Protokoll:
17099

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 99

  • date_rangeDatum: 24. März 2011

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:41 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/99 weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . der SPD: Verlängerung von Restlaufzei- ten von Atomkraftwerken – Auswir- kungen auf die Entwicklung des Wett- bewerbs auf dem Strommarkt und auf den Ausbau der erneuerbaren Energien (Drucksachen 17/832, 17/3089) . . . . . . . . d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ener- giewirtschaftsgesetzes (Drucksachen 17/3182, 17/5148) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie 11251 B 11257 B 11261 D 11264 A 11267 A 11269 A 11271 C 11271 D 11272 C 11274 A 11274 C 11278 A 11278 B Deutscher B Stenografisc 99. Sit Berlin, Donnerstag, I n h a Benennung der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter und Ralph Lenkert in den Beirat der Bundesnetzagentur . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 15, 20, 23, 26 und 33 g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011 in Brüssel . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, 11249 A 11249 B 11250 D 11251 A 11251 B Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11275 A 11276 B undestag her Bericht zung den 24. März 2011 l t : Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Auf dem Weg zu ei- nem nachhaltigen, effizienten, bezahl- baren und sicheren Energiesystem (Drucksache 17/5181) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomzeit- alter beenden – Energiewende jetzt (Drucksache 17/5202) . . . . . . . . . . . . . . . c) Große Anfrage der Abgeordneten Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann, 11277 D 11278 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Ro Hempelmann, Hubertus Heil (Peine Ulrich Kelber, weiterer Abgeordnet lf ), er II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 und der Fraktion der SPD: Die Ener- gieversorgung in kommunaler Hand – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling- Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Energie- netze in die öffentliche Hand – Kom- munalisierung der Energieversor- gung erleichtern – Transparenz und demokratische Kontrolle stärken (Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine beschleunigte Stilllegung von Atom- kraftwerken (Drucksache 17/5179) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting- Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes – Abschalten der acht unsichersten Atomkraftwerke (Drucksache 17/5180) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Fraktion der SPD: Energiewende jetzt (Drucksache 17/5182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Hermesbürg- schaften für Atomtechnologien (Drucksache 17/5183) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11278 B 11278 C 11278 C 11278 D 11278 D 11279 A 11280 B 11282 B Rainer Brüderle, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Anpassung der Vorschriften über den Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzverträgen und über verbun- dene Verträge (Drucksache 17/5097) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 4. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik 11285 B 11286 C 11288 A 11290 B 11290 D 11291 B 11292 A 11293 C 11293 D 11294 A 11294 C 11295 D 11296 A 11296 B 11296 D 11298 A 11298 D 11299 C 11300 C 11301 C 11302 C 11303 C 11305 B 11307 B 11307 D 11308 B 11308 C 11309 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 III Deutschland und der Französischen Re- publik über den Güterstand der Wahl- Zugewinngemeinschaft (Drucksache 17/5126) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- ten Gesetzes zur Änderung von Ver- brauchsteuergesetzen (Drucksachen 17/5127, 17/5201) . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Commonwealth der Bahamas über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksache 17/5128) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Mo- naco über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informa- tionsaustausch (Drucksache 17/5129) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- gierung der Kaimaninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuer- strafsachen durch Informationsaus- tausch (Drucksache 17/5130) . . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Manuel Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten eu- ropäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und hu- manitärer Hilfe (KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zu- sammenarbeit von Bundesregie- rung und Deutschem Bundestag 11309 B 11309 C 11309 C 11309 C 11309 D in Angelegenheiten der Europäi- schen Union Katastrophenabwehr in Europa effek- tiv gestalten (Drucksache 17/5194) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitnehmerfrei- zügigkeit sozial gestalten (Drucksache 17/5177) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung für Leistun- gen der Integrationsfachdienste ermög- lichen (Drucksache 17/5205) . . . . . . . . . . . . . . . k) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleiches Rentenrecht in Ost und West (Drucksache 17/5207) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen (Drucksache 17/5184) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Doris Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- schaftsstruktur“ – Finanzierung lang- fristig sichern (Drucksache 17/5185) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Schutz vor militärischem Flug- lärm (Drucksache 17/5206) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. August 2009 zwischen der Bundes- 11309 D 11310 A 11310 B 11310 B 11310 C 11310 C 11310 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 republik Deutschland und der Schwei- zerischen Eidgenossenschaft über die Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppel- bürger (Drucksachen 17/4810, 17/5068) . . . . . . . b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver- einbarung vom 16. April 2009 über die Änderungen des Übereinkommens vom 5. September 1998 zwischen der Regie- rung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Däne- mark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost (Drucksachen 17/4809, 17/5084) . . . . . . . c) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Beschleuni- gung der Zahlung von Entschädi- gungsleistungen bei der Anrechnung des Lastenausgleichs und zur Ände- rung des Aufbauhilfefondsgesetzes (ZEALG) (Drucksachen 17/4807, 17/5086) – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/5087) . . . . . . . . . . . . . d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Juli 2010 zwischen der Bundesrepu- blik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuer- verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksachen 17/4806, 17/5186) . . . . . . . e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehender Aus- und Durchführungsbestimmungen auf dem Gebiet des internationalen Unterhalts- verfahrensrechts (Drucksachen 17/4887, 17/5240) . . . . . . . f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und ande- rer Gesetze (Drucksachen 17/4144, 17/5169) . . . . . . . g) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die vorläufige Durchführung unmittelbar geltender 11310 D 11311 A 11311 B 11311 D 11312 A 11312 B Vorschriften der Europäischen Union über die Zulassung oder Genehmigung des Inverkehrbringens von Pflanzen- schutzmitteln (Drucksachen 17/4985, 17/5199) . . . . . . . h) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem: Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss des Übereinkom- mens über die internationale Geltend- machung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehö- rigen durch die Europäische Gemein- schaft KOM(2009) 373 endg.; Ratsdok.-Nr. 12265/09 (Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241) i) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem: Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Euro- päischen Wirtschafts- und Sozialaus- schuss und den Ausschuss der Regionen Anwendung der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchset- zung der Rechte des geistigen Eigen- tums (inkl. 5140/11 ADD 1) (ADD 1 in Englisch) KOM(2010) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11 (Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242) j)–q) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 234, 235, 236, 237, 238,, 239, 240 und 241 zu Peti- tionen (Drucksachen 17/5059, 17/5060, 17/5061, 17/5062, 17/5063, 17/5064, 17/5065, 17/5066) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes (Drucksachen 17/4803, 17/5249) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine 11312 C 11312 D 11313 A 11313 B 11314 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 V Stärkung der Jugendfreiwilligen- dienste – Bürgerschaftliches Enga- gement der jungen Generation aner- kennen und fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stärkung der Jugendfrei- willigendienste – Platzangebot aus- bauen, Qualität erhöhen, Rechtssi- cherheit schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Chancen nutzen – Jugendfreiwilligendienste stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Jugendfreiwil- ligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Aufbauoffensive für Freiwilli- gendienste jetzt auf den Weg brin- gen – Quantität, Qualität und Attraktivität steigern (Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, 17/4845, 17/3436, 17/5249) . . . . . . . . . . . . . . Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11314 B 11314 D 11316 A 11317 B 11317 D 11319 B 11320 D 11322 A 11322 D 11324 B 11326 C 11326 D 11327 A 11327 D 11328 C 11329 B Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Be- schäftigte am Aufschwung beteiligen – Staatlich begünstigtes Lohndumping auf- geben (Drucksache 17/4877) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Tagesordnungspunkt 30: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehr- rechtlicher Vorschriften 2011 (Wehr- rechtsänderungsgesetz 2011 – Wehr- RÄndG 2011) (Drucksachen 17/4821, 17/5239) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/5243) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . Rainer Erdel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Katrin Göring- Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin, weite- 11330 D 11331 A 11332 A 11333 C 11335 D 11336 C 11337 A 11337 D 11338 D 11340 B 11341 A 11342 B 11342 C 11342 C 11344 B 11344 D 11346 B 11347 B 11348 D 11349 D 11350 D 11352 A 11353 B 11354 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für die Um- setzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa (Drucksache 17/5191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Verhinderung von Missbrauch der Ar- beitnehmerüberlassung (Drucksachen 17/4804, 17/5238) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strikten Regulierung der Arbeit- nehmerüberlassung (Drucksachen 17/3752, 17/5238) . . . . . . . Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11355 D 11355 D 11357 A 11358 B 11359 D 11360 B 11361 C 11362 B 11363 B 11364 B 11365 B 11365 C 11365 C 11365 D 11367 A 11368 D 11369 D 11371 A 11372 A 11372 B 11373 C 11374 A 11375 C 11376 D 11377 D Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Fraktion der SPD: Mit Transpa- renz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexpor- ten (Drucksache 17/5054) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Hans- Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit kon- sequent aussetzen (Drucksache 17/5204) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weite- rer Gesetze (Drucksache 17/5178) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Krankenhausinfektionen vermeiden – Tödliche und gefährliche Keime bekämpfen (Drucksache 17/4489) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Prävention von Krankenhausinfektionen verbessern (Drucksache 17/5203) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11379 C 11379 D 11380A 11381 C 11382 C 11383 C 11385 A 11386 A 11387 A 11387 C 11388 A 11388 A 11388 A 11388 B 11389 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 VII Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Erweite- rung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer (Schutz vor Kündigungen we- gen eines unbedeutenden wirtschaft- lichen Schadens) (Drucksachen 17/648, 17/4281) . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Nešković, Jan Korte, Klaus Ernst, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Ver- dachtskündigung und der Erweite- rung der Kündigungsvoraussetzun- gen bei Bagatelldelikten (Drucksachen 17/649, 17/4281) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündi- gungen korrigieren – Pflicht zur Ab- mahnung einführen (Drucksachen 17/1986, 17/4281) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tou- rismus und Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Drucksachen 17/2478, 17/5117) . . . . . . . . . . 11390 C 11392 A 11393 A 11394 A 11395 B 11396 A 11937 A 11397 B 11397 B 11398 A Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetz- buch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaf- fen (Drucksache 17/5174) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Die arabische Welt – Region im Aufbruch, Partner im Wandel (Drucksache 17/5193) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens (Drucksache 17/5192) . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern (Drucksachen 17/4849, 17/5146) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Solidarität mit den Demokra- tiebewegungen in den arabischen Län- dern – Beendigung der deutschen Un- terstützung von Diktatoren (Drucksachen 17/4671, 17/5147) . . . . . . . in Verbindung mit 11398 C 11398 C 11399 C 11400 B 11401 A 11402 C 11403 D 11404 D 11404 D 11405 A 11405 B 11405 B 11405 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Libyen-Krieg sofort beenden (Drucksache 17/5173) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stärken (Drucksache 17/5195) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirt- schaft und der Anstalt Absatzförderungs- fonds der deutschen Forst- und Holzwirt- schaft (Drucksachen 17/4558, 17/5167) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Vereinfachung des Austauschs von In- formationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mit- gliedstaaten der Europäischen Union (Drucksache 17/5096) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11405 C 11405 D 11407 A 11408 D 11409 D 11410 D 11412 A 11413 C 11413 D 11414 B 11414 C 11415 B 11416 C 11417 A 11418 B Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Drucksache 17/5053) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Rainer Arnold, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Stuttgart 21, Neu- baustrecke Wendlingen–Ulm und das Sparpaket der Bundesregierung – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Sofortiger Baustopp für Stutt- gart 21 und die Neubaustrecke Wend- lingen–Ulm (Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893, 17/5172) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenter Stresstest für die Leistungs- fähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21 (Drucksachen 17/5041, 17/5236) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11420 A 11420 B 11420 C 11420 D 11422 A 11423 A 11424 B 11425 A 11426 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 IX Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr (Drucksache 17/5057) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei massiv be- schränken (Drucksache 17/5055) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Inge Höger, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beachtung des Parlamentsbe- teiligungsgesetzes bei dem Evakuie- rungseinsatz in Libyen (Drucksache 17/5175) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Stopp der Überwachung des libyschen Luftraums durch AWACS- Luftfahrzeuge (Drucksache 17/5176) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11427 D 11428 A 11429 A 11429 D 11431 B 11431 D 11432 C 11432 D 11434 A 11434 A 11435 A 11435 C 11436 B 11437 A 11437 C 11437 D 11437 D 11438 C 11439 C 11440 D Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011 (Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 – WehrRÄndG 2011) (Tagesordnungspunkt 30) Anlage 3 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer (Schutz vor Kündigung wegen eines unbedeutenden wirtschaftlichen Schadens) – Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Verdachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen bei Ba- gatelldelikten – Beschlussempfehlung und Bericht: Unge- rechtigkeiten bei Bagatellkündigungen kor- rigieren – Pflicht zur Abmahnung einführen (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Tourismus und Landschaftspflege verknüp- fen – Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Tagesordnungspunkt 11) Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11441 C 11442 C 11444 C 11445 A 11445 D 11446 B 11447 B 11448 A 11448 D 11449 B 11450 A 11450 D 11452A 11453 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung des Antrags: Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschrän- kungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen (Tagesordnungspunkt 14) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Antrags: Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stärken (Tagesordnungspunkt 16) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförde- rungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- rungswirtschaft und der Anstalt Absatzförde- rungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17) Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 19) Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11454 C 11455 Â 11455 C 11456 A 11456 D 11458 A 11464 D 11466 A 11467 A 11467 D 11468 D 11469 C Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11460 A 11460 C 11461 D 11462 C 11463 C René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11470 D 11472 D 11473 C 11474 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11249 (A) (C) (D)(B) 99. Sit Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11445 (A) (C) (D)(B) forderungen das 21. Jahrhundert an unsere Verteidi- gungspolitik stellt. Ohne eine konsequente Analyse Nietan, Dietmar SPD 24.03.2011 an Reservisten die Mobilmachungs- und Aufwuchsfä- higkeit für den Fall der Landes- und Bündnisverteidi- gung deutlich geschwächt. Des Weiteren bin ich der Meinung, dass nicht hinreichend geklärt ist, welche An- Laurischk, Sibylle FDP 24.03.2011 Nahles, Andrea SPD 24.03.2011 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Binder, Karin DIE LINKE 24.03.2011 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 24.03.2011 Buchholz, Christine DIE LINKE 24.03.2011 Bülow, Marco SPD 24.03.2011 Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 24.03.2011 Burkert, Martin SPD 24.03.2011 Dr. Danckert, Peter SPD 24.03.2011 Ernstberger, Petra SPD 24.03.2011 Ferner, Elke SPD 24.03.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 24.03.2011 Gerster, Martin SPD 24.03.2011 Groschek, Michael SPD 24.03.2011 Hänsel, Heike DIE LINKE 24.03.2011 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.03.2011 Hintze, Peter CDU/CSU 24.03.2011 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.03.2011 Klöckner, Julia CDU/CSU 24.03.2011 Kressl, Nicolette SPD 24.03.2011 Krüger-Leißner, Angelika SPD 24.03.2011 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.03.2011 Kunert, Katrin DIE LINKE 24.03.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Patrick Sensburg (CDU/ CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vor- schriften 2011 (Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 – WehrRÄndG 2011) (Tagesordnungs- punkt 30) Erstens. Ich werde dem Gesetzentwurf aufgrund per- sönlicher Bedenken nicht zustimmen. Zweitens. Grund meiner Ablehnung ist die im Gesetz- entwurf enthaltene Aussetzung der Wehrpflicht, die ich aus zwei zentralen Gründen für falsch halte: Am schwersten wiegen bei mir sicherheitspolitische Bedenken. Gerade in Zeiten asymmetrischer Konflikte benötigt unser Land eine breit aufgestellte und personell gut ausgestattete Bundeswehr. Die vorgesehene Wieder- einführung der Wehrpflicht käme in einem solchen Fall aller Voraussicht nach zu spät, um neuen Bedrohungs- szenarien gegenübertreten zu können. Zudem wird ohne die Wehrpflicht und damit ohne eine hinreichende Zahl Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.03.2011 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.03.2011 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.03.2011 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 24.03.2011 Sendker, Reinhold CDU/CSU 24.03.2011 Süßmair, Alexander DIE LINKE 24.03.2011 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 24.03.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 24.03.2011 Zapf, Uta SPD 24.03.2011 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 11446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) dessen ist eine solch grundlegende Reform nicht zielfüh- rend. Zudem sprechen für mich klare gesellschaftspoliti- sche Gründe gegen eine Aussetzung der Wehrpflicht, die faktisch einer Abschaffung gleichkommt. Das Maß der gesellschaftlichen Verankerung der Bundeswehr in der Bevölkerung wird durch die Aussetzung deutlich zu- rückgehen. Damit wird ein zentraler Eckpfeiler des Selbstverständnisses der Bundeswehr geschwächt. Dies ist für mich vor dem Hintergrund der sicherheitspoliti- schen Lage nicht zielführend. Der „Bürger in Uniform“ – wie ihn insbesondere der Wehrpflichtige darstellt – ist für die Bundesrepublik ein wichtiges Scharnier zwischen unserer Gesellschaft und der Bundeswehr. Hierauf möchte ich nicht verzichten. Meiner Meinung nach sollte die Wehrpflicht auch zukünftig erhalten bleiben. Gleichzeitig begrüße ich, dass sich die Bundeswehr durch eine weitgehende Wehrreform auf die neuen He- rausforderungen einstellt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer (Schutz vor Kündi- gung wegen eines unbedeutenden wirt- schaftlichen Schadens) – Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Ver- dachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen bei Bagatellde- likten – Beschlussempfehlung und Bericht: Unge- rechtigkeiten bei Bagatellkündigungen kor- rigieren – Pflicht zur Abmahnung einführen (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Gitta Connemann (CDU/CSU): Wären wir vor Ge- richt, wäre heute der Zeitpunkt für eine Rücknahme – in diesem Fall Ihrer Anträge und Gesetzentwürfe, meine Damen und Herren von der Opposition –, denn diese laufen ins Leere. So lautet jedenfalls das einhellige Ur- teil der Sachverständigen. Der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit brachte es auf den Punkt – ich zitiere –: „Die Gesetzentwürfe würden die derzeitige Rechtslage weder für Arbeitgeber noch für Arbeitnehmer verbessern.“ Weitere Kommentare von „systemwidrig“ bis „ungeheuerlich“ will ich Ihnen er- sparen. Was bewegt Sie? Vordergründig das Kündigungs- schutzrecht. Zukünftig soll es keine Kündigung ohne Abmahnung bei sogenannten Bagatelldelikten geben. Die erste Tat soll folgenfrei bleiben. Dabei soll die Grenze nach einem Vorschlag 5 Euro sein. Nach dem Willen der Linken sollen auch Verdachtskündigungen unwirksam sein. Ihre gemeinsame Begründung lautet, die Arbeitsge- richte würden bei Kündigung nach Diebstahl etc. grund- sätzlich zugunsten von Arbeitgebern entscheiden. Diese würden ihren Abwägungsspielraum nicht nutzen. Als Kronzeugin diente die Kassiererin Barbara Emme, die einen Pfandbon mit einem Wert von 1,30 Euro unter- schlagen hatte. Hätten Sie sich nur besser informiert, meine Damen und Herren von der Opposition. Ja, Diebstahl und Unter- schlagungen geringwertiger Sachen können ein Kündi- gungsgrund sein. Straftat bleibt Straftat. Oder wie die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt feststellte: Es gibt in dem Sinne keine Bagatellen. Jeder frage sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Ta- sche nehmen lassen würde, bevor er reagiert. Die Kündigung ist aber niemals als Sanktion für ein vergangenes Fehlverhalten berechtigt. Sie ist es nur dann, wenn auch in Zukunft Störungen zu erwarten sind. Jeder Arbeitsrichter muss also prüfen, ob ein Arbeitge- ber mit Recht sagen kann, dass sein Vertrauen unheilbar zerstört ist, oder ob das Interesse des Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz größeres Gewicht hat. Der Arbeitsrichter prüft, er wägt ab, entgegen Ihren Vorwürfen ausgewogen – in vielen Fällen zugunsten der Arbeitnehmer. Leider sind diese Fälle nur nicht so me- dientauglich wie der Bienenstich-, der Frikadellenfall oder eben der Fall von Barbara Emme. Das BAG ent- schied zu ihren Gunsten. Spätestens seit dieser Entschei- dung haben Ihre Anträge ihre Berechtigung verloren. Denn die Richter haben einmal mehr gezeigt, dass sie in Einzelfällen die Grenzlinie immer genauer und treffen- der ziehen können als ein starres Gesetz – insbesondere diese Gesetzentwürfe, die handwerklich lieblos und rechtlich haltlos bis radikal sind. Nähme man die Entwürfe ernst, könnte ein Arbeit- nehmer schon am ersten Arbeitstag stehlen – und den- noch könnte ihm nicht gekündigt werden. Was wäre dann eigentlich bei kleineren Beleidigungen, Tätlichkei- ten oder geringfügigen sexuellen Belästigungen? Die ausnahmslose Unzulässigkeit der Verdachtskün- digung – wie von den Linken gewünscht – würde auch beim schwerwiegenden Verdacht des sexuellen Miss- brauchs psychisch Kranker gelten. In der jüngsten Ent- scheidung des BAG zur Verdachtskündigung ging es um eben einen solchen Fall. Ein Krankenpfleger stand im dringenden Verdacht, eine psychisch Kranke gezwungen zu haben, ihn oral zu befriedigen. Hier wären dem Ar- beitgeber, einem Heim, laut Antrag der Linken zukünftig die Hände gebunden. Nebulös bleibt auch der Begriff des Bagatells. Nach dem Willen der Linken geht ein bisschen Diebstahl bis 5 Euro. Da sehe ich schon die Schlagzeilen: „Mitarbeiter wegen 5,01 Euro gekündigt“. Es bleiben weitere offene Fragen: Gilt die Fünf-Euro- Regel nur für Geldbeträge oder auch für Produkte? Gilt der Einkaufs- oder der Verkaufspreis? Wenn eine Floris- tin eine Rose und 2,50 Euro aus der Kasse mitgehen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11447 (A) (C) (D)(B) lässt, werden diese Beträge addiert oder für sich berech- net? Gilt diese Regel für Angestellte von Unternehmen oder auch für Staatsdiener? Wie häufig darf der Geselle in einem Handwerksbetrieb 5 Euro oder Schrauben im Wert von 5 Euro klauen? Einmal in der Woche? Einmal im Monat? Wird es dann im Gegenzug dem Handwerks- meister erlaubt, seinem Gesellen 5 Euro im Monat weni- ger zu überweisen? Ist das dann auch eine Bagatelle? Darf der Arbeitgeber die „zu klauende Menge“ vorsorg- lich vom Gehalt abziehen, weil mit dem Diebstahl zu rechnen ist? Und wo verbucht er diese Summe? Im Ernst: Wenn ein Kassierer Geld aus der ihm anver- trauten Kasse klaut, dann sind weder 4,99 Euro noch 5,01 Euro das Problem. Das Problem ist der Vertrauens- verlust. Das Problem ist das zerstörte Vertrauensverhält- nis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Frage, die sich stellt, lautet: Ist nach dem Zerstören des Vertrau- ensverhältnisses eine Weiterbeschäftigung zumutbar? Nein. Insofern kann es keine Bagatellen geben. Das Problem, das wir heute debattieren, reicht tiefer. Es geht um Fragen des Anstandes, des Vertrauens, von Regeln. Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt brachte es in einem Interview wie folgt auf den Punkt – ich zitiere –: Meine Frage ist eine andere. Wie kommt man ei- gentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzuneh- men? Oder eine Klorolle, oder stapelweise Papier aus dem Büro? Warum solche Eigenmächtigkeiten? Das hat was mit fehlendem Anstand, aber auch mit unerfüllten Erwartungen zu tun. Ein Arbeitnehmer erwartet doch von seinem Arbeitgeber nicht nur, dass er sein Geld bekommt. Er erwartet auch Aner- kennung, und dass er wie ein Mensch behandelt wird. Aber umgekehrt ist es genauso: Ein Arbeitge- ber erwartet, dass ein Arbeitnehmer das Interesse des Unternehmens mitdenkt. Wenn diese Bezie- hung gestört ist, dann kommt es dazu, dass ein Ar- beitnehmer etwas mitgehen lässt und ein Arbeitge- ber auch bei Kleinigkeiten die Vertrauensfrage stellt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Deshalb lehnen wir Ihre Anträge und Gesetzentwürfe ab. Ulrich Lange (CDU/CSU): Der medienwirksame Fall „Emmely“ hat auch in diesem Hohen Hause eine er- neute Debatte über die Kündigung bei Bagatelldelikten ausgelöst. Dazu liegen uns diverse Anträge und Gesetz- entwürfe der Opposition vor. Für gesetzgeberische Er- gänzung sehen wir jedoch keinen Bedarf. Nachdem nämlich besagter Fall aus der Tages- und der medialen Aktualität verschwunden ist, ist es nun vielleicht heute an der Zeit, eine sachliche und juristisch fundierte Debatte zu führen. Dies sollte möglich sein ohne Populismus. Der Populismus im Zusammenhang mit dem Fall „Emmely“ ist weder der tatsächlichen Rechts- und Gesetzeslage noch der hervorragenden Ar- beit unserer Arbeitsgerichtsinstanzen gerecht geworden. Er ist den Interessen beider Parteien nicht gerecht ge- worden und hat deshalb nicht gut getan. Mit seiner Entscheidung vom 10. Juni 2010 hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichtes bereits im ers- ten Leitsatz festgestellt, dass zum Nachteil des Arbeitge- bers begangene Eigentums- und Vermögensdelikte unab- hängig von ihrer Strafbarkeit und unabhängig vom Wert des Tatobjektes und der Höhe des Schadens als Grund für eine Kündigung in Betracht kommen. Im zweiten Leitsatz stellt das Gericht auf die einzel- fallbezogene Prüfung und die Interessenabwägung ab. Damit ändert sich auch in Zukunft die ständige Recht- sprechung des BAG nicht, wonach die Zwei-Schritte- Prüfung erforderlich ist: Erstens muss das dem Arbeit- nehmer vorgeworfene Verhalten an sich als wichtiger Grund geeignet sein. Zweitens muss auch eine Interes- senabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die außerordentliche Kündigung rechtfer- tigen. Entgegen mancher Äußerungen von nicht immer rechtskundigen Politikern und juristisch nicht immer sat- telfesten Medienvertretern liegt in einer rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung, die gegen das Vermögen des Arbeitgebers gerichtet ist, immer eine schwerwie- gende Pflichtverletzung vor. Damit kommen Eigentums- oder Vermögensdelikte grundsätzlich immer unabhängig vom Schadenseintritt als Grund für eine außerordentli- che Kündigung in Betracht. Zur Interessenabwägung betont der Zweite Senat in seiner Emmely-Entscheidung, dass es keine absoluten Kündigungsgründe gibt, bei denen eine Interessenabwä- gung entbehrlich wäre. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Notwendigkeit einer Interessenabwägung unter Berück- sichtigung aller Umstände des Einzelfalles ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Im Übrigen unterscheidet sich die Rechtsprechung im Fall „Emmely“ damit auch nicht von der bisherigen Rechtsprechung in der soge- nannten Bienenstich-Entscheidung. Lediglich klarstellende Äußerungen hat der Zweite Senat im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrund- satz vorgenommen. Aber auch insoweit konnte der Zweite Senat sich wiederum auf seine bisherige Recht- sprechung berufen, die er bestätigt hat. Der Zweite Senat hat aber zu Recht – dies zeigt die genaue Analyse der Urteilsgründe – die Gedanken der Gesetzentwürfe der Opposition eben gerade nicht aufgegriffen, wonach eine Abmahnung Kündigungsvoraussetzung sein muss. Auch weiterhin ist eine fristlose Kündigung grundsätzlich ohne Abmahnung möglich, zum Beispiel bei einer Pflichtwidrigkeit am ersten Arbeitstag. Die im Ausschuss durchgeführte Anhörung hat von den Experten mit praktischem und juristischem Sachver- stand, den Sie vonseiten der Opposition bitte akzeptieren mögen, ergeben – so zeigen dies die Ausführungen des Vertreters des Bundes der Richterinnen und Richter am Arbeitsgericht sowie der Bundesrechtsanwaltkammer –, dass ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht be- steht und es letztlich durch die Interessenabwägung im Einzelfall zu einer fachgemäßen Abwägung kommt. Ich kenne aus langjähriger Praxis diese sorgfältige und juris- tisch fundierte Vorgehensweise von Arbeitsgerichten, 11448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) die ihre Arbeit täglich jenseits der medialen und politi- schen Aufmerksamkeit hervorragend verrichten. Im Ergebnis bleibt es also dabei: Diebstahl ist Dieb- stahl und Eigentum muss geschützt sein! Jede andere Entscheidung und gesetzgeberische Wertung wäre ein Dammbruch nach dem Motto: „Einmal klauen ist kein- mal klauen“. Das darf gesellschaftlich nicht konsensfä- hig sein. Das Gesetz, die praxisgerechte Rechtsprechung, zeigt aber, dass es einer Gesetzesänderung nicht bedarf, wir die notwendige Rechtssicherheit haben und die Abwä- gung im Einzelfall bei unseren Richterinnen und Rich- tern mit ihren ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern gut aufgehoben ist. Gabriele Molitor (FDP): Das Wichtigste gleich zu Beginn: „Emmely“ arbeitet wieder in ihrem alten Job für ihren alten Arbeitgeber, Ihr Fall hatte im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt. Sie hatte die Kündigung er- halten, weil sie Pfandbons in Höhe von 1,30 Euro einge- löst hatte. Im Rechtsstreit hob das Bundesarbeitsgericht letztendlich die Kündigung auf und stufte ihr Vergehen als erhebliche Pflichtwidrigkeit ein. Dieser konkrete Fall zeigt: Unsere Rechtsordnung funktioniert. Es ist Aufgabe der Gerichte, jeden Einzel- fall zu betrachten und letztlich zu beurteilen. Und es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, weitergehende Rege- lungen zu treffen. In der Diskussion um die Kündigung bei Bagatellde- likten wird der Eindruck erweckt, jedes kleine Vergehen würde direkt zur Kündigung führen und der Arbeitneh- mer sei schutzlos. Mit dieser Darstellung, die sich so- wohl in den vorliegenden beiden Gesetzentwürfen und auch in dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag wiederfindet, machen Sie es sich leicht, sehr ge- ehrte Kollegen von der Opposition. Sie sprechen von der Null-Toleranz-Politik und bele- gen dies mit den bekannten Fällen „Emmely“, „Maulta- schen im Pflegeheim“ und dem sogenannten Bienen- stichfall-Urteil von 1984. Aber gerade der Fall von „Emmely“ hat doch gezeigt, dass eine Abwägung des Einzelfalls stattfindet und grundsätzlich mehrere Tatbestände geprüft werden; nämlich die besonderen Umstände der Tat, die bisherige Beschäftigungsdauer, das Alter der Person, mögliche be- stehende Unterhaltspflichten und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Verdachtskündigungen sind im Übrigen nicht so einfach vorzunehmen. Der Arbeitgeber muss versuchen, den Vorfall aufzuklären, und dem Arbeitneh- mer Gelegenheit geben, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Wir sprechen auch immer nur über die spektakulären Fälle. Das verzerrt aber die Wirklichkeit. Richtig ist, dass die Gerichte in vielen Fällen dem Arbeitnehmer- recht geben. Das dürfen Sie nicht einfach ausblenden. Die bestehenden rechtlichen Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer sind ausreichend. Das haben in der Expertenanhörung vom Juni 2010 sowohl der BDA, der Handelsverband Deutschland und der Bund der Richte- rinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit bestätigt. In der Begründung für Ihren Gesetzentwurf schreiben Sie, sehr geehrten Kollegen von der Fraktion Die Linke, dass die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte den Grund- sätzen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes nicht gerecht würde. Das ist ein schwerwiegender Vor- wurf, den Sie hier erheben. Die eben geschilderte Praxis beweist das Gegenteil. Die Einführung einer Abmahnpflicht bei Eigentums- und Vermögensdelikten, wie Sie sie fordern, würde doch einen Freibrief für Arbeitnehmer bedeuten. Bagatell- diebstähle werden nicht geahndet, frei nach dem Motto „Einmal ist keinmal“. Grundsätzlich besteht ja heute be- reits die Pflicht zur Abmahnung vor einer verhaltensbe- dingten ordentlichen Kündigung. Das darf man nicht vergessen. Hier ist der Fall aber anders gelagert. Wir sprechen zwar von Bagatelldelikten, aber es geht hier doch um et- was ganz Grundlegendes: das Vertrauensverhältnis zwi- schen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Und das wurde durch das Verhalten des Mitarbeiters erheblich gestört. Die Kündigung erfolgt ja nicht grundlos, sondern es geht der Bruch eines Vertrauensverhältnisses zwischen Ar- beitnehmer und Arbeitgeber voraus. Ich möchte an die- ser Stelle gerne fragen: Wo wollen Sie denn die Grenze ziehen? Was ist eine Bagatelle und was nicht? Das wäre doch eine völlig willkürliche Festlegung. Ich bin der Meinung, dass die Redlichkeit eines Ar- beitnehmers durch den Arbeitgeber auch weiterhin ein- gefordert werden können muss. Mit ihren Anträgen wol- len Sie ein Sonderrecht, einen Sondertatbestand schaffen. Wir haben im Kündigungsrecht eine Recht- sprechung, die ausgewogen und differenziert ist. Eine Ausweitung des Kündigungsschutzes, wie er in Anträ- gen gefordert wird, ist nicht erforderlich. Neue gesetzli- che Regelungen sind überflüssig und damit auch die hier vorliegenden Gesetzentwürfe. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Wir debat- tieren hier ja ein Thema, bei dem es in der Öffentlichkeit und vor allem in den Medien teilweise starke, auch emo- tionale Reaktionen gegeben hat. Da sollten besonders wir einen kühlen Kopf bewahren. Ich glaube aber, dass genau das Ihnen nicht gelungen ist, denn: Wir haben seit fast 30 Jahren in dieser Frage eine gängige Rechtspre- chung, und die lautet: Mal so, mal so – was gerecht ist, kann immer nur im Einzelfall entschieden werden. Und diese Rechtsprechung hat Ihre rechtspolitische Urteils- kraft derart provoziert, dass Sie genau dann tätig wur- den, als ein Einzelfall besonders prominent durch die Medien ging. Keine neue Lage, keine neue Entwicklung und keine neue Einsicht liefern den Beweggrund für Ihre Vorlagen, sondern alleine Geltungsdrang. Deswegen will ich noch einmal gerade die zentralen Irrtümer Ihrer Gesetzentwürfe beziehungsweise Ihres Antrags benennen: Erstens. Es herrscht bei Diebstählen nicht das „Null-Toleranz-Prinzip“, sondern das Verhält- nismäßigkeitsprinzip. Zweitens. Das Arbeitsrecht und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11449 (A) (C) (D)(B) Strafrecht sind weder hier noch sonst wo zu vergleichen und müssen folglich auch nicht in Übereinstimmung ge- bracht werden. Drittens. Bei Diebstählen besteht kein besonderer Schutzbedarf von Arbeitnehmerinteressen, weil Arbeitnehmer kein Interesse an Diebstählen haben. Sie irren sich aber nicht nur an zentralen Stellen, son- dern machen dann auch noch zentrale handwerkliche Fehler. Denn eine Abmahnpflicht schafft nicht mehr Rechtssicherheit. Auch die vorgeschaltete Abmahnung müsste verhältnismäßig sein. Wenn Sie wirklich mehr Rechtssicherheit wollen, können Sie ja die Vorausset- zungen der außerordentlichen Kündigung exakt und ab- schließend konkretisieren. Aber eine Bagatellgrenze, die sich an einem „geringen wirtschaftlichen Schaden“ orientiert, ist gerade keine klare Grenze. Sie verschieben damit nur die Abwägungsproblematik, machen aber nichts einfacher, heute „wichtiger Grund“, morgen „ge- ringer Schaden“, übermorgen wieder die gleiche schwie- rige Abwägung vorm Arbeitsgericht. Irrtümer und Feh- ler also. Deswegen lehnen wir Ihre Entwürfe und Anträge ab, und zwar aus folgenden Gründen: Die erstklassige deut- sche Gerichtsbarkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit im Besonderen verdienen unsere Unterstützung. Billige Ef- fekthascherei auf Kosten der Richter mag Ihr Modell sein, unseres ist es nicht. Außerdem versteht ein Mensch, dass, ginge es nach Ihnen, ein bisschen Klauen nicht gleich zur Kündigung führen können soll, ein biss- chen mehr Klauen dann aber schon. Ich glaube, das Ge- rechtigkeitsempfinden bei allen Menschen ist intakt und geht so: Klauen geht gar nicht. Und da, wo die Sache eben nicht so klar ist, entscheidet das Gericht. Zum Schluss zitiere ich gerne die Kollegin Müller-Gemmeke: „Ich kann nicht beurteilen, wann Bagatellkündigungen angemessen sind und wann nicht.“ In diesem Sinne: Las- sen Sie’s einfach! Die Gerichte können es nämlich besser als wir, das müsste in Ihren Augen der Fall „Emmely“ doch ab- schließend gezeigt haben. All das, was Sie immer unter- stellt haben, nämlich eine grundsätzlich arbeitnehmer- feindliche Abwägung der Arbeitsgerichte, hat das Bundesarbeitsgericht doch gerade nicht gezeigt. Es gibt also einfach keinen Handlungsbedarf. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Heute stimmen wir über den Gesetzentwurf der Linken gegen Ver- dachts- und Bagatellkündigungen ab. Dieser verfolgt zwei einfache Punkte: Erstens. Wir wollen Verdachts- kündigungen gesetzlich ausschließen. Zweitens. Bei Ba- gatelldelikten soll es statt einer fristlosen Kündigung zu- nächst eine Abmahnung geben. Worum geht es dabei? Erinnern wir uns an den Fall der wohl bekanntesten Kassiererin „Emmely“. Der lang- jährigen Mitarbeiterin der Supermarktkette Kaiser- Tengelmann wurde 2008 fristlos gekündigt. Als Grund wurde angeführt, sie hätte unberechtigterweise zwei Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro eingelöst, ob- wohl das noch nicht einmal bewiesen werden konnte. Ei- nen besonderen Beigeschmack erhielt die Kündigung, weil „Emmely“ zuvor an Streikmaßnahmen der Gewerk- schaft Verdi beteiligt gewesen war. „Emmelys“ erste Kla- gen gegen die fristlose Kündigung waren alle erfolglos. Das war kein Einzelfall; so ging es schon etlichen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern zuvor, zum Beispiel einem 58-jährigen Lagerarbeiter mit achtjähriger Be- triebszugehörigkeit, der aus einem zu Bruch gegangenen Karton eine Milchschnitte aß, oder einer Altenpflegerin am Bodensee mit 17-jähriger Betriebszugehörigkeit, die übriggebliebene Maultaschen mitnahm. Sie alle wurden ohne Abmahnung fristlos gekündigt, und das will die Linke ändern. Wir sagten damals: Das ist eine Rechtsprechung des kalten Herzens, jenseits der Lebenswirklichkeit. Wir for- derten, die Arbeitsgerichte mit einer anderen Gesetzge- bung an die Kandare zu nehmen. Union und FDP haben dagegen die unsägliche Recht- sprechung im Fall „Emmely“ und anderer verteidigt. Ich zitiere den Kollegen Wadephul von der CDU/CSU: „Diese Entscheidung ist richtig.“ Der Kollege Vogel von der FDP sprach von einer „ausgewogenen Regelung“. Lieber Herr Kollege, was daran ausgewogen war, hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Nur vier Monate später gab es eine erfolgreiche Wende, die die Haltung der Linken bestätigte. Das Bun- desarbeitsgericht in Erfurt gab als letzte rechtliche In- stanz der Klage „Emmelys“ gegen ihre Kündigung statt. Ihre fristlose Entlassung wurde aufgehoben. Ich glaube, an dieser Stelle sollten wir „Emmely“ noch einmal dazu gratulieren und ihr unseren Respekt zollen – Respekt für ihr Durchhaltevermögen über Jahre hinweg und gegen böse Unterstellungen, Respekt aber auch dafür, dass sie stellvertretend für viele andere Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer ähnlichen Lage gekämpft und gewonnen hat. Sie selbst hat nach dem Urteil gesagt: „Das ist ein Sieg für alle. Ich habe ge- kämpft und gehofft, dass es Gerechtigkeit gibt.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Das BAG-Urteil im Fall „Emmely“ hat die Recht- sprechung an den Arbeitsgerichten enorm verändert. Zwei Frikadellen kosten nicht mehr den Job und auch das Aufladen eines Elektrorollers im Wert von 1,8 Cent rechtfertigt keine Kündigung, um nur zwei jüngste Ur- teile von Landesarbeitsgerichten zu nennen. Nun könnten Sie sagen, der von uns vorgelegte Ge- setzentwurf sei überflüssig geworden. Da sage ich Ih- nen: keineswegs! Nun muss es darum gehen, das neue Richterrecht in eine gesetzliche Form zu gießen. Dafür steht unser Gesetzentwurf. Nur so wird eine klare Rechts- lage hergestellt und der einseitigen Rechtsprechung zu- gunsten der Arbeitgeber ein Riegel vorgeschoben. Denn dem Interesse des Arbeitgebers, sein Eigentum zu schüt- zen, steht das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt sei- nes Arbeitsplatzes gegenüber. Zudem wäre dieser Ge- setzgebungsakt ein deutliches Zeichen an die Arbeit- geber, die Verdachts- und Bagatellkündigungen benutzen, um unangenehme Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter los- zuwerden. 11450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Die heutige Abstimmung ist eine Abstimmung über die Frage der Gerechtigkeit, und hier erwarten wir von Ihnen ein klares Ja. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch in Zeiten, in denen weltpolitische Themen und Landtagswahlen alle anderen Politikfelder zu überlagern scheinen, ist es unsere Aufgabe als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die vermeintlich nachrangigen An- gelegenheiten ebenfalls im Auge zu behalten. Ich zitiere den Schriftsteller Berthold Auerbach: „Heimisch in der Welt wird man nur durch Arbeit. Wer nicht arbeitet, ist heimatlos.“ Dieses Zitat veranschaulicht sehr genau die Bedeu- tung des Wortes „Arbeitsplatz“. Und wir alle wissen auch, dass viele Menschen die sozialen und kulturellen Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet, nur dann wahrnehmen können, wenn sie über einen sicheren Ar- beitsplatz und ein ausreichendes Einkommen verfügen. Für uns Grüne ist es ein zentrales politisches Anliegen, die gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen zu ge- währleisten. Heute debattieren wir über das Thema „Bagatellkün- digung“. Dieser Begriff beschreibt, unter welchen Vo- raussetzungen der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer kün- digen kann, wenn dieser im Arbeitsverhältnis widerrechtlich einen geringfügigen wirtschaftlichen Schaden verursacht hat. Wir erinnern uns: Der Fall „Emmely“ hat enormes Aufsehen erregt. Viele Menschen waren empört, weil sie sich in ihrer eigenen beruflichen Existenz bedroht fühl- ten, und weil sie es als ungerecht empfunden haben, dass der Kassiererin Emmely nach 30 Jahren Betriebszugehö- rigkeit wegen eines Pfandbons im Wert von 1,30 Euro fristlos gekündigt wurde. Dieser Fall hat die Öffentlich- keit zu Recht empört, und zu Recht hat auch das Bundes- arbeitsgericht der Klage von Emmely stattgegeben. Wir alle wissen aber auch, dass es schon andere Gerichtsent- scheidungen gab. In vielen sogenannten Bagatellfällen mussten Beschäftigte auch bei geringfügiger Schadens- verursachung mit einer fristlosen Kündigung rechnen. Es gibt also zwei unterschiedliche Linien in der Rechtsprechung. Was bedeutet das für uns Abgeordnete? Viele Abgeordnete in diesem Hause sind sich darüber ei- nig, dass gehandelt werden muss. Denn wir brauchen an dieser Stelle Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für alle Beteiligten und insbesondere für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die oftmals ohnehin schon ein sehr geringes Einkommen erzielen. Wir Grüne meinen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch ein Ba- gatelldelikt nicht unwiederbringlich gestört ist, zumal diese Delikte auch aus Gedankenlosigkeit oder Unwis- senheit begangen werden können. Konkret setzen wir uns dafür ein, dass bei Kündigungen wegen Bagatellde- likten in der Regel eine vorherige Abmahnung erfolgt sein muss, denn mit der Abmahnung zeigt die Arbeitge- berseite den Beschäftigten, dass ihr Verhalten nicht hin- genommen wird. Das ist ein Warnschuss für den Arbeit- nehmer bzw. die Arbeitnehmerin, den wir gesetzlich etablieren müssen. Also: Nichts zu unternehmen, wie es die Damen und Herren von der Koalition handhaben wollen, ist keine Lösung. Ein guter und klarer Ausgleich zwischen Ar- beitnehmer- und Arbeitgeberinteressen ist Grundlage für einen effektiv arbeitenden Betrieb. Arbeitnehmer, die sol- chen fast schon willkürlichen Kündigungen ausgesetzt sind, entwickeln nicht ihre optimale Leistungsfähigkeit. Wenn sie in der ständigen Furcht leben müssen, wegen geringfügigster Delikte und ohne zweite Chance fristlos entlassen zu werden, arbeiten sie weder effektiv noch motiviert. Sie sind viel zu sehr mit der Sorge um ihren Arbeitsplatz beschäftigt. Das können wir weder in unse- ren betrieblichen Arbeitsverhältnissen noch gesamtge- sellschaftlich anstreben! Wir müssen deshalb an diesem Punkt das Arbeitsver- hältnis auf ein solides gesetzliches Fundament stellen. Damit gewährleisten wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ein Stück weit heimisch zu werden in dieser Welt, und unseren Arbeitsprozessen ein gutes Stück Gerechtigkeit und Stabilität. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Tagesordnungspunkt 11) Marlene Mortler (CDU/CSU): „Nirgendwo schmeckt Idylle besser“, hieß es in einem gelungenen Artikel der Berliner Morgenpost. Der Artikel hat meine Aufmerksamkeit geweckt, weil er mit diesen Worten meine fränkische Heimat wunderbar beschreibt und weil er beispielhaft zeigt, worin die Stärken des Deutschland- Tourismus liegen: in der besonderen Authentizität, der besonderen Vielfalt der einzelnen Regionen. Deshalb sind auch Sie, so wie ich, stolz auf Ihre, un- sere Heimat. Heimat! Gerade die Menschen vor Ort sorgen dafür, dass unser Reiseland so attraktiv ist. Ob Nord- und Ost- see, Harz, Eifel, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz, Erzgebirge, Schwarzwald, Teutoburger Wald, Bayeri- scher Wald, Rhön, Allgäu oder Fränkisches Seenland, um nur einige zu nennen – die Kulturlandschaft dieser Regionen ist das Ergebnis von Landbewirtschaftung über Jahrhunderte hinweg. Vitale ländliche Räume sind keine idealisierten Bilder- buchlandschaften. Vitale ländliche Räume brauchen eine wirtschaftliche Basis. Früher haben Menschen nur dann dort leben können, wenn sie eine wirtschaftliche Basis hatten. Wenn sie die nicht hatten, mussten sie weiterzie- hen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11451 (A) (C) (D)(B) Landschaftliche und kulturelle Vielfalt sind Werte, die unsere Lebensqualität mitbestimmen, die wir pflegen und bewahren müssen. Deshalb ist die regionale Wertschöp- fung in Deutschland so wichtig. Der Tourismus steht da- für. Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, denn er bietet Arbeitsplätze vor Ort. Es sind Arbeitsplätze, die nicht ex- portierbar sind. Als arbeitsintensive Branche sichert er bundesweit immerhin 2,8 Millionen Arbeits- und 115 000 Ausbildungsplätze quer durch unser Land dank der touristischen Vielfalt in Stadt und Land. Und noch ein Grund zur Freude: Das Reiseland Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Die jüngsten Gästezahlen sind geradezu sensationell. Wir sprechen vom besten Halbjahresergebnis aller Zei- ten. Die Gästeübernachtungen aus dem In- und Ausland stiegen insgesamt um 3 Prozent; bei den Inlandsgästen waren es 2 Prozent, bei den Auslandsgästen 9 Prozent. Diesen Schwung müssen wir weiter nutzen. Das heißt, wir wollen Deutschland und seine Kulturlandschaften als Reiseland noch intensiver bewerben. Nicht nur in den großen Städten, sondern gerade in den ländlichen Gebieten ist das Geschäft mit der Reise- lust ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es ist oft Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit unverzichtba- ren Impulsen für den lokalen Arbeitsmarkt. Nachgela- gerte Bereiche wie der Einzelhandel, die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft, die Genussmittelindustrie, das Transportgewerbe und der Kulturbereich profitieren davon erheblich. Bei all diesen wirtschaftlichen Betrachtungen darf ei- nes nicht aus dem Blick geraten: Elementare Grundlage für den Tourismus im ländlichen Raum ist eine intakte Natur und eine attraktive Kulturlandschaft. Damit kön- nen wir bei den Reisenden aus dem In- und Ausland punkten. Denn Umweltprobleme in den weltweiten Ur- laubsregionen werden von den Reisenden zunehmend wahrgenommen. Sie beeinflussen die Reiseplanung so sehr, dass inzwischen jeder zweite Urlauber sagt: Das Wetter spielt nicht mehr die entscheidende Rolle, son- dern schöne Landschaften, eine unberührte Natur und eine saubere Umwelt stehen für mich hoch im Kurs. Im globalen Dorf wird Nachhaltigkeit überall als „die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen“ verstan- den. Zeitschriften wie LandLust, Schönes Land, mein liebes Land und andere gehen weg wie warme Semmeln. Der Trend zum Unverfälschten, zum Natürlichen ist ein- deutig. Ich zitiere aus der Welt: Nachhaltiges Reisen wird zum neuen Trend. Lange galt das Motto: schneller, höher, weiter. Doch die Tourismusbranche muss umdenken, denn die Wün- sche der Urlauber haben sich gewandelt. Das Meer lindert Schmerzen. Wellenrauschen wirkt sich posi- tiv auf Angst und Stress aus. Ist das Wasser türkis, senkt das den Blutdruck. Gebirge, Wüsten und dra- matische Regionen lösen ein Feuerwerk an Glücks- hormonen aus. Die stärkste mentale Wirkung aber üben Landschaften mit lockerer Vegetation, ge- schwungenen Wegen, sanften Hügeln und einge- sprenkelten Gewässern aus. In allen Fällen sind körperliche Reaktionen messbar gesundheitsför- dernd, das belegt die junge Disziplin der Land- schaftspsychologie. Ein Beispiel: Hopfen und Bier. Das gehört zusam- men. Ich denke hier an die Hopfengärten rund um Spalt, die so typisch und landschaftsbildprägend sind. Ich denke aber auch an die einzigartige Spalter Brauerei, die einzige Brauerei Deutschlands, die von ihrem Bürger- meister „regiert“ wird. Mit unserem Antrag wollen wir einen Beitrag leisten, dieses Potenzial noch stärker zu nutzen. Unser Ziel ist klar: Nicht nur die großen Städte, sondern auch die länd- lichen Räume – strukturschwache Räume – sollen sich durch zusätzliche wirtschaftliche Impulse weiterentwi- ckeln. Der Weg ist die bessere Verknüpfung von Touris- mus und Landschaftspflege einerseits und noch mehr Verständnis für Tourismus und Landbewirtschaftung an- dererseits. Landschaftspflege ist ein wichtiges Segment. Aber von der Landschaftspflege allein können Bauern und Verbraucher nicht leben. Landbewirtschaftung heißt also zum einen, die Landschaft in ihrer Vielfalt zu erhalten, aber zum anderen auch, die Kulturlandschaft zu nutzen, zu gestalten und zu pflegen, um von ihren Erträgen leben zu können. Die Land- und Forstwirtschaft braucht wiederum uns als Verbraucher. Das heißt, wir haben es in der Hand, dass wir heimische Produkte noch mehr schätzen und gezielt einkaufen. Tourismus und Landwirtschaft brauchen sich gegen- seitig. Der Tourismus stärkt die Wirtschaft. Er trägt auch dazu bei, dass sich Landbewirtschaftung weiter lohnt. Für den Einheimischen ist es Heimat auf dem Teller und für den Gast Urlaub zum Mitnehmen. Der Blick fürs Ganze zeigt doch auch, dass – das wird mir in intensiven Gesprächen immer wieder bewusst – eine gepflegte Landschaft mit einem verlässlichen Rechtsrahmen eine Errungenschaft ist, um die wir welt- weit beneidet werden. Darum machen wir Deutsche am liebsten Urlaub im eigenen Land. Das ist ein Trend, der in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Aber auch ausländische Gäste schätzen diese Tatsache. Um die attraktive Vielfalt unserer Kulturlandschaften zu sichern, sollen daher nach unserem Willen, nach dem Willen der Unionsfraktion, das nationale Naturerbe, Naturschutzprojekte des Bundes, die nationalen Natur- und Kulturlandschaften sowie das Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“ vor allem über freiwillige Koope- rationen weiter unterstützt werden. Zudem sollen natur- touristische Angebote im Rahmen von Modellvorhaben entwickelt und erprobt werden. Die Achtung des Eigentums und der vorrangige Weg der freiwilligen Kooperation sind bisher wesentliche Ga- ranten des Erfolgs. Ökologie, Ökonomie und Soziales sind im Miteinander zu betrachten. Festlegungen über die gute fachliche Praxis hinaus, wie wir sie in der Land- 11452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) wirtschaft kennen und befolgen, sind deshalb finanziell auszugleichen. Bei den anstehenden Diskussionen über die Weiter- entwicklung der EU-Politik nach 2013 setzen wir uns für eine Fortführung der starken ersten Säule und eine finan- ziell gut ausgestattete zweite Säule in der gemeinsamen EU-Agrarpolitik ein. Agrarumweltprogramme und Ver- tragsnaturschutz sowie die Ausgleichszulage sind wich- tige Instrumente zur Stärkung des Tourismus in ländli- chen Gebieten. Dafür kämpfen wir! Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Tou- rismuskonzeption für den ländlichen Raum angekündigt. Ich führe dazu vielfältige Expertengespräche, um das Ganze auf den Weg zu bringen. Denn: Nirgendwo schmeckt Idylle besser. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Wir beraten heute in dritter Lesung den Koalitionsantrag „Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Ent- wicklung ländlicher Räume stärken“. Persönlich freue ich mich sehr, dass dieses Thema im Deutschen Bundestag debattiert wird. Diese Thematik muss wegen ihrer querschnittsübergreifenden Bedeutung in Zukunft noch mehr Beachtung finden. Dieses Thema ist aktueller denn je, denn Tourismus und intakte Landschaft sind zwei Seiten einer Medaille, übrigens nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass der Tourismus entsprechend stark auf den landschafts- pflegerischen Beitrag der Landwirtschaft, der öffentli- chen Hand und privater Eigentümer angewiesen ist. Daher möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen meinem hochgeschätzten Kollegen Josef Goppel für seine wertvolle Arbeit als Präsident des Deutschen Ver- bandes für Landschaftspflege danken. Mein Dank gilt stellvertretend für alle in diesem anerkannten Natur- schutzverband engagierten Personen und dessen beein- druckende Leistungen, von der Lokalebene bis hin zum Bundesvorstand. Seit fast zwei Jahrzehnten setzt sich der Deutsche Verband für Landschaftspflege wie keine andere Organi- sation in Deutschland für eine praxisorientierte Zusam- menarbeit von Naturschutz, Landwirtschaft und Politik ein. Die Ideen der praktischen Kooperation unterschied- licher Landnutzer und die gemeinsame Suche nach ei- nem Ausgleich von Interessenkonflikten in ländlichen Räumen nahmen auf Bundesebene 1993 ihren Ausgang. Die Arbeit der Landschaftspflegeverbände ist ein zu- kunftsweisendes Beispiel, wie durch freiwilligen Einsatz lokaler Akteure die Funktionen der Landschaft – näm- lich Naturschutz, Landwirtschaft und Erholung – durch dauerhaft tragfähige Nutzungskonzepte aufrechterhalten werden können. Gerade in den mitteldeutschen Bundesländern mit ih- rer bis 1989 geschundenen Natur und Umwelt ist wieder vieles vom Kopf auf die Füße gestellt dank der deut- schen Einheit und dem vielfach geleisteten ehrenamtli- chen Einsatz engagierter Bürger, Geldgeber und Förde- rer. Viele unserer attraktiven Landschaften und flächen- deckenden Landbewirtschaftungen sind gefährdet, weil sich die dortige Landwirtschaft nicht mehr alleine trägt. Hier setzt unser Antrag an. Es gilt, die Zusammenarbeit von Tourismus, Land- schaftspflege und Landwirtschaft zu fördern. Wir sind der Meinung, dass der Tourismus die Wirtschaft der Re- gion stärkt und dazu beiträgt, dass sich die Landwirt- schaft weiter lohnt. Im Gegenzug sichert Landschafts- pflege nachhaltige Nutzung und schafft so eine erfolgreiche Grundlage für erfolgreichen Tourismus. Da- rüber hinaus trägt der Tourismus zum Lebensgefühl der Bevölkerung bei und ist ein wichtiger Bestandteil der Identifikation mit einer Region, der Heimatverbunden- heit sowie der Pflege von Brauchtum und Tradition. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die in unse- rem Antrag zum Beispiel unter Punkt 5 geforderten Mo- dellregionen zu bewerten haben. Meiner Meinung nach sind Leitbilder oder Masterpläne für Landschafts- und Kulturräume zu entwickeln, die einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Arbeit, Umweltschutz, Infrastruktur, Energieversor- gung und die Verbesserung der Lebensqualität unter Be- rücksichtigung des demografischen Wandels müssen als Steine eines Mosaiks gesehen werden. Daneben müssen wir den politischen Willen aufbringen, uns von der Ein- zelförderung zu verabschieden und endlich mit der Re- gionalförderung für Kulturlandschaften in Deutschland ernst zu machen. Ja, Deutschland hat den Reisenden viel zu bieten. Nicht nur unsere Städte, auch unsere vielfältigen Kul- turlandschaften leisten einen wichtigen Beitrag zur touristischen Attraktivität unseres Landes. Natur und Landschaft sind ein unschätzbares Gut für die wettbe- werbsfähige Entwicklung ländlicher Räume. In unseren ländlich geprägten Regionen leben rund 40 Prozent der Bevölkerung. Damit das Leben auf dem Land weiterhin attraktiv bleibt, müssen die Arbeitsplätze in den Regionen gesi- chert und nach Möglichkeit neue Beschäftigungsmög- lichkeiten geschaffen werden. Zahlreiche Urlaubsziele auf dem Land wie beispiels- weise die Rhön, die Sächsische Schweiz, die Region Schorfheide-Chorin oder das Allgäu zeigen eindrucks- voll, wie der Schutz und die Nutzung einer Landschaft zum Wohle der Erholungssuchenden und der Bevölke- rung Hand in Hand gehen. Gerade in strukturschwachen Gebieten leistet die Landwirtschaft einen entscheidenden Beitrag zur Steige- rung der Attraktivität einer Region als Urlaubsziel. Die Sehnsucht zahlreicher Urlauber nach Authentizität und Unverwechselbarkeit wird immer dort gestillt, wo ein harmonisches Landschaftsbild, intakte Natur und regio- naltypische Einzigartigkeit einen gelungenen Dreiklang bilden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11453 (A) (C) (D)(B) Mit der besseren Verknüpfung von Landschaftspflege und Tourismus erhalten unsere Landwirte neue Möglich- keiten der wirtschaftlichen Betätigung. Um ihr langfris- tiges Überleben zu sichern, benötigen die Landwirte aber verlässliche Finanzierungskonzepte. Landschafts- pflege ist nicht umsonst zu haben; sie muss sich auch für die Landwirte lohnen. Bürokratische Hemmnisse bei der Mittelbewilligung und beim Mittelabfluss sind hier zu reduzieren. Wir können in Deutschland stolz auf unsere unver- gleichbar schönen Landschaften sein. Ebenso stolz müs- sen wir auf diejenigen sein, die uns tagein tagaus mit ih- rer Hände Arbeit diese einmaligen landschaftlichen Reize der Heimat schaffen und bewahren. Aber es sind nicht nur unsere Landwirte, sondern auch viele ehren- amtlich Tätige, die unsere Landschaften so attraktiv ge- stalten. Honorieren wir diesen hervorragenden Einsatz aller Beteiligten, sei es durch eine angemessene finanzielle Förderung ihrer landschaftspflegerischen Leistungen oder durch einen Besuch unserer attraktiven Kulturland- schaften, am besten in Form von Ferien auf dem Bauern- hof. Der ländliche Raum muss auch zukünftig als intak- ter Lebens-, Arbeits- und Erholungsraum zum Wohle des ganzen Landes gesichert werden, wie es seit Jahrhunder- ten Tradition ist. Heinz Paula (SPD): Die Bedeutung des Landtouris- mus beschreibt eine gemeinsame Initiative von DBV, Deutschem Landkreistag und Bauernhof & Landurlaub. Ich zitiere: Für die ländlichen Räume ist die Tourismusent- wicklung von großer und oft elementarer Bedeu- tung: Touristische Infrastrukturen und branchenun- terstützende Rahmenregelungen haben nicht nur direkte wirtschaftspolitische Effekte, sondern tra- gen darüber hinaus zur Erhaltung und zum Ausbau intakter, lebenswerter und attraktiver ländlicher Räume und zur Abfederung demografischer Ent- wicklungen bei. Der Landtourismus ist breit aufgestellt: Bio-, Kneipp- Feriendörfer, Sport- und Wellness-Angebote, Camping, Wander-, Fahrradtourismus, Angebote für Tagestouris- ten. 2008 gab es 46 000 Beherbergungsbetriebe mit über 2 Millionen Gästebetten und 268 Millionen Übernach- tungen bei 2,8 Millionen Beschäftigten und über 100 000 Ausbildungsplätzen. Die Entwicklung ist höchst erfreulich, wie Bauernhofurlaub am 27. Januar 2011 vermeldet: Ferien auf dem Land liegen immer mehr im Trend ... Jeder dritte Betrieb berichtet von einer besseren oder sogar sehr viel besseren Belegung im Ver- gleich zum Vorjahr. Mein Kompliment an alle Anbieter. Besonders interessant dabei ist eine Einschätzung des Sparkassen-Tourismusbarometer: Das Potenzial ist bis- her bei weitem nicht ausgeschöpft. Das BMELV spricht sogar davon, dass nur ein Drittel der an Landurlaub Inte- ressierten tatsächlich dort Ferien verbringt. Laut einer Studie des Studienkreises Tourismus und Entwicklung ist für über 54 Prozent der Interessenten für die Auswahl des Urlaubsziels entscheidend, dass Natur dort unmittelbar erlebt werden kann. Nun zu ihrem Antrag: Der Prosateil ist ja noch akzep- tabel: Neben einer touristischen Infrastruktur, gutem Ser- vice und regionaltypischer Verpflegung erwarten die Gäste eine vielfältige Kulturlandschaft mit schönen Ausblicken – wohltuend für das Auge und für die Seele. Doch viele dieser attraktiven Land- schaften und die flächendeckende, nachhaltige Landbewirtschaftung durch Landwirte sind gefähr- det ... Tourismus, Landwirtschaft und Landschafts- pflege können hier gemeinsam gegensteuern. Wer möchte da widersprechen. Aber dann kommt es: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- rung auf, 1. …verstärkte, freiwillige Kooperationen mit den Grundeigentümern … vor Ort weiter zu unterstüt- zen … 2. … freiwillige Kooperation von Grundeigentü- mern und Bauern vor Ort … verstärkt zu unterstüt- zen … 3. Leistungen der Land- und Forstwirtschaft … zu- künftig weiter zu unterstützen. Das ist doch nicht ihr Ernst. Wer so formuliert, be- weist eines: Dieser Antrag wird sogar von Ihnen als völ- lig überflüssig eingestuft. Wir waren schon viel, viel weiter. 2006: „Nationale Naturlandschaften – Chancen für Naturschutz, Touris- mus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwick- lung.“ Über 16 Punkte werden eingefordert – bei Ihnen sind es gerade mal fünf. Zum Beispiel haben wir in der Großen Koalition ge- fordert: Natururlaub muss zu einem Markenzeichen des Deutschland-Tourismus werden; barrierefreies Natur- und Kulturerleben; Ausbildung im Tourismus verbes- sern; die nationalen Naturlandschaften stärker als bisher in die nationale Nachhaltigkeitsstrategie und in die nationale Biodiversitätsstragie integrieren; bessere Ver- marktung. 2007 beschloss die Große Koalition den Antrag „Un- sere Verantwortung für die ländlichen Räume“. Als zen- trale erste Forderung verlangen wir eine ressortübergrei- fende Politik, die sich an den Problemen der ländlichen Regionen orientiert und eine integrierte ländliche Ent- wicklung unterstützt. Weitere positive Beispiele: finanzielle Situation der Kommunen berücksichtigen, bessere verkehrliche Er- schließung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermög- lichen, gezielte Entlohnung für gesellschaftlich er- wünschte ökologische Leistungen. Das sind zielführende Forderungen. Setzen Sie diese Forderungen endlich um. 11454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Wir von der SPD-Fraktion verlangen endlich einen Sachstandbericht: Wie weit ist denn das Ministerium? Wir verlangen hier klare Antworten, Konzepte, nicht wie üblich Ankündigungen, Frau Ministerin. Beunruhigend sind für mich viele Dinge: Es gibt keine Bereitschaft für eine Gesamtstrategie zur Förderung der Tourismuswirtschaft. Siehe die Ant- wort der Regierung auf Anfrage der Grünen. Entlarvend ist die Antwort des Ministeriums auf meine Anfrage am 23. Februar 2011: Im Zuge der Erarbeitung des Tourismuskonzepts für ländliche Räume wird geprüft, ob und gege- benenfalls welche weiteren Maßnahmen zur Stär- kung des Landtourismus erforderlich sind. Noch schwächer geht es wirklich nicht. Dabei hat der ländliche Tourismus Riesenpotenziale, zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeit. Eine Um- frage des Sparkassen- und Giroverbandes zeigt, dass je- der dritte Bundesbürger bereit ist, für ein nachhaltiges Reiseangebot einen Aufpreis von 10 bis 20 Euro pro Tag zu zahlen. Frau Kollegin Mortler hat völlig zu Recht in der letzten Debatte die Welt zitiert: „Nachhaltiges Reisen wird zum neuen Trend.“ Sofort handeln müssen Sie hinsichtlich Punkt 4 Ihres Antrages: Es muss umgehend eine Korrektur der will- kürlichen Kürzungen der Mittel bei den Gemeinschafts- aufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs- tenschutzes“ – 100 Millionen Euro gestrichen – und „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – 10 Millionen Euro – erfolgen. Das verlangt die SPD- Fraktion von Ihnen, verehrte Kollegen der schwarz-gel- ben Koalition. Ich darf Ihnen zum Schluss noch einen kleinen Tipp geben. Lesen Sie unbedingt das Papier „Ländlichen Tou- rismus stärken“; es ist sehr aufschlussreich. Sie verlan- gen „Sicherstellung ausreichender finanzieller Mittel im Rahmen des ELER und der GAK sowie eine Anpassung der Förderbedingungen zur verbesserten Unterstützung des Tourismus im ländlichen Raum“. Sie werden mir hier sicher zustimmen, genauso wie bei der nächsten Forderung des gemeinsamen Papiers von Bauernverband, Landkreistag und Bauernhofurlaub: Gefordert wird eine „Verbesserte Verortung und Koordi- nierung der Tourismuspolitik innerhalb der Bundesregie- rung“ und damit der Finger durch den Bauernverband genau in die Wunde gelegt. Die Bundesregierung muss endlich handeln im Sinne des ländlichen Tourismus. Mein Kompliment an die CDU: Sie haben die ekla- tanten Mängel Ihres Antrags genau erkannt. Der Agra- Europe vom 21. März 2011 kann man entnehmen, dass die CDU ein Papier entwickelt hat: „Heimat gestalten – Programm für lebendige ländliche Räume“. Sie fordern unter anderem: Entwicklung ländlicher Räume als Quer- schnittsaufgabe; Tourismuskonzeption, um die Potenziale des ländlichen Raumes besser auszuschöpfen; flächendeckendes Glasfasernetz; Anpassung beim ÖPNV. Das kommt ihnen sicher bekannt vor aus den beiden oben genannten Beschlüssen aus der Zeit unserer ge- meinsamen Koalition. Ich hoffe, dass alle diesbezügli- chen Beschlüsse der Großen Koalition übernommen werden. Eine letzte Bitte zum Schluss: Bremsen Sie den baye- rischen Ministerpräsidenten. Sollte sich sein Konzept „Zukunftsfähige Gesellschaft – Bericht des Zukunftsra- tes“ durchsetzen, wäre dies der Kahlschlag für alle länd- lichen Räume, gefördert werden sollen nur noch die Zentren. Das wäre verheerend. Fazit: Wir bitten Sie, diesen Antrag abzulehnen, set- zen Sie besser die Beschlüsse von 2006 und 2007 schnellstens um. Horst Meierhofer (FDP): Die Stärkung des ländli- chen Raumes wird regelmäßig beschworen. Dennoch setzt sich die Landflucht stetig fort. In meinem eigenen bayerischen Bezirk, der Oberpfalz, erleben wir das ebenso wie in vielen anderen Regionen Deutschlands. Nun stellt sich die Frage, was wir dagegen tun kön- nen. Alleine auf die Landwirtschaft zu setzen, reicht au- genscheinlich nicht aus; das ist uns allen wohlbekannt. Wichtig ist, dass die Menschen im ländlichen Raum auch ihre Arbeitsstelle im ländlichen Raum haben. Denn ein jahrzentelanges Pendeln zum Arbeitsplatz in der nächsten Großstadt ist nicht immer zumutbar. Wie be- kommen wir also Arbeit in den ländlichen Raum? Und idealerweise ohne die ländlichen Strukturen zu zerstö- ren, ohne der Region ihre Identität zu nehmen? Tourismus kann eine mögliche Antwort sein; da sind sich die Koalitionsfraktionen auch mit dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Bauernverband einig. Denn gerade unsere schönen Kulturlandschaften sind ein Pfund für die touristische Erschließung; die Landschafts- pflege muss eben deshalb auch besonders gewürdigt und unterstützt werden. Doch Tourismus auf dem Lande ist viel mehr als „Ur- laub auf dem Bauernhof“. Unter anderem bietet der ländliche Raum touristische Potenziale auf folgenden Feldern: Reiterferien, Fahrrad- urlaub, Wanderferien, Weinverkostungen auf dem Win- zerhof, Wassersport (Kanu, Bootsfahrt), Wellness- und Gesundheitstourismus, Campingurlaub; die Liste ließe sich fast endlos fortsetzen. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, um diese nachhaltigen Tourismusprojekte zu fördern. Damit wird auch die Qualität der strukturschwachen Gegenden er- halten und erhöht. Lassen Sie uns den ländlichen Raum mit touristischer Infrastruktur aufwerten und jungen Menschen auch in kleineren Städten und Dörfern eine Perspektive geben. Dann können wir nicht nur für ein Anwachsen der Arbeitsplätze sorgen, sondern auch so- ziale und wirtschaftliche Integration im ländlichen Raum fördern. Durch eine bessere Infrastruktur – Einkaufen, ÖPNV, ärztliche Versorgung, Restaurants usw. – wird der ländliche Raum natürlich nicht nur für Touristen in- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11455 (A) (C) (D)(B) teressant; vielmehr profitieren gerade die Bewohner na- türlich davon. Die Dienstleistungsbranche ebenso wie die Industrie kann von der touristischen Wertschöpfung profitieren. Entlang der gesamten touristischen Servicekette sind po- sitive Effekte zu erwarten. Freizeitangebote, die daraus entstehen, sind als sekundärer Faktor weiterer Garant für den Arbeitsmarkt und dienen dem Wettbewerb. Die klei- nen und mittelständischen Tourismusbetriebe, zum Bei- spiel aus dem Gastgewerbe, werden es uns danken, die Landwirte, die dadurch ein zusätzliches Standbein be- kommen, ebenso! Deshalb darf ich Sie bitten, uns bei diesem wichtigen Anliegen zu unterstützen. Stimmen Sie für den Antrag! Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Lassen Sie mich zu Beginn einige wesentliche Feststellungen machen: Mehr als 65 Prozent der Deutschen leben und arbeiten außerhalb großstädtischer Ballungsgebiete in ländlichen Regionen. Unsere ländlichen Räume sind die Stützpfei- ler und das Rückgrat unserer Gesellschaft. Ich weiß, wo- von ich rede: Meine Heimat ist die wunderschöne Eifel in Rheinland-Pfalz. In den ländlichen Regionen existie- ren die Bürgergesellschaften noch, hier kann man noch von intakter Gesellschaft sprechen, hier übernehmen die Bürgerinnen und Bürger Verantwortung – kurz, die so- zialen Probleme sind gering, es gibt keine sozialen Brennpunkte und nur wenige Arbeitslose, und die Sozi- albudgets werden am geringsten belastet. Diese Stabilität hat viel mit der Multifunktionalität ländlicher Räume zu tun: Ursprünglich rein landwirt- schaftlich geprägt, haben sich aufgrund der verbesserten Infrastruktur vor- und nachgelagerte Bereiche des Han- dels und der Dienstleistungen angesiedelt und den ehe- mals armen Gebieten zu Wohlstand verholfen. Die at- traktive Kulturlandschaft ist zum beliebten Reiseziel vieler Erholungssuchender geworden und hat zum Auf- und Ausbau des Tourismus beigetragen. Vielfältige Kulturlandschaften, flächendeckende, nach- haltige Landbewirtschaftung und attraktive touristische Angebote bedingen einander. Die Attraktivität der länd- lichen Räume für den Tourismus ist durch die Landbe- wirtschaftung entstanden; gleichzeitig kann die Land- wirtschaft allein die ländlichen Räume nicht erhalten. Die dort lebenden Menschen müssen attraktive Le- bens- und Arbeitsbedingungen vorfinden; sie dürfen nicht von der technologischen Entwicklung abgehängt werden. Weil dies so ist, brauchen wir auch künftig prosperie- rende ländliche Räume. Es geht um den Erhalt wirt- schaftlicher Multifunktionalität, um die Synergie von Tourismus, Landwirtschaft und Landschaftspflege. Wir müssen auch in Zukunft die ländlichen Räume weiter fördern, sei es im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- zes“, GAK, oder bei der Weiterentwicklung der Gemein- samen Agrarpolitik, GAP, nach 2013. Wanderer, Biker, Wellness und Gesundheitstourismus sind auf dem Vor- marsch. Das ist gut so in den ländlichen Regionen Deutschlands. Das müssen wir politisch fördern und un- tersützen. Regionale Wertschöpfung, sozialer Frieden und Schutz von Natur und Umwelt sollten uns das wert sein. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Gestatten Sie mir zu Beginn einen kurzen Rückblick: Am 17. Dezember 2007 brachte die Linke den Antrag „Landurlaub und Urlaub auf dem Bauernhof als Chance für einen umweltfreundlichen Tourismus in Deutschland nutzen“, Drucksache 16/7614, in den Bundestag ein. Ein Dreivierteljahr später, am 24. September 2008, zogen die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD mit einem Antrag „Bauernhofurlaub und Landtourismus wei- ter fördern – Ländliche Räume nachhaltig stärken“, Drucksache 16/10320, nach. Dies war nötig, damit nicht nur der Antrag der Linken Gegenstand der öffentlichen Anhörung auf der Grünen Woche am 19. Januar 2009 war. Das durchgängige Fazit der Sachverständigen bei der Anhörung war: Beide Anträge sind gut und ergänzen einander. Die Annahme und Umsetzung beider Anträge wäre sinnvoll und wünschenswert. Am 18. Juni 2009 lehnte der Bundestag, wie leider üblich, den Antrag der Linken mehrheitlich ab und be- schloss den Antrag der Koalitionsfraktionen. Übrigens: Die Linke stimmte dem Antrag von CDU/CSU und SPD zu, zumal nicht wenige Vorschläge und Forderungen aus dem Antrag der Linken von der Koalition übernommen worden waren. Aber seitdem engagierte sich weder die Große noch die jetzige Koalition im Sinne des Beschlus- ses des Bundestages. Alles blieb, wie es war. Nun haben wir wieder einen Schaufensterantrag von CDU/CSU und FDP zum Landtourismus, nur – auch im Vergleich zum Antrag aus dem Jahr 2008 – deutlich sub- stanzloser und oberflächlicher. Unser Fazit: Ihren Antrag werden wir ablehnen, denn damit kann man die Bundesregierung nicht zum Jagen tragen, damit helfen Sie nicht den auf dem Lande leben- den und arbeitenden oder arbeitssuchenden Menschen, damit tun Sie nichts für potenzielle Touristinnen und Touristen, damit stärken Sie weder die Tourismuswirt- schaft noch die Landwirtschaft, und damit tun Sie auch nichts für die Natur. Die Linke will den Landurlaub und den Urlaub auf dem Bauernhof als Chance für einen umweltfreundli- chen Tourismus in Deutschland nutzen. Wir fordern des- halb von der Bundesregierung, die Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ unter beson- derer Berücksichtigung der Möglichkeit des barriere- freien Reisens als wichtiges Element des Qualitätstouris- mus im ländlichen Raum zu erweitern und ein Innovationsprogramm für Angebote in den ländlichen Räumen aufzulegen, das die zukünftigen Haupteinfluss- faktoren im Tourismus wie die Klimaänderung, den de- mografischen Wandel und die wachsende europäische Vernetzung berücksichtigt. Zudem muss gemeinsam mit den Bundesländern der Bildungsaspekt des Landtouris- 11456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) mus stärker in den Vordergrund gerückt werden, zum Beispiel über die verstärkte Förderung von Klassenfahr- ten. Auch soll die Bundesregierung die Chancen aus den Möglichkeiten der gemeinsamen europäischen Agrarpo- litik nutzen und den ländlichen Tourismus als wichtige Säule der ländlichen Entwicklung etablieren sowie die Vermarktung landtouristischer Angebote über die Deut- sche Zentrale für Tourismus stärken. Ich gestehe: Diese Forderungen sind nicht neu. Sie sind aber weiterhin aktuell. Neu wäre, wenn endlich et- was geschähe. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die ländlichen Räume waren lange in vielen wichtigen Fra- gen ausgeblendet. Fakt ist aber: Zwei Drittel der deut- schen Bevölkerung leben in ländlich geprägten Regio- nen. In diesen Regionen existieren mehr als 23 Millionen Arbeitsplätze, und hier werden 57 Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands erbracht. Das zeigt die enorme Bedeutung. Sie sind aber nicht nur ein wichtiger Wirtschafts- standort, sondern Natur- und damit vor allem Rückzugs- und Erholungsraum für den Menschen. Im ländlichen Raum liegen also zentrale ökologische, aber auch ökonomische Perspektiven für große Teile un- seres Landes. Gleichwohl müssen wir auch Antworten auf soziale wie ökologische Herausforderungen wie den demografi- schen Wandel oder den Verlust von Arten finden. Da spielt der Tourismus eine wichtige Rolle, weil ge- rade Inlandsreisen und hier vor allem der Kurzurlaub sich steigender Beliebtheit erfreuen. Das ist eine große Chance für unsere Regionen, sich als Reiseziele zu eta- blieren. Gleichzeitig – das ist an dieser Stelle wichtig – ermöglicht ein nachhaltiger Tourismus den Bestand un- serer Kulturlandschaften und damit auch Biodiversität. Damit wir aber wirklich eine nachhaltige – also öko- logische, ökonomische und soziale – Wirkung für den ländlichen Raum entfalten können, ist eine Vielzahl von Faktoren zu beachten. Ausgerechnet diese bleiben in Ih- rem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, aber leider unerwähnt. Das ist das Problem Ih- res Antrags: Die Forderungen passen nur teilweise zu ih- rer Analyse. Es fehlt an Verbindlichkeit und damit letzt- lich an Stimmigkeit. Sie fordern die Bundesregierung auf, die Sicherung artenreicher und attraktiver Landschaften über ver- stärkte, freiwillige Kooperationen mit den Grundeigen- tümern und Bauern vor Ort stärker zu unterstützen. Das begrüße ich ausdrücklich. Wenn Sie das aber ernsthaft wollen, dann müssen Sie auch die finanziellen Grundvo- raussetzungen dafür schaffen. Stattdessen fordern Sie in Ihrem Antrag ein „Weiter so“ in der Agrarförderstruktur, eine „starke“ erste Säule und eine nur „finanziell gut ausgestattete“ zweite Säule in der gemeinsamen EU- Agrarpolitik. Wir wissen doch alle, das hilft in erster Li- nie den industriellen Agrarbetrieben. Ich sage Ihnen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Statt weiterhin auf einen hohen Anteil an Direktzahlungen zu pochen, sollten Sie, wenn es Ihnen wirklich ernst mit der regionalen Wirtschaftsentwicklung und dem Natur- schutz ist, die zweite Säule in den Mittelpunkt rücken. Sie muss in der Förderperiode 2013 finanziell deutlich ge- stärkt und enger mit den anderen einschlägigen europäi- schen Fördertöpfen abgestimmt und vernetzt werden, und das vor allem im Interesse vieler kleinerer und mittlerer landwirtschaftlicher Betriebe. Denn gerade sie sind im Hinblick auf den Tourismus von großer Bedeutung. In Ihrem Antrag kann ich auch davon leider nichts er- kennen. Wenn man die ländlichen Räume nachhaltig weiter- entwickeln möchte, darf man sich in der Betrachtung aber nicht ausschließlich auf die Landwirtschaft fokus- sieren. Wichtige weitere Bereiche sind ganz klar die Ver- kehrspolitik, aber auch die Regionalförderung. Wird hier künftig eine ökologische und soziale Lenkungsfunktion in den Förderstrategien beachtet? Wo können wir konkret finanziell fördern, um die interkommunale Zusammenar- beit auszubauen? Das ist doch gerade in der Angebots- entwicklung und der Vermarktung eine ganz wichtige Frage. Das BMELV hat festgehalten, dass nur ein Drittel derjenigen, die Urlaub auf dem Land machen wollen, es dann auch tatsächlich tun. Wie kann es also gelingen, dass die Zahl der Besucher auch tatsächlich steigt? Sie sehen: Fragen über Fragen, denen Sie sich in diesem An- trag nicht oder nur unzureichend gewidmet haben. Mit diesem Antrag dokumentieren sie allenfalls guten Willen. Den möchte ich Ihnen nicht absprechen. Das Ziel werden wir damit leider nicht erreichen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Beratung des An- trags: Sanktionen im Zweiten Buch Sozial- gesetzbuch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen (Tagesordnungspunkt 14) Durch den Kontakt zu den Menschen in diesem Land weiß ich, dass Betroffene die Androhung von Leistungs- kürzungen oftmals als geradezu willkürlich empfinden. Sanktionen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch werden nicht selten ohne Augenmaß angedroht und auch verhängt. Die Sanktionen für Bezieherinnen und Bezie- her von Arbeitslosengeld II sind nach meiner Wahrneh- mung meist unnötig und teilweise sogar kontraproduk- tiv. Die gegenwärtige Praxis der Sanktionierung bzw. deren Androhung erschüttert bei vielen Menschen den Glauben an die Gerechtigkeit und das Vertrauen in die