir nur Freileitungen bauen – denStrompreis um 0,5 Cent verteuern.
Das kostet 0,5 Cent pro Kilowattstunde. Wenn wir zurErdverkabelung übergehen, wird es – ich komme daraufnoch zurück – erheblich teurer.
Die Grünen behaupten, dass man Windkraftanlagenim Süden bauen könne und dass man dann gar nicht soeinen großartigen Netzausbau brauchen würde. Daswage ich zu bezweifeln; denn die sogenannte Windernteist im Süden deutlich geringer als im Norden unseresLandes.
Dass im Meer aufgrund wesentlich höheren Windauf-kommens deutlich mehr Strom produziert werden kann,ist eine Tatsache. Wir haben offshore rund 3 000 Wind-stunden und onshore 1 870 Windstunden. Das sind Fak-ten, die auf dem Tisch liegen.Die Frage, wie die Grünen das in Baden-Württembergmachen wollen, finde ich spannend. Ich habe Ihren Ko-alitionsvertrag gelesen. Da steht drin, dass Sie denWindkraftanteil von heute 0,7 Prozent innerhalb vonfünf Jahren auf 10 Prozent erhöhen wollen.
Bis jetzt gibt es in Baden-Württemberg 450 Windkraft-anlagen. Das würde bedeuten, dass es die Grünen schaf-fen müssten, in fünf Jahren 5 000 bis 6 000 zusätzlicheWindkraftanlagen zu bauen.
Das dürfte ziemlich ungemütlich werden. Ich bin sehrgespannt, ob es die Bevölkerung akzeptieren würde,wenn auch im Schwarzwald und auf dem FeldbergWindkraftanlagen gebaut würden; vielleicht kann mansie ja als Slalomstangen benutzen.
Vielleicht werden aber auch Offshorewindkraftanlagenim Bodensee gebaut. Das hätte einen Vorteil: Dort könnteman das ganze Jahr lang Offshorewindkraftanlagenbauen, weil es dort keine Schweinswale gibt.
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Dr. Michael Fuchs
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Ich denke, dass wir auf diesem Sektor sehr vorsichtigsein müssen. Wir brauchen die Akzeptanz der Bevölke-rung. Ich kann mir vorstellen, dass die Akzeptanz derBevölkerung, wenn zu viele solcher Anlagen gebautwerden, nicht allzu groß sein wird.Dennoch ist es notwendig – das dürfen wir nicht weg-diskutieren –, den Netzausbau voranzubringen. Ohneden Netzausbau funktioniert das ganze System nicht.Der Netzausbau muss von Nord nach Süd erfolgen. Wirbrauchen drei große Trassen à 1 000 Kilometer Länge, dieungefähr 60 Meter breit sind. Dafür müssen wir die not-wendigen Gesetze schaffen. Das NABEG, das Netzaus-baubeschleunigungsgesetz, das der Bundeswirtschafts-minister plant, ist sinnvoll und richtig. Jeder in diesemHohen Hause ist gefordert, Vorschläge zu machen, wiewir den Netzausbau beschleunigen können. Es darf nichtmehr so sein, dass es in dem einen Bundesland einen Be-bauungsplan gibt, in dem anderen Bundesland aber nicht,sodass der Netzausbau an der Grenze stecken bleibt.Wie Sie wissen, ist laut dena-Netzstudie I bis jetzt einNetzausbau von 900 Kilometern geplant. Davon sind ge-rade einmal 10 Prozent gebaut. Dafür haben wir fünfJahre gebraucht. Wenn wir in dieser Geschwindigkeitweitermachen, werden wir den Netzausbau überhauptnicht bewältigen.
Es wird höchste Zeit, dass wir alle nach Lösungen su-chen. Am Anfang dieses Prozesses kann gerne eine Bür-gerbeteiligung stattfinden. Aber danach muss es schnellgehen. Dann darf nicht mehr jeder sagen: „Jetzt klageich noch gegen dieses und jenes.“
Außerdem werden wir darüber zu diskutieren haben,wie wir im Rahmen des Netzausbaus dafür sorgen kön-nen, dass die Erdverkabelung vernünftig durchgeführtwird. Mit dem Thema Erdverkabelung muss man sichbeschäftigen. Es handelt sich dabei nämlich um eine völ-lig neue Technologie, die noch nicht erprobt ist.Wir haben die EnLAG-Novelle verabschiedet, in dersteht, dass diese Anlagen jetzt erprobt werden sollen. Bisheute ist noch keine einzige in Betrieb. Hinzu kommt,dass sie technisch hochkomplex sind. Die Kabel müssengut 1,50 Meter tief im Boden verlegt werden, und zwarin Betonrohren. Das bedeutet zum Beispiel, dass man inder freien Flur Brücken bauen muss, damit dort auchschwere Landmaschinen fahren können. Entlang der Ka-belschächte muss eine Revisionsstraße verlaufen. Beiden Menschen wird es keine besonders große Freudeauslösen, wenn wir in Naturschutzgebieten Straßenbauen.Wir müssen uns auch im Klaren darüber sein, dassalle 900 Meter sogenannte Muffenhäuschen gebaut wer-den müssen. Dort müssen die Kabel, weil ihre Länge900 Meter beträgt, aneinandergeflanscht werden. Außer-dem muss ein Betonhäuschen drum herum gebaut wer-den. Das wird, was die Landschaftsästhetik betrifft, nichtbesonders schön sein. Darüber sollte man sich im Klarensein.
Wichtig ist mir Folgendes: Wir müssen all dies soschnell wie möglich testen und beschleunigt durchfüh-ren. Herr Kohler von der dena hat vor einigen Tagen be-kannt gegeben, dass wir eine Ausbaugeschwindigkeitvon mindestens 500 Kilometern pro Jahr erreichen müs-sen. Das bedeutet, ganz nebenbei, dass wir noch neunJahre brauchen, bis wir das komplette Netz ausgebauthaben. Dass wir dieses Ziel mit den jetzigen Gesetzenerreichen werden, stelle ich infrage. Ich fordere uns alleauf, dazu beizutragen, dass wir eine Beschleunigung desNetzausbaus hinbekommen. Wenn wir das nicht schaf-fen, werden wir unsere Ziele im Hinblick auf die erneu-erbaren Energien nicht erreichen. Dann wird auch einAusstieg aus der Kernenergie nicht so schnell möglichsein. Das hängt direkt miteinander zusammen.
Ich wünsche mir von Ihnen konkrete Vorschläge. Ichwünsche mir von Ihnen, dass Sie Ihre eigenen Leute vorOrt bremsen und dafür sorgen, dass sie konstruktiv mit-machen. Es bringt nichts, in Berlin dafür zu sein und vorOrt dagegen.
Dabei können Sie mithelfen. Dabei sind Sie alle gefor-dert. Wenn Sie das nicht tun, helfen Sie nicht mit, denEnergiewandel so schnell wie möglich zu gestalten.Dazu fordere ich Sie auf.
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Herr Fuchs, Ihre Kollegen aus derUnionsfraktion haben in den letzten Tagen immer wiedergesagt, sie hätten eine Menge gelernt. Wenn man Ihre
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Rolf Hempelmann
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Rede eben verfolgt hat, dann weiß man nicht, ob mandas auf die gesamte Fraktion beziehen darf.
Jedenfalls wünsche ich mir, dass Sie bei dem, was Siein den nächsten Wochen und Monaten im Bereich derEnergiepolitik tun, tatsächlich auf Konsens setzen undBrücken bauen, statt wieder Gräben zu ziehen, wie Siees in dieser Rede getan haben.
Wir haben bis zur Sommerpause einiges vor. Wir re-den heute über den Netzausbau. Der Netzausbau ist abernur in einem Gesamtkonzept zu verstehen, das bis zurSommerpause vorliegen muss. Ich will etwas dazu sa-gen, was auf der Tagesordnung steht. Nachdem dieKommissionen ihre Berichte vorgelegt haben und dasKabinett im Juni entschieden hat, soll bis Anfang Juli imBundestag und anschließend im Bundesrat Folgendesbeschlossen werden: Novellen des Atomgesetzes, Ener-giewirtschaftsgesetzes und Netzausbaugesetzes, dasBauplanungsgesetz sowie Anpassungen im Gesetz zumEnergie- und Klimafonds, in den EEG-Eckpunkten, denEckpunkten zur Energieeinsparverordnung und imKraft-Wärme-Kopplungsgesetz.Ich glaube, es wird deutlich, dass wir dabei vor einersehr großen Aufgabe stehen und dass vieles dafür ge-sprochen hätte, die Zeit zu nutzen und diese Themen vonAnfang an im Bundestag und in geeigneten Gremien,zum Beispiel in einem Sonderausschuss, vorzubereiten.
Das Thema Netze ist in der Tat – das ist schon in derRede von Frau Nestle angeklungen – ein Kernpunkt imGesamtkonzept. Es ist sozusagen das Nadelöhr: Wennwir bei dem Thema nicht vorankommen, dann wird esbei allen anderen schwierig, insbesondere bei der Inte-gration und beim weiteren Ausbau der erneuerbarenEnergien, aber auch bei allen Veränderungen im sonsti-gen Kraftwerkspark.Deswegen ist es selbstverständlich unsere gemeinsameVerantwortung, alles zu tun, um zu den notwendigenNetzinvestitionen zu kommen. Diese brauchen wir bei-spielsweise zur Anbindung der Offshorewindenergie undzum Ausgleich der Volatilitäten von erneuerbaren Ener-gien, insbesondere von Windkraft und Photovoltaik. Wirbrauchen dazu auch Leitungen, die zum Teil außerhalbunserer Landesgrenzen sind, beispielsweise Interkonnek-toren nach Skandinavien, um die dortigen Speicherkapa-zitäten zu nutzen. Das ist übrigens im beiderseitigen Inte-resse. Denn es führt auch gleichzeitig zu einer besserenNutzung der Wasserkraft für die Stromerzeugung in Nor-wegen. Dahinter stehen also durchaus belastbare Ge-schäftsmodelle.Wir stehen vor einer besonderen Herausforderung,weil wir gleichzeitig in großen Zusammenhängen den-ken müssen, was Europa angeht. Es geht darum, dasNetz in Europa insgesamt auszubauen. Das muss inDeutschland so erfolgen, dass es mit dem europäischenStromhandel vereinbar ist. Gleichzeitig brauchen wir aufder lokalen Ebene, also dezentral, Investitionen insbe-sondere in die Verteilnetze, die es ermöglichen, dass ge-rade Photovoltaik, aber auch erneuerbare Energien allge-mein in das System integriert werden. Wir stehen vorquantitativen, aber vor allen Dingen auch vor qualitati-ven Herausforderungen. Ich darf an dieser Stelle dasStichwort „intelligente Netze“ erwähnen.Gerade vor diesem Hintergrund ist es jetzt besonderswichtig, über Verfahren zu sprechen, die anders als in derVergangenheit tatsächlich zu Beschleunigungen führen.Denn es ist richtig, was Herr Fuchs gesagt hat: Es ist er-nüchternd, in welchem Umfang etwa die dena-I-Projektebisher realisiert worden sind, nämlich nur zu 10 Prozent.Aus der dena-Netzstudie II wird deutlich – egal wie mansie interpretiert und ob man eher vom oberen oder vomunteren Rand der Ausbaunotwendigkeiten ausgeht –,dass wir vor weiteren Herausforderungen stehen.Es ist richtig, bei der Akzeptanz der Bevölkerung – dasist der entscheidende Punkt – anzusetzen; dazu ist geradeschon einiges gesagt worden. Um die Akzeptanz der Be-völkerung geht es übrigens nicht nur im Energiebereichund insbesondere beim Netzausbau, sondern auch beianderen Infrastrukturprojekten. Deswegen sage ich ge-rade in Richtung der Regierungskoalition: Das, was Siebei CCS gemacht haben, konnten Sie sich bei diesemThema vielleicht leisten. Sie werden sich das Gleicheaber beim Netzausbau und bei den Gesetzen, die ichvorhin aufgeführt habe, nicht leisten können. Sie kön-nen nicht jeder Schwierigkeit, jedem Mangel an Akzep-tanz – auch in Ihren eigenen Reihen auf Landesebene –ausweichen, indem Sie Opt-out-Regelungen schaffen,die es den Ländern erlauben, nicht mitzumachen.
Das wird nicht gehen, wenn wir tatsächlich einen Ener-giekonsens erzielen und die Energiewende in diesemLand schaffen wollen. Legen Sie also Gesetzentwürfevor, die mit den Ländern so abgestimmt sind, dass wirzumindest auf der politischen Ebene einen Konsens er-reichen können!Die Reaktionen der Länder auf die von Ihnen vorge-legten Eckpunkte eines Netzausbaugesetzes stimmenbisher nicht sehr optimistisch. Ich gebe Ihnen in der in-haltlichen Grundausrichtung nicht unrecht. Ja, wir brau-chen eine Art Bundesnetzplan. Ja, wir brauchen aucheine engere Verzahnung von Bundes- und Länderebene.Aber es macht keinen Sinn, mit dem Kopf durch dieWand zu rennen und den Ländern aufzuoktroyieren, dassdas gesamte Verfahren inklusive des Planfeststellungs-verfahrens auf der Bundesebene durchzuführen ist. Daskann man empfehlen, wenn man Berater der Bundesre-gierung ist. Aber die Politik muss wissen, dass es einegeteilte Verantwortung in diesem Land gibt. Das könnenwir nicht einfach wegwischen.Es geht eher darum, intelligente Lösungen zu finden,wie wir zu Beschleunigungen kommen, etwa durch dieZusammenlegung von Verfahren, durch eine zeitlich pa-
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Rolf Hempelmann
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rallele Abwicklung von Verfahren und durch Vermei-dung von Doppelprüfungen. Hier erwarten wir von Ih-nen konkrete Vorschläge. Beteiligungsrechte, egal obvon den Menschen vor Ort oder von den Bundesländern,dürfen dabei jedenfalls nicht in Mitleidenschaft gezogenwerden.Der Netzausbau ist nur ein Teil des Energiekonsenses,den wir in diesem Land benötigen. Es gibt viele andereFragen, die wir in den nächsten Wochen zu beantwortenhaben. Wenn Sie einen parteiübergreifenden Konsenswollen, dann müssen Sie sich bewegen. Dann müssenSie bis zur Sommerpause Vorschläge zu allen zentralenenergiepolitischen Themen vorlegen. Sie müssen mituns vorher reden, um auszuloten, wie sich beide Seitenbewegen müssen, damit es am Ende ein parteiübergrei-fendes Konzept gibt. Das hätte einen Wert an sich, weildie Investitionszyklen im Energiesektor sehr lang sindund weil die gesamte Branche – sie ist sehr vielfältig; esgeht nicht allein um die großen Energiekonzerne, son-dern vor allen Dingen auch um die vielen Stadtwerkeund die neuen Akteure auf dem Markt – verlässliche undlangfristig geltende Rahmenbedingungen braucht.Ich wünsche mir, dass wir eine Einigung erreichen,der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zustim-men können. Nur dann sind wir sicher, dass wir in dernächsten Legislaturperiode nicht wieder von vorne an-fangen müssen. Noch wichtiger: Nur dann sind die Ak-teure in der Energiewirtschaft und der energieverbrau-chenden Wirtschaft sicher, dass das, was wir heutebeschließen, auch morgen und übermorgen gilt. Wirbrauchen also belastbare Vorschläge, etwa beim Ausbauder erneuerbaren Energien und bei der Systemintegra-tion der erneuerbaren Energien. Möglicherweise werdensich Rot und Grün auf der einen Seite sowie Schwarzund Gelb auf der anderen Seite relativ schnell einigen.Aber wir brauchen einen breiteren Konsens.Wir brauchen auch eine Abstimmung in der Frage:Wie gehen wir in der Übergangsphase, bis wir100 Prozent erneuerbare Energien erreicht haben, mitdem konventionellen Kraftwerkspark um? Ich glaube,dazu ist ein besonderer Dialog zwischen Rot und Grüngefragt. Sie werden sich innerhalb der Koalition viel-leicht leichter tun. Aber am Ende müssen wir eine Lö-sung finden, in der wir uns alle wiederfinden können.Auch da gilt – Sie haben beispielsweise die Unterstüt-zung des Wirtschaftsministeriums und des Umweltmi-nisteriums –: Sie sind gefordert, im Vorfeld belastbareVorschläge zu machen, nachdem Sie hoffentlich auchzeitnah den Dialog mit uns begonnen haben.Dies sind nur zwei Beispiele, bei denen wir eine Ver-ständigung brauchen. Man könnte noch weitere anfüh-ren. Dazu gehört beispielsweise die Frage: Wie haltenwir es mit der Industrie in diesem Land? Ich höre aus al-len Fraktionen das Bekenntnis: Wir wollen Industrie-standort bleiben! – Dann müssen wir aber auch das Not-wendige dafür tun, damit wir es tatsächlich bleibenkönnen.Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben zu diesenThemen Vorschläge gemacht. Wir haben ein Energiepro-gramm vorgelegt, das wir in der letzten Sitzungswocheoffiziell als Drucksache in die Debatte eingebracht ha-ben. Wir sagen nicht: „Vogel friss oder stirb!“, sonderndas ist ein Angebot. Schauen Sie es sich bitte an! Wirsind auch überhaupt nicht böse, wenn Sie daraus ab-schreiben. Ich verspreche Ihnen: Wir werden Sie nichtwegen Diebstahl geistigen Eigentums verklagen, es gibtnicht die nächste Plagiatsaffäre. Im Gegenteil: Wir wür-den Sie dafür loben; denn das wäre ein wichtiger Schrittin Richtung eines breiten Energiekonsenses.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus Breil von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der bedingungslose Kampf gegen die Kernkraft –das ist die grüne Stoßrichtung dieses Antrags, sonstnichts. Ein geordneter Übergang in das Zeitalter der er-neuerbaren Energien wird dabei zur Nebensache, er istlästiges Beiwerk.Die Bemerkung in Ihrem Antrag, dass die Bundesre-gierung seit Jahren nur Marionette der Stromkonzernesei, kann ich nur auf die grün-rote Regierung Fischer/Schröder beziehen, sonst wäre Ihre Behauptung einzigund allein eine Beleidigung und zugleich ein geistigerTiefflug.
Denken Sie bitte daran, dass Sie damit auch Tausendevon Mitarbeitern der Energieunternehmen verunglimp-fen. Vorbildlich ist da der einmütige Appell der Ethik-kommission unter Klaus Töpfer, derartige Verunglimp-fungen zu unterlassen.
Zur Sache: Die Folge des von den Grünen vorgeschla-genen Atomausstiegs wäre ein Wegfall der Kernkraft-werke bis zum Jahr 2017. Diese müssten wir zunächstweitestgehend durch fossile Kapazitäten und Stromim-porte ersetzen. Gleichzeitig müssten wir wegen fehlenderNetze hohe Windstromüberschüsse ins Ausland exportie-ren. So weit meine Bemerkung zum unreflektierten Anti-kernkraftdenken.Das ist nun wirklich kein vernünftiger Weg zu den er-neuerbaren Energien. Vernünftig ist die sinnvolle Be-schleunigung des Netzausbaus, so wie es bereits in unse-rem Energiekonzept steht und wie es in den Vorhabender Regierung umgesetzt wird.
Das Lesen Ihres Antrags weckt in mir vor allem einenGedanken: Glauben Sie wirklich, was Sie da so schrei-ben? Oder dient das gebetsmühlenhafte Wiederholen fal-
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Klaus Breil
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scher Behauptungen lediglich der Mobilisierung einigerIhrer Aktivisten und Sympathisanten?
Sie wiegeln die Bevölkerung auf. Die Bürger sollen sichgegen große Unternehmen auflehnen. Alles Große ist inIhren Augen von vornherein böse, der Dämon. Diesesgrundsätzliche Misstrauen gegen jede Wirtschaftlichkeitund Skaleneffekte ist es auch, was mich grundsätzlich anIhrer Politik stört.
Es riecht schon nach bewusster Agitation, wenn Sie dieNetzbetreiber in aller Öffentlichkeit ständig mit Atom-konzernen gleichstellen. Sie wissen selbst: Das stimmtnicht. Sie propagieren bewusst etwas Falsches.
Herr Kollege Breil, darf ich Sie kurz unterbrechen? –
Frau Kollegin Nestle würde Ihnen gern eine Zwischen-
frage stellen.
Ja, bitte.
Bitte schön, Frau Nestle.
Danke schön. – Weil Sie mir jetzt zweimal vorgewor-
fen haben, bewusst falsche Tatsachen darzustellen,
möchte ich Sie einfach nur fragen: Was ist Ihrer Mei-
nung nach in unserem Antrag an falschen Tatsachen wie-
dergegeben?
Frau Kollegin, das habe ich Ihnen ja gesagt, und das
werde ich Ihnen im weiteren Verlauf noch sagen.
– Ich kann die Rede ja noch einmal von vorn beginnen.
Herr Kollege Breil, Sie haben das Wort.
Sie wissen es selbst: Es stimmt nicht. Sie propagierennämlich bewusst Falsches.Zwei der vier Energiekonzerne haben ihre Netze be-reits verkauft. Diese Netze werden von den neuen Eigen-tümern eigenständig und unabhängig betrieben. Ichmeine TenneT und 50 Hertz.Die Amprion GmbH als Tochtergesellschaft der RWEAG ist gemäß den Anforderungen des Energiewirt-schaftsgesetzes rechtlich eigenständig und befindet sichübrigens gerade im Verkaufsprozess. EnBW ist überwie-gend in staatlichem Besitz und hat seit ein paar Wochenein Mitglied Ihrer Grünen im Aufsichtsrat. Zudem willder jetzt neue Umweltminister in Baden-Württemberg jaohnehin das EnBW-Netz verkaufen, um seine alternati-ven Umstiegsfantasien bezahlen zu können.Auch die weiteren Punkte sind altbacken und fade.Die zentralen Ideen Ihres Antrags können Sie alle imEnergiekonzept der Bundesregierung, in der Novellezum Energiewirtschaftsgesetz
oder in den Vorschlägen des Bundeswirtschaftsministerszu einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz finden. Ichmeine damit den Bundesfachplan für Hochspannungs-netze, den Ruf nach Vereinfachung der Verfahren, dieTrennung von Netz und Erzeugung und die Forderungnach Smart Grids. In diesem Sinne begrüße ich sogarIhre Forderungen, übrigens ganz im Gegenteil zu denSozialdemokraten, Ihren Wunschpartnern. Der ehema-lige Staatssekretär im BMU und jetzige Wirtschafts-minister von Thüringen, Matthias Machnig, hat amvergangenen Dienstag beispielsweise eine Bundesfach-planung abgelehnt.
Doch werden wir konkret: Ich fordere Sie vor diesemHohen Hause auf, die Notwendigkeit des Netzausbaus,wie in Ihrem Antrag auch beschrieben, in Ihre grüne Ba-sis hineinzutragen. Überzeugen Sie die Leute vor Ort!Ich bin wirklich gespannt, wie Ihnen dies gelingen wird.Allerdings sind wir uns in manchen Punkten aucheinig: Auch wir wollen eine frühzeitige und intensiveBürgerbeteiligung und eine hohe und frühzeitige Verfah-renstransparenz. Wir wollen die heute üblichen Doppel-prüfungen durch Bürgerbeteiligung zu denselben Sach-punkten in der Raumordnung und in der Planfeststellungvermeiden. Allerdings sind die staatliche Kontrolle derNetzbetreiber und deren Gängelung zu Investitionen,wie Sie das fordern, absolut überflüssig.Das kann ich Ihnen durch folgende Zahlen belegen.Die beiden schon jetzt unabhängigen Übertragungsnetz-betreiber sind im vergangenen Jahr Investitionsver-pflichtungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro ein-gegangen: TenneT mit 2,5 Milliarden Euro, 50 Hertz mit1,6 Milliarden Euro. Sie planen bis 2020 eine Verdoppe-lung dieser Anstrengungen: TenneT 6 Milliarden Euround 50 Hertz 3,3 Milliarden Euro.Dort, wo Sie die Netzbetreiber nicht auf den geballtenWiderstand von professionell organisierten Gegnern sto-ßen lassen – ich meine hier nicht die berechtigten Inte-
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ressen der anwohnenden Bürger –, geht es mit demNetzausbau auch voran.Kommen wir nun zu einem Schlagwort Ihres Antrags,den Sanktionen. Die derzeitige Sachlage ist bekannt: Hatein Netzbetreiber schuldhaft nicht investiert und Leitun-gen nicht ausgebaut, dann wird der Bau dieser Leitungausgeschrieben. Infolgedessen bekommt derjenige mitdem besten Angebot den Zuschlag für die jeweiligeTrasse. Die schon bestehende Regelung ist also folge-richtig und vernünftig.Ihre Forderungen bezüglich der Nutzung vorhandenerInfrastrukturen sind ebenso altbekannt. Die Bahntrassensind zum Beispiel nicht breit genug für 380-kV-Leitun-gen. Deren 40-Meter-Schneisen reichen für den Baunicht aus. Für die neuen Leitungen bräuchte man min-destens rund 60 Meter; auch die Masten müssten deut-lich erhöht werden.Beides hätte zur Folge, dass die Netzbetreiber – nachgeltendem Recht – neue Verfahren anstrengen müssten,und das nicht ganz zu Unrecht. Schauen Sie beim Bahn-fahren doch mal aus dem Fenster: Sie sehen Häuser, Siesehen Fabriken, Sie sehen Gärten; die stehen einem Aus-bau oft im Wege.Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie unszur Beschleunigung des Netzausbaus vorlegen, zeigteinzig und allein Ihr eigenes Dilemma. Es ist das Di-lemma zwischen Ihren frommen Wünschen in Berlinund der selbst heraufbeschworenen Realität vor Ort. Essind die Geister, die Sie riefen und die Sie nicht mehrloswerden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner
von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! 2004 wurde in Zusammenarbeit mit unter an-derem drei der vier großen Netzbetreiber in Deutschlandeine Studie angefertigt. In dieser Studie wurde vorausge-sagt, dass im Jahr 2010 insgesamt 5,4 Gigawatt Off-shoreenergie, also auf See erzeugte Windenergie, und24,4 Gigawatt Onshoreenergie, also an Land erzeugteWindenergie, produziert würden. Jetzt haben wir 2011,und wir haben nur 0,2 statt 5,4 Gigawatt Offshoreener-gie, dafür aber 27 statt 24 Gigawatt Onshoreenergie.Durch die bis heute bundesweit installierte Photovol-taik ist die für 2020 erstellte Prognose der DeutschenEnergie-Agentur, dena, längst übertroffen worden. Diein dieser Studie vorgenommenen groben Fehleinschät-zungen, auf denen die Netzausbauplanung bis heuteberuht, machen deutlich, dass wir noch einmal ansetzenmüssen und dass die entsprechenden Projekte überprüftwerden müssen. Das ist einer der Gründe, warum der Wi-derstand gegen die Ausbauprojekte gerade bei 380-kV-Trassen in den Regionen so stark ist. Die Leute habennämlich längst gemerkt: Diese Leitungen sind nicht nö-tig, um Erneuerbare ans Netz zu bringen; man plant mitfehlerhaften und alten Zahlen.
Es ist vollkommen klar, dass es unter diesen Voraus-setzungen einer Änderung des EnLAG, des Energielei-tungsausbaugesetzes, bedarf. Unser erster Schritt ist,weiterzukommen auf dem Weg hin zu 100 Prozent er-neuerbaren Energien. Wir wollen nicht, dass sinnlosGeld zum Fenster hinausgeworfen wird. Die aufgrundder dena-Studie geplanten Ausbauprojekte müssen aufEis gelegt werden.
Erst wenn wir einen Zielplan haben, der klarstellt,welche Netze bei einer dezentralen Erzeugung erneuer-barer Energien notwendig sind, können wir an konkreteAusbauprojekte herangehen. Denken wir nur an den im-mensen Zuwachs bei Solarstrom. Er macht inzwischenim Mittel 2 Prozent der gesamten Stromerzeugung aus,tagsüber deutlich mehr, und zwar genau dann, wenn auf-grund der Spitzenlast besonders viel Strom gebrauchtwird. Das gilt an sonnenreichen Tagen noch viel mehr.Das führt zum Beispiel dazu, dass der Energiebedarf inweiten Bereichen Sachsen-Anhalts voll durch Erneuer-bare gedeckt werden kann. Der dezentrale Ausbau derAnlagen für erneuerbare Energien macht es also nötig,dass die Verteilnetze fitgemacht werden, damit die de-zentralen Anlagen auch wirklich an das Netz ange-schlossen werden können.Es ist klar: Eon, RWE und Vattenfall sind an denNord-Süd-Trassen interessiert, weil sie wollen, dass ihreKohlekraftwerke und ihre Atomkraftwerke im Nordenam Netz bleiben. Sie wollen, dass ihr Strom weiterhin indie südlichen Bundesländer verkauft wird. Stattdessensollten sie unterstützen, dass der überfällige Ausbau er-neuerbarer Energien, zum Beispiel aus Windanlagen,stattfindet.Das Interesse der Konzerne, die fossile Energie erzeu-gen, ist, die zentralen, monopolhaften Strukturen zu er-halten, und dafür brauchen sie diese Trassen. Wenn wirden Anteil der fossilen Energie zurückfahren wollen,dann brauchen wir die Erneuerbaren. Die Menschenwollen die Energiewende, und sie merken, dass das, washier vielerorts geplant ist, nicht dazu passt, sondern wei-ter die großen Konzerne fördert.Eine Energiewende muss – das sagt die Linke ganzdeutlich – eine soziale Energiewende sein.
Das heißt auch, die Macht der Konzerne zu brechen undin Zukunft auf die kleinen und mittleren Energieanbieterzu setzen. Es geht dabei gerade um die kommunale
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Ebene, also um die Stadtwerke, und um demokratischeKontrolle. Energetische Großprojekte wie Offshorewind-parks müssen auch von Stadtwerken – ich denke dabeian Genossenschaften – realisierbar sein. Unter anderemdeshalb schlagen wir vor, das Ende der 80er-Jahre ge-schleifte Genossenschaftsgesetz zu reformieren und fürdie beschriebenen Aufgaben fitzumachen.
In ihrem Antrag gestehen die Grünen der öffentlichenHand gerade einmal eine Rolle als Kapitalgeber zu. Dasgenügt aus unserer Sicht nicht. Das schafft weder Trans-parenz noch Mitbestimmung. Die Ideen der Grünen grei-fen zu kurz. Die öffentliche Hand muss durch eigenekommunale und staatliche Unternehmen selber Eigentü-mer der Stromnetze werden, und zwar sowohl der Ver-teilnetze als auch der Übertragungsnetze.
Nur so schaffen wir es, eine wirklich demokratischeKontrolle über die Netzinfrastruktur, die ein Teil der Da-seinsvorsorge ist, zu erlangen und Investitionen da zu tä-tigen, wo sie wirklich nötig sind.Wenn wir von Netzumbau sprechen, dann meinen wirnicht nur die rein technische Seite. Wir sprechen dannauch über das Grundverständnis der Energienetze alsTeil der öffentlichen Daseinsvorsorge. So müssen wir sieverstehen, und so müssen wir es angehen.Der Netzumbau muss ein Rahmenprogramm für einebeschleunigte Rekommunalisierung beinhalten. DieBundesregierung hat in ihrem im Moment auf Eis lie-genden Energiekonzept des vergangenen Jahres beimPunkt Netzausbau selbst betont, dass Hürden bei denAbsprachen mit den Netzbetreibern zu erwarten sind.Ich frage Sie deshalb, warum Sie diese Infrastruktur, die-sen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, überhaupt derWillkür und den Eigeninteressen des Marktes und derPrivatwirtschaft überlassen, die damit Geld verdienenund natürlich eine Rendite erwirtschaften wollen undnicht sinnvoll im Interesse des Gemeinwohls agieren.Als Eon 2008 sein Übertragungsnetz verkaufenmusste, weil die europäische Kartellbehörde die Preis-treiberei und den Marktmissbrauch nicht mehr tolerierthat, hätte der Bund das Netz übernehmen müssen. Genaudas tat die Große Koalition nicht. Hätte sie es seinerzeitgetan, wäre sie dort aktiv geworden, dann hätten wirmanche Probleme und Hindernisse, die uns in dennächsten Wochen und Monaten beschäftigen werden,jetzt nicht.
Ich bitte Sie, das zu überdenken und umzusteuern.Ich danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich freue mich – das meine ich jetzt nicht bösartig –,dass die Grünen mit ihrem Antrag in der Realität ange-kommen sind.
Bisher wurde der notwendige Netzausbau in dem fragli-chen Umfang von Ihnen nämlich immer bestritten, undes wurde gesagt: Man muss das nur anders, dezentralerorganisieren, dann brauchen wir diesen Netzausbaunicht. Daneben wurden Verschwörungstheorien bemüht– Ansätze dafür finden sich noch in Ihrem Antrag –,nach dem Motto „Von den Netzbetreibern wird der not-wendige Netzausbau hintertrieben“ oder „Atomstromverstopft die Netze“ und anderes mehr.Das Geschäftsmodell des Netzbetriebes – das gilt ins-besondere für die Übertragungsnetze – hat sich im Übri-gen mit der Mitwirkung Ihrer verehrten Vorgängerin,Frau Nestle, geändert. Seit wir 2005 das Energiewirt-schaftsgesetz geändert haben, gibt es den diskriminie-rungsfreien Netzzugang. Das heißt, jeder kann dieStromautobahnen und das Verteilnetz nutzen, wenn erStrom transportieren will und muss.
Die Herausforderungen in Bezug auf das Netz verän-dern sich aber. Bisher ist das Netz einseitig, also mehroder weniger – so sage ich es einmal – als Einbahn-straße, ausgerichtet. Das führt beispielsweise dazu, dasses die – in Anführungszeichen – dünnsten Netze in denWindbereichen an den Küsten in Norddeutschland gibt.Zukünftig brauchen wir aufgrund einer dezentralen,fluktuierenden Stromerzeugung natürlich eher andereNetze, sowohl im Bereich der Verteilnetze als auch derÜbertragungsnetze. Wenn wir es nicht schaffen, diesesProblem zu lösen, dann wirkt all das, was wir im Ener-giebereich unternehmen, nicht. Ich glaube, darüber müs-sen wir uns hier gemeinsam klar werden.Die Netzbetreiber – ich spreche jetzt einmal insbeson-dere über die Betreiber von Übertragungsnetzen – habengar nichts mehr mit denen zu tun, die Strom erzeugen.TenneT und 50 Hertz gehören heute internationalen In-vestoren und haben nichts mit der Stromerzeugung zutun. Die Netzbetreiber haben schon heute ein originäresInteresse daran, das Netz stabil zu halten, es zu betreibenund möglichst viel Strom durch ihre Netze zu leiten, wo-mit sie natürlich Netznutzungsentgelte, Trassenentgelte,erzielen. Insofern hilft es uns nichts, wenn man hierSituationen beschreibt, die vielleicht vor zehn Jahrenaktuell waren.
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– Ja, das ist richtig. RWE hat das Übertragungsnetznoch, aber man ist dabei, es zu verkaufen. EnBW ist vor-hin schon angesprochen worden. De facto ist durch dieeuropäische Lösung sowie durch das, was wir gemachthaben, der diskriminierungsfreie Zugang sichergestellt.Heute kann in diesem Haus doch niemand mehr ernst-haft behaupten, dass der diskriminierungsfreie Zugangnicht gewährleistet sei.
Lassen Sie mich noch einmal zu den Dimensionen derHerausforderung kommen. Dabei will ich mich auf dieNetze konzentrieren und am Rande auch auf die Speiche-rung eingehen. Bei den Vorrednern ist es zum Teil schonangeklungen. Betrachten wir nur einmal das Übertragungs-netz, also die Stromautobahnen. Kollege Hempelmann hates angesprochen: 850 Kilometer hätten nach der dena-Netzstudie I eigentlich bis 2010 gebaut werden müssen,um die Ziele von 2005 im Hinblick auf die erneuerbarenEnergien zu befriedigen. Deren Anteil an der Energie-erzeugung sollte – ich erinnere noch einmal daran –2010 12,5 Prozent betragen. Tatsächlich hatten wir imJahr 2010 einen Anteil von knapp 17 Prozent. Allerdingswurden – Kollege Hempelmann hat es angesprochen –erst knapp 10 Prozent der entsprechenden Leitungen ge-baut, nämlich 90 Kilometer. Das heißt, das alles ist wirk-lich sehr auf Kante genäht.Jetzt wollen wir unser Energiekonzept vom letztenJahr, dessen Ziele unbestritten sind – mehr Energieeffi-zienz, verstärkter Ausbau der erneuerbaren Energien –,noch dramatisch steigern und vielleicht weiter beschleu-nigen. Deshalb brauchen wir – insofern sind die Zahlenauch nicht veraltet, wie die Kollegin behauptet hat, son-dern nagelneu – bei den Stromautobahnen 3 600 Kilo-meter Leitungen zusätzlich. Allein im Übertragungsnetzbenötigen wir 4 500 Kilometer. Ich spreche nur davon,was technisch notwendig ist. Im Verteilnetz brauchenwir 200 000 Kilometer neu zu bauende Leitungen.Ferner ist das Thema Interkonnektoren angesprochenworden. In diesem Zusammenhang wird immer Norwe-gen bemüht. Leider müssen wir konstatieren – Standheute –, dass die beiden Projekte Nord.Link und NorGermit jeweils 1 400 Megawatt, mit denen die Leitungslü-cken nach Norwegen geschlossen werden sollten, imMoment planerisch nicht weiter nach vorne kommen.Weil die norwegische Regierung das Ganze nicht so will,wie wir es uns vorstellen, kommen wir an dieser Stellenicht weiter. Das sind leider die Fakten. Das heißt, wirkönnen, auch wenn es uns in Deutschland im Momentgefällt, beispielsweise nicht über die norwegischen Was-serspeicher verfügen. Wir sind im Moment nicht einmalin der Lage, die Leitungen zu bauen. Auch dort sindgroße politische Anstrengungen notwendig, um mehr zuerreichen.
Aufgrund des Moratoriums spielt das Thema Inter-konnektoren ebenfalls eine Rolle. Dieser Tage – das istgestern im Wirtschaftsausschuss berichtet worden, es istalso ganz aktuell – ging es um die Interkonnektoren imZusammenhang mit Frankreich. Wir haben derzeit einenzweigeteilten Strommarkt, weil die Interkonnektorennicht mehr in der Lage waren und sind, den Strom vonFrankreich nach Deutschland so zu leiten, wie es jetztaufgrund des Moratoriums notwendig ist. Wenn wir nachPolen und nach Tschechien schauen, sehen wir das glei-che Problem. Das heißt, auch im Bereich der Interkon-nektoren müssen wir mehr als Gas geben, um das Netzauszubauen.Bisher habe ich nur von der Technik gesprochen.Smart Grids und Smart Metering sind angesprochenworden. Wenn wir einen Umbau bei den Netzen vorneh-men wollen, müssen wir auch im Bereich von SmartGrids und Smart Metering die Maßnahmen ausbauen.Diese intelligente Steuerung zu schaffen, bedeutet nichtnur technische, sondern natürlich auch finanzielle He-rausforderungen.Lassen Sie mich auch beim vieldiskutierten ThemaSpeicherung einfach einmal die Dimensionen aufzeigen,über die wir reden. Heute haben wir in Deutschland einSpeichervolumen an elektrischer Arbeit von 0,04 Tera-wattstunden. Das betrifft im Wesentlichen die Pump-speicherkraftwerke. Dieses Volumen kann im Momentgerade einmal eine Stunde den Strom puffern. Überein-stimmende Untersuchungen zeigen, dass wir dann, wennwir in Ansätzen dem genügen wollen, was wir jetzt beiden erneuerbaren Energien planen, ein Speichervolumenvon mindestens 10 Terawattstunden – wir haben jetzt0,04 – benötigen. Das ist das 250-Fache dessen, was wirheute haben.Es wird dieser Tage auch viel über Elektromobilitätgesprochen und behauptet, damit könne man das Pro-blem lösen, sogar dezentral. Auch hierzu ein paar Zahlenund Fakten; denn Adam Riese kann man ja nicht wirk-lich übergehen: Die 1 Million Elektrofahrzeuge, die wirim Jahr 2020 haben wollen, hätten theoretisch ein Spei-chervolumen von insgesamt 0,01 Terawattstunden. Dassetzt voraus, dass wir das vollständig einsetzen könnten.Ich weiß nicht, wie begeistert jemand ist, der nachts seinElektromobil ans Stromnetz anschließt, um am nächstenMorgen damit fahren zu können, wenn der Akku nachtsstattdessen beispielsweise über Smart Metering geleertwird, sodass er morgens damit nicht fahren kann. Aberselbst wenn wir das außen vor lassen, sind die 0,01 Tera-wattstunden ein Faktum, das auch Sie nicht bestreitenkönnen.Insofern zeigt sich, wie groß die Herausforderungauch in diesem Bereich ist. Deshalb müssen wir neueWege beschreiten. Ich nenne hier einmal das Stichwort„Methanisierung“. Im Erdgasbereich sind heute bei-spielsweise bereits über 200 Terawattstunden vorhanden.Deshalb müssen wir sektorübergreifende Ansätze findenund uns nicht nur mit Strom befassen, sondern Stromund Gas miteinander verknüpfen. Auch beim Strom-transport müssen wir nach neuen intelligenten Möglich-keiten suchen. Indem wir alles miteinander verknüpfen,könnten wir uns vielleicht manchen Ausbau der Strom-netze sparen.
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Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind alsogigantisch.Zu den Kosten habe ich bisher noch nichts gesagt. Siebewegen sich in einer Größenordnung von 40 bis 50 Mil-liarden Euro. Dieses Geld muss in den nächsten 10 bis15 Jahren investiert werden. Ich glaube ja, dass wir dasschaffen können, weil es genug privates Kapital gibt.Dazu gehört aber auch, dass wir entsprechende Investi-tionsanreize setzen.Was nützen uns aber die technische Machbarkeit undalles Geld, wenn wir all das zwar planen, aber nicht um-setzen können? Deshalb wird es entscheidend sein – dasist mein ernstgemeinter Appell am Schluss –, dass wirdas fraktionsübergreifend im Bundestag umsetzen unddie Länder mit ins Boot holen. Wenn wir das nicht schaf-fen, wird all das nicht funktionieren. Wir können es nurgemeinsam schaffen. Auch hier gilt: Wer A sagt, mussauch B sagen. Wer Ja zum Atomausstieg sagt, wer Jazum schnelleren Umstieg auf Erneuerbare sagt, mussauch Ja zum Ausbau der Netze und zum Ausbau derSpeicher sagen. Dazu fordere ich Sie auf.
Wir sind bereit – das sage ich an Ihre Adresse, HerrHempelmann, und auch an die Adresse der Grünen –, imweiteren Prozess über diese Dinge zu diskutieren. Eshandelt sich aber um ein Geben und Nehmen. Das giltauch für andere Gesetze, bei denen wir Ihre Mitwirkungvielleicht nicht brauchen, weil sie nicht zustimmungs-pflichtig sind. Wir wollen nämlich ein Gesamtpaketschnüren, um unsere Ziele zu erreichen. Nur wenn wirden nötigen Netzausbau schaffen, werden wir zu all demin der Lage sein. Anderenfalls werden wir scheitern, undzwar unbeschadet all der Dinge, die wir alle gemeinsambei Sonntagsreden verkünden.
Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-vor ich in das Thema einsteige, möchte ich die Gelegen-heit nutzen, um dem soeben gewählten Ministerpräsi-denten von Baden-Württemberg, Herrn Kretschmann,zumindest im Namen der SPD-Fraktion, aber, wie ichdenke, auch im Namen der Grünen und des gesamtenHauses von Herzen zu seiner Wahl zu gratulieren.
Die Tatsache, dass dieses neue rot-grüne bzw. grün-roteProjekt
– ich habe doch beides genannt, regt euch doch nochnicht so auf –
große Begeisterung gerade auch hinsichtlich seiner ener-giepolitischen Ausrichtung auslöst, zeigt sich auch da-ran, dass sogar zwei Leute der Opposition mitgestimmthaben. Einen herzlichen Glückwunsch an diejenigen ausder Opposition in Baden-Württemberg, die schon soweit sind!
Dieser energiepolitischen Wende und dem Aufbruchin den Reihen der Union und der FDP kann man insbe-sondere zwei Namen, nämlich den von Herrn Fuchs undden von Herrn Breil, gegenüberstellen. Ich war über ei-nige ihrer Aussagen etwas überrascht, will das jetzt abernicht bewerten.
Auf zwei Dinge möchte ich aber eingehen.Herr Fuchs, zunächst zur Klarstellung: Sie haben ge-sagt, wir wollen nicht, dass wir in Zukunft bei derStromversorgung von Importen abhängig sind. Ich fragemich, warum Sie dann im letzten Jahr ein Energiekon-zept verabschiedet haben, das darauf basiert, dass wir imJahr 2050 bis zu 30 Prozent Energie importieren. Daspasst doch nicht zusammen.
Der zweite Punkt; man kann darüber streiten. HerrBreil, wenn Sie hier, an die Grünen gerichtet, sinngemäßsagen: „Die Geister, die Sie riefen, holen Sie jetzt ein“,frage ich Sie: Von welchen Geistern werden Sie eigent-lich gerade eingeholt? Ich glaube, diese Aussage hättenSie besser an die eigene Adresse gerichtet als an die Op-position.
– Nicht so lange wie Sie für Ihre Frage.Ich komme jetzt aber zu einigen Feststellungen. DerZustand der Übertragungsnetze in Deutschland ist da-durch gekennzeichnet, dass ein Großteil vor 40 Jahrenund mehr errichtet wurde. Der Netzausbau in den 60er-
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und 70er-Jahren betrug rund das Dreifache von dem,worüber wir jetzt reden. Das haben wir übrigens pro-blemlos weggesteckt. Der Netzausbau war nötig, umzum einen den Ausbau fossiler Kraftwerke und zum an-deren den Ausbau der Kernenergie zu ermöglichen. Dasist ein Fakt.Dass Investitionen in die Erneuerung der Stromleitun-gen ohnehin erforderlich sind, ist kein Geheimnis; daswissen wir. Das Problem ist nur, dass wir jetzt über einenLeitungsausbau von 3 500 Kilometer sprechen und diesautomatisch mit dem Ausbau der erneuerbaren Energienverknüpfen. Das ist falsch. Wir hätten ohnehin enormeInvestitionen in die Leitungen zu tätigen gehabt. Von da-her ist es wichtig, einmal im Detail zu schauen, worüberwir hier eigentlich reden.Herr Fuchs sprach eben von 4 400 Kilometern; eswird also immer mehr.
– Ja, ich lese die Studien. Aber wenn man eine Studie zi-tiert, sollte man das auch vollständig tun, Herr Fuchs.
Sie zitieren sie so, dass es in Ihre Konzeption passt. Sieversuchen mit dem Argument, wir kämen mit dem Netz-ausbau nicht hin, die Laufzeitverlängerung zu billigen.Das ist der falsche Weg. In der dena-Studie steht:1 700 bis 3 500 Kilometer. Das muss man deutlich sa-gen.
Außerdem verfügt der – schon nicht mehr oder geradenoch amtierende – Wirtschaftsminister in seinem Hausüber ganz andere Studien. Laut einer Studie von Consen-tec und R2B erfordert selbst ein Anteil von 50 Prozentan erneuerbaren Energien im Jahr 2020 über dena I hi-naus noch 250 Kilometer Höchstspannung. Das ist eineStudie aus dem BMWi. Deshalb muss man sich die Zah-len in den verschiedenen Studien genau anschauen.
Was brauchen wir wirklich? Das kann man am bestenherausfinden, wenn man mit den Betreibern der Übertra-gungsnetze spricht. Ich will nur von einem berichten,von Amprion. Ich hoffe, ich darf das tun; aber es ist keinGeheimnis. Amprion hat schon frühzeitig, basierend aufdem, was an Investitionen ohnehin erforderlich ist undwas aufgrund des rot-grünen Ausstiegsbeschlusses ab-sehbar war, bis 2020 Investitionen in die Netze in Höhevon 3 Milliarden Euro vorgesehen. Sie bauen 800 Kilo-meter ihrer Höchstspannungsnetze aus, 97 Prozentdavon auf vorhandenen Trassen – ohne Akzeptanzpro-bleme –, 2 Prozent parallel zu bestehenden Trassen undnur 1 Prozent neu. Um von sich aus Konflikten aus demWeg zu gehen, bauen sie von den insgesamt 5 Kilo-metern 3 Kilometer freiwillig unterirdisch. Sie sagen, siewerden das hinbekommen.Natürlich gibt es hier und da Probleme, aber an die-sem Beispiel sieht man, dass es geht. Von daher ist dieAussage, dass mindestens 3 500 oder 4 400 KilometerÜbertragungsnetze gebraucht werden, falsch. Wichtigist, dass wir mit den Leuten sprechen.Eines, was auch in der Diskussion anklang, ebenfallsin der Rede von Herrn Fuchs, möchte ich noch aufgrei-fen. Es hieß, wir werden nur dann frühzeitig aus derKernenergie aussteigen können, wenn wir bis dahinmassiv Leitungen ausgebaut haben und wenn wir paral-lel dazu dafür sorgen, dass die Offshorewindparksschneller als geplant ans Netz gehen. Beides ist falsch.
Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen: Durch dieAbschaltung der acht AKW haben wir rund 8 800 MWvom Netz genommen. Bis zum Ende des nächsten Jahreswerden allein 10 600 MW an neuen Kapazitäten hinzu-gebaut, und zwar zum Großteil durch fossile Kraftwerke,die ohnehin in der Planung sind. Das heißt, den Verlustdieser 8 800 MW haben wir mehr als wettgemacht.
– Herr Fuchs, das sind Zahlen vom BDEW. Ich kann sieIhnen schriftlich geben.
Wir werden in diesem Jahrzehnt allein in Österreich undder Schweiz Zubauten von Pumpspeicherkraftwerkenmit einer Leistung von 5 500 MW erleben; in Deutsch-land ist der Zubau von Kraftwerken mit einer Leistungvon 1 700 MW geplant. Hinzu kommen massive Zubau-ten im Bereich der Erneuerbaren.Ich will eines deutlich machen: Warum ist es eigent-lich falsch, jetzt massiv Geld in die schnellstmöglicheAnbindung der Offshorewindparks zu pumpen? Wirbrauchen Offshorewindparks – ich bin dafür –; das istunbestritten. Aber in diesem Moment ist die schnellst-mögliche Anbindung nicht erforderlich, um die Atom-kraftwerke abzuschalten. Es gibt eine aktuelle Studie desBundesverbandes WindEnergie. Demzufolge würdeman, wenn man 2 Prozent der Landesflächen für On-shorewindparks zur Verfügung stellen würde, folgendeGrößenordnungen erreichen: In NRW, wo das aktuellThema in der neuen Koalition ist, könnte so eine Leis-tung von bis zu 20 000 MW erreicht werden, in Baden-Württemberg eine Leistung von bis zu 23 000 MW – ichbin mir sicher, dass wir so weit kommen –, in Bayern,Herr Nüßlein, von bis zu 41 000 MW. Da muss manschon die Frage stellen: Warum nutzen wir jetzt nicht dieMöglichkeiten, wesentlich mehr Onshoreanlagen anzu-schließen? Das wäre kurzfristig realisierbar und deutlichkostengünstiger, als jetzt massiv im Offshorebereich zuinvestieren. Meine Damen und Herren, Sie müssen esvor Ort nur zulassen.
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Wir müssen eines beachten – der Bundesumwelt-minister ist nicht mehr da –: Wir dürfen den Zubau imOnshorebereich im Rahmen der EEG-Novelle nichtklammheimlich unattraktiv machen, indem wir die wirt-schaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtern. Wirmüssen im EEG nichts Zusätzliches für den Onshore-bereich regeln; wir müssen es nur so lassen, wie es ist.Das wird aber nicht getan. Damit gefährden wir denAusbau im Onshorebereich massiv.Ich will Ihnen zwei Beispiele für Veränderungen imRahmen der EEG-Novelle nennen: Zum einen wird dieDegression gemäß dem Erfahrungsbericht und der Vor-schläge auf 2 Prozent angehoben. Der Systemdienstleis-tungsbonus soll gestrichen und das Repowering auf nurnoch vier Jahre begrenzt werden. Das ist faktisch eineKürzung der Vergütung um 1,5 Cent pro Kilowattstunde.Das kann die Branche nicht verkraften, weil es keineKostensenkungspotenziale in diesem Umfang gibt.Wenn Sie einen Konsens mit uns finden wollen, dannmüssen Sie gewisse Grundforderungen der Oppositionerfüllen: Man muss die Bedingungen dafür erhalten,dass sich die erneuerbaren Energien positiv entwickeln.Das heißt mit Blick auf die Entwicklung im Onshore-bereich: Finger weg! Lassen Sie im Onshorebereich allesso, wie es im Gesetz geregelt ist. Dann werden wir esschaffen, den Ausbau der erneuerbaren Energien ohnegroße Investitionen im Offshorebereich, die, würden sieverfrüht getätigt, zu großen Preissteigerungen führenwürden, massiv voranzubringen. Das hilft auch denMenschen in Bayern; denn es ist besser, wenn die Wert-schöpfung vor Ort geschieht, wenn die Gemeinden überdie Gewerbesteuer davon profitieren, anstatt anschlie-ßend über die Umlage das Fünffache zu zahlen, damitwir jetzt massiv und schnell Offshoreanlagen ans Netzbringen.
Ich will auf einen letzten Punkt eingehen. Wir redenimmer nur über die Höchstspannungsleitungen. Ja, dasist wichtig; wir müssen den Stromtransport von Nordnach Süd sicherstellen. Ich will das gar nicht kleinreden.Die Frage, was wir mit den Verteilnetzen machen, wirdaber mindestens genauso bedeutend sein. Wir müssendie Verteilnetze zu solchen Netzen umbauen, die auchStrom aufnehmen, also zu Einspeisenetzen. Hier gibt esgute Ansätze. Wenn wir es schaffen, die Potenziale imSüden Deutschlands bei der Windkraft zu nutzen,kommt es zu zusätzlichen Herausforderungen im Zu-sammenhang mit den bisherigen Verteilnetzen. Es gibtgute Ansätze, dafür zu sorgen, dass Investitionen, dievor Ort erforderlich sind, mit Partnern aus dem Bereichder erneuerbaren Energien und dem Mittelstandschnellstmöglich getätigt werden. Das ist deutlich güns-tiger als das, was wir im Bereich der Höchstspannungs-leitungen tätigen müssten, hilft uns aber kurzfristig, denUmstieg schneller hinzubekommen. Es gibt hier vieleMöglichkeiten.Sie haben das Angebot an die Opposition gemacht, zueinem gemeinsamen Entwurf zu kommen. Wir werdenes annehmen, aber nur dann, wenn dieser Umstieg quali-tativ gesichert wird und es nicht bei einigen vorgescho-benen Argumenten bleibt, von denen Sie leider auchheute wieder viel zu viele vorgetragen haben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Uns allen ist klar, dass der Netzausbau eines der zentra-len Themen ist. Frau Nestle, Sie sind der Meinung dasswir den Ausbau der Netztrassen nur dann hinbekämen,wenn wir gleichzeitig einen beschleunigten Ausbau dererneuerbaren Energien durchführen und uns dann auchnoch darauf begrenzen würden, nur die Netztrassen zubauen, die für die erneuerbaren Energien gebraucht wer-den. Das reicht wahrscheinlich nicht. Ich glaube, es ge-hört beides dazu. Wenn man den beschleunigten Aus-stieg aus der Kernkraft will, dann muss man akzeptieren,dass eben nicht nur ein Netzausbau im Bereich der er-neuerbaren Energien notwendig ist, sondern beispiels-weise auch zusätzliche Gaskraftwerke benötigt werden.
Es stellt sich dann die Frage, wie Sie den Bereich derfossilen Energien unterstützen wollen. Wie wollen Sie esschaffen, auf Akzeptanz für Energien zu stoßen, die alszusätzliche Brücke nötig sind? Wir brauchen sie auf je-den Fall. Der Netzausbau für erneuerbare Energien alleinreicht nicht aus.Sie haben gesagt, wir sollten finanzielle Gestaltungs-spielräume ermöglichen. Im Klartext heißt das: Es sollmehr Geld ausgegeben werden. Man kann natürlich nettformulieren, dass man Gestaltungsspielräume erhöhenwill. Man kann aber auch sagen: Es wird teurer. Das isteine Sache, die man den Leuten auch sagen muss. Ausmeiner Sicht muss man die Leute fragen, was sie bereitsind, zu bezahlen, und wofür sie bereit sind, es zu bezah-len. Die Planungssicherheit muss gesteigert werden. DieSteigerung der Planungssicherheit kann bedeuten, dassdie Mitspracherechte der Bevölkerung zu Beginn desVerfahrens gestärkt werden, später jedoch nicht mehr be-stehen, etwa wenn es dann zu Widersprüchen kommt,weil persönliche Interessen dem großen Ganzen entge-genstehen. Den Leuten muss dann gesagt werden: Jetztsind wir uns einig, wir können das Fass nicht zum hun-dertsten Mal aufmachen. Hier müssen Sie uns genausohelfen, wie wir Ihnen in anderen Bereichen versuchen,
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Horst Meierhofer
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zu helfen. Wir müssen eine gemeinsame politische Hal-tung hinbekommen, und zwar eventuell auch gegen Ein-zelinteressen.
Es ist nicht möglich, dass dies zur Zufriedenheit allergelingt. Ihr Ansatz ist, dass alles im Einklang mit denLeuten vor Ort geschehen muss. Der Meinung bin ichauch. Ich denke, dass der Bund allein nicht zu viel ent-scheiden kann, sondern dass die Länder das selbst ma-chen müssen. Ich halte nichts davon, wenn sich ein Bun-desland wie Baden-Württemberg am Schluss darüberbeschweren kann, dass der Bund irgendetwas gemachthat, das ihm nicht gefällt. Die Länder müssen selbst be-weisen, dass sie einen möglichst effizienten Netzausbauhinbekommen. Die Verantwortung würde dann bei je-dem einzelnen Bundesland liegen, unabhängig von derjeweiligen Zusammensetzung der Regierung.
Wir müssen es so hinbekommen, dass wir uns nichtum jedes einzelne Dorf kümmern müssen. Die Landesre-gierungen, die Bundesregierung und der Bundestag müs-sen den Mut haben, zu sagen: Wir verstehen, dass eseuch lieber wäre, wenn wir eine Umgehung von zehnKilometern für euch einrichten würden. Wenn aber jedesDorf in Deutschland eine Umgehung von zehn Kilome-tern fordert, dann wird es extrem teuer. Diese vielen klei-nen Einzelmaßnahmen würden am Schluss dazu führen,dass es nicht mehr finanzierbar ist. Dies der Bevölke-rung klarzumachen, erfordert vermutlich eine gewisseHärte. Dazu brauchen wir auch Ihre Unterstützung.
Ihr Antrag ist in Ordnung. Was mich allerdings ge-wundert hat, ist, dass Sie sich nur auf den Bereich desNetzausbaus konzentriert haben. Sie haben unerwähntgelassen, ob es neben dem Netzausbau noch auf andereDinge ankommt. Herr Pfeiffer hat kurz angesprochen,dass wir den Netzausbau an der einen oder anderenStelle vielleicht gar nicht in diesem Umfang brauchen.Denn wir haben eventuell die Möglichkeit, erneuerbareEnergien zu speichern, den Eigenverbrauch zu erhöhenund gar nicht so viele fluktuierende Energien in Netzeeinspeisen zu müssen. Auch das muss ein Ziel sein. Wirdürfen nicht immer nur daran denken, möglichst vieleNetze auszubauen. Wir müssen auch daran denken, mo-derne Technologien so einzusetzen, dass die Netze zubestimmten Zeiten vielleicht gar nicht mehr verstopftwerden. Darüber machen wir uns im Moment Gedanken.Wir möchten Anreize dafür schaffen, nicht mehr so vielin die Netze zu pumpen. Nicht nur die Erzeugung, son-dern auch der Verbrauch sollte dezentral vor Ort stattfin-den. Auf diese Weise muss nicht alles quer durch die Re-publik geschickt werden.
Herr Brüderle und Herr Röttgen als Wirtschafts- bzw.Umweltminister haben Anfang April mit dem Sechs-punkteplan schon ein sehr gutes Papier vorgelegt. Vieleder darin enthaltenen Punkte sollten Sie eigentlich unter-stützen. Es hat mir ein bisschen Ihre Begeisterung da-rüber gefehlt, dass für Beteiligungsmöglichkeiten, fürPlanungsbeschleunigung und für Mediationsverfahrenfür die Menschen gesorgt wird.
Das ist eine echte Leistung.Sie müssen einmal mit den Netzbetreibern reden.Man könnte natürlich sagen: Das sind alles böse Atom-lobbyisten. Man könnte aber auch sagen, dass es viel-leicht vernünftig wäre, in einen Dialog mit den Netzbe-treibern einzutreten. Man könnte sie dazu bewegen, denVorgang zu beschleunigen. Denn sie haben das Gefühl,dass hier viel passiert. Sie sind in einer positiven Grund-stimmung und sagen: Jetzt ist nach vielen Jahren, in de-nen leider nicht so viel passiert ist, endlich einmal einbisschen Dynamik in diesem Bereich entstanden. Ichmeine daher, dass Sie uns unterstützen könnten. Sie soll-ten nicht immer nur klagen, wie schlimm es vorher war.Auch durch Ihre Reihen sollte ein Ruck gehen. Vonsei-ten des Wirtschaftsministeriums wird, was NABEG undandere Fragen angeht, viel getan. Das verdient Respekt,gerade auch den der Opposition.
Auf dem Bundesparteitag der FDP in Rostock wirdauch ein Leitantrag zum Thema Energie diskutiert. Na-türlich wird ein großer Bereich davon die Netze betref-fen. Der von mir angesprochene Punkt, den Netzausbaunicht extrem beschleunigt voranzubringen, sondern da-neben auch den Einsatz von Stromspeichern attraktiverzu machen, kommt darin auch vor. Daher werden wiruns für die Schaffung von Anreizen für marktgerechtesVerhalten der EEG-Anlagenbetreiber einsetzen. HerrBecker, die Frage wird lauten, wie sich die Oppositionverhalten wird, wenn man versucht, über das EEG dahingehend zu fördern. Es gibt Überlegungen hinsichtlichzusätzlicher Anreizprogramme zur Schaffung von Spei-cherkapazitäten. Es gibt verschiedene Vorschläge von-seiten der Industrie. Ich glaube, das wird der Bereichsein, in dem etwas zu machen ist. Wir dürfen uns nichtnur auf die Netze und deren Ausbau konzentrieren, son-dern müssen über den Tellerrand hinausblicken.Gleichzeitig werden die Netze auf alle Fälle ausge-baut werden. Für die Bevölkerung werden sich Nachteileergeben. Das wird zu Widerstand in der Bevölkerungführen. Für diesen Bereich hat Herr Trittin bereits IhreUnterstützung zugesagt. Aber auch für den BereichPumpspeicherkraftwerke werden wir sicherlich mehrUnterstützung von Ihrer Seite benötigen. Wir werdenauch in anderen Bereichen überlegen müssen, ob esnicht sinnvoller wäre, dort zusätzliche Netze zu bauen,auch wenn man sich dadurch Probleme mit dem Natur-schutz einhandelt.Die dezentrale Erzeugung allein wird nicht ausrei-chen. Wir werden die Offshoreversorgung brauchen.
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Horst Meierhofer
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Auch dort wird es Probleme mit dem Naturschutz ge-ben, denn es werden riesige Leitungen gebaut. Ich bingespannt, ob es uns gelingt, vielleicht beim Thema Me-thanisierung endlich den Konsens hinzubekommen, denSie eingefordert haben. Es ist mir wichtig, aufzuzeigen– vielleicht können Sie später darauf eingehen, FrauHöhn –, dass vonseiten des Wirtschaftsministeriums, desUmweltministeriums und von der Koalition schon sehrviele Vorleistungen erbracht wurden. Ich hoffe, dass wireinen konstruktiven Dialog führen werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Ohne den maximalen Ausbau der Strom-netze ist die Umstellung der Stromerzeugung auf erneu-erbare Energien nicht machbar. So tönt es aus fast allenpolitischen Lagern. Sie behaupten: Wer gegen eineStromleitung ist, verhindert den Umstieg auf erneuerbareEnergien und den Ausstieg aus der Atomkraft. – Ist dasso? Wer profitiert eigentlich vom Netzausbau, und werbezahlt diesen?Am Bau neuer Stromleitungen verdienen Planungs-büros und Baufirmen. Die Netzbetreiber erhalten für ihreingesetztes Kapital eine garantierte Verzinsung von9 Prozent. Das bedeutet: Wenn man mehr Kapital ein-setzt und das Netz größer ist, dann gibt es mehr Zinsen.Wo erhält man sonst noch 9 Prozent Zinsen ohne Ri-siko?Auch die Betreiber neu zu bauender Kraftwerke pro-fitieren. Sie bauen das Kraftwerk am Ort mit den nied-rigsten Stromherstellungskosten. Entstehende Mehrkos-ten durch den Neubau von Stromtrassen und die Kostenvon Leitungsverlusten interessieren sie nicht. Diese Kos-ten gehören zum Netzbetrieb. Bezahlen müssen denNetzbetrieb und den Netzausbau Firmen, Handwerkerund Familien, also der ganz normale Stromkunde.
Ein gigantischer Netzausbau belastet Firmen, mindertdie Kaufkraft und kostet damit Arbeitsplätze. Deshalbfordert die Linke, dass der Ausbau der Stromnetze effi-zient erfolgt und nicht der Profiterzielung, sondern nurder Deckung des notwendigen Bedarfs dient.
Der reine Bau von Stromtrassen dauert etwa ein Jahr.Laut Professor Hohmeyer, Mitglied im Sachverständi-genrat der Bundesregierung für Umweltfragen, ist derAtomausstieg ohne zusätzliche Stromleitungen möglich.Das heißt, wir haben die Zeit, das Stromnetz ohne hekti-schen Aktionismus an die Zukunft mit erneuerbarenEnergien anzupassen.Nachdenken spart Kosten. Dafür ein Beispiel: Gas-kraftwerke werden zumindest für die nächsten Jahr-zehnte benötigt. Die neue Erdgastrasse durch die Ostseeerreicht beim ehemaligen AKW Nord in Greifswald dieBundesrepublik und führt weiter nach Süden. Jetzt wer-den in Greifswald neue Gaskraftwerke gebaut, die dievorhandenen Stromtrassen nutzen. Für die geplantenWindparks in der Ostsee sind dann zusätzliche Strom-trassen im Gespräch. Würde man aber die Gaskraft-werke im Süden bauen, wo es den Strombedarf gibt,könnte man die Windparks an die vorhandenen Leitun-gen anschließen und den Leitungsneubau einsparen.
Ein anderes Beispiel: In meiner Heimat Thüringenhalten der Netzbetreiber 50 Hertz und die Landesregie-rung stur am Bau einer 380-kV-Leitung über den Thürin-ger Wald fest. Diese Entscheidungen wurden gegen denWillen der Bevölkerung und mit mangelhafter Transpa-renz getroffen. Der Bedarf wurde nicht nachgewiesen.Dagegen wehren sich Bürgerinitiativen. Obwohl die Ini-tiativen durch ein Gutachten belegen konnten, dass dieOptimierung bestehender Stromleitungen ausreichenund nur 25 Prozent der Kosten eines Neubaus ausma-chen würde, werden diese Tatsachen von Ihnen ignoriert.Diesen überflüssigen Netzausbau lehnt die Linke striktab. Darum unterstützen wir die Bürgerinitiativen.
Die Netzoptimierung darf nicht zu einer Profitquellewerden. Firmen und Bürgerinnen und Bürger sind keineMelkkühe der Konzerne. Deshalb müssen die Strom-netze Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und derGesellschaft gehören. Die Linke sagt: Hochspannungs-netze sind zu verstaatlichen, und Verteilungsnetze sindzu kommunalisieren.
Stromerzeuger müssen an den Kosten des Stromnetzesbeteiligt werden. Damit entsteht ein Anreiz zu dezentra-ler Stromerzeugung.
Stromerzeugung vor Ort spart Stromleitungen, schafftArbeitsplätze und schwächt die Dominanz der KonzerneEon, RWE, EnBW und Vattenfall.Die Bürgerinnen und Bürger müssen bei den Planun-gen von Stromleitungen von Anfang an einbezogen wer-den und mitreden können, wenn diese durch ihre Regionverlaufen. Die Bundesnetzagentur muss im Energiebe-reich für die Planung und den Bau der Hochspannungs-netze zuständig sein. Die Kontrolle der Energiewirt-schaft hat durch eine staatliche Behörde und durchunabhängige Beiräte zu erfolgen. Der Netzausbau ist einTeil der Umgestaltung der Energiewirtschaft. Auch inanderen Bereichen wie Wind-, Solar- und Bioenergiedrohen im Speicherbereich Profitmaximierungen zulas-
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Ralph Lenkert
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ten der Verbraucher. Deshalb fordert die Linke einestaatliche Strompreisaufsicht.
Damit verhindern wir, dass die Profite der Strombrancheund die Strompreise explodieren, und wir erhalten dieAkzeptanz für Strom aus erneuerbaren Energien. Ohnegesellschaftliche Regulierung und gesellschaftliches Ei-gentum geht es bei der Stromversorgung nicht. Dasmeint die Linke.
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch in dieser Debatte hat das Wort „Konsens“eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Ich möchtevorweg ganz deutlich sagen, dass ich der Überzeugungbin, dass wir in der ganzen energiepolitischen Debattebisher noch keinen Konsens hatten. Es gab zwar imJahr 2000 einen Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün oderGrün-Rot, wie man das auch immer nennen mag, aber esgab keinen Konsens darüber, in was wir einsteigen wol-len. Sie waren zwar gegen die Kernenergie, aber Sie wa-ren auch
gegen all die anderen Dinge, die wir dringend brauchen,um den Umstieg überhaupt hinzubekommen.
Das ist doch das Problem, mit dem wir zu tun hatten.
– Natürlich stimmt das. Sie waren gegen das größte Spei-chermedium, das wir in Deutschland haben, gegen dasSchluchsee-Projekt im Schwarzwald. Sie waren gegen sogut wie alle Hochspannungsleitungen. Bei Demonstratio-nen in ganz Deutschland haben Sie an vorderster Frontmitgemacht. Sie sind gegen die Kohlekraftwerksprojekte,obwohl wir diese Kraftwerke brauchen, um den Umstiegrichtig hinzubekommen und eine effiziente Energiever-sorgung sicherzustellen.
Sie sind gegen das Biomasse-Dampf-Heizkraftwerk inKehl. Diese Liste könnte man unendlich fortführen. Siewaren in den letzten Jahren immer nur dagegen.
Jetzt kommt die große Chance. Jetzt werden wir Siebei den Themen stellen. Jetzt haben wir die Chance, ge-meinsam den Einstieg in eine stärkere Nutzung der er-neuerbaren Energien in den nächsten Jahren zu gestalten.
Wir werden Sie beim Wort nehmen, liebe Frau Höhn.Die Herausforderungen sind immens. Wir wollen in dennächsten Jahren circa 25 Prozent unserer Stromerzeu-gung, des Stroms aus Kernenergie, 50 Prozent dergrundlastfähigen Stromerzeugung Stück für Stück nichtnur durch fossile, sondern vor allem durch erneuerbareEnergien ersetzen. Wir wollen, dass bis 2020 35 Prozentunseres Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnenwird.
Das ist eine enorme Herausforderung, die Sie damals, alsIhre Fraktion in der Regierungsverantwortung war, HerrFell, nicht so definiert haben. Sie haben die Ziele damalswesentlich niedriger gesetzt als wir heute.Um diesen Umstieg hinzubekommen, brauchen wirvieles. Wir brauchen sowohl Offshore- als auch On-shoreanlagen. Wir brauchen Speicher, und wir brauchenNetze. Wir brauchen Biomasse. Wir brauchen Flächen,die für die Energiewirtschaft zur Verfügung gestellt wer-den. Wir brauchen die Kleinen, und wir brauchen dieGroßen. Wir brauchen die kommunalen und die großenEnergieversorger. Wir brauchen alles, um diesen Um-stieg hinzubekommen. Dazu müssen wir jetzt Vor-schläge und Konzepte vorlegen.Deshalb habe ich mir den Antrag, den die Grünenheute vorgestellt haben, genau durchgelesen. Liebe FrauNestle, Sie haben den Antrag vorgestellt. Ich muss schonsagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, ist, mit Verlaub,eine dünne Suppe.
Das bin ich von Ihnen normalerweise nicht gewohnt. Ichmöchte ein paar Punkte herausnehmen: Die Antragsbe-gründung ist fachlich falsch. Sie schreiben beispiels-weise, dass wir das Problem haben, dass die den Atom-konzernen nahestehenden Netzbetreiber den Ausbau dererneuerbaren Energien behindern. Weder ist es so, dassdie Netzbetreiber den Atomkonzernen nahestehen – seit2005 sind die gar nicht mehr zusammen; das haben Sieübrigens mit beschlossen –, noch können die Atomkon-zerne ihren Strom bevorzugt einspeisen und die Produ-zenten von Strom aus erneuerbaren Energien dadurch
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Thomas Bareiß
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behindern. Sie können gar nicht behindert werden. ImGegenteil: Sie müssen, wenn es möglich ist, bevorzugtaufgenommen werden. Sie schreiben weiter, Erdkabelkönnten „problemlos und schnell gebaut werden – zu ge-ringen oder ohne Mehrkosten“.
Auch das ist vollkommen falsch, Frau Nestle; das wissenauch Sie. Wir kommen mit den Erdverkabelungsprojek-ten, die im EnLAG vorgesehen sind, nicht voran. Selbstein Erdkabel im 110-kV-Bereich kostet das Vier-, Sechs-oder Achtfache eines ganz normalen oberirdischen Ka-bels.
– Natürlich stimmt das.Ein weiterer Punkt – das hat mich noch mehr über-rascht – ist, dass Sie immer noch im Bremserhäuschensitzen, in Ihrer Ideologie verhaftet sind
und sagen: Die Menschen wenden sich zu Recht „gegenStromtrassen, die das Landschaftsbild zerschneiden undumweltschädlichen Atom- und Kohlestrom transportie-ren“. Wenn Sie immer noch dieser alten Denke folgenund sagen, dass Sie gegen die Stromtrassen sind, solangesie Atom- und Kohlestrom transportieren, dann kommenwir vor Ort keinen Schritt weiter.
Sie müssen herunter von diesem Ross; denn das wird sonicht funktionieren. Sie halten sich ein Hintertürchen of-fen, indem Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass es falschist, den endgültigen Atomausstieg vom Ausbau derNetze abhängig zu machen. Das heißt: Ausstieg ja, aberEinstieg nein. Sie sind also immer noch dort, wo Sie vorzehn Jahren waren.
Das ist genau der falsche Ansatz.
Jetzt diskutieren wir über den Einstieg. Ein Thema– das haben meine Vorredner entsprechend dargelegt –ist der Flaschenhals für die verstärkte Nutzung der Er-neuerbaren: Nur wenn wir die Netze ausbauen, werdenwir die Erneuerbaren voranbringen können. Darauf müs-sen wir unser Hauptaugenmerk legen. Die Erneuerbarensind leider zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Zeitkönnen wir nicht überbrücken, da wir keine entsprechen-den Speicherformen zur Verfügung haben; daran müssenwir sowohl im chemischen als auch im physischen Be-reich arbeiten. Das tun wir, aber da müssen wir nochmehr tun als heute; das wollen wir auch.Wir müssen vor allen Dingen die örtliche Distanzüberbrücken. Bisher beträgt die Distanz zwischen Erzeu-gung und Nutzung etwa 40 Kilometer. In den nächstenJahren wird diese Distanz auf im Schnitt 300 Kilometeraufwachsen. Dazu brauchen wir – das wurde schon an-gesprochen – 2 000, 3 000, 4 000, vielleicht auch nur1 500 Kilometer neue Leitungen. Wir brauchen dieseLeitungen, egal wie. Wenn wir weiterhin mit einer Ge-schwindigkeit von 20 Kilometern pro Jahr – so war es inden letzten fünf Jahren – vorangehen, werden wir auchin 30 Jahren nicht die Leitungen haben, die wir brau-chen. Selbst 1 500 Kilometer Leitungen – diese Zahl ha-ben Sie genannt – werden wir so nicht erreichen. Des-halb müssen wir beim Ausbau der Leitungen wesentlichschneller werden.Wir brauchen aber nicht nur die Ertüchtigung des be-stehenden Netzes, sondern auch Stromautobahnen, dievon Norden nach Süden, von Punkt zu Punkt, beispiels-weise über HGÜ, den Strom transportieren. Wenn wirden Strom – das wird sowohl den Offshore- als auch denOnshorewind betreffen –, nur im Norden einspeisen,werden wir netztechnisch im Norden ein großes Problembekommen; dies betrifft auch unsere Nachbarländer. Wirmüssen den Strom, der im Norden erzeugt wird – dortgibt es wesentlich bessere Bedingungen zur Stromerzeu-gung durch Wind –, direkt in den Süden schieben. Des-halb brauchen wir Stromautobahnen über längere Dis-tanzen, über 300, 400 Kilometer. Auch das wird einwichtiges Projekt werden. Nicht nur eine Stromautobahnwird dazu notwendig sein, sondern sicherlich vier oderfünf. In diesem Bereich gibt es schon Projekte, derenPlanungs- und Realisierungszeit aber bis zu 10, 15 Jahrebeträgt.Neben den großen Netzen brauchen wir auch kleineNetze, die Verteilnetze. Auch da stehen wir vor enormenHerausforderungen. Die Kommunen sagen: In dennächsten 10 bis 15 Jahren brauchen wir 25 MilliardenEuro, um das Verteilnetz zu ertüchtigen, vor allen Din-gen aufgrund der enormen neuen Kapazitäten im Be-reich der Photovoltaik. Das muss ebenfalls realisiertwerden. Dazu sage ich ernüchtert und mit dem An-spruch, dass die Kommunen hier stärker investierenmüssen: Wenn eine Kommune mit einer Einwohnerzahlvon 50 000 ein eigenes Netz hat, dann müsste sie imSchnitt in den nächsten 15 Jahren 15 Millionen Euro inihr Verteilnetz investieren. Das ist eine ganz grobe Rech-nung. Ich gestehe zu, dass sie sicherlich zu einfach ist,aber dadurch können die Größen dargestellt werden.Eine Kommune mit 50 000 Einwohnern müsste 15 Mil-lionen Euro allein in ihr Stromnetz investieren, wobeider Bürger vor Ort dadurch keine Verbesserung bemer-ken würde. Das ist eine enorme finanzielle Herausforde-rung. Dazu muss man zum Beispiel noch Themen wiedie Smart Grids betrachten.Ich komme zum nächsten Punkt. In Bezug auf dasNetz ist – auch das wurde schon angesprochen – dasThema Europa wichtig. Wir müssen schon sehen, dasswir bei diesem schnellen Atomausstieg – auch das sageich in aller Deutlichkeit – mit Blick auf Europa ein Stückweit egoistisch vorgehen. Wir als Deutschland mitten inEuropa müssen uns darauf verlassen können, dass dieanderen Länder um uns herum auch mitziehen. Wennwir nicht genügend Strom aus Sonne und Wind bekom-
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Thomas Bareiß
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men, sollten wir uns darauf verlassen können, dass unsdie Franzosen, die Tschechen und die Polen Strom lie-fern. In Zeiten, in denen wir zu viel Strom aus Wind undSonne haben, sollten wir hoffen können, dass die Öster-reicher, die Schweizer und vielleicht auch irgendwanneinmal die Skandinavier unseren Strom abnehmen undspeichern. Wie gesagt, das kann nur dann funktionieren,wenn alle an einem Strang ziehen. Wir brauchen dazuein europäisches Netz, das diesen Herausforderungenentsprechend gerecht wird.All diese Themen müssen immer unter dem Gesichts-punkt gesehen werden, dass wir auch in Zukunft eine si-chere, saubere, klimafreundliche und vor allen Dingenbezahlbare Energieversorgung haben müssen, und zwarnicht nur für die Industrie bzw. die Wirtschaft, über diewir sehr viel sprechen, sondern auch für den ganz nor-malen kleinen Mann, der diese ganze Veranstaltung auchbezahlen muss. In diesem Sinne haben wir vor, großeProjekte durchzuführen, und wir kämpfen da gemein-sam.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bareiß, wenn man Ihre Rede eben gehört hat, hatman den Eindruck, dass Sie den Gong noch nicht gehörthaben: Sie sind nicht diejenigen, die den gesellschaftli-chen Konsens hergestellt haben. – Wir haben hier vorzehn Jahren einen gesellschaftlichen Konsens zur Ener-giepolitik aufgestellt, und Sie haben ihn ohne Not imletzten Herbst gebrochen. Das ist die Situation.
Heute diskutieren wir darüber, diese Energiewende,die wir vor zehn Jahren eingeführt haben – und zwar rausaus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien –,jetzt fortzusetzen. Das ist der Weg dieser Energiewende.Das bedeutet in der Tat auch Ausbau und Modernisierungder Stromnetze. Das bedeutet neue Stromleitungen sowiebessere und intelligentere Netze. Dazu sagen wir: WirGrüne wollen diesen notwendigen Ausbau der Netze.Jetzt ist die Frage, wie. Dazu sagen wir: Man kannund muss diesen Ausbau bei Wahrung der Rechte derBürgerinnen und Bürger – und nicht bei Beschneidungder Rechte – erreichen. Wenn Sie die Rechte beschnei-den, treiben Sie die Bürger in die Klage. Dann wird dasVerfahren verlängert, statt verkürzt. Deshalb sagen wir:Das muss mit den Bürgern und nicht gegen sie gesche-hen.
Ich komme zum nächsten Punkt. Wir haben ganz un-terschiedliche Reden gehört, die ich auch interessantfand. Herr Pfeiffer, ich fand, dass es bei Ihnen interes-sante Ansätze gab. Auch bei Herrn Meierhofer fand ichinteressante Ansätze, bei Herrn Fuchs und Herrn Breilwar es die alte Soße. Wenn wir hier sachlich diskutierenwollen, müssen wir endlich mit zwei Legenden aufhö-ren.Die erste Legende – sie wurde auch eben wieder vonHerrn Fuchs und Herrn Breil gebracht – lautet: Schuldan dem ganzen Problem des fehlenden Netzausbaus sinddie Bürgerinitiativen und die Grünen. – Damit lenkenSie von den eigenen Problemen ab und zeigen, was dieFehler angeht, mit dem schwarzen Finger auf die ande-ren.
Dazu sagen wir: Die Fakten sprechen eine andere Spra-che.Beim Netzausbau gibt es nach Angaben der Bundes-netzagentur 24 vordringliche Trassenprojekte. Nach derneuesten Liste verzögern sich neun davon. Drei von die-sen neun Projekten verzögern sich wegen Bürgerprotes-ten. Wenn Sie die Verzögerungen aufheben wollen, müs-sen Sie außer auf die Bürgerproteste auch auf dieanderen Gründe für die Verzögerung schauen. Das istder Weg.
Sehen Sie sich einmal an, was zum Beispiel der Sach-verständigenrat sagt: Nicht allein Bürgerproteste, son-dern noch zwei weitere Gründe führen dazu, dass dieNetze nicht ausgebaut werden. Der erste Grund sindwirtschaftliche Hemmnisse für Investitionen. Das sehenwir auch. Auch darüber müssen wir nachdenken und esändern.Der zweite Grund – Herr Pfeiffer, noch am 4. Mai gabes von den Grünen eine Veranstaltung mit den Stadtwer-ken bzw. mit den Betreibern von Windkraftanlagen – ist,dass es bei den Netzbetreibern, die gleichzeitig auchStromkonzerne sind, noch immer Widerstände gibt.Diese sind noch nicht vollständig ausgeräumt. Auchhieran müssen wir arbeiten; denn die Netzbetreiber wol-len natürlich ihre Konkurrenten nicht ans Netz lassen.Sie haben indirekt eine Menge Eingriffsmöglichkeiten.Der dritte Punkt ist die fehlende Akzeptanz. Es isteine gemeinsame Aufgabe, diese Akzeptanz herzustel-len. Dazu wollen auch wir Grüne beitragen. Dazu sindwir bereit. Wir sagen: Die Planung muss transparentsein. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger ernst neh-men, und wir müssen sie frühzeitig einbinden.Das sind drei ganz wichtige Punkte, die man beachtenmuss, wenn man die Netze schneller ausbauen möchte.
Die zweite Legende, mit der Sie aufhören müssen, istdie Argumentation, der Netzausbau sei die Vorausset-zung für den Atomausstieg. Das ist eindeutig falsch.Herr Fuchs und Herr Breil haben vorhin wieder so argu-
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Bärbel Höhn
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mentiert. Der Grund dafür ist entweder Unkenntnis oderder Wunsch, den Atomausstieg auszubremsen. Dasscheint Ihr Motiv zu sein.Selbst die dena – wenn man die dena-Netzstudie liest,dann weiß man: wo „dena“ draufsteht, sind Eon undRWE drin –
hat in ihren Studien die glasklare Aussage getroffen,dass der Netzausbau nichts mit den Laufzeiten derAtomkraftwerke zu tun hat. Als Sie im letzten Jahr, alses um die Laufzeitverlängerung ging, bei der dena nach-gefragt haben, ob auch ein geringerer Ausbau der Netzemöglich ist, antwortete Ihnen die dena eindeutig Nein.Im Zehnpunkteprogramm von Angela Merkel, das Sieim Herbst letzten Jahres vorgelegt haben, waren vierPunkte enthalten, die den Netzausbau betreffen. Sie ver-längern die Laufzeiten, müssen sich aber um die Netzekümmern. Die Argumentation, dass man den Netzaus-bau braucht, um aus der Atomkraft aussteigen zukönnen, ist also eindeutig falsch. Sie sollten diese Argu-mente nicht ständig wiederholen; denn dadurch verunsi-chern Sie die Bevölkerung.
Es ist unverfroren, wenn die CSU genau diese Argu-mente wiederholt. Sie sagen: Wir wollen erst einmalüberprüfen, ob der Netzausbau wirklich funktioniert.Dann werden wir überprüfen, ob wir die Laufzeiten derAtomkraftwerke verlängern. – Ich muss Ihnen sagen:Das ist unverfroren und ein starkes Stück. Denken Sienur an die Ereignisse in Fukushima. Dort kämpft mannoch heute gegen die furchtbaren Folgen des GAU an.Hier in Deutschland tagt derzeit eine Ethikkommission,und die Kanzlerin diskutiert mit der Opposition über denAtomausstieg. Vor diesem Hintergrund will uns die CSUweismachen, wir brauchten eine Revisionsklausel. MitIhrer Argumentation nach dem Motto „Wir steigen ersteinmal aus der Atomkraft aus; dann überprüfen wir al-les“ schaffen Sie in der Bevölkerung keine Akzeptanz.Dabei werden wir nicht mitmachen.
Ich komme zum Schluss. Wir sagen: Lassen Sie dieTricksereien. Lassen Sie uns sachlich diskutieren.„Sachlich“ heißt, gemeinsam die Weichen zu stellen: fürdie Fortsetzung der Energiewende, für einen schnellenAtomausstieg und für eine Modernisierung der Netze.Die Ideen sind vorhanden. Lassen Sie uns gemeinsamvorgehen, statt Legenden über die Argumente der ande-ren zu spinnen. Das ist nicht die Politik, die Sie machensollten. Vielmehr geht es darum, eine Lösung der Ener-giefrage zu finden, statt sich gegenseitig ideologisch an-zumachen. Wir sollten eine sachliche Diskussion führen.Danke.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letztenJahr war es das Wort „alternativlos“, das unsere Debat-ten bestimmt hat.
In diesem Jahr scheint es das Wort „Akzeptanz“ zu sein.Wir diskutieren, wenn es um das Thema Kernenergiegeht, aus guten Gründen über Akzeptanz. Wir diskutie-ren am heutigen Tage auch über Akzeptanz, wenn es umandere Themen geht: um CCS, um Standorte von Wind-kraftanlagen, um Pumpspeicher und um Netze. AmSchluss werden wir irgendetwas akzeptieren müssen.Man muss in aller Klarheit sagen: Es kann doch nichtsein, dass wir so tun, als könne man in diesem Land ge-gen alles sein.Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben gesagt, dass Siemit Legenden aufhören wollen.
Ich bitte Sie, bei dieser Gelegenheit nicht gleich neueLegenden zu bilden. Sie haben nämlich gerade so getan,als sei die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraft-werke, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, daraufausgerichtet gewesen, die Kernenergie ad ultimum, alsoewig, zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr allerdings et-was anderes beschlossen. Wir haben die Energiewendefortgeschrieben und sie an die Realität angepasst. Wirhaben gesagt: Wir wollen den Ausstieg aus der Kern-energie – ganz klar –, aber für den Umstieg auf erneuer-bare Energien brauchen wir Zeit und Geld.
Jetzt sind wir in einer anderen, schwierigeren Situa-tion. Denn egal, wie man das Ganze sieht: Wir werdenjetzt Zeit und Geld brauchen, und zwar nicht für denAusstieg,
sondern für den Umstieg auf erneuerbare Energien. DieKernenergie wird uns diese Zeit nicht mehr verschaffen,und sie wird auch weder über den Fonds noch über dieBrennelementesteuer das benötigte Geld einbringen. In-sofern sind wir in einer schwierigen Situation. Deshalb
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Dr. Georg Nüßlein
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ist es geraten, einen breiten energiepolitischen Konsenszu suchen.Man erreicht den Konsens aber nicht dadurch, dassman die Bundesregierung als Marionette der großenStromkonzerne und Verweigerer beim Netzausbau diffa-miert, wie es in dem von Ihnen vorgelegten Antrag zu le-sen ist.
– Herr Hempelmann, Sie lachen darüber. Sie haben of-fenbar nicht im Detail gelesen, was die Kollegen vonden Grünen geschrieben haben. Sie haben nämlich ge-schrieben, dass die Bundesregierung seit Jahren denNetzausbau verweigert. Damit kann nicht der amtie-rende Bundesumweltminister oder der Wirtschaftsminis-ter gemeint sein; vielmehr ist mit hoher Wahrscheinlich-keit insbesondere Herr Gabriel gemeint. Insofern ärgertes mich, dass ich jetzt die Empörung der SPD herbeire-den muss. Ich habe gedacht, sie kommt von selbst. DennSie müssten sich doch darüber aufregen, dass die Grünenwieder einmal versuchen, es sich in der Opposition ganzleicht zu machen.
– Aber wer ist sonst mit „seit Jahren“ gemeint?Wenn man über das Thema Verweigerung spricht,dann kann man nicht so tun, als könnte man die Bürger-initiativen, die man selber unterstützt – ich denke an dieIG „Vorsicht Hochspannung“ in Oldenburg und Diep-holz, die von den Grünen unterstützt wird –, einfach bei-seitewischen.
– Lieber Herr Kollege, gleich folgt die Vereidigung desMinisters. Bei dem Kommen und Gehen ist es ohnehinschwierig, zu reden, weil einem nicht die nötige Auf-merksamkeit zuteilwird. Ich bitte um Verständnis. Nor-malerweise bin ich sehr offensiv, was das Thema angeht,aber nicht jetzt.Ich schlage Ihnen stattdessen vor – das ist eine Auf-forderung à la Trittin –: Sie sollten als Grüne in keinerForm, weder sitzend, stehend, singend noch tanzend, ge-gen diese Leitungen demonstrieren. Das wäre ein Signalaus der grünen Ecke.
Wir alle wissen – zumindest das kann ich als Konsensbezeichnen –, dass der Netzausbau ein Nadelöhr beimAufbau der Versorgung durch erneuerbare Energien dar-stellt. Ich sage noch einmal deutlich: Ich will dem Er-neuerbare-Energien-Gesetz nichts absprechen; wir ha-ben es damit geschafft, Kapazitäten aufzubauen. BeimStrom geht es aber um etwas anderes, nämlich um dieVersorgung. Dabei liegen wir noch recht weit zurück.Dafür müssen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetznoch einmal novellieren, gerne auch im Konsens, undMarktnähe schaffen. Wir müssen die Netze ausbauenund Speicher zur Verfügung stellen. Das hat man ebennicht von Anfang an ins Visier genommen. Das schlägtuns gegenwärtig zeitlich ins Kontor. Auch das darf mandeutlich sagen.Die Kapazitäten, die dadurch entstehen, sind zu be-grüßen. Aber die fluktuierende Einspeisung ist ein Pro-blem, das man nur durch intelligente Lösungen in denGriff bekommt. Die Netze sind ein Teil des Ganzen.Wir haben in Deutschland 36 000 Kilometer Hoch-spannungsleitungen. Das ist offenkundig zu wenig. Wirkönnen gerne eine akademische Debatte darüber führen,ob wir 1 500, 3 600 oder 4 500 Kilometer zusätzlichbrauchen. Aber wenn wir im Durchschnitt 20 Kilometerim Jahr bauen, dann brauchen wir für die 1 500 Kilo-meter – ich lege explizit Ihre Zahl zugrunde – 75 Jahre.Das kann doch nicht das Ziel sein.Ich bin davon überzeugt, dass wir alle miteinanderüber unseren Schatten springen müssen. Dabei geht esum Naturschutzregelungen, Planungsrecht und selbst-verständlich auch um den Föderalismus. Sie wissen, dassich als bayerischer Abgeordneter gerne die Fahne desFöderalismus hochhalte, damit sich andere Bundeslän-der unsere bayerischen Erfolge zum Vorbild nehmenkönnen. Aber in dieser Sache wird sich der eine oder an-dere Ministerpräsident nicht nur von uns, sondern auchvon Ihnen bewegen müssen. Wir brauchen eine bundes-einheitliche Regelung, da die Stromleitungen die Gren-zen der Bundesländer überschreiten. Es geht darum,einheitliche Genehmigungsverfahren zu finden, die Ver-fahren zu beschleunigen sowie Bürokratie und Blocka-den abzubauen. An dieser Stelle ist eine Bundesfachpla-nung notwendig. Ich appelliere leidenschaftlich für einekraftvolle Unterstützung im Bundesrat. Ich bin gespannt,welche Ausreden wir zu hören bekommen, wenn es zumSchwur kommt.
Beim Thema neue Speicher hat uns der KollegePfeiffer sehr eindrucksvoll vorgerechnet, wie weit wirhier zurückliegen. Auch da bedarf es zusätzlicher An-strengungen. Wir werden diesbezüglich erste Ansätze imRahmen des EEG finden müssen. Noch einmal ganzdeutlich: Wenn uns das nicht gelingt, was wir uns vor-stellen, dann sind wir in einer ernsten Bredouille. Wirwerden die Kohlekraftwerke in diesem Land länger lau-fen lassen und zusätzliche Gaskraftwerke bauen müssen,um die fluktuierende Einspeisung auszugleichen. Dabeiist die Akzeptanz der Bevölkerung wichtig. Ich bitte Sieherzlich, hier nicht nur Schaufensteranträge zu formulie-ren und Schaufensterreden zu halten, sondern uns, wennes darauf ankommt, in geeigneter Art und Weise zu un-terstützen.Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5762 an die in der Tagesordnung aufge-
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Eidesleistung des Bundesministers fürGesundheitDer Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass erheute gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für dieBundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der FrauBundeskanzlerin den Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie, Herrn Rainer Brüderle, und den Bundes-minister für Gesundheit, Herrn Dr. Philipp Rösler, ausihren Ämtern als Bundesminister entlassen und HerrnDr. Philipp Rösler zum Bundesminister für Wirtschaftund Technologie und Herrn Daniel Bahr zum Bundes-minister für Gesundheit ernannt hat.Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet einBundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56vorgesehenen Eid.Ich darf Sie, Herr Bahr, zur Eidesleistung zu mir bit-ten.
Ich darf Sie, Herr Bundesminister, bitten, den imGrundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Minister, herzlichen Glückwunsch und alles
Gute für die übernommene Aufgabe.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Da ich die Glückwünsche nicht nur persönlich, son-dern im Namen des ganzen Hauses übermittelt habe, istes nicht zwingend erforderlich, dass nun jedes Mitglieddieses Hauses jeweils noch einmal einzeln seine Glück-wünsche überbringt.
Ich rege deshalb an, dass nach Aufruf des nächsten Ta-gesordnungspunktes der neue Minister am Rande oderaußerhalb des Plenarsaals zur Entgegennahme weitererpersönlicher Glückwünsche zur Verfügung steht.Ich möchte im Übrigen bei dieser Gelegenheit gernauch dem ausgeschiedenen Bundesminister RainerBrüderle im Namen des Hauses für seine Tätigkeit in derBundesregierung danken.
Für die neue Aufgabe habe ich ihm heute Morgen schonalles Gute gewünscht, nicht aber seinem Nachfolger indiesem Amte, nämlich dem Amt des Bundesministersfür Wirtschaft und Technologie. Herr Minister Rösler,auch Ihnen alle guten Wünsche des ganzen Hauses fürdie übernommene neue Aufgabe!
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 fsowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Infektionsschutzgesetzes und weite-rer Gesetze– Drucksache 17/5708 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzeszur Änderung des Bundes-Immissionsschutz-gesetzes – Privilegierung des von Kindertages-einrichtungen und Kinderspielplätzen ausge-henden Kinderlärms– Drucksache 17/5709 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vor-schlag der Europäischen Kommission vom14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Ra-tes zur Festlegung eines Standpunkts der Unionim Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehema-lige jugoslawische Republik Mazedonien imHinblick auf die Beteiligung der ehemaligenjugoslawischen Republik Mazedonien im Rah-men von Artikel 4 und 5 der Verordnung
Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an denArbeiten der Agentur der Europäischen Unionfür Grundrechte und die entsprechenden Mo-dalitäten einschließlich Bestimmungen überdie Mitwirkung an den von der Agentur einge-leiteten Initiativen, über finanzielle Beiträgeund Personal– Drucksache 17/5710 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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d) Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterGloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDFür eine wirkungsvolle interparlamentarischeBegleitung der Europäischen Außen- und Si-cherheitspolitik im Geiste des Vertrages vonLissabon– Drucksache 17/5389 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unione) Beratung des Antrags der Abgeordneten AntonSchaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vorRentenminderungen schützen – GesetzlicheRegelung im SGB VI verankern– Drucksache 17/5516 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussf) Beratung der Unterrichtung durch die deutscheDelegation in der Parlamentarischen Versamm-lung der OSZE19. Jahrestagung der Parlamentarischen Ver-sammlung der OSZE vom 6. bis 10. Juli 2010in Oslo, Norwegen– Drucksache 17/4453 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenéRöspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDKampf gegen wissenschaftliches Fehlver-halten aufnehmen – Verantwortung des Bun-des für den Ruf des ForschungsstandortesDeutschland wahrnehmen– Drucksache 17/5758 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKerstin Müller , Marieluise Beck (Bre-men), Volker Beck , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKriterien und Anforderungen für eine par-lamentarische Beteiligung an der Gemein-samen Außen- und Sicherheitspolitik derEU– Drucksache 17/5771 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHier handelt es sich um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall, dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf.Hier geht es um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 30 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. De-zember 2009 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Islamischen RepublikPakistan über die Förderung und den gegen-seitigen Schutz von Kapitalanlagen– Drucksache 17/5264 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/5564 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus BarthelDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5564, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/5264 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derGesetzentwurf mit der großen Mehrheit des Hauses ge-gen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 30 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung gewerberechtlicher Vorschrif-ten– Drucksache 17/5312 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/5795 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Berichterstattung:Abgeordnete Christine ScheelDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5795, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/5312 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-setzentwurf mit der Mehrheit der Koalition angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung telekommunikationsrechtlicher Regelun-gen– Drucksache 17/5707 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch hierzuhöre ich keinen Widerspruch, sodass wir offensichtlichso verfahren können.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demrechtzeitig eingetroffenen Staatssekretär Hans-JoachimOtto.H
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Die Liberalisierung des Telekommunikations-marktes ist ein beispielgebendes Erfolgsmodell. Im Mo-nopolzeitalter zuvor waren noch überteuerte Tarife undrückständige Technik die prägenden Bilder. Mit nur ei-nem, zudem staatlich beherrschten Diensteanbieter wäredie Erfolgsgeschichte der Digitalisierung und des Inter-net jedenfalls nicht so rasch denkbar gewesen. Erst dieÖffnung des Marktes und der Wettbewerb brachten Dy-namik, Innovationsschübe und Hunderttausende neueArbeitsplätze.Die Preise für Telekommunikationsleistungen sindseit der Liberalisierung bei rasant steigender Qualität umrund 90 Prozent gesenkt worden. Wo sonst kann man dasschon beobachten?Das Ziel von Gesetzgebung muss nun sein, diesen Er-folgspfad sogar noch auszubauen. Der technologische Fort-schritt erfordert immer größere Bandbreiten. Gleichzeitigbenötigen wir aber auch – das betone ich ganz klar – ei-nen flächendeckenden Zugang zum Breitbandnetz.Beide Ziele erreichen wir durch eine weitere Stärkungdes Wettbewerbs, durch die Setzung von Innovationsan-reizen und durch verbesserte Kooperationsmöglichkei-ten.Dies, meine Damen und Herren, sind die Kernpunktedes heute hier zu beratenden Gesetzentwurfs. Die TKG-Novelle beschleunigt die Umsetzung unserer Breitband-strategie. Die letzten weißen Flecken werden durchKombination aller verfügbaren Technologien geschlos-sen und noch in diesem Jahr mit mindestens 1 Megabitpro Stunde versorgt. Glasfaser, DSL, TV-Kabel, Funk-und Satellitentechnik greifen ineinander und ergänzensich. So sind in den vergangenen Monaten gut40 000 Haushalte zusätzlich angeschlossen worden – proMonat, wohlgemerkt.Zusätzlich flankieren wir die Schließung der weißenFlecken mit unserem Best-Practice-Breitbandwettbe-werb für Kommunen und mit dem Breitbandbüro desBundes. Der Rollout des LTE-Netzes hat begonnen.Durch die Versteigerungsauflagen gehen unterversorgteGebiete beim Ausbau vor.Auch das weitere Ziel, bis zum Jahr 2014 75 Prozentaller Haushalte mit mindestens 50 Megabit pro Stundezu versorgen, ist damit überaus realistisch und übrigensin einzelnen Bundesländern jetzt schon erreicht worden.Die Vollversorgung mit Hochleistungsnetzen ist dannnur noch ein kleiner Schritt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wettbewerb,gestützt durch eine unabhängige und professionelle Re-gulierungsbehörde, hat die bisherigen Erfolge ermög-licht. Jedes etwaige Abwürgen des Wettbewerbs würdeden Breitbandausbau bremsen und Arbeitsplätze und In-novationskraft kosten.Wer wohlfeil nach Universaldiensten oder gar einerVerstaatlichung ruft, kann Unternehmen und Kommunenauch gleich direkt auffordern, gar nichts mehr zu tun undgar nichts mehr zu investieren. Zu Recht, meine Damenund Herren, gibt daher auch die EU einen Wettbewerbs-kurs vor. Sie wird jeden Eingriff in diesen und auch indie Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur ahnden.Ich erinnere alle Kolleginnen und Kollegen in diesemZusammenhang an die Aufhebung des rechtswidrigen§ 9 a TKG. Das sollte uns dauerhaft eine Mahnung sein.Unser Gesetz wird die Möglichkeiten zur Nutzung be-stehender Infrastrukturen und zu Kooperationen verbes-sern. Die damit verbundenen Synergien und der clevereTechnologiemix sind der Weg zum flächendeckendenAusbau, den wir alle wollen. Wir erhöhen Planungssi-cherheit für Unternehmen und führen investitionsfreund-liche Regulierungsgrundsätze ein. Die erheblichen Ver-besserungen im Bereich des Verbraucherschutzes stärkenVertrauen und Rechtssicherheit, und auch das ist ganzwichtig.
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12330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto
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Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf er-wartungsgemäß konstruktive Beratungen in den zustän-digen Ausschüssen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Martin
Dörmann für die SPD-Fraktion. – Die maßvolle Verblüf-
fung lässt sich mühelos erklären. Üblicherweise folgt
einem Vertreter der Regierung ein Vertreter der Opposi-
tion. Bei aller Bedeutung des Telekommunikationsgeset-
zes: Es ist nicht so außerordentlich, dass wir von dieser
bewährten parlamentarischen Praxis abweichen müss-
ten.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Ich möchte zunächst im Namen der SPD-Bundes-tagsfraktion die Gelegenheit nutzen, den beiden ernann-ten Ministern sehr herzlich zu ihrem neuen Amt zugratulieren. Ich hoffe im Interesse unseres Landes, dasssie eine gute Hand bei der Erfüllung ihrer jeweiligenAufgaben walten lassen. Speziell für den Wirtschafts-ausschuss darf ich hinzufügen, dass wir uns bei HerrnBrüderle für die konstruktive Zusammenarbeit sehr herz-lich bedanken. Wir gehen davon aus, dass auch mit sei-nem Nachfolger eine solche Zusammenarbeit gepflegtwird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserer Informa-tionsgesellschaft nimmt die Bedeutung der Telekommu-nikation und insbesondere des Internets täglich zu. Da-rauf muss die Politik konsequent reagieren. Die aktuellenHerausforderungen liegen auf der Hand:Erstens. Wir benötigen mehr Verbraucherschutz, etwavor Kostenfallen, unseriösen Anbietern oder ärgerlichenWarteschleifen.Zweitens. Wir brauchen eine gesetzliche Absicherungder Netzneutralität. Die Innovationskraft des Internetsmuss erhalten bleiben. Diskriminierungen müssen vonvornherein verhindert werden.Drittens. Wir brauchen vor allem eine flächende-ckende Versorgung mit schnellem Internet. Es darf nichtsein, dass viele Menschen in ländlichen Regionen vonder Teilhabe am technologischen Fortschritt abgehängtwerden.Die anstehende Novellierung des Telekommunika-tionsgesetzes ist eine hervorragende Gelegenheit, in alldiesen Fragen einen entscheidenden Schritt voranzu-kommen. Sie ist notwendig geworden, weil es einenneuen EU-Rechtsrahmen gibt, der von den Mitgliedstaa-ten national umzusetzen ist. Viele Vorgaben der EU zie-len in die richtige Richtung und werden von uns deshalbausdrücklich begrüßt. Ich nenne als Beispiel die Verbes-serungen beim Verbraucherschutz oder auch Anreize zumehr Breitbandinvestitionen.Insgesamt reichen diese Vorschläge aber bei weitemnicht aus, um den Herausforderungen wirklich gerechtzu werden. Leider, sehr geehrter Herr Kollege Otto, hatsich die Bundesregierung im Wesentlichen darauf be-schränkt, die europäischen Vorgaben umzusetzen. Wasich vermisse, ist, dass eigene Impulse gesetzt und weiter-gehende Konzepte vorgelegt werden. Wir müssen unterdem Strich leider feststellen: Dieser Gesetzentwurf istkein großer Wurf, sondern in weiten Teilen eher ein Do-kument verpasster Chancen.Ich will Ihnen nur ein konkretes Beispiel nennen. DieBundesregierung gibt selbst vor, dass Netzneutralitätauch für sie ein wichtiges Anliegen ist. Dann kann manaber auch erwarten, dass sich das im Gesetzestext nie-derschlägt. Es ist aber an keiner Stelle des Gesetzestex-tes selbst das Wort „Netzneutralität“ erwähnt; das mussman erst einmal zustande bringen. Der bloße Hinweisauf Transparenzvorschriften reicht bei weitem nicht aus.Übrigens, selbst die von der Bundesregierung einge-setzte Expertenkommission Forschung und Innovationhat den Entwurf deshalb als völlig unzureichend kriti-siert. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits eigeneAnträge zur gesetzlichen Absicherung der Netzneutrali-tät und für besseren Verbraucherschutz vorgelegt. Eindritter Antrag, und zwar zum Breitbandausbau, folgt inder nächsten Sitzungswoche.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass beidem Gesetzgebungsverfahren, also unter anderem beiden weiteren Beratungen in den Ausschüssen, der TKG-Entwurf deutlich verbessert wird. Greifen Sie dabei un-sere Vorschläge auf.Der größte Handlungsbedarf ergibt sich aus unsererSicht auch weiterhin beim Breitbandausbau. SchnellesInternet für alle muss endlich flächendeckend realisiertwerden. In immer mehr Lebensbereichen wird die An-bindung an das Internet inzwischen vorausgesetzt – seies in der Schule, im Beruf, bei der Kommunikation zwi-schen den Menschen oder auch bei Freizeitaktivitäten.Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass noch immer zahl-reiche Kommunen keinen angemessenen Breitbandan-schluss haben.An vielen Stellen klafft leider eine große Lücke zwi-schen den Ankündigungen der Bundesregierung und ih-ren Maßnahmen. So musste die Bundesregierung selbsteinräumen, dass ihr Ausbauziel 2010 verfehlt wurde, üb-rigens weit deutlicher, als es der gerne zitierte Breitband-atlas aussagt; denn der leidet an systematischen Mängelnund bildet die Wirklichkeit in Deutschland nicht ab.Herr Otto, Sie sagen, zwischen 75 Prozent und100 Prozent Verwirklichung des 50-Megabit-Ziels klaffenur eine kleine Lücke.
Das ist eine Verkehrung der Tatsachen; denn Sie wissen,dass die letzten 25 Prozent die teuersten sind. Deshalbglaube ich, dass die Bundesregierung an Realitätsverlustleidet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12331
Martin Dörmann
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Dort, wo inzwischen Erfolge vorzuweisen sind, sinddiese keineswegs auf die Beschlüsse der schwarz-gelbenKoalition zurückzuführen. Ich will daran erinnern: Eswar der damalige Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier,der im Zusammenhang mit dem zweiten Konjunkturpa-ket überhaupt erst für die Verabschiedung einer Breit-bandstrategie gesorgt hat. Sehr geehrter Herr Otto, in de-ren Folge kam es dann zur Umsetzung der DigitalenDividende, die Sie jetzt immer gerne zitieren; das heißt,bei der Frequenzversteigerung wurden Ausbauverpflich-tungen zur Schließung der weißen Flecken festgelegt.Auf dieser Grundlage bauen die Mobilfunkunternehmendas mobile Breitband nun mit der neuen, modernen LTE-Technologie aus, mit der im ersten Schritt Bandbreitenvon wahrscheinlich 3 bis 5 Megabit pro Sekunde reali-siert werden. Nach deren Ankündigung können wir da-von ausgehen, dass das etwa im Jahre 2012 flächende-ckend umgesetzt sein wird.Die Erfahrung lehrt allerdings auch, dass man mit An-kündigungen vorsichtig sein muss. Um vielleicht ver-bleibende vereinzelte Lücken tatsächlich zu schließen,macht es aus meiner Sicht deshalb durchaus Sinn, durcheine entsprechende Universaldienstverpflichtung eineGrundversorgung gesetzlich abzusichern. Die neuen EU-Vorgaben sehen ohnehin vor, dass jeder Mitgliedstaatverpflichtet ist, einen funktionalen Internetzugang alsUniversaldienst festzulegen. Dies setzt die Bundesregie-rung ja auch um. Aber die EU eröffnet den Mitgliedstaa-ten darüber hinaus auch die Möglichkeit, zusätzlich einefeste Bandbreite als Universaldienst festzulegen. EinigeEU-Länder haben davon bereits Gebrauch gemacht.Allerdings sind die Mitgliedstaaten in Bezug auf dieHöhe der Bandbreite nicht völlig frei. Eine Universal-dienstverpflichtung bedeutet einen erheblichen Eingriffin den Markt. Deshalb hat die EU bestimmte Kriterienvorgegeben:Erstens. Wettbewerbsverzerrungen müssen so weitwie möglich vermieden werden.Zweitens. Die Ausgestaltung des Universaldienstesmuss technologieneutral erfolgen.Drittens. Die maximale Bandbreite in den Mitglied-staaten kann nicht beliebig festgelegt werden. Sie hatsich daran zu orientieren, welche Bandbreite von derMehrheit der Nutzer tatsächlich verwendet wird. NachEinschätzung des Branchenverbandes VATM und auchder Bundesnetzagentur sind das heute Bandbreiten vonetwa 2 bis 6 Megabit pro Sekunde, also solche Bandbrei-ten, die durch den LTE-Ausbau realisiert werden kön-nen.Was aber europarechtlich auf keinen Fall zulässig ist,wäre ein Universaldienst mit höheren Bandbreiten, derneuerdings in einem Positionspapier der Unionsfraktionvorgesehen ist. Zu Recht hat dieses Papier deshalb in derFachwelt heftiges Kopfschütteln ausgelöst. Es ist offen-kundig, dass sich die Wirtschaftspolitiker der Unionnicht einmal mit den rechtlichen Voraussetzungen fürihre Vorschläge auseinandergesetzt haben. Ich denke,auch dadurch wird die fehlende Ernsthaftigkeit der Re-gierungskoalition bei diesem Thema dokumentiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben einer Breit-bandgrundversorgung brauchen wir eine dynamischeEntwicklung. Der Bedarf an höherer Bandbreite wirdauch weiterhin stark wachsen – alleine schon wegen derwachsenden Zahl der Nutzer und neuer Anwendungen.Unser Ziel als stärkste Wirtschaftsnation in Europa kannnur sein, auch bei der Breitbandinfrastruktur spitze zusein.Wir fordern die Regierungskoalition deshalb auf: Ma-chen Sie endlich Ihre Hausaufgaben konsequent! Unter-legen Sie Ihre Ausbauziele durch wirksame Maßnah-men! Berufen Sie beispielsweise unverzüglich einennationalen Breitbandgipfel mit den Ländern und Kom-munen ein; denn wir brauchen ein abgestimmtes Vorge-hen, sowohl im Hinblick auf die Verbesserung der pla-nungsrechtlichen Voraussetzungen als auch bei derAbstimmung von Förderprogrammen. Selbstverständ-lich setzen wir in erster Linie auf faire Wettbewerbsbe-dingungen und auf gute Investitionsmöglichkeiten fürdie Unternehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu-sammenfassen. Seit ihrem Amtsantritt haben wir von derschwarz-gelben Bundesregierung noch keine wirklichneuen und eigenen Impulse für den Breitbandausbau ge-sehen. Die haben andere gesetzt. Das Internetzeitalterbraucht aber keine Politik mit der Geschwindigkeit einerSchnecke. Bitte satteln Sie endlich das Rennpferd.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Heute ist offensichtlich der Tag der Netze. Erst ha-ben wir über die Stromnetze verhandelt. Jetzt debattierenwir über die Datenautobahn, also die Breitbandnetze.Die Bundesregierung hat uns den Entwurf eines Ge-setzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Re-gelungen zur Diskussion im Deutschen Bundestag vor-gelegt.Herr Dörmann, Sie haben gesagt, dieser Gesetzent-wurf sei kein großer Wurf. Er ist aber auf jeden Fall eindicker Wurf. 178 Seiten sind zu behandeln; diese178 Seiten enthalten teilweise sehr schwierige juristi-sche Klauseln.
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12332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Andreas G. Lämmel
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Mit diesem Gesetzentwurf sollen zwei Richtlinien derEuropäischen Union umgesetzt werden, nämlich die Än-derungsrichtlinie „Bessere Regulierung“ und die Ände-rungsrichtlinie „Rechte der Bürger“. Der deutsche Ge-setzgeber ist also jetzt beauftragt, diese Regelungen innationales Recht umzusetzen.Dieser Gesetzentwurf enthält im Prinzip zwei großeTeile. Der erste Teil befasst sich hauptsächlich mit denRegulierungsgrundsätzen und den Rahmenbedingungenfür den Wettbewerb. Der zweite Teil beschäftigt sich imWesentlichen mit der Verbesserung der Verbraucher-rechte.Bei den Regulierungsgrundsätzen geht es im Grobenum Anreize und um bessere Bedingungen für einen flä-chendeckenden Breitbandausbau. Herr Staatssekretär hatdarauf hingewiesen, auch Herr Dörmann hat von derNotwendigkeit und der Wichtigkeit gesprochen, mit demflächendeckenden Breitbandausbau in Deutschlandschnell voranzukommen.Bei dem Teil zum Verbraucherschutz ist das wesent-liche Ziel, dass der Verbraucher sich in dem immer spe-zielleren Markt der Telekommunikationstechniken zu-rechtfinden kann und dass er vor diversen Modellen desAbzockens von Kunden geschützt wird. In diesem Zu-sammenhang erinnere ich an die kostenlosen Warte-schleifen, die wir in diesem Hause – es gab ja einen An-trag der SPD-Fraktion –
schon einmal diskutiert haben, an den Wechsel von ei-nem Anbieter zu einem anderen Anbieter innerhalb einesTages, an die Preistransparenz bei Call-by-Call-Tarifenund wesentliche Punkte mehr. Hier geht es also darum,die Verbraucherrechte zu schützen und in diesem Marktdie Transparenz zu erhöhen.Lassen Sie mich aber noch einmal zum Breitbandaus-bau kommen; denn das ist wirklich der wesentliche Teil.Wir erhoffen uns, dass der Breitbandausbau in Deutsch-land mit diesem Gesetz eine noch höhere Beschleuni-gung erhält, um damit auf größere Geschwindigkeiten zukommen.Schauen wir es uns doch einmal an. Die Breitband-strategie wurde in der Großen Koalition entworfen. Dasist natürlich nicht bloß die Idee eines SPD-Ministers ge-wesen, wie Sie es dargestellt haben, Herr Dörmann.Vielmehr hat die Bundeskanzlerin die Breitbandstrategieder Öffentlichkeit vorgestellt.
– Wenn man in einer Koalition ist, muss man schon sa-gen: Es war die Koalition, die die Breitbandstrategie ent-worfen hat.Das sind natürlich ehrgeizige Ziele gewesen, garkeine Frage. Wenn man sich keine ehrgeizigen Zielesetzt, muss man sich nicht wundern, wenn man nicht vo-rankommt.Angesichts der Zahlen muss man ganz einfach demArgument widersprechen, es sei in den letzten Jahrennichts passiert.
Das stimmt einfach nicht. Deutschland ist aus dem Mit-telfeld gekommen. Es war ja auch Ausgangspunkt derBreitbandstrategie, dass wir festgestellt haben: Wir sindnur im Mittelfeld; wir wollen an die Spitze. – Wenn mansich die Zahlen anschaut, kann man konstatieren: ImJahr 2010 sind fast 98,5 Prozent der deutschen Haushaltemit einer Bandbreite von mindestens 1 Megabit an dasBreitbandnetz angeschlossen. Wir sind uns heute einig:Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es mussnoch mehr werden.Aufgeschlüsselt sehen die Zahlen so aus: 93,3 Prozentder Haushalte verfügen über Anschlüsse mit mehr als2 Megabit pro Sekunde; 81,6 Prozent der Haushalte ste-hen schon 6 Megabit pro Sekunde zur Verfügung;67,6 Prozent 16 Megabit pro Sekunde, und 35,6 Prozentder Haushalte in Deutschland stehen Bandbreiten vonüber 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung. Das ist ersteinmal eine riesige Leistung. Das muss man sagen; denndahinter steckt ja auch noch ein enormes Investitionsvo-lumen. Dass seit 2006 pro Jahr ungefähr 6,5 MilliardenEuro jährlich in die entsprechende Infrastruktur inves-tiert wurden, ungefähr die Hälfte von der Telekom, dieandere Hälfte von den privaten Wettbewerbern, halte ichschon für eine sehr große Leistung. Das ist letztendlichauch der Grund dafür, dass wir in diesem Bereich mitt-lerweile zur europäischen Spitzengruppe gehören.Meine Damen und Herren, es ist klar, dass jeder, dernoch keinen Anschluss an das Breitbandnetz hat, sagt:Eure Zahlen nützen mir gar nichts. Selbst wenn ihr99,5 Prozent erreicht habt, ich selber aber nicht ange-schlossen bin, ist das Ziel noch nicht erreicht. – Genaudarum geht es ja: Wir brauchen eine hundertprozentigeAbdeckung.Nun geht es um das Thema: Wie kann man das errei-chen? Sollte man das, wie Herr Dörmann vorschlug, überdie Verpflichtung zur Universaldienstleistung erreichen?Ich bin der Meinung, wir können das im freien Wettbe-werb erreichen, indem wir alle zur Verfügung stehendenTechnologien einsetzen. Aus meiner Sicht gibt es nichtgute und schlechte Technologien – darüber wird ja immerheftig diskutiert –, sondern Funk-, Satelliten- und Glasfa-sertechnik bieten ebenso wie alte Kupferleitungen imPrinzip die Möglichkeit, einen Breitbandanschluss herzu-stellen. Insofern muss man jetzt darüber reden: Wie errei-chen wir eine hundertprozentige Abdeckung? Diese Auf-gabe ist, wie ich glaube, politisch zu lösen. Hierzu gibt esverschiedene Modelle.Ich finde nicht, dass man einen Breitbandgipfel mitden Kommunen durchführen muss. Die Instrumente, dieseitens der Bundesregierung schon eingeführt wurden,wie zum Beispiel die Erstellung eines Breitbandatlas,reichen nämlich völlig aus. Anhand des Breitbandatlasist sehr genau nachweisbar, wo welche Anschlüsse vor-handen sind. Vor allen Dingen kann man auch feststel-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12333
Andreas G. Lämmel
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len, welche Fortschritte in Deutschland erzielt werden.Das ist ja eigentlich auch das Wichtige, dass wir denBürgern unseres Landes deutlich machen: Die Entwick-lung schreitet unablässig fort.
Nun müssen allerdings – auf diesen einen Punktmöchte ich noch zu sprechen kommen – die Firmen zumBeispiel beim Ausbau von LTE, also dem schnellen mo-bilen Internet, erst einmal liefern. Das heißt, die Deut-sche Telekom, Vodafone und andere müssen jetzt bewei-sen, dass diese Technik in der Lage ist, das zu leisten,was wir uns vorstellen. Wenn sie das leistet – davon binich überzeugt –, dann ist diese Funktechnologie wirklichein guter Weg, um eine flächendeckende Versorgung mitdem mobilen Internet relativ schnell zu erreichen.Meine Damen und Herren, unsere Fraktion ist derAuffassung, Wettbewerb ist der beste Garant dafür, dasswir vorankommen. Wettbewerb ist auch der Garant da-für, dass die Preise für die Verbraucher günstig sind. Mitunserem Gesetz werden wir die Rechte der Verbraucherund ebenso den Wettbewerb beim Ausbau von Breit-band-Internetanschlüssen stärken.
Herr Dörmann, die Fachpolitiker der Koalition undder Opposition sind ja nicht wirklich weit auseinander.Deshalb denke ich, dass es zu einem guten Gesetz-gebungsverfahren kommt. Letztendlich wird es eineNeufassung des Telekommunikationsgesetzes geben, dieDeutschland einen wirklichen Fortschritt bringt und da-für sorgt, dass wir in den nächsten Jahren Spitzenreiterauch in diesem Bereich in Europa werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Fast die Hälfte aller Verbraucherinnen und Ver-braucher klagt über Probleme im Bereich Telefon undInternet. Die finanziellen Einbußen der Verbraucherin-nen und Verbraucher, zum Beispiel durch unerbeteneAnrufe, überhöhte Handyrechnungen und teure Warte-schleifen, sind enorm. Ich frage Sie: Wer von Ihnen hatunerbetene Telefonanrufe oder überhöhte Handyrech-nungen noch nicht erlebt?Deswegen fordern wir als Linke schon lange: Abzo-cke und Datenklau auf dem Telekommunikationsmarktmüssen endlich ein Ende haben.
Denn die Telekommunikationsbranche gehört zu denje-nigen Branchen, bei denen bei den Verbraucherzentralender größte Beratungsbedarf besteht. Beliebteste Opfervon unseriösen Geschäftspraktiken sind Jugendliche undältere Menschen.Vor diesem Hintergrund war der Gesetzentwurf derBundesregierung längst überfällig. Ich habe nur erhebli-che Zweifel daran, dass der Gesetzentwurf, wie er jetztvorliegt, die Probleme lösen wird. Aus unserer Sicht ent-hält dieser Gesetzentwurf noch viel zu viele Lücken undSchlupflöcher. Ein Beispiel dafür sind die Warteschlei-fen. Wir als Linke fordern, dass Warteschleifen und Stö-rungshotlines komplett kostenfrei zu stellen sind, ganzegal, wo oder von wo ich anrufe.
Zugleich müssen die Warteschleifen zeitlich begrenztwerden; denn wer will schon Ewigkeiten mit Dudel-musik am Telefon verbringen? Hier bietet der Gesetzent-wurf leider noch keine zeitliche Obergrenze.Nach wie vor werden Verbraucherinnen und Verbrau-cher mit überhöhten Handyrechnungen abgezockt. Wirals Linke fordern hier klare Preisobergrenzen und Preis-informationen; denn das, was bisher für das Festnetz gilt,soll aus unserer Sicht jetzt auch für Handys eingeführtwerden. Doch was macht die Bundesregierung? Siemacht das glatte Gegenteil: Die wenigen Vorgaben, diees bisher gab, werden gestrichen, und stattdessen soll dasProblem auf dem Verordnungswege gelöst werden.
Ein anderes Beispiel ist der bessere Schutz vor Kos-tenfallen im Internet. Wer kennt es nicht, dass die Ein-käufe im Internet intransparent sind? Wir finden, esmuss klar erkennbar sein, was ein Kauf im Internet kos-tet. Deswegen erneuern wir unsere Forderung nach Ein-führung eines Internetbuttons.
Schließlich fordern wir als Linke eine wirksame Auf-sicht für den Telekommunikationsmarkt. Herr Lämmel,dieser Punkt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass derWettbewerb nicht alle Probleme löst. Es gibt immer wie-der Beispiele für Geschäftsmodelle, auch von Telekom-munikationsunternehmen, die komplett auf unseriösenGeschäftspraktiken beruhen. Hier sollte die Bundesnetz-agentur aus unserer Sicht deutlich präventiver tätig seinkönnen.
Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, istder Datenschutz. Der Datendiebstahl beim Elektronik-konzern Sony hat uns erneut vor Augen geführt, dasspersönliche Daten unzureichend geschützt sind und dasssensible Kundendaten nach wie vor viel zu leicht in un-befugte Hände geraten. Der Gipfel war: Wer sich beiSony telefonisch über den Verbleib seiner Daten infor-mieren wollte, dem wurde eine kostenpflichtige Hotline
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12334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Caren Lay
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angeboten. Das ist wirklich der Gipfel der Unverschämt-heit.
Auch bei einem anderen Punkt bleibt der Gesetzent-wurf der Bundesregierung leider unzureichend: Es gibtnach wie vor die anlasslose Vorratsdatenspeicherung.Das ist aus unserer Sicht völlig unverhältnismäßig, undauch eine Regelung zur Netzneutralität sucht man in die-sem Gesetzentwurf vergeblich.Meine Damen und Herren, was uns die Koalition hiervorgelegt hat, entspricht verbraucherpolitischen Anfor-derungen nicht. Wieder einmal ist die Koalition zu sehrvor den Interessen der Wirtschaftslobby eingeknickt.
Was wir brauchen, sind konsequente Maßnahmen;denn das Ergebnis der digitalen Welt dürfen weder dergläserne Mensch noch geschröpfte Kundinnen und Kun-den sein. Die Linke hat zu beiden Themen Anträge vor-gelegt, und wir empfehlen den Vertreterinnen und Ver-tretern der Koalition, hier noch einmal nachzulesen unddiesen Gesetzentwurf im Verfahren noch weiter zu ver-bessern.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Christine Scheel für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung setzt mit dieser Vorlage die Vorgabeneuropäischer Richtlinien zur Telekommunikation um. Dasist aus unserer Sicht erst einmal begrüßenswert und drin-gend notwendig, weil wir bessere Rahmenbedingungenbrauchen, um mehr Wettbewerb zu erreichen, und denVerbraucherschutz stärken müssen. Leider haben Sie abernur die Mindestanforderungen aus Brüssel umgesetzt. Wirsehen beim Verbraucherschutz, beim Datenschutz, beimstrikten Ausschluss anlassloser Vorratsdatenspeicherung,beim nachhaltigen und seriösen Breitbandausbau und beider gesetzlichen Sicherung der Netzneutralität Verbesse-rungsbedarf.
Zum Breitband. Die Novellierung hat das Ziel, dierechtlichen Rahmenbedingungen für einen wettbewerbs-konformen Breitbandausbau und Investitionen in Netzeder nächsten Generationen zu verbessern. Es ist eine dergrößten wirtschaftspolitischen Herausforderungen, diedigitale Kluft zu überwinden. Es sind leider immer nochzu viele Regionen vom Internet abgekoppelt. In Mecklen-burg-Vorpommern und Thüringen sind nur 93 Prozent derHaushalte mit Breitband versorgt. Selbst in einem Landwie Bayern, das sich als Hochtechnologieland präsen-tiert, sind noch immer rund 130 Gemeinden – ich redenicht von Aussiedlerhöfen, sondern auch von Gemeindenmit mehreren Tausend Einwohnern und von Stadtgebie-ten – unzureichend ans Internet angeschlossen. Das be-deutet in der Konsequenz, dass sich die Bürgerinnen undBürger insgesamt nicht ausreichend informieren könnenund manche Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufga-ben im Vergleich zu denen aus anderen Ortsteilen, die ei-nen Internetanschluss haben, nicht vernünftig erledigenkönnen. Wir sehen, dass es für Unternehmen und Selbst-ständige, für Architekten und Steuerberater, Nachteile ge-ben kann und damit die Abwanderung aus ländlichen Ge-bieten und der demografische Wandel dort verstärktwerden. Es kann nicht sein, dass die Abwanderung ausländlichen Gebieten durch fehlende Anschlüsse forciertwird.
Wir haben einmal über eine Vorlage diskutiert, nachder Ende 2010 ein Etappenziel bei der Versorgung mitBreitbandanschlüssen erreicht werden soll. Sie habendieses Ziel nicht erreicht. Jetzt heißt es: Bis 2015, spätes-tens bis 2018, sollen alle Haushalte mit Anschlüssen miteiner Bandbreite von mindestens 50 Megabit pro Se-kunde versorgt sein. Wir wissen nicht, wie das erreichtwerden soll und woher die Gelder dafür kommen sollen.Es wäre interessant, wenn wir das demnächst erfahrenwürden.Der Vorschlag der Union, die Verpflichtung einesUniversaldienstes mit einer Bandbreite von 16 Megabitpro Sekunde ins Gesetz zu schreiben, ist aus unsererSicht sowohl juristisch als auch wirtschaftspolitischmehr als fragwürdig. Die Kosten der Umsetzung diesesVorschlags müssten nach geltendem EU-Recht von deröffentlichen Hand getragen werden. Wie will die Regie-rung die Mittel in Höhe von 40 Milliarden Euro, die ge-mäß Ihrer Vorlage entstehen würden – das ist Ihre Vor-stellung –, aufbringen? Sie haben die Chance vertan, denAusbau mit den Erlösen aus der Versteigerung der Funk-frequenzen im letzten Jahr schneller zu finanzieren. DasGeld ist irgendwo im Haushalt verschwunden, so wiemanches bei Ihnen verschwindet.
Jedenfalls hat man das Geld nicht so verwendet, wie eshätte sein sollen.
Wir finden auch: Die Politik sollte nicht darum feil-schen, wer den Menschen in den ländlichen Gebietenmehr Bandbreite verspricht. Vielmehr geht es darum,sinnvolle Lösungen zu suchen. Dabei geht es auch umdie Technik, die vor Ort eingeführt werden soll.Anstatt die Wirtschaft mit irgendwelchen Schnell-schüssen zu verunsichern, sollten Sie die offenen Fragenbeantworten. Die grüne Fraktion hat ein Gutachten inAuftrag gegeben, in dem geprüft werden soll, ob und un-ter welchen Bedingungen ein Universaldienst finanziellund rechtlich möglich ist und welche Kosten überhauptentstehen würden.
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Christine Scheel
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Wir haben also jetzt die Hausaufgaben gemacht, die wireigentlich von Ihnen erwartet hätten.
Sie setzen nicht die notwendigen Akzente beim Breit-bandausbau. Der Bundesrat hat in seiner aktuellenStellungnahme Zweifel daran erhoben, ob die gesetztenZiele allein über Vorschriften erreicht werden können.Wir verstehen nicht, warum die Bundesregierung diemeisten Änderungsvorschläge des Bundesrats bislangabgelehnt hat. Aber es kann sein, dass sich das im Ver-lauf der Diskussion noch verändert.Ein weiteres wichtiges Thema wurde von der Kolle-gin vorhin angesprochen: kostenlose Warteschleifen. Esist schön, dass es bald endlich kostenlose Warteschleifengibt. Wir fordern das übrigens schon seit Jahren. DieKollegin Nicole Maisch ist schon seit Jahren hinterher,dass man in diesem Bereich weiterkommt. „Keine Leis-tung – keine Kosten“ heißt hier die Devise. Aber warumbrauchen wir eine Übergangsfrist von zwölf Monaten?Das ist technisch überhaupt nicht notwendig. Es ärgertdie Leute ohne Ende, dass Sie das Ganze weitere zwölfMonate nach hinten schieben wollen.
Kommen wir zu den verpflichtenden Preisansagen beiCall-by-Call-Anrufen. Bei Call-by-Call-Anrufen habensprunghafte Preiserhöhungen in der Vergangenheit zu er-heblichen finanziellen Schäden geführt. Es gibt Aussa-gen, dass es innerhalb eines Telefonats Preissteigerun-gen von bis zu 1 000 Prozent gegeben hat. Es ist eineUnverschämtheit, dass in den letzten Jahren diesbezüg-lich nichts passiert ist. Wir wissen schließlich, dass Rot-Grün im Jahre 2005 die Preisansagepflicht beschlossenhatte, dann aber an der CDU/CSU und der FDP im Bun-desrat gescheitert ist. Nun wollen Sie die Unternehmenper Rechtsverordnung zur Preisansage verpflichten. Dasreicht uns nicht. Wir wollen, dass die Pflicht zur Preis-angabe in das TKG aufgenommen wird. Dann wäre esklar und sauber geregelt.
Wir wollen auch, dass der Datenschutz ernster ge-nommen wird. Der Schutz unserer Privatsphäre in derZukunft ist ein ganz wesentlicher Punkt.Wir wollen ferner, dass die Netzneutralität, die für diebisher praktizierte grundsätzliche gleichberechtigteÜbertragung aller Daten im Internet steht, ernsthaft ge-lebt wird. Jedoch planen große Telekommunikations-unternehmen, bestimmte Dienste gegen Aufpreis – zumBeispiel Fernsehen via Internet – zu beschleunigen. Dasbedeutet in der Konsequenz, dass die Offenheit des In-ternets als Grundlage von demokratischen Prozessen aufdem Spiel stehen kann. Das muss man in den Fokus neh-men; darauf muss man aufpassen. Das heißt: Auch dieNetzneutralität muss als Regulierungsziel in diese No-velle aufgenommen werden.
Ein Gedanke noch zu den Änderungen für die Radio-und Fernsehübertragung. Es geht nicht an, dass durch ei-nen möglichen Frequenzwiderruf zusätzliche Kosten fürdie Radiosender entstehen. So wie das TKG im Momentausgestaltet ist, entsteht bei einem Widerruf der UKW-Zuteilungen allein beim Bayerischen Rundfunk ein Kos-tenrisiko von 8 Millionen Euro; bei den privaten Radio-sendern sind es 10 Millionen Euro. Diese Summen ge-hen dann für Investitionen in das Programm verloren.Deswegen möchte ich Sie bitten, an dieser Stelle eineKorrektur anzustreben, damit wir auch im Sinne der Ra-diosender eine bessere Lösung bekommen.Danke schön.
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächsteinmal zur Linken und zu Ihnen, Frau Lay: Die Linkewar schon immer ein Spezialist für das Thema Telekom-munikation. Sie war allerdings zu DDR-Zeiten mehr fürdie Überwachung von Telefonen zuständig.
Jetzt stellen Sie sich hier als diejenigen dar, die die Vor-ratsdatenspeicherung bekämpfen wollen.
Das machen Sie zudem noch an falscher Stelle; denn dasgehört hier gar nicht hinein. Das ist verwunderlich. Obdas intelligent ist, ist eine andere Frage. Man muss Sieimmer wieder darauf hinweisen, wo Sie herkommen.
Ich glaube, das ist ganz wichtig. Denn die Neigung be-steht, dies im Laufe der Zeit zu vergessen.
Wenn Sie mich jetzt weiter provozieren,
sage ich Ihnen auch noch, dass es in der DDR für zehnHaushalte nur einen Telefonanschluss gegeben hat. Dasist sozialistische Telekommunikationspolitik. In diesesStadium wollen wir sicherlich nicht wieder zurückfallen.
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Dr. Georg Nüßlein
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Die Liberalisierung des Marktes hat viel bewegt und
auch viel Positives bewirkt. Trotzdem bleibt noch das
eine oder andere, das wir im Rahmen einer solchen No-
vellierung geradeziehen müssen. Geschätzte Kollegin
Scheel, ich hätte mich gefreut, wenn Sie die verbrau-
cherpolitischen Ansätze ein bisschen mehr gelobt und
weniger die Details kritisiert hätten.
Es ist doch wichtig, dass die Warteschleifen künftig kos-
tenlos sind und die Unterbrechung des Anschlusses we-
gen der technischen Umstellung bei einem Festnetz-
anbieterwechsel auf einen Kalendertag beschränkt ist. Es
ist doch gut, dass wir sagen: Bei einem Umzug gibt es
ein Sonderkündigungsrecht für den Fall, dass man den
Vertrag, so wie man ihn abgeschlossen hat, aufgrund der
fehlenden Leistung am anderen Ort nicht fortsetzen
kann. Was gibt es denn da zu kritisieren?
Im parlamentarischen Verfahren werden wir noch das
eine oder andere, gerne auch im Konsens, einbringen,
beispielsweise die Forderung, dass ein Vertrag erst dann
wirksam wird, wenn das durch den jeweiligen Kunden in
Textform bestätigt wurde. Es gibt im Telekommunika-
tionsbereich die Unsitte, dass man angerufen wird und
– egal wer am Telefon ist – anschließend ein Bestäti-
gungsschreiben bekommt und sich dann dagegen wehren
muss, dass der Vertrag auf einen anderen Anbieter um-
gestellt wird. Solche Fragen kann man im Gesetz aus
meiner Sicht relativ schlank klarstellen, weil es ein Be-
stätigungsschreiben sonst nur im kaufmännischen Mit-
einander gibt. Warum soll es das im Bereich der Tele-
kommunikation aufgrund der Kraft des Faktischen
geben?
Es ist richtig und wichtig, dass wir bei der tatsächli-
chen Geschwindigkeit von Breitbandanschlüssen mehr
Transparenz schaffen. Hier gibt es oft große Unter-
schiede zwischen dem, was man vertraglich vereinbart
hat, und dem, was man am Ende erhält. Das ist auch für
unsere Diskussion über den Universaldienst wichtig.
Jetzt gehe ich auf das juristische Argument ein, das
Sie, Herr Dörmann, gebraucht haben. Von der Darstel-
lung her ist es völlig richtig, dass wir uns auf das bezie-
hen müssen, was 50 Prozent der Menschen nutzen. Aber
wir beziehen uns dabei auf die Zahlen, die wir vom Bun-
deswirtschaftsministerium bekommen, und nicht auf die
Zahlen vom vatm.
– vatm, haben Sie vorhin in Ihrer Rede gesagt. Da müs-
sen Sie sich schon die Frage stellen: Cui bono? Warum
behaupten die so etwas?
Ich nehme die Zahlen, die der Kollege Lämmel ge-
rade vorgelesen hat. Bundesweit waren Ende 2010 für
98,5 Prozent aller Haushalte Bandbreiten mit bis zu
1 Megabit verfügbar, für 93,3 Prozent Bandbreiten mit
bis zu 2 Megabit, für 81,6 Prozent mit bis zu 6 Megabit,
für 67,6 Prozent mit bis zu 16 Megabit und für 35,6 Pro-
zent mit bis zu 50 Megabit. Ich wollte eigentlich über
ganz andere Dinge reden; aber wenn das hier themati-
siert wird, erkläre ich das gerne.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dörmann? Dann könnten Sie das gleich mit er-
klären.
Herzlich gerne, wenn es an dieser Stelle reinpasst.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr
Kollege Nüßlein, ist Ihnen der Unterschied bekannt zwi-
schen der theoretischen Verfügbarkeit bestimmter Band-
breiten, worauf sich der Breitbandatlas bezieht, und der
tatsächlich verwendeten Bandbreite, die sich auf die
konkret abgeschlossenen Verträge bezieht? Ist Ihnen
weiterhin bekannt, dass sich die europarechtlichen Vor-
gaben nicht nach den Kriterien des Breitbandatlasses
ausrichten, sondern nach der tatsächlich verwendeten
Bandbreite und insofern Ihre Aussage falsch ist?
Sie haben den Schluss nicht abgewartet. Die Verfüg-barkeit, die ich hier beschreibe, mündet natürlich in ab-sehbarer Zeit in die Anwendung dieser Bandbreiten. DasProblem ist doch, dass wir nichts Statisches haben. Dasist übrigens beim gesamten Ausbau das Problem. Es istnicht so einfach, wie seinerzeit die DDR mit Festnetz-telefonie zu versorgen. Das Ganze ist ein dynamischerProzess, in dem sich die Bandbreiten weiterentwickelnoder Neuerungen hinzukommen und in dem das Breit-band von heute die Schmalspur von morgen sein wird.Ich möchte noch einmal deutlich machen, was wir un-ter Universaldienst verstehen und was im Übrigen auchdie EU unter diesem Thema versteht. Wir glauben nicht,dass es sich um ein Instrument für einen Rollout von nullhandelt. Es geht uns darum, die Angelegenheit zu einemguten Abschluss zu führen, so wie es auch die EU vor-sieht. Insofern, Herr Kollege Otto, ist das kein Thema,das man in die Ecke der Verstaatlichung und des Sozia-lismus verweisen muss. Stattdessen muss man sagen:Gegen das absehbare Marktversagen benötigen wir einInstrument. Meine Vorredner haben ganz klar gesagt,dass es am Ende etliche geben wird, die außen vor sind.Dazu sage ich ganz offensiv: Ich werde mir hinterhernicht vorwerfen lassen, dass Hintertupfingen oder dasletzte Forsthaus – davon ist in diesem Zusammenhangimmer wieder die Rede – nicht versorgt sind. Das kannnicht sein. Der ländliche Raum hat einen Anspruch aufVersorgung. Wir sehen aber, dass durch den Wettbewerbnicht sichergestellt werden kann, dass der ländliche
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Dr. Georg Nüßlein
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Raum bis zum letzten Haushalt versorgt wird. Warumsollen die Unternehmen das denn tun, obwohl sie wis-sen, dass sie damit kein Geschäft machen können? Des-halb sieht die EU dieses Instrument vor, und wir müssenuns darüber unterhalten, wie wir es ausgestalten wollen.Darüber wird man im Deutschen Bundestag doch wohlnoch diskutieren können.
– Langsam. Wenn es darum geht, die letzte Lücke zuschließen, muss das nicht die öffentliche Hand zahlen.Der Universaldienst ist entsprechend auszugestalten; daswissen Sie offenkundig ganz genau.
– Nein. Das ist durch ein Umlagesystem möglich. Daswissen Sie doch.Ich sage ganz klar: Wenn jemand eine bessere Ideehat, wie man mit diesem Marktversagen umgehen unddie Sache regeln kann, dann sind wir dem aufgeschlos-sen. Aber ich höre seit Jahren nur, was in diesem Landalles nicht geht. Das zeichnet auch andere Debatten aus.Dazu sage ich ganz offensiv, dass ich auch vom Bundes-wirtschaftsministerium eine bessere Beschreibung des-sen erwarte, was wir tun wollen. Wenn es ein klaresMarktversagen gibt, dann können wir nicht sagen: DerLiberalismus steht über allem.Wenn wir andere Instrumente in den Blick nehmen,bitte ich darum, die Bedenken nicht überhandnehmen zulassen. Wir haben gesagt, dass wir Synergien heben wol-len, damit das Ganze billiger wird. Wir wollen einen ge-setzlich geregelten Zugriff auf die Infrastruktur Dritter;beispielsweise wollen wir den Zugriff auf die Infrastruk-tur der Energieversorger sicherstellen, aber auch auf dieInfrastruktur des Bundes. Lieber Andi Scheuer, es kanndoch nicht sein, dass mir ein Beamter aus dem Bundes-verkehrsministerium schreibt, da gebe es wesentlicheSicherheitsbedenken oder was auch immer. Wenn mandafür kein Instrument findet, sondern nur die Bedenkenvor sich her trägt, dann sind diese Ansätze letztendlichnicht ausreichend und dann bin auch ich an dem Punkt,an dem ich frage: Was dann? An diesem Punkt des The-mas Breitband müssen wir nacharbeiten.LTE ist ein respektabler Ansatz, weist in die richtigeRichtung, wird unser Problem auf bestimmte Zeit sicherlösen, wird uns auch ein wenig Luft verschaffen; aberich bin nicht schlüssig, ob das für alle gelten wird. AmEnde werden ein paar übrig bleiben, die auch durch LTEim Wettbewerb nicht problemlos angeschlossen werdenkönnen. Am Ende wird man sehen müssen, ob sich dieseFunktechnologie wirklich so weiterentwickelt, dass dieBandbreiten mitwachsen. Unser Problem wird dochnicht dadurch gelöst, dass man sagt – ich nehme dieBandbreiten, die vorhin genannt worden sind; ich selberkann das nicht beurteilen –: Das flache Land erhält jetzt6 Megabit über LTE, und die Städte bekommen 50 oder100, und das war es dann. – Dann sind wir wirklich andem Punkt, den die Kollegin Scheel vorhin beschriebenhat. Dann muss das Architekturbüro oder das IT-Unter-nehmen vom Land in die Stadt ziehen. Das wäre ein fal-sches Signal. Breitband birgt die große Chance, Struk-turdefizite zwischen Stadt und Land auszugleichen undzu nivellieren. Deshalb bitte ich darum, nicht nur Pround Contra, nicht nur Plus und Minus des Universal-dienstes zu sehen und nicht die eine Seite gegen die an-dere auszuspielen. Wir sollten uns gemeinsam daraufverständigen, dass wir um eine angemessene Versorgungdes flachen Landes ringen und gleichwertige Verhält-nisse schaffen, wie es in Art. 87 f unseres Grundgesetzessteht.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Rita Schwarzelühr-Sutter für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Novellie-rung des Telekommunikationsgesetzes will die Bundes-regierung eine ganze Reihe längst überfälliger Verbesse-rungen im Verbraucherrecht angehen. Endlich wird sieaktiv; allerdings sehen wir noch einen erheblichen Ver-besserungsbedarf. Nach einer Umfrage der Verbraucher-zentrale steht knapp der Hälfte der Bürgerinnen und Bür-ger nach Vertragsabschluss mit einem Internetanbieternicht die Internetgeschwindigkeit zur Verfügung, dievorher zugesagt wurde. Die tatsächlich gelieferte Leis-tung liegt meist deutlich unter der in der Werbung ver-sprochenen Geschwindigkeit. Ist das eine bewussteFehlinformation? Der Verbraucher braucht Preiswahr-heit und Preisklarheit.Umso verwunderlicher ist es deshalb, dass Sie dieAnbieter laut dem vorliegenden Gesetzentwurf nur ver-pflichten wollen, den Verbraucher über eine bestimmteMindestleistung zu informieren. Wie sehr diese Mindest-leistung von der beworbenen Leistung tatsächlich abwei-chen darf, soll der Anbieter allerdings selbst entscheidenkönnen. Ich finde, das ist nicht ausreichend. Das machendie Internetanbieter im Übrigen zum Teil sowieso schon.Die angegebenen Mindestgeschwindigkeiten liegendann in der Regel bei 40 bis 50 Prozent der beworbenenInternetgeschwindigkeit. – Herr Nüßlein, Ihre Aussagenzum Universaldienst wundern mich, wenn ich sie mitdem vergleiche, was vorher Herr Lämmel gesagt hat.Sind Sie sich in Ihrer eigenen Partei jetzt einig, oder dis-kutieren Sie noch über die Strategie?
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12338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Rita Schwarzelühr-Sutter
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Wir begrüßen die im Gesetzentwurf vorgesehenenRegelungen zum Anbieterwechsel. Natürlich darf eineDienstleistung nur für einen Tag unterbrochen werden,und in einer Informationsgesellschaft sollte ein Internet-anschluss nicht länger als einen Tag unterbrochen wer-den. Allerdings muss man sich die Frage stellen, wieeine solche Umstellung innerhalb eines Tages sicherge-stellt werden soll. Denn effektive Sanktionsmechanis-men für den Fall, dass ein Telekommunikationsanbietersich bei der Umstellung des Anschlusses mehr als einenTag Zeit lässt, sieht Ihr Gesetzentwurf überhaupt nichtvor. Es bedarf sicherlich keiner hellseherischen Fähig-keiten, um jetzt schon sagen zu können, dass ein Verbotohne effektive Sanktionen ein zahnloser Tiger bleibenwird.
Herr Brüderle hat vollmundig erklärt, dass Problemebeim Anbieterwechsel nun der Vergangenheit angehö-ren. Durch das, was Sie in dem Gesetzentwurf vorsehen,werden die Probleme beim Anbieterwechsel aber sicher-lich nicht gelöst.
Es ist naiv, auf die freiwillige Einhaltung der Regelndurch die Unternehmen zu setzen. Wir brauchen einenSchadensersatzanspruch des Verbrauchers gegenüberdem Anbieter. Das muss dann auch im Gesetz stehen.Im Übrigen sollte die Kündigung eines Vertrages un-bedingt in Schriftform erfolgen müssen; denn nur sokann Missbrauch durch die Diensteanbieter effektiv ver-hindert werden. Zu einer ungewollten Auflösung einesInternetvertrages kommt es dann zum Beispiel nicht.Ebenso reicht es nicht aus, bei einem Umzug den Ver-brauchern ein Sonderkündigungsrecht für den Vertragnur dann zuzugestehen, wenn die vertraglich zugesi-cherte Internetgeschwindigkeit am neuen Wohnort nichtangeboten werden kann. Bei einem Umzug sollte es un-serer Meinung nach ein generelles Sonderkündigungs-recht für die Verbraucher geben. Viele ältere Menschenlösen zum Beispiel ihre Wohnung auf und ziehen in einePflegeeinrichtung. Warum sollen sie drei Monate langfür einen Vertrag zahlen, obwohl sie keine Leistung er-halten?
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist dasThema Telefonwarteschleife sicherlich eines der wich-tigsten, die durch den Gesetzentwurf geregelt werdensollen. Es ist gut, dass die Warteschleifen bei 0180- und0900-Servicenummern für den Verbraucher künftig kos-tenfrei sein sollen oder nur ein Festpreis pro Anruf fälligsein soll. Nach unserer Meinung müssten auch Störungs-meldungen oder Anrufe in Gewährleistungsfällengrundsätzlich kostenfrei sein. Ich denke nur an die Vul-kanaschewolke. Was war das für ein Chaos; die Service-nummern waren ständig besetzt. Nicht nachvollziehbarist allerdings, warum bei diesem für die Verbraucherin-nen und Verbraucher so wichtigen Punkt eine so langeÜbergangszeit gelten soll. Selbst der Bundesrat schlägteine Übergangszeit von sechs Monaten vor und hält diesfür ausreichend.Wenn die Bundesregierung sich schon daranmacht,mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzesden Verbraucherinnen und Verbrauchern endlich mehrRechte zuzugestehen, dann sollte sie ihre Regelungenauch konsequent zu Ende entwickeln und nicht auf hal-ber Strecke stehen bleiben.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme sofort zum Ende. – Ein Anliegen ist mir
auch, eine Verbesserung im Telekommunikationsgesetz
im Sinne der Notfallpatienten mittels einer genauen Or-
tung durch Rettungsdienste zu erreichen.
Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie in unseren Antrag.
Dann sehen Sie, was bei Ihnen noch fehlt. Das wäre für
die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich ein
echter Gewinn.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht vielleicht et-was unter, aber heute legen wir als christlich-liberaleKoalition einen Meilenstein für den Verbraucherschutzvor;
denn dieses Telekommunikationsgesetz wird endlichAbzocke beenden, Bürokratie abbauen und viele Vor-gänge für die Verbraucher vereinfachen. Es reicht nicht,wenn man sich hier hinstellt und sagt, was man allesgerne hätte. Ich erinnere daran: Telefonische Warte-schleifen gibt es nicht erst, seit wir an der Regierungsind. Die gibt es schon länger.
Wer zwölf Jahre in diesem Bereich nichts getan hat,kann sich jetzt nicht hier hinstellen und sagen, dass alleszu langsam geht.
Wir lassen hier wichtige Verbesserungen wahr wer-den. Ein Anbieterwechsel muss jetzt innerhalb eines Ta-ges möglich sein. Das heißt, das Problem der wochen-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12339
Dr. Erik Schweickert
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lang toten Telefonleitungen, das viele Verbraucher, aberauch Unternehmen hatten, wird der Vergangenheit ange-hören. Viele haben einen Wechsel gescheut. Sie habengesagt: Das ist schwierig, nachher stehe ich ohne Tele-fon da. – Wenn ein solches Wechselhindernis besteht,dann wird nicht gewechselt. Deswegen sagen wir: Hiermuss es eine Sanktionsmöglichkeit geben. Die ist jetztvorhanden; denn wenn es mit dem Anbieterwechselnicht klappt, gibt es die Möglichkeit, wieder auf das zu-rückzugehen, was man hatte. Das ist eine klare Verbesse-rung für die Verbraucherinnen und Verbraucher.Wir beschleunigen auch die Chancen, dass überhauptgewechselt wird. Denn wenn wir die Telekommunika-tionsunternehmen dazu verpflichten, Varianten in einemTarif anzubieten, der maximal zwölf Monate gilt, kannschneller gewechselt werden, und die ellenlangen Klebe-verträge gehören endlich der Vergangenheit an.Wenn wir schon bei den Wechselhürden sind: Wennman viele Bekannte hat, wird die Rufnummer heute oft-mals nicht gewechselt, weil man Angst hat, dass manHunderten von Leuten die neue Handynummer gebenmuss. Dabei handelt es sich um eine sogenannte nichtökonomische Wechselhürde. Das wird im TKG ebenfallsgeändert. Jetzt kann man auch während der Vertragszeitseine Handynummer portieren bzw. mitnehmen. Manmuss zwar weiterhin zahlen, bis der Vertrag endet; dennman ist ja ein Geschäft eingegangen. Aber dass man dieNummer mitnehmen kann, ist eine große Verbesserungfür die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wenn Sie heute umziehen, haben Sie erstmals einSonderkündigungsrecht, wenn die vereinbarte Leistungam neuen Wohnort nicht angeboten wird. Ich frage mich:Wer hat denn damals die Gesetze gemacht, als es diesesSonderkündigungsrecht nicht gab? Daran sehen Sie, dasses schon einen Unterschied macht, ob hier in Deutschlandeine christlich-liberale Koalition regiert oder nicht.
Wir helfen nicht nur beim Umzug und beim Kampfgegen die Abzocke, sondern wir schaffen auch Transpa-renz bei den Abrechnungen. Wenn Leistungen Dritterüber die Telefonrechnung abgerechnet wurden, wussteman oftmals nicht, wofür man die 2 oder 3 Euro bezah-len musste, die in der Rechnung enthalten waren. Ab so-fort ist für den Verbraucher klar erkennbar, wer hinterdieser Leistung steckt. Das heißt, man kann überprüfen,ob die Leistung überhaupt in Anspruch genommen wor-den ist, und kann im Reklamationsfall viel schnelleragieren.Ich komme zur Transparenz. Frau KolleginSchwarzelühr-Sutter, ich meine, dass die Informations-pflicht Transparenz schafft. Wir schreiben jetzt fest, dassgenau angegeben werden muss, welche DSL-Geschwin-digkeiten verfügbar sind. Von daher ist das schon einedeutliche Verbesserung im Vergleich zum jetzigen Stand.Ich komme zu dem in meinen Augen wichtigsten Be-reich, den kostenfreien Warteschleifen bei Servicehot-lines. Jeder von Ihnen kennt es: Das ist nicht nur nerven-aufreibend. Man könnte das vielleicht gerade noch soakzeptieren, wenn es sich zeitlich im Rahmen haltenwürde. Es ist aber oftmals ein teurer Warteakt, weil sichKostenfallen dahinter verbergen. Manchmal ist die War-teschleife deutlich teurer als die Serviceleistung, die manin Anspruch genommen hat. Es ist egal, ob es sich umTelefonanbieter, Kabelanbieter, Pay-TV oder Sonstigeshandelt: Wir haben gesagt, dass sich Leistung lohnenmuss. Eine Warteschleife, wenn ich irgendwo anklopfe,ist keine Leistung. Deswegen schieben wir dem Ge-schäftsmodell Warteschleife einen Riegel vor und brin-gen als christlich-liberale Koalition damit den Verbrau-cherschutz voran.
Frau Kollegin Lay, Sie glauben gar nicht, wie vieleLeute mir die Tür eingerannt haben, als wir, die FDP, an-gekündigt haben, den kostenpflichtigen Warteschleifenden Kampf anzusagen. Wir waren diejenigen, die nichtfestschreiben wollten, welche Technologie umgesetztwerden muss. Wir sind standhaft geblieben. Wir stehenauf der Seite der Verbraucher und fordern: Diese Abzo-cke muss ein Ende haben. Wie die Unternehmen dastechnisch umsetzen – ob durch Offlinebilling oder On-linebilling –, bleibt ihnen überlassen. Das wird der Wett-bewerb entscheiden. Aber ganz klar ist: Wir als christ-lich-liberale Koalition gehen bei diesem Thema voran.Das Thema Internetabzocke, das Sie angesprochenhaben, ist nicht im Rahmen des TKG zu regeln – daswissen Sie genau –, sondern im Rahmen des Fernabsatz-gesetzes.
Dort müssen wir dieses Problem behandeln. Auch da-rüber werden wir diskutieren. Heute geht es allerdingsum das TKG.
Man sollte dann über ein Thema sprechen, wenn es aufder Tagesordnung steht.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Uns geht es nicht darum, irgendwelche Überwachungs-behörden zu schaffen, die Preise festsetzen und Zeitenregulieren – Stichwort: Kommunikationskombinat –,sondern wir wollen Verbraucherschutz durch Wettbe-werb. Dazu leistet dieses Gesetz einen Beitrag.
Das Wort hat nun Johanna Voß für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuschauer! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordertschon lange Breitband für alle. Daher begrüßen wir die
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12340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Johanna Voß
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Ziele der TKG-Novelle: erstens die Gewährleistung ei-ner flächendeckenden gleichartigen Grundversorgungmit Telekommunikationsdiensten und zweitens die Be-schleunigung des Ausbaus von Hochleistungsnetzen.Leider hapert es an der Umsetzung vonseiten der Bun-desregierung.Aufgrund ihrer Marktgläubigkeit ist die Bundesregie-rung – Sie, Herr Lämmel, haben das bestätigt – bereitsam ersten Ziel gescheitert. Die Unternehmen konzentrie-ren sich auf den profitablen Breitbandnetzausbau in denBallungsgebieten. Sie stürzen sich auf den gewinnträch-tigen Mobilfunk. Wo es sich nicht lohnt, muss dann dieöffentliche Hand für die Investitionen aufkommen.
Die Unternehmen müssen viel stärker in die Pflicht ge-nommen werden. Das Marktversagen dauert hier schonviel zu lange.
Die Frage gleichwertiger Lebensbedingungen überallin Deutschland hängt ganz entscheidend davon ab, dasses überall einen gleichwertigen Zugang zum Internetgibt. Wenn das nicht gewährleistet ist, kann dies die Ab-wanderung von jungen Menschen zur Folge haben.Heutzutage kann man sich ohne das Internet nicht mehrbewerben. Das sieht auch Frau Merkel so. Doch Millio-nen Menschen warten seit Jahren auf zuverlässiges,schnelles Internet. Gleichwertige Lebensbedingungenwerden ohne ausreichende Pflichtvorgaben nicht ge-schaffen. Die digitale Spaltung wird so nicht aufgeho-ben. Das muss sich ändern.Die Bundesregierung darf in Bezug auf die Schlie-ßung dieser weißen Flecken nicht allein auf die mobilenBreitbandversorger hoffen. Mobiles Breitbandinternetwird immer schlechter sein, als es Festnetzverbindungensind. Außerdem beinhalten die Ausbauverpflichtungennur eine 90-prozentige vorrangige Deckung der unver-sorgten Gebiete. Das sind nun einmal 10 Prozent zu we-nig. Wir brauchen 100 Prozent.
Doch selbst das Ende der weißen Flecken reicht nichtaus. Mittelfristig brauchen wir flächendeckend Glasfa-sernetze. – In Lüchow-Dannenberg liegen die Kabel inden Verteilstellen in den Straßen. Sie sind aber nochnicht bis zu den Häusern verlegt worden; denn hierfürfehlt den Kommunen das Geld. – Nur dann gibt es aus-reichende Kapazitäten für neue, datenintensive Anwen-dungen. Bisher haben in Deutschland nur 1,7 Prozentder Haushalte Glasfaserzugang. Um nur ein Beispiel zunennen: In Litauen – da werden Sie staunen – sind es50 Prozent der Haushalte. Daran wird deutlich: Es isteine Frage des politischen Willens.
Wir brauchen endlich den Breitbanduniversaldienst.Damit wären die Internetanbieter verpflichtet, allen Bür-gerinnen und Bürgern einen Breitbandanschluss mit ei-ner definierten Mindestqualität und zu erschwinglichenPreisen anzubieten. Damit würde verhindert werden,dass sich Unternehmen nur die Rosinen herauspickenund die dünn besiedelten Gebiete unversorgt lassen. Da-mit würde ein nachhaltiger Weg eingeschlagen werden;denn ein Universaldienst kann dem Stand der Technikimmer wieder angepasst werden. Die Chance, den Breit-bandausbau verpflichtend in die Novelle zum Telekom-munikationsgesetz aufzunehmen, wurde bisher nicht ge-nutzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, folgen Sie Ihrer Kollegin Ilse Aigner! SetzenSie sich im Rahmen dieser Novelle für den Breitband-universaldienst ein!Danke schön.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Lassen Sie mich am Ende der Debattedrei Feststellungen treffen. Erstens ist festzustellen, dassdie Breitbandstrategie der Bundesregierung, mit der wirim europäischen Vergleich ganz oben stehen, richtig underfolgreich war. Zweitens besteht aber in der Breitband-versorgung eine digitale Kluft insbesondere zwischenStädten und ländlichen Räumen. Diese Diskrepanz müs-sen wir in den Mittelpunkt des Handelns stellen. Es sindim Übrigen nicht nur ländliche Räume, sondern zum Teilauch städtische Randlagen betroffen. Das müssen wirjetzt in den Blick nehmen. Drittens ist festzustellen, dassdie vorliegende umfangreiche TKG-Novelle an die am-bitionierten Ziele der Breitbandstrategie anknüpft undwesentliche Verbesserungen im Verbraucherschutz undbei den Regelungen und Instrumenten einer klugen undinvestitionsfreundlichen Regulierung mit sich bringt.Die bisherigen sogenannten weißen Flecken und auchalle Regionen, die derzeit nur über Internetanschlüssemit einer Geschwindigkeit im einstelligen MB-Bereichverfügen, müssen wir schnellstmöglich in den Blicknehmen, um hochleistungsfähige Breitbandanschlüssezu schaffen.
Zum Stellenwert der Breitbandinfrastruktur für Bür-ger und Wirtschaft ist bereits viel Richtiges gesagt wor-den. Es ist auch richtig, was Frau Scheel gesagt hat,nämlich dass im ländlichen Bereich mit Problemen ge-kämpft wird, die ihre Ursache insbesondere in der demo-grafischen Entwicklung haben und die nicht durch diedigitale Kluft verschärft werden dürfen. Zum Teil wirdvon kleineren Gemeinden ein Aufwand in einer Größen-ordnung betrieben – die Zahlen belaufen sich teilweiseauf fünf- oder sechsstellige Summen –, der manchen
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Bernhard Kaster
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größeren Städten im Verhältnis gesehen nicht möglichwäre. Von den Kommunen wird viel geleistet, und eswird auch in Zukunft noch viel passieren müssen. Hiermüssen wir aber entsprechend anknüpfen. Deswegenwerden wir gerade diese Thematik in den Mittelpunktstellen.Der Weg zur Erschließung des ländlichen Raumesmuss ein Mix aus allen verfügbaren Technologien sein.Die LTE-Technik ist bereits angesprochen worden. Der-zeit muss beim Ausbau der LTE-Technik ein Abstandvon 30 Kilometern zu unseren Nachbarländern gewahrtwerden. Ich rege an, zu prüfen, ob das auf europäischerEbene behoben werden kann. Dabei geht es um techni-sche, vielleicht aber auch um rechtliche Fragen. Es sindgroße Bereiche betroffen, die bisher nicht teilhaben kön-nen.Ich betone nochmals: Wie kein anderes Land in Eu-ropa konnten wir in den vergangenen Jahren die Breit-banddichte und -qualität signifikant steigern. Wie sichder Telekommunikationsmarkt in Deutschland entwi-ckelt, hängt wesentlich von einer umsichtigen und klu-gen staatlichen Regulierung ab. Die Bundesnetzagenturhat in den vergangenen Jahren sehr gute Arbeit geleistet.Sie ist auch im internationalen Vergleich ein vorbildli-cher Regulierer.
Ich will den Mitarbeitern ausdrücklich Dank sagen. Inder Bundesnetzagentur wird gute Arbeit geleistet.Wir müssen uns die Frage stellen, welche Rolle dieRegulierung in der sozialen Marktwirtschaft einnimmt.Für die Union und die christlich-liberale Koalition stehthierbei ein Leitsatz ganz oben: Umsichtige Regulierungmuss den Marktteilnehmern so viel Freiheit lassen wiemöglich und so viel Grenzen setzen wie nötig. Das mussder Leitsatz für Regulierung sein.
Wir brauchen eine moderne und kluge Regulierungspoli-tik in der sozialen Marktwirtschaft. Regulierungspolitiksollte Ausdruck zeitgemäßer Gestaltung sozialer Markt-wirtschaft sein. Regulieren statt Strangulieren, das mussdie Botschaft sein.Was bedeutet das konkret? Es bedeutet die Anwen-dung wettbewerbs- und investitionsfreundlicher Regu-lierungsgrundsätze und eine Ausgestaltung des Verbrau-cherschutzes auf der Höhe der Zeit. Das heißt, dieBürger auch vor Fehlentwicklungen, die schon benanntworden sind, vor Abzocke und Betrug zu schützen,Wettbewerb am Markt und technische Innovationen undtechnischen Fortschritt zu fördern.Genau bei diesen Punkten setzt die Gesetzesnovellean. Eine ganze Vielfalt neuer Regelungen hat das Ziel,durch Wettbewerb, Innovation, Investitionen und Inves-titionssicherheit den Ausbau hoch leistungsfähiger Netzezu fördern. Hierzu gehören insbesondere ein langfristi-ges Regulierungskonzept – das bringt Investitionssicher-heit –, die Berücksichtigung von Kooperationen und an-deren Risikobeteiligungsmodellen bei Regulierungsent-scheidungen, das Recht der Bundesnetzagentur, exakteInformationen über Art, Lage und Verfügbarkeit von In-frastruktureinrichtungen einzufordern, und – das istschon angesprochen worden – die ausdrückliche Einbe-ziehung bereits vorhandener Infrastruktur auf anderenEbenen wie Leitungen und Masten. Das wird demnächstermöglicht werden.Es ist gesagt worden, diese Vorlage sei sehr umfang-reich. Mit Anlagen und Stellungnahmen sind es 238 Sei-ten. Es ist natürlich eine sehr technisch geprägte Vorlagein einer sehr technischen Sprache. Ich finde es aberschön, dass man sich auch der Sprache gewidmet hat,dass man beispielsweise Veränderungen bei den Begriff-lichkeiten vornimmt. Allein im neuen § 3 des TKG sind35 Begriffe aufgeführt, die definiert werden. Man führtdas Wort „Sprachkommunikation“ ein. Bislang war vonEchtzeitkommunikation die Rede. Auch im Kleinen sindalso Verbesserungen erzielt worden.
Wir sprechen also von Sprachkommunikation und nichtmehr von Echtzeitkommunikation.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die christlich-li-berale Koalition weiß um den Stellenwert der Telekom-munikation im 21. Jahrhundert für die Bürgerinnen undBürger und für unsere mittelständisch geprägte Wirt-schaft. Die neue TKG-Novelle wird ein wesentlicherBaustein dafür sein, dass Deutschland auf dem Gebietder Telekommunikation bei Innovation und Investitio-nen, aber auch bei Wettbewerb und Verbraucherschutzweiterhin ganz oben steht.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5707 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Engagementpolitik im Dialog mit der Bürger-
gesellschaft
– Drucksachen 17/3712, 17/5135 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen
Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Hat nicht zuerst der Antragsteller das Wort?
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Nein. Es ist sozusagen die zweite Lesung. Es ist eine
Debatte über die Antworten. Eine Debatte über die Fra-
gen hat es schon gegeben.
Dann soll es so sein. – Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen!Willst du froh und glücklich leben, lass kein Ehren-amt dir geben! Willst du nicht zu früh ins Grab,lehne jedes Amt gleich ab!Dieses Zitat wird in der Regel Wilhelm Busch, manch-mal aber auch Ringelnatz zugeschrieben. Der wahre Au-tor ist wahrscheinlich unbekannt. Aber ich habe schon ofterlebt, dass Politikerkollegen dieses Zitat bei Grußwortenund Vereinsjubiläen gebraucht haben. Diese Aussagestimmt für Deutschland eben nicht.23 Millionen Menschen engagieren sich in Deutsch-land ehrenamtlich und sehen darin eine sinnvolle Betäti-gung. Sie wollen sich ehrenamtlich, bürgerschaftlich en-gagieren. Wir schaffen dafür gute und sinnvolleRahmenbedingungen. Die Menschen, die sich engagie-ren, sind glücklicher und zufriedener als die, die sichnicht engagieren. Das wissen wir aus der Engagement-forschung, insbesondere aus den Freiwilligensurveys.Daher müsste es eigentlich heißen: Willst du froh undglücklich leben, lass ein Ehrenamt dir geben!
Für den Bereich des bürgerschaftlichen Engagementssei gesagt: Der Bund kann und soll nicht alles regeln.Wir wollen das bürgerschaftliche Engagement nicht ver-staatlichen. Das bürgerschaftliche Engagement findetvor allem auf kommunaler Ebene statt. Darum sind auchdie Kommunen und die Länder hier stark gefordert.Ein Teil der Fragen betrifft die sogenannte nationaleEngagementstrategie. Eine solche Strategie gab es bisherin Deutschland nicht. Es ist gut und richtig, dass dieBundesregierung die nationale Engagementstrategie er-arbeitet hat. Sie enthält Prinzipien und Ziele. Grundsätzewerden formuliert und konkrete Maßnahmen aufgeführt.Die Strategie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte: Integra-tion, Bildung, Bewahrung der Schöpfung, demografi-scher Wandel und internationale Zusammenarbeit. Diesefünf Punkte bilden die großen Herausforderungen dernächsten Jahre. Ich glaube, wir haben diese fünf Schwer-punkte richtig gewählt. Die Ziele sind Koordinierung al-ler Ressorts in der Engagementpolitik, ein Miteinanderder Bundesministerien, kein Nebeneinander oder sogar– das gab es noch nie – ein Gegeneinander. Der neueRessortkreis „Engagementpolitik“ hat am 1. April daserste Mal getagt.Neue Kooperationen zur Engagementförderung, ins-besondere mit der Wirtschaft und den Stiftungen: DasBundesfamilienministerium hat mit dem Bundesverbanddeutscher Stiftungen eine Steuerungsgruppe für die en-gagementfördernden Stiftungen bei der Körber-Stiftungins Leben gerufen.Verbesserung der Rahmenbedingungen, Ausbau derAnerkennungskultur: Es laufen schon die Vorbereitun-gen zur Vergabe des deutschen Engagementpreises am3. Dezember 2011 durch Bundesministerin KristinaSchröder, in diesem Jahr auch mit der Sonderkategorie„Engagement von Älteren“. Wir denken an den fünftenAltenbericht „Potenziale des Alters“ und an den sechstenAltenbericht „Altersbilder“.Sie sehen, die Ziele werden mit Maßnahmen und Tä-tigkeiten unterfüttert, und es tut sich etwas. Die Strategieist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgergesell-schaft. Sie ist ein Beitrag zur Stärkung des Miteinandersund zur Förderung des Zusammenhalts unserer Gesell-schaft.Die nationale Engagementstrategie zeigt zwei wich-tige und positive Entwicklungen auf. Zum einen: Es en-gagieren sich immer mehr Menschen, 23 Millionen über16 Jahre alte Menschen in Deutschland. Das ist gut einDrittel. Und ein weiteres Drittel ist bereit, sich zu enga-gieren. Aus dem Freiwilligensurvey wissen wir: Es gibteine Verschiebung, mehr Engagement im Bereich derÄlteren, ein etwas reduziertes Engagement im Bereichder Jüngeren. Da spiegelt sich zum einen die demografi-sche Entwicklung wider, zum anderen aber auch das et-was kleinere Zeitbudget der Jüngeren. Denken wir nuran G 8 oder an die gestrafften Studien- und Ausbildungs-gänge.Es bleibt festzuhalten: Die nationale Engagementstra-tegie ist kein abgeschlossener Prozess. Da wurde am6. Oktober letzten Jahres nicht einfach etwas vom Bun-deskabinett beschlossen und dann zur Verehrung freige-geben, sondern das ist ein Prozess, der stattfindet, eineStrategie, die lebt. Deshalb wird auch im Jahr 2011 wie-der ein nationales Forum für Engagement und Partizipa-tion einberufen, das die Umsetzung der Strategie beglei-ten soll. Wir werden auch weiterhin prüfen, inwieweitThemen, die in der Engagementstrategie bisher nochnicht berücksichtigt werden konnten, im Zuge der Um-setzung der Engagementstrategie aufgerufen werdenkönnen.Ich möchte jetzt noch auf einen anderen großen Punktin der Großen Anfrage eingehen, nämlich auf die Frei-willigendienste, insbesondere den Ausbau der Jugend-freiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst.Noch nie gab es in Deutschland so viel Geld für Freiwil-ligendienste. 350 Millionen Euro haben wir bereitge-stellt. Wir vom Bund haben früher mit 72 Euro pro Mo-nat die Jugendfreiwilligendienste gefördert. Das war dasFreiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige ÖkologischeJahr und ein bisschen mehr. Künftig werden wir das FSJmit 200 Euro im Monat fördern. Zusätzlich wird es50 Euro im Monat für junge Menschen mit besonderemBetreuungsbedarf geben. Durch das Kopplungsmodellerreichen wir, dass sich beide, die Jugendfreiwilligen-dienste und der Bundesfreiwilligendienst, gut entwi-ckeln können. 350 Millionen Euro vom Bund – es gabnoch nie so viel –, 12 Millionen Euro von den Ländern– das meiste aus Baden-Württemberg und Bayern –, und8 Millionen Euro kommen noch aus dem EuropäischenSozialfonds dazu.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12343
Markus Grübel
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Es gibt noch eine gute Nachricht zum Bundesfreiwil-ligendienst. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bun-desfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechtigungführen soll. Wir waren uns alle darüber einig, dass wirdie Gesetzeslage noch dahin gehend ändern wollen. DieKindergeldfrage wird möglichst zeitnah in einem Steuer-gesetz, in dem man es vielleicht nicht vermutet, nämlichwahrscheinlich im Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungs-gesetz, geregelt werden. Das ist ein Gesetz, in dem maneher keine Regelung zu den Jugendfreiwilligendienstenvermutet.Kollege Koch, wir haben gewettet. Ich würde schoneinmal den Wein kaufen, den Sie verlieren werden.
Wir werden hier die Kindergeldregelung einbringen.Wir schließen damit eine weitere Lücke: Bei den inter-nationalen Jugendfreiwilligendiensten haben wir zumKindergeld auch eine Regelungslücke, die so nicht zu er-klären war und zu vielen Problemen im Einzelfall ge-führt hat. Auch diese Lücke wollen wir jetzt schließen.Ich bin mir sicher, das bekommen wir hin, und glaube,damit haben sich alle Vorwürfe und Kritikpunkte derOpposition erledigt.
– Nein? Euch fällt immer wieder etwas Neues ein. Dasist klar.Ich bin auch zuversichtlich, dass wir die offenenPlätze besetzen können: 35 000 Plätze für Jugendfreiwil-ligendienste, 35 000 Plätze für den Bundesfreiwilligen-dienst. Das wird sicher nicht gleich zum 1. Juli gelingen.Auch in der Vergangenheit fingen die Jugendlichen ihrenJugendfreiwilligendienst meist nicht zum 1. Juli an, son-dern erst zum 1. September. Sie machen vorher erst nochetwas Urlaub, und dann geht es los. Das ist heute schonso, und das wird auch beim Bundesfreiwilligendienst sosein.Wir haben gute Erfahrungen mit der freiwilligen Ver-längerung des Zivildienstes gemacht. Rund 30 000 jungeMänner haben ihren Zivildienst freiwillig verlängert.Das hat sehr gut eingeschlagen. Diese Möglichkeit zurfreiwilligen Verlängerung des Zivildienstes hatten Sieals Opposition ja kritisiert, aber wir hatten hier auch inder Koalition gewissen Überzeugungs- und Erklärungs-bedarf. Aber das Ergebnis war sehr gut. 14 000 von die-sen jungen Männern sind über den 1. Juli hinaus imDienst und werden dann von freiwillig länger ZivildienstLeistenden zu Bundesfreiwilligendienstleistenden.Am Montag startet die Werbekampagne des Bundeshier in Berlin unter dem Motto „Zeit, das Richtige zutun – Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden“. Esgibt Anzeigen, Plakate, ein Bus der Linie 100, der auchhier am Haus vorbeifährt, wird beklebt, vielfältige Infor-mationen und Werbungen werden gestartet. Allen jungenMenschen, auch denen hier im Haus, rufe ich zu: Infor-mieren Sie sich! Auf der Homepage www.bundesfrei-willigendienst.de können Sie alle Informationen und al-les, was es zu diesem neuen Dienst gibt, abfragen.
Ich kann mir nur wünschen, dass sich viele ein Jahr ihresLebens Zeit nehmen, um mal etwas anderes zu tun – fürandere, aber auch für sich selber. Solch ein Freiwilligen-dienst erfüllt und bereichert das Leben.Sie sehen, die Engagementpolitik ist in der christlich-liberalen Koalition gut aufgehoben und hat bei unsererBundesregierung einen sehr hohen Stellenwert.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Ute Kumpf für die Fraktion der
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kol-lege Grübel, Sie können sich vorstellen, dass uns derBundesfreiwilligendienst als der Schlüssel für alle Pro-blemlösungen nicht genügt. Wir haben die Debatte zudem Thema bürgerschaftliches Engagement und auchzur Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engage-ments hier in diesem Haus auch schon mal umfassenderund breiter geführt. Alle, die hier im Haus sind – sodenke ich –, wissen, dass unsere Demokratie durch dasEngagement der Bürgerinnen und Bürger lebendig istund bleibt. Ich glaube, dass wir alle eine starke und le-bendige Bürgergesellschaft wollen und dass wir wollen,dass Menschen ihre Freiheit nutzen, sich zu organisie-ren, ihre Meinung zu äußern, sich auch für andere einzu-bringen, sich in Initiativen und Verbänden für das Ge-meinwohl starkzumachen. Darum werden wir vonanderen Ländern auch beneidet.Sie erleben ja gerade in anderen Ländern, dass sichviele an diesem Interesse an Demokratie orientieren,sich dafür starkmachen. Ich nenne nur das StichwortNordafrika. Aber so weit will ich gar nicht gehen.Wir wissen auch, dass bürgerschaftliches Engagementund die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger für-einander für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen,den der Staat alleine gar nicht leisten kann.Und das, was wir hier im Saal auch immer gesagt ha-ben, auch in den Ausschussdebatten und in der Arbeit inder Enquete-Kommission, ist, dass die lebendige Bür-gergesellschaft staatliches Handeln kontrollieren, korri-gieren, anspornen und ergänzen soll, aber dass bürger-schaftliches Engagement staatliches Handeln nichtersetzen kann. Aus Untersuchungen weiß man ganz klar,dort, wo der Sozialstaat seinen Pflichten nachkommt,kann sich erst eine vitale Bürgergesellschaft entwickeln.
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12344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ute Kumpf
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Wenn er das nicht tut, dann bleibt diese Bürgergesell-schaft auf der Strecke.Deswegen brauchen wir hier Demokraten. Eine De-mokratie braucht Demokraten, die sich auf gelernte undeben auch gelebte demokratische Tugenden stützen.Deswegen heißt bürgerschaftliches Engagement mehrals Bundesfreiwilligendienst. Bürgerschaftliches Enga-gement bedeutet Selbsthilfegruppen und politische Parti-zipation, das klassische Ehrenamt genauso wie das Stif-ten und Spenden von Geld, aber natürlich auch dieFreiwilligendienste.Die Zahlen wurden ja schon genannt: 23 MillionenMenschen engagieren sich in über 550 000 Vereinen, esgibt 17 000 Stiftungen – deren Zahl wächst –, es gibt Ge-nossenschaften, Netzwerke, Wohlfahrtsverbände, Sport-und Kulturvereine, Parteien, Gewerkschaften, Kirchenund viele andere Bereiche, die durch dieses ehrenamtli-che Engagement reich gemacht werden.Wir waren uns auch einig seit der Arbeit der Enquete-Kommission, dass dieses Engagement der Bürgerinnenund Bürger Anerkennung verdient, Wertschätzung, unddass die Politik die Förderung und die Ermöglichung desbürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe ver-stehen muss.Wir alle wissen – das bekommen auch Sie in IhrenWahlkreisen zu hören –, dass bürgerschaftliches Engage-ment nicht verzweckt werden darf. Es darf auch nicht alsAusfallbürge missbraucht werden, wenn Ebbe in derStaatskasse ist.
Darüber hinaus ist bürgerschaftliches Engagement nichtzum Nulltarif zu haben. Es geht nicht darum, dass dieLeute Geld haben wollen, sondern darum, dass es ge-setzliche wie auch politische Rahmenbedingungen fürbürgerschaftliches Engagement gibt. Die politischenRahmenbedingungen müssen im Dialog mit der Bürger-gesellschaft ausgehandelt werden.Diese Grundsätze, lieber Kollege Grübel – ich bitteum Aufmerksamkeit; der Kollege Riegert war damalsMitglied der Enquete-Kommission „Zur Zukunft desbürgerschaftlichen Engagements“ –, haben wir uns indieser Enquete-Kommission mühevoll erarbeitet. HerrRiegert, wie ich sehe, haben Sie das entsprechende Pa-pier vor sich liegen – wunderbar. Wir haben sehr vieleAufträge noch nicht abgearbeitet. Wir alle haben uns ge-schworen, uns diese Aufträge hier noch zur Brust zunehmen. Den Konsens, den wir durch die Enquete-Kom-mission, durch die Arbeit seit 2002 im Unterausschuss„Bürgerschaftliches Engagement“ und durch viele Ge-setze, die seit 2002 auf den Weg gebracht worden sind,erzielt haben, setzt die Bundesregierung mit ihrer natio-nalen Engagementstrategie aufs Spiel.Sie haben einen schönen neuen Ordner. In diesemOrdner gibt es einen schönen neuen Titel: Engagement-strategie. Inhaltlich verbunden ist damit nichts. Es gibtListen, es gibt Projekte; aber Sie beantworten unsereFrage danach, welches Leitbild Sie vor Augen haben,wenn Sie bürgerschaftliches Engagement fördern wol-len, nicht. Sie beantworten auch nicht die Frage, wie esmit der Infrastruktur, mit Gesetzesvorhaben, wie demZuwendungsrecht, sein soll. Man erfährt nicht, wie esmit dem Freiwilligendienst, dem Freiwilligendienst-Sta-tusgesetz und der Entbürokratisierung weitergehen soll.Alle diese Fragen werden nicht beantwortet. Ich denke,das ist misslich und – ich sage es einmal sehr zurückhal-tend formuliert – ärgert die Menschen.Die Initiative für das Nationale Forum für Engage-ment und Partizipation wurde noch in der Großen Koali-tion auf den Weg gebracht. Es wurde zugesichert, dassalles im Dialog erarbeitet wird, dass die Vorschläge inentsprechende Gesetzesvorhaben einfließen; aber Sie ha-ben dies schlichtweg negiert. Sie haben all die Vor-schläge, die mit viel Zeitaufwand, Energie und Fleiß zu-sammengetragen wurden, links liegen gelassen. Damitwird eine dialogorientierte Politik, die gemeinsam mitder Bürgergesellschaft betrieben wird, ad absurdum ge-führt.Was Sie bei der nationalen Engagementstrategie au-ßerdem außen vor lassen, ist die Beantwortung derFrage, woher das Geld kommen soll. Auf der einen Seitewird propagiert, dass Netzwerke und die entsprechendeInfrastruktur wichtig sind. Aber heimlich werden dieNetzwerke ausgetrocknet. Das BBE soll weniger Gelderhalten. Projekte, die zu Zeiten von Rot-Grün auf denWeg gebracht worden sind, sollen gekappt werden. DerFreiwilligendienst aller Generationen, bei dem viele Er-fahrungen gesammelt worden sind, soll durch den Bun-desfreiwilligendienst ersetzt werden. Es bleiben Projekt-ruinen. Viel Geld ist verschleudert worden. Daher sindauch die Leute vor Ort nicht mehr bereit, sich in anderenDiensten zu engagieren. Aus der Bürgergesellschaft hießes: Was wir jetzt erleben, ist eine gewisse Sprunghaftig-keit. Ein Projekt jagt das nächste, immer in der Erwar-tung von guten Effekten. Das alles ist nicht auf Dauerangelegt. – Deswegen schwindet die Motivation, sichweiter zu engagieren.Kein Konzept gibt es auch bezüglich der Koordinie-rung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, was dieEngagementstrategie angeht. Der Gesprächskreis am1. April, auf den Sie hingewiesen haben, genügt unsnicht. Wir wollen an dieser Stelle mehr: Wir wollen ver-bindliche Rahmenbedingungen. Es gibt auch keine Aus-kunft über das Zuwendungsrecht, obwohl das schonlange gefordert wird. Fehlanzeige auch bezüglich einernationalen Engagementstrategie.Es gibt keine vernünftige Konzeption, wie wir damitumgehen, dass unsere Gesellschaft älter, bunter und da-mit auch reicher wird. Die Älteren wollen mitreden, mit-gestalten, mitentscheiden, vielleicht mitprotestieren. Siewollen nicht auf den Bundesfreiwilligendienst vertröstetwerden; vielmehr wollen sie rechtliche Rahmenbedin-gungen für ihre Teilhabe in der Gesellschaft, vor allemfür ihre politische Teilhabe.Demokratie ist kein Schaukelstuhl, wie der KollegeMüntefering festgestellt hat. Er hat gesagt: Es geht nichtnur darum, Altersbilder zu ändern, sondern auch darum,den Älteren in der Gesellschaft gleichberechtigt einen
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Ute Kumpf
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Platz einzuräumen. Das Gleiche gilt für die Migranten:15,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik habeneinen Migrationshintergrund. 23 Prozent von ihnenengagieren sich bislang. Da liegt noch viel Potenzialbrach, das wir erschließen müssen. Es fehlen aber Anga-ben dafür, wie dieses Potenzial erschlossen werdenkann. Um sich bürgerschaftlich engagieren zu können,muss man auch Bürgerrechte haben und braucht manentsprechende gesetzliche Grundlagen, sei es das Wahl-recht auf Kommunalebene oder die doppelte Staatsbür-gerschaft. Auch hier: Fehlanzeige!Ganz zum Schluss möchte ich noch zwei wichtigePunkte anführen.Uns alle muss sehr nachdenklich machen, dass dieBertelsmann-Stiftung in der letzten Woche einen Berichtüber das Engagement von jungen Erwachsenen im Altervon 14 bis 25 Jahren vorgelegt hat, wonach dieses Enga-gement von ehemals 51 auf 31 Prozent dramatisch zu-rückgegangen ist, was dem Leistungsdruck in der Schuleund der Einführung des achtjährigen Gymnasiums ge-schuldet ist. Damit wird Engagement behindert. Genaudas Gleiche gilt für die Verschulung des Studiums,wodurch keiner mehr in der Lage ist, sich neben demStudium in der Hochschule zu engagieren. Zu dieserEntwicklung sagen Sie in der nationalen Engagement-strategie nichts.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, ich weiß; ich darf noch etwas reden. Ich habe den
Kollegen Sönke Rix gebeten, dass ich noch einen weite-
ren Punkt ansprechend darf, wenn ich mit der Zeit nicht
ganz auskomme.