Institutionen des Sozialstaats. Besonders junge Menschen unter 25 Jahren leiden un- ter den Sanktionen des SGB II. Niemand käme auf die Idee, in der Jugendhilfe starre Sanktionen einzuführen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11457 (A) (C) (D)(B) Sogar das Jugendstrafrecht kennt pädagogische Ele- mente. Für jemanden, der nicht etwa kriminell, sondern arbeitslos ist, gelten hingegen gnadenlose Regeln, die für Erwachsene nicht einschlägig sind. Warum gerade He- ranwachsenden im SGB II eine höhere Handlungskom- petenz zugeschrieben wird als Erwachsenen, und die Sanktionen hier besonders drastisch und unflexibel sind, vermag niemand plausibel zu erklären. Die Starre des SGB II im Bereich der unter 25-Jährigen ist ohne Bei- spiel. Union und FDP haben mit dem jüngst verabschiede- ten Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge- setzbuch sogar weitere diskriminierende Regelungen ge- schaffen, die Leistungsberechtigte nach dem SGB II schlechter stellen als die Bezieher anderer Sozialleistun- gen. So hat sich beispielsweise die Nachzahlungspflicht bei falschen Bescheiden von vier Jahren auf ein Jahr ver- kürzt. Allen anderen Sozialleistungsbeziehern, etwa Rentnerinnen und Rentnern, werden bei einem falschen Bescheid die Leistungen für vier Jahre nachgezahlt. Nur bei Beziehern von Arbeitslosengeld II soll das jetzt nur noch für ein Jahr gelten. Auch der im Rahmen des Gesetzes beschlossene Ver- zicht auf die Rechtsfolgenbelehrung bei der Verhängung von Sanktionen stellt eine Diskriminierung dar. So hat das Bundessozialgericht am 18. Februar 2010 entschieden, dass es einer verständlichen, richtigen und vollständigen Belehrung über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung bedürfe. Die strengen Anforderungen an den Inhalt der Rechtsfolgenbelehrung sei vor allem deshalb geboten, „weil es sich bei der Herabsetzung der Grundsicherungs- leistungen, wie aus der Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 3/09, 4/ 09) hervorgeht, um einen schwerwiegenden Eingriff han- delt“. Bündnis 90/Die Grünen wollen Menschen bei Bedürf- tigkeit vorbehaltlos unterstützen und bauen zuvörderst auf die Motivation und Selbstbestimmung eines jeden Einzelnen. Deshalb muss ein Wunsch- und Wahlrecht des Hilfebedürftigen zukünftig zentrale Grundlage des Fall- managements werden. Dieser Grundsatz ist in anderen Säulen des Sozialgesetzbuches bereits allgemein aner- kannt und gesetzlich verankert. Auch im SGB II sollte er Anwendung finden. Ziel von Bündnis 90/Die Grünen ist eine Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt und die auf Motivation, Hilfe und Anerkennung statt auf Bestrafung setzt. Ein solches Prinzip der partnerschaftlichen Zusam- menarbeit ist mit den heutigen Sanktionsandrohungen und -automatismen nicht vereinbar. Ein kooperatives Fallmanagement wird durch Regelsanktionen, die bis zur vollständigen Streichung des Arbeitslosengelds II reichen, verunmöglicht. Das gilt insbesondere für die Sonderregelungen für junge Menschen bis 25 Jahre. Diese sind nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern werden in ihrer Wirkung auch als kontraproduk- tiv eingestuft, da sie die Betroffenen häufig aus dem Ein- gliederungsprozess herausdrängen. Legen Hilfebedürftige Widerspruch gegen die Ver- hängung einer Sanktion ein, so muss dieser zukünftig eine aufschiebende Wirkung haben. Nach unseren Vor- stellungen muss der Fall sodann umgehend den neu zu schaffenden, von der Geschäftsführung oder anderen In- stitutionen des Jobcenters unabhängigen Ombudsstellen vorgelegt werden. Ein Klageverfahren ist erst im An- schluss möglich; die aufschiebende Wirkung des Wider- spruchs besteht bis zum Urteil fort. Mit den Ombudsstel- len stehen neutrale Anlaufstellen vor Ort zur Verfügung, die bei Konflikten vermitteln. Solange die Voraussetzungen für eine partnerschaftli- che Zusammenarbeit nicht gegeben und die Rechte der Arbeitsuchenden nicht gestärkt worden sind, bedarf es der Aussetzung von Sanktionen. Unsere konkreten For- derungen finden sich in einem Antrag „Rechte der Ar- beitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen“ (Druck- sache 17/3207), der momentan im Ausschuss für Arbeit und Soziales behandelt wird. Zentrales Ziel einer emanzipativen Sozialpolitik muss es sein, die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen. Wir sind der Überzeugung, dass es hierfür zweier Komponenten be- darf: zum einen einer bedarfsgerechten, das sozio-kultu- relle Existenzminimum garantierenden Grundsicherung, und zum anderen eines diskriminierungsfreien Zugangs zu sozialen und kulturellen Angeboten, zu Räumen der Befähigung und der Bildung. Bündnis 90/Die Grünen setzen auf ein solidarisches System sozialer Sicherung, in dem einerseits alle Men- schen bei Bedürftigkeit vorbehaltlose Unterstützung er- warten können. Andererseits müssen sich aber alle, die das gegenseitige Sicherheitsversprechen garantieren, da- rauf verlassen können, dass jedes Mitglied der Solidar- gemeinschaft seinen Anteil zum Erhalt derselben bei- trägt. Dieses Prinzip ist konstitutiv für solidarisches Handeln. Es entspricht daher durchaus unserer Vorstel- lung von sozialer Gerechtigkeit, dass Menschen, die dazu in der Lage sind, für erhaltene solidarische Unter- stützung durch individuelle Transfers auch aktiv zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Geeignete, erforderli- che und angemessene Sanktionen gegen unsolidarische Mitglieder der Gesellschaft sind dem Rechtsstaat nicht fremd und sind manchmal schlichtweg notwendig, so- lange der Mensch als soziales Wesen nicht in seiner Existenz gefährdet wird. Vor dem Hintergrund der heutigen Sanktionspraxis sowie der schwachen Rechtsstellung Arbeitsuchender erscheint es auf den ersten Blick vielleicht nachvollzieh- bar, dass die Linksfraktion in ihrem vorliegenden Antrag nun die komplette Abschaffung von Sanktionen fordert. Schon der zweite Blick offenbart allerdings die Schwie- rigkeiten einer solchen Entscheidung, würde doch der völlige Verzicht auf die wechselseitige Solidarität in letzter Konsequenz eine Gefahr für den gesellschaftli- chen Zusammenhang darstellen. Auch der Verweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010 ist hierbei nicht überzeugend. Weder hat sich das Bundesverfassungsgericht dezidiert zur Frage der Sanktionen geäußert, noch erklärte sich das Bundes- 11458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) sozialgericht in seiner Entscheidung vom 18. Februar 2010 zum Ob des Verhängens von Sanktionen. Unter Gerechtigkeit verstehen wir ein wechselseitiges Verhältnis, in dem Bürgerinnen und Bürger durch die Solidargemeinschaft füreinander eintreten. Ein gelingen- des und vielfältiges Gemeinwesen ist auf die Partizipa- tion seiner Mitglieder angewiesen. Deshalb heißt Gegen- seitigkeit natürlich auch, dass die Gesellschaft vom Einzelnen ökonomisches, soziales, kulturelles oder poli- tisches Engagement entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten erwarten darf und auch die Bereitschaft for- dern kann, im Rahmen seiner Vorstellungen und Fähig- keiten etwas zur Gesellschaft beizutragen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Antrags: Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Pro- motionen stärken (Tagesordnungspunkt 16) Monika Grütters (CDU/CSU): Wir haben uns heute hier versammelt, um über Redlichkeit zu sprechen – über Redlichkeit – nicht nur – in der Wissenschaft. Doch was bedeutet „Redlichkeit“ eigentlich? Worüber wollen bzw. sollen nach Meinung der Grünen und der SPD wir hier reden? Mit Redlichkeit werden die Tugend oder die Charak- tereigenschaft einer Person bezeichnet, die sich den ge- sellschaftlichen Regeln entsprechend gerecht, aufrichtig oder loyal verhält. Johann August Eberhard definierte Redlichkeit als etwas, was vom wörtlichen Sinn der „Rede“ abgeleitet wird. Es gehe also um einen, „der über alles, was er tut, mit gutem Gewissen Rede stehen, von allem Rechenschaft ablegen kann“. Es bezeichnet „einen, der seine Pflicht unter allen Umständen treu erfüllt“. So nachzulesen im Synonymischen Handwörterbuch der deutschen Sprache von 1910. Wissenschaftliche Redlichkeit bedeutet hier, dass nur das behauptet werden darf, was bewiesen ist und wissen- schaftlich nachgewiesen werden kann. Wir alle wissen ja, dass die Regeln für wissenschaftli- ches Arbeiten selbstverständlich von der Wissenschafts- gemeinschaft selbst gesetzt werden, ganz sicher also nicht von der Politik. Daher möchte ich hier einige kluge Gedanken zitieren, die in den vergangenen Wochen von der Wissenschaftswelt selbst öffentlich gemacht wurden. So stellt in der FAZ vom 17. März 2011 ein anonymer Autor, der als promovierter Dozent an einer deutschen Hochschule lehrt, unter dem Titel: „Ist die Bayreuther Diskussion nur die Spitze des Eisbergs?“ die Frage, ob wir nach der Plagiatsdiskussion der letzten Wochen „nicht Standards von wissenschaftlicher Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit ins Feld geführt haben, die wir im täg- lichen akademischen Umfeld als praktisch unrealisierbar und relativ folgenlos zu unterlaufende erleben und tole- rieren“. Er fährt fort: Wesentlich zahlreichere studentische Hausarbeiten werden einem da wohl übel aufstoßen, die inhalt- lich und vor allem sprachlich bestenfalls Mittel- schul-Niveau aufweisen, für die aber die übliche Standardbenotung zwischen 1,7 und 2,3 für ange- messen gehalten wurde. Und weiter heißt es: Außerdem könnte man sich einige der Bachelor- und Master-Arbeiten zu Gemüte führen, die offen- sichtlich in letzter Minute abgegeben, daher in halbgarem Deutsch und oberflächlicher Argumen- tation hingeschustert wurden, aber ganz selbstver- ständlich eine Note mit der „1“ vor dem Komma er- halten haben, weil alles andere heute als eine persönliche Beleidigung des Kandidaten gilt. Milos Vec sekundiert, ebenfalls in der FAZ veröffent- licht, wie folgt: Denn im Kern geht es um die Frage, worin wissen- schaftliche Originalität besteht. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man diese nicht messen oder quantifizieren kann, obwohl natürlich begutachtet und beurteilt werden muss, und dass diese Aporie dazu führt, dass man Hilfsindikatoren wie Umfang oder Fußnotendichte wie eine Monstranz vor sich herträgt, statt sich auf das Wagnis des Selbstden- kens einzulassen – seitens der Betreuer, der Nach- wuchsforscher und schließlich der Kommissionen. („Der Fall Bayreuth und seine Lehren“, FAZ, 23. Februar 2011) Dieses „Wagnis des Selbstdenkens“, wie es Vec for- muliert, fordert auch Volker Rieble, Arbeitsrechtler der LMU, ein, indem er das Binnenverhältnis zwischen Pro- fessoren und Assistenten kritisiert: Deshalb möge sich der Philosophische Fakultäten- tag nicht so aufplustern. Selbstreinigung gegenüber hauptamtlichem Personal an den Universitäten ist eine schwere Aufgabe. Das Ausnutzen der Assis- tenten als Ghostwriter für den Professor, der nur ein paar Worte umformuliert und dann als Alleinautor fungiert, wird nicht angegangen. („Bayreuth fehlt die Legitimation zur Prüfung des Täuschungsvor- wurfs“, FAZ, 3. März 2011) Die Verdächtigungen des anonymen Kenners der Szene – FAZ vom 17. März 2011 – gipfeln in der Vermu- tung: Der inoffizielle akademische Flurfunk weiß jeden- falls immer wieder von Berufungsverfahren zu be- richten, deren Resultate aufgrund manipulatorischer Insider-Vereinbarungen und innerakademischer Vet- ternwirtschaft erklüngelt werden. Was also ist zu tun? Wie stellen sich die Verantwortli- chen in der Wissenschaft eine Verbesserung der von ih- nen selbst beklagten Situation vor? Heike Schmoll empfiehlt dazu in der FAZ vom 3. März 2011 unter dem Titel „Wie gut ist die Doktoran- denbetreuung?“: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11459 (A) (C) (D)(B) Die deutsche Wissenschaft wäre gut beraten, die Chance beim Schopfe zu ergreifen und auch selbst- kritisch zu fragen, ob die in der Plagiatsaffäre zu Recht verteidigten hohen Qualitätsmaßstäbe des Wissenschaftssystems auch wirklich überall grei- fen. Doch das scheint so einfach nicht zu sein. Zu attraktiv sind die Aussichten auf das hohe Ansehen Aktiver im Wissenschaftssystem, gerade in Deutschland, als dass man das eigene Nest beschmutzen würde. Das jedenfalls beurteilt von außen, aus der Perspektive der ETH Zürich, in der FAZ vom 9. März 2011 Caspar Hirschi so: Kulturell profitiert das deutsche Wissenschaftssys- tem noch immer, wenn auch unterschwellig, von der bildungsbürgerlichen Verehrung für Geistes- akrobatik im Allgemeinen und für Forschung im Besonderen. In kaum einem anderen westlichen Land sind das Ansehen der Wissenschaft und das Prestige von Professoren so hoch wie in Deutsch- land. Das sind hervorragende Voraussetzungen, um viele Studenten von einer wissenschaftlichen Kar- riere träumen zu lassen. Wollte man also tatsächlich etwas ändern im hart um- kämpften Wissenschafts- und Prüfungsalltag an deut- schen Universitäten, dann helfen nur drakonische Maß- nahmen, meint unser Anonymus in der FAZ vom 17. März: Was hier nötig wäre, ist schnell gesagt: knallharte höchst indiskrete Transparenz und eine über die universitätsinternen Nachgiebigkeitszirkel hinaus- gehende Kontrolle. Warum gibt es keine deutsch- landweit institutionalisierten Stichproben von schriftlichen Prüfungsleistungen, von der einfachen Hausarbeit bis zur Master-Thesis, die in einem ano- nymisierten Blind-Review-Verfahren Qualitäts- und Notengebungsvergleiche durchführt? Bei so viel Einsicht und derart harschen Empfehlun- gen aus den Inner Circles muss uns hier im Parlament ja nicht bange sein um die Kultur der Aufrichtigkeit in der deutschen Wissenschaftslandschaft. Das ist auch gut so, denn, wie schon zu Beginn ge- sagt: Seine Regeln gibt sich das Wissenschaftssystem selbst, und wir Politiker sind gut beraten, uns da klug he- rauszuhalten. Nicht ohne Grund postuliert das Grundge- setz unmissverständlich die Freiheit der Wissenschaft in seinem Art. 5, wo es heißt: „Kunst und Wissenschaft … sind frei.“ Was das für die Politik heißt, wusste schon Max Weber in Wissenschaft als Beruf: Man sagt, und ich unterschreibe das: Politik gehört nicht in den Hörsaal. Sie gehört nicht dahin von sei- ten der Studenten. Aber das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bleibt schwierig. Wie immer lesenswert hat uns das der bisherige Vor- sitzende des Wissenschaftsrates, Peter Strohschneider, unter dem Titel „Zur Grenze zwischen Politik und Wis- senschaft“ in der FAZ vom 17. März 2011 erklärt: Wissenschaft und Politik bilden unterscheidbare Sphären sozialen Handelns. In ihnen gelten je ei- gene Funktionsprimate, Handlungslogiken und Ak- teursinteressen. Wissenschaftliche Kommunikation im Medium von „Wahrheit“ ist etwas anderes als politische Kommunikation im Medium von „Macht“. … Beide Handlungssphären sind systematisch aufein- ander verwiesen. Politik bedient sich zum Zwecke des Machterhalts der Wissenschaft. Diese erschließt sich über Politik finanzielle Ressourcen und Durch- setzungschancen für ihre Deutungsansprüche. … Politik und Wissenschaft nehmen einander für die eigenen Funktionen in Anspruch. Das muss einen nicht beunruhigen. Problematisch wird es aller- dings dort, wo die Systemgrenze zwischen Wissen- schaft und Politik unscharf wird … Bleibt also abschließend die nüchterne Erkenntnis, dass die Wissenschaft, zumindest im Idealfall, die stär- kere Seite unserer Gesellschaft ist, jedenfalls in der Ge- genüberstellung zur Politik. Denn es gilt, wie Heike Schmoll am 7. März 2011 in der FAZ unter dem Stich- wort „Wissenschaft und Politik“ schreibt: Wissenschaftliche Erkenntnis gibt keine Hand- lungsanweisung, Schlussfolgerungen bleiben dem Handelnden überlassen. Wissenschaft muss viel- stimmig, oft auch widersprüchlich bleiben, weil miteinander konkurrierende Wahrheitsansprüche ihr Wesen ausmachen. Ihre Stärke bezieht sie aus dem besseren Argument und ihrer methodischen Klarheit und Nachprüfbarkeit. Überlassen wir Politiker es also den Wissenschaftlern, sich über ihre eigenen Regeln, über ihr Selbstverständnis und über die Maßstäbe klar zu werden, an denen sie von uns und allen anderen gemessen werden wollen. Wir Politiker dagegen sollten uns fragen, mit wel- chem Anspruch wir unseren Job machen. Max Weber stellt in seinem Standardwerk Politik als Beruf dazu fest: Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hin- gabe an eine „Sache“ … Sie – die Leidenschaft – macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst in einer „Sache“ auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. In diesem Sinne sollten wir alle uns, hier besonders die Antragsteller von den Grünen und der SPD, fragen und fragen lassen, ob und wie redlich es ist bzw. war, uns heute hier diese Debatte aufzuerlegen. Dient sie wirklich der „Sache“ der „Redlichkeit in der Wissenschaft“? 11460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Oder war es nicht wieder einmal ein bisschen mehr Wahlkampf? Wie dem auch sei. Der berühmte Philosoph und Theo- loge Josef Pieper fasst das so zusammen: Das Lehren – so sagt Thomas (von Aquin) – ist eine der höchsten Formen überhaupt, weil es die Vita contemplativa und die Vita activa verknüpft. Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Wir erleben heute ein klassisches Politikmuster: Zuerst gibt es einen medial bedeutsamen Vorfall wie vor wenigen Wochen die Debatte um die Promotion des ehemaligen Verteidi- gungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, und dann kommt die Opposition, die mit heißer Nadel Anträge strickt und damit versucht, auf der abklingenden media- len Welle doch noch ein Stück weiterzureiten. Das bringt Ihnen, meine Damen und Herren von den Grünen, vielleicht kurzfristig Applaus, bringt uns aber in der Sache selbst nicht weiter. Wie Sie wissen, sind die Förderung des wissenschaft- lichen Nachwuchses und damit auch die Qualität der For- schungsleistungen eines der Hauptanliegen dieser Bun- desregierung und der sie tragenden Koalitionsparteien. Frau Bundesministerin Schavan hat dazu 2008 den ersten Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgelegt, in dem die Situation an unseren Hochschul- und Forschungseinrichtungen erstmals syste- matisch untersucht worden ist und der eine valide Daten- basis für die Diskussion liefert. Die großen Maßnahmen wie die Exzellenzinitiative, der Pakt für Forschung und Innovation, der Hochschul- pakt oder der Qualitätspakt Lehre sind alle darauf ange- legt, die Situation der Nachwuchswissenschaftler, sei es durch zusätzliche Stellen oder durch intensivere Betreu- ung, zu verbessern. Gerade die Qualität der Beratung und Betreuung beeinflusst den Verlauf einer Promotion erheblich. Wenn ein Doktorand seinen Doktorvater kaum sieht und am Lehrstuhl auch sonst nicht besonders betreut wird, trägt das nicht positiv zur Qualität seiner Arbeit bei. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht mit ihren momentan 250 finanzierten Graduiertenkollegs und Gra- duiertenschulen den erfolgreichen Weg der strukturier- ten Doktorandenprogramme, den wir auch weiter för- dern möchten. Aber auch die allermeisten Professoren, die nicht an den Graduiertenprogrammen teilnehmen, in- vestieren viel Zeit und Mühe in die Betreuung und För- derung ihrer Doktoranden. Trotzdem wird es bei 25 000 Promotionen im Jahr immer wieder Fälle geben, in denen die zu Recht hoch- gesetzten wissenschaftlichen Standards nicht erfüllt wer- den. Das Bekanntwerden eines solchen Falls schadet nicht nur dem Doktoranden, sondern vor allem dem be- treuenden Professor und der davon betroffenen Universi- tät. In der Wissenschaft zählt der gute Ruf wie in kaum einem anderen Bereich. Fehlverhalten wird von der je- weiligen Community scharf sanktioniert. Wissenschaft- liche Qualitätskontrolle ist deswegen im ureigensten In- teresse einer jeden Universität. Es ist vor diesem Hintergrund folgerichtig, dass vor Ort die Verantwortung dafür getragen wird. Das Promotionsrecht ist ein besonderes Privileg. Es ist verbunden mit der Pflicht, die eben genannte Verant- wortung wahrzunehmen und das Bestmögliche zu tun, um sicherzustellen, dass die Doktorwürde nur bei Ein- haltung wissenschaftlicher Standards verliehen wird. Ich traue es unseren Universitäten und Professoren ohne Zweifel zu, dass sie dieser Verantwortung gerecht wer- den und dass sie selbst aus jedem Fall, in dem dies nicht gelungen ist, die richtigen Konsequenzen ziehen. René Röspel (SPD): Vertrauen und Redlichkeit sind wesentliche Voraussetzungen für eine funktionierende moderne Wissenschaft und Forschung. Wissenschaftli- ches Fehlverhalten ist daher ein Grundproblem, für alle Fächer und auf allen Stufen des akademischen Lebens. Ob die neuen Medien und das inzwischen sprichwörtli- che „Copy and Paste“ dem Fehlverhalten in Wissen- schaft und Forschung Vorschub leisten oder aber ob im gleichen Zuge die Prüferinnen und Prüfer nicht die neuen Medien zu einer verbesserten Kontrolle insbeson- dere von Qualifikationsarbeiten einsetzen können, ist nur schwer zu beantworten. Ungeachtet dessen kann man festhalten, dass jeder Fall von wissenschaftlichem Fehlverhalten dem For- schungs- und Innovationsstandort Deutschland Schaden zufügt. Dieser Schaden ist umso größer, wenn nur halb- herzig betrügerisches bzw. falsches wissenschaftliches Verhalten als solches benannt wird und Fehlverhalten keine schmerzhaften Folgen nach sich zieht. Zur wissenschaftlichen Redlichkeit zählt insbeson- dere, dass man eigene Erkenntnisse und eigenes Wissen klar und eindeutig von dem Wissen anderer abgrenzt, wenn man es zum eigenen Nutzen verwenden will. Lei- der haben wir in der Vergangenheit feststellen müssen, dass dieser Grundsatz der Wissenschaft immer wieder verletzt wird. Schlimmer noch: Einige Personen haben in den Debatten der letzten Wochen und Monate gar in- frage gestellt, ob dieser Grundsatz und die kategorische Ablehnung und Ächtung des Diebstahls von geistigem Eigentum überhaupt groß öffentlich diskutiert werden sollte. Viele Menschen und Einrichtungen haben in den letz- ten Wochen deutlich gemacht, was davon zu halten ist, wenn Partei- und Regierungsvertreter systematisches wissenschaftliches Fehlverhalten etwa mit dem Ab- schreiben in der Schule gleichsetzen. Die Bagatellisie- rung von Urheberrechtsverstößen, von Falschaussagen und von Betrug fällt eindeutig auf diejenigen zurück, die in den letzten Monaten den „Kronprinzen der CSU“ vor seiner gerechten Strafe schützen wollten. Der Aussage des Bayreuther Juraprofessors Oliver Lepsius: „Wir sind einem Betrüger aufgesessen“ ist in ihrer Deutlichkeit kaum noch etwas hinzuzufügen. Ich hoffe eindringlich, dass sich in der ehemaligen „Law-and-Order“-Fraktion von CDU/CSU und insbesondere in der Unions-Arbeits- gruppe Bildung und Forschung mehr Personen für dieses Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11461 (A) (C) (D)(B) Verhalten des Herrn Guttenberg schämen als nur Frau Bundesministerin Schavan. Unabhängig von dem politischen Skandal, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel die Affäre Guttenberg mit dem nachgerade frechen Hinweis, sie habe keinen wissen- schaftlichen Mitarbeiter eingestellt, kleinreden wollte, müssen wir uns fragen, welche Schlussfolgerungen wir aus den Erfahrungen der letzten Monate ziehen. Die Grünen tun daher grundsätzlich das Richtige, wenn sie das Thema mit einem Antrag aufgreifen und nicht mit dem überfälligen Rücktritt von Herrn Guttenberg auf sich beruhen lassen. Wenn wir heute über wissenschaftliche Redlichkeit sprechen, so müssen wir zunächst anerkennen, welche Maßnahmen von der Wissenschaft selbst in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurden. Alle Wissen- schaftsorganisationen haben konsequent Instrumente entwickelt, eingesetzt und Selbstverpflichtungen präsen- tiert, um gegen wissenschaftliches Fehlverhalten vor- zugehen. Hierdurch haben sie wesentliche Beiträge zur Qualitätssicherung im Wissenschaftsbetrieb geleistet und versucht, Schaden vom Forschungsstandort Deutschland abzuwenden. Dies hat aber leider nicht verhindert, dass wir immer wieder von teilweise spektakulären Wissenschaftsskan- dalen lesen und hören mussten. Das Problem des wissen- schaftlichen Fehlverhaltens ist natürlich kein nationales Phänomen. Zu den bekanntesten Fällen international zählt sicherlich der Betrug des Klonforschers Hwang. In Deutschland hat in den letzten Monaten neben Herrn zu Guttenberg vor allem der Skandal im Umfeld des For- schungszentrums Borstel sowie die Betrugsfälle im Son- derforschungsbereich „Stabilität von Randzonen tropi- scher Regenwälder in Indonesien“ an der Universität Göttingen für Schlagzeilen gesorgt. Es ist für uns als SPD-Bundestagsfraktion klar, dass diese Fälle ein Nachdenken über bessere Rahmenbedin- gungen zum Kampf gegen wissenschaftliches Fehlver- halten nötig machen. Folglich haben wir das Thema der heutigen Beratungen bereits seit Längerem auf der Ta- gesordnung. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir im Grundsatz die Initiative der Grünen, obgleich der heute zur ersten Lesung vorliegende Antrag den Eindruck ei- nes „Schnellschusses“ nicht komplett aus der Welt räu- men kann. Oder um es anders zu sagen: Herr zu Guttenberg sollte nicht der alleinige Anlass sein, sich grundsätzlich mit dem Thema „Wissenschaftliches Fehl- verhalten“ auseinanderzusetzen. Das Thema ist zu groß, um es an einem Hochstapler bzw. Betrugsfall festzuma- chen. Wir wünschen uns eine deutlich umfassendere und grundsätzlichere Debatte über wissenschaftliches Fehl- verhalten. Dies schließt ein, dass wir uns nicht nur auf Promotionen beschränken, wie es der Antrag der Grünen schon in seinem Titel ankündigt. Fehlverhalten gibt es auch bei Habilitationen, bei Bachelor- und Masterarbei- ten oder auch bei anderen wissenschaftlichen Arbeiten. Es gibt akademisches Ghostwriting, und es werden in ei- nigen Fällen wissenschaftliche Daten gefälscht. Auch unethische Handlungen, etwa im Rahmen der Forschung mit Probanden, stellen eine Form von wissenschaftli- chem Fehlverhalten dar. Warum die Grünen mit ihrem Antrag nun ausschließ- lich auf Promotionen abstellen, ist uns nicht klar, und folglich können wir dem Antrag auch nicht zustimmen. Wir wollen mehr als nur eine an die Guttenberg-Debatte anschließende Sonderdebatte über wissenschaftliches Fehlverhalten bei Promotionen. Wir müssen uns anläss- lich des Guttenberg-Betrugs einmal mehr grundsätzliche Fragen zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlver- halten stellen und in allen genannten Bereichen solide Vorschläge unterbreiten, wie wir gegen Fehlverhalten in Wissenschaft und Forschung vorgehen können. Um ein Beispiel zu nennen: Welche Auswirkungen hat der verstärkte Fokus auf die Einwerbung von Dritt- mitteln auf das Auftreten von wissenschaftlichem Fehl- verhalten? Der Begriff „Drittmittel“ fehlt im Antrag der Grünen komplett. Unklar bleibt auch, welche der von den Grünen geforderten Maßnahmen geeignet sind, um gegen das akademische Ghostwriting vorzugehen. Das Problem wird zwar an einer Stelle erwähnt; die Frage, wie der Kampf gegen den beständig wachsenden Markt der gekauften Qualifizierungsarbeiten verstärkt bzw. überhaupt erst einmal aufgenommen werden kann, wird jedoch nicht beantwortet. Diese Aspekte zeigen, dass die Grünen leider das Thema nicht in einem umfassenden Sinne problematisieren und folglich aus unserer Sicht der Antrag nicht hinreichend für eine Zustimmung ist. Wir werden nach gründlichen Debatten in unserer Fraktion ebenfalls einen Antrag vorlegen und in die kommenden Beratungen einbringen. Wir springen aber nicht so kurz wie die Grünen: Wir wollen uns umfassend mit dem Problemfeld des wissenschaftlichen Fehlverhal- tens auseinandersetzen und politische Lösungen präsen- tieren. Hierbei müssen wir auch die Bagatellisierung von wissenschaftlichem Fehlverhalten durch Mitglieder des Deutschen Bundestages kritisch beleuchten. Dies ist ne- ben dem Verhalten der Bundeskanzlerin ein ganz eigener Skandal, mit dem wir uns noch ausführlicher befassen werden. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es ein- führend klarzustellen: Die FDP-Bundestagsfraktion misst der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Red- lichkeit einen großen Stellenwert bei. Wir vertrauen im Kampf gegen Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten auf die Selbstkontrollmechanismen der Hochschulen und sonstigen Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen. Wir begrüßen, dass sich die Gemeinsame Wissenschafts- konferenz von Bund und Ländern in ihrer nächsten Sit- zung mit dem Thema Promotionen befassen wird. Aber wir sind auch davon überzeugt, dass das Gros der deut- schen Hochschulen bereits seit Jahren über wirksame In- strumente und Mechanismen im Kampf gegen Plagiate und sonstige Täuschungsversuche von Studierenden und Promovierenden verfügt und mit aller Entschiedenheit Betrugsversuche ahndet. Dieses Ansinnen liegt im Inte- resse der Hochschulen selbst, und es bedarf keines Ein- greifens seitens der Politik, um die notwendigen Maß- nahmen zu ergreifen. 11462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Mit dem vorliegenden Antrag „Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stärken“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll der Deutsche Bundestag per Beschluss dafür sorgen, dass die Bundesregierung für mehr Redlichkeit in der Wis- senschaft sorgt. Wie absurd und überzogen ich diese For- derung finde, muss ich an dieser Stelle nicht weiter aus- führen. Aber es ist schon sehr bezeichnend, mit welcher Denkweise die Grünen dem deutschen Wissenschaftssys- tem gegenüberstehen. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt es jedenfalls ab, eine weitere Verrechtlichung und Büro- kratisierung der deutschen Hochschulen voranzutreiben. Wir sind davon überzeugt, dass die deutschen Hochschu- len ein Mehr an Autonomie und nicht ein Mehr an Büro- kratie benötigen, um gute Arbeit leisten zu können. Hier stimme ich dem Präsidenten des Deutschen Hochschul- verbandes, Bernhard Kempen, zu, der in der Süddeut- schen Zeitung vom 23. März 2011 vor einem überstürz- ten Vorgehen mit immer mehr Kontrollen warnt. Herr Kempen hat recht, wenn er darauf verweist, dass nicht erst seit der Plagiatsaffäre umfangreiche Mechanismen in den Hochschulen vorhanden sind und angewandt werden, um Missbrauch zu verhindern und, wenn nötig, mit Vehe- menz zu verfolgen. Dazu braucht es keinerlei Aktionis- mus seitens der Politik! Erschreckend ist für mich zudem, dass der Fall des ehemaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg – und hierzu habe ich mich als FDP-Wissenschaftspolitiker frühzeitig und mehr als deutlich öffentlich geäußert – zum Anlass genommen wird, das gesamte Wissen- schaftssystem und vor allem die Promovierenden unter den Generalverdacht zu stellen, mit „Copy and Paste“- Techniken auf Titeljagd zu gehen. Auch ist die Forde- rung der Grünen, die Bundesregierung solle „öffentlich und unmissverständlich“ klarstellen, dass Diebstahl geistigen Eigentums keine Bagatelle ist, mehr als absurd, in jedem Fall aber überflüssig. Bereits vor Jahren hat Bundeskanzlerin Angela Merkel klargestellt, dass Raub- kopien kein Kavaliersdelikt sind. Für diese Auffassung bedarf es des Antrags der Grünen also in keinem Fall! Mit ihren Vorwürfen, die im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um den ehemaligen Verteidi- gungsminister zu Guttenberg erhoben wurden, hat die Op- position ganz sicher nicht dazu beigetragen, das Vertrauen der Wissenschaft in die Politik zu erhöhen. Äußerst be- fremdlich ist für mich die Behauptung der Grünen, dass in Teilen der Öffentlichkeit das Bewusstsein „für die Bedeu- tung wissenschaftlicher Redlichkeit und den Schutz geisti- gen Eigentums teilweise unterentwickelt“ sei. Dass die Grünen hier irrtümlicherweise einem von den Medien ge- zeichneten Bild aufgesessen sind, scheint mir offensicht- lich. Nicht anders lässt sich erklären, mit welcher Kraft und in welchem beeindruckenden Umfang sich Tau- sende von Studierenden und Promovierenden in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit gewandt haben und unmissverständlich klargemacht haben, was sie von Pla- giaten halten und wie wichtig ihnen der Kodex einer red- lichen Wissenschaftsarbeit ist. Die FDP-Bundestagsfraktion ist der festen Überzeu- gung, dass unser Wissenschaftssystem nicht überregle- mentiert werden kann und darf. Die von den Grünen er- hobenen Forderungen sind vollkommen überzogen. Der Ehrenkodex der deutschen Wissenschaftler, sowohl der Professoren und Doktorväter als auch der Studierenden und Promovierenden, ist eindeutig und das zu nahezu 100 Prozent wirksamste Mittel gegen Plagiate in der wissenschaftlichen Arbeit. Ich bin der festen Überzeu- gung, dass die Hochschulen – sofern nicht längst gesche- hen – in ihrer eigenen Verantwortung die notwendigen Maßnahmen ergreifen werden. Ein gewisses Restrisiko wird es dennoch immer geben, selbst dann, wenn man alle vorgeschlagenen Maßnahmen ergreifen würde. Ei- nes ist jedoch ebenso klar: Auch wenn mit diesem pro- minenten Einzelfall das Thema Plagiate und möglicher Diebstahl geistigen Eigentums in den Blickpunkt des öf- fentlichen Interesses gerückt wurde, so ist es trotz allem zunächst ein Einzelfall. Dieser darf nicht zum Anlass ge- nommen werden, mit überzogenen Maßnahmen zu re- agieren und mit den berühmten Kanonen auf Spatzen zu schießen. Ein Eingreifen von Bundestag oder Bundesre- gierung ist hier weder erforderlich noch zielführend. Deshalb wird die FDP-Bundestagsfraktion den vorlie- genden Antrag der Grünen ablehnen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Wir wissen nicht, was die Kanzlerin dachte, als sie auf der CeBIT vom Rück- tritt ihres Kabinettskollegen zu Guttenberg erfuhr und der Bundesforschungsministerin Annette Schavan zulä- chelte. Vielleicht hat sie da schon gedacht: Doktortitel sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren … Und man bräuchte eigentlich auch hier ein Bundesprogramm, um die Qualität von Promotionen auch über geeignete Verfahren zu sichern. Im vorliegenden Antrag der Grü- nen sind dazu – um es vorwegzunehmen – sinnvolle Vor- schläge gemacht worden. Der Bereich der akademischen Nachwuchsförderung ist besonders zwischen den Traditionen der alten univer- sitären Ständegesellschaft und den Reformen des New Public Management eingeklemmt worden. Es gibt noch immer ein enges starkes Abhängigkeitsverhältnis zwi- schen – meist männlichen – Doktorvätern und ihren „Zöglingen“. Die Betreuungszusage für eine Promotion wird zumeist nach dem langjährigen Aufbau eines per- sönlichen Vertrauensverhältnisses gegeben. Dabei spie- len nicht nur wissenschaftliche, sondern auch persönli- che oder gar politische Beziehungen eine große Rolle. Ein Professor wird nur selten jemanden unterstützen, der eine andere wissenschaftliche Denkrichtung als er selbst verfolgt. Diesen uralten Traditionen von akademischer Gefolg- schaft, die noch aus der Zeit der Ordinarienuniversität stammen, stehen die marktorientierten Reformen der letzten zehn Jahre gegenüber. Heute wird eine Universi- tät in der Regel nach dem Output bemessen. Ihre Mittel- zuweisung hängt von der Zahl ihrer „Produkte“ ab; da- runter fallen auch Promotionen. Dies brachte die Universitäten dazu, Mechanismen zur Steigerung ihrer Promotionszahlen zu entwickeln. Parallel dazu wurde im Rahmen der Exzellenzinitiative, aber auch des Bologna- Prozesses das angelsächsische Vorbild der Promotion als Studienphase in Deutschland eingeführt. Anders als in den USA, Australien oder Großbritannien wurde jedoch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11463 (A) (C) (D)(B) weder die Durchlässigkeit erhöht, noch wurden Hierar- chien abgebaut. Wer dort promovieren will, kann dies di- rekt nach einem ersten Bachelorstudienabschluss tun. Von dieser Flexibilität sind wir hier weit entfernt. Statt- dessen drücken bei uns in Graduiertenschulen und Pro- motionsstudiengängen nun Menschen die Schulbank, die mit ihrer Promotion eigentlich schon in die erste Phase wissenschaftlicher Berufsausübung eintreten sollten. In beiden existierenden Wegen zur Promotion, ob als Mitarbeiter eines Lehrstuhls oder als Promotionsstuden- tin, kommt die Selbstständigkeit der Nachwuchswissen- schaftlerinnen und -wissenschaftler zu kurz. Wir sollten diese jungen Menschen, die mit Ende 20, Anfang 30 in ihrer vielleicht kreativsten Lebensphase stecken, mehr zutrauen. Dazu gehört auch, ihre Rolle in der Universität zu stärken und verbindlicher zu gestalten. Es ist richtig, Promotionsvereinbarungen, wie von den Grünen bean- tragt, flächendeckend einzuführen, die Bewertung der Dissertationen durch externen Sachverstand zu objekti- vieren und die Stellung der Promovierenden gegenüber den betreuenden Hochschullehrerinnen und -lehrern zu stärken. Der Betreuung muss mehr Aufmerksamkeit durch die Institutionen gewidmet werden. Zwei Dinge im Antrag der Grünen sehe ich jedoch auch kritisch: Zum Ersten werden die Phasen nach der Promotion vernachlässigt. Dazu gibt es keinen Grund. In den letzten Jahren sind diverse Plagiatsfälle auch im pro- fessoralen Bereich aufgedeckt worden. Zum Zweiten wundert mich die Rhetorik hinsichtlich geistigen Eigentums in einem Grünen-Antrag. Ich muss sagen: Da ist die Debatte deutlich weiter. Wenn in einer wissenschaftlichen Arbeit in einem gewissen Rahmen Texte von anderen Autorinnen und Autoren zitiert wer- den, dann ist das eine essenzielle, durch das Zitatrecht gesicherte wissenschaftliche Praxis. Niemandem wird damit etwas weggenommen. Im Gegenteil: Die Zitation erhöht die wissenschaftliche Reputation des Zitierten. Dass die Quelle genannt werden muss, ist eine Frage der Redlichkeit und der Kennzeichnung der eigenen Leis- tung, nicht jedoch des Eigentums. Die Grünen sprechen jedoch in ihrem Antrag mehrfach von Diebstahl. Ich kann für meine Fraktion dazu nur sagen: Wir setzen uns intensiv für eine stärkere Betonung von Wissen als Ge- meingut, für eine stärkere Offenheit der Wissenschaft im Sinne von Open Access und auch für deren öffentliche Finanzierung ein. Dinge, die offensiv geteilt werden, kann man auch nicht stehlen. Wehren muss man sich zudem gegen die hergestellte Verbindung von wissenschaftlichem Fehlverhalten und den Möglichkeiten der Digitalisierung und des Internets. Neulich war in einer Zeitung zu lesen, der Guttenberg- Eklat sei auch Folge dieser grassierenden „Creative- Commons-Remix-Mentalität“. Es ist notwendig, die ver- schiedenen Sphären klar und deutlich zu trennen und Mythen zurückzuweisen. Ein Remix, ein Cover, eine Zi- tation in der Kunst setzt auf das Wiedererkennen durch Leserinnen und Leser, durch Zuhörerinnen und Zuhörer. Häufig liegt ein Kunsterlebnis gerade darin, die zitierten Textteile oder Melodiestücke zuordnen zu können. Kunst darf mystifizieren und andeuten. Wissenschaft darf das nicht. Hier gelten Transparenz und Nachvoll- ziehbarkeit der Forschungsergebnisse als oberste Maxi- men. Zitieren ist eine Grundtechnik der Wissenschaft – inklusive aller Quellenangaben. Das Internet kann nichts dafür, wenn jemand sich an diese Regel guter wissen- schaftlicher Praxis nicht hält. Es hat aber zugleich er- möglicht, Plagiate schnell aufzufinden – viel schneller, als das noch vor 20 Jahren möglich war. Auch die schnelle Durchleuchtung der Guttenberg’schen Disserta- tion wäre ohne das Internet nicht möglich gewesen. In- sofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sollten wir nicht von der „Copy and Paste“-Technik schreiben, die durch das Internet um sich gegriffen habe. Computer und Internet vereinfachen die wissenschaftli- che Arbeit ganz erheblich. Jeder weiß das, erst recht wenn er oder sie wie ich eine Dissertation im Schreibma- schinenzeitalter verfasst hat. Es gibt also keinen Grund für technologisch inspirierten Kulturpessimismus, son- dern viele Gründe für die Reform überkommener Sys- teme der wissenschaftlichen Nachwuchsentwicklung und der akademischen Selbstkontrolle. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zur heutigen Debatte hat die grüne Bundestagsfraktion einen Antrag zur wissenschaftlichen Redlichkeit und zur Qua- litätssicherung bei Promotionen vorgelegt. Wir alle ken- nen den Anlass, der die Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt hat, das gemeinhin nicht im Zentrum des politi- schen Geschehens steht. Wer sich mit wissenschaftlichem Fehlverhalten be- schäftigt, weiß, dass die weitaus meisten Promotionen in Deutschland ehrlich und redlich erarbeitet werden. Wir Wissenschaftspolitikerinnen und Wissenschaftspolitiker wissen aber auch, dass es Betrug, Diebstahl von Ideen, Ghostwriting, Manipulation von Daten und andere For- men des wissenschaftlichen Fehlverhaltens gerade bei Promotionen gibt. Denken Sie nur an die Praktiken der sogenannten Promotionsberater im Jahr 2009. Damals wurde gegen über 100 Professoren wegen Bestechlich- keit ermittelt. Wissenschaft als rationale Suche nach Erkenntnis und Wahrheit braucht Wahrhaftigkeit und Vertrauen. Deshalb greifen Betrug, Manipulation und Diebstahl geistigen Eigentums die Wissenschaft in ihrer Kernsubstanz an. Um die Wissenschaft zu schützen, bedarf es vorbeugen- der Maßnahmen ebenso wie effektiver Kontrollen und Sanktionen. Das hat nichts mit einem Generalverdacht gegen die Wissenschaft zu tun, sondern im Gegenteil: Eine effektive Qualitätssicherung trägt dazu bei, die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und unzähliger redli- cher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schüt- zen. Umso ärgerlicher waren die Versuche selbst höchster Repräsentanten der Regierung, wissenschaftliches Fehl- verhalten zu verharmlosen. Wissenschaftlicher Betrug und Diebstahl geistigen Eigentums sind keine Kavaliers- delikte. Dieser Grundsatz muss auch und gerade dann gelten, wenn das Bewusstsein für die Bedeutung wissen- schaftlicher Redlichkeit und den Schutz geistigen Eigen- tums in einem Teil der Öffentlichkeit unterentwickelt ist. 11464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Glücklicherweise sind diese Bagatellisierungsversu- che durch einen regelrechten Aufstand der Wissenschaft gescheitert. Zigtausende Promovierende, Nachwuchswis- senschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Professo- rinnen und Professoren haben sich in Unterschriftenlisten und offenen Briefen empört. Das war das entscheidende Signal gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegen- über denjenigen Medien, die den groben Täuschungsver- such von Herrn zu Guttenberg als Petitesse verkaufen wollten. Die Plagiatsaffäre hat aber auch Lücken in der Quali- tätssicherung bei Promotionen offenbart. Es waren näm- lich erst der vierte Guttenberg-Rezensent sowie das Gut- tenPlag Wiki, die den Diebstahl geistigen Eigentums aufdeckten. Zuvor konnte die Dissertation die Gutachter und den Prüfungsausschuss der Universität Bayreuth ohne jede Beanstandung und sogar mit dem Prädikat „summa cum laude“ durchlaufen. Die Politik muss jetzt gemeinsam mit der Hochschul- rektorenkonferenz, dem Wissenschaftsrat, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und den Universitäten die Qua- litätssicherung bei Promotionen überprüfen, weiterent- wickeln und stärker vereinheitlichen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihrer Gesamtverantwortung für das Wissenschaftssystem gerecht zu werden, rasch die Zusammenarbeit mit den Ländern zu suchen und diesen Prozess aktiv zu unterstützen. Um beim Thema Qualitätssicherung voranzukom- men, brauchen wir mehr Schutz vor Täuschung und dem Verfälschen von Daten sowie mehr Schutz des geistigen Eigentums. Hier ist die Bundesregierung gefordert, in Abstimmung mit den Ländern die Hochschulrektoren- konferenz und den Wissenschaftsrat um Empfehlungen zu bitten. Die Empfehlungen sollten Maßnahmen zum Schutz vor Täuschung, zum Vorgehen in Betrugsfällen, mögliche Konsequenzen und Sanktionen sowie Parame- ter zur Bewertung von Grenzfällen umfassen. Unerläss- lich sind auch Vorschläge dazu, wie die Vermittlung der Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens besser in den Curricula der Studiengänge verankert und die Sensibili- sierung für die Bedeutung wissenschaftlicher Redlich- keit schon bei den Studierenden geschärft werden kön- nen. Den Empfehlungen müssen Vereinbarungen folgen, wie es zu einer möglichst schnellen, einheitlicheren und verbindlichen Umsetzung an den Hochschulen kommen kann. Die Promotionsordnungen in Deutschland weisen je nach Fakultät und Fach eine extreme Spannbreite auf. Ob die Promovenden beispielsweise eine eidesstattliche Erklärung abgeben müssen, dass sie die Arbeit selbst- ständig und nur unter Nutzung der angegebenen Quellen und Hilfsmittel erstellt haben, bleibt bislang dem Gut- dünken der jeweiligen Fakultät überlassen. Schlicht vom Zufall hängt es ab, ob die Hochschule Antiplagiatssoft- ware zur Verfügung stellt und die Prüfenden sie auch be- dienen können. Mal stammen alle Gutachter aus der gleichen Fakultät, mal werden Gutachter anderer Uni- versitäten beteiligt. Wir müssen Schluss machen mit dem „völlig un- durchsichtigen Handschlagmilieu“, in dem Doktoran- den mit ihrem Professor ein Thema vereinbaren und dann im stillen Kämmerlein vor sich hin forschen, wie es Professor Hornbostel vom Institut für Forschungsinfor- mation und Qualitätssicherung der DFG ausdrückt. Die Mehrzahl der Promotionen in Deutschland wird noch immer in der subjektiven Informalität eines Meister- Schüler-Verhältnisses angefertigt. Bei der Vereinheitli- chung von Qualitätsstandards kommt es daher darauf an, das Verhältnis zwischen den Promovierenden und ihren Betreuerinnen und Betreuern zu verobjektivieren. Dazu sind Betreuungsvereinbarungen und transparente, faire Zugänge zur Promotion geeignet. Dabei muss auch die Universität mehr Verantwortung übernehmen. Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz sollte in Kooperation mit dem Wissenschaftsrat und der Hoch- schulrektorenkonferenz prüfen, welche Regelungen sich in den Landeshochschulgesetzen und Promotionsord- nungen bewährt haben und als Best Practice empfohlen werden können. Auch die schwierigen Rahmenbedingungen, unter de- nen manche Promovierenden ihre Dissertation verfassen, müssen in den Blick genommen werden. Die strukturierte Promotion in Graduiertenschulen und Graduiertenkollegs sollte weiter gestärkt werden, ohne dass dies mit einer Verschulung verbunden ist. Promovierende auf soge- nannten Qualifizierungsstellen müssen neben ihren Auf- gaben an der Hochschule genügend Zeit haben, ihre Dis- sertation fertigzustellen. Auch die Arbeitsbedingungen und die Personalausstattung der Betreuer und Gutachter spielt eine wichtige Rolle. In der leistungsabhängigen Besoldung der Professorinnen und Professoren und in den Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den Univer- sitäten dürfen nicht nur erfolgreich abgeschlossene Pro- motionen als Kriterium gelten. Auch die Betreuung von Doktorarbeiten, Zweitgutachtertätigkeiten und die Mit- wirkung an Prüfungen müssen berücksichtigt werden. Ich hoffe, wir werden unseren Antrag im Ausschuss ausführlich beraten. Es muss darum gehen, das hohe An- sehen, das die Promotion an deutschen Universitäten weltweit genießt, zu verteidigen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatz- förderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatz- förderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17) Marlene Mortler (CDU/CSU): Die christlich-liberale Koalition hält Wort. Union und FDP schaffen mit dem nun vorliegenden Gesetz zur Auflösung und Abwick- lung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds ein In- strument, das die möglichen nach der Abwicklung ver- bleibenden Vermögensüberschüsse in die Hände unserer Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11465 (A) (C) (D)(B) deutschen Bauern und Waldbauern zurückgibt, und da- mit in die Hände der ursprünglichen Beitragszahler. Vor genau sechs Wochen haben wir das letzte Mal über die Verwendung der Restmittel aus dem Absatz- fonds und dem Holzabsatzfonds in diesem hohen Hause diskutiert. Wir von der CDU und CSU haben seit dieser Zeit einiges im Sinne der deutschen Bauern und Wald- bauern erreichen können, und damit im Sinne derjeni- gen, die die Gelder einst aufgebracht haben. Ich selbst habe zuletzt vor sechs Wochen zum Aus- druck gebracht, dass mit der Auflösung des Absatzfonds ein erfolgreiches Kapitel der Verkaufsförderung der Pro- dukte des deutschen Ernährungsgewerbes zu Ende geht. Denn der Absatzfonds wird nun endgültig abgewickelt. Vielen Wirtschaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein deutlich geworden, wie wichtig eine zentrale Absatzför- derung ist und welch gute Arbeit CMA und ZMP geleis- tet haben, auch wenn man über Einzelheiten und Details, wie so oft, streiten kann. Schauen wir uns exemplarisch doch nur einmal die Bedeutung von Werbung und Marketing für den Absatz der bei uns erzeugten Produkte im Ausland an. Der Ex- port unserer hochqualitativen heimischen landwirt- schaftlichen Produkte ist heute wichtiger denn je, führt doch der große Erfolg und die Innovationskraft unserer heimischen Betriebe dazu, dass die erzeugten Produkte international in immer stärkerem Maße nachgefragt wer- den. Sie müssen wissen, dass Deutschland im Jahre 2009 zweitgrößter Exporteur von Lebensmitteln und Geträn- ken war, mit über 6 Prozent Anteil an den globalen Aus- fuhren. Damit liegen wir direkt hinter den Vereinigten Staaten und noch ein gutes Stück vor Brasilien, China oder Frankreich. Darauf kann die gesamte deutsche Er- nährungswirtschaft mit gutem Recht stolz sein. Das führt uns wieder vor Augen, wie eng wir mit un- seren internationalen Handelspartnern verknüpft sind, und wie wichtig globale Vermarktungswege und welt- weites Marketing heutzutage auch für den landwirt- schaftlichen Sektor sind. Auch das Inlandsmarketing oder, noch weiter heruntergebrochen, in immer größe- rem Maße das regionale Marketing, sind von fundamen- taler Bedeutung für den Absatz der bei uns erzeugten Produkte sowie natürlich für die Generierung eines an- gemessenen Preises, der im besten Fall den Preis für ein- geführte Waren auch noch übersteigt, das heißt eine hö- here Wertschöpfung erzielt. Zwischenzeitlich sind auf Initiative der Wirtschaft so- wohl in der Ernährungsbranche als auch im Holzbereich Nachfolgeorganisationen gegründet worden. Dies be- grüße ich ausdrücklich. Diese Erfolgsstory unserer Er- nährungsbranche weiterzuschreiben und zu unterstützen, sollte unser aller Auftrag sein. Um nun wieder auf den uns vorliegenden Gesetzent- wurf zurückzukommen: Die Beschlüsse des Bundesver- fassungsgerichtes vom Frühjahr 2009 zur Verfassungs- widrigkeit des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds haben uns vor die Frage gestellt, was mit den Restmit- teln nach Liquidierung der Institutionen geschehen soll. Wie können die Vermögensüberschüsse, die zum Zeit- punkt der Beendigung des Absatzfonds und des Holzab- satzfonds möglicherweise bestehen bleiben – und wir re- den hier hoffentlich von bis zu 14 Millionen Euro –, zum Wohle und im Sinne der Beitragszahler, also der deut- schen Bauern und Waldbauern, verwendet werden? Nach Anhörung der Verbände argumentierte das Bun- desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- braucherschutz, eine Verwendung etwaiger Überschüsse zugunsten der ursprünglichen Beitragszahler sei recht- lich nicht geboten, und mögliche Restmittel sollten dem allgemeinen Bundeshaushalt zugeführt werden. Die christlich-liberale Koalition, und gerade wir als Union, haben nun aber das Ministerium im Laufe des Gesetzge- bungsverfahrens mit Entschlossenheit und guten Argu- menten davon überzeugen können, die rechtlichen Mög- lichkeiten auszunutzen, die Restmittel im Sinne unserer Bauern und Waldbauern zu verwenden, und sie eben nicht dem allgemeinen Bundeshaushalt zuzuführen. Unsere Auffassung fand auch im Bundesrat Unter- stützung, hat er sich doch im Dezember letzten Jahres dafür ausgesprochen, etwaige Überschüsse zugunsten der Betriebe der Land- und Ernährungswirtschaft sowie der Holz- und Forstwirtschaft einzusetzen, sei es bei- spielsweise durch Messebeteiligungen, Marktstudien oder Markterschließungsmaßnahmen. Diese Auffassung des Bundesrates habe ich und hat die Union im Deut- schen Bundestag ausdrücklich begrüßt. Wir Abgeordnete der Regierungskoalition haben mit dem nun vorliegenden Gesetz erreicht, dass die etwaigen Überschüsse in das bestehende Zweckvermögen der Landwirtschaftlichen Rentenbank übertragen werden. Deshalb kann ich mit gutem Recht, wie bereits zu Be- ginn meiner Rede, behaupten: Die christlich-liberale Ko- alition hält Wort. Union und FDP schaffen, wie angekündigt, ein Instru- ment, welches zukünftig erlauben wird, die Restmittel aus dem Absatzfond kosteneffizient und unbürokratisch für zukunftsgerichtete Projekte zu nutzen. Das Zweck- vermögen zum Beispiel wird erstens dazu verwendet, Innovationen der Land- sowie der Agrar- und Ernäh- rungswirtschaft in den Markt und in die Praxis einzufüh- ren, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungs- kette, das heißt in den Bereichen Erzeugung, Verarbei- tung und Vermarktung. Zweitens unterstützt das Zweck- vermögen bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank die experimentelle Entwicklung von Innovationen. Ein Bei- spiel hierfür ist die Umsetzung universitärer Forschung in neue Produkte, die vom Markt aufgenommen und nachgefragt werden. Die betroffenen Verbände begrüßen ausdrücklich den Weg, den wir als Koalition jetzt mit diesem Gesetz eingeschlagen haben. Die Opposition hingegen will die Mittel unserer Bau- ern und Waldbauern für parteipolitisch angehauchte rot- grüne Spielwiesen missbrauchen. Da machen wir nicht mit. So wollen zum Beispiel die Grünen eine neue büro- kratische und ideologisch agierende Institution im Ge- wande einer Stiftung errichten, die neue Posten und Pöstchen entstehen lässt, anstatt das Ernährungsgewerbe und die Holzwirtschaft zu unterstützen. Diesem falschen 11466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Ansinnen sind Union und FDP entschieden entgegenge- treten. Wir, die Abgeordneten der christlich-liberalen Koali- tion, haben erreicht, dass die Mittel jetzt unkompliziert, unbürokratisch und transparent zum Wohle der deut- schen Land- und Forstwirtschaft eingesetzt werden kön- nen. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute geht zumin- dest im Deutschen Bundestag das Kapitel Absatzfonds zu Ende. Führen wir uns nochmals die Historie vor Augen: Im Jahr 1969 wurden durch das Absatzfondsgesetz die zen- tralen Fonds zur Absatzförderung der deutschen Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft errichtet. Erklärtes Ziel war es damals, der deutschen Land-, Forst- und Ernäh- rungswirtschaft ein wirkungsvolles Instrument zur zen- tralen Absatzförderung zu verschaffen und ihre Markt- stellung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu festigen. Der Absatz und die Verwertung von Erzeugnis- sen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft sollte durch die Erschließung und die Pflege von Märkten im In- und Ausland mit modernen Mitteln und Methoden zentral gefördert werden, so der damalige Gesetzestext. Die Fonds wurden durch eine Sonderabgabe gespeist, die von belasteten Abgabepflichtigen, den Land- und Forstwirten, direkt oder indirekt aufgebracht wurden. Die Zielsetzung der Absatzfonds war zur damaligen Zeit sicherlich sinnvoll, obwohl es bereits damals kriti- sche Stimmen gab. Auf gesättigten Märkten läuft insbe- sondere das von der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft mbH betriebene Grup- penmarketing ins Leere. Auf gesättigten Märkten ist Gruppenmarketing nicht zielführend. Vielmehr geht es um die Produktdifferenzierung innerhalb von Waren- gruppen. Dieses Marketing können Lebensmittelprodu- zenten eindeutig besser umsetzen als zentrale Absatzför- derungsorganisationen. Die zentrale Absatzförderung verlor zunehmend ihre Legitimation. Die Abgabenpflichtigen stellten die be- rechtigte Frage nach dem Sinn der Zwangsabgabe. Ver- heerend für das Image der CMA waren auch die vielen Beispiele einer falsch verstandenen Zielgruppenwer- bung. Die CMA-Anzeige für deutsches Fleisch wurde mit dem Spruch unterlegt: „Ich steh’ auf Typen mit Kohle.