Nein.
Das geht zu seinen Lasten; das haben wir schon ganz
kollegial vereinbart.
Gut, das geht zu seinen Lasten.
Ich möchte gerne noch einen Punkt ansprechen, näm-
lich den Missbrauch des Ehrenamtes.
– Nein, nein; ich bin gleich fertig. – Wir selbst haben uns
im Unterausschuss ausgiebig damit beschäftigt.
Es gibt die Tendenz, dass für Tätigkeitsfelder in be-
stimmten sozialen Bereichen Stellen ausgeschrieben
werden, nämlich 400-Euro-Jobs zuzüglich der Übungs-
leiterpauschale. Wir alle kennen das Problem und warten
auf die Antwort der Bundesregierung – auch im Rahmen
der nationalen Engagementstrategie – auf die Frage, wie
sie diesen Missbrauch mit entsprechenden gesetzlichen
Maßnahmen unterbinden wird. Das bürgerschaftliche
Engagement wird dadurch nämlich diskreditiert, und es
wird nicht dafür geworben, dass sich mehr Menschen für
die Gesellschaft einbringen, wenn sie ausgenutzt werden
und wenn auf diese Weise eine sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung umgangen wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die Fraktion
der FDP.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Das bürgerschaftliche Engage-ment gewinnt gravierend an Bedeutung. Das liegt auchan tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen wiedem demografischen Wandel, der höheren Lebenserwar-tung und der Integration von Migrantinnen und Migran-ten. Durch das freiwillige Engagement jedes Einzelnenwird daher ein immer wichtigerer Beitrag zum Zusam-menhalt unserer Gesellschaft geleistet.Der nationalen Engagementstrategie widmet sich diechristlich-liberale Koalition mit einer ressortübergreifen-den Aufmerksamkeit. Wir sind dabei, die großen Zieledieser Strategie umzusetzen, weiterzuentwickeln undauszubauen.Eines der großen Ziele ist eine bessere Abstimmungzwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund.Durch die Entwicklung neuer Gesetzesvorhaben habenwir es geschafft, die Gestaltungsmöglichkeiten auf kom-munaler Ebene zu verbessern.Dabei denke ich zum Beispiel an den Gesetzentwurfzur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, wodurch derErwerb des sogenannten Feuerwehrführerscheins er-leichtert werden soll. In Zukunft wird es den freiwilligenFeuerwehren und den Rettungsdiensten ermöglicht, ihreNachwuchskräfte auf Einsatzfahrzeugen bis 7,5 Tonnenselbst auszubilden und zu prüfen. Wir sichern damit ihreEinsatzfähigkeit; denn mit dem EU-Führerschein derKlasse B dürfen nur Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen gefahrenwerden. Mit diesem Gesetzentwurf der christlich-libera-len Regierung stärken wir das ehrenamtliche Engage-ment der vielen jungen Menschen, die bei der Feuerwehrund bei den Katastrophen- und Hilfsdiensten unsere Ge-sellschaft mit ihrem freiwilligen Einsatz unterstützen.
Durch den Abbau von Barrieren und die Schaffungvon Freiräumen auf kommunaler Ebene steigern wir dieMöglichkeit des Einzelnen, einen Beitrag zum bürger-schaftlichen Engagement zu leisten. Im Hinblick auf den
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12346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Heinz Golombeck
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eingangs erwähnten demografischen Wandel und die al-ternde Gesellschaft stehen wir vor neuen generations-übergreifenden Herausforderungen.Unser Ziel ist es, das aktive Altern und die Würdedieser Menschen zu berücksichtigen. Mit dem Pro-gramm der Bundesregierung „Alter neu denken – Alters-bilder“ stößt die Bundesregierung eine breite Debatte zuden Altersbildern in unserer Gesellschaft an. Langfristigsollen dadurch Kompetenzen und Stärken älterer Men-schen in den Vordergrund gerückt werden und Rahmen-bedingungen für ein lebenszugewandtes Altern geschaf-fen werden.Mit bestehenden Infrastruktureinrichtungen wie Se-niorenbüros insbesondere im ländlichen Raum ermögli-chen wir den vielen älteren Menschen, die sich engagie-ren möchten, ihre Kompetenzen einzubringen. Räume zuschaffen, in denen sich Alt und Jung gemeinsam bürger-schaftlich engagieren, ist ein ganz wichtiger Bausteinzur Sicherung von Teilhabe, von Zugehörigkeit und vonIntegration.Neben der Integration von Menschen mit Behinde-rungen zielt die nationale Engagementstrategie auf einenerhöhten Handlungsbedarf bei der Integration von Mi-grantinnen und Migranten. 18,4 Prozent der Bevölke-rung in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.Um eine gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderinnenund Zuwanderer zu ermöglichen und ein soziales Zu-sammenleben zwischen ihnen und Einheimischen zustärken, fördert die Bundesregierung mit dem bundes-weiten Integrationsprogramm verschiedene Projekte zursozialen und gesellschaftlichen Eingliederung.Aus Sicht der FDP müssen die Betroffenen jedochauch selbst bereit sein, sich den Herausforderungen derIntegration zu stellen,
und diese aktiv zu unterstützen; denn Selbsthilfe als eineder bedeutendsten Engagementformen schafft Hilfe fürsich selbst und andere.Unser Ziel ist es, das bürgerschaftliche Engagementstärker öffentlich anzuerkennen; denn Anerkennung istein ganz besonders wichtiger Ansatz in der Engagement-politik und stärkt zudem die Integration. 2010 wurde vonder Bundesregierung erstmals eine Integrationsmedaillefür Personen mit Migrationshintergrund verliehen, dieeinen vorbildhaften Beitrag für ein gutes Miteinandergeleistet haben.Mit einer nachhaltigen Engagementpolitik schaffenwir es, Brücken zu bauen – Brücken zwischen den Gene-rationen und Kulturen, in der Integrationsarbeit undeuropaweit.Mich freut es besonders, dass das Jahr 2011 zumEuropäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit erklärtwurde. Wir wollen dieses Jahr 2011 nutzen, um die Rah-menbedingungen für das ehrenamtliche Engagementweiter auszubauen und neue Ideen zu schaffen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Werte Gäste! Wie der Präsident vorhin richtiger-weise festgestellt hat, befassen wir uns heute nicht mitder Anfrage, sondern mit den Antworten der Bundes-regierung auf die darin gestellten Fragen. Die Anfrageselbst hat von der Fragenseite her das Spektrum derEngagementpolitik weiträumig abgedeckt. Liest mansich dagegen die Antworten der Bundesregierung auf die70 Fragen durch, stellt man fest, dass teilweise sehr aus-führliche, mit Beispielen unterfütterte Antworten gege-ben werden. Man stellt aber zugleich kopfschüttelndfest, dass fast alles sehr oberflächlich und letztendlichunkonkret bleibt.Ich muss schon sagen: Einen nachhaltigen Plan, einekonsistente Strategie zur Stärkung und Förderung desbürgerschaftlichen Engagements haben Sie offensicht-lich nicht.
Sie verfahren nach dem Motto: Wenn wir nicht mehrweiterwissen, wird uns schon ein Freiwilligendienst ret-ten. – Ein gutes Beispiel dafür ist die Antwort aufFrage 30. Es geht um die Chancen der Teilhabe von Ge-ringverdienenden und von Menschen mit einfachen Bil-dungsabschlüssen am Engagement. Sie verweisen in Ih-rer Antwort herrlich unkonkret „auf die allgemeinenMaßnahmen der Regierungspolitik“ sowie auf verschie-dene Freiwilligendienste.Bürgerschaftliches Engagement ist mehr als Freiwilli-gendienst. Befreien Sie sich endlich von dieser einseiti-gen Blickverengung.
Sie wollen Geringverdienende ja gar nicht aus ihrer pre-kären Situation herausbringen.Die Linke fordert hingegen die Einführung eines flä-chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns,
der in der laufenden Wahlperiode auf 10 Euro proStunde erhöht wird und Jahr für Jahr in dem Maßewächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen.
– Ich hoffe, man hört Ihre Zwischenrufe.
Damit verbunden wollen wir eine deutliche Anhe-bung des Eckregelsatzes für Hartz-IV-Beziehende auf
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Harald Koch
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500 Euro sowie des Kinderregelsatzes. Mittelfristigbrauchen wir eine bedarfsdeckende und sanktionsfreieMindestsicherung.
Was die sogenannten bildungsfernen Schichten – einschrecklicher Begriff für mich – anbelangt, treten wir füreine gebührenfreie und gute Bildung für alle Kinder undJugendlichen ein, unabhängig vom Geldbeutel und vomBildungsstand der Eltern. Dies fängt an mit gebühren-freier, ganztägiger und hochwertiger Kinderbetreuung.Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, aufdiese Weise könnten Sie tatsächlich schon frühzeitig dieaktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damitdas bürgerschaftliche Engagement stärken. Fangen Sieendlich damit an! Denn Ehrenamt darf keine Frage desGeldbeutels, der Ausbildung oder der Herkunft sein.In der Antwort auf Frage 55 schreiben Sie, dass sichErwerbslose seltener bürgerschaftlich engagieren. LautFreiwilligensurvey 2004 sind 27 Prozent aller Erwerbs-losen engagiert. Ich finde, das ist schon eine beachtlicheQuote. Aber ist Ihnen das Engagement dieser Menschenüberhaupt willkommen? Ich glaube nicht, wenn man be-denkt, dass künftig – das sollte man sich einmal auf derZunge zergehen lassen – Ehrenamtsentschädigungen wieErwerbseinkommen behandelt und somit auf die monat-liche Regelleistung angerechnet werden sollen.
Indem Sie möglichst viele Menschen in die Freiwilli-gendienste drücken wollen, verlieren Sie zudem aus denAugen, dass sich viele zum Beispiel in Erwerbslosenini-tiativen engagieren. Sie müssen daher die Rahmenbedin-gungen für bürgerschaftliches Engagement auch außer-halb der Freiwilligendienste stärken.Hier war schon oft von Anerkennung die Rede. DieAnerkennungskultur muss unter anderem durch regel-mäßige Berichterstattung in allen Medien, insbesondereden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sowiedurch stärkere Nutzung des Internets für Informationund aktive Beteiligung gestärkt werden.
Bürgerschaftliches Engagement muss als wichtigeQualifikation gerade bei Einstellungen im öffentlichenSektor berücksichtigt werden. Flächendeckende Kompe-tenznachweise sind deshalb nötig.Das Antrags- und Abrechnungsverfahren für öffentli-che Zuwendungen muss einfacher, verständlicher sowietransparenter sein. Weiterbildung von Engagierten hatals Bildungsurlaub zu zählen. Und es müssen kostenfreieQualifikations- und Fortbildungskurse angeboten wer-den. Ein weiteres Stichwort möchte ich noch nennen,nämlich Versicherungsschutz während der Ausübungdes Ehrenamts.Der Linken ist insgesamt wichtig, dass bürgerschaftli-ches Engagement nicht reguläre Arbeits- und Ausbil-dungsplätze verdrängt und dass es nicht Bund, Länderund Kommunen Stück für Stück von der Erfüllung ge-sellschaftlicher Aufgaben befreit. Um aber Aufgaben deröffentlichen Daseinsvorsorge erfüllen zu können, müs-sen Länder und Kommunen dazu auch finanziell in dieLage versetzt werden. Die Linke hat diesbezüglich zahl-reiche Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Bei-spielsweise fordern wir, dass die Gewerbesteuer zurGemeindewirtschaftsteuer unter Einbeziehung aller un-ternehmerisch Tätigen weiterentwickelt und eine Vermö-gensteuer als Millionärsteuer eingeführt wird.Aber nicht nur die Rahmenbedingungen des bürger-schaftlichen Engagements auch außerhalb der Freiwilli-gendienste müssen gestärkt werden, sondern ebenso dasWechselspiel des Engagements mit Familie und Beruf.Hier steht die Bundesregierung völlig blank da. Gesetzli-che Initiativen zur Vereinbarkeit von regelmäßigemEngagement mit Familie, Schule, Ausbildung und Berufsowie Maßnahmen für eine engagementfreundliche Zeit-politik, zum Beispiel bezogen auf die Arbeitszeiten,plant die Bundesregierung nicht, wie die Antwort aufFrage 16 zeigt. Das ist ein Armutszeugnis.
Sie betonen immer voller Freude, dass Engagement-bereitschaft und Kompetenzbewusstsein der Bürgerin-nen und Bürger gewachsen sind. Dann verkünden Siedas doch nicht nur scheinheilig, sondern tragen demauch politisch Rechnung, indem Sie eine politische Kul-tur der Beteiligung fördern! Denn die Menschen wollensich nicht nur im Kleinen engagieren, sondern ebenfallsin der großen Politik und in ihrem Lebensumfeld mitbe-stimmen. Und sie sind auch fähig dazu. Führen Sie end-lich Volksentscheide auf Bundesebene ein!Danke schön.
Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr StaatssekretärKues! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema„bürgerschaftliches Engagement“ ist natürlich viel um-fassender, Herr Koch; es lässt sich nicht auf die Funktionals Ausfallbürge für staatliche soziale Verantwortung re-duzieren.
Sehr viele Menschen engagieren sich – das sage ich alseine, die aufgrund einer solchen Tätigkeit überhaupt erstzu einer Partei gekommen ist – deshalb bürgerschaftlich,weil sie, ob allein oder gemeinsam mit anderen, irgend-etwas in ihrem Lebensumfeld verbessern oder verändernwollen. Sie wollen möglicherweise nichts direkt mit eta-blierten Strukturen zu tun haben. Es gibt sogar viele Ini-
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tiativen, die bewusst auf Staatsgeld verzichten, weil sienicht staatsnah sein wollen, weil sie kreativ, lebendigund engagiert in ihrem persönlichen Lebensumfeld wir-ken wollen. Deshalb ist es viel zu kurz gegriffen, wennSie in dem bestehenden Diskurs sagen, dass alles ganzfurchtbar sei, weil der Staat sich aus der sozialen Verant-wortung zurückziehe.
Sie haben dabei die vielen Menschen nicht im Blick, diesich engagieren wollen, die etwas unternehmen wollen,unabhängig davon, ob es dafür eine Schublade oder ei-nen Kasten gibt. Diese Menschen mit in den Blick zunehmen, ist aber ganz wichtig, wenn man über bürger-schaftliches Engagement in der Breite spricht.Natürlich ist die Sorge nicht ganz unbegründet, dass,wenn der Staat sich in sozialen Kernfragen aus der Ver-antwortung zieht, bürgerschaftliches Engagement als Er-satz für staatliche Leistung herhalten muss. Aber das istnur ein Teil des Diskurses. Den anderen Teil blenden Sieaus. Das reduziert die Debatte so weit, dass sie der Sacheund dem Engagement der vielen Menschen nicht gerechtwird.
Ein zweiter Punkt. Ich finde, dass die Debatte überdas Thema „bürgerschaftliches Engagement“ – auchwenn Sie, Herr Grübel, sich bemüht haben, deutlich zumachen, dass die Regierung hier wirklich etwas vorhat –vonseiten der jetzigen Bundesregierung unglaublich lei-denschaftslos begleitet wird, insbesondere vonseiten derMinisterin und ihres Ministeriums.
Wo sind denn die flammenden Plädoyers für bürger-schaftliches Engagement? Wo ist die Leidenschaft in Be-zug darauf, gemeinsam mit den Ländern, Städten undGemeinden darüber zu diskutieren, wie wir in dieserFrage weiter vorankommen? Wo ist der aktuelle Bezug?Wir haben doch genügend Gelegenheiten – massive Zu-stimmung zu und Beteiligung an Volksentscheiden, anVolksabstimmungen, die Vorgänge um Stuttgart 21, dieAuswahl von Begriffen wie „Wutbürger“ –, darüber zudiskutieren, was in dieser Gesellschaft eigentlich los ist.Warum wenden sich Menschen von der etablierten Poli-tik ab? Warum fordern sie andere Formen der Einmi-schung ein? Wir haben wirklich viele aktuelle Anlässe,um vertieft darüber zu diskutieren.
Was ist Ihre Antwort darauf? Die nationale Engage-mentstrategie! Sie haben sieben Punkte auf wie vielenSeiten auch immer aufgeschrieben, die eigentlich nichtsNeues beinhalten, sondern seit Jahren, ob von der Gro-ßen Koalition oder in anderen Konstellationen, in ir-gendeiner Art und Weise durchgeführt wurden oder wer-den und weitergeführt werden. Was ist das Besondere andieser nationalen Engagementstrategie? Das können we-der Sie noch die Ministerin erklären; die Ministerin kannauf diesem Feld ohnehin nur sehr wenig erklären.
– Nein, das ist so, Frau Fischbach. Ich begleite dasThema seit fünf Jahren, und ich sage Ihnen: Die jetzigeMinisterin entwickelt bei diesem Thema keine Leiden-schaft, und das ist auch der Grund, weshalb wir so wenigdarüber reden.
Ein weiteres Thema: der Bundesfreiwilligendienst.Der Bundesfreiwilligendienst muss jetzt für die Behaup-tung herhalten, dass etwas ganz Besonderes passiert.Herr Grübel, es gibt aber ganz viele Baustellen, an denenSie nichts geregelt haben: Wir haben verschiedene Frei-willigendienste, die alle unterschiedlich wirken. Wir ha-ben immer noch kein Freiwilligenstatusgesetz; es istauch unklar, wann es kommen soll.Wir haben keine Anschlussregelung – ich finde eswirklich nicht in Ordnung, dass Sie in der Öffentlichkeitimmer wieder das Gegenteil vermitteln – für das Bun-desprogramm „Freiwilligendienste aller Generationen“.Wir bemühen uns seit Jahren um dieses Programm, undzwar parteiübergreifend. Die fehlende Anschlussrege-lung muss man kritisch ansprechen. Wir hatten da nie ei-nen Dissens. Wir haben immer gesagt: Das ist ein inte-ressantes Angebot, weil es einen anderen Blick auf dasThema der älter werdenden Gesellschaft eröffnet, weil esdem Wunsch Älterer gerecht wird, sich einzubringen,weil es eine Antwort auf die Frage des Miteinanders derGenerationen bietet. Jetzt sagen Sie ein bisschen ver-schwiemelt: Wir haben ja demnächst den Bundesfreiwil-ligendienst, der für alle Generationen offen ist. – Das istaber etwas ganz anderes und deckt sich überhaupt nichtmit dem Programm „Freiwilligendienste aller Generatio-nen“, das sehr gut nachgefragt wird und viel Zuspruchhat; das sagt nur kein Mensch.Wir haben keine Anschlussregelung für die Freiwilli-gendienste aller Generationen. Herr Kues, wo bleibtdenn die Anschlussregelung? Soll das alles jetzt wirklichdurch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden? Daswäre etwas substanziell völlig anderes: Beim Bundes-freiwilligendienst könnten sich ältere Menschen amEnde ihres Berufslebens nicht einfach vier oder fünfStunden in der Woche engagieren; wir reden hier von ei-nem Dienst. Der große Unterschied liegt darin – das wis-sen Sie –, dass man sich beim Bundesfreiwilligendienstzu mindestens 20 Stunden Engagement, wenn nicht so-gar noch mehr, verpflichten muss. Das ist doch etwasganz anderes; das geht an den Bedürfnissen vieler ältererMenschen, die sich engagieren wollen, völlig vorbei.
Dies besagt auch der Freiwilligensurvey. Es gibt viele äl-tere Menschen, die sich engagieren wollen, aber nichtsozusagen in einem Halbtagsjob oder mit 25 Wochen-
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Britta Haßelmann
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stunden und mehr, sondern für vier oder fünf Stunden inder Woche.Ich konnte in der kurzen Zeit nur zwei Beispiele nen-nen. Sie machen aber deutlich: Sie produzieren hier zwarviele Hochglanzbroschüren und viele warme Worte nachaußen, aber bewegen bei diesem Thema im Moment sehrwenig Substanzielles und diskutieren darüber auch sehrwenig. Wir führen nicht zusammen und fragen nicht,was in den einzelnen Ressorts gemacht wird. Welche tol-len Ideen oder Projekte zum bürgerschaftlichen Engage-ment werden denn im Außenministerium, im Gesund-heitsministerium oder im Innenministerium verfolgt?Das Familienministerium könnte sich doch einmal da-rum kümmern. Sie sind erst jetzt, im April, auf die Ideegekommen, eine Arbeitsgruppe dazu einzurichten, umzusammenzuführen, was in den unterschiedlichen Fel-dern passiert. Ich glaube, damit werden wir dem aktuel-len gesellschaftlichen Bedürfnis der Menschen, sicheinzubringen, sich zu engagieren und fördernde, unter-stützende Strukturen zu nutzen, nicht gerecht.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Deshalb muss man Sie an dieser Stelle kritisieren und
Sie ermuntern, aktiver zu werden und sich nicht nur auf
die Schulter zu klopfen.
Das Wort hat nun Klaus Riegert für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich findees schön, dass sich die SPD der Fleißaufgabe gestellt hat,sich 70 Fragen zum bürgerschaftlichen Engagement aus-zudenken.
Ich finde aber auch, dass wir die Ministerien dafür lobensollten, dass sie mit dem gleichen Engagement auf fast50 Seiten Antworten gegeben haben.
Ich richte mich damit an die Zuschauerränge, denn hierwurde versucht, den Eindruck zu vermitteln, die Ant-worten seien dürftig. Das sind fast 50 Seiten Antwortenauf 70 Fragen aus vielen Bereichen. Ich denke, damit ha-ben sich die Ministerien Anerkennung verdient.Wenn ich daran denke, wie das Bundesverkehrsminis-terium für den Feuerwehrführerschein gekämpft hat,dann komme ich zu dem Schluss: Wir sollten nicht im-mer nur meckern, sondern auch einmal sagen, dass dagute Arbeit geleistet wird.
Die einen vermissen die Strategie und die anderen dieLeidenschaft. Sie wissen, dass unser früherer StuttgarterOberbürgermeister Rommel einmal gesagt hat: Demo-kratie ist nicht da, um Begeisterung zu organisieren. –Ich glaube, dass das Ministerium das weite Feld in denBlick nimmt. Man hat gemerkt, dass wir sehr stark insKlein-Klein gekommen sind.Es handelt sich um ein Konsensthema, Frau Kumpf,das sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungeneignet. 1995 haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion eine Arbeitsgruppe eingerichtet und über 60 Orga-nisationen und Verbände angehört. Dann haben wir eineGroße Anfrage an unsere eigene Regierung gerichtet,gegen Widerstände aus der Regierung; denn man hat esnicht so gern, wenn die eigene Regierungskoalition eineGroße Anfrage einbringt. Am 5. Dezember 1997 führtenwir das erste Mal nach dem Krieg eine Debatte über bür-gerschaftliches Engagement und Ehrenamt.Daraus ist eine Enquete-Kommission erwachsen. Ichhabe mir die Unterlagen noch einmal herausgesucht. Eslohnt sich, sie zu lesen.
Der Bericht ist ein dicker Wälzer, der schöne Sondervo-ten enthält, von denen man das eine oder andere durch-aus zitieren kann, beispielsweise zur direkten Demokra-tie. Er enthält eine wunderbare Passage:Die direktdemokratischen Elemente haben in denKommunen mit zu einer „neuen Gewaltenteilung“beigetragen und sie haben damit dem Partizipa-tionsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger Rech-nung getragen.
– Auf kommunaler Ebene. – Jetzt raten Sie mal, welcherSachverständige ein Sondervotum abgegeben hat! Daswar Ihr Sachverständiger, nämlich Professor Dr. RolandRoth. Er hat in einem Sondervotum ausführt:Diese Einschätzung überzeichnet die Möglichkei-ten von Referenda in der politischen Kultur derBundesrepublik Deutschland.Ihr eigener Sachverständiger hat so Stellung bezogen.
Dann haben wir richtigerweise einen Unterausschussgegründet.Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Oppo-sition und uns. Sie fordern auf der einen Seite immer:Gesetze, Gesetze, Gesetze. Wann bringt ihr dieses Ge-setz oder jene Verordnung?
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Klaus Riegert
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Auf der anderen Seite beklagen Sie Bürokratie. So funk-tioniert das natürlich nicht.
Wir sind für einen freiheitlichen Ansatz und die Über-nahme von Verantwortung. Wir sind gemeinsam derMeinung, dass wir eine Anerkennungskultur entwickelnmüssen. Der Bürger muss in der Tat im Mittelpunkt ste-hen.
Aber neben den Rahmenbedingungen auf Bundes-ebene sind auch wichtig die Länder und Kommunen,Verbände, Vereine und Stiftungen, die Arbeitswelt, derBereich „Erziehung und Bildung“ und die Medien. Des-halb glaube ich, dass wir den Kreis der Adressaten vielweiter fassen müssen, statt immer nur zu rufen: Wasmacht das Ministerium? Wo bleibt die Leidenschaft derMinisterin?
Schauen Sie sich die aktuellen Programme und Initia-tiven an! Es gibt den Bundesfreiwilligendienst, die „Ak-tion zusammen wachsen“, FSJ, FÖJ, „weltwärts“, dieCivil Academy; übrigens vom BBE gemeinsam mit derBP AG initiiert. Sie haben den Vorwurf in den Raum ge-stellt, man wolle die Netzwerke abwürgen.
Ich kann Ihnen Ihr eigenes Votum vorlesen. Sie habenselber beschlossen:Die Selbstorganisation der Bürgergesellschaft trägtdem Bedürfnis nach einer nationalen Interessen-vertretung bürgerschaftlichen Engagements ebensoRechnung wie dem Anliegen einer Vernetzung derSektoren. Sie kann nicht vom Staat initiiert werden,sondern muss sich aus bestehenden Strukturen derBürgergesellschaft heraus bilden und sich selbstihre Form geben.Das kann doch nicht heißen, dass wir als Bund achtJahre lang diese Veranstaltung finanzieren und 240 Mit-glieder – beispielsweise die Deutsche Bank – keineDrittmittel einbringen, um das Vorhaben entsprechendzu unterstützen. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist,dass das BBE Drittmittel einwirbt und auch selbst fürMittel sorgt.Weil sie nicht hängen geblieben sind, darf ich Ihnendie vier strategischen Ziele der nationalen Engagement-strategie noch einmal kurz nahebringen.Erstens. Der Ressortkreis. Frau Haßelmann, in densieben Jahren, in denen Sie mitregiert haben, gab es kei-nen Koordinationskreis. Jetzt sitzt man in den Ministe-rien zum Thema Engagementpolitik zusammen und hatzum ersten Mal konkrete Themen vereinbart. Man wirdauch die Arbeit in der Bund-Länder-Gruppe intensivie-ren.Zweitens. Neue Kooperationen. Zu nennen ist die Zu-sammenarbeit – Markus Grübler hat es angeführt – mitdem Bundesverband Deutscher Stiftungen und mit Un-ternehmen. In diesem Bereich sind Förderprogrammegeplant, etwa zum sozialen Unternehmertum, und Wir-kungsmessungen.Drittens. Dialogforen. Im nationalen Forum, das seitdem 1. März der Deutsche Verein betreibt, gibt es zweiForen zu Engagement und Integration. Im Herbst wird esdrei Foren zu Engagement und Bildung geben. Ziel istes, die Rahmenbedingungen zu verbessern.Viertens. Anerkennungskultur. Zu nennen ist die Ver-gabe des Deutschen Engagementpreises. Ich glaube, die23 Millionen Engagierten in Deutschland haben es ver-dient, dass wir ihnen unter dem Motto „für mich. für uns.für alle“, das wir gemeinsam mit der Sparkasse und denkommunalen Spitzenverbänden tragen, unseren Dankund unsere Anerkennung zeigen, aber auch unsere wei-tere Unterstützung zusagen.
Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsetzen uns heute aufgrund der Antworten auf die An-frage der SPD-Fraktion zur Engagementstrategie zu ei-ner, wie ich finde, durchaus guten Zeit mit dem Thema„bürgerschaftliches Engagement“ auseinander. Das ge-schieht nicht irgendwie am Rande, am Donnerstagabendzum Beispiel, oder zu irgendeiner anderen Zeit, sondernjetzt am Donnerstagnachmittag, vielleicht mit ein wenigmehr Öffentlichkeit. Das ist schon wieder ein Fortschritt,den wir gemeinsam erzielt haben.Was bedeutet eine solche Engagementstrategie? Ei-gentlich soll das eine Politik aus einem Guss sein. Für unsSozialdemokraten ist der Bereich des bürgerschaftlichenEngagements ein eigenständiges Politikfeld. Wir brau-chen dazu ein abgestimmtes Konzept. Das scheint es inder derzeitigen Strategie nicht zu geben. Die 50 Seitenumfassenden Antworten – um da ein wenig von dem Lobzurückzunehmen – sind Bestandteil dessen, was in derEngagementstrategie schon aufgeführt worden ist. Damitsind nicht automatisch die guten Fragen beantwortet, diewir gestellt haben.Die Strategie, die vonseiten der Bundesregierung vor-gelegt wurde, ist nur eine Zusammenstellung von bereitslaufenden Projekten und Initiativen. Das wiederum istnicht wirklich Politik aus einem Guss.
Was bedeutet eine Engagementstrategie noch? Eswäre gut, wenn es hier zu besonderen Initiativen kom-men würde, um im Bereich des bürgerschaftlichen Enga-gements fortschrittlich zu sein. Wo aber sind diese Initia-tiven? Neben dem Sammeln der weiteren Projekte fehltes an Initiative; es fehlt eine Neuerung im Bereich des
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Sönke Rix
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bürgerschaftlichen Engagements. Zu Zeiten der GroßenKoalition hat Peer Steinbrück als Finanzminister immer-hin die „Hilfen für Helfer“ auf den Weg gebracht. Wirwaren in dem Bereich innovativ und haben gesagt: DieEhrenamtler, die dort aktiv sind, wollen wir mit unserenMöglichkeiten und auch mit Gesetzen – Gesetze bedeu-ten nämlich nicht immer gleich automatisch neue Büro-kratie,
sondern können durchaus auch eine Entlastung sein, lie-ber Herr Riegert – unterstützen.
Wir waren initiativ. Wo aber sind die Erneuerungenund Initiativen der schwarz-gelben Bundesregierung?Fehlanzeige an dieser Stelle! Sie sagen – das ist schonmehrfach erwähnt worden –: Der große Wurf zum bür-gerschaftlichen Engagement ist der Bundesfreiwilligen-dienst.
Zitat aus mehreren Reden: Das ist unsere Leistung; dasist das Größte, was in den vergangenen Jahren auf demGebiet der Engagementpolitik erreicht worden ist.Ich will Ihnen die Widersprüche dazu aufzählen. Siewaren es, Herr Grübel, der eben gesagt hat, bürger-schaftliches Engagement dürfe nicht verstaatlicht wer-den.
Sie haben, ebenso wie Herr Riegert, deutlich gemacht:Wir wollen keine Verstaatlichung des bürgerschaftlichenEngagements.
Wieso aber dann ein staatlich organisierter Freiwilligen-dienst, zentral organisiert vom Bundesamt für Zivil-dienst oder demnächst Bundesamt für zivile Fragen oderwie auch immer Sie es nennen wollen? Das ist keine Er-neuerung und auch nicht wirklich eine Entstaatlichungvon bürgerschaftlichem Engagement.
Sie haben eine große Chance vertan. Der Wegfall desZivildienstes und die Neuorganisation der Dienste botendie Chance, einen Teil des Dienstes in anderer Form wei-terzuführen. Wir hätten uns natürlich gewünscht, dassFSJ und FÖJ weiter ausgebaut worden wären. Sie hättenaber auch eine Antwort auf die Frage geben müssen, wieman bürgerschaftliches Engagement in struktureller Hin-sicht besser unterstützen kann. Sie hingegen stellen dieInfrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements bei je-der Haushaltsberatung erneut infrage. Dabei geht es nichtnur um das Bundesnetzwerk, sondern auch um die Frei-willigenagentur, die Mehrgenerationenhäuser und dieFreiwilligendienste aller Generationen, die schon ange-sprochen worden sind. Immer sagen Sie: Schluss mit die-sen Projekten! Sie finden keine Anschlussfinanzierungund keine Anschlusslösung. Ihre Antwort lautet: Wir ha-ben ja den Bundesfreiwilligendienst. – Dazu kann ich nursagen: Das ist viel zu kurz gesprungen.
Sie weisen darauf hin, was die Mehrgenerationenhäu-ser jetzt alles leisten sollen. Sie sollen quasi die Freiwil-ligenagenturen ersetzen, die Freiwilligendienste allerGenerationen beherbergen usw. Die Frage, wie es mitden Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll, habenSie aber noch nicht beantwortet.
Wir können aber nicht mit unfertigen Konzepten andereunfertige Konzepte ergänzen.Da gerade das Thema „direkte Demokratie“ ange-sprochen worden ist und von abweichenden Voten imZusammenhang mit dem Kommissionsbericht die Redewar, sage ich: Natürlich ist es fortschrittlich, wie dieKommunen mit der Bürgerbeteiligung umgehen. Aberes gibt dabei auch Schwierigkeiten. Es ist sehr schwer,Mehrheiten zu organisieren. Im Raum stand nicht dieAussage, dass das schlecht ist, sondern im Raum standdie Forderung nach einer Ausweitung auf die Bundes-ebene. Wir sind für die Bundesebene zuständig. Hierzuist von schwarz-gelber Seite aber leider nichts zu hören.
In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Stärken Sie dieInfrastruktur für das bürgerschaftliche Engagement!Lassen Sie da nicht nach! Denn die Kosten, die durch ei-nen Wegfall des bürgerschaftlichen Engagements entste-hen würden, würden den Bundeshaushalt an andererStelle deutlich stärker belasten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Florian Bernschneider für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Natürlich sind die Freiwilligendienste eine Formbürgerschaftlichen Engagements. Deswegen spricht garnichts dagegen, auch an dieser Stelle über die Freiwilli-gendienste zu reden. Ich glaube, es spricht auch nichtsdagegen, das bisher Erreichte herauszustellen:
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Florian Bernschneider
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Mit dem Freiwilligendienstkonzept der Koalition erhal-ten so viele Menschen wie nie zuvor die Gelegenheit,noch in diesem Jahr einen Freiwilligendienst anzutreten.Deswegen sage ich Ihnen, bei aller Anerkennung der so-zialdemokratischen Erfolge für die Freiwilligendienste,ganz selbstbewusst: Selbst wenn das Freiwilligendienst-konzept das Einzige wäre, was die Koalition geschaffthätte, wäre das in anderthalb Jahren mehr als das, wasdie SPD in elf Jahren Regierungsbeteiligung in diesemBereich erreicht hat.
Sie können sich darauf verlassen. Wir werden es nichtdabei belassen. Sie sprechen zu Recht einige Fragen an,um die wir uns bei den Freiwilligendiensten noch küm-mern müssen. Manchmal frage ich mich aber auch, wa-rum Sie sich diese Fragen nicht gestellt haben, als Sie inRegierungsverantwortung standen.Sie fordern zum Beispiel immer wieder vehement,dass ein Freiwilligendienststatusgesetz vorgelegt wird.Gestatten Sie mir aber diese Kritik: Wenn Sie sich aufder einen Seite damit rühmen, das FSJ Sport, das FSJKultur sowie die Dienste „weltwärts“ und „kulturweit“eingeführt zu haben, können Sie auf der anderen Seitenicht uns die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dassSie es dabei versäumt haben, für einheitliche Rahmenbe-dingungen zu sorgen.Wir nehmen diese Herausforderung an. Wir arbeitenan einem Freiwilligendienststatusgesetz. Viel wichtigerist aus meiner Sicht aber, dass wir bei allen bisherigenSchritten den Wunsch nach einheitlichen Rahmenbedin-gungen beachtet haben. Mit dem gleichen Taschengeld,den gleichen pädagogischen Rahmenbedingungen undder gleichen Anzahl an Urlaubstagen im FSJ, im FÖJund im Bundesfreiwilligendienst haben wir einen Teildazu beigetragen, dass die Rahmenbedingungen gleichsind. Mit 200 Euro Förderung im FSJ und im FÖJ habenwir nicht nur die Förderung heraufgesetzt, sondern erst-mals auch eine gleiche Förderung bei FSJ und FÖJ ein-geführt. Der Kollege Grübel hat die Angleichung beimKindergeld angesprochen. Das kann man uns also nichtvorwerfen.Trotzdem vergessen wir die Vielfalt nicht. Sie führenin Ihrer Großen Anfrage aus, dass es darum geht, zu-künftig mehr Menschen mit Migrationshintergrund zubürgerschaftlichem Engagement zu bewegen. Sie sagenauch, dass sich mehr Menschen aus einem sozial be-nachteiligten Umfeld bürgerschaftlich engagieren sollen.Genau das tun wir ja: zum einen mit zusätzlich50 Euro für sozial Benachteiligte, für diejenigen, die ei-nen besonderen pädagogischen Förderbedarf haben, undzum anderen durch die Schaffung des neuen Einsatzbe-reichs Integration im Bundesfreiwilligendienst.Die Freiwilligendienste stehen auch vor der Heraus-forderung des demografischen Wandels; mein KollegeGolombeck hat es schon angesprochen. Unsere Gesell-schaft wird älter, wobei die Älteren aber immer fitterbleiben. Deswegen ist es richtig, dass wir Personen, dieälter als 27 sind, die Gelegenheit geben, sich im Bundes-freiwilligendienst zu engagieren. Ich glaube, das ist an-gesichts des demografischen Wandels eine wichtige Bot-schaft.Natürlich sind die Freiwilligendienste aller Genera-tionen unheimlich wichtig, um zu lernen, wie es funktio-niert. Sie waren in der Vergangenheit erfolgreich. Daherwäre es fahrlässig, wenn wir die Erfahrungen aus denFreiwilligendiensten aller Generationen jetzt nicht nut-zen. Es wäre aber auch fahrlässig – es wird ja immerwieder von Verstetigung geredet –, die Chance zu ver-passen, die Freiwilligendienste aller Generationen, auchwenn sie nur ein Modellprojekt sind, jetzt im Bundes-freiwilligendienst aufgehen zu lassen.Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt eingehen;dieser betrifft die jungen Menschen. Auch Sie hinterfra-gen den Zusammenhang zwischen verkürzten Lernzeitenund der Möglichkeit von bürgerschaftlichem Engage-ment. Natürlich bleibt einiges zu tun, um zu gewährleis-ten, dass die Jugendlichen auch bei verkürzten Abitur-zeiten die Gelegenheit haben, sich weiterhin sozial,bürgerschaftlich zu engagieren. Ich sage aber auch, dasshier der falsche Ort ist, um zum Beispiel über die Ent-rümpelung von Lehrplänen zu sprechen.Wir können hier aber sehr wohl darüber reden – daszeigt die gestrige Sitzung des Familienausschusses –,wie wir Schule und bürgerschaftliches Engagement nochnäher zusammenführen können. Die Kriegsgräberfür-sorge hat uns gestern aufgezeigt, dass 25 000 jungeMenschen im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engage-ments für die Kriegsgräberfürsorge tätig sind. Das funk-tioniert aber auch nur, weil es einen engen Kontakt zwi-schen der Kultusministerkonferenz und den Schulen gibt.Das ist ein Bereich, in dem wir als Engagementpolitikerauf Bundesebene noch einiges tun können. Packen wires an!Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die durchaus gelungene Große Anfrage der SPDund die sehr gute Antwort der Bundesregierung haben eseigentlich nicht verdient, dass wir hier ständig versu-chen, aufeinander einzuschlagen.
Vielleicht kann man über dieses Thema, bei dem Kon-sens besteht, einmal in aller Ruhe einen Gedankenaus-tausch durchführen, statt jede Gelegenheit nutzen zuwollen, um der Regierung völlig unhaltbare Vorwürfe zumachen. Das ist diesem Thema unangemessen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12353
Norbert Geis
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Sie haben in Ihrer Großen Anfrage eine Definitionvon Bürgergesellschaft gegeben, die ich voll und ganzunterschreibe. Die Bürgergesellschaft setzt sich aus vie-len Initiativen – aus Bürgerinitiativen, aus Spontaninitia-tiven, aus Nachbarschaftshilfe – zusammen. Wir habenvon dem Beispiel Kriegsgräberfürsorge gehört. Wir ha-ben bereits von den Initiativen, die von der Feuerwehrund dem THW gestartet werden, gehört. Es ist wichtig,dass wir eine Bürgergesellschaft haben, in der vieleMenschen bereit sind, selbstlos einen Dienst für die Ge-meinschaft zu erbringen. Das haben wir in Deutschland,und darüber dürfen wir uns freuen.Die Bürgergesellschaft, liebe Frau Haßelmann, istnicht eine Institution, in die der Staat allzu sehr eingrei-fen sollte. Ich glaube auch nicht, dass das Ihre Meinungist,
aber in Ihrer Rede wurde der Anschein erweckt, als wür-den Sie so denken. Die Bürgergesellschaft bewegt sichvielmehr in einem freien Raum neben dem Staat, nebender Wirtschaft und neben der Privatsphäre der Familie.Dort handelt und agiert die Bürgergesellschaft. Ohne dieBürgergesellschaft wäre der Staat gar nicht in der Lage,alle seine Aufgaben zu erfüllen. Denken wir nur an denprivaten Bereich, an den Pflegedienst und daran, welcheNachbarschaftshilfe gerade bei pflegebedürftigen Nach-barn geleistet wird. Das ist Bürgergesellschaft, und diesehaben wir in Deutschland; das darf man einmal ganz of-fen sagen.Ich möchte noch etwas dazu bemerken. Es gibt denberühmten Satz von Böckenförde: Der Staat kann nurexistieren, wenn Voraussetzungen da sind, die er aberselbst nicht garantieren kann. – Diese Voraussetzungenwachsen in der Bürgergesellschaft durch den Austauschder Menschen miteinander. Hier werden Wertvorstellun-gen und Verhaltensmuster entwickelt, nach denen dieBürger leben und die der Staat braucht, damit er über-haupt regieren kann. Ohne die Entwicklung von Verhal-tensweisen wäre der Staat hilflos, er wäre ohnmächtig.Diese Entwicklung haben wir in der BundesrepublikDeutschland; auch das dürfen wir klar und entschiedensagen. Eine Eigenschaft der Bürgergesellschaft bestehtdarin, dass sie von Wertvorstellungen geprägt ist, diesich im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Es gehtalso um die eigene Kultur. Es geht darum, dass wir in derBürgergesellschaft unsere eigene Kultur fortentwickeln.Das geschieht auch im Austausch mit denen, die zu unsgekommen sind, und zwar durch Auseinandersetzung.Die Geschichte jedes Volkes ist geprägt vom Ringen umdie eigene Kultur. Es geht nicht ohne Auseinanderset-zungen. Dies kann aber nicht vom Staat geleistet wer-den. Es kann auch nicht von der Bürokratie kontrolliertwerden. Es muss vielmehr in einem freien Raum gesche-hen, und zwar im freien Raum der Bürgergesellschaft.Wir müssen versuchen, diesen freien Raum zu bewah-ren.Wir brauchen die Bürgergesellschaft – ich greife nureinen Aspekt heraus – insbesondere im Hinblick auf dieIntegration unserer ausländischen Mitbürgerinnen undMitbürger. Wenn wir unsere Kultur für die nächsten Ge-nerationen bewahren wollen, brauchen wir die Integra-tion. Sie alle wissen, dass Integration nicht Assimilationbedeutet. Integration heißt also nicht, dass unsere auslän-dischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ihre eigene Her-kunft aufgeben sollen. Sie sollen auch ihre eigene Ge-schichte und Kultur nicht vergessen. Integration heißt,dass die verschiedenen Gruppierungen in einer Gesell-schaft miteinander leben können. In einer solchen Ge-sellschaft muss Respekt und Achtung vor der Meinungund der Auffassung des anderen herrschen. Das gehörtzur Grundeigenschaft der Bürgerinnen und Bürger in ei-ner freien Gesellschaft. Genauso muss sich die Bürger-gesellschaft entwickeln.Wir können es uns nicht leisten, uns abzuschotten.Man muss auf die Menschen ausländischer Herkunft zu-gehen. Gerade das wird von den Freiwilligendienstenund in den Vereinen geleistet. Denken wir einmal an denSportverein: Wenn sich dort Kinder ausländischer Her-kunft engagieren und einen Dienst leisten, dann werdensie viel schneller ein Teil der Gesellschaft. Bürgergesell-schaft heißt Teilhabe. Teilhabe geht aber nicht ohne En-gagement. Engagement und Teilhabe sind die zwei Sei-ten derselben Medaille.Es kommt darauf an – das wurde vorhin schon gesagt –,dass auch die Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländi-scher Herkunft bereit sind, sich zu engagieren. Dies ge-schieht aber nicht; das ist Tatsache. Nur etwa 23 Prozentder Menschen mit Migrationshintergrund, die bei uns le-ben, engagieren sich in der Bürgergesellschaft. Das istzu wenig. Auch der Rest muss sich engagieren. Nur sokann ein vernünftiges Miteinander entstehen. Das ist diegroße Aufgabe, die die Bürgergesellschaft zu leisten hat.Das ist – neben vielen anderen Aufgaben auch – diegroße Aufgabe Integration.Sie haben das Thema Integration in Ihrer Großen An-frage in einer hervorragenden Weise angesprochen. Auchin der Antwort der Bundesregierung ist es zu finden. Ichsehe die Integration als eine ganz wichtige Aufgabe an.Wenn sie uns nicht gelingt – die Frau Bundeskanzlerinsagt, es sei die Schlüsselaufgabe für unsere Gesellschaft –und wenn wir die Menschen, die bei uns leben, nichtzum vernünftigen Miteinander bewegen können, dannwerden wir, die Deutschen, eines Tages Fremdlinge inunserem eigenen Land sein. Wir müssen versuchen, dieszu vermeiden und die Bürgergesellschaft zu stärken.Ich bedanke mich.
Damit schließe ich die Aussprache.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Demon-stration und Anwendung von Technologien
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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zur Abscheidung, zum Transport und zur dau-erhaften Speicherung von Kohlendioxid– Drucksache 17/5750 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Erste Beratung des von den Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Katrin Kunert, WolfgangNešković, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zum Verbot der Speicherung vonKohlendioxid in den Untergrund des Hoheits-gebietes der Bundesrepublik Deutschland
– Drucksache 17/5232 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Antrags der Abgeordneten JensKoeppen, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer,Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPUmfassende Datenbasis für Nutzungsmöglich-keiten des Untergrunds schaffen– Drucksache 17/3056 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eineDreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höreich keinen Widerspruch.Für die Bundesregierung erteile ich der KolleginKatherina Reiche das Wort.Ka
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!CCS, also die Abscheidung, der Transport und die dau-erhafte Speicherung von Kohlendioxid, ist nicht nur fürDeutschland, sondern auch international von großer Be-deutung. Länder wie China, Australien, Kanada und dieUSA setzen große Hoffnungen in diese Technologie undunternehmen dazu Forschungsanstrengungen.CCS bedeutet, dass CO2 in Industrie- und Stromer-zeugungsanlagen abgetrennt wird, damit es im An-schluss in tief liegenden Gesteinsschichten sicher ge-speichert werden kann. Dieser Technologie wird – dashabe ich gerade erwähnt – international große Bedeu-tung beigemessen. Es geht darum, den CO2-Ausstoß ins-gesamt, weil wir uns Klimaschutzzielen verpflichtet ha-ben, zu mindern. Auch Deutschland hat sich verpflichtet,den Herausforderungen des Klimawandels durch einedrastische Reduktion der CO2-Emissionen zu begegnen.Wir haben uns beim Klimaschutz sehr ehrgeizige Zielegesetzt. Wir wollen den Umfang der globalen Treibhaus-gasemissionen bis zum Jahr 2050 halbieren. Angesichtsder hohen Pro-Kopf-Emissionen in den Industrieländernwerden die Industrieländer den größten Beitrag dazuleisten müssen.Die Treibhausgasemissionen sollen in Deutschlandbis zum Jahr 2050 gegenüber 1990 um 80 bis 95 Prozentreduziert werden. Mit unserem Energiekonzept habenwir den Fokus auf einen deutlich beschleunigten Ausbauerneuerbarer Energien und auf die Steigerung der Ener-gieeffizienz gesetzt. Das ist und bleibt unser Kompass,auch bei den Entscheidungen, die jetzt anstehen. Für denUmstieg in eine Energieversorgung, die auf erneuerba-ren Energien basiert, brauchen wir mehr effiziente Gas-und Kohlekraftwerke. Hierfür brauchen wir klima-freundliche Lösungen.CO2 entsteht nicht nur bei der Stromproduktion, son-dern auch bei Industrieprozessen. Deshalb hat auch dieIndustrie ein großes Interesse daran, über eine Technolo-gie zu verfügen, die es erlaubt, Industrieprozesse um-weltfreundlich und klimafreundlich zu gestalten. Diesbetrifft die Stahlerzeugung, die Zement- und Kalkindus-trie, Raffinerien und andere Produktionszweige. Hiersind in den vergangenen Jahren massive Anstrengungenunternommen worden, um die Prozesse effektiver zu ge-stalten. Gleichwohl wird hier auch weiterhin CO2 emit-tiert werden; physikalisch und chemisch geht es garnicht anders. Der Reduktion von CO2-Emissionen sindbei diesen Prozessen Grenzen gesetzt. Also braucht manneue Technologien, die es ermöglichen, Industriepro-zesse in Zukunft wirtschaftlich und klimafreundlichdurchzuführen.Der WWF erklärt mit Blick auf CCS in einer Stel-lungnahme Folgendes:Aus heutiger Sicht benötigen wir dazu den Einsatzvon CCS-Technologien. Daher müssen wir dieCCS-Technologie schnellstmöglich auf ihre Einsatz-fähigkeit prüfen und entscheiden, ob Emissionen ingeologischen Formationen im Untergrund gespei-chert werden können.Ein Blick über den Tellerrand zeigt – ich habe es ganzzu Anfang meiner Rede gesagt –: Weltweit setzen ver-schiedene Staaten wie China, die USA, Australien undIndien weiterhin auf Kohle. Da wir ein Interesse an ei-nem erfolgreichen globalen Klimaschutz haben müssen,sollten auch wir die Option CCS weiterhin verfolgen.Der Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafol-genforschung, Ottmar Edenhofer, hat in einem Zeitungs-interview ausgeführt:Die weltweiten Kohlevorkommen sind so groß– vor allem in China, Indien und den USA –, dass
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Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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ein internationales Abkommen zum Klimaschutzwohl nur zustande kommt, wenn man eine Optionfür die Kohle anbietet.Mit Blick auf die globale Energieerzeugung ist das Pro-blem also noch drängender. Wenn wir hierfür keine Lö-sungen finden, werden wir die globalen Klimaschutz-ziele nicht erreichen können.An dieser Stelle setzt CCS an. Ich möchte ausdrück-lich betonen: Diese Technologie ist eine Option, eineMöglichkeit, eine Chance. Ich finde, wir sollten sie nut-zen.
Die CCS-Technologien befinden sich noch im Entwick-lungsstadium. Sie sind im großtechnischen Maßstabnoch nicht getestet. Viele Fragen sind noch offen: Fra-gen zur Wirtschaftlichkeit, zu Leckagen, verfügbarenSpeicherpotenzialen, anderen Nutzungsmöglichkeiten,aber auch zu Umweltrisiken. Viele Fragen sind skepti-scher und kritischer Natur. Wir haben darauf reagiert.Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich imBereich der Speicherung strikt auf Erforschung undDemonstration beschränkt. Die Möglichkeit, eine Spei-cherzulassung zu beantragen, ist zeitlich und auchmengenmäßig begrenzt. Selbst wenn man für die De-monstrationsspeicher eine Betriebsdauer von 40 Jahrenunterstellt, würden dadurch nur 2,5 bis 5 Prozent der ge-genwärtig bekannten Speicherpotenziale in Anspruchgenommen werden.Bereits für die Erprobung sind höchste Umwelt- undSicherheitsstandards vorgesehen. Ein Speicher kann un-ter anderem nur dann zugelassen und betrieben werden,wenn die Langzeitsicherheit gewährleistet ist. Ebensomuss Vorsorge nach dem Stand von Wissenschaft undTechnik getroffen werden. Bei allen wichtigen Schrittenist eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung durchzu-führen. Auch die Belange der Oberflächeneigentümerund andere Nutzungsmöglichkeiten des Untergrundswerden weitestgehend geschützt.Die Länder erhalten auf ausdrücklichen Wunschwirksame Mitspracherechte. Sie können Gebiete festle-gen, in denen die Speicherung zulässig ist, oder auch Ge-biete, in denen die Speicherung nicht zulässig ist. Ichmeine, dass diese Regelung den Befürwortern und denSkeptikern von CCS gerecht wird. Gegen den begründe-ten Willen eines Landes ist die Speicherung dort nichtmöglich. Die Gebietsauswahl ist anhand von fachlichenund gerichtlich nachprüfbaren Kriterien zu begründen.Außerdem gilt das CCS-Gesetz in allen Bundeslän-dern unmittelbar. Das Märchen einer Lex Brandenburgbleibt auch bei mehrfacher Wiederholung ein Märchen.Kein Land muss nochmals gesetzgeberisch tätig werden,um in die Demonstration einzusteigen.
Wir können unserer weltweiten Vorbildfunktion imKlimaschutz gerecht werden. Eine zuverlässige CCS-Technologie „Made in Germany“ kann helfen, die natio-nalen und globalen Klimaschutzziele zu erreichen undauf dem Schlüsselmarkt der Zukunft eine führende Rollezu spielen. Ich möchte gerne um Ihre Unterstützung da-für werben.
Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ja, wir führen heute eine Debatte mit dem Ziel, eineEU-Richtlinie umzusetzen. Wir haben auf EU-Ebene ge-wisse Vorgaben zum Thema CCS bekommen. Die Mit-gliedstaaten sind aufgefordert, national zu entscheiden,wie sie mit dem Thema umgehen wollen.In der Tat kann man manche Ihrer Argumente aufgrei-fen. Ich will gleich auf einige eingehen. Zunächst willich inhaltliche Punkte ansprechen, die für die SPD-Frak-tion beim Thema CCS von besonderer Bedeutung sind.Anders als Sie es dargestellt haben, Frau Staatssekre-tärin, sind wir nicht der Auffassung, dass das ThemaCCS zu einem entscheidenden Bestandteil einer Klima-schutzstrategie werden sollte. Wir sind der Auffassung,dass wir alle bereits vorhandenen Instrumente nutzenmüssen, um darauf unsere Klimaschutzstrategie aufzu-bauen. Das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 um40 Prozent zu senken, muss in jedem Fall ohne CCS er-reicht werden, weil diese Technologie zurzeit nicht ein-geplant werden kann. Deshalb soll sich an diesem As-pekt alles Weitere orientieren.Ich kann zu durchaus unterschiedlichen Bewertungenkommen, inwiefern CCS möglicherweise an welchenStellen gebraucht wird. Sie haben recht: Es gibt durch-aus auch Ökoverbände – Sie haben einen genannt; ichwill das Öko-Institut nennen –, die es für möglich halten,dass wir die Minderungsbeiträge, die wir im Laufe dernächsten 40 Jahre leisten müssen, nicht mit anderen In-strumenten erreichen und daher CCS insbesondere fürindustrielle Prozesse brauchen. Ich kann das heute nichtausschließen. Wir wissen das nicht.Von daher gilt: Ja, es ist richtig, in Forschung, Ent-wicklung und auch in einige Demonstrationsprojekteeinzusteigen. Für uns hat aber der ForschungsaspektPriorität. Ein wesentlicher Forschungsbereich sollte sichdabei der Frage widmen, wie man das abgeschiedeneCO2 wiederverwenden kann. Nicht die Verpressung undSpeicherung, sondern die Wiederverwendung muss klarim Mittelpunkt stehen.
Ich glaube, dass dieser Punkt von enormer Bedeutungfür die künftige Akzeptanz des Verfahrens sein wird.Entscheidend ist für uns aber auch, dass die gesetzli-chen Regelungen eindeutig erkennen lassen, dass dievorgesehenen CCS-Projekte nur Demonstrationszwe-cken dienen. In dieser Hinsicht habe ich bei dem vorlie-genden Gesetzentwurf Zweifel. Sie schreiben zwar
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Dirk Becker
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gleich am Anfang, dass es sich erst einmal nur um De-monstrationsprojekte handeln soll. Das gesamte Gesetzist aber so angelegt, dass klar zu erkennen ist, dass Siehier schon Regelungen treffen, die über Demonstrations-projekte hinausgehen. Ich sage Ihnen ganz klar: Dafürwerden Sie die Zustimmung der SPD-Bundestagsfrak-tion nicht erhalten.
Ich will noch ein paar grundsätzliche Punkte anspre-chen, über die wir schon zur Zeit der Großen Koalitiondiskutiert haben. Schon damals gab es unterschiedlicheAuffassungen über die zu schaffenden Rahmenbedin-gungen und Grundlagen. Es müssen höchstmögliche An-forderungen an Sicherheits- und Umweltstandardsgestellt werden. Wir wollen Transparenz und Bürgerbe-teiligung in den anstehenden Verfahren ebenso wie klarehaftungsrechtliche Regelungen und klare Regelungenbezüglich der Nachsorgebeträge.Ich könnte jetzt viele Punkte nennen, möchte aber nurzwei herausgreifen. Wir teilen die Bedenken einigerBundesländer – insbesondere des Landes Brandenburg –,die der Meinung sind, dass die vorgesehenen Haftungs-regelungen und Versorgungsregelungen nicht ausrei-chen, dass das alles zu unkonkret ist und dass man vielesin rechtlicher Hinsicht offenlässt. Nach unserer Auffas-sung ist die vorgesehene Sicherheitsleistung in Höhe von3 Prozent deutlich zu gering. Sie sehen die Möglichkeitvor, nach 30 Jahren die Verantwortung des Betreibers fürdie Speicherstätten auf das Land zu übertragen. DieseZeitspanne ist deutlich zu kurz bemessen. Hier muss eseine andere Regelung geben.
Der Hauptkritikpunkt betrifft allerdings eine Rege-lung, die in dieser Form neu ist. Das ist die sogenannteLänderklausel. Das hört sich zunächst nach einem Mei-lenstein des Föderalismus an. Die Länder dürfen nachgewissen Abwägungen alleine entscheiden, ob sie CCS-Speicher auf ihrer Landesfläche zulassen oder nicht. Fürmich ist das kein Akt besonderer Föderalismusfreund-lichkeit. Vielmehr dokumentieren Sie im Endeffekt hierIhre eigene Handlungsunfähigkeit in Berlin. Sie sindnicht in der Lage, eine klare Regelung herbeizuführen.
Das hat unterschiedliche Auswirkungen. Auf der ei-nen Seite haben potenzielle Investoren keinerlei verläss-liche Planungsgrundlagen. Auf der anderen Seite schie-ben Sie den Ländern quasi den Schwarzen Peter zu. FrauReiche, der Bund findet CCS wichtig und gut, traut sichaber nicht, die rechtlichen Grundlagen für entsprechendeSpeicher zu schaffen. Das sollen die Länder entscheiden.Sie dürfen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten,zum Beispiel unter touristischen, abwägen. Ich erwarteaber, dass eine Bundesregierung, die CCS für geeignethält und für die diese Technologie ein wichtiger Be-standteil der Klimaschutzstrategie ist, sagt, wo gespei-chert werden soll. Schieben Sie diese Entscheidung nichtauf die Bundesländer ab!
Was werden die Länder jetzt machen? Das ist ansatz-weise schon zu erkennen. Die Länder müssen jetzt eineRegelung schaffen. Die entsprechenden Entscheidungenwerden je nach wahltaktischen und anderen Überlegun-gen unterschiedlich ausfallen. Entscheidend ist aber dieFrage, nach welchen rechtlichen Kriterien entschiedenwerden soll. Die Landesregierungen müssen nach einerGüterabwägung individuell entscheiden. Wir wissen,wie das im Endeffekt ausgeht. Über jeden Antrag und je-des Verfahren wird gerichtlich entschieden werden.Kritik kommt aber nicht nur aus den Reihen der Op-position, sondern auch aus Bundesländern, die von Mi-nisterpräsidenten der Union regiert werden. Daher sageich ganz klar: An dieser Stelle müssen Sie jetzt hier inBerlin Farbe bekennen. Wenn Sie CCS wollen, dannmüssen Sie der Speicherung nach bestimmten KriterienVorrang einräumen. Wenn Sie CCS nicht wollen, dannkönnten Sie Projekten im Bereich der erneuerbarenEnergien, zum Beispiel der Geothermie, Vorrang einräu-men. Sie müssen auf jeden Fall klar sagen, welche Pro-jekte Vorrang haben, damit die Länder wissen, wie sie inZukunft mit möglichen Speicherstätten vor Ort umgehensollen. Aber in seiner jetzigen Fassung können wir demGesetzentwurf nicht zustimmen.Ich will noch eine andere Sache ansprechen, die – wieich glaube – immer wieder benutzt wird, um die Diskus-sion in Deutschland in eine ganz bestimmte Richtung zulenken. Mittlerweile sagen selbst Energiekonzerne, CCSfür energetische Prozesse werde es in Deutschland wahr-scheinlich nicht geben. Nach meiner ganz persönlichenEinschätzung werden wir sie auch nicht brauchen, weildie fossilen Kraftwerke im Rahmen unserer energiepoli-tischen Strategie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts vomNetz genommen sein werden. Einige sagen, möglicher-weise kann Biomethan noch eine Rolle spielen; aber dasmuss man sehen.Entscheidend aber ist die Frage, was in den Ländernpassiert – Sie haben vorhin einige genannt: Indien undChina –, die zurzeit in hoher Zahl zusätzliche Kohle-kraftwerke bauen. Wir wissen alle, dass sie beim Klima-schutz enorme Probleme haben werden. Muss man dahernicht auch Möglichkeiten schaffen, dass sie in die Lageversetzt werden, CCS einzusetzen? Ich bin insofern beiIhnen, als ich der Meinung bin: Wir müssen da helfen,damit die Energieversorgung in diesen Staaten CO2-är-mer wird. Das heißt für mich aber, dass wir nicht nurTechnologien erforschen müssen, die vielleicht in15 Jahren einsetzbar sind, um dann Fehler beispiels-weise beim Bau von Kohlekraftwerken sozusagen wie-der einzufangen, sondern dass wir jetzt Technologienliefern müssen, die schon heute CO2-frei sind. Auf die-sem Gebiet haben wir schon enorme Erfolge. Das solltedoch die Strategie unserer Energieaußenpolitik sein.
Herr Börnsen hat das Bedürfnis, Ihnen eine Zwi-schenfrage zu stellen.
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Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, Ihre Ausführungen verunsichern mich
ein wenig.
Das tut mir leid.
Das können Sie nachher abstellen.
Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir – wie auch
im Entwurf der Bundesregierung vorgesehen – die Wie-
derverwendung von CO2 verfolgen sollten. Der dama-
lige Umweltminister Sigmar Gabriel hat sich vor zwei
Jahren an dieser Stelle mit Vehemenz für CCS einge-
setzt.
Ich frage mich, wie es bei Ihnen zu dieser Richtungsän-
derung kommt, zumal die Bundesregierung nicht mehr
eine Gesamtlösung favorisiert, sondern nur noch ein De-
monstrationsprojekt realisieren will, damit wir unter den
Gesichtspunkten der Gefahrenproblematik und der Wirt-
schaftlichkeit eine Lösung finden können. Wie kommt es
also, dass Sie jetzt drei Schritte zurückgehen und gar
nicht mehr für CCS eintreten?
Da meine Kollegin von den Grünen mich gerade da-
ran erinnert hat, dass sich hierzu der Ministerpräsident
von Schleswig-Holstein derart geäußert hat, das sei mit
ihm nicht zu machen, muss ich bemerken: Es war der da-
malige Umweltminister, der gesagt hat: Gut, dann ste-
cken wir diesen Entwurf wieder in die Kiste und machen
etwas Neues; dann müssen aber auch die Länder Vor-
schläge machen.
Die Länder haben Vorschläge gemacht. Sie haben
querbeet, A- wie B-Länder, gesagt: Wir möchten gern
beteiligt werden, weil das ein Bürgerrecht ist. – Jetzt ha-
ben wir diese Beteiligung. Stimmen Sie mit mir darin
überein?
Das war jetzt eine Reihe von Fragen. Ich möchte mitder ersten Frage anfangen.Ich möchte klarstellen, dass ich nicht gesagt habe, ichsei gegen CCS. Ich habe deutlich gemacht, dass ich beiindustriellen Prozessen sehr wohl eine große Notwen-digkeit für den Einsatz sehe, dass ich aber die Erforder-lichkeit für den energetischen Bereich anzweifle. Trotz-dem müssen wir alles tun, um die Technologie zuerforschen – mit einem Schwerpunkt auf Wiederverwer-tung und nicht auf Verpressung. Das noch einmal zurKlarstellung meiner Position.Was Sigmar Gabriel angeht: Herr Börnsen, Sie sind jaauch schon ein alter Hase, wenn ich das einmal so sagendarf. Sie wissen, wie das in der Großen Koalition gelau-fen ist. Es gab die Vereinbarung, gemeinsam ein CCS-Gesetz zu verabschieden. Dieses Vorhaben entstandnicht im luftleeren Raum; ich habe eben auch schon dieeuropäischen Vorgaben angesprochen. Dann gab es Ver-handlungen zwischen der Union und der Bundestags-fraktion der SPD. Ich nenne Ihnen nur einige Punkte, diewir jetzt wiederfinden. Das ist zum Beispiel die Frageder Haftungsbeschränkung oder die Frage, nach wie vie-len Jahren die Verantwortung übergeben werden kann.Wir haben damals auch im Interesse der öffentlichenHaushalte versucht, die Situation zu verbessern und dieVerpflichtungen der Speicherbetreiber heraufzusetzen.Das alles hat Ihre Fraktion verhindert. Es ist ja nicht so,dass sich damals Sigmar Gabriel hier hingestellt und ge-sagt hat: Ich bin Umweltminister und mache das so, wieich es mir vorstelle. – Hätte er all das machen können,was er gewollt hätte, hätten wir in den vier Jahren derGroßen Koalition noch mehr erreicht. Sie haben an vie-len Stellen gebremst.Der entscheidende Punkt ist aber – auch das gehörtzur Ehrlichkeit dazu –: Herr Kauder und Herr Großmannhaben ein halbes Jahr vor der Wahl gesagt: Die Plänezum Thema CCS lassen wir jetzt ganz fallen. – DennHerr Großmann hatte damals die Vorstellung, dass einemögliche neue Koalition nicht nur ein Gesetz für dieLaufzeitverlängerung, sondern auch ein Gesetz für CCSverabschiedet, welche seinen Vorstellungen entsprechen.Das war damals so. – So viel zur Erläuterung dessen,was in der Großen Koalition abgelaufen ist.
Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelleabschließend ganz klar: Ich will nicht, dass man nun ausder zu befürchtenden Sorge einiger Menschen in diesemLand, was die Verpressung von CO2 angeht, die man jasachlich diskutieren kann und diskutieren muss, dasThema CCS komplett diskreditiert. Aber es gibt gewisseRahmensetzungen – ich habe einige für die SPD-Frak-tion genannt –, die für uns ganz entscheidend sind, umdann einem solchen Gesetzentwurf auch zustimmen zukönnen.Zum Thema Länderklausel – Entschuldigung, ichhabe das eben nicht beantwortet; ich wollte der Fragenicht aus dem Weg gehen –: Ja, wir sind für die Beteili-gung der Länder, ja, wir sind dafür, dass man die Länderanhört, ja, wir sind dafür, dass man auch die Meinungder Länder einfließen lässt. Wir sind aber auch dafür,dass man dann ein Bundesgesetz schafft, das der Ab-sichtserklärung der Bundesregierung entspricht, indemman sagt: Wir wollen CCS, und es wird nach den vonuns festgelegten Kriterien umgesetzt. – Jetzt wird es indie Beliebigkeit der Länder gestellt, die je nach Wahl-termin und parteitaktischen Dingen sagen: „Jetzt wollenwir es mal gerade nicht“, und nach der Wahl wollen siees wieder. So kann es nicht funktionieren.
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12358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dirk Becker
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Ich bitte Sie einfach, gerade auch bei diesem Punktnachzusteuern und Ihrer Verantwortung als Bundesregie-rung nachzukommen.Vielen Dank.
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Thema CCS, CO2-Abscheidung und -einlagerung, ist ein
Thema, bei dem ich mir immer wieder die Frage stelle:
Wie machen wir eigentlich Politik? Da sieht man die
Notwendigkeit, dass wir ein Gesetz bekommen, zum ei-
nen, weil die Europäische Union eine Richtlinie geschaf-
fen hat, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind,
CO2-Abscheidung und -einlagerung auf ihrem Territo-
rium zu ermöglichen.
Zum anderen besteht die objektive Notwendigkeit, diese
Technologie zumindest zu erproben, um zu schauen, ob
wir sie in unserem Land einführen können.
Wir wissen auch, dass es Widerstände gibt, insbeson-
dere in den betroffenen Regionen. Heraus kommen dann
diese üblichen Politikerreden: „Ja, wir sind für CCS,
aber vielleicht doch nicht ganz so“, und man steht vor
der Frage: Wie komme ich aus dieser Nummer wieder
heraus?
Meine Damen und Herren, wir als Abgeordnete haben
die Verpflichtung, Dinge, die wir für richtig halten, auch
als richtig zu bezeichnen. Wenn sich Herr Becker hier
hinstellt und sagt: „Bis 2020 brauchen wir die CO2-Ab-
scheidung nicht für unsere Klimaschutzstrategie, weil
das alles bis 2020 noch gar nicht im Einsatz ist“, dann
sage ich: Das, Herr Becker, hat auch niemand behauptet.
Aber die Klimaschutzstrategie in Deutschland sieht eine
CO2-Einsparung von 80 bis 95 Prozent bis 2050 vor.
Das bedeutet, eine Einsparung von 95 Prozent nicht nur
bei den energiebedingten Emissionen, sondern auch bei
den industriellen
und in den Sektoren wie Verkehr und Landwirtschaft.
Wer glaubt, 95 Prozent wären einzusparen, ohne dass
auch bei den industriellen Emissionen angesetzt wird,
die zum Teil prozessbedingt sind – das heißt, Sie können
Aluminium nicht ohne diese Emissionen produzieren –,
und sich dann hier hinstellt und sagt: „Wir brauchen das
nicht für eine Klimaschutzstrategie“, der hat die Heraus-
forderungen für 2050 nicht verstanden.
Entweder nimmt man das 95-Prozent-Ziel nicht ernst,
entweder will man die CO2-Abscheidung nicht, oder
man nimmt billigend in Kauf, dass sich diese Industrien
irgendwann aus Deutschland verabschieden. Das kann
man ja wollen; aber wer glaubt, die Aluminiumindustrie
verabschiedet sich und die Automobilindustrie bleibt
hier, der hat die Produktionszusammenhänge in diesen
Industrien nicht verstanden. Wenn wir die energieinten-
siven Unternehmen aus dem Land jagen, dann werden
wir auch andere wichtige Industrien verlieren.
Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Becker zulassen?
Nein, vielen Dank.Meine Damen und Herren, CO2-Abscheidung und -Ein-lagerung in die Erde ist in erster Linie nichts, was zumThema Kohleverstromung gehört, auch wenn es oft an-ders dargestellt wird. Das Ganze ist eine Frage der Si-cherung unserer industriellen Kerne mit Blick auf dieMitte unseres Jahrhunderts. Deswegen müssen wir dieseTechnologien entwickeln und erproben, und es darf nichtso weit kommen, dass wir sie irgendwann aus dem Aus-land werden importieren müssen. Noch sind wir führendbei diesen Technologien, und wir sollten diesen Vor-sprung nicht verspielen.
Ich sage im Hinblick auf die Bundesregierung ganzkritisch: Es gibt noch keine einheitliche Haltung in denKoalitionsfraktionen zu der sogenannten Länderklausel.Die Frontlinien verlaufen nicht so sehr zwischen Par-teien, sondern zwischen Regionen. Ich muss sagen: Ichhalte es für äußerst kritisch, dass sich Bundesländerkomplett aus ihrer bundespolitischen Solidarität verab-schieden können. Wenn wir die Logik der Länderklauselauf andere Themen übertragen, dann stellen wir fest,dass sich Länder demnächst auch aus dem Ausbau vonStromnetzen, aus der nuklearen Endlagerung
und Ähnlichem verabschieden können. Es gibt nun ein-mal bundespolitische Aufgaben, die nur in bestimmtenRegionen gelöst werden können. So wie diese Länder ineinigen Fragen zu Recht die Solidarität des Bundes ein-fordern, so erwarte ich auch, dass sie die Verpflichtungzur Solidarität mit der Bundespolitik ernst nehmen,wenn sie selbst gefordert sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12359
(C)
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Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Becker.
Herr Kauch, ich habe nur eine Bitte – man kann in-
haltlich anderer Auffassung sein –: Nehmen Sie zumin-
dest zur Kenntnis, dass ich zwischen der Stromproduk-
tion der Energiewirtschaft und der industriellen
Produktion ganz bewusst getrennt habe. Ich habe aus-
drücklich gesagt, dass CCS nach den vorliegenden Stel-
lungnahmen, beispielsweise nach der des Öko-Instituts,
im Rahmen der Strategie bis 2050 erforderlich werden
könnte. Aus diesem Grund sollte man es gerade für in-
dustrielle Prozesse erforschen. Das habe ich mehrfach
betont. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.
Noch eine Frage. Sie haben hier deutlich gemacht,
dass man gewisse Sachen nun zur Kenntnis nehmen
muss. Ist davon auszugehen, dass Sie auch in parteiinter-
nen Prozessen beispielsweise Herrn Sander aus Nieder-
sachsen von Ihren Positionen überzeugen? Bisher tritt er
öffentlich durchaus kritisch auf. In diesem Zusammen-
hang wird auch Herr Kubicki genannt.
Herr Kauch, Sie möchten reagieren. Bitte schön.
Herr Kollege, ich nehme sehr wohl zur Kenntnis, dass
Sie erwähnt haben, dass dies auch ein Thema für den Be-
reich der industriellen Prozesse ist. Ich wünsche mir,
dass auch die Sozialdemokraten – das gilt gerade für Sie,
der Sie aus Nordrhein-Westfalen kommen, wo es indus-
trielle Kerne gibt – für diese Technologie kämpfen und
nicht nur Seminare dazu halten, wofür sie gut oder auch
schlecht sein könnte. Das ist mein Punkt: Man muss für
die Dinge, die man für richtig hält, auch einmal kämp-
fen.
Ein Zweites. Natürlich gibt es unterschiedliche Auf-
fassungen – in der Union, in der FDP und im Zweifel
auch in Ihrer Partei, zumindest auf regionaler Ebene.
Wir werden auf unserem Bundesparteitag am Wochen-
ende genau diese Frage zur Abstimmung stellen. Es gibt
einen Leitantrag, in dem das Thema CO2-Abscheidung
alternativ dargestellt wird: Entweder man entscheidet
sich für eine Länderklausel oder für den Ausschluss be-
stimmter Gebiete aus fachlichen Gründen, aber nicht des
gesamten Landesgebietes. Das muss zur Abstimmung
gestellt werden. Man muss schauen, wie die Mehrheiten
sind. Ich werde mich auf dem Parteitag mit den Partei-
freunden auseinandersetzen, die anderer Auffassung
sind.
Jetzt hat die Kollegin Bulling-Schröter das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ihnen liegen heute zwei Gesetzentwürfe vor: einer, indem Regeln für die geplante Abscheidung und unterirdi-sche Verpressung von Kohlendioxid aufgestellt werden,und ein zweiter, in dem eine solche Verpressung verbo-ten wird. Die Linksfraktion hat den zweiten eingebracht.Wir sind nämlich der Meinung, dass CCS eine Sack-gasse ist; diese Technologie ist ein gefährlicher und teu-rer Irrweg.
CCS wird, wenn überhaupt, frühestens 2030 groß-technisch verfügbar sein. Dann aber werden die erneuer-baren Energien schon deutlich billiger sein als eine fos-sile Stromerzeugung mit CCS. Da dies so ist, müssteCCS gegenüber regenerativen Energien schon jetzt mas-sive Vorteile haben; denn sonst könnten wir es ja gleichbleiben lassen.
Hat CCS also solche Vorteile, etwa bei der Sicherheit?Wohl kaum!Schauen wir uns allein das Drama um die Asse an.Die abenteuerlichen Fehleinschätzungen von Wissen-schaftlern und Unwahrheiten der Politiker verschlageneinem hier förmlich den Atem. Mit den strahlenden Erb-lasten dessen, was angeblich Hunderttausende von Jah-ren sicher sein sollte, werden sich noch Generationen he-rumschlagen.Milliarden Tonnen von CO2 sollen ewig sicher seinund in der Erde bleiben. Wem, bitte schön, wollen Siediesen Unsinn erzählen? Das glaubt einfach niemand.Wie sich Klüfte und Störungen tief in der Erde exakt ver-halten, wenn aggressive Gase unter hohem Druck ver-presst werden, kann ernsthaft niemand sicher voraussa-gen.In Schleswig-Holstein sickern aufgrund natürlicherProzesse schon jetzt extrem salzhaltige Wässer nachoben. Etwa ein Drittel der Trinkwasserreservoire sinddeshalb nicht mehr nutzbar. Was ist, wenn der hoheCCS-Verpressungsdruck diese Salzpampe auch in ande-ren Gegenden irgendwann nach oben drückt? Das Süß-wasser wäre dann für riesige Gebiete unwiederbringlichunnutzbar. Überdies: Kohlendioxid ist zwar nicht giftigwie Kohlenmonoxid, wenn man aber bei Unfällen daranerstickt, weil es die Luft verdrängt, dann nützt das herz-lich wenig.Dass die Erneuerbaren all diese Risiken nicht haben,ist klar. Bei Sonne und Wind haben wir auch keine Res-sourcenprobleme. Setzen wir dagegen weiter in großemUmfang auf Kohle, so machen wir uns – insbesonderebei der Steinkohle – abhängig von bedenklichen Impor-ten. Im Zusammenhang mit der Braunkohle zerstörenwir mit Landschaft und Siedlungen nicht nur unsere Hei-mat, sondern auch den Wasserhaushalt.CCS wirkt dabei wie ein Turbogenerator. Wegen dermiesen Effizienz der Technik brauchen wir je Kilowatt-stunde ein Drittel mehr Brennstoff. Dazu habe ich vonIhnen noch nichts gehört.
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Eva Bulling-Schröter
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Macht CCS wenigstens Sinn, weil die Großkraft-werke länger Grundlaststrom liefern können? Das ist ge-nauso Unfug; denn die schwankende Einspeisung vonerneuerbaren Energien muss in ein flexibles System vonErzeugung, Verbrauch und Speicherung eingebettet sein.2030 wird sicher noch Platz für schnelle Gaskraftwerkesein – heute Vormittag wurde darüber diskutiert –, nichtaber für eine Armada von trägen Kohlekraftwerken mitangeschlossenem Chemiewerk zur CO2-Reinigung.
Bliebe noch die Mär von CCS als Hilfsbringer fürkaum vermeidbare Prozessemissionen in der Industrie,etwa für Stahlwerke oder Zementfabriken. Das ist ja dasTotschlagargument gegen grundsätzliche CCS-Kritiker,ähnlich wie das absurde Technologieversprechen derBiomasse-CCS, mit dem irgendwann Treibhausgase ausder Atmosphäre gemolken werden sollen, um sie unterder Erde verschwinden zu lassen.Ich darf dazu anmerken, dass die Industrie selbst garnicht an CCS allein für Stahl und Kalk glaubt, und zwarnicht nur wegen der horrenden Kosten, sondern auchdeshalb, weil es ohne die Infrastruktur für Kohle-CCSauch kein Industrie-CCS geben wird. Allein wegen derProzessemissionen wird niemand ein eigenes Pipeline-und Speichersystem aufbauen, und Biomasse ist demWesen nach dezentral zu ernten. Wer hier CCS einsetzenmöchte, der erzeugt entweder gigantische Verkehrs-ströme oder Monokulturen.Was bleibt also von CCS? Die anvisierten geologi-schen Formationen könnten rechnerisch im besten Falldie Emissionen einer halben Kraftwerksgeneration auf-nehmen. Danach ist sowieso Schluss. Dafür hinterlassenwir unseren Enkeln ein neues Endlagerproblem für Tau-sende Generationen. Das Ganze rechnet sich nicht, undenergiewirtschaftlich behindert es die Energiewende.Warum also wollen Sie CCS? Allein um die Launeweniger Konzerne zu bedienen, mit Subventionen nochein paar Jahrzehnte länger Kohle verstromen zu können?Ich frage Sie: Reicht dies als Begründung aus?
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben gerade ei-nige durchaus berechtigte und richtige Kritikpunkte inBezug auf CCS aufgezählt
und legen hier einen Gesetzentwurf vor, der CCS kom-plett ausschließen soll. Reist man aber durch das LandBrandenburg, stellt man fest, dass CCS dort ein konkre-tes Thema ist. An der dortigen Landesregierung ist IhrePartei beteiligt. Man trifft auf einen Wirtschaftsminister,den ich als den größten CCS-Befürworter in Deutsch-land wahrnehme.
Sie sollten wenigstens in dieser Debatte ehrlich zuge-ben, dass auch Sie da einen riesigen internen Konflikthaben und Diskussionen führen. Anderenfalls ist das,was Sie hier machen, Populismus und nicht mehr.
Herr Kauch, Sie haben sich eben ein bisschen ober-lehrerhaft hier hingestellt und angekündigt,
Sie würden jetzt prozessbedingte Emissionen erklärenund sagen, wie das alles zu laufen habe. Dann führtenSie als Beispiel die Aluminiumindustrie an. Es mag sein,dass ich mich täusche; aber ich habe noch nie davon ge-hört, dass in der Aluminiumindustrie prozessbedingteCO2-Emissionen entstehen. Das ist bei der Stahlindustrieund der Zementindustrie der Fall. Wenn Sie sich schonhier hinstellen, dann erklären Sie das bitte auch richtig.
Von Frau Reiche habe ich eben fast die gleiche Redegehört wie vor zwei Jahren:
Weltweit setze man auf CCS-Technologie; das allesfinde weltweit statt. Schauen Sie doch einmal genau hin:In Europa wird im Moment kein einziges CCS-Projektdurchgeführt. Wir haben eine Richtlinie, die 27 Staatenvorschreibt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.Realität ist aber, dass erst eine Handvoll von Staatendiese Richtlinie umgesetzt hat und viele mittlerweileauch erklären, dass das für sie kein Thema ist. KeineSpur mehr von der Euphorie, die wir da vor zwei Jahrenhatten!
Das einstige Musterland Norwegen, das bei CCSweltweit Vorreiter sein wollte und auch einige Versucheunternommen hat, hat alle Projekte eingestellt – erst vorkurzem in Mongstad, weil man dort Probleme mit demStoff hatte, der das CO2 aus dem Rauchgas abscheidet,weil er hochgiftig ist.All das sollte dazu führen, dass wir das Thema CCSsehr viel realistischer und sehr viel nüchterner betrach-ten, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.
Es ist kein Wunder, dass die Euphorie vorbei ist; dennCCS löst keine Probleme, sondern verlagert die Pro-bleme nur an eine andere Stelle. CCS ist eine End-of-Pipe-Technologie und wird – auch das ist eben schon an-geklungen – erst in 10 bis 15 Jahren zur Verfügung ste-hen, wenn überhaupt. Man kann Zweifel daran haben, ob
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Oliver Krischer
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es überhaupt dazu kommen wird. Aber falls diese Tech-nologie zur Verfügung stehen wird, dann wird das erst in10 bis 15 Jahren der Fall sein. Das Ganze wird ein Drit-tel mehr Kohle verbrauchen und damit unwirtschaftlichsein.Das heißt, die Erneuerbaren sind zu diesem Zeitpunktdie wesentlich bessere Klimaschutzalternative. CCS inder Energiewirtschaft hat deutschlandweit und europa-weit überhaupt keine Perspektive.
Sie können den Menschen in Brandenburg doch über-haupt nicht erklären, dass man auf der einen Seite einRiesenloch gräbt, um Kohle abzubauen, und dafür Land-schaften zerstört und Menschen umgesiedelt werdenmüssen, während auf der anderen Seite 30 Kilometerweiter CO2 in die Erde gepresst wird, womit man denMenschen dort ebenfalls Probleme macht und Sorgenbereitet. So etwas ist nicht zukunftsfähig. Das ist einfachkeine nachhaltige Politik.
Es ist nicht so, dass bei diesem Thema der Widerstandhauptsächlich aus den Umweltverbänden, von den Grü-nen usw. käme. Wenn ich mir die Stellungnahmen ausSchleswig-Holstein, aus Niedersachsen und aus Meck-lenburg-Vorpommern anschaue, stelle ich fest, dass auchChristdemokraten und Freidemokraten das Ganze kri-tisch sehen und Widerstand leisten. Das ist auch derGrund dafür, dass Sie, nachdem die Große Koalition vorzwei Jahren einen ersten Anlauf unternommen hat undnachdem die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regie-rungserklärung nach der Wahl gesagt hat, sie werde nochvor Weihnachten 2009 einen CCS-Gesetzentwurf vorle-gen, erst zwei Jahre später damit kommen. Sie haben in-tern Konflikte, die Sie letztendlich nicht gelöst bekom-men.
Dann haben Sie, um Akzeptanz für Ihren Gesetzent-wurf zu gewinnen, eine Länderklausel erfunden, die esden Ländern ermöglichen soll, komplett aus dem ThemaCCS auszusteigen. Der Kollege Becker hat es ebenschon gesagt: Wenn wir das zum Regelfall bei Gesetzenmachen, dann gute Nacht! Hier sehe ich große Schwie-rigkeiten. Das Interessante ist aber, dass man diese Län-derklausel auch so interpretieren kann, dass das Ganzegar nicht funktioniert, dass die Länder das gar nicht leis-ten werden und es Ihnen nur darum geht, den Schein zuwahren, indem Sie Schleswig-Holstein und Niedersach-sen überzeugen, dabei mitzumachen, und so die Mehr-heit im Bundesrat sichern.Ich würde Ihnen empfehlen: Tun Sie mit diesem Ge-setzentwurf das einzig Richtige:
Führen Sie ihn einem sinnvollen Zweck zu, nämlich demPapierrecycling! Das hat dieser Gesetzentwurf verdient.Gehen Sie zurück auf Los! Machen Sie, wenn überhaupt,ein reines CCS-Forschungsgesetz! Stecken Sie die vie-len 100 Millionen Euro, die wir von der EU für diesesThema bekommen, in die erneuerbaren Energien!
Herr Kollege.
Stecken Sie das Geld, wenn Sie bei prozessbedingten
Emissionen sparen wollen, in die Forschungsförderung
von neuen Verfahren und neuen Materialien! Damit
könnten Sie helfen, CO2-Emissionen in diesem Bereich
zu vermeiden. Das wäre der richtige Weg. Damit käme
man auch bei diesem Thema voran.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kaum ein anderes Thema wird mit so viel Ambivalenzdiskutiert wie CCS, quer durch alle Fraktionen und alleParteien, zum Beispiel auch in meinem BundeslandBrandenburg, aber auch in den Naturschutzverbänden,bei den NGOs, bei der Exekutive, in den Ministerien,und vor allen Dingen auch in der Gesellschaft.Deswegen möchte ich versuchen, in dieser Debatteeinfach einmal die Kausalität aufzuzeigen und dasGanze anhand von drei Fragen zu hinterfragen, nämlich,warum wir überhaupt ein CCS-Gesetz machen, was CCSüberhaupt ist und, schließlich, für wen wir CCS machen.Ich werde versuchen, so unaufgeregt, so ideologiefreiund so ergebnisoffen wie nur möglich vorzugehen. Aufder einen Seite sagen die Gegner, es handle sich um eineHorrortechnik und eine Risikotechnologie, ohne über-haupt sicher zu wissen, ob es so ist, weil CCS ja nochgar nicht erprobt ist. Auf der anderen Seite sagen die Be-fürworter, es handle sich um die Wunderwaffe gegen denKlimawandel und CCS werde letztendlich ein Export-schlager.Nun zur ersten Frage, warum CCS. Ich glaube, es gibteinen Konsens in diesem Hause, dass es einen Klima-wandel gibt; jedenfalls sagt das ein erheblicher Teil derWissenschaft. Gestern hatten wir Professor Schellnhuberim Umweltausschuss. Er hat das wieder mit Vehemenzvorgetragen. Der IPCC, der Weltklimarat, sagt, dass wirdie Emissionen des Klimakillers und TreibhausgasesCO2 begrenzen müssen, um das Ziel, die Erde um nichtmehr als 2 Grad zu erwärmen, zu erreichen. Durch CCSkönnen bis 2050, Herr Kollege Becker, 15 bis 20 Prozent
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Jens Koeppen
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der CO2-Emissionen eingespart werden. Diese Zahlwurde gestern auch genannt. Wenn wir gemeinsam denKlimawandel bekämpfen und dieses 2-Grad-Ziel errei-chen wollen, dann dürfen wir nicht nur den Mundspitzen, sondern dann müssen wir auch pfeifen, dannkönnen wir nicht nur planen, sondern müssen auch an-fangen, zu bauen. Wenn wir bauen wollen, brauchen wiraber ein entsprechendes Werkzeug.Dieses Werkzeug – damit komme ich zu der Frage,was CCS ist – ist relativ neu; es liegt noch eingepackt inder Werkzeugkiste. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir esherausnehmen und ausprobieren sollen oder ob wir esunangetastet lassen. Die Frage, ob wir Chancen oder nurRisiken sehen, ist deshalb eine ganz bedeutende. Ichmöchte zitieren, was der WWF dazu sagt. Warum? Zumeinen ist in der Kürze der Zeit das, was ich nun als Zitatbringe, anders nicht besser zu sagen. Zum anderen han-delt es sich beim WWF um einen neutralen Betrachterder Situation, der wohl kaum im Verdacht steht, einemIndustriekonzern oder einem Energieversorger auf denLeim zu gehen. Wörtlich sagt ein Vertreter von WWF-Deutschland:„Es bringt nichts, die Technik ungeprüft zu verteu-feln und damit leichtfertig eine Chance im Klima-schutz zu verspielen“,Weiter oben steht:CCS könne als Übergangstechnik eine wichtigeRolle im Rahmen einer ambitionierten Klima-schutz-Strategie spielen. Der WWF sieht vor allemin den schnell wachsenden Schwellenländern wieChina Einsatzgebiete für die Technik.Außerdem heißt es: CCS istzwar kein Patentrezept im Kampf gegen den Klima-wandel; an der weiteren Erforschung der umstritte-nen Technologie führe aber kein Weg vorbei.Das finde ich auch. Wir sollten nicht ohne Not aufdiese Technologie verzichten. Ich bin immer dafür, dieChancen zu sehen. Deswegen halte ich es auch für sinn-voll, diese Technologie auszuprobieren, zunächst imRahmen der Demonstration in Brandenburg.Damit bin ich beim dritten Punkt: Für wen machenwir diese Technologie? Natürlich beschäftigen wir unsmit ihr, um dem Klimawandel entgegenzutreten. Auf deranderen Seite machen wir diese Technologie – auch dassage ich klipp und klar – für unseren Industrie- undHochtechnologiestandort Deutschland, mit allem, wasdazugehört; auch die Arbeitsplätze in Deutschland spie-len dabei eine Rolle. Ich möchte nicht, dass durchCarbon Leakage die gesamte Industrie abwandert, nichtnur aus Deutschland, sondern letztendlich auch ausEuropa.Für den Weg zu den erneuerbaren Energien haben wirein Energiepaket geschnürt, dessen Umsetzung jetztnoch beschleunigt wird. Wir sind uns einig, dass wir daswollen. Dabei haben wir ein Zieldreieck festgelegt: Ver-sorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klima-schutz. Um alle drei Ziele zu erreichen, brauchen wir– das ist meine Meinung – diese Technologie.Ich komme zu meinem Fazit. Sicherheit steht an ers-ter Stelle. Aber wie sicher die Technologie ist, könnenwir nur bei einer Demonstration feststellen. Es gibt eineTestanlage in Ketzin. Dort kann man schon bei einerkleinen Menge sehen, dass die Speicherung sicher ist.
Herr Kollege, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Würden Sie gleich danach auch noch eine Zwischen-
frage der Kollegin Behm zulassen? Dann haben Sie die
Möglichkeit, beide zusammen zu beantworten.
Selbstverständlich.
Danke schön. – Sie haben über den Erhalt von Ar-
beitsplätzen gesprochen. Ich habe in meiner Rede ge-
sagt: Wenn wir CCS anwenden, dann können durch die
Abscheidung CO2-Emissionen einer halben Generation
von Kohlekraftwerken gebunkert werden; danach sind
die Speicher voll. Das wissen wir. Wenn Sie aber Indus-
trie-CO2 abscheiden wollen, dann dürfen Sie kein
Kohle-CO2 abscheiden, weil Sie Gesteinsformationen
für das Industrie-CO2 brauchen.
Im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen habe ich
gesagt, dass die Industrie das nicht bezahlen wird, weil
es sehr teuer ist. Sie haben zu den Kosten bisher nichts
gesagt.
Frau Behm, bitte.
Wenn ich meine Frage direkt stellen darf, ist das wun-
derbar. – Sie haben gerade gesagt, Kollege Koeppen,
dass man davon ausgehen kann, dass die CO2-Abschei-
dung in der Versuchsanlage in Ketzin sicher abgelagert
wird. Ist Ihnen bekannt, dass die Versuchsanlage Ketzin
früher ein Erdgasspeicher war und dass an dieser Stelle
ein Dorf mit Namen „Knoblauch“ stand, das aufgegeben
werden musste, als sich in den Kellern der Wohnhäuser
plötzlich Gas feststellen ließ? So viel zum Thema Si-
cherheit. Ist Ihnen das bekannt, und woraus resultiert
Ihre Aussage, dass die Lagerung in Ketzin sicher ist? Sie
wissen so gut wie ich, dass in der Versuchsanlage bisher
reines CO2 eingelagert wurde und erst seit der vergange-
nen Woche CO2 aus der Kohleverbrennungsabschei-
dung, das ja verunreinigt ist, eingelagert wird. Wie kom-
men Sie also zu Ihrer Aussage?
Erst einmal zu der Frage von Frau Bulling-Schröter.Für mich ist CO2 letztendlich ein Rohstoff. Deswegen ist
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Jens Koeppen
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CCS, die Abscheidung und die Einlagerung bzw. Spei-cherung, für mich eine vorübergehende Technologie, dietrotzdem erprobt werden muss.Früher oder später werden wir natürlich auch aufKohlekraftwerke verzichten – früher oder später. Wir ha-ben eine begrenzte Speicherkapazität; das ist wahr. Wirwerden das Klima nicht in Deutschland, schon gar nichtin Brandenburg retten. Aber wir können die Technologiesehr gerne in Deutschland, in Brandenburg demonstrie-ren, sie erforschen und zeigen, dass sie zum einen sicherist und zum anderen die gewünschten Effekte hat.Ich erinnere einfach nur an den Transrapid: Wir woll-ten den Transrapid mit Riesengewinnen als tollen Ex-portschlager nach Asien verkaufen; aber dann haben wirselbst – nicht wir alle, sondern eher die linke Seite desHauses – den Transrapid als eine Risikotechnologie ver-teufelt.
Warum sollte denn der Chinese oder der Inder sagen:„Jawohl, wir wollen den Transrapid“ – oder auch CCS –,wenn nicht einmal wir selbst in der Lage sind, denTransrapid auf einer 70 Kilometer langen Strecke vomMünchener Flughafen bis in die Innenstadt zu erproben?So ist das auch bei CCS.Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass Ihre Argu-mente nicht stimmen. Es geht nicht darum, das gesamteCO2 hier in Deutschland zu speichern, sondern nur einenTeil. Jetzt geht es erst einmal um die Speicherung von8 Millionen Tonnen CO2 im Rahmen einer Exploration,um zu erkennen, ob es funktioniert oder nicht.Damit komme ich zur zweiten Frage. Wenn mir dieWissenschaftler in Ketzin sagen, dass sie davon ausge-hen, dass die Einlagerung dieser Mengen – sie berech-nen das für mehrere Größen – nach ihren Erkenntnissensicher ist – –
– Sie können gern lachen. Wenn Sie den Wissenschaft-lern in Bezug auf die Aussagen zum Klimawandel ver-trauen, dann können Sie auch den Wissenschaftlern ver-trauen, die sagen: Nach unseren Jahren der Erprobunggehen wir davon aus, dass es sicher ist. Da wurden ver-schiedene Drücke ausprobiert, da wurde gespeichert undeingelagert, da wurde beobachtet, wohin sich das CO2ausbreitet usw. Natürlich wurde – genau wie beim Kli-mawandel – über Computersimulationen berechnet, wiesich das verhält. Da sind Geologen usw. am Werk. Es tutmir leid: Ich vertraue dann schon den Aussagen dieserWissenschaftler, die sagen: Sie können nach den Jahrender Erprobung davon ausgehen – das wurde berechnet –,dass ein entsprechendes Großprojekt sicher ist. – Das istmeine Antwort darauf.
Ich komme zu meinem Fazit zurück:Erstens. CCS muss sicher sein; das muss nachgewie-sen sein. Deswegen gibt es die entsprechende Demon-stration.Zweitens. Wir brauchen Transparenz; wir brauchendie Akzeptanz und die Beteiligung der Bürger vor Ort,aber auch der Länder. Die Bürger müssen nicht nur mitInformationen bedacht werden, sondern auch mit einerWertschöpfungsabgabe – wie auch immer sie gestaltetwird –, die ausgeschüttet wird, wenn es Beeinträchtigun-gen gibt. Die Länderklausel – die Frau Staatssekretärinhat es bereits gesagt – ist eine Handreichung an die Bun-desländer: Sie können sagen, wie sie mit der Speiche-rung umgehen. Ich halte das für ein legitimes Mittel.Der letzte Punkt. Wir müssen die Nutzung von CCSevaluieren und auswerten. Letztendlich müssen wir mitDaten und Fakten demonstrieren, dass die Spekulatio-nen, Horrorszenarien, Vermutungen und Ahnungen durchWissen ersetzt werden.Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung zu diesemGesetzentwurf.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die Unverträglichkeit mit der Gesundheit, dieAngst um Leib und Leben und – mehr noch – den Ver-lust von Raum und Zeit: All dies verbanden die Men-schen mit der Einführung der Dampflok in Deutschland.Ich meine die Eröffnung der Strecke Nürnberg–Fürth imJahr 1835. Der Mensch könne eine derartige Geschwin-digkeit gar nicht aushalten, so die allgemeine Meinung.Die tatsächlichen Folgen der Einführung des Eisenbahn-verkehrs waren ein Aufblühen der wirtschaftlichen Leis-tungsfähigkeit und ein gewaltiger Ausbau der Infrastruk-tur.Die Dampflok ist weg, die Bedenken sind geblieben.Um den Ausstoß von Kohlendioxid durch Kraftwerke indie Atmosphäre zu senken, soll nun in Deutschland dieunterirdische Verbringung von CO2 zunächst einmal ge-testet werden – nicht mehr und nicht weniger. Denndiese Methode, CCS, muss ihre wirklichen Potenzialefür Industrie und Stromerzeugung erst noch zeigen.
Besonders die Sicherheit der Speicher ist nachzuwei-sen. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Zu-verlässigkeit der Technik auch in Demonstrationsvorha-ben erprobt werden kann. Am Computer geht das nicht.Ohne Probe gibt es keinen Nachweis. Nur im prakti-schen Verfahren können die offenen Fragen zu Umwelt-
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Klaus Breil
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risiken, Speicherpotenzialen und Kosten realistisch be-antwortet werden. Hierauf wird die Bundesanstalt fürGeowissenschaften und Rohstoffe mit ihrer weltweit an-erkannten Professionalität stets ein waches Auge haben.Eine weitere Frage ist die nach dem Rohstoff CO2. Dasjetzt so verteufelte Klimagas Kohlendioxid könnte in ab-sehbarer Zukunft als wichtiger Rohstoff lediglich auf ge-wisse Zeit eingelagert werden, quasi als Zwischenspei-cher.Jedenfalls sollten wir positiver an die Sache herange-hen. Doch auch hier werden, wie damals in Nürnberg,Besorgnisse und Befürchtungen in der Bevölkerungwach. Das ist teilweise verständlich. Aus diesem Grundwird CCS nicht etwa flächenhaft eingeführt, sondern eswird lediglich die rechtliche Grundlage für die Erkun-dung, die Errichtung und den Betrieb von Demonstra-tionsvorhaben geschaffen.
Langfristig wollen wir den Ausstoß von Treibhausga-sen um 80 bis 95 Prozent reduzieren, das CO2 also quasiabschaffen. Dabei dürfen wir allerdings nicht diejenigenIndustriezweige übersehen, die aus rein technischenGründen nicht in der Lage sind, ihren CO2-Ausstoß nochweiter zu verringern. Es sind dies vor allem diejenigenUnternehmen, die am Anfang der Wertschöpfungskettein Deutschland stehen. Würden wir dieser wirtschaftli-chen Basis unseres Landes die Perspektive nehmen, wä-ren diese Firmen mit ihren Arbeitsplätzen in Deutsch-land nicht mehr zu halten.
Das gilt dann auch für die Nachfolgenden in der indus-triellen Wertschöpfungskette. Das will niemand. Alsomüssen wir schon allein dafür Optionen eröffnen.Für den Vollzug und die Durchführung des Gesetzeswerden die Länder zuständig sein. Gleichwohl solltengerade diejenigen Bundesländer, die im Länderfinanz-ausgleich von der Wirtschaftskraft der anderen – und so-mit auch von deren CO2-Emissionen – besonders profi-tieren, über ihren eigenen Schatten springen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr
Kollege Krischer, mit den Linken ist es noch sehr viel
schlimmer, als Sie es beschrieben haben. Wenn Sie eben
Frau Bulling-Schröter zugehört haben, dann konnten Sie
feststellen, dass sie sich bei dieser Gelegenheit auch
noch gegen die Braunkohle positioniert hat.
Das ist Doppelzüngigkeit, die man den Linken an dieser
Stelle vorhalten muss. Denn das tun Sie hier im Plenum
gerne; aber draußen vor Ort, wo Braunkohle abgebaut
wird, positionieren sich die Linken und ihre Gewerk-
schaftsfreunde ganz gern gegenteilig. Es wäre schon
sinnvoll, wenn Sie, um die Öffentlichkeit nicht zu täu-
schen, eine Klärung herbeiführen könnten und uns mit-
teilten, was Sie eigentlich wollen. Sind Sie dafür oder
sind Sie dagegen? Das ist die spannende Frage.
Frau Bulling-Schröter, Sie haben in diesem Zusam-
menhang auch einen Vergleich zwischen der CO2-Endla-
gerung und der Endlagerung von Kernbrennstoffen ge-
zogen. Das zeigt, dass es Ihnen darum geht, eine Verun-
sicherungsstrategie aufzubauen, die letztendlich zu ei-
nem CCS-Verbot führen soll, das Sie in Ihrem Gesetz-
entwurf grundsätzlich vorschlagen.
Möchten Sie die Frage von Frau Bulling-Schröter zu-
lassen?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Apropos Verunsicherung: Der Petitionsausschuss be-
fasst sich momentan mit 80 000 Petitionen zum Thema
CCS bzw. dem Verbot von CCS.
Glauben Sie, dass nur wir die Menschen verunsichern?
Oder glauben Sie, dass Menschen auch eigenständig
denken können?
Ich gehe davon aus, dass Menschen eigenständig den-ken, absolut.
Es gibt insbesondere in Bayern Menschen, die selbst-ständig denken. Ich würde mich auch dazu zählen. ImÜbrigen weiß ich noch nicht, was Sie mir jetzt mit demHinweis sagen wollen. Sie werden im Laufe meiner
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12365
Dr. Georg Nüßlein
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Rede mitbekommen, dass ich nicht ein glühender Fandieser Technologie bin und auch nicht derjenige, dersagt: CCS löst unsere Probleme; wir können das CO2-Problem umfassend und schnellstmöglich lösen. Das istüberhaupt nicht der Fall. Ich sage nur: Man sollte nichtunnötig und zusätzlich – auch wenn man die Risiken undBedenken sieht – noch eins draufsetzen und den Teufelan die Wand malen. Im Übrigen sollte man in seinerPolitik konsistent sein und nicht hier etwas anderes for-dern als draußen im Lande. Da werde ich ja wohl rechthaben, liebe Frau Bulling-Schröter.
Im Übrigen bitte ich auch darum, nicht so zu tun, alsob wir jetzt in die großindustrielle Anwendung gingen.Das ist nicht wahr. Mehrfach ist schon betont worden,dass es um Erforschung, Erprobung und Demonstrationgeht. Ich habe heute in einigen Reden durchgehört, dassdas bezweifelt wird. Aber, meine Damen und Herren,das steht ausdrücklich im Gesetz. Im Gesetz steht eben-falls ausdrücklich, dass 2017 eine Evaluation erfolgt.Erst dann wird entschieden, wie es mit dieser Technolo-gie weitergeht. Insofern, Herr Kollege Becker, versteheich die kategorische Ablehnung der SPD nicht, die Sieangekündigt haben; denn das ist die Unzeit dafür.Ich habe bereits unterstrichen, dass ich kein glühenderAnhänger dieser Technologie bin. Es gibt Eigentums-rechte, die Probleme machen, und es gibt Risiken, überdie man diskutieren muss. Ich sage aber auch: In der jet-zigen Phase tun wir uns energiepolitisch ausgesprochenschwer; denn wir sehen, dass die Erfüllung von Klima-zielen bei uns zunehmend schwieriger wird, wenn wirfrüher aus der Kernenergie aussteigen, was wir alle tunwollen. In dieser Phase Denkverbote und Versuchsver-bote zu verhängen, wäre falsch. Deshalb muss man sichmit diesem Thema auseinandersetzen.Ich bin der Meinung, dass wir diese Technologie na-tional eher weniger nutzen werden. Das ist nur eine Pro-gnose; die muss nicht richtig sein. Das kann sich imLaufe der Erprobungsphase in eine andere Richtung ent-wickeln. Wenn wir aber wirklich auf dieses 95-Prozent-Ziel zusteuern wollen, müssen wir eine Idee haben, waswir mit den Prozessen tun, bei denen CO2 logischer-weise entsteht. Wir müssen überlegen, wie wir mit dieserThematik umgehen wollen.Ich sage ganz offen: Wenn man eine solche Strategieverfolgt, dann kann es nicht sein, dass das in Form derDeindustriealisierung Deutschlands geschieht, indemman Unternehmen aus unserem Land vertreibt. Das hilftniemandem, und es hilft schon gar nicht dem Klima.Ich glaube, dass wir diese Technologie mit Blick aufdie internationale Situation prüfen müssen. China hatseit dem Jahr 2000 den CO2-Ausstoß von ehemals 3 Mil-liarden Tonnen mehr als verdoppelt und hatte zeitweiseeinen jährlichen Zuwachs an CO2-Ausstoß, der so großist wie der gesamte CO2-Ausstoß in Deutschland.Das sage ich deshalb so nachdrücklich, weil ich in derDebatte, die wir hier führen, ein wenig die Relationenvermisse. Manches von dem, was wir hier diskutieren,stimmt mit Blick auf die internationalen Zahlen nicht.Man kann nicht so tun, als würden wir auf der ÖkoinselDeutschland die Welt retten. Das ist ein falscher Ansatz.Wir müssen die Realität im Blick behalten.Wenn man einen Strich unter das Ganze zieht, mussman realistischerweise sagen: Die Kohle dieser Weltwird verbrannt werden. Die Frage ist: Mit welcher Tech-nologie? Gelingt es uns, dafür Ersatz zu schaffen? ImHinblick auf den Energiehunger einer immens wachsen-den Weltbevölkerung bin ich skeptisch – das sage ich Ih-nen ganz offen –, dass uns das mit ein paar Windräderngelingen wird. Ich bin eher der Meinung, dass die fossi-len Brennstoffe auf dieser Welt noch eine ganze Weileeine Rolle spielen werden. Deshalb muss sich Deutsch-land überlegen, ob wir nicht im Rahmen einer Technolo-gieführerschaft das eine oder andere anbieten können.Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/5750, 17/5232 und 17/3056 an die Aus-
schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-
den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Raju
Sharma, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen
und kirchlichen Einrichtungen stärken
– Drucksache 17/5523 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Raju Sharma für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieLinke hat einen Antrag zum Kirchenarbeitsrecht vorge-legt. Linke und Kirchen – da gehen natürlich gleich dieSchubladen auf: DDR, SED, Unrecht gegen Gläubige.
Ja, wir sind die Rechtsnachfolgerin der SED.
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12366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Raju Sharma
(C)
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Ja, wir wissen um das in der DDR begangene Unrecht anGläubigen. Aber auch: Ja, wir stellen uns unserer Verant-wortung. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst,und wir kennen die Geschichte.
– Herr Kollege, ein Wort dazu: Ich sagte gerade, dass wiruns unserer Verantwortung stellen, anders als so mancheBlockflöten und Schalmeien aus Ihren Reihen.
Wir stellen uns mit unserem Antrag nicht gegen dieKirchen und erst recht nicht gegen die Gläubigen. Wirstellen uns mit unserem Antrag an die Seite von1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernbei den Kirchen und den kirchlichen Einrichtungen. IhreRechte wollen wir schützen. Wir wollen, dass ihnen undihrer Arbeit die nötige Achtung entgegengebracht wird.
Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Antrag füralle Fraktionen dieses Hauses zustimmungsfähig ist. Ichwill das kurz belegen: Die FDP versteht sich als Parteider freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs.
Wir leisten uns aber ein Sonderarbeitsrecht, das es denKirchen ermöglicht, ihren Beschäftigten bis zu 30 Pro-zent niedrigere Löhne zu zahlen, als sie auf dem Marktüblich sind.
Nun mögen Sie mit Lohndumping im Prinzip kein Pro-blem haben.
Hier aber haben wir eine Bevorzugung der Kirchen ge-genüber anderen privaten Dienstleistern, die sich aufdemselben Markt tummeln. Wenn Sie fairen Wettbewerbhaben wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu.
Die Union stellt sich als Partei dar, die sich insbeson-dere dem Schutz der Familien verschrieben hat. DerEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kürz-lich die Kündigung eines Chorleiters für unrechtmäßigerklärt, weil die Kündigung durch die katholische Kircheein Verstoß gegen das Recht auf persönliche Lebensge-staltung darstellte und das Recht auf Schutz der Familieverletzt wurde, weil der Familie der nötige Schutz ver-weigert wurde. Folgen Sie dem Gericht: Stimmen Sieunserem Antrag zu.
– Ja, aber die katholische Kirche hat gekündigt. Insofernstimmt das schon.
– Das ist auch gut. Ich glaube sowieso, dass wir bei denGrünen mit unserem Antrag offene Türen einrennenmüssten. Die Erzdiözese Köln hat kürzlich einem Reli-gionslehrer und renommierten Theologen die Lehrbe-fugnis mit der Begründung entzogen, dass er schwul ist.Das kommt faktisch einem Berufsverbot aufgrund dersexuellen Orientierung gleich. Volker Beck, ein Kollegeaus Ihren Reihen, hat diesen Vorgang als hanebüchen be-schrieben.
Damit hat er völlig recht. Deshalb fordere ich Sie auf:Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, dieSPD versteht sich als Partei, die sich insbesondere fürdie Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerstarkmacht. Hier aber haben wir ein Sonderarbeitsrecht.Wir haben ein Arbeitsrecht zweiter Klasse für 1,3 Mil-lionen Beschäftigte in Kirchen und kirchlichen Einrich-tungen. Das wollen wir nicht, und das könnt auch ihrnicht wollen. Deswegen: Stimmt unserem Antrag zu.
Unser Antrag ist weder weltfremd noch blauäugig. Esist ein Unterschied, ob jemand als Pfarrer in der Kirchebeschäftigt ist oder als Putzfrau.
Jemand, der in seiner Predigt am Sonntag den Gläubigenden Kopf wäscht, hat eine andere Verantwortung als die-jenigen, die am Montag den Kirchenboden schrubben.Aber ihre Rechte und ihre Interessen haben wir vor al-lem im Blick. Sie wollen wir schützen, und wir wollen,dass ihnen und ihrer Leistung gebührender Respekt ent-gegengebracht wird, und zwar nicht erst im Himmel-reich, sondern schon auf Erden.Vielen Dank.
Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12367
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes habeneine sehr kluge Entscheidung getroffen; denn sie habendie mühsam ausgehandelten Kirchenartikel der Weima-rer Reichsverfassung einfach in Art. 140 des Grundge-setzes übernommen. Für das kirchliche Arbeitsrecht giltdie maßgebliche Garantie des Art. 137 Abs. 3 der Wei-marer Reichsverfassung, in dem steht:Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltetihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb derSchranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie ver-leiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oderder bürgerlichen Gemeinde.Diese klare Unterscheidung, was die Kirche selbststän-dig regeln kann und was Sache des Staates ist, ist übri-gens eine der großen Errungenschaften der Neuzeit, ander wir festhalten wollen. Aus dem Antrag der Linkenkann man nur eines entnehmen, nämlich dass sie es sowie in der alten DDR halten will, wo der Staat definierthat, was Kirche ist, und nicht die Kirche. Dagegen weh-ren wir uns entschieden.
Die Unterscheidung zwischen einem Pfarrer und an-deren Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die Sieeben vorgenommen haben, können Sie nicht machen.Das muss die Kirche definieren. Kirche ist von ihremAuftrag her nicht nur Seelsorge und Verkündigung, son-dern genauso und wesentlich auch tätige Nächstenliebe,also Caritas und Diakonie. Ohne Caritas und Diakoniegibt es keine Kirche. Wenn also die Kirchen ihre Angele-genheiten und ihr Arbeitsrecht verfassungsgemäß selbst-ständig regeln können, dann gilt das selbstverständlichauch für die karitativen und diakonischen Einrichtungenund Dienste.
Ich finde, wir können in Deutschland froh sein, dassCaritas und Diakonie mit einer Vielzahl von Kranken-häusern, Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Kin-dertagesstätten, Schuldnerberatungs- und Suchtbera-tungsstellen sowie vielen weiteren Diensten zur sozialenInfrastruktur in unserem Land beitragen und konkret dieNot vieler Menschen lindern helfen. Ich bin froh, dass esdie Kircheneinrichtungen in unserem Land gibt, und ichwill, dass sie auch in Zukunft bestehen bleiben.
Übrigens, die konkrete Hilfe für Menschen in Not undArmut, mit Behinderung und Krankheit ist meines Er-achtens das glaubwürdigste Zeichen für die Ernsthaftig-keit des Doppelgebots, der Gottes- und Nächstenliebe,dem Christinnen und Christen verpflichtet sind. Was be-deutet die eigenständige Regelung der Angelegenheitender Kirchen praktisch?Erstens. Die Kirchen regeln die Vergütung ihrer Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Gremium, dasparitätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bzw.,um es in der Sprache der Kirchen zu sagen, von Dienst-nehmern und Dienstgebern besetzt ist, in dem keiner dieandere Seite überstimmen kann. Alle kirchlichen Ein-richtungen sind an diese Tarifregelungen, die gemein-sam gefunden worden sind, gebunden. Diese von denparitätisch besetzten Kommissionen festgelegten Tarif-gehälter sind übrigens in der Regel höher als die Gehäl-ter, die bei anderen nichtkirchlichen Wohlfahrtsorganisa-tionen oder im privatgewerblichen Bereich gezahltwerden.
– Doch, es ist nach wie vor so. Es gibt keinen Fall, indem schlechter bezahlt wird als nach von Gewerkschaf-ten ausgehandelten Tarifverträgen. Das zeigt übrigens,dass die Mitarbeitervertreter der Kirche sehr erfolgreichLöhne aushandeln.
Zweitens. Die Mitbestimmung der kirchlichen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgt über gewählte Mit-arbeitervertretungen. Das ist sozusagen die Bezeichnungfür kirchliche Betriebsräte. Während im Geltungsbereichdes staatlichen Betriebsverfassungsgesetzes gerade ein-mal 30 Prozent aller Betriebe einen Betriebsrat haben,haben im Bereich von Kirche, Caritas und Diakonie65 Prozent aller Betriebe Mitarbeitervertretungen. BeiBetrieben mit mehr als 50 Beschäftigten sind sogar in85 Prozent der Betriebe Mitarbeitervertretungen vorhan-den. Im Gegensatz zur Behauptung der Linken gibt esalso nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung. DieGewerkschaften in Deutschland würden Jubelchöre ohneUnterlass anstimmen, wenn wir in der freien Wirtschafteine Betriebsratsquote von 65 bzw. 85 Prozent hätten,wie es sie bei der Kirche gibt. Dazu kommt, dass dieseMitarbeitervertretungen Dachorganisationen auf Diöze-san-, Landes- und Bundesebene mit aus Kirchenmittelnbezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bilden kön-nen, um auch auf übergeordneter Ebene ihre Interessenzu vertreten.Nun ist im Antrag der Linken sowie in einer früherenAnfrage des Bündnisses 90/Die Grünen problematisiertworden, dass es einzelne kirchliche und karitative Ein-richtungen bzw. Teile von diesen gebe, die sich ausglie-dern, um die Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechtsund des kirchlichen Vergütungssystems zu umgehen. Ei-nes muss klar sein: Wer Rosinen pickt und nicht dasganze Recht anwendet, der kann irgendwie auch nichtzum Bereich des Kirchendienstes gehören. Für den giltdann das staatliche Arbeitsrecht und das Betriebsverfas-sungsgesetz. Das gilt selbstverständlich auch für dasStreikrecht und die Organisation der Beschäftigten in
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12368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Peter Weiß
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Gewerkschaften, die die Tarifverträge für die Beschäf-tigten aushandeln. Man kann nicht halb, man kann nurganz bei der Kirche dabei sein.Wer zur Kirche gehört und wer nicht, definiert aller-dings nicht der Staat. Das muss die Kirche selber defi-nieren. So hat zum Beispiel der Deutsche Caritasverbandim Jahre 2007 in seinen tarifpolitischen Leitlinien ein-deutig bestimmt: Ausgründungen oder Ausgliederungenaus tarifpolitischen Gründen sind nicht zulässig. Punkt.Basta. Der Vorsitzende des Caritasverbandes meinerHeimatdiözese, Weihbischof Dr. Bernd Uhl, hat in ei-nem Zeitschriftenartikel klar formuliert:Wer aus der kirchlichen Tarifgemeinschaft aus-schert, kann deren Vorteile nicht mehr in Anspruchnehmen.In diesem Bereich muss Klarheit herrschen. Deswe-gen begrüße ich sehr, dass die deutschen Bischöfe vorha-ben, in der Grundordnung des Kirchendienstes für eineKlarstellung zu sorgen. Zum Kirchendienst gehört nur,wer das Tarifsystem und das gesamte kirchliche Arbeits-recht anerkennt. Wer sich aus Teilen davonschleichenwill, ist eben nicht mehr dabei und fällt unter die staatli-chen Regelungen. Vor diesem Hintergrund stellt manfest, dass der Antrag der Linken in die vollkommen fal-sche Richtung geht. Deswegen sagen wir Ja zu kirchli-chem Selbstbestimmungsrecht. Dazu müssen sich aberauch alle an die vereinbarten Regelungen halten.Vielen Dank.
Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es handelt sich offenkundig um eine ausgesprochen sen-
sible Materie. Es macht daher wenig Sinn, jetzt mit
Schaum vor dem Mund hier herumzuwüten.
– Das macht nie Sinn, sagt der Herr Kollege aus Frank-
furt, immer inspiriert von Oswald von Nell-Breuning,
soviel ich weiß. Sie haben neulich einen Mindestlohn
vorgeschlagen, der ausreichen soll, um im Alter eine
gute Rente zu erzielen. Sie haben die Firma Lidl mit
10 Euro pro Stunde genannt. Aber das nur am Rande.
Zum Antrag selbst: Der Kollege Sharma hat um die
Zustimmung aller Fraktionen gebeten, weil der Antrag
zustimmungsfähig für alle Fraktionen sei. Das Problem
der Linkspartei ist, dass sie bei diesem Antrag große
Probleme innerhalb ihrer eigenen Partei hat. Ich will Ih-
nen zwei Sätze aus einer Meldung von heute Vormittag
zitieren. Da heißt es:
Die religionspolitischen Sprecher der Linken-Land-
tagsfraktionen lehnten in einer Sitzung am Mitt-
wochabend in Berlin einen Antrag der Bundestags-
fraktion ab, der am Donnerstag im Bundestag
beraten werden sollte.
Bezogen auf den Kollegen Ramelow – allseits bekannt –
heißt es weiter:
Der Antrag könne jedoch so interpretiert werden,
dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht infrage
gestellt werde. „Der Tendenzschutz ist ein Gut, das
die Linke bei Parteien und Gewerkschaften respek-
tiert“, sagte Ramelow. Das müsse auch bei den Kir-
chen gelten.
Es gibt offenkundig Probleme mit dem Antrag bei der
Linken selbst.
Bevor Sie die übrigen Fraktionen auffordern, dem An-
trag zuzustimmen, sollten Sie erst einmal dafür sorgen,
dass die eigenen Reihen in Ordnung gebracht werden.
– Herr Kollege, Sie wollen sich mit einer Zwischenfrage
äußern? Frau Präsidentin?
Herr Kollege Sharma, bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass die Linke eine wirklich plurale und plu-
ralistische Partei mit vielen Meinungen ist?
Der von mir sehr geschätzte Bodo Ramelow ist jemand,
der pointierte Meinungen hat und sie auch sehr deutlich
artikulieren kann. Er spricht aber nicht für die Fraktion
der Linken im Deutschen Bundestag, für die ich heute
gesprochen habe und für deren Antrag ich heute bei Ih-
nen geworben habe. So ist es halt bei uns.
Herr Kollege, es nutzt wenig, wenn die Linksfraktionhier im Bundestag etwas einbringt, das von ihren Länder-organisationen unisono abgelehnt wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12369
Ottmar Schreiner
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Sie verwechseln Pluralität der Organisation mit völligerZerstrittenheit der Organisation. Das ist ein Unterschied.
Das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Insofern sehe ichnicht ein, warum wir Ihnen jetzt dabei helfen sollten, fürOrdnung in den eigenen Reihen zu sorgen. Das ist IhrBier und Ihre Angelegenheit.Ich will zunächst einmal ein paar Sätze zum Verständ-nis Ihres Antrags sagen, weil er auf den ersten Blick we-nig einleuchtend erscheint. Der Kollege Weiß hat ebendie Kirchenartikel der Weimarer Verfassung angespro-chen, die im Rahmen von Art. 140 des GrundgesetzesGegenstand unserer Verfassung geworden sind. Der Hin-tergrund ist, dass wir in Deutschland eine säkulareRechtsordnung haben. Es besteht die gleiche Freiheit fürdie weltanschaulichen Überzeugungen aller Bürger. Aufdieser Grundlage ist ein kooperatives Verhältnis zu denReligionsgemeinschaften entstanden, das sich aus mei-ner Sicht bewährt hat und dessen Grundzüge nicht ange-griffen werden sollten. – Das sage ich vorneweg zumbesseren Verständnis.Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass die ent-sprechenden Kirchenartikel der Weimarer Reichsver-fassung übernommen worden sind. Daraus folgen diesogenannten kirchlichen Selbstbestimmungsrechte undSonderregelungen bei der Behandlung von Beschäftig-ten. Dies nennen die Kirchen den sogenannten DrittenWeg, der, jedenfalls nach dem Verständnis der beidenchristlichen Kirchen, für einen angemessenen Ausgleichder Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen in denkirchlichen Einrichtungen sorgen soll. Das ist die Aus-gangslage bzw. der Hintergrund des offenkundigen Kon-flikts.Ich will hinzufügen: Im Kern geht es darum, dass dasGrundrecht der Religionsfreiheit und das Grundrecht derKoalitionsfreiheit nach Art. 9 Grundgesetz zum Aus-gleich gebracht werden müssen. Das ist kein staatlicherVorgang, sondern ein ständiger dynamischer Prozess.Ich will aus Sicht meiner Fraktion und meiner Parteiklarstellen: Das Verhältnis Staat/Kirche hat sich inDeutschland in den letzten Jahren und Jahrzehntengrundsätzlich bewährt; dies gilt auch für das kirchlicheSelbstbestimmungsrecht. Soweit es aber auf einzelnenFeldern oder in Einzelfällen zu Missbräuchen kommt,müssen diese abgestellt werden, am besten möglichstrasch und durch die Kirchen selbst. Es geht nicht darum,die Kirchen an den Pranger zu stellen. Aber wenn esMissbräuche gibt – es gibt offenkundig welche –,
dann müssen sie abgestellt werden.
Im Übrigen haben sich die Grünen vor wenigen Mo-naten darum bemüht, mehr Klarheit zu schaffen. DieKolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünenhaben eine Kleine Anfrage gestellt. Die Antworten derBundesregierung bestehen weitestgehend aus kahlenFlächen. Es wird nichts vernünftig klargestellt. Die Bun-desregierung stellt sich offenkundig dümmer, als siewirklich ist.
Bedauerlicherweise ist das so. Herr Kollege Brauksiepe,Sie sind ausdrücklich ausgeschlossen, weil Sie an derBeantwortung der Fragen nicht beteiligt waren. So kannman mit parlamentarischen Anfragen einer Fraktionnicht umgehen. Dann kann man auch gleich die Fingerdavon lassen.
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und weil ich nurwenige Minuten Redezeit habe, möchte ich nur zwei Be-merkungen zum konkreten Inhalt des Antrags der Links-fraktion machen. Sie führen in Ihrem Antrag wörtlichaus – ich zitiere –:Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände … haben sichvon der Bindung an die Tarife des öffentlichenDienstes gelöst … Die neuen Vergütungsordnungensollen Wettbewerbsvorteile erzielen, indem dasVergütungsniveau abgesenkt wird.In Ihrem Antrag heißt es weiter: Durch Ausgründungenvon Betriebsteilen und niedrig bezahlte Leiharbeit sollenzusätzliche Kostenvorteile erzielt werden. – Das heißtim Klartext – das ist meine Interpretation; ich bin näm-lich sehr für Klartext –: Die kirchlichen Einrichtungenbemühen sich systematisch darum, sich durch das Instru-ment des Lohndumpings einen zentralen Wettbewerbs-vorteil zu verschaffen. Wenn das richtig wäre, dannmüsste das abgestellt werden. Die Sonderregelungen imkirchlichen Arbeitsrecht dürfen nicht dazu da sein, sichPrivilegien zulasten der Arbeitnehmerschaft, der Be-schäftigten bei den Kirchen, zu verschaffen.Das wird allerdings, ähnlich wie es der Kollege Weißeben gesagt hat, zumindest von der Caritas, der Wohl-fahrtsorganisation der katholischen Kirche, entschiedenbestritten. Die Caritas hat mir heute Morgen schriftlichmitgeteilt, dass die Löhne und Gehälter im kirchlichenDienst, jedenfalls bei der Caritas, in der Regel deutlichüber den tariflich vereinbarten Löhnen lägen. Insofernsei der sogenannte Dritte Weg, was die arbeitsrechtlicheKonstruktion betrifft, kein Wettbewerbsvorteil. Es be-stehe aber ein massiver Druck der Kostenträger.
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12370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ottmar Schreiner
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Alle Einrichtungen, die im Pflegebereich oder in ande-ren Bereichen der sozialen Dienstleistungen tätig sind,beklagen, dass der Druck der Kostenträger immer uner-träglicher wird. Dass sich das auch in der Lohngestal-tung niederschlägt, ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Esist aber kein Spezifikum der kirchlichen Einrichtungen.Dass die kirchlichen Einrichtungen gegebenenfalls da-runter zu leiden haben, steht außer Frage.Ich stelle die Behauptung streitig, dass vonseitenkirchlicher Einrichtungen – wie Sie sagen, von Caritasund Diakonischem Werk generell – systemisch Lohn-dumping betrieben wird, um Wettbewerbsvorteile zu er-reichen. Das muss geklärt werden. Die Aussagen stehensich außerordentlich kontrovers gegenüber. Wenn demso wäre, wäre das auf Dauer nicht hinnehmbar.Das zweite Beispiel, das Sie in Ihrem Antrag nennen,leuchtet mir ein. Sie beschreiben den Zusammenschlussvon kirchlichen Einrichtungen zu Interessenverbändenwie dem VdDD, dem Verband diakonischer Dienstgeberin Deutschland. Der Verband diakonischer Dienstgeber– bei den Kirchen heißt es Dienstgeber statt Arbeitgeber –sei Mitglied in der BDA, der Bundesvereinigung derDeutschen Arbeitgeberverbände, geworden und dort so-gar im Vorstand vertreten. Das ist einem kirchlichen Ver-band völlig unbenommen. Aber wenn das so ist, dannmüssen die Gewerkschaften dieselben Rechte im kollek-tiven Arbeitsrecht haben, wie es andernorts der Fall ist.Man kann nicht von einem Dritten Weg reden, wennman auf der einen Seite Mitglied in der Bundesvereini-gung der deutschen Arbeitgeberverbände ist und damitalle Möglichkeiten der organisierten Arbeitgeberseiteausnutzt, aber auf der anderen Seite sagt, die Arbeitneh-mer müssten sehen, wie sie mit den angebotenen Rege-lungen zurechtkommen. Das geht nicht. Das wäre einnicht zu ertragender Widerspruch und müsste in derKonsequenz geändert werden.
Ich komme zum Schluss. Wir wollen unsererseits dieVorgänge sorgfältig prüfen. Es sind fast 2 MillionenMenschen betroffen. Mit insgesamt 1,7 Millionen Be-schäftigten sind die Kirchen der größte Arbeitgeber inDeutschland.
Es geht also nicht um irgendein Thema, sondern um ei-nen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmerschaft und ihreArbeits- und Lohnbedingungen. Wir wollen und werdendas Gespräch darüber suchen.Die Kirchen wären gut beraten, wenn sie auch in ihrerFunktion als Arbeitgeber Vorbild wären.
Es geht auch um die Glaubwürdigkeit dessen, was derKollege Weiß eben Caritas genannt hat, nämlich tätigeNächstenliebe. In dem Fall beginnt die tätige Nächsten-liebe bei den eigenen Beschäftigten. Man kann sie nichtüber Lohndumping und anderes in die Ecke drücken.Frau Präsidentin, ich habe Ihre Hinweise bemerkt undkomme zum letzten Satz.
Das geht aber schon über die Nächstenliebe hinaus.
Der beste Beitrag der Kirchen wäre, wenn sie ihrer-
seits vorhandene Missstände möglichst rasch abschaff-
ten. Das wäre der beste Beitrag dazu, dass das bewährte
Verhältnis zwischen Kirche und Staat auch in Zukunft
vom Grundsatz her in Deutschland nicht infrage gestellt
wird. Wir haben genügend Konflikte. Mehr brauchen
wir wirklich nicht.
Schönen Dank, Frau Präsidentin.
Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, inder Tat ist die FDP die Partei, die sich der sozialenMarktwirtschaft und auch dem Wettbewerb verschriebenhat und die sich verantwortlich fühlt, Religionsfreiheitnicht nur in der Bundesrepublik zu erhalten, sondernauch weltweit dafür einzutreten.Das Thema, über das wir heute sprechen, ist im Kerneine Frage der Religionsfreiheit. Das lassen Sie in IhremAntrag außer Acht, aber – darauf hat der KollegeSchreiner glücklicherweise schon hingewiesen – IhrKollege aus dem thüringischen Landtag, der dortigeFraktionsvorsitzende, hat das sehr wohl verstanden. Erkritisiert den Antrag, den Sie als Bundestagsfraktion derLinken eingebracht haben, mit den Worten – ich zitiereBodo Ramelow –:Der Tendenzschutz ist ein Gut, das die Linke beiParteien und Gewerkschaften respektiert.Das müsse auch bei den Kirchen gelten.Es geht also bei den Kirchen um ein besonderes Ar-beitsverhältnis, das eben nicht vom Kapital auf der einenSeite und Arbeit auf der anderen Seite und von der Frageder Gewinnmaximierung bestimmt ist. Bei den Kirchengeht es vielmehr um den kirchlichen Auftrag, nämlichdie Verkündigung des Wortes Gottes in Wort und Tat.Wie sie das tun, ist Auftrag und Verantwortung der Kir-chen selbst. Das können und wollen wir nach dem imGrundgesetz verankerten Grundsatz der Religionsfrei-heit den Kirchen nicht vorschreiben, auch nicht denkirchlichen Arbeitgebern. Sie haben als Beispiel ge-nannt, dass der Verkündigungsauftrag für einen Pfarreretwas anderes bedeutet als für eine Reinigungskraft, die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12371
Pascal Kober
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die Kirche säubert. Das mag Ihnen plausibel erscheinen.Die Grundsätze unserer Verfassung, die die Religions-freiheit festschreiben, geben den Kirchen aber das Recht,dies selbst zu definieren. Wir respektieren das und wol-len den Kirchen in diesen Fragen nicht hineinreden.
Die Kirchen verfahren – das ist von Kolleginnen undKollegen schon beschrieben worden – nach dem Systemdes sogenannten Dritten Weges. Es handelt sich um einebesondere Sozialpartnerschaft. Warum sollte es im Übri-gen nicht etwas Besonderes in unserer Gesellschaft ge-ben? Auch hier ist es möglich, Vergleiche zu ziehen undvoneinander zu lernen. Sozialpartnerschaft bedeutet zu-nächst eine paritätisch besetzte arbeitsrechtliche Kom-mission, die eine Verständigung erzielt. Die verbleiben-den Sachkonflikte werden durch eine neutrale undverbindliche Schlichtung geklärt. Das System des Drit-ten Weges ist sowohl durch das Bundesverfassungsge-richt als auch durch das Bundesarbeitsgericht anerkanntworden. Durch die Gestaltung des Schlichtungsverfah-rens ist zudem ausgeschlossen, dass sich eine einzelnePartei mit ihren Vorstellungen durchsetzen kann. Es istempirisch belegbar, dass die Schlichtungsverfahren re-gelmäßig die Interessen beider Seiten angemessen be-rücksichtigen. Die Regelung des Dritten Weges stellt si-cher, dass die Interessen der Mitarbeiterinnen undMitarbeiter gewahrt werden, aber auch auf Arbeits-kampfmittel verzichtet werden kann. Auch das wirddurch den Dritten Weg sichtbar. Es würde nicht demSelbstverständnis der Kirchen entsprechen, auf Mitteldes Arbeitskampfes wie beispielsweise den Ausschlussvon Mitarbeitern zurückzugreifen.Der Antrag der Linken im Bundestag stellt in seinemGrundtenor die Religionsfreiheit sowie die Trennungvon Staat und Kirche in der Bundesrepublik infrage.Dies lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion entschie-den ab. Wir treten für diese Unterscheidung, aber auchfür die Selbstständigkeit beider Institutionen ein. Nachdem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist es Angele-genheit der Kirche, zu klären, welche Berufsbilder es inihr gibt und wie die jeweiligen Berufsbilder an der Erfül-lung des Verkündigungsauftrags mitwirken. Die Kirchenhaben auch die Verantwortung, darüber zu entscheiden,ob die Zugehörigkeit zur Kirche Voraussetzung für dieEinstellung ist, genauso wie Sie es zur Voraussetzungmachen können, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterder Linkspartei beispielsweise nicht zugleich Mitgliederder FDP sind. Ich erinnere daran, dass Sie etwas für sichselber in Anspruch nehmen, das Sie den Kirchen verwei-gern wollen. Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten konse-quent und aufrichtig Ihre Positionen vertreten.Wir werden Ihren Antrag ablehnen.Vielen Dank.
Der Kollege Josef Winkler hat das Wort fürBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Fraktion hat sich im Rahmen einerKleinen Anfrage mit dem sogenannten Dritten Weg derKirchen auseinandergesetzt. Es wurde bereits gesagt,dass die Antwort der Bundesregierung recht dürftig ist.Für uns scheint aber erkennbar zu sein, dass die Bundes-regierung bis zum heutigen Tag nichts für veränderungs-bedürftig und kritikwürdig hält. Diese Ansicht teiltmeine Fraktion explizit nicht.
Wir befinden uns im Dialog sowohl mit der Arbeitge-berseite als auch mit der Arbeitnehmerseite, auch mitden Gewerkschaften, die versuchen, auf dem KlagewegRechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch-zusetzen und auszubauen. Es geht uns aber nicht darum,mit dem Finger auf die Kirche zu zeigen und ihre Tätig-keit im sozialen Bereich schlechtzureden. Diese Arbeitsollte vielmehr gewürdigt werden. Die Vielzahl derkirchlichen Einrichtungen, die in allen Bereichen des so-zialen Lebens unserer Gesellschaft tätig sind, sollten un-sere Unterstützung finden. Ihnen allen gebührt unserDank für das, was sie tun.
Dass in der Sozialbranche die Ökonomisierung umsich gegriffen hat, ist auch nicht ein spezielles Problem,das nur die Kirchen betrifft. Das ist nicht nur dort, son-dern in allen sozialen Einrichtungen so. Deshalb sollteman nicht einfach mit dem Zeigefinger in Richtung Kir-chen argumentieren. Der Kostendruck ist nun einmal so,wie er ist. Er ist aber keine Folge des kirchlichen Selbst-bestimmungsrechts, sondern die Konsequenz aus derÖkonomisierung sozialer Dienstleistungen in der Gesell-schaft insgesamt. Vor diesem Hintergrund wie die Linkezu argumentieren, ist ein wirklich „unterkomplexer An-satz“. Man kann nicht einfach das kirchliche Selbstbe-stimmungsrecht abschaffen, nur weil es Probleme gibt.Mit dieser Generalisierung verfolgen Sie einen falschenAnsatz, den wir nicht mittragen werden.
Sie haben in Ihrem Antrag auch nicht ein einzigesMal – und das wohl aus gutem Grund – Bezug daraufgenommen, wie das Ganze in die Verfassung der Bun-desrepublik Deutschland hineingekommen ist. Sie sa-gen, es sei eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, dassdie Kirchen ihre Tätigkeit im erzieherischen und sozia-len Bereich theologisch herleiteten. So haben Sie es inIhrem Antrag zumindest suggeriert. Dazu sage ich: Dashaben Sie nicht zu beurteilen. Wenn die Kirchen dastheologisch herleiten, dann leiten die Kirchen das theo-logisch her, und das hat der Staat zu akzeptieren. Dakann sich die Linksfraktion hier im Bundestag ruhig aufden Kopf stellen. Die Linksfraktionen in den Bundeslän-
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12372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Josef Philip Winkler
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dern wollen das ja gar nicht ändern, wie wir eben gehörthaben.Auch wir sehen, dass es natürlich ein Problem ist,dass nicht gestreikt werden kann, auch wenn die Arbeit-geberseite bei den Kirchen nicht aussperren darf. Manwird doch wohl auch darüber diskutieren dürfen, ob dasnoch zeitgemäß ist.Ich denke auch, dass die Nichtgeltung der Antidiskri-minierungsregeln in den kirchlichen Betrieben ein Pro-blem darstellt. Es wäre den Kirchen zumindest nicht ver-wehrt, die Stufenregelung wie früher freiwillig jetztschon anzuwenden. Je verkündigungsnäher ein Arbeit-nehmer ist, desto eher könnte man sagen: Die Kirchemuss das selbst entscheiden.Ich halte es aber für absolut abwegig – und es gibtkeinen Fall, der mir logisch erscheint –, dass zum Bei-spiel einer Putzfrau gekündigt werden darf, weil sienicht die gleiche Konfession hat. Es tut mir leid, aber damüssen die Kirchen mit gutem Beispiel vorangehen unddürfen das Recht, das sie haben, nicht ausnutzen. Sosieht es meine Fraktion.
Über diesen Widerspruch, der vorhanden ist, wollenwir diskutieren. Ich bin von der Möglichkeit nicht be-sonders überzeugt, dass wir einfach Recht setzen und dieKirchen vor vollendete Tatsachen stellen. Ob das über-haupt verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist noch eineandere Frage. Wir sollten aber die kritischen Punkte, diewir sehen, im Dialog mit den Kirchen und den Gewerk-schaften in den nächsten Monaten – natürlich auch inden Ausschüssen – diskutieren und konkretisieren. Wirsollten auch den widersprüchlichen Zahlen, die KollegeSchreiner angesprochen hat, auf den Grund gehen. Ichbin mir sicher, dass die beiden großen Kirchen, wenn esda wirklich Probleme gibt, bereit sind, hierzu in einenDialog mit dem Deutschen Bundestag einzutreten.Ich halte es nicht für vernünftig, so vorzugehen, wie esdie Linksfraktion vorschlägt, nämlich einfach einmaleine Gesetzesänderung zu beschließen und dann zu sa-gen: Nun schaut einmal, wo ihr bleibt. Das ist kein wirk-liches Dialogangebot. Deshalb sind wir uns noch nicht si-cher, wie wir mit dem Antrag in der zweiten Lesungumgehen werden.Herzlichen Dank.
Ulrich Lange hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich stelle zunächst eines erfreut fest: Mit Ausnahmeder Linken – der Bundestagsfraktion der Linken, mussich jetzt genauer sagen – herrscht hier bei uns im HohenHaus doch ein grundsätzlicher Konsens darüber, dasskirchliches Arbeitsrecht, die kirchliche Selbstbestim-mung und die Trennung von Kirche und Staat, dessenAusdruck das Ganze ist, bei uns letztlich unangefochtenbleiben müssen. Denn wir alle wissen, was die Kirchenüber Jahrhunderte in diesem Land geleistet haben. Esgeht am Ende nicht, wie in Ihrem Antrag steht, darum,wie viel Prozent der Bundesbürger einer der beiden gro-ßen Kirchen angehören, sondern – wie vorhin schonganz richtig betont worden ist – es geht um das religiöseVerständnis der Kirchen an sich, ihr eigenes Profil undihren Daseinszweck mit der Caritas, wie der KollegeWeiß vorhin so schön sagte, als Wesensäußerung derKirche.Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken, kann ich auch nicht ganz nachvollziehen, wenn Sieletztlich von einem Konzern Kirche sprechen; denn vie-les, was die Kirche, die kirchlichen und die caritativenEinrichtungen in unserem Land leisten, könnten Sie aufeinem freien Markt nicht anbieten. Sie hätten nieman-den. Das müsste am Ende der Staat machen. Deswegenglaube ich, dass hier das Gewachsene eine sehr gute Ba-sis ist, auf der wir weitermachen wollen.Über die Vorteile des Dritten Weges ist auch schongesprochen worden. Die Stellung der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter ist beileibe nicht so schwach, wie unsder Antrag der Linken suggerieren möchte.Lassen Sie mich aber kurz ganz speziell auf dasThema Loyalitätsverstoß eingehen. Sie sagen, ein Loya-litätsverstoß würde – wie es das Urteil des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte, das Sie zitiert haben,besagte – letztlich zu einem Kündigungsautomatismusführen. Da haben Sie entweder das Urteil nicht ganzrichtig gelesen oder nicht ganz richtig verstanden.
– Ich wollte jetzt noch die Auswahl lassen. – Sie habenletztlich unterschlagen, dass der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte – mit Urteil vom 3. Februar die-ses Jahres noch einmal bestätigt – ganz klar gesagt hat,dass das deutsche Kirchenrecht, das kirchliche Arbeits-recht, grundsätzlich mit europäischem Recht vereinbarist. Die Entscheidung in der Klage dieses Organisten istletztlich eine Abwägungsfrage gewesen, eine reine Ein-zelfallentscheidung. Denn zum Beispiel hat der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte am 3. Februar dieKündigung einer Kindergärtnerin für rechtens erklärt ge-nau mit dem Argument, dass die Religionsfreiheit derBeschwerdeführerin nicht verletzt worden sei. Es gehtalso letztlich immer um die Einzelfallabwägung und dieEinzelfallbetrachtung.Lieber Kollege der Linken, die Kirchen verstehen daskirchliche Arbeitsrecht nicht als Freibrief. Das wissenauch wir hier im Deutschen Bundestag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachtet man dasGros der arbeitsrechtlichen Judikatur des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte und auch unserer Ar-beitsgerichte zu den kirchlichen Arbeitsverhältnissen,dann zeigt dies, dass man sehr wohl bereit ist, die Beson-derheit dieses kirchlichen Arbeitsverhältnisses mitzutra-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12373
Ulrich Lange
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gen, und das – ich sage das jetzt ausdrücklich – nicht nurwegen Art. 140 des Grundgesetzes, mit dem wir Teileder Weimarer Reichsverfassung übernommen haben,sondern weil wir – das zeigt auch der Konsens in diesemHaus – wissen, welche Leistungen die Kirchen hier füruns als Gesellschaft erbringen.
Gleichzeitig – das möchte ich auch deutlich unterstrei-chen – ist dieses verfassungsrechtlich gebotene Entge-genkommen auch eine Verpflichtung für die Kirchen,entsprechend als Vorbild zu handeln. Überall dort, wodas nicht der Fall ist, muss sich die Kirche selber fragen,ob sie dieses Arbeitsrecht dann in Anspruch nehmenkann.Ich sage für die Christlich-Soziale und die Christlich-Demokratische Union: Wir wollen ein ausgewogeneschristliches, kirchliches Arbeitsrecht auch in einer profa-neren Zukunft. Ich sage allen ein herzliches „VergeltsGott!“, die in kirchlichen Einrichtungen ihren Diensttun. Wir stehen weiter zu ihnen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5523 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Die Federführung
soll beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan
Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert
Rupprecht , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Dr. Martin Neumann ,
Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gestaltung der zukünftigen europäischen
Forschungsförderung der EU
– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager,
Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Stärkung des Europäischen Forschungs-
raums – Die Vorbereitung für das 8. For-
schungsrahmenprogramm in die richtigen
Bahnen lenken
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Europäische Forschungsförderung in den
Dienst der sozialen und ökologischen Er-
neuerung stellen
– Drucksachen 17/5492, 17/5449, 17/5386,
17/5802 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
René Röspel
Dr. Martin Neumann
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Es ist vorgesehen, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bun-
desregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas
Rachel.
T
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Europäische Union ist ein großer Frie-dens- und Freiheitsraum. Europa ist ein großer Binnen-markt für Waren und Dienstleistungen. Europa ist deruns verbindende Kulturraum, der die Vergangenheit unddie Zukunft prägen wird. Europa muss aber auch einRaum für Forschung und Innovation sein. Deshalb hatdie Bundesregierung sehr frühzeitig damit begonnen,sich an der Diskussion über die Fortentwicklung des8. Forschungsrahmenprogramms mit eigenen program-matischen Vorstellungen zu beteiligen.Mit ihrem Grünbuch hat die Europäische Kommissionzu Beginn dieses Jahres die Debatte darüber angestoßen,wie Forschung und Innovation in einem gemeinsamenstrategischen Rahmen zu einem stärker wissensbasiertenund nachhaltigen Wachstum beitragen können. Die Bun-desregierung befürwortet diesen integrativen Ansatz, denwir auch in der Hightech-Strategie der Bundesregierungvertreten, und setzt auf einheitliche Fördermodalitäten.Sie will, dass wir keine starren, sondern flexible Regelun-gen bekommen, um neue Chancen und Herausforderun-gen in einem kontinuierlichen Prozess aufgreifen zu kön-nen.Ich freue mich, dass sich die im Bundestag vertrete-nen Fraktionen über die herausragende Bedeutung vonForschung und Entwicklung einig sind. Ich sehe vieleParallelen in den Anträgen der Fraktionen, zum Beispielin der Fokussierung auf die großen gesellschaftlichenHerausforderungen, in dem klaren Bekenntnis zum Vor-rang der Verbundforschung als dem Kernstück der euro-päischen Forschungsförderung sowie in der Forderungnach einer deutlichen Vereinfachung der Förderverfah-ren. Gerade in dieser Vereinfachung entscheidet sich die
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Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
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Akzeptanz des 8. Forschungsrahmenprogramms in unse-ren Ländern.
Darüber hinaus freuen wir uns über die große Zustim-mung der christlich-liberalen Koalition zur Orientierungder künftigen europäischen Forschungspolitik am Exzel-lenzprinzip. Mit dem exzellenzgetriebenen Forschungs-rahmenprogramm haben wir in Europa eine weltweit an-erkannte Marke etabliert. Daher ist es unverständlich,dass aus den Reihen der Opposition eine Abschwächungdes Exzellenzprinzips zugunsten von Kohäsionszielenangestrebt wird.
Anstatt die für den Erfolg des Rahmenprogrammsnotwendige Exzellenz der europäischen Forschungdurch Kohäsionsziele zu verwässern, sollten wir gerademithilfe des Strukturfonds Brücken für eine bessere Be-teiligung strukturschwacher Regionen am Forschungs-programm bauen. Den Weg der Angleichung der euro-päischen Forschungslandschaft auf einem mittelmäßigenNiveau werden wir nicht mitgehen; denn ein solcherWeg nützt weder den europäischen noch den deutschenInteressen.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf verwei-sen, dass keineswegs alle neuen Mitgliedstaaten im Rah-menprogramm unterrepräsentiert sind. Es besteht viel-mehr ein sehr uneinheitliches Bild in der Beteiligung derMitgliedstaaten. Unsere Analysen zeigen, dass das er-folgreiche Einwerben von Fördermitteln im europäischenWettbewerb maßgeblich von der jeweiligen Ausgestal-tung der regionalen und nationalen Politik abhängt.Wir sind bereit, in der nächsten Förderperiode unse-ren Beitrag für eine Heranführung der im Programm bis-lang unterrepräsentierten Regionen zu leisten. Wir sindhier für kreative und innovative Ideen offen. Hier sindLösungsansätze denkbar, die eine Art Hilfestellung fürEinrichtungen und Unternehmen aus den neuen Mit-gliedstaaten darstellen. Eine Vermischung des Exzel-lenzprinzips mit dem Kohäsionsprinzip in einem einzi-gen Programm ist aus unserer Sicht jedoch keingangbarer Weg.
Das Forschungsrahmenprogramm ist ein wichtigesInstrument für ein wissensbasiertes, nachhaltiges und in-tegratives Wachstum. Deshalb werden wir einer Ent-kopplung von wirtschaftlichen und forschungspoliti-schen Zielsetzungen, wie sie die Fraktion Die Linkefordert, nicht zustimmen. Sie steht auch im fundamenta-len Widerspruch zur Europa-2020-Strategie. Wir wollenuns sowohl den Herausforderungen der Gesellschaftstellen als auch gleichzeitig neue Wachstumspotenzialeermöglichen. Aus dem Gemeinsamen wird der Mehr-wert für die Europäische Union.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Euro-päische Forschungsrat hat die grundlagenorientierte Pio-nierforschung in der europäischen Forschungslandschaftnach vorne gebracht. Konzipiert als wissenschaftsgelei-tetes Förderprogramm für exzellente und unabhängigeForschung, gehört der Europäische Forschungsrat be-reits jetzt zu den herausragenden neuen Elementen deseuropäischen Forschungsraums. Durch einen Impuls vonBundesforschungsministerin Annette Schavan währendder deutschen EU-Präsidentschaft ist dieser EuropäischeForschungsrat geschaffen worden.Der ERC stärkt den innereuropäischen Exzel-lenzwettbewerb um die besten Köpfe in ganz Europaund trägt so auch zur Attraktivität des Europäischen For-schungsraums für Forscherinnen und Forscher – übri-gens auch aus Drittstaaten – bei. Dies wollen wir stär-ken. Der ERC muss der Leuchtturm der europäischenGrundlagenforschung sein.Die Opposition hat Angst vor einem klaren Exzel-lenzprinzip im 8. Forschungsrahmenprogramm.
Für uns dagegen ist Exzellenz die entscheidende Grund-lage für die Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunftsfä-higkeit dieser Europäischen Union.
Voraussetzung für den Erfolg des Gemeinsamen Stra-tegischen Rahmens für Forschung und Innovation istzweifellos eine gesamteuropäische Diskussion über dieSchwerpunkte im europäischen Haushalt. Wir wolleneine Neuausrichtung des EU-Haushalts zugunsten derZukunftsinvestitionen und zugunsten von Forschung undInnovation. Dafür setzen wir uns ein. Das sollte unsergemeinsames Ziel sein.Die Bundesregierung wird die Aufgabe der Sicherungder wissenschaftlichen und technologischen Leistungs-fähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit Europas mit ihrerklaren Programmatik voranbringen, sodass wir die Zu-kunft für die Menschen in Europa gemeinsam erfolg-reich gestalten können.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. –
Als Nächster hat unser Kollege René Röspel für die
Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön,
Kollege René Röspel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das 7. Forschungsrahmenprogramm ist ein tat-sächliches Schwergewicht in der europäischen Politik –nicht nur wegen seines finanziellen Volumens von
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René Röspel
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54 Milliarden Euro, das hier bereitgestellt wird, sonderngerade auch wegen seines Inhalts. Es geht nämlich umdie Förderung europäischer Forschungspolitik und For-schungsvorhaben.Mittlerweile haben glücklicherweise viele Länderverstanden – Deutschland schon länger –, wie wichtigBildung, Forschung und Innovationen sind – nicht nur inDeutschland, sondern auch in Europa.
Deswegen ist es sehr gut, dass sich der Deutsche Bun-destag und die Bundesregierung in diesem Jahr schonseit längerer Zeit damit befassen, die Erstellung des8. Forschungsrahmenprogramms zu begleiten und dieWeichen frühzeitig zu stellen. Das 8. Forschungsrah-menprogramm wird nämlich eine ähnlich wichtige Be-deutung wie das 7. Forschungsrahmenprogramm haben.Deswegen wäre es gut und angemessen gewesen, wennwir als Deutscher Bundestag eine gemeinsame, klarePosition entwickelt und nach Brüssel gesandt hätten, umdeutlich zu machen, was Deutschland für richtig undsinnvoll hält.
Das wäre möglich gewesen. Herr Rachel, Sie habendie Gemeinsamkeiten angesprochen. Es gibt viele Ge-meinsamkeiten aus deutscher Sicht, die sicherlich alleFraktionen in einem klaren, knappen Antrag unterschrie-ben hätten.Wir alle wollen, dass das 8. FRP finanziell mindes-tens genauso stark ausgestattet wird wie das 7. For-schungsrahmenprogramm; vielleicht könnte man denEtat sogar erhöhen. Wir sind überzeugt, dass das Pro-gramm „Verbundforschung“, in dem verschiedene Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen europäi-schen Ländern miteinander ein Thema bearbeiten,erfolgreich war. Wir sehen, dass der Europäische For-schungsrat, wo Fördergelder nach Exzellenz, also nachwissenschaftlicher Qualität, an junge Nachwuchswissen-schaftler oder erfahrene Wissenschaftler vergeben wer-den, ein erfolgreiches Projekt ist, vergleichbar der Deut-schen Forschungsgemeinschaft. Wir alle sind überzeugt– das wäre ein weiterer Punkt –, dass Wissenschaftlerin-nen stärker gefördert werden müssen, als es jetzt der Fallist, nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäi-scher Ebene.
Wir wissen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs bes-ser gefördert werden muss. Ein letztes Beispiel: Ja, wirbrauchen eine Vereinfachung der Verfahren bei den eu-ropäischen Fördermitteln, nicht nur bei der Antragstel-lung, sondern auch bei der Abrechnung.Das alles hätten wir in einen gemeinsamen interfrak-tionellen Antrag kleiden können. Das wäre ein starkesSignal an Brüssel gewesen. Wir hätten sagen können:Das deutsche Parlament will diese Kernforderungen im8. Forschungsrahmenprogramm verwirklicht sehen. –Leider ist das nicht gelungen. Wir als SPD, als Opposi-tion, waren dazu bereit, ein gemeinsames Paket zuschnüren. Ich kenne die Schwierigkeiten, die eine Regie-rungskoalition hat. Aber wir haben in der letzten Legis-laturperiode durchaus gezeigt, dass es von Regierungs-seite möglich ist, etwas Gemeinsames dort zu machen,wo es sinnvoll ist. Jetzt aber werden die BundesrepublikDeutschland, das deutsche Parlament als zersplittertwahrgenommen, weil es unterschiedliche Anträge undeinen Antrag, der die Mehrheit finden wird, gibt. Dasfinde ich sehr schade, und das ist dem Thema nicht ange-messen.
Allerdings gibt es auch eine Reihe von Unterschiedenin der Bewertung.
– Nein, die hätte man in anderen Anträgen aufgreifenkönnen. Bei den vielen Gemeinsamkeiten hätten wirschon einen guten Antrag auf den Weg bringen können. –Die Differenzen will ich benennen. Gerade ist das Exzel-lenzprinzip angesprochen und Rot-Grün der Vorwurf ge-macht worden, wir wollten mit unserem Antrag das Ex-zellenzprinzip aufweichen. Das ist zwar ein interessanterrhetorischer Versuch, aber es ist genau umgekehrt.Schauen wir uns den Antrag der CDU/CSU an – denkann man übrigens gut knicken –
und was in ihm über Exzellenz steht. Wir betonen in un-serem rot-grünen Antrag ausdrücklich das Bekenntnis zurExzellenz. Wir sagen, dass es unbestritten ist, dass Exzel-lenz, also die wissenschaftliche Qualität, das bestim-mende Prinzip sein muss, aufgrund dessen Fördermittelvom Europäischen Forschungsrat vergeben werden müs-sen. Was steht aber im Antrag der CDU/CSU? Wenn dasExzellenzprinzip verwässert wird, dann in diesem Papier.Auf Seite 2 steht, dass Exzellenz das wichtigste Krite-rium sei, an anderer Stelle, dass Exzellenz Priorität habeund das ausschließliche Kriterium sei. In Punkt 3 aberschreiben Sie, es sei die „Marktrelevanz bei der Vergabevon Fördermitteln zu berücksichtigen, damit die For-schungsförderung einen noch größeren Beitrag zur wirt-schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit leisten kann …“. AufSeite 4 wird es noch toller. Dort steht, die Marktrelevanzsei neben dem Exzellenzkriterium wichtig, und vor allemmüssten die Forschungsprojekte bereits am Anfang stär-ker auf ihre Marktrelevanz geprüft werden – nicht auf dieExzellenz, sondern auf die Marktrelevanz. Das finde ichallerdings schon sehr spannend. Sie sind es, die das Ex-zellenzprinzip verwässern, weil Sie ein neues Kriteriumeinführen, die Marktrelevanz.
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René Röspel
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Ich will Ihnen sagen, warum diese Abkehr einen rich-tig großen Fehler darstellt. Ich will zwei Beispiele nen-nen.Erstes Beispiel. Wenn Sie Exzellenz als wichtigesKriterium sehen, aber Marktrelevanz berücksichtigen,dann setzen Sie das Ziel, dass das Forschungsrahmen-programm einen Beitrag zur, wie Sie sagen, wirtschaftli-chen Wettbewerbsfähigkeit leisten soll. Wir allerdingssehen – so habe ich die Leitlinien der Bundesregierungund auch die Europäische Kommission und das Parla-ment verstanden – das Forschungsrahmenprogramm alseinen Beitrag, die großen Herausforderungen unsererGesellschaft zu bewältigen: Klima, Energie, Umwelt-schutz, Gesundheit, demografische Veränderung und Al-ter. Es ist also die Frage zu stellen, was wir tun und wiewir forschen müssen, damit Menschen gesünder lebenund damit sie im Alter länger fit bleiben.Das alles kann dazu führen, dass dabei marktrelevanteProdukte herauskommen. Aber das ist nicht das Kernziel.Das kann nach unserer Auffassung auch dazu führen, dassSozial- und Geisteswissenschaften stärker berücksichtigtwerden und nicht nur technologische Forschung betrie-ben wird. Sie erreichen also das Ziel, das wir verfolgen,nämlich die großen Herausforderungen in den BereichenGesundheit und Umwelt anzunehmen, überhaupt nicht,wenn Sie Marktrelevanz als zusätzliches Kriterium ein-führen.Zweites Beispiel. Wenn, wie Sie schreiben, vor jederFörderung eines Forschungsprojektes die Marktrelevanzgeprüft werden muss, bedeutet das den Tod von Grund-lagenforschung.
Bei Grundlagenforschung kann Marktrelevanz nämlichnicht nachgewiesen werden. Auch bei Forschung im Ge-sundheitsbereich, bei der es ja darum geht, die Situationvon Menschen zu verbessern, weiß man nicht, ob amEnde ein marktrelevantes Produkt herauskommt. Ichfinde – das war vielleicht der Grund, warum der Rede-beitrag der Bundesregierung gleich am Anfang kam –,dass Sie vom Exzellenzprinzip tatsächlich in einer fal-schen Weise Abschied nehmen. Das bedauern wir sehr.Einen weiteren Differenzpunkt möchte ich noch ab-schließend nennen – meine Redezeit läuft ab –: Wir glau-ben, dass die geforderte Energiewende es nötig macht,auf europäischer Ebene über Veränderungen bei der For-schungsförderung im Energiebereich nachzudenken, undzwar hin zu mehr Klimaforschung und zur Erforschungvon erneuerbaren Energien und von Energieeffizienz. Da-mit können wir die großen Herausforderungen, vor denensich Europa und Deutschland gestellt sehen, auch besserangehen.Vielen Dank.
Wir danken Ihnen, Herr Kollege. – Als Nächster
spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Professor
Dr. Martin Neumann. Bitte schön, Kollege Neumann,
Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die zentrale Frage, die sich hier im Saal stellt,ist die Frage nach den Merkmalen des weiteren Ausbausdes Europäischen Forschungsraums. Wenn man sich dieAnträge anschaut – wir haben ja gestern im Ausschusssehr ausführlich darüber gesprochen –, dann stellt manfest, dass wir in der Tat recht dicht beieinanderliegen,einmal abgesehen vom Antrag der Linken. Dazu gibt estatsächlich deutliche Differenzen.Ich will an dieser Stelle einen ganz wichtigen Punkthervorheben: Wir haben ein unterschiedliches Verständ-nis von der Zielstellung. Wir wollen mit unserem Antragnicht erreichen, dass es ein europäisches Forschungssys-tem gibt, sondern wir wollen einen gemeinsamen Euro-päischen Forschungsraum definieren. Das ist ein ganzgravierender Unterschied. Worin besteht der Unter-schied? Wir wollen, dass die Mitgliedstaaten, also auchwir und damit unser Forschungsstandort Deutschland,selbst für die Leistungsfähigkeit der nationalen For-schungssysteme Verantwortung übernehmen. Das heißt,wir wollen primär in den nationalen Forschungssystemendie Schwerpunktsetzung, die Gestaltung der Forschungs-infrastruktur, die Förderung von wissenschaftlichemNachwuchs und – das ist ganz wichtig und wird auch im-mer wieder angesprochen – die Partizipation von Frauenin der Wissenschaft vornehmen. Das Forschungsrahmen-programm der EU ist also als gemeinsame Initiative ge-dacht, unter dessen Dach die Koordinierung und Verzah-nung der jeweiligen nationalen Forschungsstandorte und-strukturen stattfindet.Ein weiterer Punkt ist ganz deutlich hervorzuheben:Bei den Veranstaltungen in Brüssel, die wir gemeinsambesucht haben, haben wir festgestellt, dass die Vereinfa-chung ein ganz wichtiges Kriterium ist. Viele Partner,die sich an diesen Programmen beteiligen wollen, stöh-nen nämlich immer wieder darüber, dass alles sehrschwierig ist. Wenn man schon weiß, dass das For-schungsrahmenprogramm sehr schwierig ausgestaltetist, dann darf man die Programme nicht noch weiterüberladen. Das genau tun Sie aber, wenn Sie fordern,dass weitere Dinge aufgenommen werden, zum Beispieldas Kriterium der Forschungsstrukturförderung für ex-zellenzschwache Regionen bei der Vergabe von Förder-mitteln. Wir wollen nicht – das will ich hervorheben,weil es für uns wichtig ist –, dass die Kohäsionspolitikentscheidend bei der Vergabe von Fördermitteln seinsoll.Wir haben gestern im Ausschuss sehr ausführlich da-rüber gesprochen, dass für die Kohäsionspolitik in Eu-ropa eine Vielzahl von Instrumenten und Fördermittelnvorgesehen ist, die dann natürlich auch von den jeweili-gen Ländern für die Förderung der Forschungsinfra-
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Dr. Martin Neumann
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struktur verwendet werden können. Ich möchte deshalbnochmals ganz deutlich auf den Kohäsionsfonds hinwei-sen, der ausreichend Mittel bereithält, um exzellenz-schwache nationale Forschungssysteme besser aufzu-stellen und leistungsfähiger zu machen. Dieser Punkt istfür uns sehr wichtig, und ihn möchten wir an dieserStelle sehr deutlich hervorheben. Nur so ist es nach un-serer Auffassung möglich, dass der Europäische For-schungsrat auch in Zukunft Erfolge und hervorragendeLeistungen erzielt.In der gestrigen Ausschusssitzung ist von Ihnen, FrauSager, und gerade auch von Herrn Röspel das Kriteriumder Marktrelevanz als Widerspruch dargestellt worden.Wir finden, dass sich dieses Kriterium in den Zusam-menhang der Verbundforschung einfügt und dass es keinWiderspruch ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Wirwollen, dass in der Forschung – das muss man an dieserStelle noch einmal deutlich sagen; Staatssekretär Rachelhat es ebenfalls hervorgehoben – ausschließlich das Ex-zellenzkriterium gilt, während bei der Entwicklung dieMarktrelevanz neben der Exzellenz berücksichtigt wer-den muss. Das Kriterium der Marktrelevanz steht alsoaus unserer Sicht in keinem Widerspruch zu den anderenKriterien, sondern trägt vor dem Hintergrund der Europa-2020-Strategie zu der Schaffung der internationalenWettbewerbsfähigkeit mittels wirtschaftlicher Innova-tion bei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-tion, Sie meinen, wir müssten auch im Forschungsrah-menprogramm berücksichtigen, wie man schwächerePartner einbeziehen kann. Das war, glaube ich, der KernIhrer Ausführungen. In dem bilateralen Twinning-Pro-gramm werden Fördermittel an exzellenzstarke Partnervergeben, die dann innerhalb des Programms schwä-chere Partner und Regionen mitnehmen, sodass dieschwächeren Partner durch die Kooperation wachsenkönnen. Vielleicht ist das Twinning-Programm somitauch die Antwort auf Ihre Frage, wie man die struktur-schwachen Regionen besser fördern und sie möglicher-weise in die Entwicklung mit einbeziehen kann.Der Gedanke der Kooperation und Partnerschaftsteckt nicht nur – das ist ein ganz wichtiger Punkt – indem bilateralen Twinning-Programm. Ich möchte hiereinen weiteren Schwerpunkt nennen, der diesen Gedan-ken beinhaltet, nämlich die Verbundforschung, die ins-besondere die Zusammenarbeit von Hochschulen, For-schungseinrichtungen und der Wirtschaft, vor allem mitden kleinen und mittleren Unternehmen, anstrebt.Genau diese Kooperationen sind nach meiner persön-lichen Überzeugung Innovationstreiber für den europäi-schen Markt. Deshalb benötigen diese Projekte unserepolitische Rückendeckung.Zu Beginn ist hier die Frage gestellt worden, warumwir keinen gemeinsamen Antrag gestellt haben. Ich habegerade auf die wesentlichen Unterschiede hingewiesen.Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass es nichtsein kann, dass wir unserer Bundesregierung für dieseDiskussion in Europa einen Minimalkonsens an dieHand geben. Vielmehr wollen wir einen starken Antraghaben. Dabei sind das Exzellenzkriterium und dieMarktrelevanz entscheidend und zentral, und nur unterBerücksichtigung dieser Kriterien hätte möglicherweiseein konsensfähiger Antrag entstehen können.Wir haben einen konsistenten Antrag vorgelegt unddie Gründe genannt, warum wir Ihre Anträge ablehnenwerden. Wenn Ihnen an einem politischen Signal inRichtung Europa gelegen ist, wie Sie es im Ausschussgeäußert haben, lade ich Sie sehr herzlich ein, sich unse-rem Antrag anzuschließen.
Ich bedanke mich.
Vielen Dank, Herr Kollege Professor Neumann. –
Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Dr. Petra Sitte. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Sitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann,glaube ich, mit meinem Beitrag sehr gut an die Rede vonHerrn Röspel anschließen. Die Diskussionen um das8. Forschungsrahmenprogramm fallen immerhin in eineZeit, da sich existenzielle Fragen der Zukunft in einervöllig neuen Schärfe stellen. Ob Finanzkrise, Klimawan-del oder Fukushima – Störfälle und Krisen schrecken dieMenschen in der gesamten Welt auf. Es hat sich in dieserSituation gezeigt, dass weder Politik noch Wissenschaftzuverlässige Voraussagen und Handlungsoptionen zurBeherrschung solch komplexer Systeme für Szenariendes Zusammenbruchs bieten konnten. Tausende Opferheute und in der Zukunft sowie unabsehbare Folgen undKosten für die menschliche Gemeinschaft erfordern vonuns einen anderen Umgang mit entgrenzten Risiken. Eskann hier also niemand mehr so tun, als hätten Wissen-schafts- und Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund die-ser Ereignisse kein massives Legitimationsproblem. Vielzu groß ist der Vertrauensverlust.Wissenschaft und Wirtschaft müssen Fragen einer zu-tiefst verunsicherten und kritischen Öffentlichkeit in ei-ner ganz neuen Dimension und Konsequenz beantwor-ten. Vor diesem Hintergrund muss der bisherige Fort-schrittskonsens neu diskutiert werden.
Risikoforscher sprechen von einer weltweiten Gemein-samkeit der Gefahr. Als Fazit formulieren sie die politi-sche Vision: Kooperiere oder scheitere! Das deckt sichzu 100 Prozent mit den Positionen der Linken. Im Um-kehrschluss heißt doch Ihre Position zur Marktrelevanzder Forschung nichts anderes als: Konkurriere und schei-tere! Unser Antrag trägt deshalb die Überschrift „Euro-päische Forschungsförderung in den Dienst der sozialenund ökologischen Erneuerung stellen“.
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Dr. Petra Sitte
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Wissenschaft und Forschung können einerseits Eu-ropa neue Perspektiven für eine moderne, sozial-ökolo-gische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ge-ben, andererseits entscheidende Beiträge zur gerechterenLösung gesellschaftlicher Konflikte über europäischeGrenzen hinaus leisten.
Meine Damen und Herren von der Koalition, dafür brau-chen wir sehr viel Exzellenz.Wir haben nichts Geringeres als die Frage zu beant-worten: Wie wollen wir und wie können wir in Zukunftleben? Der Koalitionsantrag – das ist schon angedeutetworden – folgt ziemlich unbeeindruckt der alten Logik,als hätte es die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht gege-ben, als würde in Fukushima nicht immer noch derRauch aufsteigen. Das liest sich im Koalitionsantrag wiefolgt – ich zitiere –:Die zukünftige Forschungs- und Innovationsförde-rung muss … noch klarer … auf die technologischeFührungsrolle und die industrielle Wettbewerbsfä-higkeit Europas ausgerichtet werden.
An anderer Stelle heißt es:Die Bemühungen Europas bei der Forschungs- undInnovationsförderung sollen das Potenzial für wirt-schaftliches Wachstum haben.Es ist mir, ehrlich gesagt, schleierhaft, wie man glau-ben kann, unter dieser Prämisse tatsächlich Lösungen fürdie großen gesellschaftlichen Herausforderungen erar-beiten zu können. Gerade dieses einseitige wirtschafts-und technologiezentrierte Herangehen hat doch erst dieKonflikte hervorgebracht und sie verschärft.
Der Bundestag hat es unlängst für nötig erachtet, eineEnquete-Kommission einzusetzen, die sich vor allemmit der Frage beschäftigt, ob nicht gerade diese Wachs-tumslogik eine zentrale Ursache der Probleme ist. NachAnsicht der Koalition soll die Wirtschaft nicht nur weiterdie Themen setzen, sondern sogar noch dominanter.Wohl wahr: Das sehen wir ausdrücklich anders.
Wir sagen: Öko-sozial statt marktradikal.
Die Linke will die Forschungsförderung – da kann ichsehr schön an Herrn Röspel anschließen – konsequent anden Großzielen bei der Armutsbekämpfung, der Gesund-heit, der Ernährung sowie beim Klima- und Umwelt-schutz ausrichten. Dabei ist insbesondere der Wissens-transfer in ärmere Regionen der Erde auszubauen. Be-zogen auf Osteuropa bedeutet das: Die osteuropäischenEU-Mitglieder, die bisher weniger als 5 Prozent der EU-Forschungsförderung erhalten, müssen deutlich stärkereingebunden werden.Des Weiteren soll die Energieforschung Innovationenbei den erneuerbaren Energien und effizientere Spei-chertechnologien liefern. Sozial- und Geisteswissen-schaften sollen an Vorschlägen zur Konditionierung so-zialer Sicherungssysteme arbeiten. Schließlich soll dasProgramm zur Sicherheitsforschung konsequent zivilausgerichtet werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Technikfolgen- und Risi-koabschätzung auch in Bezug auf Katastrophenmanage-ment, Ursachenforschung, soziale Konflikte und ethi-sche Fragen der Wissensanwendung erheblich auszu-bauen.Meine Damen und Herren, das europäische For-schungsprogramm muss entscheidend dazu beitragen,dass Globalisierung zu einem stärkeren gesellschaftli-chen Ausgleich führt; es muss Impulse setzen. Die Ko-operation muss gezielt gestärkt werden; denn – ich erin-nere Sie an die Vision der Zukunftsforscher –: Wer nichtkooperiert, der scheitert.Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Krista Sager.
Bitte schön, Frau Kollegin Krista Sager.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das7. Forschungsrahmenprogramm der EU hat gerade ein-mal einen Anteil von 5,5 Prozent am jetzigen EU-Haus-halt. Die 27 EU-Staaten sind weit davon entfernt, ihrZiel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschungauszugeben, zu erreichen. Das wird dem Anspruch einerwissensbasierten Gesellschaft und Ökonomie nicht ge-recht.
– Da könnten ruhig alle klatschen.Wenn wir uns anschauen, welche Steigerungsratenandere Staaten im Forschungsbereich zu verzeichnen ha-ben, dann müssten wir ein gemeinsames Ziel haben: Das8. Forschungsrahmenprogramm muss im nächsten EU-Haushalt einen größeren Stellenwert haben.
Wir sind weit davon entfernt, dass das eine Selbstver-ständlichkeit ist. Das allein wäre schon ein ziemlich gu-ter Grund dafür gewesen, dass sich der Bundestag in derForschungspolitik in einigen Punkten in einem gemein-samen Antrag aufstellt.
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Krista Sager
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Ich finde es wirklich bedauerlich, dass die Koalition dasnoch nicht gelernt hat.
Ich kann Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Koalition: In anderen Ausschüssen haben IhreKolleginnen und Kollegen das bereits gelernt, und ichhoffe, dass das bei Ihnen auch irgendwann einmal derFall sein wird.
Die europäischen Staaten stehen vor großen gemein-samen Herausforderungen: Energiewende, Klimawan-del, demografischer Wandel sind nur einige davon. Dasspricht dafür, dass wir größere Anstrengungen in derForschung brauchen. Das spricht aber auch dafür, dasswir die gemeinsamen Forschungsanstrengungen stärkerauf diese Herausforderungen fokussieren. Das bedeutetaber auch, dass wir uns von Ansätzen, die sich heute alsFehlschläge und Fehlinvestitionen herausgestellt haben,schleunigst verabschieden. Das KernfusionsprojektITER wird keinen Beitrag zur Energiewende leisten,also müssen wir aussteigen.
Der Euratom-Vertrag passt nach Fukushima noch weni-ger in die Zeit als bisher, also müssen wir uns überlegen,wie wir da herauskommen.
Diesen Überlegungen verweigern Sie sich bisher.Wir stimmen in der Frage überein, dass die Verbund-forschung und die Grundlagenforschung durch den Eu-ropäischen Forschungsrat einen großen Beitrag zu einemeuropäischen Mehrwert in der Forschung leisten. In die-sem Punkt besteht kein Dissens.
Herr Neumann, Herr Kaufmann und Herr Rachel, wennSie das Hohelied des Europäischen Forschungsrates sin-gen, entgegne ich Ihnen: Das Kriterium Marktrelevanzdarf dabei keine Rolle spielen. Vielmehr gilt das Krite-rium Exzellenz, das heißt, es wird überprüft: Was sinddie vielversprechendsten Ansätze,
und wer sind die besten Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler? Die sollen zum Zuge kommen. Das ist einvöllig anderes Kriterium als das der Marktrelevanz, dasSie einführen wollen.
Auch wir legen großen Wert darauf, dass die Geistes-und Sozialwissenschaften in Zukunft sowohl in interdis-ziplinären Projekten als auch auf eigenen Forschungs-feldern einen Beitrag leisten und im Forschungsförder-programm angemessen berücksichtigt werden. AberForschung ist immer nur so gut wie die Forscherinnenund Forscher. Deswegen finden wir es besonders wich-tig, dass wir die Personenprogramme stärken, beispiels-weise die Nachwuchsförderung über das Marie-Curie-Programm, aber auch durch die personenbezogenen Pro-gramme des Europäischen Forschungsrates. Wenn wirdie besten Köpfe und die besten Talente für die europäi-sche Forschung gewinnen wollen, dann müssen wir da-für sorgen, dass Frauen in der Europäischen Union stär-ker an der Forschungsförderung beteiligt werden. Hierbrauchen wir mehr Verbindlichkeit.
Herr Rachel, wir wollen das Kriterium der Exzellenznicht aufgeben, wir wollen es in der Forschungsförde-rung beibehalten. Es kann Ihnen aber doch nicht egalsein, ob die Mitgliedstaaten, die bisher unterdurch-schnittlich von der Forschungsförderung profitierten,nach wie vor zu der Struktur dieser Programme und zudiesen Kriterien stehen. Das heißt, Sie müssen ihnenBrücken bauen. Ich halte es für einen Fehler der Bundes-regierung, dass Sie innerhalb der Europäischen Union sowenig bündnisfähig denken.Dass mit Mitteln des Kohäsionsfonds die Forschungs-infrastruktur gefördert wird, halte ich für selbstverständ-lich, Herr Neumann. Wir schlagen zudem ein Programmvor, mit dem wir dafür sorgen, dass Forscherinnen undForscher in den forschungsschwächeren Ländern eineChance bekommen, aus diesen Ländern heraus den An-schluss an die Spitzenforschung auf europäischer Ebenezu finden. Das ist mit Twinning nicht getan. Sie müssendafür sorgen, dass in diesen Ländern Forschung zu ver-nünftigen Bedingungen betrieben werden kann. Daswürde für die Zukunft eine vernünftige Bündnispolitikauf europäischer Ebene bedeuten, vor allem im Hinblickauf den Europäischen Forschungsrat und die Exzellenz-kriterien.
Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung, die die Ver-handlungen zum 8. Forschungsrahmenprogramm nunsehr forciert angehen muss, wenigstens einige Vor-schläge der Opposition mit auf den Weg nimmt. Ichglaube, Sie wären damit gut beraten.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Krista Sager. – Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Stefan
Kaufmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden An-
trag der Koalitionsfraktionen präsentieren wir der EU-
Kommission die Vorstellungen des Bundestages zur
Ausgestaltung der künftigen EU-Forschungsförderung.
Diese Stellungnahme erfolgt ganz bewusst – das muss
man auch einmal sagen – im Rahmen des nächste Woche
zu Ende gehenden Konsultationsprozesses. In den An-
trag sind im Übrigen zentrale Forderungen der deutschen
Forschungsorganisationen eingeflossen. Dies bestätigt
auch das am 16. April vorgelegte Papier der Allianz der
Wissenschaftsorganisationen, der ich an dieser Stelle
ausdrücklich für ihre konstruktive Unterstützung bei die-
sem Prozess danken möchte.
Der Schwerpunkt des Nachfolgeprogramms zum
7. FRP wird weiterhin deutlich auf der Forschung liegen.
Doch begrüßen wir den im Grünbuch dargestellten koor-
dinierten Ansatz der Kommission von Forschung und
Innovation. Das ist ein neuer Ansatz; denn damit kann
die gesamte Wertschöpfungskette von der Grundlagen-
forschung bis zur Markteinführung aus einem Programm
gefördert werden. Es werden deutliche Synergieeffekte
erreicht. Dies dient letztlich der Stärkung der europäi-
schen Wettbewerbsfähigkeit. Dort, Herr Kollege Röspel,
spielt dann auch das Kriterium Marktrelevanz eine
Rolle. Das ist also kein Widerspruch.
Was das Ganze mit Marktradikalität zu tun hat, Frau
Kollegin Sitte, vermag ich nicht zu erkennen.
Ziel muss es sein, das künftige Rahmenprogramm so
auszugestalten, dass Europa seine Spitzenstellung im
Bereich Forschung und Innovation beibehält und aus-
baut. Das ist kein Selbstläufer. Darin liegt die große He-
rausforderung für die EU in den beginnenden Etatbera-
tungen.
Wichtigste Forderung in unserer Stellungnahme ist
daher der Ruf nach einer deutlichen Erhöhung der Mittel
für die zukünftige Forschungsförderung. Ohne eine
deutliche Mittelerhöhung sind die ambitionierten Ziele
der Strategie „Europa 2020“ nicht zu erreichen. Folglich
hat der Industrieausschuss des Europaparlaments bereits
einstimmig eine knappe Verdoppelung der Mittel des
7. FRP auf zukünftig 100 Milliarden Euro gefordert.
Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Finanzierung
der Großprojekte ITER und Galileo im Forschungsrah-
menprogramm verbleibt und nicht über einen eigenen
Haushaltstitel erfolgen wird.
Zweitens muss die Exzellenz – das wurde mehrmals
angesprochen – das wichtigste Kriterium bei der Ver-
gabe von Fördermitteln sein. Kohäsionsziele dürfen bei
der Forschungs- und Innovationsförderung keine Rolle
spielen. Bei der Forschung kann es nur um einen Wett-
bewerb zwischen Spitzenleistungen und Spitzenfor-
schung gehen. Forschungsmittel nach Regionen zu
verteilen oder eine Nivellierung in Europa bei der For-
schung anzustreben, kann und darf nicht unser Ziel sein.
Der Aufbau von Exzellenz in strukturschwachen Regio-
nen sollte einzig aus Mitteln der Kohäsionspolitik, das
heißt über die Strukturfonds, finanziert werden.
Die EU-Finanzmittel im Bereich der Kohäsionspoli-
tik sind mehr als sechsmal so hoch wie jene für die For-
schungsförderung. Diese Strukturfondsmittel müssen
derzeit zu mindestens 10 Prozent für Forschung ausge-
geben werden. Dementsprechend stehen ganz erhebliche
Summen für strukturschwache Mitgliedstaaten bereit,
um eine exzellente Forschungsinfrastruktur aufzubauen.
Ein ganz erfolgreiches Beispiel ist das ELI-Projekt, Ex-
treme Light Infrastructure. Das ist ein Laser-Infrastruk-
tur-Projekt, das sich momentan in Tschechien, Ungarn
und Rumänien im Aufbau befindet. Ein vierter Standort
wird gesucht. Hier wird eine gigantische Investition von
mehr als 700 Millionen Euro aus den Strukturfonds
finanziert. Das ist ein hervorragendes Beispiel, wie
durch Kohäsionsmittel Spitzenforschung in den neuen
Mitgliedstaaten geschaffen werden kann. Die besten
Wissenschaftler dieser Disziplin werden dorthin folgen
und weitere exzellente Forschungsbereiche aufbauen.
D
mithilfe der Strukturfonds Brücken für dieneuen oder für strukturschwache Mitgliedstaaten bauen.Nur dann können wir den europäischen Forschungsrauminsgesamt stärken.
Dem gleichen Ziel dient das von uns vorgeschlageneTwinning-Programm. Hier können echte Win-win-Situa-tionen geschaffen werden, die ganz Europa stärken.Drittens treten wir – das ist bereits deutlich gewor-den – für eine deutliche Erhöhung des Etats des Europäi-schen Forschungsrates ein. „Deutlich“ heißt – ich willdas einmal benennen – mindestens Verdoppelung, bessereine Verdreifachung der Mittel.
Der Europäische Forschungsrat wurde der DeutschenForschungsgemeinschaft nachempfunden und ist in we-nigen Jahren zu einer europäischen Forschungsmarkegeworden.Viertens setzen wir uns für die Fortführung der Verbund-forschung auf hohem Niveau ein. Die Verbundforschungmuss auch zukünftig Kernstück der Forschungsförderungsein. Auch hier muss die Exzellenz ausschlaggebendsein. Die Marktrelevanz soll zukünftig aber gerade beider Verbundforschung stärker berücksichtigt werden.
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Dr. Stefan Kaufmann
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Weitere wichtige Forderungen in unserem Antragsind die finanzielle Aufstockung der Marie-Curie-Maß-nahmen, die Vereinfachung der Antragsverfahren, kla-rere Strukturen bei den Instrumenten und eine bessereVernetzung der Maßnahmen der EU einerseits und derMitgliedstaaten andererseits. Bei der Vereinfachung derAntragsverfahren ist die Kommission bereits vorausge-gangen. Sie hat im Januar Sofortmaßnahmen eingeleitet,die unseres Erachtens allerdings nicht ausreichen, umvor allem kleinen und mittleren Unternehmen die Bean-tragung von Fördermitteln schmackhaft zu machen. DieAntragsbearbeitungszeiten müssen deutlich verkürztwerden. Als hervorragendes Beispiel dient das KMU-Programm „Eurostars“.Was wollen die Oppositionsfraktionen? Der Antragder Linken weist deutliche Unterschiede zu unserem auf.Sie wollen in der Tat – das haben Sie hier nicht bestritten –das Exzellenzkriterium aufweichen. Sie wollen die Mit-tel aus dem Forschungsrahmenprogramm nach Kohä-sionsgesichtspunkten verteilen. Damit würden Sie denallermeisten deutschen Forschungseinrichtungen einenBärendienst erweisen. Wir müssen die Diskussion überdie Forschungsinfrastrukturen in den neuen und in denstrukturschwachen Mitgliedstaaten führen, aber nicht invorauseilendem Gehorsam und nicht zulasten der Spit-zenforschung in Ostdeutschland.
Mit einiger Freude habe ich den Antrag von Rot-Grünzur Kenntnis genommen; auch das darf ich sagen, FrauKollegin Sager und Herr Kollege Röspel. In der Tatstimmen unsere Forderungen weitgehend überein. IhrVorschlag, strukturschwache Mitgliedstaaten durch denAusbau von Wissenschaftlerstipendien besser zu beteili-gen, ist zwar gut, jedoch aus unserer Sicht nicht nachhal-tig genug. In der Summe werten wir Ihren Antrag alswichtiges Zeichen der Geschlossenheit in der Sache.Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem Antrag undden darin enthaltenen umfassenden und konkreten Vor-schlägen zur künftigen Ausgestaltung der Forschungs-und Innovationsförderung in Europa einen konstruktivenBeitrag zum Konsultationsprozess leisten. Lassen Sieuns ein starkes Signal des Deutschen Bundestages nachBrüssel senden. Ich lade Sie herzlich ein, zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Sie haben rechtzeitig aufgehört; sonst wäre das starke
Signal des Präsidenten gekommen. Vielen Dank, Kol-
lege Dr. Kaufmann. – Jetzt für die Fraktion der Sozialde-
mokraten unser Kollege Michael Gerdes. Bitte schön,
Kollege Michael Gerdes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gest-rige Ausschusssitzung und die heutige Debatte zeigen,dass die hier vertretenen Fraktionen durchaus ähnlicheAnsätze zur Zukunft der europäischen Forschungsförde-rung verfolgen. Wir alle sind uns darin einig, dass derStellenwert von Forschung und Entwicklung stetigwächst, und wir alle gehen davon aus, dass wirtschaftli-ches Wachstum, sichere Arbeitsplätze und nachhaltigerWohlstand vor allem von wachsendem Wissen und Inno-vationen abhängen.Europa soll ein Forschungsraum sein, in dem intelli-gente Lösungen für soziale und technische Probleme ge-funden werden, ein Forschungsraum, in dem Wissen-schaftler mobil und unter besten Bedingungen arbeiten,ein Forschungsraum, in dem sich auch kleine und mitt-lere Unternehmen in Forschungsprojekte einbringenkönnen.
Deshalb brauchen wir gut durchdachte Förderstrukturen.Das gilt national, aber auch innerhalb der EuropäischenUnion. „Gut durchdacht“ heißt einerseits, Schwerpunktezu setzen. Wir meinen damit die Suche nach Antwortenauf die großen Fragen unserer Zeit. Wie wir heute schonhörten, sind das zum Beispiel die Energiewende, der Kli-mawandel und vor allen Dingen die vielschichtigensozialen Herausforderungen. Das heißt, europäische For-schungsförderung darf nicht nur auf technische Neue-rungen, mehr Patente oder größeren Absatz von High-techprodukten abzielen, sondern wir brauchen auchErkenntnisse im sozialwissenschaftlichen Bereich.
Auf der anderen Seite müssen sich die steigende Be-deutung von Forschung und Entwicklung sowie die an-dauernden Rufe nach mehr Innovationen auch in derFinanzplanung der EU widerspiegeln. Schaut man sichdie finanzielle Ausstattung der Forschungsrahmenpro-gramme der EU an, fällt zunächst auf, dass in denvergangenen Jahren durchaus immer mehr Geld bereit-gestellt worden ist. Das Volumen des 7. Forschungsrah-menprogramms ist im Vergleich zu seinem Vorgänger-programm verdreifacht worden. Das ist auf den erstenBlick beachtlich; aber in der Relation zu den Agraraus-gaben der EU entspricht das Finanzvolumen für Wissen,Forschung und Innovation keinesfalls unseren Vorstel-lungen.
Wir fordern in unserem Antrag eine größere finanzielleGewichtung des Forschungsbereichs. Hier stimmen wirmit den Koalitionsfraktionen überein.Wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationenentstehen aber nicht allein durch Investitionen in For-schungseinrichtungen oder Großprojekte. Innovationensetzen auch eine gute allgemeine sowie berufliche Bil-dung, lebenslanges Lernen, soziale Kompetenzen undumfassende Infrastrukturen voraus. In dieser Hinsichtgibt es noch erhebliche Unterschiede zwischen den ein-zelnen Mitgliedstaaten der EU.Die europäische Forschungspolitik steht vor der gro-ßen Herausforderung, innovationsstarke und innova-tionsschwache Mitgliedstaaten zu koordinieren. Auf-grund der unterschiedlichen Ausprägung der Bildungs-
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Michael Gerdes
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und Forschungslandschaft macht es durchaus Sinn, For-schungspolitik und Strukturpolitik miteinander zu ver-knüpfen. Exzellenz- und Spitzenforschung sind dringendnotwendig; dazu nimmt der Antrag von Rot-Grün aus-drücklich Stellung. Andererseits müssen aber auch struk-turschwache Regionen die Chance haben, gute Ideenhervorzubringen und davon zu profitieren. Herr Staats-sekretär Rachel, wir haben keine Angst. Exzellente For-schung und Kohäsion müssen sich aus meiner Sichtnicht ausschließen. Eine Forschungspolitik, die sichallerdings ausschließlich auf Spitzenforschung und Ex-zellenz konzentriert, würde das Wohlstandsgefälle inner-halb der EU sicherlich verschlimmern. Das ist ange-sichts der bestehenden Unterschiede zwischen West- undOsteuropa politisch nicht wünschenswert.Das Ziel der europäischen Forschungsförderung mussheißen: Exzellenz auf der Grundlage von grenzüber-schreitender Vernetzung und Interaktion. Die Stärke derForschungspolitik in der EU ist die Verbundforschung.Diese muss in jedem Fall erhalten bleiben.
Es geht um die Vermehrung von Wissen durch Koopera-tion, es geht um das gegenseitige Lernen und um die Ar-beit an gemeinsamen Herausforderungen.Herzlichen Dank.
Wir haben zu danken. – Als Nächster spricht für die
Fraktion CDU/CSU unser Kollege Professor Dr. Heinz
Riesenhuber. Bitte schön, Herr Kollege.
Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen! Liebe Kollegen! Über Europa kann man sich oftärgern. Wir haben den Tag mit einer Debatte über dieProbleme des Euro, über die Probleme Portugals undGriechenlands begonnen. Jetzt reden wir über etwas, dasfür Europa eine glanzvolle gemeinsame Vision darstellt.Ich finde es beglückend, dass es hier ein so hohes Maßan Übereinstimmung im Bundestag gibt.
Lieber Herr Röspel, wenn die Differenzen nicht großsind, hätte es eigentlich möglich sein sollen, einen ge-meinsamen Antrag einzubringen.
Es ist, wenn die Differenzen so gering sind, auch mög-lich, dass Sie unserem Antrag zustimmen.
Freunde, wenn ich hier versuche, die Differenzen zu be-greifen, dann wird es für mich intellektuell schwierig. Esist eine Stärke unserer Forschungspolitik, dass wir sie– auch über wechselnde Regierungen hinweg – dank derÜbereinstimmung in den wichtigen Fragen gemeinsamvorangebracht haben.Jetzt gibt es zusätzlich zu unserer nationalen For-schungspolitik die europäische Forschungspolitik. DieAusgaben der europäischen Forschungspolitik bei unsbetragen etwa 2,5 Prozent der gesamten Forschungsmit-tel in Deutschland pro Jahr. Das heißt, dass man die Mit-tel gezielt dort einsetzen muss, wo sie einen strategi-schen Zuwachs bewirken, wo sie etwas bewirken, dasman national nicht erreichen kann. Manche der Forde-rungen, die vorgebracht wurden, sind richtig, aber nichtunbedingt europäisch. Ich finde die Stärke der Geistes-wissenschaften, Orientierungswissen zu vermitteln undnicht nur allgemein zu spekulieren, großartig.Ihr Beitrag kann gut sein, wenn es gelingt. Ob das ineinem europäischen Netzwerk besser aufgehoben ist alsim nationalen Netzwerk, bleibt abzuwarten. Wir alleaber wissen: Es gibt auch bei europäischen Programmengeistes- und sozialwissenschaftliche Begleitforschung.
Wenn wir die Projekte anschauen, über die wir reden,dann sieht man, dass sie alle einen faszinierenden Mehr-wert haben. Sie haben das Ziel, eine europäische Wis-sensgesellschaft zu schaffen. Sie sollen mit einer starkenWissenschaft neue Produkte, neue Problemlösungen,neue Dienstleistungen für die Märkte und damit neueArbeitsplätze in einer offenen und wettbewerbsstarkenWelt dauerhaft sichern.
Die Verbundforschung ist gepriesen worden. Wir ha-ben eine sehr reife und komplexe Forschungspolitik inDeutschland. Über die Jahrzehnte haben viele in glanz-voller Weise dazu beigetragen. Was in der Verbundfor-schung an Modellen bei uns erarbeitet wurde, ist heuteauch Teil der europäischen Programme. Das gilt zumBeispiel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeitzwischen Firmen, zwischen Wissenschaft und Unterneh-men, wie wir sie in den 80er-Jahren im Rahmen vonEU REKA entwickelt haben. Die Verbundforschung istheute das Kernelement des 7. Forschungsrahmenpro-gramms der EU.Zu Recht ist auch auf die Kohäsionsmittel hingewie-sen worden. Es sind nicht nur Mittel für Arme. Es gibtauch hier in Deutschland starke Bundesländer. Nord-rhein-Westfalen hat seine Innovationswettbewerbe 2007bis 2013 mit weit über 600 Millionen Euro aus den Ko-häsionsmitteln ausgerichtet. Freunde, nutzt das! DasGeld ist da. Man muss es nur holen. Das ist eine Frageder überlegenen wissenschaftlichen Intelligenz.
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Dr. Heinz Riesenhuber
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Ich spreche nicht über den Nachwuchs. Europa kanneinen Beitrag dazu leisten, mehr Frauen in den wissen-schaftlichen Beruf und die jungen Leute in die MINT-Fächer zu kriegen. Das ist eine der Aufgaben, die Europamit dem Marie-Curie-Programm angeht. Das ist aberauch eine Aufgabe nationaler Natur. Die kleineren undmittleren Unternehmen müssen stärker in die europäi-sche Verbundforschung einbezogen werden. Wenn dieBearbeitungszeit von Förderanträgen, wie der Bundesratbemängelt, im Schnitt wirklich 400 Tage beträgt, dannmuss ich sagen: Da kann kein Unternehmen überleben.Der, der damit zu arbeiten versucht, macht sich zu einemStaatsunternehmen. Der kann alles andere auf demMarkt vergessen. Das heißt also: Hier müssen bessereStrukturen hineingebracht werden, zum Beispiel durchdie zweistufige Antragsstellung. Diese Strukturen müs-sen handhabbar sein und in kurzen Zeiten zu Entschei-dungen führen. Man muss der Erste am Markt sein. Mandarf nicht der Letzte sein, nur weil man auf den Bearbei-ter gewartet hat. Dies ist ein wesentlicher Punkt.Ich möchte noch weitere Aspekte nennen: Der ERP/EIF-Dachfonds zur Förderung von Wagniskapitalinves-titionen in deutsche Technologieunternehmen wurde2004 mit 500 Millionen Euro aufgelegt und im Jahre2010 um weitere 500 Millionen Euro aufgestockt. DieHälfte des Kapitals kommt vom European InvestmentFund, EIF. Wir unterstützen die Vernetzung der europäi-schen Strukturen, damit wir eine starke Infrastruktur be-kommen. Ich möchte auch die Beratungsprogramme, dieeuropäischen Netzwerke, das Enterprise Europe Net-work und die Zusammenfassung der Beratungen zumöglichen Förderungsmöglichkeiten – nicht nur im Hin-blick auf Programme, sondern auch im Hinblick aufmögliche Partnerschaften – nennen.All das ist eine komplexe Welt vielfältiger Möglich-keiten. Frau Sager, ich zähle auch ITER dazu; denn dieForschung ist nicht für heute, Forschung ist etwas fürmorgen. Wenn wir in den 80er-Jahren nicht mit Begeis-terung die Windenergie vorangebracht hätten, könntenSie heute Ihre Mühlen hier nicht bauen.
Das ist die Wahrheit. So werden wir heute am ITER ar-beiten, damit in 30 Jahren glückliche Menschen sagen:Frau Sager hat uns mit Leidenschaft unterstützt. Deshalbkriegen wir Strom aus Kernfusion in einer Weise, dieumweltfreundlich und risikoarm ist. Daher werden wirFrau Sager ein bronzenes Denkmal auf den Marktplatzstellen.
Hier entsteht große Vielfalt. Das gilt auch für EuropasAktivitäten im Weltraum. Zum Beispiel wirkt man ander Strukturierung im Rahmen von Galileo mit. Ichwürde mich freuen, wenn man hernach damit beginnenwürde, auch die marktgängigen Betriebssysteme mitaufzubauen. Dass man sich an dieser Stelle beteiligt, istgut. In der Raumfahrt muss man ein Zusammenspielzwischen Europa und der ESA organisieren. Die starkenESA-Strukturen müssen allerdings erhalten bleiben. Bei-des gehört nämlich zusammen. Hier spielt man ein ge-meinsames Spiel.
Wir könnten Ihnen ewig zuhören.
Dann tun Sie es.
Das war mein erster Versuch, Kollege Riesenhuber.
Hochverehrter Herr Präsident, –
Allein für diese Anrede gibt es ein bisschen Redezeit
obendrauf. Ich bitte Sie trotzdem, zu Ihrem Schlusssatz
zu kommen.
– ich weiß die Mahnung zu würdigen.
Ich habe immerhin die Einleitung meiner Rede unterge-bracht.Ich darf zum Schluss betonen: Ich stimme denjenigenzu, die darauf hinweisen, dass wir für eine Erhöhung derForschungsetats kämpfen müssen. Auf europäischerEbene wollten wir bis 2010 bei den Forschungsausgabeneinen Anteil von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktserreichen.
Derzeit liegen wir bei einem Anteil von 2 Prozent.
In Deutschland betragen die Forschungsausgaben inzwi-schen 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn inEuropa durchschnittlich 3 Prozent erreicht werden sol-len, dann muss Deutschland auf einen Anteil von4 Prozent hinarbeiten. Nicht alle Länder werden sichgleich entwickeln können. Wir werden kämpfen müssen,um dieses Ziel zu erreichen.Wenn wir es geschafft haben, dann haben wir aller-dings alles: die Konzepte, die Strukturen, die nationalenProgramme und den frohgemuten Unternehmungsgeist,der insbesondere dem Deutschen Bundestag in glanzvol-ler Weise zu eigen ist. Wenn dieser fröhliche Unterneh-mungsgeist in die Wissenschaft, in die Wirtschaft und indie europäischen Strukturen ausstrahlt, dann werden wireinen Aufbruch erleben, der wichtiger als alle Strukturen
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Dr. Heinz Riesenhuber
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und alles Geld ist. Es geht um die Freude an der Zukunft.Zukunft geschieht, wenn man sich auf sie freut. Daraufwollen wir hinarbeiten.
Herr Kollege, es lohnt sich immer, Ihnen zuzuhören.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf Drucksache 17/5802. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/5492 mit dem Titel „Gestaltung der
zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU
“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –
Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion
der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5449 mit dem Titel
„Stärkung des Europäischen Forschungsraums – Die Vor-
bereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die
richtigen Bahnen lenken“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und der Sozialdemokraten.
Enthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5386 mit dem
Titel „Europäische Forschungsförderung in den Dienst
der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen und das Bündnis 90/Die Grünen.
Gegenprobe! – Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? –
Das sind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nach Cancún – Europäische Union muss ihr
Klimaschutzziel anheben
– Drucksache 17/5231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu ei-
nem globalen Klimaschutzabkommen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Internationaler Klimaschutz vor Cancún –
Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten
zum Ziel
– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
EU-Klimaschutzziel erhöhen
– Drucksachen 17/3998, 17/4016, 17/4529,
17/5402 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Frank Schwabe
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Dr. Hermann Ott
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott,
Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
ben
– Drucksachen 17/2485, 17/4069 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Dr. Hermann Ott
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider-
spruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster steht unser
Kollege Frank Schwabe für die Fraktion der Sozialde-
mokraten auf meiner Rednerliste. Ihm gebe ich jetzt das
Wort. Bitte schön, Kollege Frank Schwabe.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Damen undHerren! Wer zu spät kommt, den braucht man eigentlich
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Frank Schwabe
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nicht mehr. So geht es dem Herrn UmweltministerRöttgen in der europäischen Klimaschutzdebatte. Für dieStaatssekretärin gilt: mitgefangen, mitgehangen. HerrRöttgen kommt in der europäischen Klimaschutzdebattezu spät, weil jetzt die entscheidenden Weichenstellungengetroffen werden.
Wir reden uns seit Monaten und Jahren den Mundfusselig. Wir reden über die notwendige Verschärfungdes CO2-Reduktionsziels auf 30 Prozent in der Europäi-schen Union, die die effizienteste Volkswirtschaft derWelt sein und auch bleiben soll. Dafür gibt es zig Argu-mente, die ich nicht alle vortragen kann. Es gibt schöneBroschüren, in denen man das alles nachlesen kann. Wirhaben das oft diskutiert. Die Zuspitzung der Ziele in derEuropäischen Union ist nicht wegen den USA, wegenChina oder der Vereinten Nationen notwendig, sondernsie kommt uns zugute. Wir brauchen sie deshalb, weilDeutschland bzw. die Europäische Union weltweit ander Spitze der effizienten und zukunftsfähigen Ökono-mien stehen soll.Diese Woche wurde über ein interessantes Beispielaus China berichtet. Es ist immer davon die Rede, dasswegen unserer Klimaschutzziele alles sehr problema-tisch sei und dass es die Wirtschaft schwer habe. Aus ei-ner Untersuchung der Beraterfirma Roland Berger gehthervor, dass von 2008 bis 2010 die Herstellung alternati-ver Technologien in China um 77 Prozent gewachsen ist.Damit liegt China beim Einsatz und der Produktion vongrünen Technologien gemessen am Bruttoinlandspro-dukt weltweit auf Platz zwei der Volkswirtschaften nachDänemark. China war vorher auf Platz sechs. Deutsch-land ist auf Platz drei. Das heißt, China hat Deutschlandbei den grünen Technologien überholt.
Das ist ein Signal, das uns herausfordert, unsere nationa-len und europäischen Ziele so anzupassen, dass wir in-ternational wieder an die Spitze der Volkswirtschaftenkommen.
Das ist nicht selbstlos, sondern ziemlich egoistisch ge-dacht. Aber wir haben darüber hinaus auch weltweiteVerantwortung dafür, dass der Klimawandel gestopptwird und wir international andere Entwicklungspfadeschaffen können.Bald gibt es weltweit 7 Milliarden Menschen. 2 Mil-liarden bis 3 Milliarden Menschen haben keinen Zugangzu Energie. Sie werden aber Zugang zu Energie habenwollen. Das können wir ihnen nicht verwehren. Mittler-weile sind jedes Jahr – auch das ist eine Nachricht ausdieser Woche – mehr als 200 Millionen Menschen vonNaturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren,Erdbeben oder Stürmen betroffen. Mindestens jedeszweite Opfer ist ein Kind. Schon 70 Prozent aller Kata-strophen sind klimabedingt, wie UNICEF Deutschlandheute festgestellt hat. Wenn man das alles weiß, dannkann es nicht sein, dass wir innerhalb der EuropäischenUnion weiter auf der Bremse stehen.Das verstehe ich vor allem deshalb nicht, weil wir inDeutschland mittlerweile auf dem Weg sind, ein gewis-ses Einvernehmen über die Energiepolitik zu erzielen.Das wird zumindest in der Presse berichtet. Im Parla-ment besteht von rechts bis links Einigkeit darin, dassDeutschland von 1990 bis 2020 die Treibhausgase um40 Prozent reduzieren soll. Insofern ist es eine relativeinfache mathematische Aufgabe, das komplementäreZiel innerhalb der Europäischen Union auszurechnen:Das sind 30 Prozent. Ich kann nicht verstehen, warumsich die Koalition nicht endlich zu diesem klaren Signalan die Europäische Union durchringen kann.
Wenn das so überzeugend ist und mathematisch klarhergeleitet werden kann, dann bleiben nur bestimmtesachfremde Gründe. Dann muss ich Ihnen vorwerfen,dass Sie sich im Zangengriff von Lobbyisten befinden,die gerade unterwegs sind. Sie kommen auch zu mir undrechnen mir dubiose Dinge vor. Wenn man das hinter-fragt, dann stellt sich heraus, dass es von vorne bis hin-ten nicht stimmt. Sie haben wohl in der Energiepolitikjegliche Orientierung verloren; vielleicht gelten auch diemathematischen Grundsätze bei Ihnen nicht mehr.
Ich glaube, es liegt auch daran, dass Sie einen Umwelt-minister haben – das kann ich Ihnen nicht ersparen –, derals Schöngeist, Schönredner oder Schönwetterministerunterwegs ist, viel redet, spannende Texte schreibt undschon immer alles besser wusste. Aber wenn etwas zubestimmen ist, dann erreicht er leider relativ wenig. Dasist meine Analyse.
Wenn wir über die Rahmenbedingungen für den Kli-maschutz reden, geht es nicht darum, die Wirtschaft zuüberlasten. Genau darum geht es nicht. Es geht um klareRahmenbedingungen. Wenn man mit einzelnen Unter-nehmern spricht, dann sagen sie: Jawohl, vieles istmachbar, aber wir brauchen klare Rahmenbedingungen.Wir brauchen internationale und europäische Rahmen-bedingungen. Wir brauchen im Übrigen auch nationaleRahmenbedingungen.Die Akteure der Koalition schieben sich aber nur denSchwarzen Peter gegenseitig zu. Ein Beispiel dafür wardie gestrige Sitzung des Umweltausschusses des Deut-schen Bundestages. Dort haben wir erlebt, dass HerrRöttgen es auf die FDP schiebt, dass es in Deutschlandnoch kein Klimaschutzgesetz gibt. Herr Kauch hat das mitHinweis auf die Union zurückgewiesen. Heute wird dieFDP, wenn ich das richtig gelesen habe, in dieser Debattegar nicht Stellung nehmen. Es hilft aber nichts, sich denSchwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben. Wir brauchenvielmehr klare Rahmenbedingungen in Deutschland undinnerhalb der Europäischen Union.
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12386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Frank Schwabe
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Ich kann Ihnen Folgendes nicht ersparen: Wir werdenwahrscheinlich von den Umweltpolitikern der Uniongleich wieder ein Plädoyer für das 30-Prozent-Ziel in-nerhalb der Europäischen Union hören, mit dem Hin-weis darauf, dass es auch einen entsprechenden Be-schluss in ihren Reihen gibt; das ist löblich. Es gibt auchein großes Einvernehmen unter den Umweltpolitikernauf internationaler Ebene. Aber am Ende handelt es sichum ein Muster ohne Wert, weil jetzt die Entscheidungenin der Europäischen Union anstehen. Jetzt entscheidendas Europaparlament, die Kommission und der Europäi-sche Rat. Genau jetzt ist die letzte Möglichkeit, ein kla-res Ziel vorzugeben. Aber diese Möglichkeit verpassenSie.Es gibt eine schöne Broschüre des Climate ActionNetwork Europe, in der man alle Argumente nachlesenkann. Dort lässt sich folgendes Zitat finden:Wir glauben, dass eine Erhöhung des Reduktions-ziels auf 30 % für Europa der richtige Schritt ist. Esist eine Politik zur Sicherung von Arbeitsplätzenund Wachstum, für Energiesicherheit und zur Ab-wendung von Klimarisiken. Und vor allem ist eseine Politik für Europas Zukunft.Dieses Zitat stammt vom Juli 2010, unterschrieben vonDr. Norbert Röttgen, dem deutschen Umweltminister.Umgesetzt ist leider nichts.Ich appelliere an Sie, den Umweltminister nicht imRegen stehen zu lassen und endlich das Signal ausDeutschland an die Europäische Union zu setzen: Wirsind für 30 Prozent.
Das Wort hat der Kollege Andreas Jung für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist die erste Debatte über Klimaschutz, die wir hier imBundestag nach der Katastrophe von Fukushima führen.Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg darübereinig, dass man nach dieser Katastrophe in Japan nichteinfach weitermachen kann, dass es kein Weiter-so ge-ben kann, sondern dass es eine Neubewertung und teil-weise eine Neupositionierung geben muss. Das ist daseine.Das andere ist: Beim Klimaschutz darf es kein Zu-rückweichen geben. Klimaschutz muss die Priorität be-halten, die die Bundesregierung, egal welche Fraktionensie getragen haben, ihm immer beigemessen hat. Falschwäre die Botschaft: Das wichtigste Ziel ist jetzt, soschnell wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen,und das Erreichen anderer Ziele wie der Klimaschutz-ziele können wir hintanstellen; das hat nicht mehr diegleiche Priorität. – Das wäre grundfalsch. Nur weil unsdie Katastrophe von Japan die Risiken der Kernenergienoch deutlicher vor Augen geführt hat, sind die Heraus-forderungen und die Probleme des Klimaschutzes keinenDeut geringer geworden. Wir müssen beides unter einenHut bekommen. Wir wollen auf der Grundlage einesbreitestmöglichen Konsenses einen schnelleren Verzichtauf die Kernenergie verwirklichen. Aber gleichzeitigdürfen wir keinen Deut bei den Klimazielen nachlassen.Wir müssen beim Klimaschutz weiter vorankommen.Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.
Wir wissen, dass die Herausforderung noch größer ist.Bei der Erarbeitung eines Energiekonzepts, an der vielebeteiligt sind – die Fraktionen, die Regierung sowie dieEthikkommission unter Leitung von Herrn ProfessorTöpfer und Herrn Professor Kleiner, über das viele ge-sellschaftliche Debatten geführt werden –, geht es nichtnur um ökologische, sondern auch um wirtschaftlicheNotwendigkeiten und soziale Belange. Das alles muss ineinem Konzept so zusammengefasst werden, dass wiram Ende die Überzeugung haben: Das ist ein gutes Mo-dell für Deutschland und gibt nicht nur in Deutschland,sondern auch in der Europäischen Union und auf inter-nationaler Ebene Impulse.
Wahr ist – der Kollege Schwabe hat es angesprochen –,dass wir Umweltpolitiker in der Union es für richtig hal-ten und wollen, dass die Europäische Union das nach-vollzieht, was wir in Deutschland bereits beschlossenhaben. Wir wollen in unserer Klimaschutzpolitik näm-lich nicht darauf warten, was andere machen. Wir kön-nen nicht einfach sagen, wir würden ja Dinge umsetzen,aber nur, wenn erst einmal andere vorangehen, sondernwir haben gesagt: Wir wollen unbedingt, egal was dieanderen machen, bis zum Jahr 2020 unsere Treibhaus-gase um 40 Prozent reduzieren. Das ist der Beschluss derBundesregierung. Ich bin mir sicher, dieser Punkt hatauch die Unterstützung des gesamten Hauses.Die Konsequenz daraus, wenn wir das für uns fürrichtig halten, ist, dass wir das dann auch in der Europäi-schen Union umsetzen wollen. Deshalb teilen wir dieForderung, dass die Europäische Union ebenfalls unbe-dingt ihr Ziel, gegenüber dem Jahr 1995 bis zumJahr 2020 auf minus 30 Prozent zu kommen, festschrei-ben sollte.Wahr ist, hierüber gibt es innerhalb der Koalitionspar-teien und der Regierung eine Diskussion, so wie es sie inganz Europa gibt. Es haben sich bisher nur wenige Staa-ten bereit erklärt, diesen Schritt zu gehen. Deshalb istnoch Überzeugungsarbeit zu leisten. Diese Überzeu-gungsarbeit leisten wir in unseren Fraktionen, dieseÜberzeugungsarbeitet leistet Norbert Röttgen in der Re-gierung. Wir tun alles andere, als ihn im Regen stehen zulassen. Wir unterstützen ihn auf diesem Weg. NorbertRöttgen wirbt gemeinsam mit den Umweltministern vonFrankreich und Großbritannien für genau diesen Schritt.Wir wollen, dass er dabei Erfolg hat. Frank Schwabe hatgesagt, er sei einer, der die Dinge nur ankündige, abernicht umsetzen könne. Aber die letzten Wochen zeigen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12387
Andreas Jung
(C)
(B)
doch, dass es gerade aus Sicht der Umweltpolitik jetztmöglich ist, Forderungen, die man schon länger erhobenhat, auch umzusetzen.
Das werden wir beim Energiekonzept in den nächstenWochen sehen. Davon sind wir überzeugt, und die Wei-chen dafür sind gestellt. Ich bin guten Mutes, dass dasauch bei der Weichenstellung in Europa gelingt.Eines will ich aber schon zurückweisen. Mein Ein-druck ist nicht, dass es andere Regionen in der Welt gibt,die uns bei den Anstrengungen für den Klimaschutzüberholen, sondern mein Eindruck ist, dass unser Impulsgebraucht wird, um andere mitzuziehen und anderen zuzeigen: Wir gehen voran, und deshalb müsst auch ihr inChina, ihr in den USA und ihr in anderen Industriestaa-ten und in anderen Schwellenländern diesen Weg mituns gehen. Ich glaube, darum wird es in den nächstenWochen gehen.Darum wird es auch auf dem Weg gehen, den wir jetztnach Durban einschlagen. Wir reden auf der Grundlageder heute vorliegenden Anträge auch noch einmal überdie Frage: Was war das Ergebnis von Durban, und wassind die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind? Wirwissen, da haben wir bisher allenfalls die halbe Streckedes Weges zurückgelegt. Cancún ist nicht zum Fiasko,nicht zur Niederlage, nicht zum Scherbenhaufen gewor-den. Es ist aber gerade nur dieser Prozess gerettet wor-den. Diesen müssen wir jetzt zum Abschluss bringen. Esgibt viele Staaten, die noch nicht so weit sind, die dieseDinge nicht so konsequent angehen, wie wir das tun.Deshalb bleibt es das Ziel der Bundesregierung, mitUnterstützung der Koalitionsfraktionen ein internationa-les Abkommen hinzubekommen. Deshalb sind wir auchbereit, mit anderen Staaten ambitioniert voranzugehen,sind bereit, bei einzelnen Themen zusammenzuarbeiten,zum Beispiel beim Emissionshandel. Vor wenigen Wo-chen ist es uns gelungen, hier wichtige Weichen zu stel-len, indem wir die 100-prozentige Auktionierung durch-gesetzt und damit den Druck auf die Kohlekrafterheblich verstärkt haben, auch indem wir den Flugver-kehr einbeziehen.Wir meinen, von alledem muss das Signal an unsereinternationalen Partner ausgehen: Wir wollen ein Ergeb-nis, wir wollen die Herausforderung Klimaschutz ge-meinsam angehen. Erfolg können wir nur internationalund gemeinsam haben, und dafür arbeiten wir.Herzlichen Dank.
Frau Kollegin Bulling-Schröter ist nun die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Noch steht bei der Koalition nicht fest, wann wirklichaus der Atomkraft ausgestiegen werden soll. Fest stehtallerdings bereits, dass der Braunkohle ein neuer Früh-ling beschert werden soll, sollten die AKWs früher vomNetz gehen. So jedenfalls könnte man das jüngste Ener-giepapier der CDU verstehen.Und ich frage mich: Braucht man für den Übergangtatsächlich mehr Braunkohleverstromung, und wie stehtes dann um die Klimaschutzziele? Wir, die Linke, mei-nen, Deutschland kann sein Klimaschutzziel von 40 Pro-zent Reduzierung bis zum Jahr 2020 trotzdem erreichen,auch ohne Kernenergie und ohne zusätzliche Braun-kohle.
Das ist zunächst möglich, weil Deutschland seine Ex-portüberschüsse im Strombereich zurückfahren kann,seine Anlagen stilllegen kann. Außerdem wirkt hier derEmissionshandel wunderbar regulierend. Der feste De-ckel, die gesetzte Emissionsobergrenze, wird über teu-rere Zertifikate zum einen dafür sorgen, dass die fossilenKraftwerke stärker auf Gas als auf die emissionsstärksteEnergieform Kohle setzen müssen, zum anderen wirddie emissionshandelspflichtige Industrie mehr zu schul-tern haben. Dessen ungeachtet muss Deutschland end-lich mehr im Verkehrssektor tun. Beispielsweise mussder Zuwachs an Schwerlastverkehr gebremst werden.
Nicht zuletzt geht es darum, einen Durchbruch in demSektor der energetischen Gebäudesanierung zu schaffen.Klar ist, dass es hier erheblich mehr Geld aus öffentli-chen Kassen geben muss, als bislang vorgesehen. Sonststehen wir vor einer Mietenexplosion.Der preiswerteste und umweltfreundlichste Strom istnatürlich der, der nicht verbraucht wird. Darum mussendlich ein Top-Runner-Programm zum Durchbruchkommen, das dynamische Energieeffizienzstandards mitabsoluten Verbrauchsobergrenzen für elektrische Gerätesetzt.
Also noch mal: Top-Runner-Programm!Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen Einkommensollten beim Kauf stromsparender Geräte finanzielle Un-terstützung erhalten. Wir halten das sozial und ökolo-gisch für absolut sinnvoll.
Natürlich wird die Energiewende auch sonst Geld kos-ten. Machen wir uns nichts vor! Dann muss man natür-lich fragen: Wer bezahlt? Das interessiert ja die Bürge-rinnen und Bürger.Die Linke meint, den größten Brocken müssen dieEnergiekonzerne schultern; denn sie haben ja in den ver-gangenen Jahren exorbitante Gewinne eingefahren, zigMilliarden allein aus den Preiseffekten des Emissions-handels, zudem aus ihrer Oligopolstellung.
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12388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Eva Bulling-Schröter
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Wie kommt es sonst, dass die Stromrechnung für ei-nen Durchschnittshaushalt zwischen 2000 und 2009 um324 Euro jährlich stieg, dabei aber nur 40 Prozent dieserSteigerung mit Umlagen für Erneuerbare, Kraft-Wärme-Kopplung und Steuern erklärlich sind?
Offensichtlich resultieren 60 Prozent aus Monopolprofi-ten der marktbeherrschenden großen Vier. Das kann manbeweisen, auch wenn Sie hier motzen. Solche leistungs-los erzielten Extragewinne müssen beschnitten und kas-siert werden.
– Für den Staatshaushalt kassiert werden, klar.
Dies kann beispielsweise durch eine deutliche Erhöhungder Brennelementesteuer geschehen. Damit könnten un-ter anderem Sozialtarife für einkommensschwacheHaushalte finanziert werden.
Wir fordern zudem die unverzügliche Wiedereinführungder Börsenaufsicht – das können Sie sofort unterstützen –für den Spothandel im deutschen bzw. europäischenStrommarkt und ein gesetzliches Verbot des Insiderhan-dels an Strombörsen. – Da müssten Sie von der CDU/CSU jetzt klatschen.
Auch die angekündigte Markttransparenzstelle mussendlich ihre Arbeit aufnehmen.Unter dem Strich haben wir also genug finanzielleReserven und regulatorische Handhabe, zusätzlicheEmissionen und steigende Preise zu verhindern. Darumlassen sich auch Atomausstieg und Klimaschutzziele ge-meinsam bewältigen.
Zum Schluss: Denken Sie daran, was der chinesischeBotschafter kürzlich zu Herrn Professor Schellnhubervom WBGU sagte: Wenn es ein Land in der Welt gibt, dasaus Atomkraft und Kohle zugleich aussteigen kann, ohnean Wohlstand zu verlieren, dann ist das Deutschland.
Der Kollege Michael Kauch gibt seine Rede zu Proto-
koll1).
1) Anlage 7
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Ott für
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Seit Anfang der Legislaturperiode, also seit mittler-weile eineinhalb Jahren, fordert die gesamte Oppositionim Bundestag, dass die EU ihr Klimaziel auf 30 Prozentanhebt und dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.Diese Forderung ergibt sich aus drei sehr einfachen Er-wägungen:Erstens. Soll die globale Erwärmung unterhalb von2 Grad bleiben, dann müssen die Industriestaaten ihreCO2-Emissionen massiv senken. Wenn wir länger war-ten, dann wird es nicht nur teurer – es könnte völlig un-möglich werden.
Die Katastrophe eines kippenden Klimasystems mussunter allen Umständen verhindert werden.
Zweitens. Ein globales Klimaabkommen wird auchdieses Jahr in Durban nicht abgeschlossen werden. DieGlaubwürdigkeit der Industrieländer ist in den Länderndes Südens massiv erschüttert und sogar verloren gegan-gen. Neues Vertrauen gewinnt die EU nur dadurch, dasssie als Vorreiterin vorangeht und deutlich macht, dassein nachhaltiger Umbau der Wirtschaft möglich ist.Drittens. Der Pfad zur solaren Wirtschaft macht näm-lich nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomischSinn.
Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die ein-drucksvoll die wirtschaftlichen Vorteile eines höherenReduktionsziels darlegen. Die jüngste Studie des Pots-dam-Instituts für Klimafolgenforschung zusammen mitder Universität Oxford zeigt: Bei einem Minderungszielvon 30 Prozent würden die Investitionen in Europa von18 auf bis zu 22 Prozent des Bruttosozialprodukts stei-gen. Dadurch würden bis zu 6 Millionen neue Jobs ent-stehen. Das Bruttoinlandsprodukt würde sich um bis zu620 Milliarden Euro erhöhen. Wer solche ökonomischenChancen leichtfertig vergibt, der soll fortan bei allenwirtschaftlichen Diskussionen schweigen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es EuropasPflicht und Chance ist, eine zweite industrielle Revolu-tion auf den Weg zu bringen. Diese neue, solare Revolu-tion kann von Europa ausgehen, wenn wir es richtig ma-chen, und dann zusammen mit den Menschen in Asien,Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent weiter-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12389
Dr. Hermann Ott
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entwickelt werden. Das Ganze kann sogar mit unserenFreunden in den USA geschehen, wie ich hinzufügenmöchte. Ich bin als Klimapolitiker Berufsoptimist.Das kommende solare Zeitalter gibt uns die Chance,eine Welt zu schaffen, die in hohem Maße menschenge-recht ist: weil sie dezentral organisiert werden kann, weilsie nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Natur be-ruht und weil einige der Hauptgründe für kriegerischeKonflikte wegfallen. Denn Frieden auf der Welt ist nachunserer festen Überzeugung nur dann möglich, wennauch Frieden mit der Natur gemacht wird.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition, eine solche Welt kommt nicht von allein.Sie muss erarbeitet und erkämpft werden. Dazu gehörenneben der Vision auch Mut und Durchhaltevermögen.Der nach Fukushima von Bundeskanzlerin Merkelbetriebene Atomausstieg reduziert bei einem entspre-chenden Ausbau der Erneuerbaren als Nebeneffekt auto-matisch den CO2-Ausstoß. Eine Stromversorgung aus50 Prozent Erneuerbaren bis 2020 ist keine Utopie, son-dern nach Ansicht von Fachleuten gut machbar, ebensowie 100 Prozent Vollversorgung durch Erneuerbare biszum Jahre 2030.Warum bekommt der Bundesumweltminister dannnicht die Unterstützung seiner eigenen Fraktion? Mussich noch einmal daran erinnern? Ein von den Opposi-tionsfraktionen im Umweltausschuss eingebrachter An-trag für ein 30-Prozent-Ziel der EU wurde von der Ko-alitionsmehrheit abgelehnt.
Herr Göppel, Kollege Jung, hier sitzen diejenigen, diesich für einen solchen Antrag einsetzen; das ist völligklar. Aber in der Energiedebatte heute Morgen saßenhier Fuchs, Pfeiffer und andere.
Das, was ich beschreibe, ist der Konflikt, den Sie inner-halb Ihrer eigenen Fraktion lösen müssen.
Unterstützen Sie Ihren Umweltminister! Haben Sie dochkeine Angst vor Ihrer eigenen Courage! Unterstützen Siedas, was die Menschen in diesem Lande wollen, nämlicheine saubere Energieversorgung und mehr Klimaschutz!
Mit einer Lobbypolitik für die alten, fossilen Struktu-ren wird in Zukunft kein Staat mehr zu machen sein, und– lassen Sie mich das anfügen – es werden auch keineWahlen mehr zu gewinnen sein.
Herzlichen Dank.
Josef Göppel ist der letzte Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirreden zum wiederholten Male über die Anhebung deseuropäischen Klimaschutzzieles. Der Deutsche Bundes-tag hat sich über alle Fraktionen hinweg darauf verstän-digt, dass Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2020um 40 Prozent reduziert. Ich sage ganz klar, Herr Kol-lege Ott: Ich erwarte als Abgeordneter der Koalition,dass sich alle Mitglieder der Bundesregierung dem Vor-stoß des Bundesumweltministers anschließen und jetztim Europäischen Rat für die Anhebung des europäischenZiels eintreten.
Da wir bereits im Jahr 2011 eine Senkung um 17,3 Pro-zent erreicht haben, sind 20 Prozent bis zum Jahr 2020nämlich kein glaubwürdiges Ziel mehr. Genau diesesProblem kennen ja alle, die an Klimaschutzverhandlun-gen teilnehmen. Wenn sich die Europäische Union nichtbewegt, dann scheitert Durban. Das ist absehbar.
Deshalb können wir in Bezug auf den Temperaturanstiegauch nicht beim 2-Grad-Ziel bleiben. Das genau ist derPunkt, um den es geht.Wo liegen aber die Hinderungsgründe? Natürlich istdie Angst vorhanden, dass Europa mit einem höherenKlimaschutzanspruch wirtschaftlichen Schaden nehmenwürde.Das Wirtschaftsministerium hat bei der Prognos AGund der GWS eine Studie in Auftrag gegeben – wie im-mer für teures Geld. Sie haben festgestellt, dass die An-hebung des Klimaschutzzieles auf 30 Prozent zu vieleNachteile für die europäische Wirtschaft mit sich brin-gen würde. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass esschon in allen Ländern Steuererleichterungen für dieenergieintensive Industrie gibt. Es wurde auch nicht be-rücksichtigt, dass wir eine preisdämpfende Wirkung zuverzeichnen haben, wenn weniger Primärenergie ausDrittländern eingekauft werden muss, und es wurdenicht berücksichtigt, dass durch Klimaschutzinvestitio-nen auch neues Wachstum generiert wird.
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12390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Josef Göppel
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Deswegen ist die entscheidende Frage: Wie schätzenwir das ein? Bringt eine Vorreiterrolle Nachteile, isoliertsie uns, oder bringt sie uns Vorteile? Die bisherigen wirt-schaftlichen Erfahrungen unseres Landes auch auf demSektor der erneuerbaren Energien sind doch eindeutig:Mit einem energischen Vorangehen isolieren sichDeutschland und Europa nicht, sondern setzen sich inter-national an die Spitze.
Genau diese Spitzenposition wird unserem Land Vorteileverschaffen.Mir hat gerade einer aus meiner Fraktion ins Ohr ge-flüstert: Wir wollen bezahlbare Strompreise. Der Mannhat recht. Ich will auch bezahlbare Strompreise. Wirwerden aber sehen, dass in Zukunft nur noch saubereStromquellen bezahlbar sein werden, weil die Folgekos-ten des Nichtstuns sehr viel höher als die Investitionensind, die wir jetzt für den Klimaschutz brauchen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/5231 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist beruhigend. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 b. Hier
geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 17/5402.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3998 mit dem Titel
„Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu einem globalen
Klimaschutzabkommen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Das Erste war die Mehrheit. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
17/4016 mit dem Titel „Internationaler Klimaschutz vor
Cancún – Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum
Ziel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Mehrheiten
sind nicht unterschiedlich. Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist mehrheitlich angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4529
mit dem Titel „EU-Klimaschutzziel erhöhen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist ebenfalls angenommen. Bei dem Tagesordnungs-
punkt 11 c geht es um die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
ben“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf der Drucksache 17/4069, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2485
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Auch
diese Beschlussempfehlung ist angenommen.
Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 10:
Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
– Drucksache 17/5295 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
– Das ist doch kein Grund, zu randalieren. Wenn diejeni-
gen, die an diesem Punkt nicht mehr teilnehmen wollen,
unauffällig den Saal verlassen, finden diejenigen, die
dazu jetzt das Wort erhalten, umso ungeteiltere Auf-
merksamkeit. Darf ich vorher feststellen, dass es Einver-
nehmen dazu gibt, dass die Aussprache eine halbe
Stunde dauern soll? – Das ist offenkundig der Fall. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach intensiven Beratungen in den letzten Monaten wer-fen wir heute einen Blick über unsere nationale Nachhal-tigkeitsstrategie hinaus auf die europäische Perspektivenachhaltiger Entwicklung. Ich freue mich sehr, dass esgelungen ist, die Unterrichtung im fraktionsübergreifen-den Konsens ohne Sondervoten einzelner Fraktionen imBeirat zu verabschieden. Dies unterstreicht noch einmalden Ansatz, nachhaltige Entwicklung legislaturperioden-übergreifend und jenseits politischer Auseinandersetzun-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12391
Tankred Schipanski
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gen zu begleiten. Allen, die hieran mitgewirkt haben,danke ich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktionsehr herzlich.Alois Glück, der ehemalige bayerische Landtagsprä-sident und Vordenker zum Thema Nachhaltigkeit, be-zeichnete das Prinzip der Nachhaltigkeit als den zentra-len Kompass, wenn wir einen guten Weg in die Zukunftgestalten wollen.Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird dabei von zwei Di-rektiven bestimmt, nämlich dem Längerfristigen unddem Ganzheitlichen. Diese beiden Parameter haben wirbei den Beratungen zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie er-leben können. Wir haben herausgearbeitet, dass die EU-Nachhaltigkeitsstrategie mehr und längerfristiger ist alsdie Strategie „Europa 2020“. Und wir haben gespürt, wieganzheitlich die Fragestellungen sind. Von daher ist eslobenswert, dass wir anhand von zehn Themenfeldernsowie Indikatoren strukturiert gearbeitet haben, um un-seren Kolleginnen und Kollegen im Parlament einenÜberblick über diese breite Materie zu geben.Von daher können wir heute gar nicht auf alle Berei-che eingehen, sondern ich darf mich auf einige wesentli-che Aspekte konzentrieren. Bei der Bewertung der euro-päischen Nachhaltigkeitsstrategie ergibt sich insgesamtein sehr gemischtes Bild. In einigen Bereichen liegt dieEU weit vorne, in vielen Bereichen sind allerdings nocherhebliche Anstrengungen notwendig. Eine wichtige Er-kenntnis bei der Betrachtung der einzelnen Indikatorenist, dass einige Länder Vorreiter sind und andere um einVielfaches dahinter zurückliegen.Dies zeigt, dass Nachhaltigkeit und Leitlinien nach-haltiger Entwicklung noch nicht überall in der EU alswichtiges Zukunftsinstrument in die Politik integriertsind. Hier ist aus unserer Sicht die EU gefordert, in allenMitgliedstaaten für eine entsprechende Ausrichtung na-tionaler Strategien zu werben.Dabei kämpft die europäische Nachhaltigkeitsstrate-gie im Gegensatz zu unserer nationalen mit einem gra-vierenden Geburtsfehler: Die zur Begleitung der Strate-gie erforderlichen Indikatoren sind nicht politischkonsentiert, sondern von Eurostat entwickelt und ohnepolitische Beratung eingeführt worden. Entsprechendniedrig ist ihre Relevanz.Aus unserer Sicht ist es zwingend erforderlich, dasssich die EU bei der Weiterentwicklung der europäischenNachhaltigkeitsstrategie auch die Zeit nimmt, die Indi-katoren politisch zu diskutieren. Nur so kann es gelin-gen, die Verzahnung der europäischen Nachhaltigkeits-strategie und der nationalen Nachhaltigkeitsstrategien zuverbessern. Bei unserer gemeinsamen Befassung mit dereuropäischen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir auchfeststellen können, wie gut der Parlamentarische Beiratfür nachhaltige Entwicklung im deutschen Parlamentverankert ist.Mit klaren Aufgaben und Kompetenzen treiben wirunsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie voran. Solchklare Kontrollmechanismen bezüglich der Umsetzungder Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie fehlen in derEU.Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie enthält neben zahl-reichen wichtigen und sinnvollen Indikatoren aber aucheinige, bei denen durchaus kritisch hinterfragt werdensollte, ob diese Indikatoren uns wirklich weiterbringen.Hierzu gehört der Indikator „gute Staatsführung“. Si-cherlich ist eine gute Staatsführung mit Blick auf einenachhaltige Entwicklung wichtig. Allerdings ist die Be-wertungsgrundlage des Indikators bemerkenswert: EineVertrauenserklärung gegenüber dem EU-Parlament vonmehr als der Hälfte der EU-Bürger als positiven Befundzu werten, ist vor dem Hintergrund, dass die Wahlbetei-ligung zum Europaparlament beständig abnimmt, sehrgewagt. Auch die Quote von 98,5 Prozent als Zielvor-gabe für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durchdie nationalen Regierungen sagt kaum etwas über diegute Staatsführung der EU aus, müsste doch diese Quotebei 100 Prozent liegen.Letztlich sind die vorhandenen Indikatoren eher frag-würdig, sodass der Parlamentarische Beirat zu Rechtempfiehlt, dieses Themenfeld aus dem Bereich der Indi-katoren zu streichen und als ein weiteres Thema von be-sonderer Bedeutung ohne Indikatorenmessungen in denallgemeinen Teil der Nachhaltigkeitsstrategie zu verla-gern.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Nachhaltigkeit muss Leitprinzip der europäischen Poli-tik sein sowie umfassend und konsequent Berücksichti-gung finden. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist eine Zu-kunftsstrategie: Wenn Nachhaltigkeit als politische,gesellschaftliche und ökonomische Querschnittsaufgabebegriffen wird, kann sie zum Innovationsmotor werden.Technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicherFortschritt muss sich an diesem Prinzip messen lassen.Wichtig ist dabei, dass die Leitlinien nachhaltiger Ent-wicklung auf der europäischen Ebene nicht zugunstenkurzfristiger Zielvorgaben verdrängt werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Franz Müntefering
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eswurde schon gesagt: Europa hat den Fortschrittsberichtzur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt.Wir haben als Parlamentarischer Beirat für nachhaltigeEntwicklung das Thema aufgenommen und einen Be-richt an den Bundestag gegeben. Die Drucksache liegtvor. Heute findet eine kurze Debatte statt.Wir haben Fragen gestellt, weil wir wissen wollten,wie denn die Entwicklung in Europa ist, wie synchronsie in den Mitgliedsländern läuft bzw. in welchem Maßesie nicht übereinstimmt. Die erste Frage, die wir gestellthaben, ging an die Bundesregierung. Wir haben gefragt,wie sie denn die Indikatoren, die Europa benutzt, sieht.Wir haben festgestellt – das war ziemlich ernüchternd –,
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12392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Franz Müntefering
(C)
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dass die Indikatoren, mit denen Europa den Fortschrittmisst, nicht von den Mitgliedstaaten anerkannt wordensind. Die Mitgliedstaaten sind zwar beteiligt worden,aber im Endergebnis ist es so, dass die Mitgliedstaatenund Europa den Fortschritt mit unterschiedlichen Maß-einheiten messen. Das ist nicht gut. Deshalb muss manversuchen, dies zu synchronisieren. Das ist notwendig,damit man weiß, worüber man redet, wenn man überNachhaltigkeit und Fortschritt miteinander spricht.
Trotzdem ist es wichtig und richtig, dass wir uns auchüber die Inhalte austauschen und das, was wir erkennenkönnen, ansprechen, soweit das in so kurzer Zeit hiermöglich ist. Ich nenne ein paar Stichworte.Stichwort „natürliche Ressourcen“. Es ist klar gewor-den, dass es in Europa immer weniger Wälder und im-mer weniger Grün gibt, Wasser im vergleichbaren Um-fang wie in den Jahren zuvor genutzt wird. Wenn mandas zu der schlichten Wahrheit in Relation setzt, dass dieBevölkerungszahl in Deutschland von jetzt 81 Millionenauf 68 Millionen bis zum Zeitraum 2050/2060 sinkenwird, stellt sich die Frage, wie wir unsere Landschaft be-planen und welche Konsequenzen sich aus solchen Zah-len für die Zukunft des Landes ergeben. Eines müssenwir jedenfalls lernen. Bei den meisten von uns inDeutschland ist im Kopf, dass der Mangel an Wasserund Grün hauptsächlich andere Kontinente betrifft. Aberauch Europa ist davon in hohem Maße und in immerstärkerem Maße betroffen. Es ist wichtig, dass wir diesesProblem nicht unterschätzen.
Stichwort „öffentliche Gesundheit“. Ich spreche dasThema an, weil es in Europa durchgängig so ist, dassarm zu sein, also wenig Geld zu haben, immer mit einerunterdurchschnittlichen Versorgung im Gesundheitsbe-reich verbunden ist. Das ist ein deutsches Problem undauf jeden Fall in Europa ein weitverbreitetes Problemund deshalb etwas, was wir im Blick haben müssen undwas in die europäischen Kategorien stärker einbezogenwerden muss.Stichwort „soziale Sicherheit und Einbeziehung inunsere Gesellschaft“. Die Trennung zwischen Arm undReich wird größer, die Schere geht weiter auseinander.Wir glauben, dass die Instrumente, die Europa nutzt, umdas zu messen, nicht besonders aufschlussreich sind.Man nimmt die reichsten 20 Prozent und die ärmsten20 Prozent, aber die Extreme sind dann nicht wirklich zuerkennen. Jedenfalls ist das eine Entwicklung, die in Eu-ropa durchgängig zu beobachten ist.10 Prozent der jungen Leute in Europa kommen ohneAbschluss aus der Schule. Wir sind in Deutschland et-was besser geworden: Anfang dieses Jahrhunderts warenes pro Jahr 89 000, inzwischen sind es 58 000. Aber be-ruhigen kann uns das nicht. Das sind in zehn Jahren un-gefähr 600 000 junge Leute, die ohne Schulabschluss inArbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geschoben wer-den. Deshalb ist dieses Thema – 10 Prozent der jungenLeute in Europa kommen ohne Abschluss aus derSchule – eine der größten Herausforderungen, vor denenEuropa steht. Das muss auch in Europa auf die Tages-ordnung gesetzt werden.
Wenn wir die junge Generation ernst nehmen wollen,muss dieses Thema neben allen anderen wichtigen The-men, die wir in Europa zu besprechen haben, auf die Ta-gesordnung; denn die Wirkungen sind noch in 20 oder30 Jahren in aller Massivität zu spüren.Es ist festgestellt worden, dass in Deutschland, aberauch in anderen Ländern die Frauen in der Entlohnungdeutlich schlechter gestellt sind als die Männer. Das istoft genug konstatiert worden und muss nun endlich be-hoben werden, sowohl in Deutschland als auch an-derswo.
Stichwort „Demografie“. Die Altersarmut ist in denletzten sieben Jahren in Europa gewachsen. Wir habeneine lange Phase in Europa gehabt, wo die ältere Genera-tion relativ besser dastand als die jüngere. In den letztensieben Jahren hat sich dieser Trend verändert. Wenn mansich nun klarmacht, dass in Deutschland, aber auch inEuropa insgesamt die Lebenserwartung steigt, dass dieZahl der Älteren zunimmt, und wenn man davon aus-geht, dass sie weniger verfügbar haben, stellt man fest,dass es hier um eine Frage nicht nur sozialer Dimension,sondern auch ökonomischer Dimension geht. Die Bin-nenkaufkraft und die Leistungsfähigkeit werden an die-ser Stelle abnehmen. Das ist nicht nur ein Minus anLebensqualität, sondern, was die volkswirtschaftlicheDynamik angeht, auch eine große Gefahr, die wir sehenmüssen.Was die Beschäftigung und die Arbeitsplätze im Be-reich der 55- bis 64-Jährigen angeht, ist Europa einStück vorangekommen; die Beschäftigung liegt bei etwa50 Prozent. Wir sind in Deutschland bei etwa 60 Pro-zent. 1998 waren wir bei etwa 36 Prozent. Das ist einegute Entwicklung; aber trotzdem bleibt es nötig unddringend erforderlich, in ganz Europa auch den Ältereneine Chance zu geben, am Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Ich nenne drei Punkte, die uns in dem, was Europauns geliefert hat, fehlen. Es gibt erstens keine qualifi-zierte Auseinandersetzung mit den Finanzen, weder mitden öffentlichen Finanzen, mit den Haushalten, noch mitder privaten Finanzindustrie. Das ist hochärgerlich.Denn Nachhaltigkeitspolitik kann sich nicht darauf redu-zieren lassen, zu versuchen, die verschüttete Milch auf-zunehmen, sondern wir müssen auch als Politik auf dieöffentlichen Finanzen und die private FinanzindustrieEinfluss haben. Sonst kann man nachhaltige Politik inEuropa nicht organisieren. Auch das ist eine Konse-quenz aus dem, was wir da lesen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12393
Franz Müntefering
(C)
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In dem gesamten Bericht fehlt zweitens die Integra-tion, die Inklusion, ein Thema, das wir dringend aufneh-men müssen in Europa, in Bezug auf Zuwanderung, aufEinwanderung, aber auch auf Binnenwanderung in Eu-ropa. Was findet da eigentlich statt? Was bedeutet das?Wer soziale Stabilität haben will, muss sich auch um die-ses Thema kümmern.Drittens steht in dem Bericht nichts zur Demokratie.Ich finde, das ist eine Schwäche, die wir uns nicht leistenkönnen. Europa hat viele Probleme. Wir haben auch dasProblem, dass wir immer wieder neu aufpassen müssen,dass die Demokratie auch stimmt, dass die Menschen-rechte eingehalten werden, dass die Medienöffentlich-keit garantiert ist, und zwar in ganz Europa; ich will garkeine Adressen nennen.
Das ist etwas, über das wir miteinander sprechen müs-sen. Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie nichtpartiell nur noch formal vorhanden ist und von der Sub-stanz her den Anforderungen nicht genügt wird.Nun haben wir unseren Bericht gegeben. Der Bundes-tag und die Bundesregierung lesen das hoffentlich, spre-chen darüber und erkennen, dass etwas getan werdenmuss. Durch Reden allein passiert nichts; wir haben oftgenug darüber geredet. Deshalb die Aufforderung desParlamentarischen Beirats: Lasst uns die Dinge mitei-nander anpacken und Europa organisieren und voran-bringen, nicht nur bei den großen Themen, die uns jedenTag berühren, sondern auch da, wo es konkret um dieeinzelnen Menschen und deren Lebensqualität geht.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Rede des Kollegen Johannes Vogel für die FDP-
Fraktion wird zu Protokoll genommen.1)
Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Des-halb hat auch die EU eine Nachhaltigkeitsstrategie. Lei-der scheint sie aber eher nur auf dem Papier zu stehen,als dass sie eine Handlungsgrundlage ist. Das hat auchder Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklungdes Bundestages festgestellt.Alles andere als nachhaltig war der Druck der EU aufGriechenland, für den Euro-Rettungsschirm Löhne, Ge-hälter und Investitionen zu kürzen. Wie von der Linkenvorausgesagt, brach daraufhin die Wirtschaftsleistungein. Das war unverantwortlich.
1) Anlage 6Verantwortlich wäre gewesen, die gravierende Steuer-hinterziehung in Griechenland – nach Schätzungen gehtes hier um 30 Milliarden Euro pro Jahr – zu bekämpfen.Diese einseitige, nicht nachhaltige Politik verurteilt dieLinke. Jetzt, ein Jahr nach dem Ausbruch der griechi-schen Finanzkrise, plant der griechische Finanzminister,mit 3 000 zusätzlichen Beamten die Steuerhinterziehungzu bekämpfen und so die Staatseinnahmen zu erhöhen.Das ist der Anfang einer nachhaltigen Finanzpolitik.
In der Bundesrepublik werden jedes Jahr weit über50 Milliarden Euro Steuern hinterzogen. Jeder zusätzli-che Steuerprüfer holt davon etwa 1 Million Euro in dieStaatskasse zurück. Deshalb fordert die Linke mehrSteuerprüfer.
Das wäre für den Bundeshaushalt nachhaltig und einSchritt zu mehr Gerechtigkeit. Jeder Lohnsteuerzahlerwird überprüft, aber Betriebsinhaber und Millionäre ha-ben wegen fehlenden Personals in den Finanzämterngute Chancen, bei Schummeleien nicht erwischt zu wer-den.
Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch nicht nachhal-tig.Bei Empfängern von ALG II, beim Kindergeld, beimBAföG und beim Wohngeld wird gnadenlos überwacht.Der kleinste Fehler eines Leistungsempfängers führtzum Verlust von Leistungen und beim Bezug vonALG II zu erbarmungslosen Sanktionen. Wer Steuern inMillionenhöhe hinterzogen hat, geht bei rechtzeitigerSelbstanzeige straffrei aus.
Da sagt die Linke: So nicht!
Auch in anderen Bereichen wird bei der Nachhaltig-keit geschludert. Zum Schutz des Klimas legte die EUneue Grenzwerte für das Treibhauspotenzial von Kälte-mitteln in Klimaanlagen von Pkw fest. Dabei wurde abernicht nur die Begrenzung des internen Energiever-brauchs der Klimaanlagen vergessen; auch der Gesund-heitsschutz kam unter die Räder. Zum Schutz des Klimaswurde für neue Pkw-Typen ein Verbot des Einsatzes desbisherigen Klimakillers R 134 a erlassen. Die EU hoffteauf den Einsatz von CO2, doch die Autoindustrie setzte,um Entwicklungskosten zu sparen, auf R 1234 yf stattCO2. Im Falle einer undichten Klimaanlage oder einesFeuers nach einem Unfall entsteht daraus aber Fluss-säure, welche die Lungen von Insassen, Helfern und Un-beteiligten verätzen kann. Das ist ein Skandal.Die Linke forderte sofort ein Verbot des Einsatzes ge-sundheitsgefährdender Kühlmittel in Pkw. Aber statt mit
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12394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ralph Lenkert
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uns gemeinsam einen Weg zu finden, wie dieses Ge-sundheitsrisiko verhindert werden kann, schmettertenSie von der Regierungskoalition unsere Initiative ab. ImSeptember sollen die ersten Pkw mit dem KühlmittelR 1234 yf im Handel sein. Das kann doch nicht ihr Ernstsein.
Wir fordern Sie auf, eine Entscheidung zu treffen, diedazu führt, dass kein einziger Mensch verletzt werdenkann.Jetzt komme ich zur Nachhaltigkeitsprüfung zurück.Hätte es in diesem Fall eine Nachhaltigkeitsprüfung ge-geben, wäre der Skandal nicht passiert. Hätten wir mehrFinanzbeamte und Steuerprüfer, zum Beispiel 500 inNordrhein-Westfalen, könnten wir die Finanzen derBundesrepublik nachhaltig verbessern.Wir, Die Linke, unterstützen die Arbeit des Parlamen-tarischen Beirats für Nachhaltigkeit, weil über die Nach-haltigkeitsprüfung Fehler erkannt werden können. Wirhaben nur eine Welt und ein Leben, und deshalb müssenwir sorgsam damit umgehen. Das ist der Kern von Nach-haltigkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die
Kollegin Frau Dr. Wilms das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Nach dem kurzen Ausflug in
die Autoklimaanlagenwelt möchte ich auf das zurück-
kommen, was wir im Parlamentarischen Beirat für nach-
haltige Entwicklung machen.
Nach knapp vier Monaten steht wieder eine Unter-
richtung durch den Parlamentarischen Beirat für nach-
haltige Entwicklung auf der Tagesordnung dieses Hohen
Hauses. Vielleicht fragen Sie sich, warum wir nicht mehr
Papiere auf den Tisch legen. Das kann ich Ihnen gerne
erklären, gerade auch den Zuschauerinnen und Zuschau-
ern auf der Tribüne: Es dauert mehrere Monate, bis wir
im Beirat ein Papier zustande bringen; denn wir arbeiten
anders als in den Ausschüssen, nämlich interfraktionell.
Für das, was wir hier auf den Tisch legen, wollen wir die
Zustimmung aller fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses
erreichen. Deshalb handelt es sich um eine ganz beson-
dere Debatte. Wir einigen uns auf einen gemeinsamen
Nenner, den wir im Hause über lange Zeit beibehalten
können, hinter dem wir alle stehen können – und dies
heute zu einem Papier quer durch alle Themenfelder,
nämlich zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Das
ist unsere Arbeitsweise im Parlamentarischen Beirat.
Europakritiker und Europaskeptiker haben in den ver-
gangenen zwei bis drei Jahren nicht wenige Argumente
an die Hand bekommen. Finanzmarktkrisen und Ret-
tungsschirme bestätigen Skeptiker und Kritiker. Laut
Eurobarometer glaubten Ende 2010 nicht einmal die
Hälfte der EU-Bürger, dass die Krise überwunden sei. In
Deutschland waren es sogar etwas mehr als die Hälfte.
Diese Skepsis ist nicht verwunderlich, wenn man sich
den Bericht des europäischen Statistikamtes zur Euro-
päischen Nachhaltigkeitsstrategie anschaut.
Die Tagung des Beirats, die Ende März in Brüssel zu-
sammen mit den Kollegen aus der EU stattgefunden hat,
zeigte auch, dass dort bislang insgesamt nur ein geringes
Interesse am Thema Nachhaltigkeit vorhanden ist. Ein
nachhaltiger Staatshaushalt ist schließlich kein Thema,
mit dem man Stimmen gewinnen kann; im Gegenteil:
Sparprogramme werden in Europa sogar bestreikt. Bei
der Nachhaltigkeit geht es aber um weit mehr. Es geht
um die Zukunftsfähigkeit jedes einzelnen Staates und
von Europa als Ganzes,
und zwar nicht nur im Bereich Finanzen, sondern auch
in den Bereichen Ökologie und sozialer Zusammenhalt.
Lassen Sie mich das am Beispiel Verkehr darstellen.
2008 hatte der Verkehr mit knapp einem Drittel den
größten Anteil am Endenergieverbrauch in Europa. Hier
steckt also ein riesiges Potenzial für Energieeinsparung.
Das ist aber auch eine enorme Herausforderung. Das
Güterverkehrsvolumen stieg seit 2000 um ein Viertel an.
Laut Prognosen wird es noch weiter steigen. Wie kom-
men wir aus dieser Falle heraus? Das Zauberwort für
nachhaltigen Verkehr heißt: Kostenwahrheit. Jedes Ver-
kehrsmittel muss für sämtliche Umweltbeeinträchtigun-
gen aufkommen. Nur dann haben auch umweltfreund-
liche Verkehrsmittel eine reelle Chance.
All diese Herausforderungen haben eines gemeinsam:
Wir brauchen einen Systemwechsel, einen neuen Denk-
ansatz. Derzeit wird überwiegend der Produktionsfaktor
Arbeit besteuert, der Produktionsfaktor Boden bzw. Na-
tur dagegen kaum. Scheinbar waren Ressourcen immer
in unendlicher Menge vorhanden. Diese Annahme ist
falsch. Unsere Erde ist nicht reproduzierbar, bislang je-
denfalls. Lassen wir unseren Nachkommen auch noch
etwas davon übrig.
Die Nachhaltigkeitsziele in Europa müssen Priorität
erhalten und über allen anderen bereichsübergreifenden
Zielen stehen, auch über der Wachstumsstrategie Europa
2020. Vor allen Dingen muss sich Europa endlich die
Mühe machen, diese Ziele politisch zu debattieren und
festzulegen und das Ganze nicht nur über das Statistik-
amt abwickeln zu lassen.
Herzlichen Dank.
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ichdem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktiondas Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12395
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sprechen heute über die Nachhaltigkeitsstrategie der Eu-
ropäischen Union. Natürlich geht es dabei um Instru-
mente, um Verfahren und um Managementregeln.
Ich finde es wichtig, noch einmal in den Mittelpunkt
zu stellen, warum wir über diese Verfahrenswege disku-
tieren und worum es in der Sache geht. In der Sache geht
es darum, dass wir in der gesamten Europäischen Union
den Gedanken der Nachhaltigkeit voranbringen wollen.
Wir wollen dahin kommen, sagen zu können: Wir leben
in der Europäischen Union nicht auf Kosten der Zukunft.
In den Bereichen Wirtschaft und Soziales, Finanzen und
Umwelt leben wir nicht auf Kosten von morgen, sondern
berücksichtigen die Belange künftiger Generationen.
Das durchzusetzen, erfordert wiederum die Diskus-
sion über Instrumente und Verfahren. Deshalb haben wir
uns als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Ent-
wicklung des Deutschen Bundestages mit diesen Fragen
im Hinblick auf Europa befasst. Wir machen uns stark
dafür, dass es eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
gibt, die ambitioniert ist, die überzeugend ist, die in die
Mitgliedstaaten ausstrahlt und dort Wirkung entfaltet.
Das ist das Ziel. Wir stellen fest, dass auf dem Weg zu
diesem Ziel noch erhebliche Hürden zu überwinden
sind. Ich will drei Punkte kritisch herausgreifen.
Erstens. Die Indikatoren der Europäischen Nachhal-
tigkeitsstrategie sind nicht politisch diskutiert und entwi-
ckelt worden. Sie wurden quasi von Eurostat ohne de-
mokratische Rückkoppelung vorgegeben. Das ist schon
ein Geburtsfehler, weil demokratische Legitimation die
Voraussetzung für Akzeptanz ist. So werden diese Indi-
katoren die Strahlkraft, die wir uns von ihnen erhoffen,
gerade nicht entwickeln können. Ich glaube, das ist ein
Punkt, der sich ändern muss
und bei dem die Europäische Union eine Weiterentwick-
lung betreiben sollte.
Zweitens. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
ist eine Ergänzung der Lissabon-Strategie. Es mag Sinn
machen, Synergien zu suchen, wo sie möglich sind. Das
entspricht aber nicht der Bedeutung der Nachhaltigkeit,
wie wir sie sehen. Wir glauben, dass Nachhaltigkeit der
Überbau ist – sie muss über allem stehen –, dass andere
Strategien sich hier einfügen müssen und aus diesem Ge-
danken der Nachhaltigkeit heraus zu entwickeln sind. Es
darf gerade nicht umgekehrt sein: Nachhaltigkeit als Ab-
leger von anderen Strategien. Auch das muss sich än-
dern. Die Nachhaltigkeit muss in der EU durch diese for-
male Frage stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.
Drittens. Letztlich ist es eine Frage der institutionel-
len Behandlung der Nachhaltigkeit. Wir glauben, dass
die Nachhaltigkeit auf europäischer Ebene im Parla-
ment, in der Kommission und im Rat auch durch ihre
formale Behandlung gestärkt werden sollte.
Ich fange an beim Parlament. Wir sind nicht in der Si-
tuation, dass wir dem Europäischen Parlament Rat-
schläge für seine interne Organisation zu geben haben.
Wir wollen aber Überzeugungsarbeit leisten und mit Eu-
ropaparlamentariern – wir haben vor kurzem das Ge-
spräch gesucht – darüber debattieren, ob sie nicht das-
selbe machen wollen wie wir im Bundestag. Wir halten
es für einen Fortschritt, dass wir einen Beirat haben, der
sich fächerübergreifend mit Nachhaltigkeit befasst und
quasi eine Wachhundfunktion übernimmt, der in allen
Fachbereichen und bei allen Materien sagt: Hier muss
Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, hier läuft etwas
schief, und hier müssen wir etwas ändern. – So etwas
gibt es im Europäischen Parlament bislang noch nicht.
Wir würden gerne einen Impuls an die Europaparlamen-
tarier geben, dass sie diesen bei uns erfolgreichen Weg
ebenfalls gehen.
Ich nenne ein Beispiel, warum dieser Weg erfolgreich
ist. Es geht auf eine Initiative des Parlamentarischen
Beirats für nachhaltige Entwicklung zurück, dass das
Bundeskanzleramt – auf immer wiederkehrendes steti-
ges Drängen – ein eigenes Referat für Nachhaltigkeit
eingerichtet hat. Fragen aus diesem Bereich unterliegen
damit dort einer prominenten Behandlung und erlangen
eine große Bedeutung. So etwas gibt es in der Kommis-
sion der Europäischen Union bislang noch nicht. Wir
meinen, an dieser Stelle sollte ein Impuls gegeben wer-
den. Hier sollte es eine Weiterentwicklung geben, damit
der Gedanke der Nachhaltigkeit innerhalb der Kommis-
sion gestärkt wird.
Dasselbe gilt für die Ebene des Rates. Wir sind der
Meinung, dass im Rat eine Arbeitsgruppe „Nachhaltige
Entwicklung“ eingerichtet werden sollte, und zwar aus
denselben Gründen, die für Parlament und Kommission
gelten. Wir brauchen all dies, um die formalen Voraus-
setzungen dafür zu schaffen, dass die Nachhaltigkeit in-
haltlich einen höheren Stellenwert in der Europäischen
Union bekommt. Wenn das alles gelingt, haben wir, so
glaube ich, auf europäischer Ebene eine überzeugende
Strategie, die mit den Nationalstaaten abgestimmt ist.
Dann können die Indikatoren und Regeln von den Natio-
nalstaaten ergänzt und übernommen werden. Dann ge-
lingt es uns in der Europäischen Union insgesamt, eine
nachhaltige Politik vernünftig umzusetzen.
Wie man an den Beispielen sieht, haben wir noch ein
gutes Stück Arbeit vor uns. Wir nehmen die Herausfor-
derung an. Die Vorlage zeigt, dass wir im Parlamentari-
schen Beirat für nachhaltige Entwicklung fraktionsüber-
greifend daran arbeiten.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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12396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 17/5295 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Darüber gibt esoffensichtlich keinen Streit. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenMarks, Petra Crone, Christel Humme, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDNeuen „Krippengipfel“ einberufen – Ausbauder frühkindlichen Bildung und Betreuung vo-ranbringen– Drucksache 17/5518 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieAussprache 30 Minuten dauern. – Dazu gibt es keinenWiderspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir debattieren heute Abend über eines der wichtigstensozial- und familienpolitischen Vorhaben dieses Jahr-zehnts, über den Ausbau der Bildungs- und Betreuungs-angebote für Kinder unter drei Jahren. Es geht dabei umnichts Geringeres als um die frühkindliche Bildung derKinder und um die Unterstützung von erwerbstätigen El-tern, die Familie und Beruf partnerschaftlich miteinan-der vereinbaren wollen, sowie um die Bekämpfung vonFamilienarmut.Wenn wir den Fachkräftebedarf von heute und vonmorgen bewältigen wollen, ist die Lösung der Vereinbar-keitsfrage ein Schlüsselthema. Niemand darf den Aus-bau der Krippenplätze und den ab 2013 bestehendenRechtsanspruch infrage stellen. Das ist in diesem Hausheute Abend und darüber hinaus hoffentlich Konsens.
Ich habe bei diesem Thema aber zunehmend den Ein-druck, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung und ins-besondere die zuständige BundesfamilienministerinSchröder in einer anderen Welt leben als der Rest derRepublik.
Warum ist das so? Seit Monaten sind Schlagzeilen zu le-sen wie diese: „Alte Bundesländer: Kitaplatz nur für je-des sechste Kleinkind“. Eine weitere Schlagzeile: „Krip-penausbau gefährdet“. In einer GEW-Studie heißt es:Nie wurden Erzieherinnen und Erzieher so dringend be-nötigt wie heute. In den Bremer Nachrichten vom22. Juli letzten Jahres war sogar zu lesen:Augen zu und durch. Wider besseres Wissen hältBundesfamilienministerin Kristina Schröder amKita-Konzept fest und versucht, den Lauf der Dingeschönzureden.Das Nichthandeln der Regierung fällt also nicht nur derOpposition auf. Es fällt auch den Medien und der gesam-ten Fachwelt auf.Die Kommunen schlagen Alarm und sagen, dass siebeim Krippenausbau definitiv mehr Unterstützung brau-chen.Deutschland wird – das ist ganz aktuell – in der EndeApril veröffentlichten OECD-Studie zur Familienpolitikermahnt, mehr und schneller in Strukturen wie Kinder-betreuung und Ganztagsschulen zu investieren. Trotz desAusbaus in den vergangenen Jahren habe die Betreuungder Kinder in Deutschland immer noch erhebliche Män-gel, so die Studie.Wenn man auf den Spielplätzen, insbesondere im Sü-den und im Westen der Republik, mit den Mütternspricht, wird klar: Viele Frauen bleiben oft länger zuHause, weil ihre Kinder auf den Wartelisten für einenKrippenplatz stehen. Lange Auszeiten nach der Geburteines Kindes sind häufig nicht der Wunsch der Frauen,sondern das Resultat fehlender Bildungs- und Betreu-ungsangebote insbesondere für die unter Dreijährigen.So, meine Damen und Herren von der Regierung, siehtdie Realität in unserem Lande aus.Doch was hört und liest man von der Bundesregie-rung? Seit ihrem Amtsantritt wird die zuständige Bun-desfamilienministerin Schröder nicht müde, zu beteuern,dass die Ausbaudynamik erfreulich sei und es keinenAnlass zur Sorge gebe. Das ist interessant. Auch dieBundeskanzlerin sieht, wie wir vor kurzem hören und le-sen konnten, keinen Handlungsbedarf. Das ist vergan-gene Woche auf der Hauptversammlung des DeutschenStädtetages deutlich geworden. Sie sagte in ihrer Redezum Ausbau der Betreuung:Wir werden sehen, wie sich die Fragen jetzt entwi-ckeln. Wir sollten keine Kassandrarufe ausstoßen …Frau Bundeskanzlerin, nur vom Zuschauen und Abwar-ten werden die Eltern und die Kinder in unserem Landnicht die Betreuungsplätze bekommen, die sie benöti-gen.
Diesen Optimismus der Bundesregierung – odersollte man schon von Ignoranz sprechen? – teilen wederdie SPD-Bundestagsfraktion noch die Kommunen oderdie Expertinnen und Experten und schon gar nicht dieEltern in unserem Land. Wie kann man ernsthaft ignorie-ren, dass zahlreiche Familien händeringend auf einenBetreuungsplatz für ihre Kleinkinder warten und keinenbekommen? Es ist doch fatal, wenn Mütter und Vätermangels Betreuungsangeboten nicht arbeiten können.Da hilft es auch nicht viel, dass die Arbeits- und Sozial-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12397
Caren Marks
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ministerin fordert, wir müssten mehr Fachkräfte gewin-nen. Vor allem Alleinerziehende haben ohne ausrei-chende Betreuungsplätze keine Chance auf dem Arbeits-markt und damit auch keine Chance, ihren Lebensunter-halt selbst zu bestreiten.Zahlreiche Expertinnen und Experten gehen davonaus, dass der Bedarf an Betreuungsplätzen deutlich hö-her ausfällt, als die Bundesregierung bisher annimmt.Die bundesdurchschnittliche Betreuungsquote von 35 Pro-zent, die bis 2013 erreicht werden soll, gilt längst alsüberholt. Insbesondere in den städtischen Regionendürfte der Bedarf auf 40 und zum Teil bis auf 60 Prozentsteigen. Auch das ist die Realität.Das Problem ist vor allem dort besonders groß, wodie Betreuungsquote besonders niedrig ist. So liegt bei-spielsweise in Teilen Niedersachsens – Herr Staatssekre-tär, das ist unser Bundesland – die Betreuungsquote beinur circa 10 Prozent. Da ist noch viel zu tun. Ja, es gibteinen Ausbau von Plätzen, aber ich denke, dieser gehtviel zu langsam vonstatten. Handlungsbedarf bestehtauch bei dem weiteren Ausbau der Qualität der Betreu-ung. Neben einer ausreichenden Zahl der Betreuungs-plätze dürfen wir auch die Qualität der Betreuungs- undBildungsangebote für unsere Kinder nicht außer Achtlassen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, wie wichtig die Ge-winnung pädagogischer Fachkräfte ist. DGB, Verdi undGEW warnen davor, dass der enorme Bedarf an Erziehe-rinnen und Erziehern im frühkindlichen Bereich nichtgedeckt wird. Zu Recht weisen sie immer wieder daraufhin, dass dieser wichtige Beruf aufgewertet und besserbezahlt werden muss. Ich sage Ihnen: Sie haben die SPDan Ihrer Seite.
Für all diese Probleme, die ich genannt habe, müsstedie Bundesregierung und allen voran Frau Schröderdringend mit Ländern und Kommunen gemeinsame Lö-sungen entwickeln.
Wir brauchen schnellstmöglich einen neuen Krippengip-fel. Warum verweigert sich die Familienministerin diesernotwendigen Forderung? Die SPD-Bundestagsfraktionfordert in ihrem Antrag, einen solchen Krippengipfelendlich erneut einzuberufen. Der letzte fand im Jahr2007 statt. Wir wollen, dass der Ausbau der Betreuunggerade auch im Bereich von Ganztagsangeboten be-schleunigt wird.Wir fordern schon länger, dass der Betreuungsbedarfrealistisch ermittelt wird und dass die regionalen Unter-schiede und die Fachkräftebedarfe dabei berücksichtigtwerden. Wir brauchen hier endlich Transparenz; dennnur so können wir bei der angestrebten Zahl der Betreu-ungsplätze, bei der Gewinnung von Fachkräften undauch bei der Finanzierung gezielt nachsteuern. Wir brau-chen einen nationalen Bildungspakt für die frühkindlicheBildung, und wir brauchen eine Fachkräfteoffensive, dieihren Namen wirklich verdient.Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Die Ministerinmüsste sich jetzt eigentlich nur noch an die Arbeit ma-chen. Es reicht nicht aus, in Reden die bessere Verein-barkeit von Familie und Beruf zu betonen. Wir fragenuns: Wo bleiben die konkreten Maßnahmen?
Was tun Sie von der Regierungskoalition, um denRechtsanspruch auf einen Krippenplatz zu sichern? Wasunternehmen Sie, um die Kommunen beim Ausbau anfrühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten zuunterstützen? Durch Ihre Politik, Herr StaatssekretärKues, haben Sie die finanzielle Lage in den Kommunenverschärft. Ob wegbrechende Steuereinnahmen odermassive Kürzungen bei der Städtebauförderung: Sie tungenau das Gegenteil von dem, was für die Kommunendringend notwendig wäre.Wir wollen, dass Familien echte Wahlfreiheit habenund Beruf und Familie tatsächlich vereinbaren können.Aber das ist bislang noch nicht der Fall. Die meistenPaare wollen Familie und Beruf partnerschaftlich verein-baren. Sie haben dabei in unserem Land nach wie vorviel zu große Hürden zu überwinden. Fehlende Krippen-plätze sind dabei noch immer die größte Hürde.Eine moderne Familien- und Gleichstellungspolitikmuss dafür sorgen, dass echte Partnerschaftlichkeit ge-lebt werden kann. Diese Bundesregierung und allen vo-ran die Familienministerin müssen endlich in der Reali-tät ankommen und die Kommunen mehr als bisher beimKrippenausbau unterstützen. Die SPD wird die Bundes-regierung nicht aus der Verantwortung entlassen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Caren Marks. – Nächster
Redner ist unser Kollege Marcus Weinberg für die CDU/
CSU. Bitte schön, Herr Kollege Weinberg.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen undHerren! Liebe Frau Marks! Erstens. Wenn Herr Beck inRheinland-Pfalz Ihre Lyrik umgesetzt hätte, dann wärenwir in dieser Republik beim Ausbau von Krippenplätzenwesentlich weiter.
Rheinland-Pfalz lag noch vor wenigen Jahren bei einerBetreuungsquote von 9 Prozent. Mittlerweile liegt mandort bei 17 Prozent. Das ist eine deutliche Steigerung.Wer aber aus dem Nichts kommt, kann sich nur steigern.
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12398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Marcus Weinberg
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Zweitens. Sie haben nicht die Interpretationshoheit inBezug auf das, was Familie und Frauen wollen. Wirschaffen Angebote.
Sie fordern aber, dass alle Kinder einen Krippenplatz be-kommen. Das ist familienpolitisch einfach falsch. Wirwollen Familien fördern, ihnen Angebote unterbreitenund somit eine Wahlfreiheit lassen. Wir wollen diese Fa-milien nicht zwingen, ihre Kinder in die Krippe zu ge-ben.
Ich bin froh über jede Familie, über jede Mutter und je-den Vater – das sage ich als junger Vater –, die dieseAufgabe wahrnehmen.Drittens. Sie haben anscheinend nichts von dem mit-bekommen, was die Bundesregierung in den letzten Jah-ren – übrigens auch zur Zeit der Großen Koalition – aufden Weg gebracht hat. Deshalb ist solch eine Debatteimmer sinnvoll und gut, weil man Ihnen noch einmal er-läutern kann, wie sich die Dinge geändert haben, seitdemwir mit den Liberalen zusammen die Verantwortung ha-ben.Es reicht ein Blick auf die beiden Ressorts Familieund Bildung. Sie sprechen immer von der Vereinbarkeitin diesen Bereichen. Wir sprechen vom Bildungsauftragfür die Kinder.
Schauen Sie sich den Haushaltsentwurf des zuständigenMinisteriums einmal an. Das Budget ist mittlerweile von4,5 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 6,4 MilliardenEuro gestiegen. Das ist eine Steigerung um mehr als einDrittel. Vergleichen Sie das einmal mit den Mitteln fürdas Ressort Bildung und Forschung unter Rot-Grün. Wirhaben viele Maßnahmen in die Wege geleitet, gerade imBereich der frühkindlichen Bildung, die über das BMBFfinanziert werden. Hier ist das Gesamtvolumen um54 Prozent, also auf mittlerweile 11,65 Milliarden Euro,gestiegen.
Diese Koalition hat zwei Ressorts zum Schwerpunkt ih-rer Arbeit gemacht – das gilt auch für die finanzielleAusgestaltung –: Familie und Bildung. Das beweistdeutlich, wo unsere Schwerpunkte liegen.Richtig ist – darüber muss man nicht streiten –, dassinsbesondere die Flächenländer aufgefordert sind, beimAusbau noch zuzulegen. Wir von der Koalition habenEnde des vergangenen Jahres in unserem Antrag deut-lich gemacht, dass hier noch Luft nach oben ist.Insgesamt kann man sagen, dass es seit Inkrafttretendes Kinderförderungsgesetzes im Dezember 2008 unterder Großen Koalition mittlerweile rund 130 000 zusätz-liche Angebote in der Kindertagesbetreuung gibt, davon102 000 Angebote in Einrichtungen und 28 000 in derTagespflege. Vor dem KiFöG wurde jedes siebte Kindbetreut. Heute ist es jedes fünfte Kind. Das heißt, bun-desweit ist die durchschnittliche Betreuungsquote von13,6 auf 20,4 Prozent gestiegen. Das ist viel, und das istgut. Das ist aber noch nicht genug.
Laut Nationalem Bildungsbericht 2010 hat sich dieZahl des Personals in Kindertagesstätten im Jahre 2009um 42 000 Beschäftigte erhöht. Richtig ist auch: Wirbrauchen bis zum Jahr 2013 35 000 bis 40 000 weitereErzieher und dazu noch 25 000 Beschäftigte in der Ta-gespflege.Sie sagten, dass der Bund bei diesem Projekt nichtstut. Wir investieren gerade 4 Milliarden Euro in denAusbau; das zeigt, der Bund hat hier Verantwortungübernommen. Außerdem geben wir 770 Millionen Euroab 2014 für die Betriebskosten aus.
Der Ministerin zu unterstellen, sie würde kein Interessemehr an diesem Projekt haben, ist fatal.
Es ist auch ein falsches Zeichen für die Öffentlichkeit,wenn Sie mit solchen nicht unterlegten Argumenten rhe-torisch zu glänzen versuchen.
Zur frühkindlichen Bildung – auch das ist ein interes-santer Punkt –: Der Bildungsbericht, den man immer zu-rate ziehen sollte, belegt, wie stark die Bildungsbeteili-gung der unter Dreijährigen – dies ist im Bildungsberichtexplizit erwähnt worden – gestiegen ist: in den altenLändern auf 15 Prozent und in den neuen Ländern sogarauf 45 Prozent. Es gibt sogar eine Bildungsbeteiligungbei Vier- und Fünfjährigen. Ich glaube, wir sind uns ei-nig, dass man angesichts dessen sagen kann: Betreuungund Bildung in Kitas sind richtig und wichtig. Hier lie-gen wir mittlerweile bei einer Quote von 95 Prozent. Dasist im Bereich der frühkindlichen vorschulischen Bil-dung ein guter Wert.Es stellt sich die Frage: Was tut die Bundesregierungnoch? Zum Ausbau, also zur Quantitätssicherung,kommt in den nächsten Jahren die Qualitätssicherung,die ebenfalls von großer Bedeutung ist, hinzu. Ich erin-nere daran, dass wir im Jahre 2008 das Aktionspro-gramm „Kindertagespflege“ gemeinsam mit den Län-dern auf den Weg gebracht haben. Zwischen 2006 und2009 stieg der Anteil der Tagespflegepersonen mit ent-sprechender Qualifikation von 8 auf rund 22 Prozent.Zeitgleich hat sich der Anteil der Menschen, die ohneQualifizierung in der Tagespflege arbeiten, auf rund14 Prozent halbiert. Das ist das Verdienst dieses Pro-gramms.Außerdem gibt es die „Offensive Frühe Chancen“.Falls Sie es noch nie gemacht haben, rate ich Ihnen: Be-suchen Sie einmal Kitas in Ihrem Wahlkreis!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12399
Marcus Weinberg
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400 Millionen Euro werden für die Sprachförderung inKitas ausgegeben. Es stehen also jeweils 25 000 Eurofür eine zusätzliche Halbtagsstelle zur Verfügung.Darüber hinaus gibt es das Programm „Mehr Männerin die Kitas“. Erst vor wenigen Wochen haben wir da-rüber diskutiert, dass wir gerade Jungen fördern müssen,weil sie im Hinblick auf die Bildungsentwicklung hinterden Mädchen zurückliegen, bei der Lesekompetenz zumBeispiel etwa ein Jahr. Sie haben damals argumentiert,dass wir jetzt die Männer und nicht mehr die Frauen för-dern würden, was – Verzeihung – völliger Unsinn ist. Je-der, der sich fachlich auskennt und die entsprechendenEntwicklungen bewerten kann, wird Ihnen bestätigen:Wir brauchen mehr Männer in Kitas und Grundschulen.
Die Bundesregierung hat dieses Programm, das ein Vo-lumen von 13 Millionen Euro hat, auf den Weg gebracht.Auch das war sicherlich richtig und wichtig.
Die Koalition hat bereits im Dezember letzten Jahreserste Maßnahmen eingeleitet. Hätten Sie unseren dama-ligen Antrag gelesen, wüssten Sie, wohin wir wollen.Wir wollen insbesondere eine Qualitätssteigerung erzie-len. Das Ziel, das wir uns für das Jahr 2013 gesetzt ha-ben, verfolgen wir nach wie vor. In den nächsten Jahrenkommt es darauf an, die Qualität in diesem Bereich zusteigern. Das heißt, Gewinnung von männlichen Erzie-hern – das habe ich schon angesprochen –, freiwilligeZertifizierung von Kitas unter wissenschaftlicher Beglei-tung, weitere Qualifizierung, Verbesserung der Aus- undFortbildung. Ich denke beispielsweise an das WiFF; indiesem Rahmen findet unter anderem die Weiterbildungpädagogischer Kräfte statt. Es gibt weitere Programme,die die Bundesregierung ebenfalls finanziert, um eineQualifizierung durchzuführen. Bei allem Respekt: DassSie sich hier hinstellen und all das ignorieren, mag IhrerOppositionsrolle geschuldet sein. Das hat aber nichts mitobjektiver Wahrnehmung zu tun. Ein wenig Respekt vorden Maßnahmen, die diese Bundesregierung ergriffenhat, sollten Sie schon haben.
Ihr Antrag, in dem Sie fordern, einen Krippengipfeleinzuberufen, ist relativ begrenzt und überschaubar. Dasist einfach zu wenig. Wir werden die Entwicklungenweiterhin beobachten; das gilt auch im Hinblick auf denAusbau.
Ich glaube, die Bundesregierung hat den richtigen Wegeingeschlagen. Dabei werden wir sie auch weiterhin un-terstützen.Herzlichen Dank.
Kollege Weinberg, vielen herzlichen Dank. – Als
Nächste spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
gin Frau Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist richtig: Seit einigen Jahrenist die frühkindliche Bildung endlich ein zentralesThema auf der politischen Agenda. Ziel ist es, einenRechtsanspruch auf einen Kitabetreuungsplatz für jedesKind ab dem ersten Lebensjahr zu schaffen. Die Opposi-tion ist sich darin einig, dass bislang viel zu wenig getanwurde, um dieses Ziel zu erreichen. Inzwischen helfenauch die Lobreden von Herrn Weinberg und der Fami-lienministerin nicht mehr, um über den traurigen Fakthinwegzutäuschen, dass das Erreichen dieses erklärtenZiels zu scheitern droht. Seit Jahren weisen Fachver-bände, Wissenschaftler und Gewerkschaften darauf hin,dass dieses Scheitern quasi von vornherein angelegt war,weil man ganz bestimmte grundlegende Fragen nicht be-achtet, sondern konsequent ausgeblendet hat.Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach dem tat-sächlichen Bedarf. Das haben Sie eben kritisiert, HerrWeinberg. Das Deutsche Jugendinstitut hat bereits imJahr 2007 darauf hingewiesen, dass der tatsächliche Be-darf an Krippenplätzen wahrscheinlich höher ist als vonder damaligen schwarz-roten Bundesregierung ange-nommen. Jüngere Daten bestätigen dies. Laut einerForsa-Umfrage wünschen sich inzwischen zwei Drittelder Eltern eine frühzeitige Betreuung für ihren Nach-wuchs. Demzufolge werden laut Deutschem Städtetagnicht nur 750 000, sondern 1,3 Millionen Kitaplätze be-nötigt. Gibt es darauf eine Reaktion der Bundesregie-rung? Nein, Fehlanzeige.Die Linke fordert seit langem, dass der Bund sichendlich dauerhaft und in größerem Umfang als bisher ander Finanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligenmuss.
Er darf Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nichtallein lassen. Dies gilt sowohl für die zahlenmäßige Auf-stockung der Betreuungsplätze als auch für die Qualifi-zierung und Bezahlung des zukünftigen Personals.
Doch was bisher als Antwort von der Bundesregie-rung kam, war zum einen Zahlenschummelei – das ma-
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12400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Diana Golze
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chen Sie ja immer gerne – und zum anderen die Wieder-holung der fast unverschämten Forderung, die Ländersollten sich endlich ein bisschen mehr Mühe geben unddie Portemonnaies aufmachen; dann werde das allesschon klappen. Sie übernehmen keine langfristig ange-legte Verantwortung, um das offenkundige Problem end-lich zu überwinden.Die Umsetzung des Rechtsanspruchs wird mantraar-tig herbeigeredet, aber in der Praxis geschieht nichts.Das zeigen auch die „Projektchen“, die Herr Weinbergeben angesprochen hat, wie das Projekt „OffensiveFrühe Chancen“. 400 Millionen Euro zusätzlich fürSprachförderung: Das klingt erst einmal gut. Ich habemir das aber in der Praxis konkret angeschaut. Ich habeKitas besucht und gesehen, was wirklich vor Ort an-kommt. Das ist nicht einmal ein Tropfen, sondern nurein Tröpfchen auf den heißen Stein. Von dem Geld kön-nen höchstens Halbtagsstellen geschaffen werden. Dasheißt, die Kommunen müssen schon jetzt massiv drauf-legen, wenn sie das Programm in Anspruch nehmen undqualitativ hochwertige Arbeit leisten wollen. Im Rahmeneiner wöchentlichen Arbeitszeit von 20 bis 25 Stundensollen die Beschäftigten individuelle Sprachförderungdurchführen, dokumentieren, Elternarbeit leisten, sichvernetzen und weiterbilden. Können Sie mir einmal er-klären, wie sie das mit 25 Stunden bewerkstelligen undwie sie von dieser Arbeit leben sollen? Darauf bekommtman von der Bundesregierung keine Antwort. Sie müs-sen sich darüber bewusst sein: Wenn Sie so etwas ma-chen, dann muss es so angelegt sein, dass es mehr bringtals eine schöne Pressekonferenz.
Zurück zum Antrag. Auch wir sehen die Notwendig-keit, alle Beteiligten erneut an einen Tisch zu holen. Einneuer Krippengipfel wird aber nur dann Erfolg haben,wenn von vornherein klar und deutlich herausgestelltwird: Der Bund kann und darf sich nicht länger aus sei-ner Verantwortung stehlen. Er muss seinen finanziellenAnteil am Ausbau der Kindertagesbetreuung ausweitenund am realen Bedarf ausrichten. Die Qualität der Be-treuung und Bildung muss eine viel größere Rolle spie-len. Eine realistische und aktualisierte Bedarfsanalyse isteine notwendige Voraussetzung dafür. Ich frage mich,warum Sie diese nicht endlich erfüllen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Jetzt käme für
die Fraktion der FDP Frau Kollegin Miriam Gruß. Sie
hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass unsere Kol-
legin Katja Dörner die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ist. Bitte schön, Frau Kollegin,
Sie haben das Wort.
1) Anlage 9
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte bis zu diesem Zeitpunkt hatschon völlig klargemacht, dass wir weiterhin vor sehrgroßen Herausforderungen stehen, was den Kitaausbauangeht. In rund zwei Jahren soll der Rechtsanspruch inKraft treten. Das steht so im Gesetz, und daran darf aufkeinen Fall gerüttelt werden. Ich glaube, darin sind wiruns auch einig. Aber trotzdem müssen wir es immer wie-der betonen, weil der Rechtsanspruch zurzeit von der ei-nen oder anderen Seite durchaus infrage gestellt wird.Wenn wir allein davon ausgehen, was die Bundesre-gierung an Schätzungen vorgelegt hat und worauf auchihre Finanzierungsvereinbarungen basieren – es wirdvon einem Betreuungsbedarf von 35 Prozent der unterDreijährigen ausgegangen –, dann müssen wir in diesenknapp zwei Jahren rund 280 000 zusätzliche Kitaplätzeschaffen. Die Ministerin selbst hat im vergangenenHerbst gesagt: Der Ausbau der Kinderbetreuung mussweiter an Dynamik gewinnen. – Leider können wir dieseDynamik in den letzten Wochen und Monaten nicht indem Maße feststellen, wie es notwendig wäre.
Wenn wir die Sache realistisch angehen – das sollteman tun – und den Bedarf genauso realistisch einschät-zen wie das DJI – die Zahlen sind schon genanntworden –, dann ist es völlig offenkundig, dass wir mit ei-ner Betreuungsquote von 35 Prozent vorne und hintennicht zurechtkommen werden. Tatsächlich müssen wirvon durchschnittlich 39 Prozent ausgehen. Das ent-spricht rund 360 000 zusätzlichen Plätzen, die wir in denverbleibenden zwei Jahren noch schaffen müssten. Daklafft eine riesige Finanzierungslücke. Vor allem dieKommunen werden einfach im Regen stehen gelassen.
Die Grünen haben schon im letzten Jahr einen ent-sprechenden Antrag gestellt und die Bundesregierungaufgefordert, endlich eine solide Bedarfserhebung vor-zunehmen und auf der Grundlage einer solchen Erhe-bung eine vernünftige Finanzierungsvereinbarung vor-zulegen. Für eine solche Finanzierungsvereinbarungmuss man tatsächlich alle wieder an einen Tisch holen:Bund, Länder und Kommunen. Wir haben das in unse-rem damaligen Antrag zwar nicht Krippengipfel wie dieSPD genannt. Aber unser Anliegen war das gleiche. Un-ser Antrag ist im Dezember abgelehnt worden. WertvolleZeit ist vertan worden, die wir hätten gut nutzen können,um endlich vernünftig zu planen.
Beim Kitaausbau haben sich nur wenige mit Ruhmbekleckert. Die Bundesregierung betreibt immer weitereine Vogel-Strauß-Politik, steckt den Kopf in den Sand.Sie geht weiter von einem Bedarf von 35 Prozent aus,obwohl bekannt ist, dass das nicht realistisch ist. Wennmehr Plätze benötigt werden, haben die Betroffeneneben Pech. Es gibt kein zusätzliches Geld. Das darf aufkeinen Fall so weitergehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12401
Katja Dörner
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– Ich komme zu NRW, Herr Kues. Das ist ein wunderba-res Stichwort.Die Ministerin hat zu dem Anteil, den die Länderdurch die Umverteilung der Umsatzsteuerpunkte erhal-ten, gesagt: Das ist eine Blackbox. – Die schwarz-gelbeLandesregierung in Nordrhein-Westfalen hat, bevor siezum Glück abgewählt wurde, 70 Millionen Euro, die siedurch die Umsatzsteuerpunkteverteilung erhalten hatund die für die Finanzierung des Kitapersonals gedachtwaren, einfach im Landeshaushalt versickern lassen; dasGeld ist weg. Es wurde den Kitas und den Kommunenentzogen. Das hat Schwarz-Gelb zu verantworten, unddas hat Rot-Grün zum Glück beendet.
Aber andere Länder verfahren weiter so. Das muss einEnde haben.Man muss aber auch die Kommunen daran erinnern,dass seit 1992 im KJHG verankert ist, dass Kitaplätzenach Bedarf geschaffen werden sollen. Das hat man abernicht gemacht. Auch die Kommunen hatten offensicht-lich in den letzten 20 Jahren zum Teil andere Prioritäten,als in den Kitaausbau zu investieren.Natürlich müssen wir auch über Qualität sprechen.Dieses Thema ist schon mehrfach angesprochen worden.Wir wollen unbedingt die Fachkraft-Kind-Relation ver-bessern. Wir wollen mehr Sprachförderung und wollenmehr Kindern mit Behinderung – Inklusion ist ein gro-ßes Thema – die Möglichkeit geben, Regeleinrichtungenzu besuchen. Das alles müssen die Kitas leisten. Mit denderzeitigen Regelungen insbesondere auf Bundesebenewerden wir nicht klarkommen.Wir Grüne veranstalten am Samstag in einer Wocheeinen eigenen Kitagipfel, auf dem wir nicht nur den qua-litativen Ausbau, sondern auch den quantitativen Aus-bau in umfassender Weise besprechen werden. Wir ha-ben gelernt: Auf diese Bundesregierung kann man nichtbauen. Man darf nicht darauf warten, dass sie etwas tut.Deshalb machen wir es selber. Sie alle sind herzlich ein-geladen. Ich hoffe sehr, dass wir zu besseren Regelungenfür die Kitas kommen und es tatsächlich schaffen, denquantitativen Ausbau bis 2013 hinzubekommen, aberauch deutlich mehr für die Qualität zu tun. Das sind wirden Eltern und insbesondere den Kindern schuldig.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dörner. – Der Kollege
Norbert Geis, der als Nächster für die Fraktion der CDU/
CSU spricht, wird gleich sagen, ob er diese Einladung
annimmt.
Bitte schön, Herr Kollege Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe mich noch nicht entschieden, weil ich
von dieser Einladung erst jetzt Kenntnis bekommen
habe. Ich muss erst in meinem Terminkalender nach-
schauen.
Ich möchte eines sagen: Hier wird wirklich schwarz-
weiß gemalt. Das kann man so nicht stehen lassen. Sie
wissen doch genauso gut wie ich und wie wir alle, dass
der Bund bis zum Jahr 2013 4 Milliarden Euro für den
Ausbau und Neubau der Kindertagesstätten bereitstellt
und dass die Länder verpflichtet sind, gleichermaßen
4 Milliarden Euro bereitzustellen. Auch die Kommunen
sind nach diesem Gesetz verpflichtet, 4 Milliarden Euro
zur Verfügung zu stellen. Das sind insgesamt
12 Milliarden Euro. Vor dem Hintergrund kann man
doch nicht behaupten, dass sich der Bund, der in Vorlage
getreten ist, da zurückgehalten hätte.
Der Bund hat sehr wohl seine Aufgabe gesehen, obwohl
das eigentlich Aufgabe der Länder und der Kommunen
ist.
Der Bund ist aber bereit, daran mitzuwirken, weil er die
Notwendigkeit und die Bedeutung sieht.
Man darf auch nicht vergessen, dass der Bund eben-
falls bereit ist, sich an den Folgekosten zu beteiligen. Er
tut dies immerhin mit 770 Millionen Euro pro Jahr. Auch
das darf nicht übersehen werden. Sich hier hinzustellen
und zu sagen, der Bund habe eine Vogel-Strauß-Politik
gemacht, ist wirklich völlig verkehrt. Das kann man so
nicht stehen lassen. Auch Sie wissen, dass das falsch ist.
Solche Dinge darf man nicht einfach behaupten. Immer-
hin ist das hier ein Forum – auch wenn nur wenige Men-
schen anwesend sind –, auf das von draußen genau ge-
schaut und über das dann berichtet wird. Man sollte
schon bei der Wahrheit bleiben.
Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage
unserer Kollegin Caren Marks?
Bitte.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Geis, ich bin Ih-nen sehr dankbar, dass Sie noch einmal geschildert ha-ben, was wir in der Großen Koalition gemeinsam er-reicht haben: 4 Milliarden Euro seitens des Bundes, diefür den Ausbau der Krippenplätze bereitgestellt werden.
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12402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Caren Marks
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Sie waren während der Großen Koalition leider nochnicht in unserem Ausschuss, deshalb möchte ich Ihnenmitteilen: Insbesondere den Einstieg in die Finanzierungder Betriebskosten hat die SPD nach hartem Ringen mitder CDU/CSU, dem damaligen Koalitionspartner,durchgesetzt. Es ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt,sich darauf einfach nur auszuruhen.Meine Frage an Sie ist: Wäre es angesichts der Tatsa-che – das haben auch andere Kollegen vorhin nach mei-ner Rede noch einmal betont; es gibt auch entsprechendeZahlen vom DJI und einigen anderen Expertinnen undExperten –, dass der damals angenommene notwendigeAusbau der Betreuung auf 35 Prozent längst nicht mehrausreicht, sondern dass der Bedarf schon weitaus höherist, nicht angebracht, dass der Bund noch etwas obendraufsattelt, wie es auch die Länder und Kommunen ma-chen müssten, um den Rechtsanspruch überhaupt umset-zen zu können? Ich verweise in diesem Zusammenhangdarauf, dass sich die Kosten für die Länder und Kommu-nen insgesamt sehr viel stärker nach oben entwickelt ha-ben, als mit den verabredeten 4 Milliarden Euro abzude-cken ist.
4 Milliarden Euro sind ja nicht wenig, das ist schon
ein beachtlicher Betrag. Wenn man überlegt, dass auch
die Länder 4 Milliarden Euro drauflegen müssen und
4 Milliarden Euro von den Kommunen kommen, dann
meine ich, dass mit 12 Milliarden Euro insgesamt eine
Summe erreicht ist, um Investitionen in den Ausbau und
Neubau von Kindertagesstätten zu tätigen, die zunächst
einmal ausreichen müssten. Man muss die Entwicklung
abwarten.
Ich glaube, Sie gehen auch von einer falschen An-
nahme aus. Es ist nicht so, dass die Eltern ihre Kinder im
Alter von einem bis drei Jahren gleich in die Kita schicken
wollen. Viele Eltern wollen das nämlich nicht. Sie bedau-
ern in Ihrem Antrag, dass die Betreuung in der Bundesre-
publik Deutschland nur zu 23 Prozent gewährleistet sei.
Sie erwecken den Eindruck, als sei die Betreuung, die
durch die Eltern erfolgt, keine Betreuung. Auch Tages-
mütter betreuen. Meine sehr verehrte Frau Kollegin, all
dies sollten Sie bedenken.
Ihre Frage war, ob wir mit einer Quote von 35 Prozent
zurechtkommen werden. Ich antworte Ihnen darauf:
Warten wir doch erst einmal ab. Tätigen wir erst einmal
die Investitionen. Auch die Länder und Kommunen soll-
ten erst einmal ihren Pflichten nachkommen und inves-
tieren. Der Bund ist in Vorleistung getreten. Die Länder
und Kommunen müssen nachziehen. Das gilt insbeson-
dere für das Land Nordrhein-Westfalen. Dort ist nämlich
fast nichts geschehen.
Herr Kollege Geis, lassen Sie eine weitere Zwischen-
frage, nämlich des Kollegen Schwartze, zu?
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Geis, Sie spra-
chen gerade das Land Nordrhein-Westfalen an. Ich kann
bestätigen, mit dem U-3-Ausbau hängt man da wirklich
weit zurück. Ist Ihnen aber bekannt, dass die alte
schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen
bis 2013 nur ganze 30 Millionen Euro für den U-3-Aus-
bau eingeplant hatte und dass deshalb Rot-Grün die Fi-
nanzierung komplett umstellen musste, damit der U-3-
Ausbau vor Ort überhaupt stattfinden kann?
Der Bund gibt für Nordrhein-Westfalen 480 Millionen
Euro aus. Das Land hatte bis 2013 30 Millionen Euro
eingeplant. Wie bewerten Sie das?
Der Bund ist in Vorleistung getreten, und das Landkonnte sich zurückhalten. Aber jetzt, da der Bund seineVorleistung bis zum Jahr 2013 erbringt, müssen die Län-der dann auch anfangen, ihre Leistung zu erbringen.Deswegen kann man der alten Regierung in Nordrhein-Westfalen den Vorwurf so vielleicht nicht machen. Siehatte ja den Vorteil, dass der Bund bereits Bereitschafterklärt hatte, Leistungen zu erbringen.
Sie hat sich natürlich auf der Leistung des Bundes ausge-ruht. Das gilt aber auch für andere Länder. Aber jetzt istes an der Zeit, dass die Länder antreten und ihre Leis-tung erbringen, die der Bund längst erbracht hat.
Das ist das, was Sie dabei mit bedenken sollten. – Dankeschön.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es bestehtbei uns allen überhaupt kein Zweifel daran, dass diefrühkindliche Erziehung ein ganz bedeutender Faktor ist.Klugheit und Dummheit sind den Menschen nicht in dieWiege gelegt. Sarrazin mag ja in vielem recht haben,aber er hat nicht darin recht, dass die Intelligenz denMenschen angeboren ist. Wichtig und richtig ist, dassdie Menschen unterschiedliche Begabungen haben unddass diese Begabungen geweckt werden müssen. Des-halb brauchen wir auch – das ist richtig – die frühkindli-che Erziehung, und deswegen haben die Koalitionsfrak-tionen längst vor Ihnen den Antrag eingebracht, dass dieBundesregierung darauf bedacht sein muss, die Bin-dungs- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder im Altervon einem Jahr bis drei Jahren voranzubringen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12403
Norbert Geis
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Es wurde angeregt, ein Strategiepaket zur frühkindli-chen Bildung zu schnüren, an dem sich sowohl der Bundals auch die Kommunen und die Länder beteiligen.
Das ist von uns bereits angeregt worden. Der Antrag istlängst verabschiedet worden, bevor Sie überhaupt darangedacht haben, Ihren Antrag einzureichen. Auch das darfman mal in Ruhe sagen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sinduns also alle einig, dass es richtig ist, die frühkindlicheBildung voranzutreiben, aber wir sind uns in dem Wegdahin nicht einig. Das wird in der heutigen Diskussionwieder klar und deutlich. Wir, die Koalitionsfraktionen,setzen nämlich auch auf die Erziehungsleistung der El-tern, nicht nur auf die der Kita.
Trotzdem wollen wir die Kita nicht hintanstellen. Aberwenn Sie sagen – dazu habe ich vorhin schon was gesagt –,dass nur 23 Prozent der Kinder in Deutschland betreutwürden,
dann sage ich: Nein, in Deutschland werden viel mehrKinder betreut, nämlich auch durch Tagesmütter undinsbesondere durch die Eltern. Das müssen wir realisti-scherweise sehen.
Wir müssen ein Weiteres beachten. Wir müssen se-hen, dass die Eltern oft viel besser in der Lage sind, dieKinder zu betreuen und sie zu erziehen, weil sie viel nä-her an den Kindern sind, was auch eine hochqualifizierteErzieherin nicht leisten kann, wozu sie außerstande ist.Die frühkindliche Erziehung ist nämlich zunächst ein-mal eine Frage der subtilen Beobachtung, damit das ein-zelne Kind dann rechtzeitig den richtigen Schritt in seinerEntwicklung machen kann. Diese subtile Beobachtungwird am ehesten von der Mutter und dem Vater geleistet.Das ist etwas, meine sehr verehrten Damen und Herrenvon der SPD, von der Linken und von den Grünen, wasSie völlig übersehen. Wir sind für die Kita insbesonderedort, wo die Erziehungsleistung nicht vom Elternhaus er-bracht wird. Wir sind insbesondere für die Kita für Kindermit Migrationshintergrund,
weil wir wissen, dass die Kinder in ihren Elternhäusern,mit ihren Eltern nicht deutsch reden. Es ist sehr wichtig,dass die Kinder schon im frühesten Alter lernen, sich aufDeutsch zu verständigen, weil sie sonst mit den anderen,denen eine andere Erziehung zuteilwird, nicht mithaltenkönnen.
Wir erkennen also, wir sind auf der richtigen Spur, wennwir sagen: Die Kita ist wichtig. Auf der anderen Seite istaber auch die Förderung der Eltern bei ihrer eigenen Er-ziehungsleistung wichtig. Wir dürfen nicht übersehen,dass dort eine große Leistung erbracht wird. Deswegenmüssen wir beides würdigen, Kita und Elternhaus, undwir müssen beides auch fördern.
Das tun wir vielleicht noch ein bisschen zu wenig. Wirsollten auch die Eltern fördern, die daheim bleiben unddaheim ihre Kinder erziehen; denn diese Erziehungsleis-tung ist nicht geringer als die in der Kita.
Wir sollten den Eltern die Wahlmöglichkeit lassen.Wir sollten den Eltern sagen dürfen: Ihr könnt wählen,ob euer Kind in die Kita geht oder ob ihr es daheim er-zieht. Ich betone: Diese Wahlmöglichkeit müssen wirden Eltern lassen. Das Erziehungsrecht der Eltern ist einMenschenrecht; das dürfen wir nicht übersehen.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Sie waren der
letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5518 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dem widerspricht
niemand. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetzes
– Drucksache 17/5761 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Als erste Rednerin spricht für die Fraktion der CDU/
CSU unsere Kollegin Gitta Connemann. Bitte schön,
Frau Kollegin Connemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die ei-nen erkennt man an ihren Taten, die anderen an ihremGetue.“ An diese Feststellung eines Georg-Büchner-Preisträgers habe ich im Vorfeld dieser Debatte gedacht,
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12404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Gitta Connemann
(C)
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als ich den einen oder anderen Beitrag zu dem vorliegen-den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Presselas. Taten haben wir als christlich-liberale Koalitionvollbracht, und zwar vor zwei Monaten, im März, als wirdie Voraussetzung für eine Lohnuntergrenze in der Zeit-arbeit geschaffen haben. Sobald die Tarifpartner einenAntrag stellen, wird die Bundesregierung eine Lohnun-tergrenze festlegen. Damit haben Zeitarbeitnehmerinnenund Zeitarbeitnehmer dank unseres Gesetzes endlich ei-nen gesetzlichen Anspruch darauf, dass der tariflicheMindestlohn nicht unterschritten wird. Dies gilt übrigensfür verleihfreie Zeiten wie für Verleihzeiten, für inländi-sche wie für ausländische Betriebe. Damit haben wir unsfür die Herausforderung der Arbeitnehmerfreizügigkeitseit dem 1. Mai ebenso wie für das Problem billigerKonkurrenz aus dem Ausland gewappnet.
Das beste Gesetz bedarf allerdings der Kontrolle; daswissen wir. Deshalb hat die Bundesregierung jetzt einenGesetzentwurf vorgelegt. Der Zoll erhält damit auch fürden Bereich der Arbeitnehmerüberlassung erweitertePrüfungs-, Kontroll- und Sanktionsinstrumente. DerBußgeldrahmen wird erhöht werden, und die Befugnisseder Zollbehörden einerseits und der Bundesagentur fürArbeit andererseits werden sehr sorgfältig abgegrenzt.Darauf wird der Kollege Lehrieder noch eingehen.„Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderenan ihrem Getue.“ Die Opposition – die SPD vorneweg –hat im Vorfeld der Einbringung dieses Gesetzentwurfseinmal mehr eine Generaldebatte um die Zeitarbeit ange-stoßen. Ihr Abscheu und Ihre Empörung ist aber offen-sichtlich nur Getue, meine Damen und Herren von derSPD. Vor einigen Tagen haben sämtliche Mitglieder desAusschusses für Arbeit und Soziales einen offenen Brieferhalten. Absender dieses Briefes, Frau Kollegin Hiller-Ohm, war der Konzernbetriebsrat der MediengruppeMadsack. Dieser Betriebsrat beklagt, dass die Madsack-Gruppe immer mehr Zeitarbeitnehmer beschäftige, vonden Redaktionen bis zur Zustellung – nicht nur in Spit-zenzeiten, sondern dauerhaft, ohne Chance auf Über-nahme, mit negativen Folgen für die Stammbelegschaft.Ich habe mich natürlich informiert, wer hinter Mad-sack steht; das sollten wir tun. Auf wen bin ich gesto-ßen? Auf die DDVG, Ihr Medienimperium, meine Da-men und Herren von der SPD.
– Da brauchen Sie nicht zu lachen. Das ist Ihr Unterneh-men. – Sie halten den größten Anteil an Madsack, unddamit haben Sie erheblichen Einfluss auf die Geschäfts-politik. Meine Damen und Herren von der SPD, ohne Siepassiert bei Madsack nichts. Deswegen empfehle ich Ih-nen dringend: Reden Sie nicht, sondern handeln Sie.
„Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderenan ihrem Getue.“ Wir diskreditieren die Zeitarbeit nicht;denn wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeit-arbeit kann für Geringqualifizierte ein Weg aus der Ar-beitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei Drittel derMenschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma anfangen, vor-her nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat keinen Be-rufsabschluss. Als Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeit-nehmer sind sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt.Sie haben volle Arbeitnehmerrechte: beispielsweiseKündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,während des Urlaubs und an Feiertagen, Mutterschutzund auch Elternzeit.Auf der anderen Seite wird durch die Zeitarbeit dieFlexibilität der Unternehmen erhöht. Sie ermöglicht Be-weglichkeit bei Auftragsspitzen oder besonderen Projek-ten – es sei denn, man ist verantwortlich für Madsack.Diese Flexibilität wollen wir erhalten, aber wir wollenauch die Fairness in der Zeitarbeit sichern. Das habenwir unter Beweis gestellt, indem wir den Schritt gegan-gen sind, die Möglichkeit einer Lohnuntergrenze einzu-führen, und dies gesetzlich verankert haben.Wir müssen aber noch weiter gehen, sofern es zu ei-nem Missbrauch des Instruments kommen sollte. Einsolcher zeichnet sich gegebenenfalls infolge eines Ur-teils des Bundesarbeitsgerichts ab.Sie wissen, dass wir in der christlich-liberalen Koali-tion und in der Großen Koalition inzwischen in insge-samt neun Branchen allgemein verbindliche Branchen-mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetzeingeführt haben.
Bislang galten diese Mindestlöhne für alle Mitarbeiter,die in der jeweiligen Branche tätig waren, zum Beispielauch für Zeitarbeitnehmer. Wenn also ein Zeitarbeitneh-mer im Gebäudereinigerhandwerk eingesetzt wird, er-hält er den Mindestlohn für Gebäudereiniger – egal woer tätig wird. Das ist ein gutes Prinzip.
Diesen Grundsatz hat das Bundesarbeitsgericht jetztallerdings infrage gestellt.
Danach sollen Zeitarbeitnehmer nur noch dann den Bran-chenmindestlohn erhalten, wenn der Entleihbetrieb in denGeltungsbereich der Branche fällt. Leider wird diese Lü-cke, die sich aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts er-gibt, genutzt. Es gibt inzwischen neue Geschäftsmodellemit nur einem Ziel: Mindestlohnhopping. Gebäudereini-gungsunternehmen firmieren jetzt beispielsweise alsZeitarbeitsunternehmen. Das ist aber Scheinzeitarbeitstatt Zeitarbeit. Das Instrument wird also missbraucht.Deswegen schließen wir uns als Union der Forderungdes Unternehmerverbands Deutsches Handwerk undauch des Deutschen Gewerkschaftsbundes an, die vorge-schlagen haben, eine Änderung in § 8 Abs. 3 Arbeitneh-mer-Entsendegesetz vorzunehmen.
Dort soll künftig geregelt werden, dass für die Entloh-nung durch den Verleiher allein entscheidend sein soll,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12405
Gitta Connemann
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welche konkrete Tätigkeit der Leiharbeitnehmer ausübt.Wir unterstützen dieses Anliegen; denn wir wollen Miss-brauch verhindern. Das ist unser Petitum. Wir werdenauch weiterhin versuchen, den Zeitarbeitnehmern selbstein Stück mehr wörtlicher Gerechtigkeit zukommen zulassen.Im Gesetz wird zurzeit nach wie vor der diskriminie-rende Begriff „Leiharbeit“ verwendet. Diese Begrifflich-keit ist bereits rechtlich nicht haltbar; denn bei der Leihehandelt es sich um die unentgeltliche Überlassung vonSachen. Hier geht es nicht um Sachen, sondern um Men-schen, Menschen, die hart arbeiten und denen wir Ge-rechtigkeit zukommen lassen wollen. Deshalb werdenwir insoweit gegebenenfalls einen Änderungsantrag vor-legen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Gitta Connemann. – Jetzt
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau
Kollegin Hiller-Ohm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist er-freulich, dass die Bundesregierung heute einen Gesetz-entwurf zur Kontrolle eines Mindestlohnes in der Leih-arbeit vorgelegt hat.
Notwendig wäre allerdings erst einmal, dass es über-haupt einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, dessen Ein-haltung dann auch kontrolliert werden kann. Leider istdies noch immer nicht der Fall.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatbis heute noch keine entsprechende Rechtsverordnungvorgelegt. Das ist mehr als ärgerlich; denn die gesetzli-chen Grundlagen für einen Mindestlohn in der Leihar-beit sind bereits geschaffen. Im Vermittlungsausschusszur Reform der Regelsätze haben wir den Weg hierfürgegen den massiven Widerstand der Regierungsfraktio-nen CDU/CSU und FDP frei gemacht. Nun müssen sichdie Tarifparteien einigen, und hier hakt es zurzeit. Eswäre fatal, wenn der Mindestlohn in der Leiharbeits-branche jetzt noch an der Arbeitgeberseite scheiternwürde.
Leider habe ich von Appellen der zuständigen Ar-beitsministerin zu einer raschen Einigung der Tarifpar-teien in den Medien bisher nichts vernehmen können.Ganz im Gegenteil, noch am 18. April verkündeteMinisterin von der Leyen stolz im ZDF-Morgenmagazin– ich zitiere –: „Neu haben wir jetzt eingeführt einenMindestlohn in der Zeitarbeit. Denn das ist auch eineBranche, wo ich mir Sorgen gemacht habe, und deshalbwar es so wichtig, jetzt auch zum 1. Mai den Mindest-lohn in der Zeitarbeit einzuführen, damit wir keine Dum-pinglöhne haben, die über das Ausland hier nachDeutschland importiert werden.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe FrauConnemann, das sind tolle Worte. Wenn man der Minis-terin Glauben schenkt, muss man annehmen, dass es be-reits seit dem 1. Mai einen Mindestlohn gibt. Den habenwir aber noch nicht. Deshalb ist die Äußerung der Minis-terin im Morgenmagazin eine glatte Fehlinformation.Frau Ministerin – oh, sie ist ja gar nicht da bei so einerwichtigen Debatte –, ich frage Sie: Wo bleibt der ver-sprochene Mindestlohn? Wir brauchen endlich eine Ab-sicherung für die rund 800 000 Beschäftigten in derLeiharbeit. Wir wollen Taten sehen.
Nun haben wir zwar noch immer keinen allgemein-verbindlichen Mindestlohn in der Leiharbeit, aber im-merhin bringen wir das notwendige Gesetz zu dessenKontrolle heute schon mal auf den Weg. Mit dem Ge-setzentwurf wird die Vereinbarung in der Protokollerklä-rung des Vermittlungsausschusses zu den Regelsätzenweitgehend umgesetzt. Die Kontroll-, Melde- und Sank-tionsbestimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegeset-zes sollen in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz über-tragen werden. Die Zuständigkeiten der einzelnenBehörden wie Zoll, Bundesagentur für Arbeit, Renten-versicherung und Finanzämter werden klarer geregeltund besser miteinander vernetzt. Das begrüßen wir.Seit dem 1. Mai dieses Jahres können auch Leiharbei-ter aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten in Deutsch-land ohne Arbeitserlaubnis arbeiten. Dafür sieht der Ge-setzentwurf die Einführung eines Meldesystems vor.Inländische Unternehmen müssen der Zollverwaltungkünftig anzeigen, wenn sie Leiharbeiter aus dem euro-päischen Ausland beschäftigen. Auch das ist ein notwen-diger Schritt. Auch sollen Sanktionen bei Verstößen ge-regelt und an das Entsendegesetz angepasst werden.Ob der Bußgeldrahmen von bis zu 500 000 Euro beiden schwarzen Schafen in der Leiharbeitsbranche die ab-schreckende Wirkung haben wird, die wir uns wün-schen, wird die Erfahrung zeigen. Ganz wichtig ist je-doch, dass die Kontrolle vernünftig funktioniert und eshier nicht zu Reibungsverlusten, Drehtüreffekten undSchlupflöchern kommt. Hier müssen wir ganz genauaufpassen.
Natürlich müssen auch die Rechte und Informations-möglichkeiten der Leiharbeitnehmer verbessert werden.Sie müssen über ihre Rechte in ihrem Einsatzbetrieb beiuns in Deutschland genau Bescheid wissen. Wir hättenuns deshalb eine Beratungsstelle für Arbeitnehmer aus
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12406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Gabriele Hiller-Ohm
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dem europäischen Ausland gewünscht. Eine solche Be-ratungsstelle ist im Gesetzentwurf jedoch nicht vorgese-hen.Problematisch finden wir auch, dass von einem Un-terschreiten der Lohnuntergrenze betroffene Arbeitneh-mer ihren Lohn individuell gerichtlich geltend machenmüssen. Unternehmen, die den Mindestlohn nicht zahlenund vom Zoll erwischt werden, müssen zukünftig mitSanktionen rechnen. Das ist gut. Diese Regelung verhilftden Arbeitnehmern jedoch nicht zum Ausgleich ihresentgangenen Lohns. Sie müssten ihren Arbeitgeber ver-klagen. Welches Gericht jeweils zuständig ist und wiedie Vollstreckung im Ausland geregelt sein soll, lässt derGesetzentwurf ebenfalls offen.
Des Weiteren fehlt eine Regelung für Leiharbeitneh-mer, die in Tätigkeiten beschäftigt werden, für die Min-destlöhne vereinbart wurden, deren Betrieb allerdingsnicht der Mindestlohnbranche angehört.Ich nenne ein Beispiel: Ein Krankenhaus, das früherfestangestellte Maler und Lackierer beschäftigte, vergibtdiese Arbeit jetzt an ein Leiharbeitsunternehmen. DerArbeitnehmer hat nun keinen Anspruch auf den Min-destlohn für das Maler- und Lackiererhandwerk. Dieserliegt zurzeit für ungelernte Arbeitnehmer bei 9,50 Euround für Gesellen bei 11,50 Euro, also weit über dem an-gekündigten Mindestlohn für die Leiharbeitsbranche.Ich befürchte, dass dies zu einer Ausweitung derLeiharbeit, zu Wettbewerbsverzerrungen und einerSchwächung der Handwerksbetriebe in Deutschlandführen wird.
Leider sagt der Gesetzentwurf auch nichts zur Durch-setzung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Ar-beit“. Das Schlupfloch für Verleihfirmen, niedrigereLöhne an ihre Leiharbeiter zu zahlen, als sie die Stamm-belegschaften erhalten, ist weiterhin offen. Das bedauernwir sehr.Im Vermittlungsausschuss hat sich die schwarz-gelbeSeite so uneinheitlich gezeigt, dass keine Lösung verein-bart werden konnte. Noch nicht einmal nach vier Mona-ten sollten Leiharbeiter so wie die Stammbelegschaft be-zahlt werden,
weil sich Schwarz und Gelb untereinander zerstrittenhatten. Neun Monate war das Angebot, mit dem sichCDU und CSU von der FDP am Nasenring durch diepolitische Arena haben führen lassen.
Den wenigsten Menschen, die in der Leiharbeit tätigsind, hätte diese Regelung geholfen. Kaum ein Leihar-beiter bleibt länger als maximal drei oder vier Monate imgleichen Entleihbetrieb.
Schlimm, dass Schwarz-Gelb an dieser wichtigen StelleVerbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer verhindert hat.
Es ist unwürdig, dass Leiharbeiter im selben Betriebfür die gleiche Tätigkeit schlechter bezahlt werden alsihre festangestellten Kollegen. Es darf keine Arbeitneh-mer erster und zweiter Klasse geben,
und das, Frau Connemann, gilt für alle Arbeitnehmer,egal in welchem Betrieb sie angestellt sind, ob bei derKirche – darüber haben wir vorhin diskutiert – oder
in einem Betrieb,
an dem die SPD beteiligt ist.
– Sie haben Madsack angesprochen. Die SPD hält daraneine Beteiligung von 20 Prozent. Die Zuhörerinnen undZuhörer werden sich selber ein Urteil über Ihre Angriffehier bilden.
Bedauerlich ist auch, dass sich Arbeitsministerin vonder Leyen weder im Kabinett noch in ihrer Fraktion indieser so wichtigen Frage durchsetzen konnte. Sie stellteam 24. März 2011 im Plenum ganz richtig fest – ich zi-tiere –:Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen für diegleiche Leistung in demselben Betrieb dauerhaftungleich bezahlt werden.Frau Ministerin, auch wenn Sie dieser Debatte heutenicht beiwohnen: Ändern Sie diesen unwürdigen Zu-stand. Wir sind hier an Ihrer Seite.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. –Als nächste Rednerin würde auf meiner Liste Frau Kol-legin Gabriele Molitor für die Fraktion der FDP stehen.Sie hat aber ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)Ich darf allerdings die Anwesenheit unserer neuenParlamentarischen Staatssekretärin, Kollegin UlrikeFlach, auf der Regierungsbank zum Anlass nehmen, ihrherzlich zu gratulieren. Sie sitzt ja jetzt zum ersten Malauf dieser Bank. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kolle-gin!
1) Anlage 8
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12407
Vizepräsident Eduard Oswald
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Nächste Rednerin auf meiner Liste zu diesem Tages-ordnungspunkt ist Frau Kollegin Jutta Krellmann für dieFraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin JuttaKrellmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im mana-
ger magazin vom 26. April dieses Jahres stand: „Eine
Branche rettet ihr Geschäftsmodell.“ Gemeint ist damit
der Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser garantiert der
Branche satte Gewinne und lässt den Leiharbeitsbe-
schäftigten auch weiterhin nur Krümel übrig. Fakt ist:
Erstens. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist durch Ihr
Gesetz vom Tisch. Leiharbeit bleibt Lohndumping ohne
Wenn und Aber.
Zweitens. Die eh schon niedrigen Löhne in der Leih-
arbeit bleiben, wie sie sind. Wir reden von 7,79 Euro im
Westen und 6,89 Euro im Osten.
Drittens. Der miese Mindestlohn in der Leiharbeit si-
chert den Leiharbeitsfirmen auch nach der Arbeitneh-
merfreizügigkeit fette Gewinne. Im Klartext heißt das:
Ein polnischer Leiharbeitnehmer wird ebenso schlecht
bezahlt wie sein deutscher Kollege.
Viertens. Dann gibt es noch die Werkverträge. Sie er-
lauben den Firmen, den miesen Mindestlohn in der Leih-
arbeit noch zu unterbieten. Ich finde, das ist ein absoluter
Skandal.
Kein Wunder, dass der Chef von Randstad, Herr
Eckard Gatzke, das neue Gesetz der Bundesregierung in
höchsten Tönen lobt. Fragen Sie mal die Millionen Leih-
arbeitsbeschäftigten in Deutschland, was sie davon hal-
ten. Die Linke sagt: Es gibt keinen Grund, warum am
gleichen Arbeitsplatz Beschäftigte unterschiedlich ent-
lohnt werden,
außer wenn es darum geht, die Taschen der Branchen-
bosse zu füllen. Im Grunde setzen Sie noch einen drauf:
die Leiharbeit in der Bürgerarbeit. Die Bürgerarbeit ha-
ben Sie als Arbeitsbeschaffung für Langzeitarbeitslose
erfunden. Fest steht: Die Menschen werden gering be-
zahlt und sind nicht voll sozialversicherungspflichtig be-
schäftigt. Nach ihrer Bürgerarbeit droht den Beschäftig-
ten wieder Hartz IV; denn von 900 Euro für 30 Stunden
oder 600 Euro für 20 Stunden brutto kann kein Mensch
leben. Das Programm ist ein Flop. Von 34 000 vorgese-
henen Stellen werden bis Ende März nur 1 400 besetzt.
Nach Ansicht der Gewerkschaft Verdi und der Linken
sind die Kommunen verpflichtet, den Tarif des öffent-
lichen Dienstes in der Bürgerarbeit zu zahlen. Das würde
200 bis 300 Euro mehr pro Bürgerarbeitsplatz kosten.
Doch die Kommunen sind klamm und lehnen das ab.
Jetzt greift die Bundesregierung in die Trickkiste: Leih-
arbeit ist nun in der Bürgerarbeit zugelassen;
somit gilt für diese Beschäftigten nicht mehr die unterste
Tarifentlohnung des öffentlichen Dienstes. Damit wer-
den sie praktisch um 1 Euro pro Stunde beschissen.
Wenn Ihre Empörung im Fall Schlecker nicht nur leeres
Geschwätz war, dann müssten Sie bei der Anweisung
aus Ihrem Ministerium knallrot anlaufen.
Frau von der Leyen, ich fordere Sie – auch in Abwe-
senheit, übermittelt durch Herrn Brauksiepe – auf, die
Leiharbeit in der Bürgerarbeit sofort zu stoppen.
Hätten Sie auf uns gehört, wäre Lohndumping in der
Leiharbeit längst Geschichte. Mit unserem Gesetzent-
wurf wäre Leiharbeit wieder für die Abdeckung von
Auftragsspitzen da. Frankreich macht uns das praktisch
vor: Leiharbeiter bekommen den gleichen Lohn wie
Stammbeschäftigte plus 10 Prozent Flexibilitätsprämie,
und das funktioniert, auch in zehn weiteren europäischen
Ländern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Selbstverständlich gerne.
Frau Kollegin Gitta Connemann will Ihnen eine Zwi-
schenfrage stellen. – Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Krellmann, Sie haben gerade in Ihrer
Rede gesagt: wenn man sie denn gefragt hätte. Ich frage
Sie jetzt, wie Sie sich ein Arbeitsleben sinnvollerweise
vorstellen, ob nach den Modellen, für die wir uns hier
einsetzen, oder nach den Modellen in Berlin. Denn wir
konnten am 18. April dieses Jahres einem Bericht in der
Berliner Morgenpost entnehmen, dass die BSR Hunderte
von Tagelöhnern beschäftigt; das ist in Berlin. Es wird
deutlich, dass die Schneewinterhilfskräfte mit Billigung
des Wirtschaftssenators jeweils Eintagesverträge – die
Betonung liegt auf „Eintagesverträge“ – zu niedrigeren
Löhnen erhalten haben. Ich nenne Ihnen gerne den Na-
men des Wirtschaftssenators: Er heißt Harald Wolf, ge-
hört der Linken an und ist Aufsichtsratschef der BSR.
Wie beurteilen Sie ein solches Arbeitgeberverhalten?
Ein solches Arbeitgeberverhalten kann man nichtrechtfertigen, und solchen Dingen muss man nachgehen.Das, was ich gesagt habe, gilt für den Bund, für Berlinund Brandenburg, für Hessen, für Niedersachsen und fürdie friesische Küste, wo Sie herkommen. Gleiches Geld
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12408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Jutta Krellmann
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für gleiche Arbeit ist ein Grundprinzip. Dazu stehe ich,und dafür trete ich ein.
Das gilt insbesondere für Leiharbeitnehmer, und zwar anjedem Arbeitsplatz und in jedem Land. Insofern gilt dasfür Deutschland und für andere Länder. Ich wäre Ihnensehr dankbar, wenn Sie mir den Artikel zur Verfügungstellen würden, damit ich da nachhaken und erfahrenkann, was da passiert ist.
Zum Abschluss möchte ich sagen: Wir, die Linke,werden gemeinsam mit den Gewerkschaften und denBetroffenen beim Thema „Gleiches Geld für gleiche Ar-beit“ keine Ruhe geben und versuchen, das durchzuset-zen.
Sie haben noch eine Chance, eine Frage zuzulassen.
Das mache ich wieder sehr gerne.
Dann wird Ihre Redezeit natürlich verlängert. Vielen
Dank. – Bitte schön, Frau Kollegin.
Liebe Frau Kollegin, Sie haben jetzt die Leiharbeit in
der Bürgerarbeit so massiv kritisiert.
Wäre es Ihnen lieber, in Wirklichkeit keine Arbeitsplätze
im Bereich der Bürgerarbeit zu haben, als dass eine Ver-
mittlungsorganisation, also ein Dienstleistungsunterneh-
men, das Management der Bürgerarbeit für die Kommu-
nen übernimmt? Seitdem es die Klarstellung der
entsprechenden Regelung gibt, wächst die Anzahl der
bewilligten Stellen; die betroffenen Menschen, die Lang-
zeitarbeitslosen, sind sehr froh. Wie schätzen Sie diese
Arbeit ein? Die Leiharbeit in diesem Bereich ist doch
mit der Leiharbeit, über die Sie gesprochen haben, über-
haupt nicht identisch.
Ich weiß nicht, ob Sie mir nicht richtig zugehört ha-
ben.
Die Leiharbeit in der Bürgerarbeit ist im Grunde ein
Weg, die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes zu um-
gehen. Im Grunde war geplant – das wissen Sie ganz ge-
nau –, dass die Vorschriften des TVöD – das sind die In-
formationen, die ich habe – angewendet werden sollen.
Jetzt wird hier die Möglichkeit genutzt, über die Hinter-
tür des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes die Leihar-
beit zu nutzen. Die entsprechenden Arbeitnehmer erhal-
ten nun den Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser
Mindestlohn beträgt genau 1 Euro pro Stunde weniger
als der Lohn, den die Menschen heute erhalten. Das
empfinde ich als eine Sauerei gegenüber den Betroffe-
nen.
Das sind Langzeiterwerbslose, die ein Recht darauf ha-
ben, für ihre Arbeit wenigstens einen Lohn entsprechend
der untersten Entgeltgruppe des Tarifvertrages des öf-
fentlichen Dienstes zu erhalten, nicht nur den Mindest-
lohn in der Leiharbeit.
Wir reden hier nicht über Leiharbeit. Sie lassen das zu,
obwohl das keine Leiharbeit ist.
Jetzt, Frau Kollegin, bitte den Schlusssatz, den Sie an-
gekündigt hatten.
Ich kann jetzt den Schlusssatz noch einmal sagen: Wir
werden uns auf jeden Fall dafür einsetzen, dass Equal
Pay in allen Bereichen durchgesetzt wird. Wir werden
versuchen, gemeinsam mit den Gewerkschaften und den
Betroffenen das zu bekommen, was wir politisch von Ih-
nen nicht kriegen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann für die FraktionDie Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen unsere Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke.Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Zunächst einmal muss ich meinem Är-ger über Verfahren der Bundesregierung Luft machen.Die Reform der Arbeitnehmerüberlassung wurde über einJahr lang lautstark angekündigt. Dann legte die Bundes-regierung einen Gesetzentwurf vor, der keine Lohnunter-grenze vorsah. Die Lohnuntergrenze folgte im Laufe desVerfahrens über einen Änderungsantrag. Heute, im drit-ten Anlauf, kommt nun ein Gesetzentwurf zur Kontrolleder Schwarzarbeit. Mittlerweile haben wir die Arbeitneh-merfreizügigkeit, aber noch keine allgemeinverbindlicherklärte Lohnuntergrenze. Es wurde viel Zeit vertrödelt.Ich kann das gesamte Verfahren nur als miserabel be-zeichnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12409
Beate Müller-Gemmeke
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Jetzt aber zum Inhalt. Anscheinend bin ich mehr oderweniger die Einzige, die zum Gesetzentwurf redet. Diegute Nachricht ist, dass die Meldepflicht eingeführtwird, und vor allem, dass die Einhaltung der Lohnunter-grenze von den Behörden der Zollverwaltung kontrol-liert und ihre Verletzung entsprechend dem Verfahrenbei Nichteinhaltung der Mindestlöhne nach dem Arbeit-nehmer-Entsendegesetz sanktioniert wird.Jetzt habe ich aber eigentlich nur noch kritische An-merkungen. Die Bundesregierung hat einen zusätzlichenPersonalbedarf von 156 Stellen für die Zollverwaltungberechnet, und zwar auf der Grundlage von 700 000 Leih-arbeitskräften; tatsächlich sind es aber über 900 000. DerClou kommt noch: Über die zusätzlichen Mittel soll erstbeim nächsten Haushalt entschieden werden. MeineFrage ist also: Soll der Mindestlohn in der Leiharbeit die-ses Jahr überhaupt nicht kontrolliert werden oder, wenndoch, nur zulasten der Kontrolle der Einhaltung der ande-ren Mindestlöhne? Dazu kann ich nur sagen: Das wäreunverantwortlich.
Vor allem ist es absolut unverständlich, dass die Ein-haltung der Drehtürklausel nicht von der Zollbehörde,sondern von der Bundesagentur für Arbeit kontrolliertwerden soll. Abgesehen davon, dass die BA dafür garnicht ausgestattet ist, ist sie, milde ausgedrückt, nicht füreffektive und umfassende Kontrollen bekannt. Im Ge-genteil: Die Überprüfungsquote im Jahr 2008 lag geradeeinmal bei 9 Prozent und 2009 sogar nur bei 8,5 Prozentder Verleihfirmen, und dies, obwohl sich die Zahl derLeiharbeitskräfte im gleichen Zeitraum nahezu verdop-pelt hat. Jetzt soll die BA auch noch die Einhaltung derDrehtürklausel kontrollieren. Das kann ich nur alsschlechten Treppenwitz bezeichnen.
Letztes Jahr habe ich in einer Kleinen Anfrage nach-gefragt, wie und nach welchen Kriterien die Bundes-agentur für Arbeit Verleihfirmen prüft. Die Antwort warernüchternd: Verleihfirmen mit unbefristeter Erlaubniswerden zwar kontrolliert, aber nur im Fünfjahresrhyth-mus. Da kann ich nur sagen: Eine bessere Einladungzum Missbrauch kann es überhaupt nicht geben.Die Bundesagentur für Arbeit ist immerhin selbstkri-tisch und realistisch; denn in ihrer Stellungnahme zumArbeitnehmerüberlassungsgesetz stand – ich zitiere aus-zugsweise –:Mit Blick auf die im Koalitionsvertrag der Bundes-regierung vereinbarte Aufgabenkritik der BA könnteauch überlegt werden, die ordnungspolitische Auf-gabe des AÜG … z. B. auf den Zoll zu übertragenund die BA damit weiter auf die Kernaufgabe Ver-mittlung zu fokussieren.Das sind klare Worte, aber sie werden ignoriert. Esscheint so, als ob die Bundesregierung mit ihrer hochge-lobten Drehtürklausel nicht ernst machen will. Wir mei-nen aber, dass Kontrollen in angemessener Zahl notwen-dig sind, und zwar durchgeführt von den Profis derZollbehörde.Ich kann also nur hoffen, dass die Regierungsfraktio-nen im Laufe des Verfahrens den Gesetzentwurf nochnachbessern werden. Wenn nicht, dann war die Empö-rung über den Missbrauch, beispielsweise bei Schlecker,vor allem heiße Luft. Eine solche Politik der Bundesre-gierung hilft niemandem, weder den Beschäftigten nochden seriösen Verleihfirmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Der letzte Redner zu
diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Paul
Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Kollege Paul Lehrieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Heute befassen wir uns in erster Bera-tung mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeit-nehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbe-kämpfungsgesetzes.Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, wenn Sie beiden Vorrednern aufgepasst hätten, dann hätten Sie fest-gestellt, dass sie sich sehr wohl in weiten Bereichen ihrerReden mit dem Gesetzentwurf beschäftigt haben.
Sie waren nicht die Erste, die über diesen Gesetzentwurfgesprochen hat.Im Gesetzentwurf sind weitgehende Kontrollmecha-nismen verankert, die für die Einhaltung der festgelegtenArbeitsbedingungen und auch der Lohnuntergrenze sor-gen sollen. In der letzten Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Gesetzesentwurfs zur Änderungdes Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und zur Verhin-derung des Missbrauchs in der Leiharbeit hat der Deut-sche Bundestag am 24. März dieses Jahres, also vor we-nigen Wochen, entscheidende Verbesserungen auf demGebiet der Leiharbeit auf den Weg gebracht und auch ei-nen branchenspezifischen Mindestlohn für die Leihar-beit eingeführt, der – Frau Kollegin Müller-Gemmeke,darauf können Sie sich verlassen – von der Bundesregie-rung in Kürze sicherlich umgesetzt werden kann,
Letzteres insbesondere im Hinblick auf die Arbeitneh-merfreizügigkeit, welche ab dem 1. Mai dieses Jahres
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12410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Paul Lehrieder
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für immerhin 77 Millionen Europäer, auch für Deutsche,gilt.Die Angst vor einer gewaltigen Einwanderungswelleund vor massivem Lohndumping war groß. Die Statisti-ken und Hochrechnungen belegen allerdings, dass dieseAngst unbegründet war. Lohndumping verhindern wirerfolgreich durch die Einführung eines branchenspezifi-schen Mindestlohnes und eines wirkungsvollen Kon-troll- und Sanktionsmechanismus durch den heute vor-liegenden Gesetzentwurf.Den neuen Regelungen in der Leiharbeit ist es auchzu verdanken, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit alsgroße Chance zu sehen ist: als Mittel gegen den Fach-kräftemangel, als Maßnahme gegen die Azubilücke undals willkommenes Arbeitskräftepotenzial für etwa1 Million offene Stellen, die wir derzeit in Deutschlandhaben.Die Zeitarbeit ist ein auf dem Arbeitsmarkt bewährtesInstrument. Sie darf nicht als Mittel zur Absenkung vonArbeitslöhnen und zur Verschlechterung von Arbeitsbe-dingungen genutzt werden. Insoweit besteht in diesemHohen Hause Konsens. Dies wird gesetzlich gewährleis-tet, dies muss aber auch kontrolliert und, falls nötig,sanktioniert werden.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben natürlich recht:Wenn sich der Branchentarifvertrag nicht auch auf dieLeiharbeit erstreckt, dann müssen wir überlegen – wie dieKollegin Connemann völlig zu Recht in ihrer Eingangs-rede ausgeführt hat –, ob der § 8 Abs. 3 Arbeitnehmer-Entsendegesetz eine entsprechende Änderung erfahrenmuss und ob wir das, was die Gerichte zwischenzeitlichanders bewerten, anpassen müssen. Darüber werden wiruns austauschen müssen. Im Übrigen ist dies heute dieerste Lesung. Wir werden jetzt in den Fachausschüssendarüber beraten und diesen Gesetzentwurf im Detail dis-kutieren.Natürlich wäre es sehr wünschenswert, einen Arbeits-markt zu haben, auf dem es ausschließlich feste und un-befristete Anstellungsverhältnisse gibt. Da wir uns abernicht in einem isolierten Vakuum befinden, sondern aufeinem Arbeitsmarkt, auf dem global vernetzte Unterneh-men agieren, müssen wir jede Chance ergreifen, dieMenschen Arbeit bietet – nicht nur den Hochqualifizier-ten, sondern allen Menschen.Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeitar-beitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbil-dung. Zeitarbeit zu haben ist besser als gar keine Arbeit.
Die Zeitarbeit ist eine realistische Chance, die zu einerfesten Beschäftigung führen kann. Die Flexibilität derZeitarbeit machte es möglich, in den letzten Krisenjah-ren auch Geringqualifizierten und Arbeitslosen eineChance auf Beschäftigung zu bieten.
So konnte der konjunkturelle Aufschwung schneller inBeschäftigungsverhältnisse umgesetzt werden. Eine Stu-die des Instituts der deutschen Wirtschaft, die erst am ver-gangenen Dienstag veröffentlicht wurde, kam zu dem Er-gebnis, dass Zeitarbeitnehmer jeden siebten Euro desAufschwungs erwirtschaftet haben. Zeitarbeitnehmer tru-gen damit 15 Prozent des deutschen Wirtschaftswachs-tums im Jahr 2010.
Angesichts eines Zeitarbeitnehmeranteils von knapp über2 Prozent zeigt diese Berechnung die wesentlich höherevolkswirtschaftliche Bedeutung der knapp 900 000 Zeit-arbeitnehmer bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise.
Aber, meine Damen und Herren, was helfen faireLohnuntergrenzen, wenn sie nicht eingehalten werden?Was helfen sie, wenn Menschen schwarzarbeiten? Ver-trauen allein reicht hier sicherlich nicht aus. Wir brau-chen effektive Kontroll- und Sanktionsinstrumente. DerGesetzentwurf verspricht eine effiziente und wirkungs-volle Kontrolle darüber, dass Arbeitgeberpflichten ein-gehalten werden. Diese wichtige Aufgabe soll von denBehörden der Zollverwaltung übernommen werden.Das Gesetz setzt zudem die Protokollerklärung zumBeschluss des Vermittlungsausschusses über das Gesetzzur Ermittlung von Regelbedarfen nach dem II. und XII.Sozialgesetzbuch um. Konkret werden die Befugnisseder Zollverwaltung im Bereich der Prüfung, Verfolgungund Ahndung in den nachfolgend genannten Punkten er-weitert und von denen der Bundesagentur für Arbeit alsErlaubnisbehörde abgegrenzt.Arbeitgebern werden besondere Mitwirkungspflichtenauferlegt. So soll bei verdachtsunabhängigen Kontrollendie Einhaltung einer festgelegten Lohnuntergrenze über-prüft werden können. Darüber hinaus werden weitere Ar-beitgeberpflichten festgesetzt. Bestimmte Dokumente,wie beispielsweise Lohnunterlagen und Arbeitszeitauf-zeichnungen, müssen erstellt und aufbewahrt werden.Außerdem besteht die Pflicht eines ausländischen Verlei-hers zur Meldung von nach Deutschland entsandten Ar-beitnehmern.Meine Damen und Herren, wir werden weitere Punkteim Laufe des Verfahrens diskutieren müssen. – Ich sehe,der Präsident macht sich dezent hinter mir bemerkbar.Bevor er mir das Mikrofon ausschaltet, wünsche ich Ih-nen noch einen schönen Abend und bedanke mich fürdie konstruktiven Beiträge. Frau Kollegin Hiller-Ohm,ich glaube, dass wir dieses Gesetz vielleicht sogar ge-meinsam auf den Weg bringen können. Ich bitte um IhreZustimmung zu unserem guten Gesetzentwurf.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12411
Paul Lehrieder
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Noch ist der Abend
nicht zu Ende. Wir haben noch eine Reihe von Tagesord-
nungspunkten, und ich lade alle herzlich ein, auch noch
dazubleiben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5761 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere
Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfe-
gesetzes
– Drucksache 17/5521 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin steht
auf meiner Liste Frau Kollegin Dr. Martina Bunge für
die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Linke legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, derendlich ein schon lange hin- und hergewälztes Problemfür eine begrenzte Zahl betroffener Frauen im Osten lö-sen soll.Zwischen August 1978 und März 1979 wurden in derDDR Frauen mit Hepatitis-C-Virus verseuchtem Anti-D-Immunglobulin behandelt. Bei Rhesusfaktor-Unverträg-lichkeit sollte damit verhindert werden, dass spätereKinder mit Schädigungen geboren werden. Allerdingserlitten dadurch fast 3 000 Personen eine chronische He-patitis-C-Virus-Infektion, die diverse Folgeerkrankun-gen mit sich bringt. Hier lag ganz offensichtlich ein gro-ber Fehler der damals Verantwortlichen vor.Gut war, dass am 1. Januar 2000 das Anti-D-Hilfege-setz in Kraft trat. Darüber sollten die Betroffenen nebenLeistungen der Heil- und Krankenbehandlung ab einembestimmten Ausmaß der Schädigung finanzielle Hilfenals Einmalzahlung und als Rente bekommen. Leiderzeigte sich, dass die Bewilligungspraxis von Land zuLand, von Versorgungsamt zu Versorgungsamt sehr un-terschiedlich war und ist.Wie sicher viele von Ihnen erhalte auch ich immernoch und immer wieder Schreiben von Betroffenen, dieum ihre Rente kämpfen. Die Betroffenen haben die ver-seuchte Anti-D-Immunprophylaxe erhalten und klagennun über verschiedene gesundheitliche Beschwerden.Die Versorgungsämter meinen aber, es sei nicht ausrei-chend belegt, dass die Anti-D-Prophylaxe der Grund fürdiese Beschwerden ist. Ich finde, es ist zutiefst unwür-dig, dass jemand, der einen solchen Schaden sogar nach-gewiesen hat, jetzt beweisen muss, dass die Folgeerkran-kung durch eben diese Anti-D-Immunprophylaxe ent-standen ist.
Sie alle wissen, dass es fast unmöglich ist, zu bewei-sen, dass ein bestimmtes Symptom auf eine bestimmteUrsache zurückzuführen ist. Deshalb behilft man sichmit Wahrscheinlichkeiten. Und dann kommt es zu derSituation, dass bei einem Versorgungsamt die Wahr-scheinlichkeit ausreicht und ein anderes meint, dass dieWahrscheinlichkeit nicht ausreicht. Die Betroffenen füh-len sich zu Recht willkürlich behandelt.Ja, wir Politikerinnen und Politiker haben uns bereitsausführlich damit befasst. Nachdem die zuständigen Be-richterstatter aller Fraktionen des Ausschusses für Ge-sundheit jahrelang viele Male mit Betroffenen und mitVertretern des Bundesministeriums für Gesundheit zu-sammengesessen haben, habe ich als damalige Aus-schussvorsitzende 2008 einen Brief an die damaligeMinisterin gesandt. Leider haben sich die Fraktionennicht auf eine Meinung verständigen können, aberGrundtenor war, dass das BMG für eine einheitliche An-wendung dieses Gesetzes Sorge tragen soll.
Nichts ist bislang geschehen. Daher sind wir in der Pra-xis von einer einheitlichen Handhabung weit entfernt.Die Linke hat sich jetzt entschlossen, einen Gesetz-entwurf vorzulegen, weil im aktuellen Grundlagenpapierder Bundesregierung zu den Patientenrechten zu lesenist:Im Falle eines groben Behandlungsfehlers, der ge-nerell geeignet ist, den Schaden herbeizuführen,wird vermutet, dass der Fehler für den Eintritt desSchadens ursächlich war. Das heißt, dass der Be-handelnde den Gegenbeweis antreten muss, dassein Fehler den Schaden nicht verursacht hat.Im Antrag der SPD zu Patientenrechten steht übrigensdas Gleiche. Nichts anderes formuliert die Linke in demheute vorliegenden Gesetzentwurf. Diese Frauen sollenentschädigt werden, ohne dass sie den Beweis erbringenmüssen.
Die Linke will ein würdiges Verfahren, das den durchdie Anti-D-Immunprophylaxe Geschädigten endlich zuihrem Recht verhilft. Geben Sie sich einen Ruck und set-zen Sie hier ein Zeichen.
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12412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. – Jetzt für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Karin
Maag. Bitte schön, Frau Kollegin Maag.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Vorfälle, die zudem Anti-D-Hilfegesetz geführt haben, nun schon einpaar Jahre zurückliegen, 1978 und 1979, will ich versu-chen, sie zusammenzufassen, um uns gemeinsam aufden neuesten Stand zu bringen. Es geht um Frauen, diezwischen August 1978 und März 1979 in der ehemaligenDDR zur Immunprophylaxe geimpft wurden. Die Imp-fung war bei bestimmten Gesundheitsrisiken nach derSchwangerschaft vorgesehen und diente dazu, bei Rhe-susfaktor-Unverträglichkeiten nach Geburten Schädenbei den folgenden Kindern zu verhindern.Innerhalb dieses halben Jahres wurden 6 773 Frauenmit diesen Anti-D-Immunglobulinen behandelt. Weil dieImpfchargen im damaligen Bezirksinstitut für Blut-spende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft ver-seucht worden waren, wurden rund 4 600 Personen – dasist der Stand von heute –, also die behandelten Frauen,ihre Kinder und etliche weitere Kontaktpersonen ausdem familiären Bereich, kontaminiert. Derzeit, Standvom 31. Dezember letzten Jahres, sind 2 615 Personenals Schadensfälle nach dem Anti-D-Hilfegesetz aner-kannt.Ich glaube, es steht uns gut an, wenn wir sagen, dassdiesen Opfern auch heute noch unser Bedauern und un-ser Mitgefühl gehören, und dies umso mehr, als sie na-türlich auch heute noch, Frau Bunge, regelmäßig zu Un-tersuchungen müssen und damit weiterhin schwerbelastet sind.
– Ich komme noch dazu, Frau Bunge. Machen Sie sichkeine Gedanken. – Ich möchte darauf hinweisen, dasswir nicht vergessen sollten, dass diese Frauen zweimalgeschädigt wurden: zum einen durch die kriminellenMachenschaften im Institut in Halle – Arzt und Apothe-ker wurden strafrechtlich verurteilt; aber das hilft denBetroffenen wenig –, zum anderen natürlich auch durchdie frühere Einordnung in der DDR lediglich als Impf-schaden.
Zu DDR-Zeiten durfte es keinen Arzneimittelskandalgeben, also hat man die Frauen wie bei Impfschäden ent-schädigt und ihnen damit den Anspruch auf eine höhereRente, eben nicht nur nach Versorgungsgesichtspunkten,ebenso versagt wie ein Schmerzensgeld.
Mit dieser Einordnung als Impfschaden ist der Vor-gang über den Einigungsvertrag in unser Rechtssystemübernommen worden. Die Betroffenen waren weiterezehn Jahre – da haben Sie recht, Frau Bunge – von Ent-schädigungsleistungen ausgeschlossen. Um diese huma-nitäre und soziale Lage der infizierten Frauen zu verbes-sern, hat der Bundestag im Jahre 2000 nach vielenVerhandlungen zwischen Bund und Ländern, die für dieAusführung immer noch zuständig sind, ein eigenes Ge-setz, das sogenannte Anti-D-Hilfegesetz, beschlossen.Es ist ein eigenständiges Gesetz; parallel gibt es andere,zum Beispiel das HIV-Hilfegesetz.Die Rentenleistungen sind heute nach dem Grad derMinderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelt. Sie reichenvon Beträgen von 272 bis 1 088 Euro monatlich. DieseRentenleistungen werden jetzt, so wie die normaleRente, zum 1. Juli 2011 dynamisiert. Über die Einmal-zahlung haben wir schon gesprochen. Die Zahlungenwerden durch Heil- und Krankenbehandlungsansprüchein entsprechender Anwendung des Bundesversorgungs-gesetzes ergänzt. Jetzt kann man sagen: Gott sei Dankhat sich die medikamentöse Therapie der chronischenHepatitis C stetig verbessert. Die Heilungschancen sinderheblich gestiegen. Sie liegen jetzt bei 50 bis 75 Pro-zent.Ich möchte noch auf eines hinweisen, das mir im Zu-sammenhang mit Ihrem Vorschlag wichtig ist. Das Anti-D-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Branden-burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An-halt und Thüringen als Auftragsverwaltung ausgeführt.An den Kosten haben sich auch die übrigen Bundeslän-der in Deutschland nach einem bestimmten Kosten-schlüssel beteiligt. Jetzt komme ich zu dem, was Sie be-anstandet haben. Das Bundesgesundheitsministeriumlädt die Akteure regelmäßig ein und stellt über diese re-gelmäßigen Kontrollen die einheitliche Durchführung si-cher. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass dortam Anfang – das hat auch der Bundesrechnungshof auf-gegriffen – einiges schieflief.Frau Bunge, Sie wollen jetzt mithilfe einer Änderungdes Anti-D-Hilfegesetzes die Beweislast umkehren. Ichhalte das für rechtlich falsch und für politisch unklugund schwierig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich dasso sehe: Das Anti-D-Hilfegesetz wurde vor elf Jahrenhier im Bundestag einvernehmlich verabschiedet. AlleFraktionen, auch die PDS, waren sich damals einig, dasses sich – so hat es damals Frau Nickels formuliert – umeine ausgewogene Balance eines sehr komplexen Sys-tems von Hilfen und Finanzierung handelt.Dieser mühsam hergestellte Kompromiss zwischenallen Beteiligten – also zwischen Bund, Ländern sowieweiteren Akteuren; ich habe die Beratungssituation be-reits genannt – mit diesem guten Ergebnis wäre erneutins Wanken geraten – das ist wiederum ein Zitat vonFrau Nickels –, wenn nur ein Element aus diesem Be-reich herausgebrochen wäre. Das haben sogar Sie bzw.die PDS damals eingesehen. Frau Bunge, an solche Ver-einbarungen muss man sich dann aber auch halten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12413
Karin Maag
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– Lassen Sie mich fortfahren.Wir haben das Anti-D-Hilfegesetz auch evaluiert. Inunseren Besprechungen haben wir auf eine einheitlicheRechtsanwendung hingewirkt. Meine Fraktion, FrauBunge, hat bereits 2004 die Frage nach der Rechtsquali-tät dieser Entschädigungszahlungen gestellt. Die dama-lige Bundesregierung hat ausdrücklich klargestellt, dasses sich bei den Regelungen im Anti-D-Hilfegesetz nichtum einen Bestandteil des sozialen Entschädigungsrechts,sondern um eine eigene Rechtsgrundlage handelt.Ich will hier jetzt eigentlich nicht Ihre sehr schlankeBegründung aufwerten. Ich will aber trotzdem erläutern,warum ich Ihre Forderung für wichtig halte. Wäre diesein Bestandteil des Entschädigungsrechts, könnte manunter bestimmten Bedingungen eine Beweiserleichte-rung im Hinblick auf den Ursachenzusammenhang zu-lassen. Wir kennen so etwas aus dem Infektionsschutz-gesetz. Diese Rechtslage entspricht auch der Rechtslagein anderen Bereichen des Entschädigungsrechts.Jetzt kommt die Begründung, warum es nicht geht:Ausschließlich zugunsten der Opfer, um höhere Rentenzu ermöglichen und um überhaupt Einmalzahlungen ge-währen zu können, ist man damals den Weg über dieSchadenersatzleistungen gegangen. Nach allgemeinenzivilrechtlichen Grundsätzen – die können wir hier nichtdurch ein Gesetz im Einzelfall außer Kraft setzen – trägtder Anspruchsteller im Bereich des Schadenersatzes dieBeweislast für alle anspruchsbegründenden Vorausset-zungen. Damit verbietet sich die Beweislastumkehrschlicht aus Rechtsgründen. Ich gehe einmal davon aus,dass Sie sich an die einmal vereinbarte Rechtswahl auchhalten wollen.Sie haben in mehreren Anfragen das Thema der Dar-legungs- und Beweislast aufgebracht – im Einzelfalldurchaus zu Recht. Die jeweilige Bundesregierung hatIhnen aber auch gut begründet geantwortet, dass und wa-rum eine Rechtsänderung nicht in Betracht kommt.Auch der Petitionsausschuss hat im Hinblick auf eineSammelpetition betroffener Frauen nicht anders ent-schieden.Ich will jetzt nicht „nur“ erklären, warum Ihr Gesetz-entwurf nicht gut ist. Ich habe durchaus schon von denbetroffenen Frauen im Osten gehört, auch wenn ich ausdem Westen komme. Auch mir ist diese Problematik be-kannt. Ich will konstruktiv auf Folgendes hinweisen: DerRechtsanwalt des Deutschen Vereins HCV-Geschädig-ter verfolgt nämlich eine andere Zielrichtung. Er küm-mert sich um die Verbesserung der Gestaltung derNr. 26.10 AHP. Das sind die Anhaltspunkte für die soge-nannte Gutachtertätigkeit und deren Nachfolgeregelung.Das erscheint mir der konstruktivere und vernünftigereAnsatz. Das sage ich Ihnen jetzt privat und persönlich.Für mich gilt: Im Ergebnis können wir mit der Rege-lung, die im Jahre 2000 getroffen wurde, zufrieden sein.Es ist gelungen, eine deutlich bessere Entschädigung alsdamals zu DDR-Zeiten üblich zu erreichen. Handlungs-bedarf mit der Zielrichtung der Beweislastumkehr, wievon Ihnen gefordert, sehe ich deshalb nicht. Ich sehe dasim Übrigen auch nicht im Hinblick auf das Patienten-rechtegesetz. Meines Wissens sind wir in diesem Fallnicht Rechtsnachfolger und somit auch nicht der Behan-delnde, den Sie gerade zitiert haben, geworden.Umgekehrt, Frau Bunge – auch dies will ich Ihnennicht ersparen –, empfinde ich es als für die Betroffenensehr belastend, wenn Sie immer wieder Erwartungenund Hoffnungen wecken, die Sie nicht erfüllen können.
Noch einmal: 2 615 im Raum stehende Schadensfällesind anerkannt; das sind rund zwei Drittel. Unzumutbarist das also sicherlich nicht. Ich will nicht verhehlen,dass es in Einzelfällen Probleme gegeben hat. Es gehtaber um Einzelfallgerechtigkeit. Dafür sind die Gerichtezuständig. Einzelne Gerichte, die sich mit solchen Fällenbefasst haben, haben sich wegen der AHP übrigens andas Bundesarbeitsministerium gewandt, um dort mög-licherweise Änderungen herbeizuführen. Ich halte diesfür einen relativ gut gangbaren Weg.Frau Bunge – ich spreche jetzt Sie persönlich an, weilSie zu den Initiatoren dieses Gesetzentwurfes gehören –,mir wäre es lieb, wenn Sie in den östlichen Bundeslän-dern keine unerfüllbaren Hoffnungen wecken würden.Helfen Sie den Menschen vor Ort! Wir haben eine guteRegelung. Belassen Sie es dabei, und versuchen Sie, imEinzelfall konstruktiv mitzuwirken!Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Maag. – Jetzt
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kol-
lege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege
Lemme.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Flach, erst einmal sage ich Ihnen im Namenmeiner Fraktion herzlichen Glückwunsch zu Ihremneuen Amt als Staatssekretärin.Der Deutsche Bundestag berät nicht zum ersten Maldiese Problematik und diesen Tatbestand, der in der Ge-samtschau letztlich nur betroffen machen kann. Ich musssagen: Mich hat er betroffen gemacht. Es war immermein Verständnis von Politik und Parlamentarismus,dass wir uns vor allem der Menschen annehmen müssen,denen Unrecht widerfährt, so wie im hier vorliegendenFall der Infektion von rund 3 000 jungen Müttern mitHepatitis C in den Jahren 1978 bis 1979 in der DDR.Diese Mütter erhielten nach der Geburt ihres erstenKindes eine damals vorgeschriebene Anti-D-Immunpro-phylaxe, bei der mehrere klar identifizierte Chargen mitdem Hepatitis-C-Virus verseucht waren. Meine persönli-che Bestürzung rührt daher, dass die Infektion nicht etwadurch einen mangelnden Grad wissenschaftlicher Kon-trollierbarkeit der Präparate verursacht wurde, sondern
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12414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Steffen-Claudio Lemme
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dass die Verabreichung mit dem Wissen um die Folgeneiner Hepatitis-C-Infektion und damit vorsätzlich ge-schehen ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich habe langein der DDR gelebt. Umso schockierender ist es für mich,mit den Dimensionen dort erlittenen Unrechts konfron-tiert zu werden. Hepatitis-C-Viren verursachen eineForm der Leberentzündung, die im schlimmsten Fall ei-nen chronischen Verlauf bis hin zum Tode durch Leber-versagen nehmen kann. Eine wirksame Therapie zurÜberwindung der Krankheit steht bis heute nicht zurVerfügung.Für die Betroffenen bedeutet dies schlicht, die Krank-heit akzeptieren und mit ihr leben zu müssen. Besondersbelastend ist dabei die stete Gefahr der Übertragung derKrankheit, etwa auf den Partner oder auf Familienange-hörige. All diese Herausforderungen machen es notwen-dig, dass wir den Betroffenen zur Seite stehen.
Sozialdemokraten haben dies in der Vergangenheit inRegierungsverantwortung getan. Wir haben imJahre 2000 gemeinsam mit dem Bündnis 90/Die Grünenunter der damaligen Bundesgesundheitsministerin AndreaFischer das Anti-D-Hilfegesetz auf den Weg gebracht.Wir haben dafür gesorgt, dass die Betroffenen und Ange-hörigen nach Anerkennung ihrer Schädigung durch Ein-malzahlungen, Rentenbezüge und die Übernahme derKosten für Heil- und Krankenbehandlungen unterstütztwurden. Für uns stehen die Belange der Patientinnen undPatienten grundsätzlich im Mittelpunkt.Aufgrund unserer Politik haben wir heute die Unab-hängige Patientenberatung. In der gemeinsamen Selbst-verwaltung wirken Vertreterinnen und Vertreter der Pa-tienten mit, und die Betroffenen haben mit demPatientenbeauftragten der Bundesregierung eine zentraleAnlaufstelle.
Wir sind noch nicht am Ziel. Mit unseren Vorschlägenfür ein modernes Patientenrechtegesetz wollen wir nocheinen Schritt weitergehen, um für Patientinnen und Pa-tienten Rechtssicherheit zu schaffen. Neben der unseresErachtens dringend notwendigen Zusammenfassung vonunterschiedlichen Rechten in einem einzigen Patienten-rechtegesetz fordern wir grundsätzliche Beweiserleichte-rungen bei Behandlungsfehlern. Hingegen lehnen wireine vollständige bzw. generelle Beweislastumkehr ausheutiger Sicht aus guten Gründen ab.Doch kommen wir zurück auf den hier zu diskutieren-den Fall. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird jene Be-weislastumkehr für diesen speziellen Betroffenenkreisgefordert. Denn nach über 30 Jahren besteht heute viel-fach das Problem der mangelnden Nachweisfähigkeitvon Hepatitis C. Auch der kausale Zusammenhang zwi-schen der Anti-D-Impfung in der DDR und der letztend-lichen Erkrankung wird immer wieder infrage gestellt.Ich stelle hier unmissverständlich klar: Diese Umständeund Hürden sind nicht im Sinne der Betroffenen und ent-sprechen nicht dem Anliegen des Gesetzes.Mehrfach hat der Betroffenenverband, der DeutscheVerein HCV-Geschädigter, auf Probleme hingewiesen.Insbesondere ist die Uneinheitlichkeit der Anwendungdes Anti-D-Hilfegesetzes und die damit verbundene un-terschiedliche Anerkennungspraxis durch die Versor-gungsämter in den Ländern kritisiert worden.Im Entschließungsantrag zu diesem Sachgegenstandin der 16. Legislaturperiode haben wir in der GroßenKoalition nochmals unterstrichen, dass für die einheitli-che Anwendung des Gesetzes Sorge zu tragen ist, wasich für meine Fraktion an dieser Stelle nochmals bekräf-tige.
Wir sehen auch heute die ausführenden Länder, aberauch das Bundesgesundheitsministerium als Aufsichts-behörde in der Pflicht.Mit Blick auf die Kernforderungen des Gesetzent-wurfs gebe ich zu bedenken, dass sowohl die defizitäreFinanzlage des Bundes als auch der Länder keinen Spiel-raum für eine Ausweitung der Mittel bietet. Jede dahingehende Forderung ist zurückzuweisen.
Ich fordere die Bundesregierung jedoch auf, den inder Vergangenheit bereits stattgefundenen Erfahrungs-austausch zu Fragen der einheitlichen Durchführung desGesetzes wieder neu zu beleben, und rege eine erneuteErörterung des Sachverhaltes im Rahmen der im kom-menden Monat stattfindenden 84. Gesundheitsminister-konferenz an.Nach Überweisung des Gesetzentwurfs an den zu-ständigen Ausschuss für Gesundheit wird es meines Er-achtens besonders darauf ankommen, die betroffenenFrauen anzuhören, um einen noch konkreteren Einblickzu erhalten. Abhilfe muss meines Erachtens in erster Li-nie pragmatisch und primär im Rahmen einer Optimie-rung der bestehenden Anerkennungspraxis gesucht wer-den. Ein positives Ergebnis ist nur im Konsens zwischenden beteiligten Akteuren zu erreichen.Was zählt, ist die Verbesserung der Situation der Be-troffenen, für die das Gesetz einstmals mehrheitlich ver-abschiedet wurde. Ihnen muss unsere ganze Aufmerk-samkeit gelten.Vielen Dank.
Wir haben zu danken. Vielen Dank, Kollege Lemme.Jetzt hätte nach meiner Rednerliste unsere KolleginChristine Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDPdas Wort. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll. Das ist so ver-einbart.1)1) Anlage 10
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12415
Vizepräsident Eduard Oswald
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Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. HaraldTerpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitteschön, Kollege Dr. Terpe.
Herr Präsident! Lassen Sie mich zunächst darauf hin-
weisen, dass auf der Regierungsbank ein neues Gesicht
zu sehen ist. Herzlichen Glückwunsch, Frau Staatssekre-
tärin, zu Ihrem neuen Amt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verseuchung
von Blutprodukten mit Hepatitis-C-Viren und die daraus
entstandenen Infektionen sind schon mehrfach Thema
im Parlament gewesen. Dies betraf nicht nur die Frauen,
die in der DDR um das Jahr 1979 mit einer verunreinig-
ten Charge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wur-
den. Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die
sich in den 80er-Jahren mit Hepatitis-C-Viren durch ver-
seuchte Blutprodukte infizierten, obwohl staatliche Be-
hörden die Risiken bereits hinlänglich erkannt hatten.
Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mit dem
sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin eine gesetzli-
che Entschädigungsregelung. Infizierte Frauen erhalten
eine Entschädigung entweder als Einmalzahlung oder als
monatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung der HCV-
Infektion mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von
10 bzw. 30 Prozent einhergeht. So weit die gesetzliche
Regelung.
In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen;
das wissen wir alle. Dies betrifft vor allem die Frage, ob
die gesundheitliche Schädigung in einem ursächlichen
Zusammenhang mit der Infektion steht, insbesondere
dann, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze
liegt; darüber hat es die meisten Diskussionen gegeben.
Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeit den
betroffenen Frauen. Wir wissen jedoch, dass eine Reihe
unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schädigun-
gen durchaus auf eine Infektion mit Hepatitis C zurück-
zuführen ist, was man vielleicht primär nicht annehmen
würde. Dazu zählen neben den typischen Leberentzün-
dungen mit Fibrosen Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lun-
gen- und Gelenkerkrankungen sowie neuropsychiatri-
sche Erkrankungen wie Depressionen. In diesen Fällen
könnte die von den Linken vorgeschlagene Beweislast-
umkehr möglicherweise eine Hilfe für einzelne betrof-
fene Frauen sein, die aus dem Anti-D-Hilfegesetz resul-
tierenden Entschädigungsleistungen in Anspruch zu
nehmen. Ob diese Vermutung tatsächlich zutrifft, ob den
Frauen damit wirklich geholfen ist, werden wir sicher im
Laufe der weiteren parlamentarischen Diskussion klären
können.
Beweislastumkehr hin oder her, eines ist klar: Am
Ende bleibt die Entschädigung im Rahmen des Anti-D-
Hilfegesetzes auch dann eine Ermessensentscheidung,
wenn der Zusammenhang zwischen Infektion und Schä-
digung belegt ist; denn ein Gutachter entscheidet, wel-
chen Grad die Schädigung hat. Dieser Schädigungsgrad
bestimmt letztendlich darüber, ob eine Entschädigung
gezahlt wird und wenn, in welcher Form; das ist eine
gutachterliche Frage. Liegt der Grad der Schädigung
beispielsweise unter 30 Prozent, wird keine monatliche
Rente gezahlt. Eine solche Bewertung ist nur bis zu ei-
nem gewissen Grade objektivierbar, und sie ist weitge-
hend unabhängig davon, wer die Beweislast für die Ur-
sachen der gesundheitlichen Schädigung trägt.
Ich habe vor einigen Jahren in Mecklenburg-Vorpom-
mern selbst als Arzt im Rahmen einer ständigen Arbeits-
gruppe bei der Begutachtung solcher Fälle mitgewirkt.
Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kollegen, die
daran beteiligt waren, haben es sich bei diesen Entschei-
dungen niemals einfach gemacht. Wir haben versucht,
den Frauen auch in den Fällen gerecht zu werden, wo
nur eine eher unspezifische Symptomatik wie die schon
beschriebenen Depressionen oder Müdigkeitssymptome
vorgelegen hat. Dabei hat man sich immer am wissen-
schaftlichen Standard orientiert.
Ich will vor diesem Hintergrund nicht verhehlen, dass
ich Zweifel habe, ob die von den Linken vorgeschlagene
Lösung den Frauen weiterhilft. Vielleicht ist ein außerge-
richtliches Verfahren auf Basis verbindlich verordneter
Begutachtungskriterien, die immer wieder wissenschaft-
lich angepasst werden müssen, in Gutachterausschüssen
der bessere Weg.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Wir haben Ihnen zu danken. Kollege Dr. HaraldTerpe, vielen Dank.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/5521 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – AndereVorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Bundesversorgungsgesetzesund anderer Vorschriften– Drucksache 17/5311 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/5793 –Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. Birkwald– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/5796 –Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer
Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinRoland ClausAlexander Bonde
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12416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Sie sind damit einverstanden. Ich glaube, ich kann es miraus Zeitgründen sparen, die Namen der Kolleginnen undKollegen vorzulesen, sodass wir direkt zur Abstimmungkommen können.Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5793,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-sache 17/5311 in der Ausschussfassung anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die So-zialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand.Stimmenthaltungen? – Das sind die FraktionenBündnis 90/Die Grünen und die Linke. Der Gesetzent-wurf ist damit in der zweiten Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wiein der vorherigen Beratung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Birgitt Bender, Kai Gehring, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRehabilitierung und Entschädigung der nach1945 in Deutschland wegen homosexuellerHandlungen Verurteilten– Drucksache 17/4042 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-nen und Kollegen liegen mir hier vor. Interfraktionellwird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4042an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Die Überweisung ist somit beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPzu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zurFestlegung der technischen Vorschriften fürÜberweisungen und Lastschriften in Euro undzur Änderung der Verordnung Nr. 924/1) Anlage 132) Anlage 112009 vom 16. Dezember 2010 – KOM(2010)775 endg.Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund-lich gestalten– Drucksache 17/5768 –Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). –Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-nen und Kollegen liegen mir vor.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache17/5768. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind dieKoalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bünd-nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Die Fraktion Die Linke enthält sich. Der Antragist damit angenommen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG desEuropäischen Parlaments und des Rates vom6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingun-gen für die innergemeinschaftliche Verbrin-gung von Verteidigungsgütern– Drucksache 17/5262 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/5794 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium hier vor.
Verteidigungs- und Sicherheitsfragen wurden seit
dem Ende des Kalten Krieges weitgehend von der euro-
päischen Integration ausgeschlossen. Damit waren die
Verteidigungsmärkte fast gänzlich vom Binnenmarkt
ausgeschlossen und blieben national zersplittert. Die
überwiegend nationale Organisation der Verteidigungs-
märkte in der EU führte angesichts strenger Haushalts-
beschränkungen sowie steigender Kosten für Verteidi-
gungsgüter zunehmend zu Problemen. Voneinander
abweichende Politiken zogen oftmals einen hohen büro-
kratischen Aufwand und verschwenderischen Umgang
mit Verteidigungsausgaben nach sich. Auch sind unsere
nationalen Märkte in Europa oft zu klein, um hochwer-
tige Ausrüstung zu erschwinglichen Preisen herzustellen
und zu beschaffen. All diese Probleme haben meines Er-
achtens unsere Europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik insgesamt geschwächt.
3) Anlage 14
Erich G. Fritz
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(B)
Um erstens die bestehende Zersplitterung zu über-
winden, zweitens die Wettbewerbsfähigkeit der europäi-
schen Verteidigungsindustrie zu erhalten und drittens
eine angemessene Ausrüstung der Streitkräfte sicherzu-
stellen, hat die Kommission bereits im Dezember 2007
ein Maßnahmenpaket vorgestellt, zu dem auch die hier
beratene Richtlinie über die innergemeinschaftliche Ver-
bringung von Verteidigungsgütern zählt.
Meine Fraktion begrüßt die Umsetzung dieser Richtlinie
durch die Bundesregierung ausdrücklich, da damit die
Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Marktes
geschaffen wird.
Auch hat dann endlich dieses Durcheinander an un-
einheitlichen und überzogenen einzelstaatlichen Geneh-
migungsverfahren beim Handel mit Verteidigungsgütern
ein Ende. Durch das Wirrwarr an Genehmigungssyste-
men wird den Unternehmen nicht nur ein beträchtlicher
Verwaltungsaufwand zugemutet, sondern es werden
auch erhebliche Vorlaufzeiten, teilweise von bis zu meh-
reren Monaten, verursacht. Der daraus hervorgehende
Verwaltungsaufwand der Unternehmen und Behörden
verursacht jährlich Kosten von rund 433 Millionen
Euro. Auch unsere deutschen Unternehmen verlieren
viel Zeit und Geld mit der gegenwärtigen Regelung. Ex-
porte von Verteidigungsgütern aus der Bundesrepublik
erfordern üblicherweise eine Einzelgenehmigung, die
beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle,
BAFA, zu beantragen ist. Über politisch heikle Fälle ent-
scheidet zusätzlich das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie und bei Bedarf der Bundessi-
cherheitsrat. Der Rüstungsexportbericht der
Bundesregierung weist für das Jahr 2009 insgesamt
16 202 Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von insge-
samt rund 5 043 Millionen Euro aus. Abgelehnt wurden
128 Anträge, im Vorjahr 52. Das zeigt, dass der teil-
weise erhebliche bürokratische Aufwand in keinem Ver-
hältnis zum tatsächlichen Kontrollbedarf steht.
Ich habe es immer geschätzt, dass das deutsche Recht
– im Vergleich zu anderen europäischen Rechtsformen –
schon heute zur Verfahrenserleichterung die Möglichkeit
vorsieht, anstelle von Einzelgenehmigungen sogenannte
„Sammelausfuhrgenehmigungen“ oder „Allgemeinge-
nehmigungen“ zu erteilen. Diese Verfahren privilegieren
zuverlässige Exporteure, die im großen Stil am Außen-
wirtschaftsverkehr teilnehmen. Sind die Voraussetzungen
erfüllt, können sie exportieren, ohne zuvor einen Antrag
auf Erteilung einer Einzelexportgenehmigung beim
BAFA stellen zu müssen. Unsere Exporteure haben den
Vorteil schnellerer Liefermöglichkeit und Planungssi-
cherheit. Das spart Zeit und Geld. Konkret soll der EU-
Rechtsrahmen die Mitgliedstaaten veranlassen, den An-
wendungsbereich von Sammelausfuhr- und Allgemeinge-
nehmigungen auszuweiten.
Wir in der CDU/CSU setzen uns mit Nachdruck für
die Umsetzung der sogenannten Verteidigungsgüter-
richtlinie ein. Für unsere betroffenen Unternehmen ver-
einfacht es das Exportkontrollverfahren, unnötige büro-
kratische Hemmnisse werden abgebaut, und zugleich
kann eine stärke Fokussierung auf sensitive Verteidi-
gungsgüterexporte in Drittstaaten erfolgen. All das ge-
schieht, ohne dass die nationalen Mitgliedstaaten die
Zu Protokoll
Kontrolle über ihre Sicherheitsinteressen verlieren.
Nach wie vor können die Mitgliedstaaten selbst ent-
scheiden, welche Güter für die verschiedenen Genehmi-
gungsarten in Betracht kommen, und die Bedingungen
für diese Genehmigungen festlegen. Auch der Umstand,
dass die Richtlinienumsetzung nur geringfügige gesetz-
liche Änderungen erfordert, spricht für die innergemein-
schaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern. Die
bevorzugten Allgemeingenehmigungen können auf der
Grundlage unserer bestehenden und gut funktionieren-
Mit den verbesserten Bedingungen für den Handel
zwischen den europäischen Verteidigungsunternehmen
ebnet der Vorschlag darüber hinaus den Weg für eine
verstärkte industrielle Zusammenarbeit und optimierte
Versorgungsketten. Davon profitieren sowohl große wie
auch kleine und mittlere Unternehmen in mehreren Mit-
gliedstaaten. Das stärkt auch das gegenseitige Ver-
trauen zwischen den Mitgliedstaaten.
Wir alle wissen um die Sensibilität dieses Bereiches.
Den Mitgliedstaaten wird deshalb bei der Schaffung ei-
nes europäischen Marktes für Verteidigungsgüter eine
besondere Rolle zuteil. Die Verbringung von Verteidi-
gungsgütern in der EU unterlag bislang 27 verschiede-
nen nationalen Genehmigungssystemen, die sich in Ver-
fahren, Umfang und Fristen erheblich unterscheiden.
Diese Unterschiede stellten ein wichtiges Hindernis für
die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unterneh-
men dar – in wirtschaftlicher sowie technischer Hin-
sicht. Wichtig ist deshalb, dass die Kommission den na-
tionalen Mitgliedstaaten auch weiterhin Richtlinien
vorgibt, die für einen einheitlichen Rechtsrahmen sor-
gen. Verbindliche Gemeinschaftsinstrumente sind uner-
lässlich für eine höhere Effizienz der europäischen Ver-
teidigungsmärkte! Es ist aber genauso wichtig für ein
einheitliches europäisches Kontrollsystem.
Die Bundesregierung kommt mit ihrem Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/5262 zur Umsetzung der Richtlinie
zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemein-
schaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern erstens
ihrer Pflicht nach, die erforderlichen Rechts- und Ver-
waltungsvorschriften bis zum 30. Juni umzusetzen, und
zweitens trägt sie damit zur Schaffung eines gemeinsa-
men europäischen Marktes für Verteidigungsgüter bei.
Deutschland wahrt seine legitimen Sicherheitsinteressen
und sorgt gleichzeitig für die Einhaltung der Binnen-
marktgesetze. Dies ist im Interesse aller: der Steuerzah-
ler, der Streitkräfte und der Unternehmen. Dem Gesetz-
entwurf ist zuzustimmen.
Heute verabschieden wir den Gesetzentwurf der Bun-desregierung zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EGdes Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die inner-gemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgü-tern. Die sogenannte Verteidigungsgüterrichtlinie ist einwichtiger Schritt zur Förderung eines europäischen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12417
gegebene RedenDr. Reinhard Brandl
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Marktes für Verteidigungsgüter. Die im Jahr 2009 ver-abschiedete Richtlinie 2009/43/EG ist Bestandteil desEU-Verteidigungspakets, zu dem ebenfalls die Richtlinieüber die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe be-stimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungs-aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheitsowie die Mitteilung „Eine Strategie für eine stärkereund wettbewerbsfähigere europäische Verteidigungs-industrie“ gehören. Die Verteidigungsgüterrichtliniemuss bis 30. Juni 2011 in deutsches Recht umgesetztwerden und bis zum 30. Juni 2012 in Kraft treten. In derVergangenheit haben unterschiedliche Rechts- und Ver-waltungsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten im Vertei-digungsbereich zu einer Behinderung des Güterverkehrsund zu einer Verzerrung des Wettbewerbs geführt. DieProblematik der verschiedenen Verfahrensweisen wirdlaut der Europäischen Kommission an den geschätztenMehrkosten von 433 Millionen Euro pro Jahr deutlich.Mit der Verteidigungsgüterrichtlinie schaffen wir es, dasGenehmigungsverfahren für festgelegte Rüstungs-exporte zu vereinfachen und den Handel innerhalb derEuropäischen Union zukünftig zu erleichtern. Kernbe-standteil der Richtlinie ist die Ausweitung des An-wendungsbereichs von Allgemein- und Globalgenehmi-gungen. Nach der bisher gängigen Praxis warenEinzelgenehmigungen für Rüstungsexporte auch inner-halb der Europäischen Union die Regel. Allgemeinge-nehmigungen, die von den Mitgliedstaaten veröffentlichtwerden, gelten nach Vorgabe der Verteidigungsgüter-richtlinie, wenn es sich bei dem Exportempfänger um dieStreitkräfte eines EU-Mitgliedstaates oder um ein durchein Zertifizierungsverfahren berechtigtes Unternehmenin einem EU-Mitgliedstaat handelt. Hinzu kommen vo-rübergehende Exporte für Vorführungen, Gutachten,Ausstellungen bzw. zur Wartung und Reparatur an denursprünglichen Lieferanten. Die bereits angesprocheneGlobalgenehmigung wird für einen Zeitraum von min-destens drei Jahren an einen bestimmten Lieferanten er-teilt, der dann zur Lieferung von Verteidigungsgütern aneinen festgeschriebenen Empfängerkreis in einem bzw.mehreren EU-Mitgliedstaaten berechtigt ist. Die deut-sche Verteidigungsindustrie wird einen großen Nutzenaus dem vereinfachten Genehmigungsverfahren ziehen.Unternehmen können in Zukunft Verteidigungsgüter ex-portieren, ohne zuvor eine Einzelgenehmigung beantra-gen zu müssen. Dies wird zu kürzeren Lieferzeiten führenund den Unternehmen auf längere Sicht Planungssi-cherheit verschaffen. Zudem darf nicht außer Acht ge-lassen werden, dass es die Neuregelung gerade kleinenund mittleren Unternehmen ermöglichen wird, sich imeuropäischen Verteidigungsmarkt zu etablieren. Wir allesind uns bewusst, dass die europäische Integration ineinem solch sensiblen Bereich nur unter strengenVoraussetzungen vollzogen werden darf. Eine Verein-heitlichung der Genehmigungsverfahren der EU-Mit-gliedstaaten darf nicht zu einer Aushöhlung unserernationalen Exportkriterien führen. Die wichtigste Vo-raussetzung für die Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG ist für mich daher, dass die Mitgliedstaaten die Kon-trolle über ihre eigenen Rüstungsexportkriterien behal-ten. Unsere inhaltlichen Maßstäbe für die Beurteilungvon Rüstungsexporten – die „Politischen GrundsätzeZu Protokollder Bundesregierung für den Export von Kriegswaffenund sonstigen Rüstungsgütern“ sowie der „Gemein-same Standpunkt des Rates der Europäischen Union“von 2008 – bleiben unverändert bestehen. Ferner blei-ben die Bestimmungen über Exporte in Drittstaaten un-berührt. Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfol-gen weiterhin einzelfallbezogen und unter besondererBerücksichtigung der außenpolitischen Situation sowieder Menschenrechtslage im Empfängerland. Genehmi-gungen werden auch in Zukunft nur erteilt, wenn zuvorder Endverbleib im Endempfängerland sichergestellt ist.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist die Bundes-regierung ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Richt-linie 2009/43/EG nachgekommen. Durch die darausresultierende Entbürokratisierung der Exporte von Ver-teidigungsgütern innerhalb der Europäischen Unionwird die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Ver-teidigungsindustrie gestärkt. Darüber hinaus bringt dieVerteidigungsgüterrichtlinie eine Vereinfachung der Be-lieferung der Bundeswehr mit Verteidigungsgütern mitsich. Nicht vergessen werden darf in der Debatte, dassauch die Exportkontrollbehörden durch das neue Ver-fahren entlastet werden und sich in Zukunft stärker aufdie Kontrolle von Rüstungsexporten in Drittländer kon-zentrieren können. Die Angleichung der Genehmigungs-verfahren für Rüstungsexporte innerhalb der Europäi-schen Union, die nun mit dem Gesetzentwurf derBundesregierung umgesetzt wird, ist vor diesem Hinter-grund zu begrüßen.
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um dieUmsetzung einer EU-Richtlinie. Es handelt sich dabeium die Richtlinie der Europäischen Union zur Vereinfa-chung der Bedingungen für die innergemeinschaftlicheVerbringung von Verteidigungsgütern. Ziel dieser Richt-linie ist die Vereinfachung der Vorschriften und Verfah-ren für die Verbringung von Verteidigungsgütern zwi-schen den EU-Mitgliedstaaten. So soll das reibungsloseFunktionieren des Binnenmarktes sichergestellt undmögliche Wettbewerbsverzerrungen abgeschafft werden.Darüber hinaus sollen Innovationen, industrielle Zusam-menarbeit und Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungs-industrie der EU gefördert werden. Im deutschen Rechtmüssen dafür das Außenwirtschaftsgesetz, AWG, die Au-ßenwirtschaftsverordnung, AWV, die Verordnung zur Re-gelung von Zuständigkeiten im Außenwirtschaftsverkehr,das Kriegswaffenkontrollgesetz, KrWaffKontrG, sowiedie Erste Verordnung über Allgemeine Genehmigungennach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffengeändert werden.Der SPD-Bundestagsfraktion ist es besonders wich-tig, dass sichergestellt ist, dass durch eine europäischeHarmonisierung die deutschen Regeln nicht aufge-weicht werden, und sie möchte, dass an den restriktivendeutschen Rüstungsexportregeln auch in den EU-Be-stimmungen festgehalten wird. Dazu haben wir auch ei-nen Antrag mit dem Titel „Mit Transparenz und parla-mentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung vonRüstungsexporten“ eingebracht. Wir möchten zu einer„Kultur der Zurückhaltung“ und „restriktiven“ Be- gegebene Reden
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12418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Rolf Hempelmann
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handlung von Rüstungsexporten zurückkehren und wol-len die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch dieHintertür einer europäischen Harmonisierung verwäs-sern. Außerdem mahnen wir eine schnellere und verläss-lichere Veröffentlichung des Rüstungsexportberichtes,spätestens sechs Monate nach Ablauf des jeweiligen Ka-lenderjahres, an. Was soll sich aber mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf ändern? In Zukunft ist die Erteilungvon Allgemeinen Genehmigungen und Globalgenehmi-gungen, Sammelausfuhrgenehmigungen, vorgesehen.Außerdem werden ein europaweites Zertifizierungsver-fahren und ein Kommunikationsportal beim Bundesamtfür Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, eingeführt.Konkret sieht es so aus, dass für die Allgemeinen Geneh-migungen die existierende und schon in § 1 Abs. 2 AWVnormierte Allgemeinverfügung genutzt wird, währenddas Kriegswaffenkontrollgesetz, welches den Erlass vonAllgemeinen Genehmigungen nur in Sonderfällen vor-sieht, dementsprechend geändert wird, dass AllgemeineGenehmigungen als Verordnungen der Bundesregierungerteilt werden können. Durch die nun vorliegende Geset-zesänderung wird die freiwillige Zertifizierung des aus-führenden Unternehmens eingeführt. Eine vorherigeZertifizierung wird zwar den Verwaltungsaufwand derausführenden Unternehmen im Genehmigungsverfahrenverringern und langfristig die Verwaltungskosten redu-zieren. Trotz allem dürfen die Zertifikate nicht „ewig“gelten. Im Entwurf ist eine maximale Gültigkeit vonhöchstens fünf Jahren vorgesehen. Jedoch sollte die Ma-ximaldauer nur in seltenen Fällen ausgenutzt werden.Eine kürzere Geltungsdauer birgt die Möglichkeit, beiNeubeantragung regelmäßig und in kürzeren Abständendie Voraussetzungen für die Beurteilung der Zuverläs-sigkeit der Antragsteller zu überprüfen; denn wir redenüber den hochsensiblen Bereich der Rüstungsexporte.Hier sollten wir häufiger hinschauen und prüfen.Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für Transpa-renz gerade bei der Ausfuhr von Gütern in diesem hoch-sensiblen Bereich ein. Aus diesem Grund begrüßen wirdie Normierung der bisher schon geltenden Praxis zuden Informations- und Buchführungspflichten. Jedoch istes unbefriedigend, dass Endverwendung und Endver-wender nur, soweit bekannt ist, angegeben werden müs-sen. Hier wäre eine striktere Regelung angebracht gewe-sen, um den Endverbleib überprüfen und sicherstellen zukönnen und den ungewollten Weitertransport zu minimie-ren bzw. auszuschließen. Auch Verteidigungsgüter imSinne des Gesetzes bzw. der Richtlinie müssen demGrundsatz der Endverbleibsklausel unterliegen. Diedurch das vorliegende Gesetz vorgesehenen Änderungensetzen die europäischen Vorgaben um. Die Regelungengelten für die Lieferung oder Beförderung von Waffenbzw. sonstigen Gütern, die militärisch genutzt werdenkönnen, zwischen den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion. Für andere Lieferungen außerhalb der Europäi-schen Union gelten die bisherigen Regelungen weiterhin.Auch wenn es sich also nur um die Umsetzung von euro-päischen Vorgaben handelt, gilt gerade vor dem Hinter-grund der Allgemeinen Genehmigungen und Globalge-nehmigungen das Gebot der besonderen Wachsamkeitan den EU-Außengrenzen. Wir brauchen größtmöglicheTransparenz bezüglich eventueller WeiterverbringungZu Protokolldieser hochsensiblen Güter aus der EuropäischenUnion.
Der vorliegende Entwurf des Gesetzes zur Umsetzungder Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachungder Bedingungen für die innergemeinschaftliche Ver-bringung von Verteidigungsgütern ist ausdrücklich zubegrüßen. Mit dem eingebrachten Entwurf des Gesetzessoll eine Rechtslage geschaffen werden, die sowohl denStandort Deutschland als auch den europäischen Rüs-tungsmarkt durch die angestrebte Vereinfachung undden Bürokratieabbau im Rahmen der Zertifizierung vonRüstungsgütern attraktiver macht, die Rechtssicherheitfür Rüstungsgüter deutlich verbessert und sich punktge-nau auf das Wesentliche ausrichtet.Die diesem Entwurf zugrunde liegende Idee, die Ko-operationsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustriezu stärken, ist als zentrale Komponente einer zukünfti-gen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitikausdrücklich und nachhaltig zu begrüßen. Die sinnvolleUmsetzung der Richtlinie wird die anfallenden Kostenfür die Unternehmen auf ein Mindestmaß reduzieren unddurch die innovative Umsetzung der Zertifizierungsver-fahren Kosteneinsparungen für Unternehmen und Mit-gliedstaaten mit sich bringen. Die Umsetzung der Richt-linie soll der Vereinheitlichung des Zertifizierungs-verfahrens im europäischen Rüstungsmarkt dienen undwird diesem Ziel auch gerecht.Die Einführung eines empfängerbezogenen Zertifizie-rungsverfahrens, im Zusammenhang mit der Allgemein-genehmigung, kann zwar zu anfänglichen zusätzlichenKosten auf Behörden- und Unternehmensseite führen.Auf mittelfristige Sicht wird es aber durch den unkom-plizierteren Warenaustausch zu wechselseitigen Einspa-rungen kommen. Das Zertifizierungsverfahren stellt ei-nen grundlegenden Systemwechsel im Ausfuhrgeneh-migungsverfahren der Mitgliedstaaten dar. Die Allge-meinen Genehmigungen entlasten die betreffenden Un-ternehmen in ihrem Anwendungsbereich von dem Erfor-dernis, Einzel- bzw. Sammelausfuhrgenehmigungen zubeantragen.Die zertifizierten Unternehmen werden nun größereRechts- und Planungssicherheit beim Bezug von Vertei-digungsgütern erlangen. Zudem werden – unabhängigvon der Umsetzung der Verteidigungsgüterrichtlinie –die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um Verwal-tungsakte im Außenwirtschaftsverkehr im Zuständig-keitsbereich des Bundesamtes für Wirtschaft und Aus-fuhrkontrolle, BAFA, elektronisch zu beantragen und zuübermitteln. Durch Nutzung des elektronischen Kommu-nikationsportals des BAFA kann es zu weitergehendenKosteneinsparungen der betreffenden Unternehmenkommen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den Ge-setzentwurf als maßgeblichen Schritt zur Vereinfachungder Verbringung von Rüstungsgütern und zur Schaffungeinheitlicher Marktstandards auf dem europäischenRüstungsmarkt. Hiervon profitieren sowohl die Streit-kräfte der europäischen Mitgliedstaaten als auch die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12419
gegebene Reden
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12420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dr. Martin Lindner
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von dieser Richtlinie erfassten Verteidigungsgüter pro-duzierenden Unternehmen. Wir sind davon überzeugt,dass mit den in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maß-nahmen die europäischen Vorgaben erreicht werden, dieRechtssicherheit für deutsche Rüstungsunternehmen ge-stärkt und die Genehmigungsverfahren von Rüstungsgü-tern im europäischen Binnenmarkt entscheidend verbes-sert werden.
Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung, der die EU-Richtlinie zur Verein-
fachung der Bedingungen der Verbringung von Rüs-
tungsgütern innerhalb der EU – kurz: Verteidigungs-
güterrichtlinie – in nationales Recht umsetzen soll. Im
Kern geht es um die Schaffung eines Lizensierungssys-
tems. Es soll europäischen Rüstungsfirmen ermöglichen,
nach Durchlaufen einer Zuverlässigkeitsprüfung, eine
zeitlich befristete Genehmigung für den Austausch von
Rüstungsgütern mit anderen, lizensierten Unternehmen
zu erhalten. Einzelne Ausfuhren müssen dann nur noch
im Nachhinein gemeldet werden. Die Verbringung von
Rüstungsgütern innerhalb der EU wird also vereinfacht
und die Kontrolle gelockert. Die vorliegenden Ände-
rungsvorschläge für das Außenwirtschaftsgesetz, die
Außenwirtschaftsverordnung, das Kriegswaffenkontroll-
gesetz und die Verordnung über allgemeine Genehmigun-
gen setzen die Forderung der europäischen Richtlinie
fast wörtlich um. Die Kriterien für die Zuverlässigkeits-
prüfung werden direkt in nationales Recht überführt.
Verstöße werden mit Bußgeldern belegt, was ebenso den
Forderungen der EU entspricht.
Eine solch direkte und gesetzlich bindende Umset-
zung einer EU-Richtlinie hätte ich mir persönlich auch
für den Gemeinsamen Standpunkt der EU für die Kon-
trolle der Ausfuhr von Militärtechnologien und Militär-
gütern gewünscht. Mit gesetzlicher Bindungskraft hätten
die dort enthaltenen Kriterien für Rüstungsexporte zahl-
reiche Ausfuhren deutscher Firmen in äußerst fragwür-
dige Empfängerländer verhindert. Andere Staaten sind
uns da einen Schritt voraus und haben dem Kodex diese
gesetzliche Bindungskraft verliehen. Auf europäischer
Ebene besteht in der Konsequenz ein Gefälle zwischen
den Mitgliedstaaten der EU, was die Einhaltung des
EU-Kodex für Rüstungsausfuhren betrifft. Ähnliche Un-
terschiede in der Anwendung sind auch bei der Verteidi-
gungsgüterrichtlinie zu befürchten. Die Staaten sind
zwar angehalten sich über mögliche Verstöße und Fehl-
verhalten der Rüstungsfirmen auszutauschen, eine
Überwachung oder zumindest Unterstützung durch eine
europäische Einheit ist jedoch nicht vorgesehen. Somit
bleibt es fraglich, ob die Zertifizierungsstandards tat-
sächlich überall gleich streng angewandt und über-
wacht werden. Fälle sind denkbar, in denen Mitglied-
staaten aus nationalen Interessen davon absehen,
fragwürdige Geschäftspraktiken von Unternehmen bzw.
Verstöße gegen die Zertifizierungskriterien gegenüber
den anderen Mitgliedstaaten anzuzeigen. Die strategi-
sche Bedeutung der Rüstungsindustrie wird mancherorts
äußerst stark gewichtet, und somit bestünde hier ein be-
sonderer Anreiz, das Regelwerk zumindest bis aufs Äu-
ßerste auszureizen.
Auch wenn die Verteidigungsgüterrichtlinie formell
die Ausfuhr von Rüstungsgütern an Staaten jenseits der
Grenzen der Europäischen Union nicht berührt, sind
auch hier Auswirkungen zu befürchten. Teilkomponen-
ten, die im Rahmen der hier vorgeschlagenen Änderun-
gen leichter in andere EU-Mitgliedstaaten geliefert wer-
den, könnten dort verbaut und weiter ausgeführt werden.
Da die Exportstandards und Exportpolitiken der ande-
ren Mitgliedstaaten teilweise weniger streng sind als die
der Bundesregierung, ist zu befürchten, dass noch mehr
deutsche Rüstungsgüter weltweit in den Umlauf gelan-
gen und auch kritische Empfängerländer deutsche
Rüstungsgüter erhalten. Wer nun auf die deutsche End-
verbleibskontrolle und Reexportklauseln verweist, dem
möchte ich das Beispiel der mit deutschen Komponenten
bestückten Panzerabwehrraketen vor Augen führen, die
via Frankreich auf beiden Seiten des Libyen-Konfliktes
ihren Dienst verrichten.
Die aufgezeigten Risiken sind natürlich nicht aus-
schließlich an dem vorgelegten Gesetzentwurf festzuma-
chen, er trägt aber zu einer Aufweichung des deutschen
Rüstungsexportregimes bei. Das dürfen wir nicht zulas-
sen, schon gar nicht auf diese Art und Weise, auf die die
Bundesregierung versucht hat, diesen Gesetzentwurf
völlig ohne Debatte durch das Parlament zu bringen. Als
Grünenfraktion werden wir ihn deshalb ablehnen. Die
Bundesregierung wäre besser beraten, sich europaweit
für eine restriktivere und besser kontrollierte Rüstungs-
exportpolitik einzusetzen. Was die Transparenz und par-
lamentarische Kontrolle der Genehmigungspraxis der
Regierung betrifft, sind uns viele unserer europäischen
Nachbarn deutlich voraus. Daran könnten wir uns ein
Beispiel nehmen. Wenn europäische Standards verein-
heitlicht werden, dann sollte dies nicht nur bei der ver-
einfachten Verbringung, sondern vor allem auch bei der
Ausfuhrkontrolle geschehen!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürWirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/5794, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5262 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koali-tionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmtdagegen? – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/DieGrünen und Die Linke. Enthaltungen? – Keine. Der Ge-setzentwurf ist in der zweiten Beratung so angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsergebniswie in der vorherigen Abstimmung angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so-wie den Zusatzpunkt 6 auf:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12421
Vizepräsident Eduard Oswald
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a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Gesundheit
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth ,Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDGesundheit ist ein globales öffentliches Gut –Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHOin der „Global Health Governance“ stärken– Drucksachen 17/5486, 17/5800 –Berichterstattung:Abgeordneter Stephan Strackeb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,Dr. Harald Terpe, Marieluise Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN„Global Health Governance“ stärken – Ge-sundheitsversorgung in Entwicklungs- undSchwellenländern voranbringen– Drucksachen 17/3437, 17/5801 –Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss
Karin Roth
Helga DaubNiema MovassatUwe KekeritzZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten UweKekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai1959 kündigen – Für eine unabhängige und ef-fektive WHO– Drucksache 17/5769 –Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben.1) –Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-nen und Kollegen liegen dem Präsidium hier vor.Tagesordnungspunkt 19 a. Beschlussempfehlung desAusschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktionder Sozialdemokraten mit dem Titel „Gesundheit ist einglobales öffentliches Gut – Rolle der Weltgesundheitsor-ganisation WHO in der ‚Global Health Governance‘stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5800, den Antrag derFraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/5486abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Bündnis 90/DieGrünen und die Fraktion Die Linke. Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen.1) Anlage 12Tagesordnungspunkt 19 b. Beschlussempfehlung desAusschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „,Global Health Governance‘ stär-ken – Gesundheitsversorgung in Entwicklungs- undSchwellenländern voranbringen.“ Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5801, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/3437 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Bündnis 90/DieGrünen und die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – So-zialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5769mit dem Titel „Vertrag zwischen IAEO und WHO vomMai 1959 kündigen – Für eine unabhängige und effek-tive WHO“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sinddie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die FraktionDie Linke, und das ist eine Stimme der Sozialdemokra-ten. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfrak-tionen. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der SPD miteiner Ausnahme. Der Antrag ist abgelehnt.Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten ErikaSteinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-wie der Abgeordneten Marina Schuster, PascalKober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDPSituation der Sinti und Roma in Europa ver-bessern– Drucksache 17/5767 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
10 bis 12 Millionen Roma leben in Europa. Sie bilden
in den europäischen Staaten die größte historisch ge-
wachsene ethnische Minderheit. Zu ihnen zählen neben
der Gruppe der Sinti die Kalé, Gitanos, Manouches,
Fahrende und Gens du Voyage. Die Aufzählung der
Gruppen, die sich selbst zu den Roma zählen, ist Indiz
für die Vielzahl der Traditionen, unterschiedlicher
Lebensweisen und Lebenssituationen. Die Kultur der
Roma ist fester Bestandteil ihrer ethnischen Identität.
Erika Steinbach
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Ihre religiösen Bräuche sind untrennbar mit kulturellen
Ausdrucksformen verbunden. Unser Antrag erwähnt
auch, dass die Sprache der Roma, ihre Reinheitsgebote
und ihr Rechtssystem feste Bestandteile ihrer Identität in
unterschiedlicher Intensität und Ausprägung sind.
Heute sind schätzungsweise 80 Prozent der Roma sess-
haft. Mehr als 1 800 nationale Romaorganisationen ge-
hören dem European Roma and Travellers Forum an,
das eine privilegierte Stellung innerhalb des Europara-
tes einnimmt und dem Teilnahme an den Entscheidungs-
prozessen des Europarates eingeräumt sowie dessen
Unterstützung zugesichert werden. Auch die große Viel-
falt innerhalb der Roma-Gemeinschaft bringt es mit
sich, dass keine pauschalen Lösungen für die Verbesse-
rung der Situation dieser Minderheit aus dem Ärmel ge-
schüttelt werden können.
Und doch sind bereits – ungeachtet der noch immer
in vielen Ländern Europas schwierigen Situation der
Roma – erste Lösungsansätze gefunden, die es dringend
zu implementieren gilt. Wichtig ist – das will ich betonen –,
dass sowohl die EU-Mitgliedstaaten mit ihren nicht den
Roma angehörenden Bürgerinnen und Bürgern als auch
die Roma und ihre Organisationen selbst in gemein-
schaftlicher Verantwortung an den notwendigen Verbes-
serungen mitarbeiten wollen und müssen.
Es reicht nicht, zu fordern und die Rahmenbedingun-
gen für eine Integration der Roma-Kinder und der Ju-
gendlichen ins Schulsystem der europäischen Staaten zu
schaffen. Die Roma müssen ihren Kindern auch die
Möglichkeit einräumen, die Schule zu besuchen. Der
Anteil der Romakinder im Schulalter macht es dringend
notwendig, dass die staatlichen Schulsysteme die Kinder
aufnehmen. 35,7 Prozent der Roma sind unter 15 Jahre
alt. Einer Erhebung des Open Society Institute aus dem
Jahr 2008 zufolge besuchen nur rund 10 Prozent der Ro-
makinder eine Sekundarschule, eine nur begrenzte Zahl
schließt die Grundschule ab. Bildung jedoch ist der
Schlüssel zur Integration. Schule weist Lebenschancen
zu und ist in den Mitgliedstaaten der EU eine unver-
zichtbare Institution der Sozialisation.
Diese Chancen müssen durch die jungen Roma er-
griffen werden; denn der Mehrheit der Roma im er-
werbsfähigen Alter fehlt die notwendige Bildung für
zahlreiche Arbeitsstellen. Oft jedoch fehlt der Wille, der
die Voraussetzung für Integration ist, der Wille, neue
Wege zu gehen. Die Roma selbst sind aus ihren Traditio-
nen heraus auf Separation bedacht. Nach wie vor sind
Roma europaweit Intoleranz und Vorurteilen ausgesetzt.
Sie sind insbesondere von Diskriminierung betroffen,
vor allem in den gesellschaftlichen Bereichen des Woh-
nens, des Arbeitens, der Bildung und der medizinischen
Versorgung. Diese Diskriminierung findet weniger
durch die jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen, son-
dern aus dem Alltagsverständnis der Menschen heraus
statt.
Die Problemlage ist also sehr komplex. Umso begrü-
ßenswerter sind die Ansätze auf europäischer Ebene.
Für die Förderung der Integration der Roma steht be-
reits ein legislatives, finanzielles und politisches Instru-
mentarium zur Verfügung. Mit verschiedenen Struktur-
Zu Protokoll
fonds, wie mit dem Europäischen Sozialfonds, hält die
EU Geldmittel bereit, die auch für die gesellschaftliche
Integration der Roma und anderer benachteiligter
Gruppen in Anspruch genommen werden können.
Unter dem spanisch-belgisch-ungarischen Ratsvor-
sitz wurde die soziale und wirtschaftliche Integration
der Roma zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht. Am
5. April 2011 veröffentlichte die Europäische Kommis-
sion eine Mitteilung zu einem europäischen Rahmen für
nationale Strategien zur Integration der Roma. Sie ver-
anschlagt im EU-Haushalt dafür bis zu 26,5 Milliarden
Euro, um die Mitgliedstaaten bei ihren Maßnahmen zur
Verbesserung der sozialen Integration auch der Minder-
heit der Roma zu unterstützen.
Die Achtung und der Schutz von Minderheiten zählen
zu den Kopenhagener Kriterien. Diese müssten eigent-
lich alle Staaten erfüllen, bevor sie der Europäischen
Union beitreten können. Aber wie in einigen anderen
Bereichen auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfah-
ren in der Frage der Roma sehr leichtfertig über gravie-
rende Defizite, die es bis zum heutigen Tage gibt,
hinweggegangen. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür
dankbar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das
Schicksal und die Situation der Roma dieses Jahr zu ei-
nem zentralen Thema gemacht hat, und das vor dem
Hintergrund, dass es in Ungarn selbst problematische
Situationen gibt.
In Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskri-
minierung noch eine Ausgrenzung der Roma. Aber es
gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche
Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem
Hause vermutlich klar. Wichtig ist, dass die in Deutsch-
land lebenden Sinti und Roma alle Möglichkeiten der
Teilhabe haben. Deutschland trägt bereits auf europäi-
scher Ebene zur Integration der Roma bereits auf viel-
fältige Weise bei. In den Ländern des westlichen Balkans
fördert Deutschland aktiv sowohl in internationalen Fo-
ren wie der OSZE und des Europarates als auch durch
verschiedene bilaterale Projekte die Integration der
Roma. Ein Beispiel ist die Förderung zahlreicher Pro-
jekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen des Stabi-
litätspaktes sowie im Rahmen der Menschenrechte. Viel
gemeinsame Arbeit ist noch zu leisten, durch die Mit-
gliedstaaten und alle Bürgerinnen und Bürger, Roma
wie Nichtroma. Integration ist immer eine gemeinsame
Sache und kann auch nur durch das Zusammenwirken
der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit gelingen.
Der uns seit diesem Mittwoch morgen vorliegendeAntrag der CDU/CSU und FDP zu der Situation derSinti und Roma liest sich, wie sich Waschlappen anfüh-len. Keine einzige der zwölf Forderungen verlangt vonder Bundesregierung in Zukunft ein Mehr an Engage-ment. Stattdessen bleiben Sie Ihrem „Weiter so!“-Mottotreu. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie diesen Antrag tat-sächlich aus bloßer Verlegenheit eingebracht haben. Ihrmangelndes Interesse an dem Thema und Ihre man-gelnde Handlungsbereitschaft bleiben dennoch nichtverborgen. gegebene Reden
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12422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Angelika Graf
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Ich bedauere sehr, dass Sie Ungarn und dessen aktu-ellen EU-Ratsvorsitz für die Fortsetzung des Engage-ments in der Romadekade und bei der Verabschiedungdes Rahmenbeschlusses für die nationalen Strategienzur Romaintegration loben, aber zu den aktuellen Vor-kommnissen in Ungarn schweigen. Spätestens kurz vorOstern wurde auch in unserer Presse bekannt, dassRechtsradikale in Ungarn zurzeit Jagd auf Roma ma-chen: „Kommt nur raus, ihr Zigeuner, heute Abend wer-det ihr sterben“, so etwas musste der 13-Jährige vonRechtsextremisten verprügelte Romajunge aus Gyöngy-öspata, einem 2 800-Seelen-Dorf in der Nähe von Buda-pest, hören. Und das ist kein Einzelfall. „Schutzmach-ten“ und Bürgerwehren haben sich gebildet. MitSchlägen, Steinen und Fackeln attackierten sie wieder-holt die Romabewohner seines Dorfes. Zu Ostern gab eseinen rechtsradikalen Ansturm auf das Dorf, woraufhindas Rote Kreuz 300 Romabewohner mit Bussen evaku-ierte. Die ungarische Regierung nannte dies einen „langgeplanten Ausflug“, ich nenne dies „Augen verschlie-ßen“. Die allgemeinen rechtsradikalen Tendenzen unddie aktuellen Ausbrüche finden bei der rechtskonservati-ven Alleinregierung unter Victor Orban leider kein poli-tisches Gegengewicht.Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass Sintiund Roma die bei weitem unbeliebteste ethnische Min-derheit in Europa ist. Unabhängig davon, dass es gene-rell diskriminierend ist, Sympathien nach Gruppenzuge-hörigkeiten zu verteilen – der Antiziganismus gewinnt inEuropa an Fahrt, trotz zahlreicher guter Initiativen undProgrammen der Europäischen Union. So begrüße ichausdrücklich die Initiative des Europäischen Parla-ments, welche alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, na-tionale Integrationsstrategien bis zum Ende des Jahresvorzulegen.Auch Sie erwähnen und begrüßen diese Strategie inIhrem Antrag. Aber leider verpassen Sie die Möglich-keit, eine deutsche nationale Strategie anzukündigenund die Situation in unserem Land kritisch zu reflektie-ren. Es wird gefordert, die Wohn-, Bildungs-, Arbeits-und Gesundheitssituation in anderen europäischen Län-dern zu verbessern. Sicherlich gibt es Abstufungen:Roma in Ungarn, Rumänien oder der Slowakei leben un-ter noch schwierigeren Bedingungen als in Deutschland.Aber Zoni Weisz hat bei seiner Rede im Januar 2011 vordem Deutschen Bundestag keinen Zweifel gelassen: Wirmüssen uns auch in Deutschland mit der Lebenssitua-tion der Sinti und Roma beschäftigen. Auch in Deutsch-land sind Romakinder überdurchschnittlich häufig inHaupt- und Sonderschulen beschult, haben kaum Aus-sicht auf höhere Bildungsabschlüsse oder reguläre Be-schäftigung. Wir müssen uns hier im Rahmen der natio-nalen Integrationsstrategien mit Romaverbänden unddem Zentralrat zusammensetzen und gemeinsam Lö-sungsansätze entwickeln.Etwas mehr hätte ich mir auch zu dem Thema Rück-führungen in das Kosovo versprochen. Denn auch Siewissen, die Lebenssituation von Roma, Ashkali undÄgyptern ist im Kosovo von Diskriminierung und darausresultierender extremer wirtschaftlicher Not geprägt.Deshalb muss unserer Meinung nach in jedem EinzelfallZu Protokollbesonders sorgfältig geprüft werden, ob den Betroffenendie Rückkehr ausnahmsweise zumutbar ist. Ist dies nichtder Fall, darf keine Abschiebung erfolgen. Es gibt nachwie vor im Kosovo keine ausreichende Aufnahme- undIntegrationskapazität für Minderheiten, Kranke odermittellose Rückkehrer. Unterstützung gibt es weder vonkosovarischen noch von internationalen Institutionen.Zwar hat die kosovarische Regierung 2007 ein Pro-gramm zur Reintegration von Rückkehrern aufgelegt.Aber die Behörden halten ihre diesbezüglichen Ver-pflichtungen nicht ein. Abgeschobene Rückkehrer sinddeshalb entweder völlig auf sich selbst gestellt oder aufHilfe aus dem Familienverbund angewiesen. EineUNICEF-Studie belegt dies und weist auf die Auswir-kungen hin: Kinder können nicht mehr in die Schule ge-hen, Familien leben wohnungs- und obdachlos. Per-spektive: null. Ich frage mich, wie Sie dies in Kenntnisdieser Situation mit Ihrem christlichen Gewissen undmit unserem Grundgesetz zu rechtfertigen glauben. Ichappelliere an Sie: Nehmen Sie die Aufforderung zur Ent-wicklung einer nationalen Strategie ernst, entwickelnSie diese mit den Romaverbänden und dem Zentralrat.Holen Sie die Bundesländer und Gemeinden ins Boot.Stoppen Sie die unreflektierten Abschiebungspläne undsetzen Sie sich für eine humanere Lösung ein. NehmenSie Ihre Verantwortung innerhalb Europas wahr undverwandeln Sie Ihr „Weiter so!“ in ein „Mehr Engage-ment“. Wie Sie das machen können, dürfen Sie gern un-serem demnächst eingereichten Antrag entnehmen.
Wie wir im März angekündigt haben, bringen wir nuneinen eigenen Antrag der christlich-liberalen Koalitionzur Integration der Sinti und Roma in den DeutschenBundestag ein. Inhaltlich ausgewogen und sachorien-tiert, zielt er auf eine effektive Verbesserung der gesell-schaftlichen Situation der Roma und Sinti in Deutsch-land und Europa ab. Der als „Porajmos“ bezeichneteVölkermord an den europäischen Sinti und Roma in derZeit des Nationalsozialismus bedingt die besondere his-torische Verantwortung Deutschlands gegenüber diesenMenschen. Mit seiner bewegenden Rede in diesem Haushat uns Zoni Weisz am 27. Januar, dem Gedenktag für dieOpfer des Nationalsozialismus, an unsere Geschichteerinnert. Er war der erste Vertreter der Sinti und Roma,der bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestagesdas Wort ergriffen hat. Mit dem Begriffspaar „Sinti undRoma“ wird die etwa 10 bis 12 Millionen Menschen um-fassende und damit größte ethnische Minderheit Europasbezeichnet. Es ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl vonVolksgruppen, die in allen Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union beheimatet sind. Sie leben bereits seit Jahr-hunderten in Europa. Sie gehören zu uns, das wird allzuhäufig vergessen.Seit einigen Jahren beobachten wir europaweit er-schreckenderweise einen zunehmenden Schub von Ras-sismus und Nationalismus, der sich häufig gegen Sintiund Roma richtet. So auch derzeit in Ungarn, wo dierechtsextreme und offen antiziganisch auftretende ParteiJobbik als drittstärkste Partei im ungarischen Parla-ment sitzt. Eine selbsternannte Bürgerwehr hat in den
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12423
gegebene RedenPascal Kober
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letzten Monaten mehrfach mit provokanten Aufmär-schen die ungarischen Roma in Angst und Schreckenversetzt. Wie es scheint, reicht dieses rechtsextreme Ge-dankengut auch bis tief in die ungarische Polizei hinein.In vielen Ländern Europas sind Sinti und Roma Intole-ranz und Vorurteilen ausgesetzt. Im gesellschaftlichenAlltag findet ihre Diskriminierung vor allem in den Be-reichen des Wohnens, des Arbeitens, der Bildung undder medizinischen Versorgung statt. Die Situation gro-ßer Teile der Sinti und Roma hat sich während der letz-ten Jahrzehnte in dieser Hinsicht erheblich verschlech-tert. Heute wohnen diese Menschen häufig segregiert,teilweise kommt es zu einer Ghettoisierung, ihre Stadt-viertel werden stigmatisiert. Europaweit werden über-durchschnittlich viele ihrer Kinder in Sonderschulen oderin reine Schulen für Sinti und Roma mit vereinfachtemLehrplan abgeschoben. Dadurch erhalten ihre Kindereine deutlich schlechtere Schulbildung als ihre Altersge-nossen, verlieren jede Chance auf gesellschaftliche Inte-gration, Arbeit und damit auf individuelle Freiheit. Diesverstärkt Armut und Perspektivlosigkeit unter den Sintiund Roma und fördert ihre soziale, kulturelle und wirt-schaftliche Ausgrenzung. Teilweise werden sie sogar Op-fer von offener, fremdenfeindlicher, körperlicher Gewalt.Darüber hinaus ist uns als FDP besonders darangelegen, auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Über-durchschnittlich häufig werden Sinti und Roma Opfervon Menschenhandel; in einigen EU-Staaten machen siebis zu 80 Prozent der Opfer aus. Meist geschieht dieszum Zwecke der sexuellen Ausbeutung oder der Zwangs-arbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der Armut die-ser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart mit Perspek-tivlosigkeit und einem eingeschränkten Zugang zurechtsstaatlichen Mitteln. Daher halte ich es für richtig,dass unser Antrag die Bundesregierung auffordert, auchin Zukunft bei der Bekämpfung des Menschenhandelsverstärkt auf die Sinti und Roma zu achten.Unser vorliegender Antrag benennt all diese komple-xen und interdependenten Probleme deutlich. Auch dieBundesregierung hat diese Probleme erkannt und be-teiligt sich aktiv an nachhaltigen Lösungen auf natio-naler, aber eben besonders auf europäischer Ebene. InDeutschland – um nur zwei konkrete Beispiele zunennen – arbeitet die Bundesregierung im Beirat der An-tidiskriminierungsstelle des Bundes eng mit dem Zentral-rat Deutscher Sinti und Roma zusammen. Sie unterstütztdas Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sintiund Roma in Heidelberg und stärkt damit die For-schungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Auch dieBundesländer und Kommunen sind in Form von kulturel-len und sozialen Projekten sehr aktiv, um die gesell-schaftliche Integration der Sinti und Roma zu fördern,wobei gleichzeitig ihre Identität, Kultur und Sprachegewahrt werden müssen.Anhand einiger Beispiele möchte ich außerdem kurzverdeutlichen, dass die Bundesregierung auch ihre in-ternationalen Verpflichtungen und ihre Verantwortunggegenüber den Sinti und Roma ernst nimmt. Aktuell istdie Bundesregierung in vielerlei Hinsicht bemüht, ihreIntegration in Deutschland und Europa zu unterstützen.Dazu gehört nicht nur die aktive Rolle der Bundes-Zu Protokollregierung in internationalen Foren wie der OSZE oderdem Europarat. Das Auswärtige Amt fördert zahlreicheMenschenrechtsprojekte zur Unterstützung der Sinti undRoma im Rahmen des EU-Stabilitätspaktes für Süd-osteuropa. Die Bundesregierung unterstützt EU-weiteKampagnen wie „Dosta!“, die durch Aufklärung zumAbbau von Vorurteilen und Ausgrenzung beitragen, undmacht sich in der EU dafür stark, die EuropäischeGrundrechtecharta als Teil des Primärrechts konse-quent in die Praxis umzusetzen.Genau hier müssen wir unsere Arbeit fortsetzen unduns um eine europaweite Integration der Sinti und Romabemühen. Folgerichtig fordert unser Antrag daher dieBundesregierung auf, sich weiterhin bi- und multilateralfür die Verbesserung der Situation der Sinti und Roma inEuropa einzusetzen. Zoni Weisz hat uns ermahnt, esdürfe nicht sein, dass Sinti und Roma im 21. Jahrhundertimmer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chanceauf eine bessere Zukunft beraubt werden. Ich denke, un-ser Antrag zeugt davon, dass wir uns seine Mahnung zuHerzen nehmen.
Bereits zum dritten Mal befasst sich das Plenum desDeutschen Bundestages in diesem Jahr, also 2011, mitder Situation der Sinti und Roma in der Geschichte undaktuell, in Europa und hierzulande. Das ist bemerkens-wert, aber auch nötig. Sinti und Roma sind die in Europaam meisten – vielfach systematisch – diskriminierte Be-völkerungsgruppe. In Frankreich wurden sie des Landesverwiesen. In Rumänien müssen sie in Ghettos leben. Inder Slowakei wurde ihnen gleichberechtigte Bildungverwehrt. In Ungarn trommeln rechte Schlägertruppszur Hatz gegen sie, ohne dass der Staat die so bedrohtenSinti und Roma hinreichend schützt.Aber auch die Bundesrepublik Deutschland ist nichtfrei von Schuld. Zwei Drittel aller hier lebenden Sintiund Roma fühlen sich benachteiligt und ausgegrenzt,schätzt der Zentralrat der Sinti und Roma ein. Und derDeutsche Presserat gibt kund: In jeder seiner Sitzungenmüsse er sich mit Beschwerden zum medialen Umgangmit Sinti und Roma befassen. Ich belasse es bei dieserknappen Schilderung. Aber schon sie zeigt: Es gibt aku-ten Handlungsbedarf.Die EU-Kommission hat Anfang April 2011 einen„Rahmen für nationale Strategien zur Integration derRoma bis 2020“ beschlossen. Nach einer umfangreichenAnalyse mit Handlungsempfehlungen mündet er in das„Fazit: Jetzt ist Handeln angezeigt“, und zwar im Drei-klang „EU, national und regional“. Diesem Anliegen,so unterstelle ich positiv, folgen die CDU/CSU und dieFDP mit ihrem Antrag „Situation der Sinti und Roma inEuropa verbessern“, zumal einige Passagen textgleichmit der EU-Vorlage sind. Aber das ist noch kein Gütesie-gel.In der Kürze der Zeit kann ich nur auf wenige Mängelhinweisen. Sie beginnen bei den zwölf Schlussfolgerun-gen. Bestenfalls vier davon haben etwas mit der Lageder Sinti und Roma hierzulande zu tun. Zwei Drittel klin-gen wie ein außenpolitisches Kommuniqué. Ich finde,
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12424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene RedenPetra Pau
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die Linke findet: So darf man sich vor den eigenen Pro-blemen nicht wegducken. Ich empfehle den Antragsstel-lern zudem: Geben Sie ihre zwölf Empfehlungen einmalBürgerinnen und Bürgern zu lesen, die nicht im Politik-deutsch verfangen sind. Ich garantiere, die werden nur„Bahnhof“ verstehen, so allgemein und unverbindlichsind sie formuliert. Niemand wird dort ein entschlossenes„jetzt ist Handeln angezeigt“ herauslesen.Sie weichen akuten Problemen weiterhin stur aus.Drei will ich exemplarisch benennen: Erstens. CDU/CSU und FDP bleiben bei der umstrittenen Abschiebe-praxis von Sinti und Roma ins kriegs- und krisenge-schüttelte Kosovo, also ins asoziale Unbestimmte. LautUNICEF erzeugt die Bundesrepublik Deutschland damit– Zitat – „eine Generation entwurzelter Flüchtlingskin-der“, Kinder übrigens, die zum größten Teil hier gebo-ren wurden und hier zuhause sind. Das ist inhuman undunverantwortlich.Zweitens. Ich finde es unbillig, wenn CDU/CSU undFDP in anderen EU-Ländern gleichberechtigte Bildungfür Sinti und Roma fordern, daheim aber nichts dafürtun. Auch hierzulande haben Sinti- und Romakinderkeine gleichberechtigten Bildungschancen. Die Bundes-regierung beklagt es und erklärt sich zugleich für nichtzuständig. Das ist schizophren, aber logisch, weil dasBildungssystem falsch ist. Auch darüber ist zu reden.Drittens und abschließend: Natürlich fehlt nicht derVerweis auf die Geschichte der Sinti und Roma, auf denVersuch des NS-Regimes, sie auszurotten, und auf diedadurch wahrzunehmende besondere VerantwortungDeutschlands. Ein Denkmal südlich des Reichstagsge-bäudes soll demnächst daran erinnern.Viele Sinti und Roma haben eine viel irdischereSorge. Die Gräber ihrer Holocaustüberlebenden solleneingeebnet werden, weil deren Frist nach deutscherFriedhofsordnung abgelaufen sei. Holocaust und deut-sche Friedhofsordnung? Ich finde das instinktlos undgeschichtsvergessen. Aber auch dazu findet sich im Ko-alitionsantrag kein Lösungsvorschlag.Die Linke plädiert für eine ehrliche und offene Bera-tung des vorliegenden Antrags in den Ausschüssen. Wirsind dazu bereit. Dazu gehört aber auch, dass man dieUnbill der Sinti und Roma nicht länger als fremdes Leidansieht, sondern als gesellschaftliches Problem. Es gehtauch nicht um Minderheitenrechte, sondern um ver-briefte Bürgerrechte. Ergo: Jetzt ist Handeln wirklichangesagt!
Es ist gut, wenn sich die Bundesregierung für die Ver-besserung der Situation der Sinti und Roma in Europaeinsetzen will. Es bleibt nur die Frage, warum die Koali-tionsfraktionen nur nach Rumänien, Ungarn und Bulga-rien blicken, anstatt damit anzufangen, die Lage derRoma und Sinti hier in Deutschland zu verbessern. Sowürde die Bundesregierung zugleich mehr Glaubwür-digkeit gegenüber den EU-Mitgliedstaaten gewinnen,wenn es darum geht, die Diskriminierung der Sinti undZu ProtokollRoma in diesen Ländern anzugehen, was richtig undwichtig ist.Die Bundesregierung kritisiert die soziale, kulturelleund wirtschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierungder Roma und Sinti in Europa zu Recht. Im Kosovo wer-den Roma beispielsweise sowohl auf ethnischer als auchauf religiöser und gesellschaftlicher Ebene diskrimi-niert. Kosovo-Roma sind dort gravierenden Einschrän-kungen in Bezug auf ihr Recht auf Freizügigkeit und ihreanderen fundamentalen Menschenrechte ausgesetzt, ein-schließlich schwerwiegender gesellschaftlicher und ad-ministrativer Diskriminierungen, die sie insbesonderedaran hindern, ihre politischen, sozialen und wirtschaft-lichen Rechte auszuüben. UNHCR beobachtet ihre Dis-kriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Gesund-heitswesen, Bildung, Recht auf Eigentum und Zugang zuPolizei und Gerichten. Trotz all dieser offensichtlichenund zum Beispiel von UNICEF gut dokumentiertenMissstände hat sich die Bundesregierung entschieden,am 12. April 2010 ein Rücknahmeabkommen mit der ko-sovarischen Regierung abzuschließen, das die Rückfüh-rung von fast 12 000 Angehörigen der Minderheiten derRoma, Ashkali und Kosovo-Ägypter vorsieht. Da hilft esauch nicht, wenn die Bundesregierung behauptet, siewürde die Rückkehrer mit Angeboten und dem Rück-kehrprojekt „URA II“ unterstützen. Die Unterstützungs-maßnahmen werden nur in Priština angeboten, alsokann nur eine geringe Anzahl von Personen davon pro-fitieren, da der Großteil der zurückgeführten Roma nichtin Priština lebt. Fahrten nach Priština können sich abernur die Wenigsten leisten. Die Hilfsangebote laufen alsoins Leere. Außerdem dürfen nur Rückkehrer aus Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen undSachsen-Anhalt an „URA II“ teilnehmen. Roma aus an-deren Bundesländern erhalten diese Hilfe nicht. Schließ-lich läuft die Unterstützung durch „URA II“ schon nachsechs Monaten aus. Das erwähnt die Bundesregierungnicht, auch nicht die Tatsache, dass „URA II“ nichts da-ran ändert, dass Roma im Kosovo weder eine Lebens-perspektive noch Lebensgrundlage finden. Eine Einglie-derung ist im Kosovo nicht möglich, weil es eigentlichnichts gibt, in das die Rückkehrer und ihre Familien ein-gegliedert oder integriert werden können. 90 Prozentder Roma im Kosovo sind arbeitslos und können keinewirtschaftliche Existenz aufbauen. Die kosovarischenBehörden haben schlichtweg nicht die Kapazitäten,12 000 Angehörige von Minderheiten aufzunehmen underfolgreich zu integrieren. Untersuchungen der OSZEhaben ergeben, dass in den Bereichen Gesundheit, Bil-dung, Beschäftigung und Unterbringung keinerlei Maß-nahmen oder finanzielle Mittel vorgesehen sind, umzurückgeführte Personen wieder in die Gesellschaft ein-zugliedern. Das führt dazu, dass diese Menschen oftmalsüber keinerlei Unterstützung verfügen oder keine Infor-mationen über den Zugang zu den genannten minimalenLeistungen erhalten.Nicht grundlos richtete sich der Menschenrechtskom-missar der Parlamentarischen Versammlung des Euro-parates, Thomas Hammerberg, an BundeskanzlerinAngela Merkel und wies darauf hin, dass es derzeit un-verantwortlich und inakzeptabel sei, Angehörige von
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12425
gegebene Reden
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12426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Tom Koenigs
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Minderheiten in das Kosovo abzuschieben. Erschwerendkommt hinzu, dass deutsche Behörden Angehörige derRoma oft ohne gültige Papiere in das Kosovo abschie-ben. Ohne gültige Personenstandsdokumente könnenaber keinerlei Hilfen oder Leistungen beantragt werden.Die Bundesregierung ist also dringend aufgefordert,niemanden ohne gültige Papiere in das Kosovo zurück-zuführen und das deutsch-kosovarische Rücknahmeab-kommen für Roma aus dem Kosovo auszusetzen.Besonders schwierig ist die Lage von Romakindernim Kosovo. 37 Prozent von ihnen leben in extremer Ar-mut, das heißt von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag.Fast 5 000 Kinder sind von den durchgeführten oder ge-planten deutschen Rückführungen in das Kosovo betrof-fen, zwei Drittel von ihnen sind hier in Deutschlandgeboren. Bei ihnen handelt es sich nicht um eine „Rück-führung“, sondern um eine Abschiebung in ein fremdesLand. Eine Studie von UNICEF hat ergeben, dass dreivon vier zurückgeführten Kindern im Kosovo die Schulenicht mehr besuchen. Dieses Ergebnis ist alarmierend.Ein beträchtlicher Anteil hat keine Geburtsurkunde undkann damit auch das Recht auf Bildung, medizinischeVersorgung oder soziale Unterstützung nicht durchset-zen. Sowohl in Deutschland als auch im Kosovo müssenviele Kinder in den Flüchtlingsfamilien wegen chroni-scher Erkrankungen der Erwachsenen viel zu früh vielzu viel Verantwortung übernehmen.In Deutschland schränkt das Ausländer- und Asyl-recht den Zugang von Kindern aus Flüchtlingsfamilienzu Bildung, medizinischer Versorgung und sozialer Teil-habe gravierend ein. So müssen sie beispielsweise vorArztbesuchen eine behördliche Genehmigung einholen,damit Behandlungskosten übernommen werden. Stattmit dem Finger auf osteuropäische Staaten zu zeigen,sollte die Bundesregierung erst einmal vor der eigenenHaustür kehren. Beginnen könnte sie damit, dem Kin-deswohl in allen Belangen oberste Priorität einzuräu-men. In Deutschland hätte das zur Konsequenz, dassasyl- und ausländerrechtliche Bestimmungen dahin-gehend geändert werden, dass Flüchtlingskinder nichtlänger diskriminiert werden. Bei Entscheidungen überAufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete mussdas Wohl des Kindes der ausschlaggebende Faktor sein.Kinder und Jugendliche aus dem Kosovo, die inDeutschland gut integriert sind, sollten ein dauerhaftesBleiberecht erhalten. Schon aus humanitären Gründensollten Romakinder nicht in das Kosovo zurückgeführtwerden. Sie würden in ein Land und in eine Umgebungverpflanzt, in der sie keinerlei Chancen auf ein men-schenwürdiges Leben und eine normale Entwicklung ha-ben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5767 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Staatsminister für Ostdeutschland bestellen
– Drucksache 17/5522 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der Frak-
tion Die Linke zum Thema „Staatsminister für Ost-
deutschland bestellen“. Mit der Bundestagsdrucksache
17/5522 fordert die Fraktion Die Linke die Berufung ei-
nes „Staatsministers für Ostdeutschland“ und deklariert
die Bestellung des Parlamentarischen Staatssekretärs
beim Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Christoph
Bergner, als Zeichen der „Diskriminierung der Belange
Ostdeutschlands“. Zudem bezeichnet die Fraktion Die
Linke die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregie-
rung für die Neuen Bundesländer als Zeichen „fehlen-
der Innovation und andauernder Ignoranz der Bundes-
regierung beim Thema Ostdeutschland“.
Wir können dieser Argumentation nicht folgen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht ganz deutlich zum
Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister
des Innern, Herrn Dr. Christoph Bergner. Im März 2011
übernahm er die Aufgabe des Beauftragten der Bundes-
regierung für die Neuen Bundesländer von Thomas de
Maizière, der zuvor Bundesinnenminister und zugleich
Beauftragter war.
Als Beauftragter koordiniert Herr Dr. Christoph
Bergner sehr wichtige Politikfelder der Bundesregie-
rung für die neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-
Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Er vertritt deren Interessen nach innen und außen. Dazu
arbeitet Herr Dr. Christoph Bergner mit den Bundes-
ministerien und Regierungen der neuen Bundesländer
zusammen. Im Bundesministerium des Innern wird er in-
haltlich vom Arbeitsstab „Angelegenheiten der Neuen
Bundesländer“ unterstützt. Innerhalb der Referate küm-
mern sich zahlreiche Mitarbeiter um einzelne wichtige
politische Belange. Die Themengebiete reichen von
Wirtschafts- und Investitionsförderung über Infrastruk-
tur, Forschungs- und Gesundheitspolitik bis hin zur Auf-
arbeitung des SED-Unrechts.
Bereits diese personelle Ausstattung spricht eindeutig
für eine hohe Priorität, die die Bundesregierung dem
Thema verleiht. Darüber hinaus ist Herr Dr. Christoph
Bergner ehemaliger Ministerpräsident des Landes Sach-
sen-Anhalt und in seiner seit November 2005 ausgeüb-
ten Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern in besondere Weise geeignet,
die Belange wahrzunehmen.
Die Forderung, dass die Funktion „Staatsminister für
Ostdeutschland“ 21 Jahre nach der Wiederherstellung
der staatlichen Einheit Deutschland erfolgen soll, ist
Manfred Behrens
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eindeutig der Klientelpolitik der Fraktion Die Linke ge-
schuldet, die sich vorzugsweise als Anwalt der Belange
der neuen Länder versteht.
Ihre Behauptung, sehr geehrte Damen und Herren
von der Fraktion Die Linke, dass Ostdeutschland groß-
flächig von ökonomischer Schwäche betroffen sei, ist
schlichtweg falsch. Denn 20 Jahre nach dem Mauerfall
hat die ostdeutsche Wirtschaft in vielen Bereichen auf-
geholt. Die Zahlen und Bilanzen der Forschungsinsti-
tute sind eindeutig. Das Produktivitätsniveau in den
neuen Bundesländern ist seit der Wiedervereinigung um
40 Prozent auf mehr als 70 Prozent gestiegen. Natürlich
ist der „Gesamtrückstand“ noch nicht aufgeholt, aber
der Angleichungsprozess verläuft sehr ordentlich und
zufriedenstellend. Die Wirtschaftsleistung in den neuen
Bundesländern steigt an.
Es war unmittelbar nach der deutsch-deutschen Wie-
dervereinigung schier unmöglich, die Wirtschaftsleis-
tung von null auf hundert hochzufahren. Die Vorausset-
zungen dafür waren einfach nicht gegeben. Inzwischen
hat sich dies geändert. Das haben wir der klugen Politik
der CDU-geführten Bundesregierung sowie der CDU-
geführten Landesregierungen zu verdanken.
Auch die folgenden Jahre werden noch dazu genutzt,
die Wirtschaft in den neuen Bundesländern weiter zu un-
terstützen, damit das Niveau der alten Bundesländer er-
reicht werden kann. In den vergangenen zwei Jahrzehn-
ten hat sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern
sehr gut entwickelt. Der Fortschritt ist beachtlich und
lobenswert. Vor allem gemessen an der Wirtschaftslage
vor dem Mauerfall ist dieser Fortschritt in Branden-
burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An-
halt und Thüringen beachtlich. Ich wiederhole es gern in
aller Deutlichkeit: Die Aussage der Fraktion Die Linke,
dass Ostdeutschland großflächig von ökonomischer
Schwäche betroffen sei, ist schlichtweg falsch. Schauen
Sie sich die Erfolgsmodelle in den neuen Bundesländern
an. Die Regionen im thüringischen Jena und in Sonne-
berg weisen eine Arbeitslosenquote von 6 bzw. 7 Prozent
auf. Auch der gesamte Wartburgkreis um Eisenach hat
aktuell 7 Prozent. Die Kaufkraft ist stark gestiegen.
Nehmen Sie das Beispiel Sachsen-Anhalt. Der Land-
kreise Börde weist mit 8,4 Prozent die geringste Quote in
Sachsen-Anhalt auf. Auch zahlreiche Regionen in Sach-
sen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wei-
sen ähnlich positive Zahlen auf. Insgesamt ist die Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft
sehr erfolgreich. Die CDU/CSU ist zudem fest ent-
schlossen, diesen erfolgreichen Weg weiterzugehen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion fragt sich, wieso nach
über zwei Jahrzehnten deutsch-deutscher Wiederver-
einigung noch immer von „Ostdeutschland und West-
deutschland“ gesprochen wird. Das Ziel ist doch, eine
Gesellschaft zu schaffen, in welcher der gesamtdeutsche
Gedanke dominiert und nicht gedanklich zwischen Ost-
und Westdeutschland unterschieden wird. Die Menschen
sollen sich als „Deutsche“ fühlen, nicht als Ost- oder
Westdeutsche. Einzig und allein die Fraktion Die Linke
versucht, diese Begrifflichkeiten aufrechtzuerhalten und
damit ihre Spartenpolitik zu legitimieren. Das ist nicht
Zu Protokoll
anständig, wenn man sich das eigentliche Ziel vor Au-
gen führt!
Es ist inzwischen eine neue Generation herange-
wachsen. Diese Generation ist 1990 geborenen und in-
zwischen 21 Jahre alt. Für diese jungen Bürgerinnen
und Bürger existiert kein Ostdeutschland und West-
deutschland. Für sie gibt es nur ein gemeinsames
Deutschland. Und das ist positiv. Die Spaltungspolitik
der Fraktion Die Linke sollte diesen Prozess nicht stop-
pen dürfen. Insgesamt lehnt die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion den Antrag damit allumfassend ab.
Unbestritten ist, dass die ostdeutschen Bundesländerbesondere Beachtung verdienen. Unbestritten ist auch,dass sie diese notwendige Beachtung von dieser Bundes-regierung nicht erhalten. Schauen wir auf die letztenHaushaltsberatungen, die massive soziale Einschnittezur Folge hatten, oder aber auch aktuell auf die ge-plante Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung,die im Wesentlichen darin besteht, dass die Herabstu-fung der Wasserwege ausschließlich den Osten Deutsch-lands betrifft. Wir stellen fest, dass die Belange Ost-deutschlands nicht berücksichtigt werden. Im Gegenteil,verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, IhreEntscheidungen treffen Ostdeutschland stets besondershart.Ich glaube jedoch nicht, dass Ihre Politik davon ab-hängt, ob der Beauftragte Minister oder Staatssekretärist. Nein, ich glaube viel eher – und einen anderenSchluss lässt Ihre Politik nicht zu – , dass die InteressenOstdeutschlands generell keine hohe Priorität bei Ihnengenießen – egal bei wem und in welcher Form diesesAmt auch angesiedelt ist! Anders lässt sich Ihr Verhaltennicht erklären. Wenn dann da noch Herr Bergner als Zu-ständiger für Ostdeutschland in einem Interview sagt,die Aufgabe sei bescheidener geworden, bestätigt michdas nur in meiner Auffassung. Wie kann man denn nurdavon reden, dass die Aufgabe bescheidener gewordensei? Wo wird denn hier der Maßstab angelegt? Wenn wirnatürlich den Haushaltsplan mit seinen Kürzungen fürOstdeutschland als Maßstab nehmen, lässt sich zwarschlussfolgern, dass die Koalition der Meinung ist, dassdie Aufgabe „bescheidener“ geworden ist. Der Aufga-benumfang hat sich aber mitnichten geändert, eher wohldie Aufgabenbeschreibung, und das wird sich in Zukunftnoch deutlicher zeigen.Es reicht heute schon nicht mehr und in naher Zu-kunft schon gar nicht mehr aus, den Blick nur RichtungOst und West zu wenden und hier miteinander zu verglei-chen. Das wäre zu kurz gesprungen. Die Disparitätenzeichnen sich geografisch nämlich nicht nur zwischenOst und West ab, wie der Antrag der Linken suggeriert,sondern auch zunehmend zwischen dem Norden unddem Süden Deutschlands. Wir müssen Deutschland undseine Regionen ganzheitlich betrachten. Damit meineich, dass wir in jeder Himmelsrichtung sowohl struktur-schwache Regionen als auch prosperierende Gegendenvorfinden. Das sind keine Charakteristika mehr, die mantypischerweise dem Osten oder dem Westen zuordnen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12427
gegebene RedenDagmar Ziegler
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kann. Und eben dieser Entwicklung muss Rechnung ge-tragen werden, zum Beispiel bei der Struktur der För-derprogramme. Es kommt nicht auf den Titel desjenigenan, der sich insbesondere für die Belange Ostdeutsch-lands einsetzen soll. Es kommt darauf an, wie es derje-nige versteht, seine Aufgabe mit Leben zu erfüllen. Es istim weitesten Sinne nicht Aufgabe eines Einzelnen, son-dern es müssen alle, in diesem Fall die gesamte Koali-tion, an einem Strang ziehen. Unserer Unterstützung fürdie ostdeutschen Belange, für die Interessen struktur-schwacher Regionen im Gesamten können Sie sichsicher sein. Leider ist es hier mit Ihrem Enthusiasmusnicht weit her. Das ist bedauerlich; denn hier geht es umdie Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Dienächsten anstehenden Beratungen werden zeigen, wieernst Sie diese Thematik nehmen.
Gegenstand dieser Debatte ist ein Antrag der ParteiDie Linke, in dem sie fordert, den Beauftragten der Bun-desregierung für die Neuen Bundesländer formell zum„Staatsminister für Ostdeutschland“ im Bundeskanzler-amt zu machen. Ich persönlich komme übrigens ausThüringen, mitten in Deutschland, und fühle mich alsMitteldeutscher. Ich frage mich also, warum wir die Auf-gaben des jetzigen Beauftragten geografisch einschrän-ken sollten. Schon von 1998 bis 2002 hatte der Beauf-tragte den Titel eines Staatsministers. Dies lag aber ander Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes. In denMinisterien heißt die gleiche Funktion „Staatssekretär“.Eine besonders kreative Idee ist das also nicht. Das ei-gentliche Ziel, billige und plumpe Kritik, ist deutlich undhier nur in eine andere Verpackung gehüllt. Auch dieserAntrag reiht sich ein in die Kategorie „Schublade“. Im-mer wenn die Kreativität ausbleibt, greift man in dieSchublade und zieht einen Antrag. Deshalb ist der An-trag nicht ernst gemeint. Der vorgelegte Antrag beinhal-tet keine kreativen Ideen, wie der Aufbau Ost vollendetwerden kann. Entscheidend ist bei der Bewertung, ob erden Menschen in Ost- und Mitteldeutschland etwasbringt oder ob es sich um reine Symbolpolitik handelt.Mit dem auf den ersten Blick wohlklingenden Posten ei-nes „Staatsministers für den Osten“ will man die Men-schen glauben machen, dass damit die Probleme bessergelöst werden könnten. Dies ist nicht so. Nicht Titel, son-dern Taten sind entscheidend.Bemerkenswert ist, dass sich hier die Linke wiedereinmal als Anwalt der Ostdeutschen aufspielt, obwohlsie für die ganze Misere bis vor 20 Jahren, für die struk-turellen Nachteile der Neuen Bundesländer verantwort-lich sind. Während ihrer 40-jährigen Regierungszeit undunter einer fatalen Ideologie, zu der sich einige Unver-besserliche zurücksehnen, wurden in der ehemaligenDDR große Betriebe unwirtschaftlich und unproduktiv,der Mittelstand komplett zerschlagen und Kleinstunter-nehmen jeglicher Bewegungsspielraum genommen. In-sofern klagen die Antragsteller hier Missstände an, fürdie sie selbst die Hauptverantwortung tragen.Statt irgendwelche „Postenplanspiele“ zu betreibenund „Funktionärsschach“ zu spielen, ist es deshalb we-sentlich hilfreicher und produktiver, sich weiter daraufZu Protokollzu konzentrieren, wie wir die noch bestehenden Pro-bleme inhaltlich lösen. Genau das haben alle Bundesre-gierungen seit 1990 gemacht, und das macht die jetzigeBundesregierung mit Engagement und Weitsicht. Unddas vermisst man bei den Linken. Nur mit einem populis-tischen Etikettenwechsel werden Konzepte und Ideennicht anders und vor allem nicht besser. Im Vordergrundmuss also stehen, wie wir die nach wie vor bestehendenProbleme und Notwendigkeiten angehen, um die deut-sche Einheit so bald wie möglich endgültig zu vollenden.Dies möchte ich hier gerne noch einmal benennen: Dasist zum einen die immer noch sehr hohe Abwanderung.Noch immer reißt der Strom vor allem junger, gut ausge-bildeter Menschen vom Osten in den Westen nicht ab.Die Folge sind massive demografische Probleme: Über-alterung, Frauenmangel, Verödung von Städten und Re-gionen. Darauf müssen wir uns einerseits einstellen,weil die Entwicklung nicht ganz zurückgedreht werdenkann. Die Bundesregierung erarbeitet hierfür geradeeine Demografiestrategie, die noch dieses Jahr zu-kunftsweisende Maßnahmen aufzeigen wird, die auchauf den Westen angewendet werden können. Anderer-seits müssen wir auch die Ursachen bekämpfen. Richtigist, dass die ostdeutschen Regionen im Durchschnitt beider Wirtschaftskraft, trotz aller positiven Entwicklun-gen, noch immer hinterherhinken. Ein Schlüssel, dies zuüberwinden, liegt unter anderem in der Stärkung derInnovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unter-nehmen in Verbindung mit wirtschaftsnahen For-schungseinrichtungen. Auch hier ist die Bundesregie-rung sehr engagiert, indem sie unter anderem dieInnovationsförderung auf hohem Niveau hält.Auf die neuen Länder werden massive Finanzierungs-schwierigkeiten zukommen. Dem muss entgegengewirktwerden durch eine konsequente Durchführung des Soli-darpakts II und Übergangsregelungen für das Auslaufender EU-Förderung. Auch diesbezüglich hat die Bundes-regierung unter Federführung des Bundesinnenministe-riums sehr gute Arbeit bei den Verhandlungen auf EU-Ebene geleistet und viel erreicht. Auch andere Ansatz-punkte hat die Bundesregierung erkannt und betreibt siemit Nachdruck und Engagement. Diese sind:– Anwerbung internationaler Investoren durch bessereVernetzung und Bekanntmachung der Vorzüge Ost-und Mitteldeutschlands im Ausland– Sicherung des Fachkräftebedarfs durch regionen-spezifische Ansätze– Förderung des strukturellen Zusammenwachsens dermittelosteuropäischen Regionen.Schließlich möchte ich auch betonen, dass wir dieAufarbeitung des Unrechts der SED-Diktatur weiterhinvorantreiben müssen, um dieses Kapitel endlich ab-schließen zu können und die Versöhnung der Menschenzu ermöglichen. Auch hier sind die Bemühungen dieserBundesregierung beispielhaft. So überarbeiten wir ge-rade das Stasiunterlagengesetz und stellen sicher, dassbei der Aufarbeitung nicht nachgelassen wird. Geradean diesem Punkt haben sich die Urheber des vorgelegtenAntrags bislang nur durch Geschichtsklitterung und
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12428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene RedenPatrick Kurth
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Verharmlosung hervorgetan. Konstruktive Beiträge ver-misst man hingegen.Zur Vollendung der deutschen Einheit müssen vieleverschiedene Ressorts beitragen, die vom Bundesbeauf-tragten koordiniert werden. Das Innenministerium hatsich als sehr guter Ort erwiesen, die genannten Pro-bleme anzugehen. Im Mittelpunkt muss weiterhin stehen,auf welche Weise und mit welchem Engagement die Pro-bleme angegangen werden und nicht, wie man dasGanze benennt oder wo man es ansiedelt. Und in dieserHinsicht hat diese Bundesregierung bewiesen, dass sieverstanden hat, was notwendig ist, und dass sie gewilltist, mit großem Engagement das Notwendige umzuset-zen, und zwar in allen betroffenen Ressorts. Das hat siegetan, das tut sie und das wird sie tun. In diesem Zusam-menhang betrachte ich es auch geradezu als Beleidi-gung, wenn die Linke in ihrem Antrag schreibt, dass der-zeit die Belange Ost- und Mitteldeutschlands „mit nochgeringerem Engagement“ vertreten würden oder wennsie gar der Bundesregierung „andauernde Ignoranz“ indieser Beziehung vorwirft. Soll das heißen, dass das En-gagement bisher „gering“ war? Soll das heißen, dassder Transfer von Hunderten Milliarden, der Aufbau ei-ner höchst modernen Infrastruktur, die mühevolle undsensible Aufarbeitung von 40 Jahren sozialistischer Dik-tatur, der beispiellose wirtschaftliche Aufholprozess Er-gebnis eines „geringen“ Engagements des Bundes wa-ren? Und in einem weiteren Punkt geht der vorgelegteAntrag an der Realität vorbei. Die Belange Ost- undMitteldeutschlands werden auch weiterhin eine starkeStimme im Bundeskabinett haben. Es ändert sich nichtsdaran, dass die Koordinierungsfunktion an obersterStelle im Bundesinnenministerium angesiedelt ist. DerBundesinnenminister wird also weiterhin die BelangeOst- und Mitteldeutschlands vertreten, sowohl in der Öf-fentlichkeit als auch im Bundeskabinett. Dass ihm diesein wichtiges Anliegen ist, hat Hans-Peter Friedrich beider Amtsübernahme immer wieder, auch in einem per-sönlichen Gespräch mit mir, ausdrücklich versichert.Der vorgelegte Antrag ist abzulehnen, weil er reine Sym-bolpolitik ist und inhaltlich nichts dazu beiträgt, dassdie Problem Ost- und Mitteldeutschlands gelöst werden.
In den zurückliegenden Jahren haben die Menschenin Ostdeutschland ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen.Das hat maßgeblich mit ihrer ungebrochenen Tatkraftund ihrem Willen, die gesellschaftliche Transformationerfolgreich zu gestalten, zu tun. Ostdeutsche Bundeslän-der sind führend bei der Entwicklung und Nutzungerneuerbarer Energien, einer zeitgerechten landwirt-schaftlichen Produktionsweise, sie besitzen Vorsprüngeund nutzbaren Sachverstand in der möglichen undmachbaren Verbindung von Erwerbsarbeit und Kinder-betreuung, in der gezielten Gesundheitsversorgung, inder nachhaltigen Bildungs- und Ausbildungspolitik. Undes ließe sich noch vieles mehr aufzählen. Warum alsoimmer wieder Ostdeutschland? Muss das denn nochsein, mehr als 20 Jahre nach der deutschen Einheit?Weshalb sieht sich meine Fraktion immer wieder ge-zwungen, Anträge in dieses Parlament einzubringen, diesich explizit mit der Situation in Ostdeutschland be-schäftigen? Die Antwort ist so einfach wie wahr. AuchZu Protokoll20 Jahre nach der deutschen Einheit herrscht – trotz desErreichten – keine innere Einheit. Die Löhne in Ost-deutschland liegen im Schnitt rund ein Fünftel unter, derAnteil der Hartz-IV-Beziehenden dagegen deutlich überdem Bundesdurchschnitt. Rund 2 Millionen Ostdeutschehaben ihre Heimat seit der Einheit in Richtung West-deutschland verlassen, um dort Arbeit zu finden. Dieschwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt wirkt sich bereitsheute auf die kommenden Generationen aus: In vielenostdeutschen Städten leben mehr als ein Drittel allerKinder in Armut. Es herrscht eine fortgesetzte Ren-tenungerechtigkeit zwischen ost- und westdeutschenRentnern, die ebenfalls aufgrund der verfestigten Lohn-differenz in Ost und West an die kommenden Generatio-nen weitergegeben werden wird.Die Antwort auf die von mir formulierten Fragen,auch wenn die Mehrheit der anderen hier im HohenHause vertretenen Fraktionen die Position der Linkennicht teilt, kann nur lauten: Ja, sich insbesondere mitden ostdeutschen Bundesländern und der Situation ihrerBevölkerung zu beschäftigen, ist zwingendes politischesGebot. Doch in der Bundesregierung scheint Ost-deutschland dauerhaft abgeschrieben worden zu sein.Seit März 2011 wurde die Funktion des Beauftragten derBundesregierung für die neuen Bundesländer vom neuberufenen Bundesminister des Inneren, Hans-PeterFriedrich, an seinen Parlamentarischen Staatssekretär,Dr. Christoph Bergner, übertragen. Es ist zu erwarten,dass die Belange Ostdeutschlands zukünftig mit einemnoch geringeren Interesse vonseiten der Bundesregie-rung vertreten werden, als dies in den zurückliegendenJahren der Fall gewesen ist.Wir als Linke sind hingegen überzeugt, dass, obwohldie soziale und ökologische Situation in Ostdeutschlanddie Menschen vor große Herausforderungen stellt undobwohl der industrielle Nachbau West als Entwicklungs-pfad für den Osten endgültig gescheitert ist, in Ost-deutschland große Potenziale und Chancen für die re-gionale und gesamtdeutsche Entwicklung liegen. Dochdiese müssen durch eine kluge Politik befördert und un-terstützt werden.Die Menschen in den ostdeutschen Bundesländernhaben den Grundstein gelegt, dass Ostdeutschland Im-pulsgeber und Innovationsmotor für einen sozial-ökolo-gischen Umbau der Gesellschaft werden kann. Darinwerden sie von der Linken unterstützt. Wir als Linkefordern die Bundesregierung und die Mehrheit diesesParlaments auf, sich uns anzuschließen. Einen Staats-minister für Ostdeutschland zu bestellen und die Ost-deutschlandpolitik der Bundesregierung auf die Höheder Zeit zu befördern, kann dabei nur ein erster, abernotwendiger Schritt sein. Im Übrigen könnte der Staats-minister dann zugleich aus seinem Amte den Komplett-umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlinmanagen. Der aktuelle Teilungskostenbericht der Bun-desregierung, der dem Haushaltsausschuss vorliegt,zeigt einmal mehr, wie unsinnig, ineffektiv, unökologischund enorme Summen an Steuergeldern verschleudernddie Aufteilung der Bundesregierung auf zwei Standorteist. Eine die gesamte Bundesregierung beheimatendeBundeshauptstadt Berlin wäre zudem ein wichtigesSignal für die innere Einheit der Republik.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12429
gegebene Reden
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12430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(C)
(B)
Die Fraktion Die Linke schlägt die Umbenennung des
Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bun-
desländer in „Staatsminister/in für Ostdeutschland“
vor. Insbesondere mit dem Recht zur Teilnahme an den
Sitzungen der Bundesregierung soll die Person mehr
Mitwirkungsrechte erhalten.
Ein genauer Blick in die Geschäftsordnung der Bun-
desregierung allerdings zeigt, dass Staatssekretäre auf
Wunsch des zuständigen Ministers ohnehin an den Kabi-
nettssitzungen teilnehmen dürfen. Das gilt auch für Be-
amte aus den Ministerien, bei besonderem Wunsch und
Antrag des Ministers. Ob die Politik für Ostdeutschland
wahrnehmbar ist, hängt doch nicht vom Titel auf der Vi-
sitenkarte ab, sondern von der Persönlichkeit, die diese
Funktion mit konkreten Inhalten füllt. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, nach Ihrem Vorschlag am
Anfang dieser Legislaturperiode zur „Einsetzung eines
Ausschusses für die Herstellung gleichwertiger Lebens-
verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland“ ist es
nun der zweite Antrag, in dem Sie ausschließlich auf
Strukturveränderungen abzielen, ohne auf derzeit beste-
hende Handlungsspielräume einzugehen. Mit diesem
Schaufensterantrag zeigen Sie leider nur, dass Ihnen of-
fensichtlich die politischen Ideen ausgehen. Statt Hand-
lungsansätze für die vor uns liegenden Aufgaben in den
Regionen Ostdeutschlands zu entwickeln, fallen Ihnen
nur neue Gremien und Funktionen ein.
Dennoch, wir teilen Ihre Kritik an der Bundesregie-
rung, die dem Aufgabenfeld Aufbau Ost ohne erkennba-
res Konzept begegnet. Auch wir sehen den Bundesbeauf-
tragten für die neuen Länder im falschen Ressort
angesiedelt. Der Arbeitsstab für die Angelegenheiten
der neuen Bundesländer wurde Herrn Dr. Thomas de
Maizière, CDU, aufgrund seiner Reputation und Erfah-
rungen zugeordnet und so rein formal und nicht sachbe-
zogen dem Innenministerium übertragen. Wir teilen zu-
dem die Ansicht, dass mit dem neuen Amtsinhaber
Dr. Hans-Peter Friedrich, CSU, der sich bislang wenig
mit aktuellen Fragestellungen Ostdeutschlands befasste,
das Thema ganz aus dem gesellschaftlichen und politi-
schen Fokus zu rücken droht. Angesichts des auslaufen-
den Solidarpakts und des Auslaufens der EU-Ziel-1-
Förderung, der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung
und der demografischen Verwerfungen in Ostdeutsch-
land ist dringend ein Paradigmenwechsel im Aufbau Ost
geboten. Gefordert sind neue Politikansätze, neue ge-
sellschaftliche Debatten.
Wir fordern die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel
deshalb auf, die künftige Politik für die ostdeutschen
Bundesländer zur Chefsache zu erklären, das Amt des
Bundesbeauftragen der Bundesregierung für die neuen
Länder wieder im Kanzleramt zu verankern – so wie be-
reits in den Jahren 1998 bis 2002 – und es entsprechend
den Herausforderungen als Querschnittsressort mit ins-
besondere finanziellen Handlungsspielräumen auszu-
statten.
Wir dürfen nicht vergessen: In Deutschland versteti-
gen sich räumliche Disparitäten. Wir haben de facto
wirtschaftlich potente Wachstumskerne neben abgekop-
pelten Regionen mit spezifischen strukturellen Proble-
men, gerade in ländlichen Regionen, die durch den de-
mografischen Wandel zusätzlich benachteiligt sind. Die
wirtschaftliche Entwicklung stagniert und der Anstieg
des Bruttoinlandsprodukts im Osten war im letzten Jahr
niedriger als im Westen. Ostdeutschland hat nach wie
vor eine wesentlich höhere Arbeitslosenquote, das Brut-
tolohnniveau liegt bei rund 80 Prozent des Westniveaus.
Aber die aktuelle Politik der Bundesregierung erschwert
den Angleichungsprozess, statt ihn voranzutreiben. Die
Kürzungen der Bundesregierung, die mit steigenden So-
zialausgaben bei den ostdeutschen Kommunen verbun-
den sind, haben erhebliche strukturelle Auswirkungen.
Es ist an der Zeit, dass eine Akzentverschiebung von In-
frastruktur- zu Innovationsförderung angeschoben wird.
Angesichts der sinkenden Haushaltsbudgets muss eine
strategische Neuausrichtung der Förderpolitik jetzt und
nicht erst nach 2013 diskutiert werden. Das erfordert
eine ressortübergreifende Verankerung des Arbeitssta-
bes für die ostdeutschen Bundesländer im Bundeskanz-
leramt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5522 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden, somit ist die Überweisung auch beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzi-
sieren und die Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung reformieren
– Drucksache 17/5056 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kein Personalabbau bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung – Aufgaben an ökolo-
gischer Flusspolitik ausrichten
– Drucksache 17/5548 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor, und ich ver-
zichte auf die Verlesung.
(C)
(B)
Im Dezember des letzten Jahres sprach ich zum An-
trag der SPD-Fraktion „Zukunftsfähigkeit der WSV si-
chern“. In meinen damaligen Ausführungen hatte ich
kurz den Entwicklungsverlauf der Reform der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung skizziert, der bis dato statt-
gefunden hatte. Diesen Verlauf müssen Sie sich nämlich
vor Augen führen, wenn Sie über den heutigen Stand der
WSV-Reform sprechen. Ich führte aus, dass das Bundes-
verkehrsministerium bereits 1999 die Projektgruppe
„Entwicklungskonzepte für eine zukunftsorientierte
WSV – Konzentration der WSV auf Kernaufgaben“ ein-
richtete, die vor dem Hintergrund bisheriger und künfti-
ger Personaleinsparungen sowie knapper werdender
Haushaltsmittel die künftige Aufgabenstruktur und kon-
krete Umsetzungsvorschläge ermitteln sollte. Ziel des
Gutachtens war die zukunftsfähige Gestaltung der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Mit Blick
auf eine künftige Aufgabenstruktur der WSV und ihre
Kernaufgaben prüfte die Projektgruppe unter anderem:
Welche Aufgaben müssen oder sollen durch die WSV mit
welcher Intensität selbst wahrgenommen werden und
welche nicht? Welche Aufgaben können oder sollen
durch Dritte wahrgenommen werden? Wo können Auf-
gaben sogar ganz entfallen?
Der Abschlussbericht wurde 2001 vorgelegt. Aber
anschließend passierte viele Jahre nichts – nämlich ge-
nauso lange wie das Verkehrsministerium von der SPD
geführt wurde. Die damalige Führung des Hauses hatte
sich lieber dafür entschieden, bestehende Strukturen der
WSV zu zementieren, statt eine echte Reform der WSV in
Angriff zu nehmen und diese zukunftsfest zu machen.
Unter christlich-liberaler Führung hat das Bundes-
verkehrsministerium am 24. Januar 2011 einen Bericht
vorgelegt, mit dem erstmals ein ernsthafter Schritt in die
vom Bundesrechnungshof schon seit Jahren angemahnte
Reform der WSV beschritten wird.
Liebe Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke, Ihre Anträge stam-
men vom 16. März 2011 bzw. vom 14. April 2011 und
nehmen überwiegend Bezug auf den Bericht des Bundes-
verkehrsministeriums zur WSV-Reform vom 24. Januar
2011. Allerdings sind wir in der Diskussion schon einen
Schritt weiter.
Am 29. April 2011 legte das Bundesverkehrsministe-
rium seinen zweiten Bericht zur Reform der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung vor, in dem es weitere Maßgaben
des Haushaltsausschusses bezüglich der WSV-Reform
erfüllt und Nachbesserungen zum Januarbericht liefert.
Die ersten Schritte zu einer Reform der WSV sind also
getan. Und das große Echo, das damit ausgelöst wurde,
mahnt uns Parlamentarier, genau zu schauen, wie wir
den weiteren Reformweg beschreiten. Ebenso hat sich
der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in
seinen letzten Sitzungen ausführlich mit der Thematik
befasst und für seine Sitzung am 29. Juni 2011 eine öf-
fentliche Anhörung zu dem Thema beschlossen.
Die in Ihrem Antrag enthaltenen Ansätze, werte Da-
men und Herren der Grünen – wie zum Beispiel die Ka-
tegorisierung der Bundeswasserstraßen nicht nur nach
Zu Protokoll
den beförderten Tonnen pro Jahr vorzunehmen, sondern
weitere Faktoren in die Bewertung einfließen zu lassen
oder in die Kategorisierung der Netzstruktur der Bun-
deswasserstraßen nicht nur die messbaren Verkehrs-
ströme auf Wasserstraßen, sondern das gesamte Ver-
kehrsnetz zu analysieren und die vorhandenen bzw.
geplante Schienen-, Straßen- und Hafeninfrastruktur so-
wie regionale und volkswirtschaftliche Kriterien, Um-
welt- und Naturschutzaspekte und die Entwicklung des
Wassertourismus zu berücksichtigen –, werden in dieser
Anhörung auch eine wichtige Rolle spielen. Aufbauend
auf diesen Erkenntnissen, die in der Diskussion gewon-
nen werden, wird die Koalition mit dem Verkehrsminis-
terium die weiteren Schritte, die für die Reform notwen-
dig sind, analysieren. Dann wird es auch möglich sein,
zum Jahresende ein Gesamtkonzept zur Aufgaben- und
Personalstruktur und zur Aufbauorganisation der WSV
vorzulegen.
Dass dies nur im Dialog mit den Beschäftigten und
ihren Interessenvertretungen möglich ist, habe ich be-
reits in meiner ersten Rede zu diesem Thema deutlich
gemacht. An dieser Stelle möchte ich noch mal meine
Bereitschaft zur weiteren, aktiven Zusammenarbeit mit
den Beteiligten erklären. Dem vorliegenden Antrag der
Grünen entnehme ich die grundsätzliche Bereitschaft,
Veränderungen in der Struktur der WSV vorzunehmen.
Aber mit Blick auf die noch anstehenden Beratungen
und Anhörungen und den sich daraus ergebenden Dis-
kussionsbedarf empfehle ich meiner Fraktion die Ableh-
nung Ihres Antrages.
Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Fraktion
Die Linke, in ihrem Antrag notwendige Strukturverände-
rungen vorzunehmen und damit den Empfehlungen des
Bundesrechnungshofs zu folgen, ist dieser ebenfalls ab-
zulehnen.
Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungdes Bundes ist ein Thema, das für die Gewährleistungeines zentralen Zweiges der Infrastruktur unseres Lan-des von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Des-halb begrüße ich es sehr, dass es auch die Beachtung derOpposition gefunden hat. Leider gehen die Ausführun-gen der Antragsteller – wie so oft – in vieler Hinsichtfehl. Bitte lassen Sie mich zu einzelnen Punkten Stellungnehmen und so das Verständnis dieser Materie bei derOpposition zu erweitern. Zunächst möchte ich betonen,dass es sich bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungdes Bundes um eine leistungs- und serviceorientierteOrganisation der Daseinsvorsorge mit hochmotiviertenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern handelt.Die Fraktion der Linken, die schon in der Überschriftihres Antrages einen Personalabbau kategorisch ab-lehnt, verkennt dies offensichtlich gründlich und ver-wechselt die Daseinsvorsorge des Staates, die möglichstgünstig und effektiv mit unser aller Steuergeldern er-bracht werden muss, mit einem öffentlich gefördertenzweiten oder dritten Arbeitsmarkt, der unantastbar seinmuss. Dies ist natürlich ein großer Irrtum, der sich aberleicht durch die ideologischen Scheuklappen der Sozia- gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12431
Hans-Werner Kammer
(C)
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listen erklären lässt. Wir dagegen gehen mit den Steuer-geldern, mit Geldern, die die werktätige Bevölkerunghart erarbeitet, verantwortungsbewusst um. Gewissen-hafte Treuhänder verschwenden nicht das ihnen anver-traute Geld, sondern versuchen, es möglichst effektiveinzusetzen. Genau darum geht es unter anderem bei dervon uns angestrebten Reform der Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung des Bundes. Wir werden und müssendie Balance zwischen knappen Ressourcen, dem öffentli-chen Interesse an einer funktionierenden Infrastrukturund den berechtigten Interessen der Beschäftigten her-stellen. Genau diesen Zweck verfolgt und erläutert dienunmehr vorliegende Endfassung des zweiten Berichtsdes Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung. Dieser Bericht ist – wie ich gleich erläuternwerde – grundlegend für die parlamentarische Beratungdieses Themas im Verkehrsausschuss des Bundestages.Auch der zweite Teil der Überschrift des Antrags der So-zialisten zeugt von einer völlig verfehlten Schwerpunkt-setzung: Es ist selbstverständlich, dass ökologische As-pekte ausgewogen berücksichtigt werden, wenn eine sokomplexe Infrastruktur wie die der Wasserwege vorge-halten wird.Es ist aber geradezu absurd, eine ökologische Fluss-politik – was dies auch immer sein mag – als zweitwich-tigste Aufgabe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungdes Bundes zu identifizieren. Da sind unsere Kollegenvon der Linken auf einem völlig falschen Dampfer! Pri-mär geht es darum, die Voraussetzungen dafür zu schaf-fen, dass möglichst viele Güter mit dem umweltfreundli-chen Verkehrsmittel Schiff transportiert werden können.Dies ist sicherlich ein effektiverer Umweltschutz als dieVerhinderung von Schiffstransporten durch eine unreflek-tierte Renaturierung von Gewässern. Dazu gehört vor al-lem, dass wir einen tragfähigen Spagat zwischen Durch-führungs- und Gewährleistungsverwaltung garantieren.Auch uns ist klar, dass eine Privatisierung von Aufgaben,die nur von einem Oligopol von Anbietern erfüllt werdenkönnen, zwar zu einer Senkung der Personalkosten führenmag, gewiss aber eine Steigerung der Gesamtkosten zei-tigt. Diese Gefahr hat das Bundesministerium für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung in dem Bericht auch ausdrück-lich benannt. Daher gilt, dass Privatisierung weder – wievon Teilern der Opposition immer wieder apostrophiert –ein das Gemeinwesen schädigendes Monster noch – wievon Menschen ohne ökonomischen Sachverstand propa-giert – ein Allheilmittel oder Selbstzweck ist. Es kommthier – wie so oft im Leben – auf den Einzelfall an.Eine angemessene Lösung ergibt sich nicht durcheine ideologische Betrachtung, sondern durch eine kon-krete Abwägung aller Umstände im Einzelfall. Diesleugnen nur Ideologen! Ähnliches – und auch darauf seiin diesem Zusammenhang noch einmal eindringlich hin-gewiesen – gilt selbstverständlich auch für staatlichesKnow-how. Es ist doch klar, dass die Auslagerung vonAufgaben nicht zu einem Totalverlust von Wissen beidem Staat, der Institution, der unsere Bürger vertrauenkönnen, führen darf. Die Endfassung des zweiten Be-richts des Bundesministeriums für Verkehr, Bau undStadtentwicklung an den Deutschen Bundestag zur Re-form der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung beantwor-Zu Protokolltet viele der in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünenaufgeworfenen Fragen. Der vorliegende Bericht derVerwaltung ist als Arbeitsgrundlage für die parlamenta-rische Diskussion der Reform der Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung des Bundes gut geeignet. Dafür ge-bührt Bundesminister Dr. Ramsauer unser Dank. DieserBericht zeichnet in einer begrüßenswerten Klarheit diezentralen Linien der zu beschreitenden Reform mit kräf-tigen Strichen vor, die jedoch sicherlich an der einenoder anderen Stelle neu gezogen werden müssen.Bedauerlicherweise unterliegt der Staat – wie jederPrivatmensch auch – dem Zwang, mit den verfügbarenMitteln auskommen und mit ihnen akzeptable Ergeb-nisse erzielen zu müssen. Dies gilt auch für den Bereichder Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Ichmöchte dies für die ökonomisch weniger geschulten Kol-legen von der Linken noch ein wenig plastischer ausdrü-cken: Aus dem Geld, das wir haben, müssen wir dasBeste machen. Und genau dies werden wir nach vielenJahren unerklärlicher Versäumnisse auch tatsächlichtun. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung hat daher dankenswerterweise schon mitder für dieses Haus typischen Transparenz und StringenzVorschläge gemacht, welche Wasserstraßen in welchemMaße unterhalten werden sollen. Damit liegt dem Aus-schuss eine belastbare Grundlage für die Diskussionender Fachpolitiker untereinander, aber auch mit den Be-troffenen vor. Es ist sehr zu begrüßen, wenn die Verwal-tung parlamentarische Entscheidungen durch präziseVorarbeiten erleichtert und beschleunigt. Aus meinerlangjährigen kommunalpolitischen Tätigkeit weiß ich,dass sogar exzellente Vorlagen der Verwaltung im Rah-men der politischen Diskussion – insbesondere aufgrunddes intensiven Dialogs mit den betroffenen Menschen –noch weiter optimiert werden können.Ich glaube nicht, dass wir – wie von den Grünen ge-fordert – zur Überwachung der Umsetzung der Vor-schläge eine Regierungskommission „Wasserstraße“einsetzen müssen. Dies obliegt dem Deutschen Bundes-tag, dazu sind wir auch in der Lage. Ich bin absolutüberzeugt davon, dass die in dem Bericht aufgezeigtenRestrukturierungsvorschläge nach einem vernünftigenDialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dieich als motivierte und vernünftige Menschen kennenge-lernt habe, zu Ergebnissen führen werden, die alle Betei-ligten werden tragen können.Ich sehe der weiteren Entwicklung mit einem großenOptimismus entgegen und bin sicher, dass am Ende eineLösung gefunden werden wird, die eine zukunftsfesteWasserinfrastruktur und Wasser- und Schifffahrtsver-waltung sichert. Die wenig zielführenden Anträge vonGrünen und Linken werden von uns abgelehnt.
Wir beraten heute die Anträge von Bündnis 90/DieGrünen und der Linken, die sich beide mit der Reformder Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes be-schäftigen. Die SPD hat ihren Antrag „Zukunftsfähig-keit der WSV sichern“ bereits am 1. Dezember 2010 ein-gebracht. Die WSV ist eine Bundesverwaltung, die – und gegebene Reden
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12432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Gustav Herzog
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das ist eine Besonderheit in Deutschland – vom oberstenDienstherrn, dem Bundesverkehrsminister, bis hin zuden Facharbeitern und Beschäftigten an den Schleusenund Außenbezirken reicht. Ihr Aufbau hat also keine fö-derale Struktur, und das gibt allein durch die dadurchbedingt hohe Anzahl an Bundesbeschäftigten regelmä-ßig Anlass für unberechtigte Kritik. 12 633,5 Stellenoder Planstellen werden vom Ministerium für 2010 an-gegeben: Viel zu viele für „nur“ 7 300 Kilometer Bun-deswasserstraße und gerade einmal 12 Prozent des Gü-terverkehrs, lautet der ewige Ruf der Unwissenden oderBöswilligen. Gerne wird dabei außer Acht gelassen,dass andere Verwaltungen in Bundes- und Landesbe-schäftigte unterteilt sind. Allein in NRW kümmern sich1 260 Landesbeschäftigte der Autobahnmeistereien umdie 2 170 Kilometer Autobahn des Bundes auf nord-rhein-westfälischem Boden. Ein Fluss ist aber keineStraße, und daher sind die Aufgaben der WSV vielfälti-ger Natur. Die Regelung des Schiffsverkehrs von derschwarzen Flotte bis zum Kanu ist nur ein Teilbereich.Die Bundesregierung hat in ihrem Kernaufgabengutach-ten 120 Produkte, also Tätigkeitsfelder, aufgelistet – unddamit kommen wir zu des Pudels Kern; denn die hoheit-lichen Aufgaben können wahre Goldgruben sein. Die lu-krativen sollen endlich verteilt werden, wenn es nachdem Willen der FDP geht. 39 vergabefähige Produktehat der zweite Bericht zur Reform der WSV schon ausge-macht, 12 weitere könnten nach Bildung eines Marktesvon Dritten ausgeführt werden. Wer glaubt, hier ginge esum ökonomische Optimierung, also um Einsparung vonSteuermitteln, der irrt; denn viele Beispiele zeigen uns,dass sich kein Markt entwickelt und Monopolstellungendie Kosten in die Höhe treiben oder die Ausführungs-qualität der Arbeiten in den Keller. Nur ein Beispiel, dieNassbaggerei. Ich zitiere aus dem Bericht: „Die Erfah-rungen mit der Nassbaggerei im Küstenbereich belegen,dass ein Nachfragemonopol im Regelfall zumindest mit-telfristig ein Anbietermonopol ausbildet, welches dannzu enormen Kostensteigerungen führt.“ Wider besseresWissen soll aber weiter privatisiert werden. Es kann alsonicht um Optimierung oder Mitteleinsparung gehen.Aber, bitte, um was geht es der Koalition, wenn nicht umPrivatisierung hoheitlicher Aufgaben, auch wenn manvorher schon weiß, dass es hinterher teurer wird? Wasist geschehen? Die Koalition fordert am 27. Oktober2010 per Beschluss des Haushaltsausschusses den Um-bau der WSV von einer Ausführungs- in eine Gewähr-leistungsverwaltung samt Übersicht der Stelleneinspa-rungen. Damit das Ministerium auch spurt, wird gleicheine Stellensperre verhängt. Grüne und Linke springender Koalition bei. Es folgt am 24. Januar 2011 der ersteBericht. Er versetzt uns ins Staunen; denn er präsentiertzwar keine Einsparungen, und mehr Aufgaben vergebenwill er eigentlich auch nicht, doch dafür unterbreitet ereine Kategorisierung der Bundeswasserstraßen, mitsehr weitreichenden Folgen für die Binnenschifffahrt inDeutschland. Ein Schreckgespenst, das seitdem alle, diemit schiffbarem Wasser zu tun haben, in Alarmbereit-schaft versetzt, und das zu Recht! Denn die Pläne desBundesministers offenbaren seine skandalöse Sicht aufden Verkehrsträger Wasserstraße. Ganze Flusssystemedrohen „trockengestellt“, Landstriche wirtschaftlichZu Protokollabgehängt zu werden. „Das war doch gar nicht bestellt“ruft es gleich aus der FDP. Doch wie der Zauberlehrlingschon sagte, diese Geister wird man so schnell nichtmehr los, und sie treiben uns bis heute um. Da hilft auchkein Schreiben an den Verkehrsminister. Die FDP wirftall ihre Namen in die Schale und erklärt mit Schreibenvom 25. Februar 2011 dem Minister, was sie von ihm er-warten. Das ist der Versuch, sicherzustellen, dass derMinister auch versteht, was sie wirklich wollen.Ein zweiter Bericht soll nun Klarheit schaffen. VieleMenschen in der WSV, der Binnenschifffahrt, der verla-denden Wirtschaft, der produzierenden Wirtschaft undauch aus dem Bereich der Freizeitschiffer, Sportbooteund Wassertouristik warteten gespannt auf den 30. April2011, den Tag der Zustellung des Berichts. Kopfschüt-teln allerorten; denn nach wie vor ist absolut unklar, wasdenn das Haus damit will. Wieder gibt es nichts einzu-sparen, weder Personal- noch Sachmittel, ein paarStandorte sollen zusammengelegt, doch keine Stellenmehr abgebaut werden, als sowieso schon vereinbart,weiterhin wird an der untragbaren Kategorisierung derWasserstraßen festgehalten, und niemand findet ein gu-tes Wort dafür. Kritik aus allen Richtungen, die Minister-präsidenten der Länder stehen Schlange, auch die derCDU-Länder. Bei einer Onlineumfrage gaben63 Prozent der Binnenschiffer dem Minister eine glatteSechs für seine Binnenschifffahrtspolitik, und wiederstellt die FDP fest, dass das es nun wieder nicht war. Ichzitiere den Kollegen Staffeldt: Ein ganz großer Wurf istdamit noch nicht gelungen. – Ja, aber was wollen Siedenn, meine Damen und Herren von der Koalition, wasder Herr Bundesminister nicht versteht? Es wird dochalles nur noch schlimmer. Was bisher gelaufen ist, ist einganz unwürdiges Spiel auf dem Rücken der Beschäftig-ten der WSV, ein Paradestück dafür, wie man keine Re-form einleitet. Wäre es nicht so schlimm, könnte manüber dieses Theater nur schmunzeln, doch es steht einVerkehrsträger auf dem Spiel, unserer bundeseigenenInfrastruktur drohen dramatische Einschnitte, undganze Wirtschaftsbereiche bangen um ihre Transport-mobilität. Wollen Sie die WSV reformieren? Ja, darüberlässt sich reden, wir sind dabei, aber nicht so! Wo essinnvoll und möglich ist, kann und muss die Behör-denstruktur effizienter werden. Den Privatisierungs-wahn der FDP machen wir aber nicht mit. Sie wollendas Wasserstraßennetz neu strukturieren und Mittel kon-zentrieren? Ja, auch darüber können wir reden! Abervorher erklären Sie mir, warum ganze Bundeswasser-straßen wegen Geldmangels renaturiert werden sollen,Anlagen verfallen und wir Millioneninvestitionen in dieInfrastruktur zu Bauruinen verkommen lassen sollen,während Sie der Binnenschifffahrt gleichzeitig das Geldentziehen. Ihre Politik der geschlossenen Finanzie-rungskreisläufe bringt uns in diese Situation. Seien Sieehrlich: Es wird noch enger für die Wasserstraße. Ichappelliere an Sie: Steuern Sie um, setzen Sie auf die um-weltfreundlichen Verkehrsträger, bringen Sie die Güterauf die Wasserstraße und die Schiene, erfüllen Sie Ihreeigenen Ansprüche aus dem Aktionsplan Güterverkehrund dem Nationalen Hafenkonzept! Für all das brau-chen wir auch eine schlagkräftige WSV vor Ort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12433
gegebene RedenGustav Herzog
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Zuletzt ein Wort zu den Anträgen. Einiges geht in dierichtige Richtung, und bei vielen Punkten sehe ich auchÜbereinstimmung; doch die Grünen denken immer nochin schwarz und weiß. Sie fordern zwar zur Kategorisie-rung der Wasserstraße zu Recht eine Erweiterung derKriterien, beurteilen die Wichtigkeit der Wasserstraßeaber selbst am aktuellen Verkehrsaufkommen. LiebeKolleginnen und Kollegen, es gibt nicht nur „wichtige“und „unwichtige“ Wasserstraßen, wenn unwichtig be-deutet, dass dort nur noch Gewässerpflege erfolgen soll.Im Ganzen weht in Ihrem Antrag der Hauch ökologi-scher Nostalgie, und Sie versuchen, einen Keil zwischenSchifffahrt und Ökologie zu treiben. Für uns ist das keinWiderspruch, ganz im Gegenteil. Den Schwenk der Lin-ken nach ihrem Fehlgriff im ersten Haushaltsbeschlussbegrüße ich. Der Antrag hat mir aber entschieden zuviele dirigistische und zudem unkonkrete Ansätze. Ichfreue mich auf die weitere parlamentarische Auseinan-dersetzung.
Die Diskussion über die Reform der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes beschäftigt uns jetzt
schon seit einiger Zeit, und sie wird nicht von allen Sei-
ten immer mit der ihr angemessenen Objektivität ge-
führt. Insbesondere Sozialdemokraten und Linkspartei
lassen jegliche Sachlichkeit vermissen. Sie diskreditie-
ren die Reformüberlegungen bei jeder Gelegenheit und
schrecken nicht einmal davor zurück, in der Öffentlich-
keit die Unwahrheit zu verbreiten.
Sie behaupten, die Regierungsfraktionen würden die
Verwaltung privatisieren wollen. Dieses ist schlicht die
Unwahrheit. Wir haben immer gesagt, dass wir überprü-
fen wollen, ob und welche vergabefähigen Produktgrup-
pen es in der WSV gibt, die durch Vergabe an Dritte wirt-
schaftlicher zu betreiben sind, als wenn dieses in
Eigenleistung der Verwaltung geschieht. Im Sinne eines
aktivierenden Staates können Aufgaben auch externali-
siert werden. Ist dies nicht der Fall, so werden die Aufga-
ben weiter von der WSV wahrgenommen werden, ganz
nüchtern, sachlich und frei von irgendwelcher Ideologie.
In die beschriebene Richtung stößt auch der Antrag der
Linkspartei, eine Aneinanderreihung von objektiv fal-
schen Annahmen und Behauptungen, die überhaupt kein
Gesamtkonzept erkennen lassen. Sollten Ihre Vorstellun-
gen Realität werden, ist die Zukunftsfähigkeit der WSV
gefährdet und mit ihr die Sicherheit und Leichtigkeit der
Schifffahrt.
Dem Antrag der Grünen hingegen kann ich eine ge-
wisse Sympathie entgegenbringen. Nachdem Sie als Teil
der rot-grünen Regierung mit dafür verantwortlich wa-
ren, dass die Reformbemühungen des Kernaufgaben-
papiers von 2001 gestoppt wurden, scheint ein Umdenk-
prozess stattgefunden zu haben. So finden sich in Ihrem
Antrag einige Ansätze, bei denen wir nah beieinander
sind.
Im zweiten Bericht stellt das Bundesverkehrsministe-
rium auf eine Kategorisierung der Wasserstraßen auf
der Basis der im Jahr 2025 prognostizierten beförderten
Tonnage ab. Wie Sie bin ich der Ansicht, dass die reine
Zu Protokoll
Betrachtung der Tonnage zu wenig ist, um die Bedeu-
tung einer Wasserstraße bemessen zu können. Die von
Ihnen hier gewünschte Präzisierung durch zusätzliche
Parameter wie Containereinheiten, Personenschifffahrt
oder den Wassertourismus gehen aus meiner Sicht in die
richtige Richtung. Allerdings springen Sie zu kurz; denn
zur angemessenen Beurteilung bedarf es einer gesamt-
wirtschaftlichen Betrachtungsweise, bei der unter ande-
rem auch Wertschöpfungsketten und kombinierte Ver-
kehre mit einfließen müssen. Darüber hinaus wünsche
ich mir, dass das Ministerium Transparenz darüber
schafft, wie es zu seiner Verkehrsprognose gelangt ist.
Im Übrigen muss an dieser Stelle darauf hingewiesen
werden, dass die Reformüberlegungen der christlich-li-
beralen Koalition grundsätzlich erst einmal gar nichts
mit einer Kategorisierung der Wasserstraßen zu tun ha-
ben. Die Reform dient dem Zweck, die Wasser- und
Schifffahrtsstraßenverwaltung zukunftsfähig, effizient
und leistungsstark zu erhalten. Eine Kategorisierung
kann sinnvoll sein, darf aber natürlich erst erfolgen,
wenn eine sorgfältige Aufgabenkritik erfolgte.
Darum ist die Anfrage der Grünen nach Vorlage ei-
nes Gesamtkonzeptes zur Aufgaben- und Personalstruk-
tur und der daraus abzuleitenden Aufbauorganisation
sinnvoll. Gleiches gilt für den Aufgabenkatalog, in dem
Sie eine Unterscheidung sämtlicher Tätigkeiten der
WSV zwischen Gewährleistungs- und Durchführungs-
verantwortung wünschen. Welchen Zweck eine Regie-
rungskommission erfüllen soll, erschließt sich mir nicht.
Glauben Sie denn ernsthaft, dass durch die Hinzuzie-
hung zusätzlicher Verbände die Entscheidungsprozesse
flexibler, zielgerichteter und effizienter erfolgen? Hier
habe ich den Eindruck, dass es Ihnen ausschließlich da-
rum geht, Ihre eigene Klientel mit einzubringen, um der
WSV zusätzliche Aufgaben aufzuerlegen, die nicht dem
hoheitlichen Auftrag der Verwaltung entsprechen. Alles
in allem haben die Grünen einen nicht ganz uninteres-
santen Antrag vorgelegt, der aus meiner Sicht allerdings
noch erhebliche Mängel aufweist. Über den Antrag der
Linken habe ich genug gesagt. Ich freue mich auf die
weiteren Beratungen.
Die Linke steht an der Seite der Beschäftigten derWasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Ar-beit der WSV so verändern, dass sie fit für die Zukunftist. Sie soll künftig stärker an einer ökologischen Fluss-politik ausgerichtet werden. Die Regierungsparteienwollen die WSV zu einer sogenannten Gewährleistungs-verwaltung machen. Die Beschäftigten dort sollen nurnoch Arbeiten planen, fremdvergeben und kontrollieren,ob auch alles richtig gemacht wird. Die Arbeitsplätzevon Wasserbauern, Binnenschiffern, Arbeitern und An-gestellten bei der WSV werden weitgehend überflüssig.Das ist keine Reform, das ist die Zerschlagung der WSV.Diese Pläne müssen vom Tisch.Die Sicherheit und der Betrieb auf den Flüssen liegtim gesamtwirtschaftlichen Interesse. Die WSV ist fürden reibungslosen Ablauf auf einem der am stärksten be-fahrenen Wasserstraßennetze verantwortlich, sie orga-
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12434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene RedenHerbert Behrens
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nisiert die Notfallvorsorge bei Schiffsunfällen, machtSchadstoffbekämpfung, schützt die Infrastruktur für dengewerblichen und privaten Verkehr auf Flüssen und Ka-nälen und arbeitet auch heute schon daran, einen gutenökologischen Gewässerzustand zu bewahren oder wie-der herzustellen. Das ist Daseinsvorsorge, und die ge-hört in die öffentliche Hand.Da hat nichts mit Stillstand zu tun oder mit sturemFesthalten an überholten Strukturen. Die WSV hat vieleUmbauten hinter sich. Gemeinsam mit externen Bera-tern und internem Sachverstand hat man die Organisa-tion umgebaut. Meistens war Personalabbau der Grund,dass die Arbeitsabläufe umgestaltet werden mussten.Seit 1993 hat die WSV fast 5 000 Arbeitsplätze abge-baut. Schon heute fehlen Fachkräfte für die Arbeit, diedann an Fremdfirmen vergeben wird. Was übrigens teil-weise teurer ist als vorher. Das bestätigt selbst das Ver-kehrsministerium. Bis 2020 sollen nochmal 2 800 Stel-len verschwinden. Jede weitere Kürzung beim Personalstellt die Arbeitsfähigkeit der WSV infrage.Die Linke will eine Wasser- und Schifffahrtsverwal-tung erhalten, die bisherige Aufgaben aufgibt und neueAufgaben übernimmt, die für eine ökologische Flusspo-litik nötig sind. Wir wollen einen Umbau, der Verkehrs-verlagerung von der Betonstraße auf die Wasserstraßemöglich macht. Denn der Anteil des Güterverkehrs aufumweltfreundliche Verkehrsträgern muss deutlich er-höht werden, insbesondere beim Abtransport der Güteraus den Seehäfen – übrigens eine Forderung, die im Na-tionalen Hafenkonzept und dem Aktionsplan Güterver-kehr und Logistik der Bundesregierung steht.Wir wollen erreichen, dass wenig genutzte Gewässerrenaturiert werden, um einer ökologischen Flusspolitikgerecht zu werden. Der Naturschutz muss stärker in dieArbeit einbezogen werden, um eine naturnahe touristi-sche Nutzung eines Flusses möglich zu machen. Das er-fordert Personal, Ressourcen und fachliche Kompeten-zen.Die Pläne des Bundesverkehrsministeriums zur Was-ser- und Schifffahrtsverwaltung schlagen immer höhereWellen, denn es gibt einen Sturm der Entrüstung. Es gibtProtest der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Ichzitiere: „Eine Umsetzung des Berichts würde die Leis-tungsfähigkeit der WSV zerstören, die Wasserstraße alsVerkehrsträger und als ökologisches Gesamtsystem irre-parabel schädigen, die WSV für die SteuerzahlerInnenverteuern … und Arbeits- und Ausbildungsplätze, nichtnur in der WSV, vernichten.“ So schreibt die Fachabtei-lung beim Verdi-Bundesvorstand.Es gibt Protest von immer größeren Teilen der Fach-verbände und Wirtschaftsverbände aus der ganzen Re-publik. Protest gibt es nicht nur von den Oppositions-parteien, sondern auch aus den eigenen Reihen:Wenn die Verkehrsministerkonferenz aller Bundeslän-der die Pläne ablehnen und beschließen, dass „die er-hebliche Unterfinanzierung im Wasserstraßenhaus-halt“, die ja als Begründung herhalten musste, „durchdie erwogene Kategorisierung nicht kompensiert wer-den“ kann, wenn die Verkehrsminister feststellen, dassZu Protokollder „Umbau der WSV von einer Ausführungs- zu einerGewährleistungsverwaltung die WSV in ihrer heutigenStruktur infrage stellen“ würde, wenn sie beschließen,dass es „sowohl den Erhalt als auch den Ausbau einesleistungsfähigen Wasserstraßennetzes infrage“ stellenwürde, spätestens dann sollte ein Minister aufwachenund umsteuern.Der Bundesverkehrsminister wurde deswegen auchheute bei der Bundeskanzlerin zum Rapport bestellt.Herr Ramsauer, arbeiten Sie nicht gegen den Willen derganzen Republik!Nicht nachvollziehbar ist die Position von Bündnis 90/Die Grünen in der Frage Zukunft der WSV. Sie fordernin ihrem Antrag, die WSV unter der Regie des Bundes-rechnungshofs zu reformieren. Ich bezweifle, dass dortdie Kompetenz vorhanden ist, um die Aufgaben der WSVzu beschreiben. Und dann noch zu fordern, dass bis zurVorlage eines Reformvorschlags auf Dienstvereinbarun-gen mit Personalräten und Tarifvereinbarungen mit Ge-werkschaften zu verzichten ist, das geht dann doch zuweit. Das ist ein Angriff auf das Selbstbestimmungsrechtvon Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Umbauplänedes Verkehrsministers sind ganz offenkundig auf Drän-gen einer kleinen marktradikalen Minderheit, nämlichauf Drängen der FDP, aus der Mottenkiste geholt wor-den. Die CDU/CSU lässt sich von ihrem Koalitionspart-ner treiben und stellt sich in der Diskussion mit Beschäf-tigten so dar, dass sie die Beschäftigten lediglich vornoch schlimmeren Plänen der FDP bewahren will. Ma-chen Sie dem ein Ende!Wir fordern die Bundesregierung auf, die WSV ange-messen auszustatten, um den vielfältigen Anforderungender Binnenschifffahrt und einer umweltverträglichenVerkehrspolitik zu genügen. Das Wiederbesetzungsmo-ratorium und der Beförderungsstopp müssen aufgeho-ben werden. Für die über 1 000 Auszubildenden muss eseine angemessene Übernahmequote geben. Machen wirgemeinsam die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung alsöffentliche Einrichtung zukunftsfest.
Unser Antrag lautet: „Neue Netzstruktur für Wasser-straßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrts-verwaltung reformieren“. Die Reform der Wasser- undSchifffahrtsverwaltung beschäftigt uns nun schon einegeraume Zeit – und derzeit sieht es nicht danach aus,dass wir sie zügig zum Abschluss bringen könnten. DieBerichte der Bundesregierung lassen sehr viele Fragenoffen. Schon der erste Bericht hatte viele Mängel. Offen-sichtlich haben die Aufträge des Haushaltsausschussesnicht zu mehr Klarheit im Bundesverkehrsministeriumgeführt. Die Bundesregierung scheint selbst nicht zuwissen, was sie eigentlich erreichen will. Deswegenpasst oft ein Ende nicht zum anderen. Zwar gibt es rich-tige Ansätze, die wir begrüßen, nur fehlt die Eindeutig-keit, wohin man damit will. Die Festlegung einer neuenNetzstruktur der Bundeswasserstraßen ist ein richtigerAusgangspunkt. Aber nur wenn auch endlich strategi-sche Ziele für das System Wasserstraße definiert und da-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12435
gegebene Reden
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12436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dr. Valerie Wilms
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raus die notwendigen Aufgaben abgeleitet werden, kannman die Verwaltung schließlich effizient organisieren.Das Kernproblem dieser Reform ist jedoch, dass sieim „stillen Kämmerlein“ ausgearbeitet wurde. Sogaruns Abgeordneten wurde untersagt, die Direktionen,Ämter und Außenbezirke zu besuchen. Fraktionsüber-greifend haben wir uns dagegen ausgesprochen. Mit die-sem Vorgehen hat das Verkehrsministerium bei allen Be-troffenen nachdrücklich für Verunsicherung gesorgt.Spekulationen über eine mögliche Zerschlagung wurdebreiter Raum gegeben – und damit der Erfolg der eige-nen Arbeit gefährdet. Das ist absolut unverständlich.Wir Grünen haben im letzten Jahr die ersten Ideen füreine neue Netzstruktur vorgestellt und eine Reform derVerwaltung gefordert. Wir haben die Regierungskoali-tion im Haushaltsausschuss unterstützt und es uns nichtals Opposition bequem gemacht. Dazu stehen wir, undwir sehen uns hier auch in einer besonderen Verantwor-tung, diese Reform erfolgreich umzusetzen. Ich gehe indie Ämter und höre, wie dort die Reformvorschläge be-wertet werden. Sehr oft konnte ich feststellen, dass vie-len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Defizite ihrerVerwaltung wohl bekannt sind und die Bereitschaft be-steht, die Mängel zu beheben. Uns ist klar: Eine Reformdieses Ausmaßes kann nur mit den Beschäftigten undBetroffenen gemeinsam erfolgen.Als Gegensatz zu dieser Bereitschaft vor Ort emp-finde ich die Erarbeitung der Reform im HauseRamsauer. Hier scheint der echte Wille zu fehlen, wirk-lich etwas ändern zu wollen. Ganze vier Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter im Verkehrsministerium hatten indrei Monaten ein neues Konzept für über 10 000 Be-schäftigte zu entwickeln – mit weitreichenden Auswir-kungen für die Logistikbranche und auf ganze Regionen.Die Ergebnisse dieses Vorgehens sind recht klar imzweiten Bericht der Bundesregierung zu lesen. Zahlrei-che Verbesserungsvorschläge und Präzisierungen wur-den ignoriert und nicht aufgenommen. Vor allem dasFesthalten an der Tonnagemenge ist nicht nachvollzieh-bar. Es ist nicht klar, wie man diese Mengen berechnet,wenn der Bericht die Verkehrsprognose 2025 und dazunebulös „weitere Spezialprognosen“ zur Grundlagenimmt. So rutscht etwa die Elbe im Gegensatz zum letz-ten Bericht um eine Kategorie nach oben. Für wen sollhier wirklich nachvollziehbar sein, auf welcher Grund-lage diese Reform aufgebaut wird? Das Vorgehen isteinfach nicht transparent. Neben dieser unklaren Daten-grundlage ist jedoch auch die Festlegung der Netzstruk-tur allein anhand der beförderten Tonnen pro Jahr nichtzweckmäßig. Bestimmte Güter können nicht aussage-kräftig in physischen Gewichtseinheiten gemessen wer-den, sondern werden auch in der Anzahl der umgeschla-genen und transportierten Container bewertet. Geradeder steigende Anteil an Containern in der Schifffahrtmuss deswegen bei der Netzstruktur der Wasserstraßenberücksichtigt werden. Mit dieser Datenbasis ist die ge-samte Reform äußerst wackelig.Damit sind die angegebenen Zeitpläne Makulatur. ImKern sind die beabsichtigten Abläufe sogar gefährlich:Bevor überhaupt breit diskutiert wurde und der Haus-haltsausschuss die Reformabsichten bewertet hat, willdas Ministerium bereits mit der Entwidmung und Rena-turierung bestimmter Wasserstraßen beginnen, ohnedass eine tragfähige Idee vorhanden ist, was die Auswir-kungen der Entwidmungen sind. Bevor damit begonnenwird, muss mit betroffenen Wassersport- und Tourismus-verbänden sowie Ländern und Kommunen über einemögliche Übergabe oder die Neuregelung der Verant-wortung gesprochen werden. Wenn hier die hoheitlichenAufgaben im Hauruckverfahren aufgegeben werden,muss zukünftig bei jeder Ufersicherung oder Instandset-zung durch die örtlichen Behörden eine Genehmigungeingeholt werden. Außerdem würde eine Wasserstraßemit ungeklärtem Folgestatus nicht mehr dem Bundes-wasserstraßengesetz unterliegen, und demzufolge wäreunklar, wie und durch wen dann die erst kürzlich aufge-nommenen Ziele der Wasserrahmenrichtlinie umzuset-zen sind. Hier merkt man besonders deutlich, dass dieReform einzig aus verkehrspolitischer Sicht erfolgt –und dann auch noch so schlecht.Politik heutzutage kann jedoch die Probleme nichtnur von einer Seite betrachten, sondern muss die Aus-wirkungen auf viele Politikbereiche berücksichtigen. Beidieser Reform gibt es einen eklatanten Mangel aus derUmwelt- und Naturschutzsicht sowie bei den Auswirkun-gen auf den Tourismus und die regionale Wirtschaftsför-derung. Wenn diese Aspekte nicht eingebunden werden,wird die Reform entweder halbgar oder ganz scheiternund definitiv zu höheren statt geringeren Kosten führen.Insgesamt kann man damit nur sagen: Die Bundesregie-rung hat bei dieser Reform weder gewollt noch gekonnt.Der einzige Ausweg ist deswegen das Aussetzen der Re-form und die sofortige Einsetzung einer Kommission, ander alle Betroffenen beteiligt werden. Diese Kommissionsoll die Umsetzung der neuen Netzstruktur der Bundes-wasserstraßen und eine Verwaltungsreform der Wasser-und Schifffahrtsverwaltung begleiten. In ihr sollen Ver-treter der Schifffahrtsbranche, der Häfen, der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, von Bund, Ländern undKommunen sowie der Umwelt- und Naturschutzver-bände und Expertinnen bzw. Experten für Verwaltungs-reformen vertreten sein. Mit einem breiten Konsens kön-nen hier Wege gefunden werden, um eine unumstritteneReform zu erarbeiten und umzusetzen. Ich fordere alleFraktionen und Betroffenen auf, sich für diese Kommis-sion einzusetzen!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/5056 und 17/5548 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinWerner, Annette Groth, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschen-rechte in Deutschland schützen, respektierenund gewährleisten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12437
Vizepräsident Eduard Oswald
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– Drucksache 17/5390 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier bei mir vor.
In Deutschland werden die Bürger- und Menschen-
rechte vom Grundgesetz und von den Landesverfassun-
gen gewährleistet. „Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar.“ Das ist der Leitsatz unserer Verfassung.
Deutschland hat alle zentralen Übereinkommen der
Vereinten Nationen, des Europarates und der Europäi-
schen Union zum Schutz der Menschenrechte nicht nur
unterzeichnet, sondern setzt sie auch um.
Die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung
der Menschenrechte finden in nur wenigen Ländern der
Welt auf so hohem Niveau, und zwar in allen Bereichen
des gesellschaftlichen Lebens, Anwendung wie in unse-
rem Lande.
Deutschland ein Entwicklungsland in Sachen Men-
schenrechte – auf einer Stufe mit so finsteren Diktaturen
wie Nordkorea, Iran oder Saudi-Arabien? Nein, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei. Das sug-
gerieren sie schon mit der Überschrift Ihres Antrags,
und das findet sich so auch in manchen Forderungen
wieder. Das ist der falsche Ansatz für durchaus berech-
tigte Kritik in manchen Bereichen des Menschenrechts-
schutzes in Deutschland, und das diskreditiert Ihr Anlie-
gen schon im Ansatz.
Ich sage dies nicht, weil ich Kritik an der Menschen-
rechtslage in Deutschland für unzulässig halte. Im Ge-
genteil, bin ich doch im Gegensatz zu vielen Kolleginnen
und Kollegen der Union, vor allem der Innenpolitiker,
sehr davon überzeugt, dass eine solche innenpolitische
Kritik an der Menschenrechtslage notwendig, berechtigt
und im Übrigen auch im Aufgabenprofil des Menschen-
rechtsausschusses angelegt ist. Aber, wenn man Ihren
Antrag liest, drängt sich der Eindruck auf, dass in
Deutschland die Menschenrechtslage geradezu kata-
strophal ist und wir in einem Land leben, in dem es im
Menschenrechtsbereich in den letzten zehn Jahren keine
Fortschritte gegeben hätte. Wer das, was Sie in Ihrem
Antrag schreiben, liest, ohne die tatsächlichen Gegeben-
heiten zu kennen, der muss zu dem Schluss kommen,
dass bei den Menschenrechten in Deutschland alles im
Argen ist; denn sie malen alles schwarz, gehen immer
vom Schlimmsten aus und pauschalisieren. So sprechen
Sie von Menschenrechtsverletzungen bei Behinderten,
erwähnen aber mit keinem Wort, dass mit der Ratifizie-
rung der UN-Behindertenkonvention durch Deutschland
und der Schaffung der Monitoringstelle zur Einhaltung
dieser Konvention, angesiedelt beim DIM, die Verbesse-
rung für diese Menschen aktiv politisch vorangetrieben
wird. Hier wäre sachliche Detailkritik am Stand der Um-
setzung richtig und erforderlich, zum Beispiel bei der
Frage der Inklusion im Bildungsbereich.
Auch erwähnen Sie bei der Frage nach Menschen-
rechtsverletzungen gegenüber Homosexuellen mit kei-
ner Silbe die Verbesserungen für diese Gruppe durch die
Gesetzgebungsinitiativen unter Rot-Grün. Auch ver-
drängen Sie, dass nach langem Drängen insbesondere
der SPD mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung
zur Kinderrechtskonvention auch dort etwas zum Positi-
ven in Bewegung ist. Hier würden Sie unsere Unterstüt-
zung finden, wenn Sie unter Würdigung der auch von
allen Nichtregierungsorganisationen begrüßten Rück-
nahme mit uns gemeinsam fordern würden, dem nun
auch gesetzgeberische Umsetzungen im Bundesrecht
folgen zu lassen, im Aufenthaltsrecht oder Sozialrecht.
Genauso wenig thematisieren sie unser intensives Enga-
gement im Menschenrechtsausschuss, für die Kinder-
rechtskonvention ein Individualbeschwerdeverfahren zu
schaffen.
Es geht nicht darum, irgendetwas schönzureden. Das
ist auf keinen Fall mein Ziel. Aber ich finde es für eine
effektive und glaubhafte Menschenrechtsarbeit äußerst
gefährlich, so zu tun, als sei die Menschenrechtslage in
Deutschland grundsätzlich und komplett negativ und als
katastrophal einzuschätzen. Genauso gefährlich ist das
Gesundbeten von tatsächlich vorhandenen Missständen;
denn beides verstellt den Blick auf die Realitäten und
macht konkrete Schritte zur Verbesserung der Men-
schenrechtslage von zum Beispiel Kindern, älteren Men-
schen, Migranten und Migrantinnen und Behinderten
schwieriger. Kurz gesagt, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Linken: Ihr Bild der Realität vermittelt ei-
nen definitiv falschen Eindruck. Diese extrem negative
Sicht der Dinge ist falsch. Es gibt einiges zu tun, um die
Menschenrechtslage auch in Deutschland zu verbessern,
fürwahr, darüber debattieren wir immer wieder, gerade
im Menschenrechtsausschuss. Aber diesem durchaus be-
rechtigten Anliegen werden Sie mit Ihrer Pauschalkritik
nicht nur nicht gerecht, Sie konterkarieren darüber-
hinaus auch die Bemühungen derjenigen, die in oft mü-
hevoller Kleinarbeit Fortschritte im Detail erzielen wol-
len.
Die Selektivität Ihrer Wahrnehmung ergibt sich zum
Beispiel aus Folgendem: Sie kritisieren den 4. Staaten-
bericht Deutschlands zum Sozialpakt aus dem Jahr
2001. Für die Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens wäre es
dabei sicherlich nicht völlig falsch gewesen, zumindest
darauf hinzuweisen, dass bereits 2008 der 5. Staatenbe-
richt vorgelegt wurde. Dieser wurde erst vor wenigen
Wochen in der 46. Sitzung des zuständigen Fachaus-
schusses erörtert. Ergebnis war eine überwiegend posi-
tive Bewertung des Berichts und der Situation in
Deutschland, allerdings verbunden mit der Aufforde-
rung an den Gesetzgeber, das größte Defizit, nämlich die
ausstehende Ratifizierung des Fakultativprotokolls end-
lich zu beseitigen. Dieser Forderung schließt sich die
SPD-Fraktion nicht nur nachdrücklich an, wir haben
dies bereits auch im Deutschen Bundestag mehrfach an-
gesprochen und auch antragsmäßig eingebracht, aller-
Christoph Strässer
(C)
(B)
dings hat die Linksfraktion dies im Bündnis mit den
Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Ein Großteil Ihrer zehn Forderungen ist in der Sub-
stanz nicht falsch, in der konkreten Frage nach Umset-
zung fehlt fast alles. So ist es schön und richtig, zu for-
dern, Kinder- und Altersarmut mit allen erforderlichen
Maßnahmen zu bekämpfen und ihr vorzubeugen. Nun
wäre man als interessierter Bürger diese Landes schon
interessiert, zu erfahren, was denn nach Auffassung der
Linksfraktion diese „erforderlichen Maßnahmen“ sind.
Antwort: Fehlanzeige.
Sie fordern in Ziffer 3 „Kindern und Jugendlichen
frühzeitig Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe
und Entfaltung ihrer persönlichen Fähigkeiten einzu-
räumen und hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen“.
Prächtig! Wie wäre es denn mal mit eigenen Vorschlä-
gen, so wie es die SPD immer wieder getan hat, zum Bei-
spiel eine Streichung der Übermittlungspflicht des § 87
Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, wonach Kinder ohne
Aufenthaltsstatus von Schulen an die Ausländerbehör-
den gemeldet werden müssen? Zuviel verlangt?
Des Weiteren fordern sie – ich zitiere –, „die soziale,
gesellschaftliche und politische Partizipation der in
Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von Ge-
schlecht, Behinderung, Herkunft, Religions- oder Kon-
fessionszugehörigkeit, Hautfarbe oder sozialem Status,
zu gewährleisten“. Auch das ist eine gute und richtige
Forderung, die so pauschal und unkonkret jeder mittra-
gen möchte, der nicht als Rassist gelten will. Aber was
bedeutet das konkret in politisches Handeln übersetzt.
Auf welcher Gesetzgebungsebene und mit welcher kon-
kreten Gesetzgebungsinitiative soll diese Forderung in
die Realität umgesetzt werden? Also ehrlich, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linken: Diskriminie-
rungsfreiheit für alle Menschen in Deutschland zu for-
dern, ohne konkret zu benennen, was zum Beispiel bei
der Umsetzung des allgemeinen Gleichbehandlungsge-
setzes schief läuft, um nur ein Beispiel zu nennen, ist für
den, der politisch mit realen Gesetzgebungsinstrumen-
ten tatsächlich etwas verändern will, zu wenig. Das
reicht vielleicht für eine öffentlichkeitswirksame Insze-
nierung, aber nicht für die politisch-praktische Arbeit.
Wenn Sie in Ziffer 8 Ihres Antrages unter anderem
eine „sanktionsfreie und bedarfsdeckende Mindest-
sicherung“ fordern, so sollten Sie das schon erläutern.
Meinen Sie das in der Gesellschaft diskutierte bedin-
gungslose Grundeinkommen und damit eine Abkehr vom
Grundkonsens, nach dem gute Arbeit und Beschäftigung
und damit verbunden die Sicherung menschenwürdigen
Lebens durch eigene Arbeitsleistung einen Wert an sich
darstellen? Oder meinen Sie mit Sanktionsfreiheit
„nur“, dass bei staatlichen Transferleistungen, die von
allen, die Arbeit haben, mit erwirtschaftet werden, über-
haupt keine Regeln mehr gelten sollen? Fragen über
Fragen, jedenfalls mehr als Antworten.
Aber, um nicht in den Verdacht zu geraten, genauso
schwarzmalerisch mit Ihrem Antrag umzugehen, wie
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das
Bild der Menschenrechtslage in Deutschland zeichnen,
möchte ich erwähnen, dass wir zum Beispiel Ihre nun
Zu Protokoll
seltenerweise einmal konkret formulierte Forderung,
Flüchtlingskinder von 16 und 17 Jahren nach der Kin-
derrechtskonvention zu behandeln und verfahrensrecht-
lich nicht als Erwachsene einzustufen, zu 100 Prozent
unterstützen. Auch unterstützen wir die Forderung der
Linken, dass allen Kindern, auch und vor allem denen
ohne kontinuierliche Aufenthaltsgenehmigung, wie in
der Behindertenrechtskonvention und der Kinderrecht-
konvention rechtlich verbindlich vorgegeben, uneinge-
schränkter Zugang zu Bildungsstätten gewährt werden
muss.
Ja, es stimmt. Auch in Deutschland gibt es Defizite bei
der Umsetzung menschenrechtlicher Standards. Ein
Land, in dem alles zu 100 Prozent umgesetzt ist, gibt es
nicht. Die Bundesrepublik hat fast alle Menschenrechts-
verträge gezeichnet und ratifiziert, bei der Implementie-
rung gibt es noch einiges zu tun. Die SPD-Bundestags-
fraktion wird alles tun, um die selbst gesetzten
Ansprüche unseres Landes und unserer Gesellschaft
auch umzusetzen, immer wieder und mit konkreten Vor-
schlägen. Wir tun dies auch, um unserer eigenen Glaub-
würdigkeit willen, wenn wir die Umsetzung der Men-
schenrechte in anderen Staaten fordern. Mit einem
pauschalen Rundumschlag, der unser Land darstellt, als
seien wir in der Zeit vor der Aufklärung steckengeblie-
ben, werden wir diesem Ziel nicht gerecht.
Ich würde mir wünschen, dass die Regierungskoali-
tion in ihrer Menschenrechtsarbeit endlich den innen-
politischen Aspekt ernster nimmt und die Linke endlich
konkret brauchbare Sacharbeit im Menschenrechtsbe-
reich vorlegen würde, die sich nicht an der Vermarktung
ihrer eigenen Thesen orientiert.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag derFraktion Die Linke „Vom Anspruch zur Wirklichkeit:Menschenrechte in Deutschland schützen, respektierenund gewährleisten“ ab. Der Antrag erschöpft sich in ei-nem Stakkato aus Behauptungen. Diese Behauptungenwerden in der Regel nicht belegt oder näher ausgeführt.So wird zum Beispiel davon gesprochen, es würden beider Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit Muslimebenachteiligt.Die verfassungsrechtlich garantierte innere und äu-ßere Glaubensfreiheit in Deutschland ermöglicht auchMuslimen das Praktizieren ihrer Religion ohne jeglicheEinschränkungen. Der Antrag der Linken negiert in jeg-licher Hinsicht die Erfolge dieser christlich-liberalenKoalition, welche im Koalitionsvertrag manifestiert undumgesetzt wurden. So haben wir das Bleiberecht gelo-ckert. Bei der Residenzpflicht möchten wir eine hinrei-chende Mobilität, insbesondere im Hinblick auf eine zu-gelassene Arbeitsaufnahme. Persönlich wünsche ich mirauch ein Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Auslän-der. Gerade als christlich-liberale Koalition haben wirin unserem Koalitionsvertrag ein besonderes Augen-merk auf die Menschenrechte im In- und Ausland gelegt.Maßgabe unserer Politik ist der Art. 1 Abs. 2 des Grund-gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, GG, derlautet: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu un-
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12438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene RedenSerkan Tören
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verletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechtenals Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, desFriedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“Daher würden wir uns als Bundesregierung verfas-sungswidrig verhalten, wenn wir dies nicht beachtenwürden. Als Bundesregierung sind wir dem Internatio-nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte bei-getreten, der den Rang eines Gesetzes hat.Dies alles zeigt, wie ernst es uns mit der Einhaltungder Menschenrechte in unserem Land ist. Mit unseremKoalitionsantrag „Menschenrechte weltweit schützen“haben wir für die gesamte Legislaturperiode und da-rüber hinaus einen zielführenden und wegweisenden An-trag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Hierinwird ganz klar: Wir Liberale wollen starke Menschen-rechte – national und international.Der Antrag der Linken enthält aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion nur abstruse Forderungen, die jegli-cher Grundlage entbehren. Im Lichte dieser Ausführun-gen kann dieser Antrag der Linken nur abgelehnt wer-den.
Die Bundesregierung singt gern das Hohelied derMenschenrechte. Gegenüber ausgewählten Ländern er-hebt die Bundesregierung gern den moralischen Zeige-finger, auch um von der Situation im eigenen Land abzu-lenken. Art. 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde desMenschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützenist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wir habenallerdings in der Bundesrepublik keinen Grund zurSelbstzufriedenheit. Die Menschenwürde wird in diesemLand alltäglich verletzt. Dies gilt vor allem für Kinder,die in Armut leben, für die Ausgrenzung von Migrantin-nen, Migranten und Flüchtlingen und von Menschen mitBehinderungen. Gerade die konkrete Lebenssituationder sozial Benachteiligten und Schwachen ist aber derLackmustest für unsere realen Menschenrechtsstan-dards! Wer definiert in diesem Land eigentlich, was zueinem Leben in Menschenwürde gehört?Ich möchte diesen Zusammenhang am Beispiel derKinderarmut näher erläutern: Seit einigen Jahren steigtdie Kinder- und Jugendarmut in Deutschland unaufhör-lich an, und man fragt sich: Wieso ist das so? Laut aktu-ellen Angaben der Kindernothilfe wachsen derzeit rund3 Millionen Kinder unter Armutsbedingungen auf.Hinzu kommt, dass unser Bildungssystem die Armut ze-mentiert, weil es kaum Aufstiegschancen bietet. Laut ei-ner aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung könneninzwischen Arbeiterkinder in den USA leichter studierenals in Deutschland. Dieses Verhältnis war früher einmalumgekehrt. 85 Prozent der Kinder mit Behinderungenbesuchen in Deutschland sogar Sonderschulen, undkeines dieser Kinder erreicht die Fach- oder die Hoch-schulreife. Kinder- und Jugendarmut ist für ein wohlha-bendes Land wie die Bundesrepublik ein gesellschafts-politischer Skandal! Die großen Wirtschaftskonzernewerden als Verursacher der Finanzkrise entlastet, undbei der Armutsbekämpfung und anderen Sozialausgabenwird gekürzt. Allein in meinem Bundesland Rheinland-Zu ProtokollPfalz sind über ein Fünftel der 15- bis 18-Jährigen arm.Die Ursache für Kinderarmut ist meist die Einkommens-armut der Eltern. Küchenhilfen in Trier bekommen4 Euro Stundenlohn, Überstunden werden mit einerPizza oder mit Bier entgolten. Wie soll damit eine Fami-lie ernährt werden? Die Kinder aus solchen armen Fa-milien gehen häufig ohne ein Pausenbrot in die Schule.Weil den Eltern das Geld fehlt, müssen sie auch aufbestimmte Freizeitaktivitäten wie einen Schwimmbadbe-such verzichten oder können nicht an Klassenfahrtenteilnehmen. Kindergerechte Teilhabe und Menschen-würde sehen anders aus!Die sogenannte Reform-Agenda 2010 hat MillionenMenschen in Deutschland in Armut gestürzt. Damitwurde ein bislang ungekannter Raubbau vor allem anden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Men-schenrechten der Schwächsten unserer Gesellschaft be-trieben. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohnzur Durchsetzung der Menschenwürde und der Men-schenrechte von Millionen Betroffenen und ihren Kin-dern. Um die Massenarmut zu bekämpfen, fordert dieLinke einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnin Höhe von 10 Euro pro Stunde. Ansonsten gibt es keinesozial gerechte Teilhabe in unserer Gesellschaft.Die Bundesregierung könnte hierbei von unseren eu-ropäischen Partnern lernen. Im Europarat fordert selbstdie Gruppe der Europäischen Volkspartei, das sind dieKonservativen, die Einführung von Mindesteinkom-mensgarantien. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohnvon 10,16 Euro pro Stunde. Auch in Frankreich gibt eseinen gesetzlichen Mindestlohn. Arbeit muss eben ange-messen bezahlt werden, um ein Leben in Würde zu er-möglichen. Das sind die Vorbilder, an denen sich dieBundesregierung orientieren müsste. Stattdessen be-treibt Schwarz-Gelb lieber eine Sündenbockpolitik, diedie Betroffenen selbst für ihre Misere verantwortlichmacht.Menschenunwürdig ist auch Deutschlands Umgangmit Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. BeiFlüchtlingen und Asylsuchenden haben wir ein men-schenfeindliches Abschottungssystem geschaffen, fürdas wir uns schämen müssen. Sofern wir Flüchtlingenicht vor den Mauern der Festung Europa im Mittel-meer ertrinken lassen oder abweisen, behandeln wirdiejenigen, die es trotz allem zu uns schaffen und einenAsylantrag stellen, praktisch wie Kriminelle.Das Asylverfahren und insbesondere die Abschiebe-praxis verletzen eindeutig die Menschenwürde derBetroffenen. Oft werden ganze Familien auseinanderge-rissen und zusätzlich traumatisiert. In Rheinland-Pfalzfinden beispielsweise regelmäßig „Rückkehrberatun-gen“ mit Flüchtlingen statt. Für einen Laptop, einen„Wirtschaftsplan“ für die Selbstständigkeit und etwasBargeld werden die Schutzsuchenden dann wieder abge-schoben. Und dies wird dann als freiwillige Rückkehrbezeichnet. Dabei fehlt doch in den Herkunftsländern oftsogar der Stromanschluss für einen Laptop. So sieht dieFlüchtlingspolitik in Deutschland aus. Das sprichtBände über das Verständnis von Menschenrechten!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12439
gegebene RedenKatrin Werner
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Die Linke fordert einen sofortigen Abschiebestoppund einen menschenwürdigen Umgang mit Schutzsu-chenden und Asylsuchenden. Das Asylbewerberleis-tungsgesetz und die Residenzpflicht gehören abgeschafft;denn sie beschneiden elementare Menschenrechte. Esreicht nicht aus, nur an die Vernunft der Bundesregie-rung zu appellieren, dass sie die Würde und Rechte allerin Deutschland lebenden Menschen besser achten möge.Die Linke fordert die Konkretisierung des Sozialstaats-gebots durch die Aufnahme sozialer Grundrechte in dasGrundgesetz. Dies ist notwendig, um künftig Verletzun-gen insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kul-turellen Menschenrechte in Deutschland besser zu be-gegnen und vorzubeugen. Die vorhandenen deutlichenDefizite vor allem in den Bereichen Armut, Arbeit, Woh-nen, Gesundheitsversorgung und Bildung sind in aller-erster Linie Menschenrechtsverletzungen, die umgehendzu beseitigen sind. Nur in dem Maße, in dem Menschenüber soziale Grundrechte verfügen, werden Freiheits-rechte umfassend wirksam. Ohne ein Mindestmaß an so-zialer Gleichheit gibt es keine wirkliche Freiheit. Beidesgehört zusammen, es sind die beiden Seiten derselbenMenschenrechtsmedaille!
Der Antrag der Fraktion Die Linke wählt einen An-satz, den wir sehr begrüßen: bei der Menschenrechts-politik nicht nur mit dem Finger auf ferne Staaten zu zei-gen, sondern hier in Deutschland anzufangen. DieUniversalität der Menschenrechte zwingt uns dazu, vorunserer Haustür die gleichen Standards anzulegen, diewir von unseren internationalen Partnern weltweit ein-fordern.Dass in anderen Staaten die Menschenrechte in vielstärkerer Weise als bei uns beeinträchtigt werden, ist unsklar. Mit Schrecken schauen wir auf Folter, Vertreibung,willkürliche Verhaftungen und vieles mehr, vor dem wiruns in Deutschland nicht zu fürchten brauchen. Dochauch in Deutschland gibt es menschenrechtliche Defi-zite. Sei es die Gewalt gegen Minderheiten, die Diskri-minierung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialenGruppe, zunehmende Armut gerade von Kindern,Barrieren beim Zugang zu Bildung, ungleiche Bezah-lung von Frauen und Männern bis hin zum Pflegeskan-dal im Alter – Verletzungen und Mängel ziehen sichdurch viele Bereiche. Menschen anderer Hautfarbe, an-derer Religion oder anderer sexueller Orientierung wer-den auch in der Bundesrepublik Opfer von Hetze undtödlicher Gewalt, genauso wie Obdachlose oder Men-schen mit Behinderungen. Und ein ums andere Mal wirddie Bundesregierung vom Bundesverfassungsgerichtund dem Europäischen Gerichthof getadelt, endlich dieverfassungs- und europarechtswidrige Diskriminierungvon Schwulen und Lesben zu beenden. Aber anstatt einevorausschauende und menschenrechtskonforme Antidis-kriminierungspolitik zu betreiben, lässt sich Schwarz-Gelb lieber in regelmäßigen Abständen von den Gerich-ten einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen. Was isteigentlich aus den Gleichstellungsversprechen der Libe-ralen im Wahlkampf geworden?Zu ProtokollWenn wir über den Menschenrechtsschutz inDeutschland sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dasszuweilen Menschenrechtsverletzungen gar nicht vonstaatlichen Akteuren verursacht werden, sondern vontransnational agierenden Unternehmen, und dass auchdeutsche Unternehmen Menschenrechtsverletzungen be-gehen. Der weltweite Rohstoffhunger führt dazu, dassBodenschätze unter menschenrechtswidrigen Bedingun-gen gefördert und Waren zu unmenschlichen Bedingun-gen produziert werden. Das Schielen auf Profit führtdazu, dass Unternehmen die von Staaten begangenenMenschenrechtsverletzungen dulden oder zumindest infahrlässiger Weise fördern. Wir sehen aktuell an derKlage von Opfern der Apartheid unter anderem gegendie Daimler AG, dass auch deutsche Unternehmen beidiesem Spiel beteiligt sein können. Was die Opfer dieserMenschenrechtsverletzungen und Straftaten brauchen,sind keine warmen Worte, sondern rechtliche Möglich-keiten, auch noch nach langer Zeit ihre Schadenersatz-ansprüche effektiv vor deutschen Gerichten geltend zumachen. Die konservativ-neoliberale Koalition schweigtdazu. Das einzige was ihr einfällt, sind freiwilligeSelbstverpflichtungen der Unternehmen, in denen siesich zur Einhaltung der Menschenrechte im Auslandverpflichten können. Dieses Konzept aber hat sich überdie Jahrzehnte hinweg als weitestgehend gescheitert he-rausgestellt. Um ihren extraterritorialen Staatenpflich-ten nachzukommen, benötigt die Bundesrepublik endlichGesetze, die das Verhalten deutscher Unternehmen imAusland im Umgang mit den Menschenrechten klar re-geln. Leider geht auch der Antrag der Fraktion DieLinke hierauf nicht ein. Der vierte periodische Berichtüber die Durchführung des Paktes über wirtschaftliche,soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen inder Bundesrepublik Deutschland vom 31. August 2001kritisiert, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kultu-rellen Rechte in Deutschland weniger Beachtung findenund geringer gesichert sind als die bürgerlichen undpolitischen Rechte. Diese WSK-Rechte werden inDeutschland über das Sozialstaatsgebot geschützt undgewährleistet. Leider begeht auch hier die aktuelle Bun-desregierung einen schweren Fehler, indem sie das Fa-kultativprotokoll zum UN-Sozialpakt nicht ratifiziert. Eswurde über viele Jahre verhandelt. Seine Ratifikationwürde für die seit 1973 für Deutschland verbürgten wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unter an-derem eine Individualbeschwerdemöglichkeit etablie-ren. Deutschland war während der Entstehung desFakultativprotokolls ein verlässlicher Fürsprecher. Seit2009 aber prüft die Bundesregierung nun die deutscheRatifikation des Protokolls. Nachdem zunächst für Ende2010 ein Kabinettsbeschluss über die Ratifikation ange-kündigt war, scheint nun der Prozess auf unbestimmteZeit ausgesetzt zu sein. Hat die Bundesregierung alsotatsächlich Angst davor, in Individualbeschwerden aufeigene Missstände hingewiesen zu werden? Ein bisschenmehr Selbstvertrauen wäre hier angebracht: denn ganzso schlimm, wie es der Antrag der Fraktion Die Linkedarstellt, ist es um den deutschen Sozialstaat nicht be-stellt. Eine Beschwerdeflut wird es also nicht geben.Der Antrag der Fraktion Die Linke geht überdies voneinem falschen Verständnis der wirtschaftlichen, sozia-
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12440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12441
Volker Beck
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len und kulturellen Rechte aus. Die Bundesregierungmuss sie respektieren, indem sie die Rechte der Bevölke-rung nicht verletzt. Sie muss die Rechte schützen, indemsie dafür sorgt, dass die grundlegenden Rechte nichtdurch Dritte verletzt werden, und sie muss diese Rechteerfüllen, indem sie alles in ihrer Macht Stehende unter-nimmt, um der Bevölkerung diese Rechte zu gewähren.Die WSK-Rechte gewähren jedoch keinen Anspruch aufsoziale und wirtschaftliche Gleichheit, wie es sich dieFraktion Die Linke vorstellt. Sie verpflichten die Bun-desrepublik vielmehr, gewisse Minimalstandards zu er-füllen und bei der konkreten Umsetzung durch Gesetze,Verordnungen oder politische Maßnahmen keine Diskri-minierungen zuzulassen. Die Forderung aus demAntrag, soziale Grundrechte ausdrücklich in das Grund-gesetz aufzunehmen, ist darüber hinaus völlig antipoli-tisch. Wie möchte die Fraktion Die Linke angesichtseiner noch nicht einmal einfachen Mehrheit zur Zwei-drittelmehrheit einer Verfassungsänderung gelangen?Zuletzt sei mir noch eines gestattet: Die Menschen-rechtspolitik in Deutschland unter die Lupe zu nehmenund stärker einzufordern, ist mir sehr sympathisch.Wenn die Fraktion Die Linke jedoch über die Gegenwartspricht und in die Zukunft blickt, dann sollte sie auchüber die Vergangenheit sprechen; denn wie es um das in-nerstaatliche Menschenrechtsverständnis ihrer Vorgän-gerpartei aussah, darf in diesem Fall nicht unerwähntbleiben. Dass die wirtschaftlichen, sozialen und kultu-rellen Rechte in dem vorliegenden Antrag lautstark ein-gefordert werden, ist umso bemerkenswerter, als dassdie bürgerlichen und politischen Rechte noch vor nichtallzu langer Zeit von einigen jetzt noch in der Partei ak-tiven Menschen mit Füßen getreten wurden. Wer glaub-hafte Menschenrechtspolitik machen möchte, der solltesich mit seinen eigenen rechtsstaatlichen Verfehlungenzunächst ernsthaft auseinandergesetzt haben. Eine Par-tei, die ihre politischen Wurzeln auch in einem Unrechts-staat hat, ist bei Forderungen nach der Einhaltung derMenschenrechte im Innern nur dann glaubwürdig, wennsie ihre Position aus der Reflexion ihrer eigenen Ge-schichte heraus gewinnt. Wir Grüne sind der festenÜberzeugung, dass sowohl Innen- als auch Außenpolitikan den Menschenrechten ausgerichtet sein müssen;denn nur wer innenpolitisch sich selbst genauso an denmenschenrechtlichen Standards misst und messen lässt,wie er außenpolitisch andere danach beurteilt, kannüberzeugende Menschenrechtspolitik vertreten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5390 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden, dann ist die Überweisung auch so be-
schlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Einsatz von Nanosilber in verbrauchernahen
Produkten zum Schutz von Mensch und Um-
welt stoppen
– Drucksache 17/3689 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier bei mir vor.
Der Einsatz von Nanotechnologie ist inzwischen
nicht mehr aus unserem alltäglichen Leben wegzuden-
ken. Bereits jetzt kommt diese Zukunftstechnologie in
vielerlei Hinsicht zum Einsatz. In der Nanotechnologie
liegen große Chancen, zum Beispiel bei der Weiterent-
wicklung von hochwirksamen Medikamenten.
Die Bundesregierung hat es sich mit ihrem Aktions-
plan Nanotechnologie zum Ziel gesetzt, diese Zukunfts-
technologie näher zu erforschen, mit all ihren Chancen,
aber auch mit möglichen Risiken. Niemand verschließt
die Augen vor möglichen Risiken, aber wir müssen auch
verantwortlich damit umgehen. Panik ist ein schlechter
Ratgeber. Der Antrag der Grünen benennt ein wichtiges
Thema, wird diesem aber nicht in vollem Umfang ge-
recht. Sie schießen über das Ziel hinaus, wenn sie ein ge-
nerelles Verbot von Nanosilber verlangen. Immerhin ist
der Einsatz bestimmter nanohaltiger Silberprodukte in
Lebensmittelbedarfsgegenständen verboten, weder für
Nanoclay noch für Nanosilber gibt es eine Zulassung.
Gemäß der Bedarfsgegenständeverordnung müssen
Additive für Lebensmittelbedarfsgegenstände aus
Kunststoff seit dem 1. Januar 2010 sämtlich zugelassen
sein. Lediglich der Verkauf von Erzeugnissen, die im
Einklang mit den bis zum 31. Dezember 2009 geltenden
Vorschriften hergestellt oder eingeführt wurden, ist zu-
lässig. Es ist wichtig, dass wir mehr Informationen und
mehr Transparenz erhalten. In dieser Hinsicht spricht
der Antrag der Grünen ein wichtiges Anliegen an, aber
dies ist bereits von der Bundesregierung aufgegriffen
worden.
Bundesumweltminister Dr. Norbert Röttgen hat kürz-
lich auf der Abschlussveranstaltung der Nanokommis-
sion eine Nanodatenbank gefordert, damit eben mehr
Transparenz bei diesem wichtigen und mitunter kontro-
versen Thema besteht. Die Kennzeichnung von Nano-
produkten ist ebenfalls angedacht, befindet sich aber
derzeit noch im Abstimmungsprozess. Wir erwarten von
der Wirtschaft, dass sie dem Verbot der Verwendung von
Nanoclay und Nanosilber Rechnung trägt. Zudem wur-
den die für die Überwachung von Bedarfsgegenständen
zuständigen obersten Landesbehörden gebeten, diesem
Sachverhalt im Rahmen der amtlichen Überwachung
besondere Beachtung zu schenken und das BMELV über
eventuell veranlasste Maßnahmen in Kenntnis zu setzen.
Ingbert Liebing
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Solange wir hier keine genaueren Informationen zum
Sachverhalt haben, sollten wir uns allerdings mit vorei-
ligen Verboten, wie in dem Antrag der Grünen gefordert,
zurückhalten.
Unstrittig dürfte sein, dass wir mehr Forschung über
die genaue Wirkung von Nanosilber auf Mensch und
Umwelt brauchen. Dies wird bereits vom Bundesinstitut
für Risikobewertung und vielen anderen Forschungsein-
richtungen getan. Ein wissenschaftliches Monitoring
und zugleich ein Sicherungssystem ist meiner Meinung
nach erforderlich. Das ist ein wichtiges Thema, mit dem
auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir keines-
wegs auf die leichte Schulter nehmen. Nach Überwei-
sung des Antrages an die entsprechenden Ausschüsse
wird hierüber in aller gebotenen Sorgfältigkeit noch ein-
mal beraten werden müssen.
Die medizinische Verwendung von Silber ist uralt.Schon im alten Ägypten wurden Wunden mit Silberfolienbehandelt. Silbersulfadiazin wurde in den 60er-Jahrenzu medizinischen Zwecken erfolgreich angewendet.Heute erlebt Silber angesichts einer steigenden Anzahlvon antibiotikaresistenten Mikroorganismen in Formvon Nanosilber, das aufgrund anderer Eigenschafteneine höhere Wirksamkeit hat, eine neue Blüte. So ist bei-spielsweise die Beschichtung medizinischer Geräte zurAufrechterhaltung der Keimfreiheit ein ganz wichtigesAnwendungsgebiet.Die Verunreinigungsgefahr durch Keime, die heuteein nicht unerhebliches Problem in Krankenhäuserndarstellt, kann in Zukunft erheblich reduziert werden.Schon heute stecken sich in Deutschland jedes Jahr biszu 1 Million Menschen in Kliniken mit multiresistentenErregern an. Davon versterben 20 000 bis 40 000 Pa-tienten jährlich. Die bislang genutzte Desinfektion mitherkömmlichen Mitteln in Krankenhäusern ist oft unzu-reichend, teuer und belastet zusätzlich die Umwelt.Nanosilber wird wegen seiner hohen antibakteriellenEigenschaften aber nicht nur für medizinische Zwecke,sondern auch in zahlreichen Produkten des Alltagseingesetzt. In Lebensmitteln ist die Verwendung von Na-nosilber nicht zugelassen. Der Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen zielt auf ein vollständiges undsofortiges Verbot der Verwendung von Nanosilber ab.Silber ist in sehr hohen Dosierungen bedenklich. ObNanosilber im täglichen Gebrauch allerdings ein Risikofür Mensch und Umwelt darstellt, ist derzeit noch Ge-genstand laufender wissenschaftlicher Untersuchungen,da noch zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkennt-nisse vorliegen. Die Anwendung von Nanosilber mussverantwortungsvoll angegangen werden. Die offenenFragen, wie die nach eventuell auftretenden Resisten-zen, müssen geklärt und Risiken ausgeschlossen werden.Es gilt zu klären, in welchen verbrauchernahen Pro-dukten Nanosilber überhaupt und in welcher Konzentra-tion Verwendung findet. Auch die Auswirkungen auf dasÖkosystem, insbesondere die Belastung des Abwassersund dessen Wiederaufbereitung in den Kläranlagen,müssen untersucht werden. Wo stehen wir heute im Be-Zu Protokollreich der Risikoforschung? Die Bundesregierung hat al-lein 2010 14 Millionen Euro in Projekte der Risiko- undBegleitforschung investiert. Der Anteil an Projekten derRessorts beläuft sich dabei derzeit auf 230 MillionenEuro im Jahr und damit auf 6,2 Prozent; das ist interna-tional Spitze! Zum Vergleich: USA 5 Prozent, UK 4 Pro-zent und Japan 2,4 Prozent.Auch ich bin der Meinung, dass wir mehr Erkennt-nisse zu den potenziellen Risiken brauchen, bevor Nano-technologie verstärkt in verbrauchernahen Produkteneingesetzt wird, aber wir brauchen keine Panikmache.Der Verbraucherschutz in Deutschland trägt dieser ho-hen Verantwortung Rechnung. Nennen möchte ich daslaufende Projekt DaNa, das den Einfluss von unter-schiedlichen nanosilberhaltigen Materialien von gebun-denem Silber und gelösten Silbernanopartikeln aufOrganismen und Umwelt untersucht. Hier werden mög-liche Wirkungen von Nanosilber geprüft, und es wirdmehr Transparenz geschaffen.Wichtig auch das Projekt UMSICHT: Es untersuchtdas Verhalten und den Verbleib von Silbernanopartikelnin Textilien und beschäftigt sich mit der Gefährdungs-und Risikoabschätzung für Silbernanomaterialien aufdie Umwelt. Werden neue Chemikalien oder Materialienentdeckt oder entwickelt, müssen sie nach der gesetzli-chen Vorgabe auf ihre Unbedenklichkeit getestet wer-den. Hierfür gibt es Chemikalien-, Lebensmittel-,Kosmetik- und Waschmittelverordnungen und weitereRegularien. Wir haben in Deutschland eine ganze ReihePrüfungsregister: So regelt beispielsweise REACH alsVerordnung die Registrierung, Bewertung, Zulassungund Beschränkung chemischer Stoffe.Mit den bestehenden rechtlichen Regelungen ist alsoein umfassender Schutz des Verbrauchers gewährleistet.Hersteller und Inverkehrbringer von Produkten, welcheunter dem Einsatz von Nanotechnologie hergestelltwerden, sind im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht für dieEinhaltung der verbraucherrechtlichen Vorschriftenverantwortlich. Auch müssen nach der europäischenKosmetikverordnung von 2009 kosmetische Mittel, dieNanomaterialien enthalten, ab dem 1. Januar 2013 derEU-Kommission vorab gemeldet werden. Die Bundes-regierung beschäftigt sich mit den verschiedenen Risi-ken, die sich im Bereich der Nanotechnologie ergebenkönnen. So sieht der Nanoaktionsplan 2015 der Bundes-regierung eine aktive Begleitung der Diskussion auf na-tionaler und europäischer Ebene vor. Dieser Prozess istnoch nicht abgeschlossen.Angesichts des noch laufenden Prozesses wissen-schaftlicher Auseinandersetzungen mit dieser neuenTechnologie ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünenübereilt und nicht zielführend. Es geht nicht um eine ge-nerelle Erlaubnis oder um ein Verbot, sondern um einesinnvolle und konstruktive Auseinandersetzung mit denChancen und den Risiken, die sich hier ergeben. GroßePotenziale aus Zukunftstechnologien können nicht ein-fach aufgrund von spekulativ geschürten Ängstenbeiseite geschoben werden. Das Marktpotenzial für na-notechnologisch basierte Produkte ist gewaltig. Nano-silber ist nur ein Aspekt.
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12442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene RedenFlorian Hahn
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Für Nanoprodukte wird insgesamt ein Weltmarktvo-lumen von 3 Billionen Euro im Jahr 2015 prognostiziert.Besonders viele Hoffnungen richten sich auf das Poten-zial der Nanotechnologie für die Lösung der großenProbleme unserer Zeit: Ressourcenknappheit, Umwelt-verschmutzung und Krankheiten.Nanotechnologie schafft hochqualifizierte Arbeits-plätze, schont die Ressourcen und verspricht Renditenfür den Wirtschaftsstandort – Made in Germany –Deutschland. Wir haben derzeit in Deutschland insge-samt 980 Unternehmen, die mit Nanotechnologie arbei-ten, davon 242 Großunternehmen und 740 kleine undmittelständische Unternehmen, KMU. Die Gesamtzahlder Beschäftigten in dieser Zukunftstechnologie beläuftsich derzeit auf etwa 63 000, Tendenz steigend. Lassensie uns die Chancen der Nanotechnologien nutzen unddabei die Risiken rechtzeitig erkennen und damit umge-hen. Was wir brauchen, ist keine Stigmatisierung, son-dern Fortschritt mit Augenmaß und Verantwortungsbe-wusstsein.
Ein Zwerg steht hier im Mittelpunkt der Debatte undwirft riesige Schatten. Winzig sind Nanopartikel, aberriesig sind ihre Potenziale und Chancen, aber auch rie-sig sind die Unsicherheit und Unklarheit über möglicheRisiken und Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.Fast unbemerkt werden immer mehr verschiedene Nano-teilchen in unterschiedlichen Anwendungen eingesetzt,obwohl sie noch in der Grundlagenforschung stecken.Zu viele Fragen sind offen, mögliche Risiken noch zuwenig erforscht. Große Hoffnungen und Erwartungenliegen in der Nanomedizin, besonders in der Krebsthe-rapie. Neue Krebstherapien werden bereits in klinischenStudien erprobt. Die Anwendung von Nanomaterialienbei Transportsystemen für Medikamente soll eine effi-zientere Behandlung ermöglichen. Nanosilber kannauch helfen, Krankheitserreger zu bekämpfen. GeradeNanosilber findet sich in immer mehr Produkten, die be-sonders dicht an die Verbraucherin und den Verbrau-cher herankommen und sogar gezielt zum Beispiel in dieHaut eingreifen. Silberverbindungen werden in Cremeszum Konservieren genutzt oder sollen in Textilien anti-bakteriell wirken oder üble Gerüche verhindern.Die Warnung des Bundesamtes für Risikobewertung,BfR, auf die Verwendung von nanoskaligem Silber odernanoskaligen Silberverbindungen in Lebensmitteln undProdukten des täglichen Bedarfs zu verzichten, bis dieDatenlage eine abschließende gesundheitliche Risikobe-wertung zulässt und die gesundheitliche Unbedenklich-keit von Produkten sichergestellt werden kann, ist ernstzu nehmen. Das BfR mahnt, dass bezüglich der Resis-tenzausbreitung dringender weiterer Forschungsbedarfbesteht. Gerade eine Resistenz gegen Antibiotika kannbei Silberexposition gebildet werden. Fragen zur Toxi-kologie von Nanosilber, dem der Körper des Menschenausgesetzt ist, sind noch nicht hinreichend untersucht.Auch hier sieht das BfR weiteren Forschungsbedarf. Zueinem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Nanokom-mission in ihrem Bericht und in ihren Empfehlungen2011. Dort heißt es: „Für die Toxikologie und Ökotoxi-Zu Protokollkologie stehen zurzeit keine eindeutig akzeptierten Ent-lastungskriterien zur Verfügung. Eine vorläufige Ein-schätzung ist daher derzeit nicht möglich“.Hinweise zu Gesundheitsgefahren müssen ernst ge-nommen werden. Das gebietet des Vorsorgeprinzip desStaates; denn in Art. 20 a des Grundgesetzes heißt es:„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künfti-gen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagenund die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ord-nung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe vonGesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und dieRechtsprechung“. Durch den stetig zunehmenden Ein-satz von Nanosilber in verbrauchernahen Produktensteigt die tägliche Aufnahmemenge entsprechend. DieKonsequenz ist daher klar: Wir können es nicht einfachweiterlaufen lassen und warten, bis wir mehr wissen,sondern müssen jetzt eine Entscheidung treffen, die dieVerbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen ge-sundheitlichen Risiken schützt. Der Verzicht auf Nano-silber in Kosmetika, Textilien, Reinigungsmitteln undanderen verbrauchernahen Produkten ist daher angera-ten. Gerade der unnötige Einsatz von Nanosilber bei ge-sunden Menschen, bei denen die Sinnhaftigkeit und derNutzen der Nanoteilchen fraglich sind, muss so langeuntersagt werden, bis die Unbedenklichkeit nachgewie-sen ist.Wir fordern erstens eine intensive Erforschung vontoxikologischen Auswirkungen auf Mensch und Umweltbei Nanotechnologien und eine Verdopplung der Mittelzur Risikoforschung bei Nanopartikeln, zweitens eineKennzeichnung von Nanopartikeln bei allen verbrau-chernahen Produkten, drittens ein Produktregister, dasalle Produkte auflistet, die Nanoteilchen enthalten, undalle Forschungsergebnisse und bisher erforschte Aus-wirkungen auflistet, viertens die Einrichtung einer Bera-tungsstelle als Bundesbehörde, die Erfahrungen sam-melt und den Erfahrungsaustausch unterstützt, undfünftens ein Verbot des Inverkehrbringens von Produk-ten im verbrauchernahen Bereich, zumindest im freiver-käuflichen Bereich.Nach Auskunft der Bundesregierung auf eine KleineAnfrage der SPD-Bundestagsfraktion sind von 2009 bis2012 für die Sicherheitsforschung im Bereich der Nano-technologien circa 14,15 Millionen Euro pro Jahr ver-teilt auf die Häuser BMBF, BMU, BMAS und BMELVvorgesehen. Für die Forschung und Entwicklung vonNanotechnologien waren für 2010 ungefähr 400 Millio-nen Euro Bundesmittel eingeplant. Wir brauchen drin-gend eine systematische Einbeziehung von Risikofragenin die Sicherheitsforschung. Hierzu benötigen wir geeig-nete Testverfahren zur Überprüfung der Wirkungen vonNanoprodukten. Die Risikoforschung muss aufgrund dervielen offenen Fragen zu Auswirkungen auf Mensch undUmwelt schnellstmöglich intensiviert werden. Daherfordern wir die Verdopplung der Bundesmittel für dasnächste Haushaltsjahr. Ab 2013 ist die Kennzeichnungvon nanoskaligen Bestandteilen in Kosmetika in der EUverpflichtend. Demnach muss auf der Liste der Inhalts-stoffe der Zusatz „“ nach der jeweiligen INCI-Be-zeichnung hinzugefügt werden. Eine Kennzeichnung vonverbrauchernahen Produkten dient der Transparenz und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12443
gegebene RedenRita Schwarzelühr-Sutter
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lässt dem Verbraucher die Wahlentscheidung, ob er Nano-produkte nutzen möchte oder nicht. Die Erfahrungen mitdem Kraftstoff E10 in den letzten Monaten haben uns deut-lich gemacht, dass der Verbraucher gerade bei der Einfüh-rung von neuen Produkten oder Bestandteilen mitgenom-men werden muss. Das bedeutet, dass die Konsumentenfrühzeitig und umfassend informiert und besonders überalle Chancen und Risiken frühzeitig aufgeklärt werdenwollen. Keine noch so gute Technologie ist in der Lage,sich durchzusetzen, solange sie nicht vom Verbraucher ak-zeptiert wird. Deshalb plädiere ich für einen offenen Bür-gerdialog. Es ist die Aufgabe aller Akteure – der Industrie,der Wissenschaft, der Verbraucherorganisationen undnatürlich der Politik –, sich der öffentlichen Diskussionüber die Frage des Umgangs mit Nanotechnologie zustellen. Nur weitreichende Aufklärung über Chancenund Risiken schafft Vertrauen.Für Verbraucher ist es bisher beim Kauf kaum er-sichtlich, welche Produkte mittels Nanotechnologie her-gestellt wurden oder Nanomaterialien enthalten. Wirmüssen Markttransparenz für Verbraucherinnen undVerbraucher durch ein öffentliches Produktregisterschaffen, das unter Beteiligung der Verbraucherver-bände eingerichtet werden soll. Alle Produkte, die aufdem Markt sind, müssen gemeldet und mit den Ergebnis-sen sämtlicher Studien zu der Wirkung und den Auswir-kungen aufgelistet werden. Jeder, der ein Nanoprodukterstmalig herstellen, importieren oder in den Verkehrbringen will, muss verpflichtet werden, Informationenüber den Hersteller oder Importeur, die Identität desProduktes sowie weitere Informationen über die im Pro-dukt enthaltenen Nanomaterialen an eine öffentlicheStelle zu melden. Selbstredend müssen vor allemGrundlageninformation und Handlungswissen in ver-ständlicher Form vermittelt werden.Die Große Koalition hatte bereits 2009 im Bundestagdie Bundesregierung aufgefordert, „eine Informations-quelle zu schaffen, die Bevölkerung, Politik und Wirt-schaft über geltende Bestimmungen, Vorschriften undEmpfehlungen informiert und durch die zuständigenBundesbehörden laufend aktualisiert wird“. Dies mussendlich umgesetzt werden. Hier ist Verbraucherministe-rin Aigner gefragt, endlich aktiv zu werden. Auch dieNano-Kommission empfiehlt in dem Schlussbericht dieEinrichtung einer Beratungsstelle auf Ebene einer Bun-desbehörde. Eine solche Beratungsstelle solle Erfahrun-gen aus der Anwendung der Kriterien zur vorläufigenEinschätzung von Nanomaterialien sammeln und denErfahrungsaustausch organisieren. Im Sinne der Risiko-vorsorge sollten verbrauchernahe Produkte mit Nanosil-ber, solange eine fundierte Bewertung des Gesundheits-und Resistenzrisikos nicht getroffen werden kann, nichtmehr auf den Markt gebracht werden. Ein Verbot des In-verkehrbringens von Produkten im verbrauchernahenBereich, zumindest im freiverkäuflichen Bereich, haltenwir für sinnvoll und notwendig. Die Möglichkeit, spe-zielle Produkte zum Beispiel für Diabetiker noch imFachhandel, zum Beispiel in Apotheken etc., zu erhalten,sollte bestehen bleiben. Bisher reagieren die Verbrau-cher auf Nanoprodukte aufgeschlossen. Allerdings hal-ten wenige den Einsatz in Lebensmitteln für wünschens-Zu Protokollwert. Neben einer verstärkten Risikoforschung brauchenwir einen intensiven Dialog mit den Verbraucherinnenund Verbrauchern darüber, welche Funktionen und Ver-besserungen von Produkten, die mit Nanotechnologieerzielt werden können, die Gesellschaft überhaupt fürnötig und sinnvoll hält.
Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat,ein zumindest temporäres Verbot von verbrauchernahenProdukten mit sogenanntem Nanosilber zu erlassen. Be-gründet wird dieser weitreichende Eingriff in das Markt-geschehen und die privaten Eigentumsrechte mit nichtauszuschließenden Gesundheits- und Umweltrisiken.Ganz konkret ist die Rede von einer möglichen toxischenWirkung von Nanosilber für den Menschen, von mögli-chen Risiken durch eine Resistenzbildung gegenüberKrankheitserregern und von Risiken durch einen mögli-chen Eintrag in die Umwelt. Alle drei Punkte sind ernstzu nehmen, halten aber einer kritischen Betrachtung desderzeitigen Wissensstandes nicht statt. Ich bitte Sie da-her, den vorliegenden Antrag abzulehnen. Lassen Siemich zur Erläuterung unserer Position zunächst einpaar allgemeine Ausführungen zur Thematik machen,um dann auf die einzelnen Punkte des Grünen-Antragsgesondert einzugehen.Seit langem ist Silber bekannt für seine antimikro-bielle Wirksamkeit. Bereits die alten Römer machtensich diese Eigenschaft zunutze und behandelten ihr Was-ser mit Silbermünzen. In der Medizin spielt Silber seitdem 19. Jahrhundert eine Rolle. Es ist jedoch nicht dasreine Silber, welches gegen Bakterien aktiv ist, sondernes sind die freigesetzten Silberionen. Diese wirken aufBakterien toxisch, haben jedoch auf die Zellen vonSäugetieren keine schädliche Wirkung und werden vonMenschen in einer großen Konzentrationsspanne tole-riert. Entgegen weit verbreiteter Annahme ist auch Na-nosilber keine neue Erfindung der Nanotechnologien,sondern bereits seit mehr als 100 Jahren bekannt und inverschiedenen Produkten im Einsatz. Die SchweizerForscher von der Eidgenössischen Materialprüfungs-und Forschungsanstalt EMPA haben dies vor kurzem ineinem Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift„Environmental Science & Technology“ mit dem Titel„Nanosilber: Neuer Name – altbekannte Wirkung“ nocheinmal verdeutlicht. Ihr Fazit: „Nano bedeutet weder,dass etwas neu, noch, dass es von vorneherein schädlichist.“ Bereits in den 1920er-Jahren, als das sogenanntekolloidale Silber auf den Markt kam, löste das zahlrei-che Studien und entsprechende Regulierungen seitensder Behörden aus. So berücksichtigt etwa der Grenzwertfür Trinkwasser Silbereinträge in nanopartikularerForm. Lassen Sie mich nun auf die einzelnen Kritik-punkte des Antrags der Grünen eingehen. Beginnen wirmit einer möglichen Gesundheitsgefährdung. Das BfRhat in seiner Stellungnahme vom Dezember 2009 vor al-lem zwei Applikationen von Nanosilber bewertet: denEinsatz in Lebensmittelkontaktmaterialien und in Kos-metika. Für den Einsatz von Silberverbindungen inkosmetischen Mitteln sieht das BfR derzeit keine wissen-
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gegebene RedenDr. Lutz Knopek
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schaftlich begründeten Hinweise auf eine Verbraucher-gefährdung. Für Lebensmittelkontaktmaterialien ausKunststoff nimmt das BfR Bezug auf die europäische Be-hörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. Diese hat einenspezifischen Migrationsgrenzwert festgelegt, bei demein Einsatz von Silber unbedenklich ist. Zudem ist zu be-achten, dass für alle Lebensmittelkontaktmaterialien dieAnforderungen der EU-Verordnung 1935/2004 gelten.Demnach müssen alle Materialien so hergestellt wer-den, dass sie die menschliche Gesundheit nicht gefähr-den. Dazu muss eine entsprechende Sicherheitsbewer-tung durchgeführt werden. Die Empfehlung des BfR, aufeinen Einsatz von Nanosilber dennoch generell in kon-sumentennahen Produkten zu verzichten, fußt auf derBegründung, dass kein zusätzlicher Nutzen aus einemsolchen Einsatz erkennbar sei. Eine solche Feststellungkann jedoch nicht pauschal getroffen werden, und dieEntscheidung, ob im Einzelfall ein Einsatz von Nanosil-ber sinnvoll ist oder nicht, sollte aus unserer Sicht denKonsumenten und Produzenten überlassen werden.Richtig ist hingegen, dass noch keine abschließende ge-sundheitliche Risikobewertung möglich ist. Dazu man-gelt es noch an gesicherten wissenschaftlichen Erkennt-nissen. Diese Tatsache allein rechtfertigt jedoch nochkeinen weitgehenden staatlichen Eingriff. Vielmehr hal-ten wir es für die bessere Vorgehensweise, die bestehen-den epistemologischen Unsicherheiten durch verstärkteForschungsanstrengungen zu beseitigen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat dazu mit dem AktionsplanNanotechnologie den entsprechenden Rahmen geschaf-fen.Kommen wir zum zweiten Punkt des vorliegenden An-trags, einer möglichen Gesundheitsgefährdung auf-grund von Resistenzbildungen. Das BfR konstatiert,dass bisher nur wenige Daten aus systematischen epide-miologischen Studien zur Verbreitung von Resistenzengegenüber Silberionen existieren. Aktuelle Arbeiten zei-gen zudem nur eine geringe Prävalenz von Silberresis-tenz. Auch stellt das BfR klar, dass dies keine nano-silberspezifische Problematik darstellt, sondern generellfür den Einsatz von Silber zutrifft. Insgesamt ist aberauch hier der Wissensstand derzeit zu gering, um gesi-cherte Aussagen treffen zu können. Weitere wissen-schaftliche Forschung ist daher angebracht, bevor eineEntscheidung über eine Einschränkung oder ein Verbotvon Nanosilber getroffen werden kann. Dritter und letz-ter Kritikpunkt des vorliegenden Antrags am Einsatz vonNanosilber in Verbraucherprodukten ist die Möglichkeiteines Eintrags von Nanosilber in die Umwelt und damitverbunden eine Gefährdung der aquatischen Umwelt.Das UBA verweist in diesem Zusammenhang auf eineStudie, die eine erhöhte Sterblichkeitsrate von Wasser-flöhen bei Exposition mit Nanosilber gegenüber mikro-skaligem Silber festgestellt hat. Entscheidend ist jedochdie Frage, ob überhaupt eine relevante Expositionzustande kommt. Im vom BMBF geförderten For-schungsprojekt „UMSICHT – Abschätzung der Umwelt-gefährdung durch Silbernanomaterialien: vom chemi-schen Partikel bis zum technischen Produkt“ wird genaudieser Frage nachgegangen. Erste Ergebnisse des Ho-henstein-Instituts kommen zu dem Schluss, dass dieFreisetzung von Nanosilber aus FunktionskleidungZu Protokolldurch Waschvorgänge vernachlässigbar ist. Zudem wer-den freigesetzte Partikel fast vollständig durch Abwas-serkläranlagen zurückgehalten. Eine aktuelle Studie derEidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwas-serreinigung und Gewässerschutz, EAWAG, kommt zudem Schluss, dass nach gegenwärtigem KenntnisstandNanosilber in Abwasserreinigungsanlagen gut elimi-nierbar ist. Eine Kontamination der aquatischen Um-welt in relevanten Mengen erscheint daher unwahr-scheinlich.Abschließend kann daher festgestellt werden, dassder derzeitige wissenschaftliche Forschungsstand zumThema Nanosilber keine Rechtfertigung für weitrei-chende staatliche Eingriffe, wie von den Antragstellerngefordert, liefert. Vielmehr bedarf es weiterhin der kon-tinuierlichen Generierung gesicherten Wissens, welchesdann gegebenenfalls eine Fortentwicklung des regulato-rischen Rahmens nach sich ziehen kann. Selbstverständ-lich wird sich meine Fraktion der weiteren Diskussion zudiesem Themenkomplex, auch im Rahmen einer öffentli-chen Anhörung, wie in einem Schreiben des BUND ges-tern gefordert, nicht verschließen.
Nanosilber kann eine giftige Wirkung entfalten. DasBundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt daher: Aufden Einsatz von Nanosilber in Lebensmitteln und Pro-dukten des täglichen Bedarfs sollte verzichtet werden,bis die Datenlage eine abschließende Bewertung der ge-sundheitlichen Risiken erlaubt. Nach neueren Studienkönnen Leber und Lunge geschädigt werden. Die Exper-ten weisen darauf hin, dass auch das krebsauslösendePotenzial von Nanosilber zu untersuchen ist.Doch was tut die Bundesregierung? Nichts. In ihrerAntwort auf unsere Kleine Anfrage „Einordnung ge-sundheitlicher und umweltbezogener Risiken der Nano-technologie“ vom 20. April 2011 behauptet sie schlicht:„Erkenntnisse oder Anhaltspunkte über krebserregendeWirkungen von nanoskaligem Silber liegen nicht vor.“Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge werden dahernicht eingeleitet. Mit anderen Worten: Was ich nichtweiß, macht mich nicht heiß. Ist das schon vorsätzlicheKörperverletzung oder nur Untätigkeit im Amt? In je-dem Fall kommt die Bundesregierung ihrer gesetzlichenPflicht zur gesundheitlichen Vorsorge nicht nach. DerAntrag der Grünen, Nanosilber in verbrauchernahenProdukten zu verbieten, ist daher richtig. Er wird vonder Linksfraktion unterstützt.Die Linke sagt: Nanosilber hat in Lebensmitteln undGegenständen des täglichen Bedarfs nichts zu suchen.Auch müssen Verbraucherinnen und Verbraucher überNanobestandteile in Produkten besser aufgeklärt wer-den. Wie ist der Zusatznutzen durch Nanotechnologiebelegt? Welche gesundheitlichen und umweltbezogenenRisiken gibt es? Diese Fragen sind bisher offen. Tatsa-che ist: Verbraucherschutz kommt bei dem Thema nichtvor. Natürlich sind Nanostoffe vor allem für die Indus-trie von Bedeutung. Ein wichtiger Nutzen ergibt sichauch in der Medizin. Die Bundesregierung gibt jährlichrund 400 Millionen Euro zur Förderung der Nanotech-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12445
gegebene RedenKarin Binder
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nologie aus. Für die Sicherheitsforschung und Risikobe-wertung im Rahmen der Vorsorge werden aber nur0,1 Prozent der Gelder aufgewendet. Mehr ist dem zu-ständigen Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz die Gesundheit der Bür-gerinnen und Bürger nicht wert. Das ist ein krasserGegensatz. Die Linke sagt: Das ist unverantwortlich.Wir nehmen zur Kenntnis: Die Erforschung und Be-wertung von gesundheitlichen und umweltbezogenenRisiken, die von Nanostoffen ausgehen, ist bisher weit-gehend vernachlässigt worden. Der Gesetzgeber ist der-zeit nicht in der Lage, wirksame Vorsorgemaßnahmen zutreffen, da die Datenbasis nicht ausreicht. Das ist offen-bar auch so gewollt. Viele Ergebnisse von Risikounter-suchungen, die mit Fördergeldern des Bundes finanziertwurden, sind für die staatliche Vorsorge nicht verwert-bar. Sie wurden durch Unternehmen vorrangig zurAbschätzung betriebswirtschaftlicher Risiken vorge-nommen. Sie dienen sogar dazu, die Gefahren, die vonNanostoffen ausgehen können, in der Öffentlichkeit he-runterzuspielen. Folgerichtig heißt es dann auch imNanoreport der Bundesregierung, dass mögliche Risi-ken der Nanotechnologie in den Bereichen Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz ein „Hemmnis bei der Ver-marktung nanotechnologischer Produkte“ darstellen.Der Gesetzgeber ist gefordert, geeignete Vorsorgemaß-nahmen zu treffen. Das gilt besonders für den Schutz vonArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Brancheder Nanotechnologie. Schnellstmöglich sollte eine ge-setzliche Regulierung und Kontrolle von Nanostoffendurchgesetzt werden. Auch die Fördermittel des Bundesfür die Risikobewertung sind deutlich zu erhöhen. AlleStoffe, die mindestens eine nanospezifische Eigenschaftaufweisen, sollten in einem behördlichen Register er-fasst werden. Die Verbraucherinformation ist deutlich zuverbessern. Die Bundesregierung fordern wir auf: Neh-men Sie die Bedenken Ihrer eigenen Experten ernst undsetzen Sie das Verbot von Nanosilber durch. Gesund-heitsvorsorge muss Vorfahrt haben.
In der Nanotechnologie stecken unbestritten großePotenziale. Neue Technologien und ihre konkreten An-wendungen haben nicht nur Vorteile, sie bergen oft auchRisiken für Mensch und Umwelt. Dies gilt in besonderemMaße für das Nanosilber, das zunehmend in Produktendes täglichen Bedarfs verwendet wird, etwa in geruchs-hemmenden Sportsocken, in Zahnbürsten oder in Le-bensmittelverpackungen.Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommt in Be-zug auf die Substanzen, über die wir heute hier beraten,zu der eindeutigen Empfehlung, auf den Einsatz von Na-nosilber in Lebensmitteln und Produkten des täglichenBedarfs zu verzichten, da die Datenlage eine abschlie-ßende Bewertung der gesundheitlichen Risiken nicht er-laubt. Diese Empfehlung wurde vor wenigen Wochennach einem Workshop mit zahlreichen Experten durchdas BfR noch einmal untermauert. Der BfR-Präsident,Professor Dr. Dr. Andreas Hensel, kam nach der Veran-staltung zu dem Schluss: „Die Diskussion hat die Mah-nung des BfR zur Vorsicht bestätigt, denn es gibt nachZu Protokollwie vor zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkennt-nisse über die spezifischen Wirkungen von Silberparti-keln in Nanogröße.“ Neuere Studien ergaben laut BfRdeutliche Hinweise auf bisher für Silber nicht bekannteWirkungen. Dazu würden beispielsweise krankhafte Ver-änderungen von Gewebe in der Leber und in der Lungegehören. Über die Auswirkungen auf die Fortpflan-zungsorgane des Menschen und über die krebsauslösen-den Potenziale gibt es laut BfR bisher zu wenige Er-kenntnisse und Daten. Darüber hinaus besteht dieGefahr, dass durch die großflächige Verbreitung von Na-nosilber resistente Keime entstehen. Dann wäre Silberlangfristig als wirksame Waffe gegen antibiotikaresis-tente Keime für die Medizin verloren.Auch das Umweltbundesamt warnt vor Gefahren fürWasserlebewesen und nützliche Bakterien durch Nano-silber, das sich zum Beispiel beim Waschen aus Textilienlöst und über das Abwasser in die Umwelt gelangt. Allediese Warnungen hat die Bundesregierung bisher igno-riert. Das ist fahrlässig. Die Experten sagen: Es gibtGefahren für die Gesundheit, und wir wissen noch zuwenig über die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.Deshalb müssen wir im Sinne des Vorsorgeprinzips undim Sinne des Gesundheitsschutzes aktiv werden und dieVerwendung von Nanosilber in verbrauchernahen Pro-dukten so schnell wie möglich einschränken.Bisher gibt es nicht einmal eine Kennzeichnungs-pflicht für Produkte, die Nanopartikel enthalten. Die Ver-braucherinnen und Verbraucher haben keine Chance,Produkte im Laden zu erkennen, die Nanosilber enthal-ten. Auf diesem Weg hält eine weitere Substanz Einzug inunseren Alltag und in die Umwelt, deren Wirkungennicht abzuschätzen sind und bei der Gesundheitsgefähr-dungen bisher nicht ausgeschlossen werden können.Dabei gibt mir besonders zu denken, dass in anderenLändern viel strengere Entscheidungen zum Umgangmit Nanosilber getroffen worden sind. In den USA giltNanosilber seit 2007 als Pestizid. Auch auf europäischerEbene gab es bereits Bestrebungen, die Kennzeich-nungspflicht für Produkte mit Nanosilber zu regeln undein Nanomaterialienregister einzuführen. Dieses Vorha-ben wurde bis heute leider vor allem durch die großenWiderstände einiger Industrieverbände ausgebremst.Mit unserem Antrag wollen wir dafür sorgen, dass Be-wegung in dieses Thema kommt. Die Bundesregierungmuss endlich tätig werden. Den schleichenden Einzugvon Nanosilberpartikeln in unseren Alltag und in dieUmwelt wollen wir verhindern, solange Gefahren fürMensch und Umwelt durch diese Substanz nicht ausge-schlossen werden können. Wir fordern deshalb, das In-verkehrbringen von verbrauchernahen Produkten mitNanosilber zu verbieten. Außerdem wollen wir, dass biszum Verbot dieser Produkte eine Liste aller mit Nanosil-ber produzierten und in Deutschland erhältlichen ver-brauchernahen Produkte erstellt wird. Diese Liste mussleicht zugänglich sein und öffentlich gemacht werden.Die Menschen sollen bis zum Verbot in die Lage versetztwerden, Produkten, die Nanosilber enthalten, aus demWeg zu gehen. Ich beantrage die Überweisung unseresAntrags an die zuständigen Ausschüsse und die feder-
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12446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12447
Nicole Maisch
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führende Beratung im Ausschuss für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3689 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz liegen soll. – Widerspruch erhebt sich
nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sie werden es nicht für möglich halten: Wir sind am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag,
13. Mai 2011, 9 Uhr, ein. Ich freue mich, wenn wir uns
wiedersehen.
Die Sitzung ist geschlossen.
Guten Abend und alles Gute, was immer Sie heute
noch vorhaben!