“ Die CMA-Anzeige für deutsches Geflügel mit „Ich liebe schöne Schenkel“. Solche Sprüche stoßen nicht nur aufgeklärte Verbraucherinnen und Verbraucher vor den Kopf. Dies sollte doch den für Marketing Ver- antwortlichen klar sein. Vielleicht waren aber die Ver- waltungsräte doch zu weit von der Konsumentenrealität entfernt und orientierten sich zu stark an den vermeintli- chen Bedürfnissen der Agrarproduzenten. Ende 2002 entschied der EUGH, dass die Verwen- dung des Gütezeichens der CMA „Markenqualität aus deutschen Landen“ gegen EU-Recht verstößt. Für einige Landwirte war dies der Anlass, Anfang 2003 gegen den Absatzfonds zu klagen. In 2006 wurde die CMA durch den Bundesrechnungs- hof überprüft. In zwei Berichten dokumentierten die Prü- fer ihre Kritik an der CMA und dem Absatzfonds. Der Rechnungshof warf der CMA unter anderem vor, regel- widrig und unwirtschaftlich zu arbeiten. Am 3. Februar 2009 erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungs- gerichts in Karlsruhe die gesetzlichen Pflichtabgaben an den Absatzfonds für verfassungswidrig. Bezeichnend ist auch, dass der Deutsche Bauernver- band so lange für den Absatzfonds gekämpft hat, obwohl doch schon lange klar war, dass dieses Instrument voll- kommen antiquiert, ja sogar verfassungswidrig war. Es ist gut, dass das Thema Absatzfonds ein Ende findet. Schlecht ist es, dass die Restmittel der Absatzfonds nur bedingt gruppennützlich an die Landwirtschaftliche Rentenbank fließen. Die SPD hat die Bundesregierung aufgefordert, etwaige dem Bund zufließende Restmittel aus der Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatz- förderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungs- wirtschaft sowie der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft zweckgebunden und damit auch gruppennützlich einzusetzen. Wir wollen, dass die möglichen Vermögensüber- schüsse aus der Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- rungswirtschaft an die Andreas-Hermes-Akademie flie- ßen. Deren Trägerverein, das Bildungswerk der Deut- schen Landwirtschaft e. V., sollte die Mittel dafür einsetzen, um ein Fortbildungsprogramm mit den Schwerpunkten Unternehmens- und Umweltmanage- ment aufzulegen. Damit könnten landwirtschaftliche Be- triebsleiter geschult werden. Damit lassen sich landwirt- schaftliche Betriebe gezielt weiterentwickeln. Stattdessen wird die Koalitionsmehrheit heute be- schließen, mögliche Vermögensüberschüsse der beiden Fonds auf das Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank zu übertragen. Damit kommen die Überschüsse aber nicht in erster Linie den ehemaligen Abgabepflichtigen zugute, sondern in erster Linie dem Deutschen Bauernverband. Der entscheidet nämlich letztendlich, wer welche Projektgelder aus dem Zweckvermögen erhält – in der Regel immer zuerst die eigenen Landesverbände. Dieses Vorgehen birgt meines Erachtens auch eine weitere Gefahr: Wir wissen alle, dass das Sondervermö- gen der Landwirtschaftlichen Rentenbank Bundesver- mögen ist. Im Fall der Fälle kann der Gesetzgeber Rück- flüsse in den Bundeshaushalt veranlassen. Ich unterstelle Schwarz-Gelb, dass sie sich den letztendlichen Zugriff auf die Restmittel dann doch noch erhalten wollen. Ich weiß, dass eine Rückführung der Bestandsmittel an die ehemaligen Beitragszahler mit enormen Kosten verbunden wäre. Die SPD will mit ihrem Antrag eine gruppennützliche Verwendung der Restmittel gewähr- leisten – und zwar ohne Rückfallposition, ohne Hinter- türchen zugunsten des Bundeshaushalts. Wir werden nach Abwicklung der Fonds und nach der Übertragung der Restmittel darauf achten, dass die Mittel auch dort ankommen, wo sie hingehören: bei den aktiven Land- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11467 (A) (C) (D)(B) wirten und nicht bei der Verbände- oder Verwaltungs- bürokratie. Würde es nach dem Willen der SPD gehen, würden auch mögliche Vermögensüberschüsse aus der Auflö- sung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungs- fonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft sinnvoller eingesetzt. Die SPD fordert, dass dieses Geld als einmali- ger Zuschuss an die „Zukunft Holz GmbH“, ZHG, ausge- zahlt wird. Damit sollen konkret zusätzliche Absatzför- dermaßnahmen für nachhaltig produzierte Holzprodukte gefördert werden. Die Labels FSC, Naturland oder PEFC, mit denen aus nachhaltiger Produktion stammendes Holz zertifiziert wird, müssen stärker beworben werden. Ver- braucher könnten dann bewusst anhand der Labels ent- scheiden. Von einer Regierung, die es aber nicht einmal schafft, einen gesellschaftlichen Konsens für eine nachhaltige Holznutzung im Rahmen einer konsistenten Waldstrate- gie zu formulieren, kann niemand ernsthaft erwarten, dass sie sich für zusätzliche finanzielle Mittel einsetzt, mit denen der Markt für nachhaltig erzeugte Holzpro- dukte ausgebaut werden kann. Wir werden daher diesen Gesetzentwurf ablehnen. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Es ist den Agrarpolitikern der christlich-liberalen Koalition ge- meinsam mit den Haushaltspolitkern gelungen, den Ge- setzentwurf zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- rungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft im parlamenta- rischen Verfahren hinsichtlich der Verwendung der even- tuell vorhandenen Restmittel zu verbessern. Die FDP hat von Anfang an gefordert, nach Ab- schluss sämtlicher noch anhängender Verfahren am Ende des Abwicklungsprozesses übriges Restvermögen beider Fonds gruppennützig zu verwenden und nicht in den all- gemeinen Haushalt fließen zu lassen. Die Sonderabgabe ist von Unternehmen der Land- und Ernährungswirt- schaft wie auch der Forst- und Holzwirtschaft geleistet worden. Die Mittel wurden über eine nicht EU-kon- forme und verfassungsrechtlich nicht haltbare Branchen- abgabe eingezogen. Warum sollte ein deutscher Obst- bauer mit seiner Abgabe den Absatz von Obst ganz allgemein fördern? Auch war nie einzusehen, wieso die Landwirtschaft im Gegensatz zu den übrigen Wirt- schaftsbereichen für die Exportförderung eigene Mittel aufbringen sollte. Die Verwendung dieser Restmittel sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht ha- ben, erfolgen. Dies mag zwar haushaltsrechtlich nicht der klassische Weg sein; aus Gründen des Vertrauens- schutzes war es jedoch politisch geboten. Derzeitige Schätzungen gehen von einem Vermögen zwischen 10 und 12 Millionen Euro aus. Um die Bei- tragszahler und die Steuerzahler nicht zu belasten, sind die Kosten der Abwicklung selbst zunächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Bekanntgabe des Ge- richtsbeschlusses gab es zahlreiche Klagen gegen die monatlichen Beitragsbescheide. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wurden diese für erle- digt erklärt und die zu Unrecht eingezogenen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt. Es muss über die Forderung der Länder entschieden werden, dass die Pro- zesskosten der anhängigen Klagen vom Bund getragen werden. Es gab eine ganze Reihe unterschiedlicher Vorstellun- gen davon, in welcher Weise das Restvermögen der bei- den Anstalten verwendet werden könnte, zum Beispiel als Einbringung in eine Stiftung oder als Unterstützung bestehender Vermarktungsstrukturen, die sich in der Nachfolge der beiden Anstalten gegründet haben. In je- dem Fall wollten wir sichergestellt wissen, dass diejeni- gen, die die Mittel aufgebracht haben, davon einen Nut- zen haben. Nach gründlichen Überlegungen haben wir uns inner- halb der Koalition entschlossen, die Mittel an die Land- wirtschaftliche Rentenbank zu überführen und dem Zweckvermögen zukommen zu lassen. Dies ist die ein- fachste und zugleich transparenteste Variante zur Ver- wendung des Restvermögens. Es kommt damit denjeni- gen zugute, die das Vermögen durch ihre Beitragszahlungen aufgebaut haben. Wir vermeiden zu- dem mehr Bürokratie und höhere Transaktionskosten, wenn wir ein bestehendes, bekanntes Förderinstrument stärken. Die Landwirtschaftliche Rentenbank ist öffentlich- rechtlich organisiert, sie bindet Bund und Länder sowie nicht nur die Verbände der Land-, Agrar- und Ernäh- rungswirtschaft, sondern auch die der Forst- und Holz- wirtschaft ein. So können Zukunftsprojekte aus Land-, Ernährungs- und Forstwirtschaft finanziert werden, die nachhaltige Tier- und Pflanzenproduktion fördern, Inno- vationen beinhalten und Ausbildung und Beratung unter- stützen. Ebenso können im Sinne der Absatzförderung Konzepte für Information und Kommunikation über eine nachhaltig wirtschaftende Produktionskette bei Lebens- mitteln und bei Produkten der Holzwirtschaft entwickelt werden. Die Rentenbank fördert in diesem Sinne insbe- sondere kleine und mittlere Unternehmen sowie For- schungseinrichtungen. Ganz besonders betonen möchte ich, dass das Zweck- vermögen auch Projekte in der Forst- und Holzwirtschaft unterstützen kann und soll. Dies war der FDP ein wichti- ges Anliegen, da auch das Restvermögen des Absatzför- derungsfonds der Forst- und Holzwirtschaft in dieses Zweckvermögen überführt wird. Voraussichtlich wird dieses einen Anteil von einem Viertel der Beträge aus- machen; deswegen muss die Holzwirtschaft förderungs- fähig sein. Wir werden prüfen, ob eine Klarstellung der Richtlinien zur Verwendung des Zweckvermögens hilf- reich sein könnte. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke be- grüßt das Ende der bisherigen Absatzfonds, will aber mehr regionale Absatzförderung. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden der Ab- satz- und der Holzabsatzfonds, die verfassungswidrig fi- nanziert sind, endgültig beendet. Das ist gut so. Als 11468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) Linke haben wir die breite inhaltliche Kritik an der Cen- tralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirt- schaft, CMA, unterstützt. Auch die Erhebung der Zwangsabgabe zur Finanzierung von oft mehr als peinli- chen Werbekampagnen, die vielen Landwirtinnen und Landwirten jahrelang Zornesröte ins Gesicht trieb, ha- ben wir schon länger für verfassungswidrig gehalten. Diese Einschätzung wurde auch durch die Anhörung im zuständigen Agrarausschuss des Bundestages im Jahr 2009 bestätigt. Schon damals habe ich die Bundesregie- rung aufgefordert, einen Plan B zu erarbeiten. Doch die ehemalige schwarz-rote Koalition blieb, wie so oft, untä- tig. Die Folgen können wir nun als einen Scherbenhau- fen „bewundern“. Er wird nur sehr mühsam und holprig beseitigt. Zwei Dinge sind aus unserer Sicht als direkte Folge zu beachten. Einerseits geht es um die Frage, was mit den Geldern aus den beiden Fonds passiert, die nach Be- zahlung aller offenen Rechnungen noch übrig sind. Mo- mentan ist immerhin von 13,4 Millionen Euro beim Ab- satzfonds und 2,8 Millionen beim Holzabsatzfonds die Rede. Dass die unfreiwilligen Beitragszahlerinnen und -zahler wenigstens von diesen Restmitteln indirekt profi- tieren sollten, war in den Oppositionsfraktionen immer selbstverständlich, und am Ende konnte sich auch die Koalition dieser Logik nicht entziehen. Gleichzeitig sollte bei aller berechtigten Kritik an der CMA nicht vergessen werden, dass von der Abwicklung Beschäftigte betroffen sind, die völlig unverschuldet in- folge juristischer Urteile, politisch falscher Entscheidun- gen oder Nichthandelns ihren Arbeitsplatz verloren ha- ben. Viele Beschäftigte von CMA und ZMP sind ebenso existenziell betroffen wie Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter des Holzabsatzfonds. Den circa 350 Beschäftigten der CMA und ZMP wurde Hoffnung auf erfolgreiche Vermittlung anderer Arbeitsplätze gemacht. Doch viele sind noch heute ar- beitslos. Sie sind bitter enttäuscht. Insbesondere wurde zu keinem Zeitpunkt in geeigneter Weise auf die Proble- matik der über 50-Jährigen eingegangen, obwohl abseh- bar war, dass sie ein besonders hohes Risiko haben, er- werbslos zu werden. Hier wäre das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, BMELV, in der Pflicht gewesen, seinen Beitrag für eine soziale Perspektive der ehemaligen Beschäftigten der beiden Fonds zu leisten. Die Linke hatte das in Aus- schusssitzungen mehrmals thematisiert. Um wie viele Betroffene es sich aktuell handelt, konnte ich leider nicht herausfinden. Aber einige haben sich mit ihren Erfah- rungen mit der Transfergesellschaft an mich gewandt. Der CMA-Sozialplan ist anscheinend nicht so erfolg- reich gewesen, wie in Aussicht gestellt. Die zur Verfü- gung stehenden Mittel der Transfergesellschaft PEAG waren Ende Mai 2010 bereits restlos aufgebraucht. Hätte die damalige Bundesregierung frühzeitig an einem Plan B gearbeitet, wie von der Linken gefordert, dann hätte auch dieses Problem sozialverträglicher gelöst wer- den können. Auch die SPD hat ihre soziale Verantwor- tung hier nicht konsequent übernommen. Die gruppennützige Verwendung der Restmittel ist unterdessen im Bundestag fraktionsübergreifend unstrit- tig. Große Teile der Branche haben das in unzähligen Briefen gefordert. Dabei war die Wunschliste zur Um- setzung dieses politischen Zieles sehr lang. Jede Interes- sensgemeinschaft wollte möglichst viel vom Kuchen ab- bekommen. Als Linke ist uns wichtig, die Restmittel an der Stelle einzusetzen, wo der Fonds am dringlichsten nötig gewesen wäre, eine verfassungsgemäße Finanzie- rung vorausgesetzt. Deshalb haben wir die Weitergabe an die regionalen Absatzfördergesellschaften vorge- schlagen. So wären sie gruppennützig und sinnvoll ver- wendet worden. Die Koalitionsfraktionen haben sich für die Weiter- gabe der Gelder an die Landwirtschaftliche Rentenbank entschieden, damit diese ihr Sondervermögen aufsto- cken kann. Das ist allemal besser als die ursprünglich geplante Einspeisung in den Bundeshaushalt. Bisher habe ich zu diesem Vorhaben noch keine verärgerten Aufschreie vernommen, außer von den Grünen, die lie- ber ihre Klientel mit dem Geld beglückt hätten. Die Branche hat dieses Vorgehen wohl als gruppennützig ak- zeptiert. Selbst der Deutsche Forstwirtschaftsrat hat die Entscheidung begrüßt; also sollte auch das Geld des Holzabsatzfonds dort einigermaßen gut aufgehoben sein. Vorteil dieser Lösung gegenüber den Vorschlägen der SPD und der Grünen ist aus unserer Sicht, dass die Gel- der wie bei unserem Vorschlag in eine bereits bestehende Struktur einfließen, also kein Geld für den Aufbau neuer Strukturen verwendet werden muss. Die Rentenbank bietet ein breites Angebot für Land- und Forstwirtschaft, Wein- und Gartenbau. Die Kritik, dass nicht gesichert wäre, dass auch die Betriebe der Holzwirtschaft in den Genuss der Programme der Rentenbank kommen, sollte allerdings ernst genommen werden. Wir werden das im Auge behalten. Dem Förderungsfonds der Rentenbank standen im Jahr 2009 5,375 Millionen Euro aus dem Bilanzgewinn des Vorjahres zur Verfügung. Daraus wurden viele Ein- zelprojekte und Institutionen in den ländlichen Räumen unterstützt. Diese Verwendung entspricht zwar nicht un- serem – noch besseren – Vorschlag der Übergabe der Restmittel an regionale Absatzfördergesellschaften. Aber er entspricht der von der Opposition immer gefor- derten gruppennützigen Verwendung. Daher kann ich die Ablehnung dieses Kompromisses durch die SPD und die Grünen nicht nachvollziehen. Als Linke werden wir uns enthalten. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Anders als für die CDU/CSU, die dem Absatz- fonds immer noch nachtrauert, begrüßen wir die Auflö- sung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds ausdrücklich; denn damit wird das Ende der jahrelangen verfassungswidrigen Zwangsabgabe von Bäuerinnen und Bauern endlich besiegelt. Jahrelang haben Bäuerinnen und Bauern gegen die Zwangsabgabe zum Absatzfonds gekämpft, einer von ihnen hat schließlich erfolgreich geklagt. Ihnen gegen- über stand der Deutsche Bauernverband, der sich mit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11469 (A) (C) (D)(B) Unterstützung der CDU/CSU bis zuletzt für die Beibe- haltung der Zwangsabgabe eingesetzt hat, weil er über Jahre direkt und indirekt kräftig davon profitiert hat. DBV-Präsident Sonnleitner als Chef des Absatzfonds, DBV-Vize Hilse als Aufsichtsratschef der CMA, DBV- Vize Folgart als Aufsichtsratschef der ZMP: Die Herren des DBV hatten sich die Macht über die jährlich rund 90 Millionen Zwangsabgaben der Bäuerinnen und Bau- ern sorgsam gesichert und scherten sich wenig darum, dass das Ganze nicht nur für die Bauern ohne erkennba- ren Nutzen war, sondern schlicht verfassungswidrig. Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsge- richt diesem Treiben ein Ende gesetzt und die Zwangs- abgaben zum Absatzfonds für verfassungswidrig erklärt. Am 12. Mai 2009 folgte das gleiche Urteil für den Holz- absatzfonds. Nach der Abwicklung werden aus dem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 Millionen Euro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro verbleiben. Diese Gelder sollen nach dem Willen der Koalition nun ausgerechnet an das Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank gehen. Das hat – vorsichtig ausgedrückt – ein Geschmäckle. Denn wer hat in der Rentenbank das Sagen? Vorsitzen- der des Verwaltungsrates ist DBV-Präsident Sonnleitner. Neben Sonnleitner sitzen im Vorstand: Dr. Helmut Born, DBV-Generalsekretär, Udo Folgart, DBV-Vize, Werner Hilse, DBV-Vize, Franz-Josef Möllers, DBV-Vize. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Institutionen und Projekte des Bauernverbands zu den größten Profi- teuren des Förderfonds der Rentenbank gehören. Bei der Förderung aus dem Zweckvermögen entscheidet die Landwirtschaftliche Rentenbank zwar formal nur im Einvernehmen mit dem BMELV. Der Verdacht liegt je- doch nahe, dass der Deutsche Bauernverband auch hier zu den bevorzugten Nutznießern gehören dürfte. Die Bundesregierung hätte längst die Gelegenheit ge- habt, diesen Verdacht auszuräumen. Aber in der Antwort auf unsere entsprechende Kleine Anfrage vom 5. Juli 2010 weigerte sich die Bundesregierung, konkrete An- gaben zur Verwendung der Fördergelder aus dem Zweckvermögen zu machen. Dabei wäre das BMELV nicht zuletzt entsprechend Abs. 5.1 der Richtlinien über die Verwendung des Zweckvermögens des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank berechtigt gewe- sen, Vorhaben, Antragsteller und Höhe der Förderung zu nennen. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, dem Par- lament umgehend offenzulegen, wer in welchem Um- fang von der Förderung aus dem Zweckvermögen profi- tiert. Wir sind der Meinung, dass eine gruppennützige Ver- wendung der Gelder, wie sie das Bundesverfassungsge- richt und der Bundesrat gefordert haben, nur durch eine unabhängige Institution gewährleistet werden kann. Wir schlagen daher die Errichtung einer unabhängi- gen Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft vor. Zweck der Stiftung sollte die Förderung des landwirtschaftlichen Gemeinwohls sein. Die Stiftung Bäuerliche Landwirt- schaft sollte Pionierarbeit von Bäuerinnen und Bauern fördern, die dem langfristigen Wohl der Landwirtschaft dient, zum Beispiel in den Bereichen Züchtung und Bo- denfruchtbarkeit. Die deutlich geringeren Restmittel aus dem Holzab- satzfonds sollten einer bestehenden oder neuzugründen- den unabhängigen Institution zukommen, die Vorhaben im allgemeinen Interesse der Forst- und Holzwirtschaft realisiert, zum Beispiel die Fortführung des Informa- tionsdienstes Holz oder Vorhaben zur Förderung des Holzbaus. Eine weitere einseitige Begünstigung einflussreicher Lobbygruppen lehnen wir hingegen ab. Anlage 8 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 19) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Lassen Sie uns heute über das Zweitverwertungsrecht reden. Darum geht es jedenfalls in dem auf Drucksache 17/5053 vorgelegten Gesetzentwurf der SPD – vordergründig jedenfalls. Ei- gentlich geht es aber eher um etwas anderes. Eigentlich geht es darum, dass sich die SPD-Fraktion mit ihrem Ge- setzentwurf das „Ich bin schon da“-Gefühl geben möchte, das wir aus dem „Hase und Igel“-Märchen der Gebrüder Grimm kennen. Während die Koalition behä- big ihre Themen abarbeitet, kommt die SPD flink und listig mit allem schon viel früher um die Ecke. Glück- wunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! Der Punkt geht an Sie – jedenfalls der Punkt, dass Sie schneller sind. Aber Listigkeit und Flinksein haben ihren Preis. Das sehen wir gerade an dem von Ihnen vorgelegten Gesetz- entwurf. Um nicht zu sagen: Der Erfolg ihres Gesetzent- wurfs reduziert sich allein darauf, dass Sie ihn schneller vorgelegt haben. Ihnen mag das vielleicht reichen; uns reicht es jedenfalls nicht. Machen wir es also ebenso schnell: Der Gesetzent- wurf der SPD ist viel zu kurz gesprungen. Er ist reine Effekthascherei, weil er einen einzelnen Aspekt, das Zweitverwertungsrecht, ausschließlich so, wie ihn eine Interessengruppe, verschiedene Wissenschaftsorganisa- tionen, nach vorne tragen, in Gesetzesform gießen will. Ich kann zwar nachvollziehen, dass sich die SPD an- gesichts der Tatsache, dass es nur um den kurzfristigen Effekt geht, wirklich nicht viel Mühe machen wollte; aber so einseitig vorzugehen und nicht einmal im Ansatz den Versuch zu starten, mit einem Gesetzentwurf den Ausgleich verschiedener Interessen vorzunehmen, das 11470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) ist schon bemerkenswert. Bemerkenswert unklug! So weit zum Gesetzentwurf der SPD. Nun zum eigentlichen Thema, das wirklich die ernst- hafte Auseinandersetzung lohnt. Denn es sind einige Faktoren in der Tat nicht von der Hand zu weisen: Zum einen wollen Wissenschaftler nachvollziehbarer- weise ihre Ergebnisse gerne im Verlag mit dem höchsten Renommee veröffentlichen. Daraus hat sich in einigen Bereichen eine gewisse Monopolisierung ergeben. Und es stimmt: Manche Verlage nutzen diese Monopolbil- dung aus, verlangen immer höhere Preise und erreichen dadurch Margen von bis zu 70 Prozent. Zum anderen halten die Bibliotheksetats bei der explosionsartigen Vermehrung von Veröffentlichungen nicht Schritt. Im Gegenteil, die finanzielle Ausstattung durch die öffentliche Hand wird immer schmaler. Da ist es eigentlich kein Wunder, dass von interessier- ter Seite der Ruf nach einer Schranke zugunsten einer Zweitverwertungsmöglichkeit laut wird. Aber nur weil der Ruf erschallt, heißt das noch nicht zwangsläufig, dass man ihm folgen muss, vor allem nicht, dass man sich dann auf dem richtigen Weg befindet. „Quidquid agis prudenter agas et respice finem“ lau- tet ein lateinisches Sprichwort: Was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende! Wenn der Gesetzent- wurf der SPD dies schon nicht tut, dann sollten wir das im Interesse der Urheber sehr sorgsam tun. Das braucht naturgemäß Zeit – Zeit, die wir uns zur sorgsamen Vor- bereitung des Dritten Korbs der Urheberrechtsreform auch nehmen, um solche Schnellschüsse wie den SPD- Gesetzentwurf zu vermeiden. Wir sollten daher genau überlegen, ob ein solches Zweitverwertungsrecht wirklich zielführend ist. In die- sem Überlegungsprozess befinden wir uns derzeit. Erstens. Es sind vor allem die Wissenschaftsorganisa- tionen, die die Einführung eines Zweitverwertungsrech- tes forcieren. Wo ist da die Stimme der wirklichen Urhe- ber? Sind sie so schwach, dass sie der Stimme anderer bedürfen? Oder sind sie vielleicht damit zufrieden, dass sie gerade in dem besonderen Journal X oder der Zeitschrift Y ihre Ergebnisse veröffentlichen können? Zweitens. Ist eine gesetzliche Regelung im Urheber- recht wirklich das richtige Instrument? Der SPD-Antrag fordert das Zweitverwertungsrecht ausschließlich für die Veröffentlichung von Ergebnissen öffentlich geförderter Forschung. Damit wird der Gegenstand des Zweitver- wertungsrechts schon deutlich eingeschränkt. Hinter die- ser Beschränkung steht die nachvollziehbare Überle- gung, dass die öffentliche Hand nicht zweimal für Forschung bezahlen soll: zum einen über die For- schungsförderung und zum anderen über die Biblio- theksförderung. Wenn es aber ohnehin nur um die Ergebnisse öffent- lich geförderter Forschung geht, dann stellt sich die Frage, ob das gewünschte Ziel nicht bereits durch Zu- wendungsauflagen bei der Fördermittelvergabe erreicht werden kann. So breit wie die öffentliche Förderung auf- gestellt ist, müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht ausreichend kritische Masse auf diesem Weg erzeugt werden könnte, um den Verlagen als ebenbürti- ger Verhandlungspartner gegenüberzustehen. Drittens. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die Forderung nach einem Federstrich des Gesetzgebers nicht sogar von dem eigentlichen Problem ablenkt, näm- lich dem Problem, dass Etats von wissenschaftlichen Bi- bliotheken immer weiter reduziert werden und immer weniger Mittel für die Bereitstellung von Publikationen zur Verfügung stehen. Ist es richtig, das auf Kosten der Verlage zu sanktionieren? Viertens. Können Verlage überhaupt noch verlässlich kalkulieren, wenn es ein verbindliches Zweitverwer- tungsrecht gibt? Die Verlage investieren in Veröffentli- chungen. Sie steuern technisches Know-how bei und er- bringen mit dem Lektorieren, Setzen und Publizieren eigene Leistungen. In der Summe wollen Verlage selbst- verständlich ihre verlegten Werke auch amortisieren. Es ist nicht auszuschließen, dass die renommierten Publika- tionen noch teurer und viele andere Werke einfach gar nicht mehr verlegt werden. Am Ende mögen weniger Veröffentlichungen und damit weniger Qualität stehen. Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wol- len, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigen Journalen veröffentlichen wollen, werden sich mögli- cherweise zwingen lassen. Auch das müssen wir beden- ken. Sie sehen: Allein die Diskussion um diese eine Schranke im Urheberrecht wirft viele Fragen auf – Fra- gen, die bedacht sein wollen und auf die der Gesetzent- wurf der SPD auch nicht im Ansatz eine Antwort gibt. Ich will nicht verhehlen, dass ich persönlich einem Zweitverwertungsrecht insgesamt kritisch gegenüber- stehe. Ich sehe, dass hier die Gefahr einer Kostenverla- gerung von den Nutzern auf die Kreativen besteht. Ich sehe die Gefahr, dass letztlich die Qualität von Veröf- fentlichungen leidet. Außerdem sehe ich die Gefahr, dass es statt weniger mehr Monopolisierung gibt. Wir sollten daher mit dem Instrument des Zweitverwertungs- rechts sehr vorsichtig sein – vorsichtiger als die SPD mit ihrem Gesetzentwurf. René Röspel (SPD): Wie ermöglicht man einen um- fassenden Zugriff auf das wissenschaftliche Wissen der Welt? Diese ebenso grundsätzliche wie wichtige Frage steht im Zentrum des von der SPD-Bundestagsfraktion heute vorgelegten Entwurfs für ein Gesetz zur Änderung des Urheberrechts. Wir alle kennen die klassischen Wege der schriftli- chen Wissenschaftskommunikation. Es werden zunächst Forschungsprojekte betrieben, die zu neuen oder erwei- terten Erkenntnissen führen. Diese werden durch den oder die Forscher in einem Textbeitrag dargestellt und dann in einem Buch, einem Sammelband oder in einer Zeitschrift veröffentlicht. Idealerweise stehen diese Werke dann allen am Thema interessierten Forscherin- nen und Forschern zur Verfügung, damit sie Rück- schlüsse ziehen und Anregungen aufnehmen können für ihre eigene Arbeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11471 (A) (C) (D)(B) Nun werden seit einigen Jahren die Grenzen dieses klassischen Modells deutlich. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So hat sich die Dynamik der wissenschaftli- chen Kommunikation in einer Art und Weise verstärkt, wie es zu Zeiten vor Internet und Web 2.0 undenkbar war. Der Bedeutung des Internets für die wissenschaftli- che Kommunikation muss der Gesetzgeber Rechnung tragen, wenn die deutsche Wissenschaft von dieser Ent- wicklung nicht abgekoppelt werden soll. Die Verlage wiederum haben in den letzten Jahren verstärkt ihre marktbeherrschende Rolle in der Wissen- schaftskommunikation für teilweise extreme Preissteige- rungen genutzt. Ein Beispiel aus den USA ist die Ankün- digung der Nature Publishing Group gegenüber der University of California, den Preis für die Onlinelizenz für die Universität von 2011 an um sage und schreibe 400 Prozent zu erhöhen. Erst nach einer Boykottdrohung kam es zu einer Annährung zwischen der Verlagsgruppe und der Universität. Das Verhalten der Verlagsgruppe zeigt, mit welcher Aggressivität einige Verlage versu- chen, die Abhängigkeit von Hochschulen auszunutzen. Übrigens waren die Kosten für die Lizenz der Nature Publishing Group zwischen 2005 und 2009 bereits um 137 Prozent gestiegen. Die Folgen dieser Abhängigkeit sind insbesondere in Bezug auf die staatliche Forschungsförderung für einen unabhängigen Beobachter kaum mehr vermittelbar. Da fördern der Bund und die Länder mit Milliardenbeträgen die Wissenschaft und Forschung in Deutschland über Projektmittel und Gehaltszahlungen. Ein Ergebnis dieser Förderung sind neue Erkenntnisse, welche die Wissen- schaftler in Schriftform einem weiten Kreis von Interes- senten bekannt machen wollen. Hier treffen sie auf das „Nadelöhr“: Verlage, die sich meist alle Rechte an den Texten abtreten lassen. Meist wird sogar die Formatie- rung des Textes, ausgehend von einer Formatvorlage, als Aufgabe an den oder die Autoren delegiert. Der Verlag verkauft dann sein Printprodukt bzw. seine Lizenzen an Hochschulen, Bibliotheken, Einzelpersonen usw. In den ersten beiden Fällen kauft der Steuerzahler – vertreten durch Bund und Länder – also die von ihm finanzierten Forschungserkenntnisse erneut zu hohen Kosten ein, da- mit Dritte Zugang zu ihnen erlangen können. Aus Sicht der Verlage hat dieses Vorgehen nur Vorteile; ein Modell für die Zukunft der Wissenschaftskommunikation ist dieses Verfahren aber nicht. Diese Erkenntnis ist nicht erst wenige Wochen oder Monate alt. Bereits im Rahmen der Beratungen des „Zweiten Korbes“ zur Reform des Urheberrechts hat sich der Deutsche Bundestag für die Prüfung eines soge- nannten unabdingbaren Zweitverwertungsrechts ausge- sprochen. Dieser etwas sperrige Begriff bedeutet, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Recht er- halten, nach einer im Gesetz festgelegten Embargofrist ihre – überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierten – Texte nach einer Erstveröffentlichung etwa in einer Zeit- schrift nach Belieben an einer anderen Stelle zweitzuver- öffentlichen. Der Bundesrat hat in den Beratungen zum „Zweiten Korb“ sogar einen dezidierten Vorschlag für die Festschreibung eines solchen Zweitverwertungs- rechts vorgelegt, den die damalige Bundesregierung je- doch bedauerlicherweise nicht aufgegriffen hat. Nun steht seit einigen Monaten der Regierungsent- wurf eines „Dritten Korbes“ zur Reform des Urheber- rechts aus. Die Signale, die man bisher empfangen konnte, deuten leider stark darauf hin, dass die Regie- rung die Chance zur Vorlage eines Entwurfs für die Be- lange von Bildung, Wissenschaft und Forschung und für eine Stärkung des Wissenschafts- und Forschungsstand- ortes Deutschland erneut vergeben wird. Dies ist sehr bedauerlich, hat sich doch der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung bei der Ver- abschiedung des „Zweiten Korbes“ einstimmig für einen „Dritten Korb“ für die Belange von Bildung, Wissen- schaft und Forschung ausgesprochen. Ein modernes wis- senschaftsfreundliches Urheberrecht ist ein wichtiger Standortvorteil für unser Land. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns daher dazu entschlossen, den Aspekt „Zweitverwertungsrecht“ in einem eigenständigen Gesetzentwurf in die parlamen- tarische Debatte einzubringen. Wir wollen nicht, dass diese wichtige Frage zwischen den vielen anderen Fra- gen im Rahmen eines „Dritten Korbes“ untergeht oder, wie üblich, weiterhin auf die lange Bank geschoben wird. Auch wollen wir deutlich machen, dass eine Rege- lung zum Zweitverwertungsrecht kein Spezial- oder Randthema ist. Was fordern wir nun konkret? Mit unserem Gesetz- entwurf soll ein unabdingbares Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Beiträge eingeführt werden, die im Rahmen einer überwiegend mit öffentlichen Mitteln fi- nanzierten Lehr- und Forschungstätigkeit entstanden sind. Damit sollen die rechtlichen Voraussetzungen ge- schaffen werden, um Open-Access-Publikationen zu er- möglichen. Dabei ist uns klar, dass dies nur ein erster Schritt sein kann und dass es weiterer flankierender Maßnahmen bedarf, um Open Access zu unterstützen, beispielsweise hinsichtlich der Förderrichtlinien der For- schungsförderung oder hinsichtlich der Unterstützung der Universitäten und der wissenschaftlichen Fachge- sellschaften bei der Einrichtung entsprechender Plattfor- men. Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates diffe- renzieren wir hinsichtlich der Embargofrist zwischen sechs Monaten für Zeitschriftenbeiträge und zwölf Mo- naten für Beiträge in Sammelwerken. Jeder Urheberin und jedem Urheber steht frei, wie er mit diesem Recht umgeht und die Möglichkeit zur Zweitverwertung nutzt. Die Autoren erhalten das Recht, ihre Beiträge im Ori- ginalformat der Erstveröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Dies ist keine „Enteignung“ der Verlage, die das Layout entwickelt haben, sondern es ist eine unerlässli- che Voraussetzung, damit etwa die Zitierfähigkeit erhal- ten bleibt. Durch die Verpflichtung, dass im Rahmen einer Zweitverwertung der Ort der Erstpublikation anzu- geben ist, kann und soll sogar eine Werbewirkung für die betreffenden Zeitschriften bzw. Verlage entstehen. Mit unserem Vorschlag befinden wir uns damit sehr nah an den Vorstellungen der großen Wissenschaftsorga- 11472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) nisationen sowie der Bundesländer. Auch die bisherigen Stellungnahmen der anderen im Bundestag vertretenen Parteien lassen sich aus unserer Sicht dahin gehend in- terpretieren, dass man über die Parteigrenzen hinweg of- fen sein sollte bzw. ist für unseren Regelungsvorschlag. Wir hoffen daher auf eine konstruktive Debatte und eine Zustimmung über unsere Fraktion hinaus. Zu einer Debatte gehört selbstverständlich auch eine Bewertung der Kritik an einem unabdingbaren Zweitver- wertungsrecht. Nur darf man hierbei nicht vergessen, dass für Wissenschaft und Forschung im Urheberrecht andere Maßstäbe gelten müssen als für andere Publika- tionsformen und -felder. So verdienen Wissenschaftler selten einen Großteil ihres Einkommens mit Veröffentli- chungen. Bestenfalls kann man Einnahmen aus Veröf- fentlichungen als Nebenverdienst in Wissenschaft und Forschung bewerten. Vielmehr ist es – gerade bei Buch- publikationen – durchaus möglich, dass eine Veröffentli- chung wissenschaftlicher Werke sogar Kosten für den Autor zur Folge hat. Der freie Fluss von Informationen ist außerdem kon- stitutiv für eine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit. Diese Freiheit von Informationen durch Hürden wie Ge- bühren für den Zugriff auf Artikel und Beiträge – auch noch Jahre und Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung – einzuschränken, behindert immer mehr auch die Wissen- schaft. Zwar mag der Grad der Einschränkung der wis- senschaftlichen Forschung und der Wissenschaftsfreiheit durch diese finanziellen, verlagsseitigen Hürden kaum bezifferbar sein; klar ist jedoch, dass die Abwesenheit eines Zweitverwertungsrechts den freien Fluss von In- formationen erheblich behindert. All diejenigen, die sich folglich gegen ein unabdingbares Zweitverwertungs- recht aussprechen, müssen diese negativen Effekte aus- drücklich in Kauf nehmen. Unser Gesetzentwurf ist sicherlich nur ein erster, aus unserer Sicht wichtiger, Schritt auf dem Weg zur Umset- zung eines echten Open Access – also offenen Zugangs – zu wissenschaftlichem Wissen. Wir haben – auch und gerade durch das Engagement vieler Menschen in zahl- losen Gremien und Netzwerken – hier schon viel er- reicht. Wir werden aber mit unserem heute vorgelegten Entwurf nicht stehen bleiben im Bemühen für eine um- fassende wissenschaftsfreundliche Reform des bundes- deutschen Urheberrechts. Nicht zuletzt aus diesem Grund und um dem Paradigmenwechsel wirklich mittel- fristig Rechnung tragen zu können, haben wir den Ge- setzentwurf mit einer Evaluierungsklausel versehen. Drei Jahre nach Inkrafttreten soll diese Regelung dahin gehend evaluiert werden, ob das Ziel des Gesetzgebers, Open Access zu ermöglichen, tatsächlich erreicht wer- den kann und ob es gegebenenfalls weiteren rechtlichen Klarstellungsbedarf gibt. Übrigens hat unsere Debatte von heute natürlich Aus- wirkungen über die Landesgrenzen hinweg. Wir debat- tieren ja auch auf europäischer Ebene über die Zukunft des Urheberrechts, und viele andere Staaten in Europa werden unser Bemühen für ein unabdingbares Zweitver- wertungsrecht mit großem Interesse verfolgen. Deutsch- land ist schon in der Vergangenheit in Europa mutig vo- rangeschritten, wenn es darum ging, auch dort sinnvolle Regelungen auf den Weg zu bringen, wo andere viel- leicht noch zögern. Perspektivisch können wir es – wie bereits angedeutet – aber nicht bei der Festschreibung eines unabdingbaren Zweitverwertungsrechts belassen; dies schafft lediglich die rechtliche Grundvoraussetzung. Wir müssen auch in- tensiv prüfen, welcher flankierender Maßnahmen es be- darf und wie beispielsweise die einschlägigen Förder- richtlinien des Bundes dahin gehend verändert werden müssen, sodass Open Access in allen Wissenschaftsbe- reichen ermöglicht und gefördert wird. Auch wird zu prüfen sein, wie die Forschungseinrichtungen, Universi- täten und Hochschulen oder Bibliotheken und die wis- senschaftlichen Fachgesellschaften unterstützt werden können bei der Errichtung entsprechender Open-Access- Publikationsplattformen. Schließlich gilt es auch bei den wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren dafür zu werben, von diesem Zweitverwertungsrecht tatsächlich Gebrauch zu machen. Auch bei den Wissenschaftsverla- gen müssen wir dafür werben, neue Publikationsformen und -modelle zu erproben und anzubieten. Selbstverständlich müssen wir auch mit den Ländern sprechen, um sicherzustellen, dass wir in Deutschland eine vergleichbare Infrastruktur an den Hochschulen er- halten, die es erlaubt, das Zweitverwertungsrecht in der Forschungspraxis zu leben. Mit den Bibliotheken haben wir bereits leistungsstarke Dienstleister, die ein wichti- ger Partner bei der Umsetzung des Zweitverwertungs- rechts sein können. Nur haben die Länder in der Vergan- genheit leider Sparmaßnahmen auf den Weg gebracht, die den Universitäten die Aufrechterhaltung dieser Infra- strukturen erschwert haben. Hier muss der Bund helfen. Wir als SPD sind bereit, hier unterstützend tätig zu wer- den. Abschließend möchte ich den Kolleginnen und Kolle- gen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hierbei ins- besondere Johannes Kollbeck, danken, die sich in den letzten Jahren für die Festschreibung eines unabdingba- ren Zweitverwertungsrechts eingesetzt und die uns bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs unterstützt haben. Lassen Sie uns nun ergebnisoffen in die Ausschussbe- ratungen gehen, gegebenenfalls auch eine Sachverstän- digenanhörung, möglicherweise zu unterschiedlichen Regelungsentwürfen, durchführen und zu einem ge- meinsamen Weg finden, der das von unserem Gesetzent- wurf präsentierte Ziel – und zwar sowohl hinsichtlich der dafür notwendigen Rechtsgrundlagen als auch hin- sichtlich der ebenso notwendigen flankierenden Maß- nahmen – erreichbar macht. Stephan Thomae (FDP): Der Rohstoffreichtum un- seres Landes liegt in den Köpfen seiner Menschen. Krea- tivität, Innovationsgeist, Erfindungsreichtum und Risi- kobereitschaft sind die Quellen unseres Wohlstandes. Erfindungen und Entdeckungen bedürfen aber von ih- rer Entstehung bis hin zu ihrer Verwirklichung bisweilen eines hohen Maßes an immateriellem und materiellem Einsatz. Solche Investitionen werden nur getätigt, wenn Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11473 (A) (C) (D)(B) eine reale Chance dafür besteht, dass sich Kreativität und die dafür aufgewendeten Mittel auch auszahlen kön- nen. Dafür muss der Staat die Rahmenbedingungen schaf- fen. Der effektive Schutz und die wirksame Nutzbarkeit und Durchsetzbarkeit der Rechte des geistigen Eigen- tums sind mithin eine unerlässliche Voraussetzung, um Kreativität und Innovationen zu fördern. Ich gehe davon aus, dass darüber in diesem hohen Haus mehr oder weni- ger Konsens herrscht. Wie man diese Ziele jedoch errei- chen will, darüber kann man streiten. Die SPD setzt sich mit dem von ihr eingebrachten vorliegenden Gesetzentwurf für ein Zweitverwertungs- recht wissenschaftlicher Urheber ein. Damit soll das Ziel erreicht werden, Wissenschaft, Forschung und Bildung unter wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen Zugang zu wissenschaftlichen Informationen zu ermöglichen. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich dem vorlie- genden Antrag aus verschiedenen Gründen nicht an- schließen. Zum einen ist der Antrag in sich sprachlich widersprüchlich. Wer Dritten ein ausschließliches Nut- zungsrecht an seinem Werk einräumt, kann selber kein Nutzungsrecht an dem Werk haben, es sei denn, es wurde vorher so vereinbart. Da entsprechende Vereinba- rungen bereits jetzt im Rahmen der Privatautonomie möglich sind, bedarf es hierfür keines eigenen Gesetzge- bungsverfahrens. Zum anderen sprechen auch inhaltliche Argumente gegen ein obligatorisches Zweitverwertungsrecht: Ein solches Zweitverwertungsrecht würde die Nutzungs- rechte desjenigen beschneiden, dem der Urheber zuvor eben jene Nutzungsrechte eingeräumt hat. Mit anderen Worten: Wenn sich ein Autor bewusst zur Veröffentli- chung seines Beitrags in einem Verlag entscheidet, dann darf der Verlag nicht einer gesetzlich angeordneten Kon- kurrenz ausgesetzt werden, sondern dann müssen die vertraglichen Vereinbarungen in Bezug auf die Nut- zungsrechte grundsätzlich Bestand haben. Ein obligato- risches Zweitverwertungsrecht im deutschen Recht würde darüber hinaus zu einer Wettbewerbsverzerrung zulasten deutscher Verlage führen. Abschließend sei Ihnen gesagt, dass der von der SPD angestrebte Erfolg mit der Schaffung eines solchen Zweitverwertungsrechts keineswegs gesichert wäre; denn das Zweitverwertungsrecht gäbe den Wissenschaft- lern nur das Recht zur Zweitveröffentlichung. Kein Wis- senschaftler wäre aber gezwungen, sich um eine solche Veröffentlichung zu bemühen und sein Zweitverwer- tungsrecht auch tatsächlich auszuüben. Um die Zweitverwertung zu gewährleisten, wären deshalb ergänzende Regelungen in den Bedingungen für die Vergabe von Fördergeldern erforderlich, mit denen der Wissenschaftler zur Zweitverwertung verpflichtet wäre. Eine solche Pflicht wäre urheberrechtspolitisch be- denklich, weil sie dem Grundsatz widerspricht, dass al- lein der Urheber über das Ob und das Wie einer Veröf- fentlichung seiner Werke entscheidet. Aus diesen Gründen wird die FDP-Bundestagsfrak- tion den vorliegenden Gesetzentwurf nicht unterstützen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Man kann es nicht oft genug wiederholen: Ergebnisse von öffentlich geförder- ter Wissenschaft werden heute allzu oft in privatwirt- schaftlichen Wissenschaftsverlagen publiziert. Dafür er- hält der Verlag bis zu 80 Prozent seiner Kosten durch Zuschüsse des Autors oder Herausgebers abgesichert. In der Regel geben Wissenschaftler diese Kosten an ihre Auftrags- und Arbeitgeber, also erneut die öffentliche Hand, ab. Bei stetig steigenden Endpreisen kaufen dann die Bibliotheken und Archive der Wissenschaftseinrich- tungen wiederum mit öffentlichen Geldern diese Publi- kationen, falls ihr Etat dafür ausreicht. Durch diese Praxis werden die Verlage mehrfach aus der öffentlichen Hand subventioniert. Weiter wird es für Wissenschaftseinrichtungen immer schwerer, For- schungsergebnisse auch in den Archiven bereitzustellen. Durch diese Praxis wird öffentliches Geld privatisiert und freier Informations- und Wissensfluss einge- schränkt. Einem Versuch, dieses System zu durchbrechen, stehe ich deshalb zunächst immer positiv gegenüber. Entspre- chend begrüße ich grundsätzlich den Gesetzentwurf der SPD zum Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Publikationen. Würde Wissenschaftlern ein solches Recht unabding- bar eingeräumt, wäre die Grundlage dafür geschaffen, dass Wissenschaftler mit der Zweitveröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse eine allgemein zugängliche Wis- sensdatenbank ohne Bezahlschranken aufbauen könnten. Es wäre ein großer Schritt auf dem Weg zur Förderung und Durchsetzung von Open-Access-Publikationen. Der Entwurf der SPD steht im Einklang mit den Forde- rungen des Bundesrates und der Allianz der Wissenschafts- organisationen, die beide seit 2006 beziehungsweise Sommer 2010 die Einführung eines Zweitverwertungs- rechts vorschlagen. Auch wird die Zweitverwertung expli- zit als Recht des Urhebers und nicht als Pflicht ausgestaltet. Das sollte mit der gängigen Rechtsauslegung der Wissen- schaftsfreiheit kompatibel sein, die interpretiert wird als „Freiheit der Wissenschaftler, über die Art und Weise der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse zu entschei- den“. Um es ganz klar und deutlich zu sagen: Die Einfüh- rung eines Rechts auf Zweitveröffentlichung stärkt die Urheber. Kein Verlag darf von ihnen verlangen, alle Ver- öffentlichungsrechte exklusiv und auf Dauer abzutreten. Dennoch geht der Entwurf der SPD an einigen Stellen nicht weit genug. Es ist mir nicht ersichtlich, warum das Zweitverwertungsrecht nur für Beiträge in Sammelwer- ken und Periodika gelten soll. Auch Monographien wie Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften werden aus öffentlichen Mitteln gefördert. Warum muss ein Zweit- verwertungsrecht, das zweifelsfrei dringend benötigt wird, an den § 38 gekoppelt sein, der sich auf Sammel- werke beschränkt? Auch die unterschiedlichen Embargofristen bei Erst- und Zweitverwertung mit sechs beziehungsweise zwölf Monaten erschließen sich mir noch nicht. Warum sieht der Entwurf im Vergleich zum bestehenden § 38 Abs. 1 11474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 (A) (C) (D)(B) die Verkürzung auf ein halbes Jahr nur bei Periodika, nicht aber bei Sammelwerken vor? Ist eine Embargofrist überhaupt nötig, oder könnten wir nicht etwa auf For- matgleichheit der Zweitpublikation verzichten und dafür die Embargofristen deutlich verkürzen oder weglassen? Nicht zuletzt erscheint mir die Beschränkung des Zweitverwertungsrechts auf nichtkommerzielle Publika- tionen problematisch. Geschäftsmodelle wie „Hybrides Publizieren“, bei dem nur die digitale Version der Publi- kation frei zugänglich ist, der Kauf des gedruckten Werks aber kostenpflichtig ist, werden so schwieriger durchzuführen sein. Das von der SPD verfolgte richtige Ziel, durch die Einführung eines Zweitverwertungsrechts Open-Access- Publikationen zu erleichtern und zu fördern, wird so teil- weise gefährdet. Dies ist übrigens ein Punkt, den es generell zu beden- ken gilt: Ein Zweitverwertungsrecht erleichtert Open Access. Eine umfassende Open-Access-Strategie ist da- mit aber nicht erreicht. Damit ein offener Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen in der Breite möglich wird, muss Open Access als Nutzungsrecht verstanden werden. Davon würden auch Wissenschaftler bei ihrer Recherche profitieren; sie sollten dann aber gegebenen- falls zur Open-Access-Publikation ihrer Ergebnisse ver- pflichtet werden. Dass dies im vorgegebenen rechtlichen Rahmen viel schwieriger umzusetzen ist als der von der SPD vorgeschlagene erste Schritt, ist mir bewusst. Wir sollten dennoch hier nicht stehen bleiben. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Entwicklung des Internets und der neuen IuK-Techniken haben auch die Arbeit im Wissenschaftsbereich revolu- tioniert. Für viele Aspekte der wissenschaftlichen Praxis, von der wissenschaftlichen Recherche über die Kommentie- rung bis zum internationalen Diskurs, ergeben sich enorm erweiterte und beschleunigte Möglichkeiten. Der leichtere und schnellere Zugang zu den Ergebnissen wis- senschaftlicher Arbeit bringt positive Impulse für den Fortschritt in der Wissenschaft und den Erkenntnisge- winn. Es ist nur konsequent, Zugangsbarrieren im Bereich der Wissenschaft nicht nur im Bereich der technischen Verfügbarkeit abzubauen, sondern auch Zugangsbarrie- ren im Bereich der Kosten zu hinterfragen. Gerade da, wo wissenschaftliches Arbeiten und Forschen öffentlich finanziert wird, ist es nicht einsehbar, dass die Allge- meinheit für den Zugang zu den Ergebnissen dieser Ar- beiten noch einmal bezahlen soll. Viele Bibliotheken konnten sich schon in der Vergan- genheit viele internationale Journale mit hoher wissen- schaftlicher Reputation kaum noch leisten, und die Kos- ten für die öffentliche Hand im Zusammenhang mit der Anschaffung wissenschaftlicher Publikationen sind zu- nehmend explodiert. Die schnelle und leichte elektronische Verfügbarkeit von wissenschaftlichen Arbeiten tritt zunehmend in ei- nen Widerspruch zu einer vorhandenen Kostenbarriere für die Nutzerinnen und Nutzer dieser Ergebnisse. Kein Wunder also, dass die Forderung nach Open Access, nach kostenfreiem Zugang zu wissenschaftlichen Veröf- fentlichungen für die Nutzerseite, nicht nur international immer mehr um sich greift, sondern in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Wegen bereits prakti- ziert wird. Dies reicht von anderen Bezahlmodellen, die nicht die Nutzerinnen und Nutzer belasten, über wissen- schaftsgeleitete Open-Access-Plattformen bis zur Ver- pflichtung der Open-Access-Veröffentlichung im Zusammenhang mit der öffentlichen Forschungsfinan- zierung. Nicht nur die Forderung nach, sondern auch die Umsetzung von Open Access im Wissenschaftsbereich hat in letzter Zeit unübersehbar an Dynamik gewonnen. Wir sind dafür, diesen Prozess auch politisch zu unter- stützen. Bei dieser Entwicklung spielt sicher auch eine Rolle, dass nicht nur die Nutzerinnen und Nutzer ein Interesse an einem möglichst barrierefreien Zugang haben, son- dern auch die Verfasserinnen und Verfasser wissen- schaftlicher Beiträge diese möglichst breit mit der wis- senschaftlichen Community teilen möchten. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fühlen sich von den wissenschaftlichen Verlagen zunehmend ausge- beutet, weil ein Großteil der Arbeit für die elektronische Publikationsfähigkeit von den Autorinnen und Autoren selbst erbracht werden muss. Auch die notwendigen Peer-Review-Verfahren werden in der Regel kostenlos von der Scientific Community selbst geleistet. Gleich- zeitig werden den Autorinnen und Autoren alle oder fast alle Rechte an ihren eigenen Beiträgen genommen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machen heute geltend, dass diese Quasi-Enteignung in keinem ange- messenen Verhältnis zu den tatsächlich erbrachten Leis- tungen der Verlage steht. Gleichzeitig gibt es aber auch die Warnung vor einem möglichen Verlust von Publikationsmöglichkeiten, wenn die Arbeit von Verlagen nicht mehr angemessen hono- riert würde oder es in der Folge der Open-Access-Bewe- gung zu einem noch stärkeren Konzentrationsprozess kommen sollte. Gerade in den Fachrichtungen, in denen die Buchform immer noch eine gewisse Bedeutung hat, wird vor dem Verschwinden kleiner spezialisierter Ver- lage gewarnt. Der Überlegung, dass die realen Verlagsleistungen vergütet werden sollten, trägt der sogenannte goldene Weg Rechnung. Dabei wird die Leistung des Verlages durch die Autorinnen und Autoren bzw. deren Institutio- nen finanziert und nicht durch die Nutzerinnen und Nut- zer. Große Wissenschaftsorganisationen wie die DFG stellen dafür Publikationszuschüsse zur Verfügung. Durch den goldenen Weg sind inzwischen große Open- Access-Plattformen bedeutender internationaler wissen- schaftlicher Verlage in verschiedenen Spezialrichtungen entstanden. Dieser Weg entlastet zwar die Nutzerinnen und Nutzer, beinhaltet aber nach wie vor die Gefahr der Überforderung der öffentlichen Hand, die für die Kosten der wissenschaftlichen Arbeit an Hochschulen und For- schungseinrichtungen ja im Regelfall schon aufkommt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11475 (A) (C)Eine andere Möglichkeit des Open Access ist der so- genannte grüne Weg, das heißt die kostenlose elektroni- sche Zweitveröffentlichung nach einer vereinbarten Embargofrist ergänzend zur Verlagsversion, zum Bei- spiel auf einem fachspezifischem Institutserver oder ei- nem interdisziplinären Repository. Aus aktuellem Anlass möchte ich unterstreichen, dass Open Access, also der kostenfreie Zugang, die jeweilige wissenschaftliche Veröffentlichung nicht zum Allge- meingut macht, sondern diese weiterhin nach den Maß- gaben wissenschaftlicher Redlichkeit als die wissen- schaftliche Leistung ihrer Verfasserinnen und Verfasser zu behandeln ist. Um Open Access zu garantieren, ohne die öffentliche Hand alleine mit den Verlagskosten zu belasten, wird in- ternational die Pflicht zur Open-Access-Veröffentli- chung haushalts- oder vertragsrechtlich zunehmend schon mit der Bewilligung von öffentlichen Forschungs- mitteln verbunden. In den USA wird eine entsprechende Gesetzesinitiative diskutiert. Die EU hat dieses Verfah- ren erprobt und will es zukünftig ausweiten und zum Re- gelfall machen. Die Verankerung eines Zweitverwertungsrechts im § 38 a des Urheberrechtsgesetzes, wie die SPD es heute vorschlägt, würde zweifellos in der Open-Access-Szene und Teilen der Scientific Community als starkes Signal gewertet. Trotzdem sollten wir uns vor einer endgültigen Festlegung auf dieses Instrument im Ausschuss gründ- lich mit den Vor- und Nachteilen dieses Vorschlages und auch mit den anderen Wegen zum Open Access befas- sen. Denn es gibt da doch einige wichtige Fragen. Die vorgeschlagene Änderung stärkt zwar die Rechte der wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren, enthält aber nicht die Verpflichtung zur kostenlosen Veröffentli- chung, geht also weniger von den Interessen der Nutze- rinnen und Nutzer öffentlich oder überwiegend öffent- lich finanzierter Forschung aus. Wie weit ist die Reichweite des deutschen Urheber- rechts in einem Bereich, wo das Publikationsgeschehen international ist, die größten Verlage sich im Ausland be- finden und wissenschaftliche Ergebnisse oft von Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedli- chen Staaten in Kooperation erbracht werden? Sind die vorgeschlagenen Embargofristen bei der Zweitveröffent- lichung für die unterschiedlichen Bedürfnisse im Wis- senschaftsbereich differenziert genug? Wie wären die Auswirkungen auf Publikationsmöglichkeiten im Be- reich der Geisteswissenschaften zum Beispiel bei kleine- ren spezialisierten Verlagen? Welche Auswirkungen könnte die Grenze der mindestens hälftigen öffentlichen Finanzierung für öffentlich-private Forschungskoopera- tionen haben? Ist der § 38 a des Urheberrechts geeignet für die Weiterentwicklung von Open Access in einem nach wie vor lernenden System, das noch sehr im Um- bruch ist? Diesen Fragen sollten wir im Ausschuss nach- gehen, gerne auch unter Hinzuziehung von Experten. (B) (D) 99. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709900000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Vor Eintritt in unsere Tagesordnung gebe ich Ihnen
Folgendes bekannt: Die Fraktion Die Linke hat mitge-
teilt, dass im Beirat der Bundesnetzagentur die Kolle-
gin Johanna Voß zukünftig von der Kollegin Eva
Bulling-Schröter und die Kollegin Dorothee Menzner
vom Kollegen Ralph Lenkert vertreten wird. Sind Sie
damit einverstanden? – Es sieht ganz danach aus. Dann
können wir so verfahren.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten

– Drucksache 17/5168 –

(siehe 98. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Bundesregierung

Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz
von NATO-AWACS im Rahmen der Interna-

Rede
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in

(International Security Assistance Force, ISAF)

auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1943 (2010) vom 13. Oktober 2010 des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen

– Drucksache 17/5190 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitä
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbei
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO


(siehe 98. Sitzung)

zung

den 24. März 2011

.01 Uhr

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Konkrete Anforderungen insbesondere des
Bundesumweltministeriums für die Sicher-
heitsüberprüfung deutscher Atomkraftwerke

(siehe 98. Sitzung)


ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine be-
schleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken
– Drucksache 17/5179 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes – Abschalten der acht unsichers-
ten Atomkraftwerke
– Drucksache 17/5180 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss

text
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Energiewende jetzt
– Drucksache 17/5182 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
NIS 90/DIE GRÜNEN

Hermesbürgschaften für Atomtechnolo-
re Hilfe
t und

BÜND
Keine
gien

– Drucksache 17/5183 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 8 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –
Finanzierung langfristig sichern
– Drucksache 17/5185 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Schutz vor militärischem Fluglärm
– Drucksache 17/5206 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuver-
lässigkeit konsequent aussetzen
– Drucksache 17/5204 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

(Federführung strittig)


ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Libyen-Krieg sofort beenden
– Drucksache 17/5173 –

ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton
Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Transparenter Stresstest für die Leistungsfä-
higkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21
– Drucksachen 17/5041, 17/5236 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann

ZP 12 – Beratung der Beschlussempfehlung und des

(3. Ausschuss)


Beteiligung deutscher Streitkräfte am Ein-
satz von NATO-AWACS im Rahmen der
Internationalen Sicherheitsunterstützungs-

(International Security Assistance Force, ISAF)

der NATO auf Grundlage der Resolution
1386 (2001) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 1943 (2010) vom 13. Ok-
tober 2010 des Sicherheitsrates der Verein-
ten Nationen

– Drucksachen 17/5190, 17/5251 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/5252 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Tierheime entlasten – Einheitliche Regelungen
schaffen

– Drucksachen 17/4851, 17/5198 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth (Quedlinburg)


Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 15, 20, 23, 26 und 33 g
werden abgesetzt. Der bisher bei Tagesordnungs-
punkt 24 zur Beratung vorgesehene Antrag soll ohne
Debatte überwiesen werden.

Ich möchte Sie noch auf folgende geplante Änderun-
gen des Ablaufs aufmerksam machen: Der Tagesord-
nungspunkt 28 wird schon heute im Anschluss an die





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Beratungen ohne Aussprache aufgerufen. Ebenso soll der
Tagesordnungspunkt 30 auf den heutigen Nachmittag
vorgezogen und nach dem Tagesordnungspunkt 6 behan-
delt werden. Dadurch rücken der Tagesordnungspunkt 7
und die übrigen Punkte der Koalitionsfraktionen jeweils
einen Platz nach hinten. Die Tagesordnungspunkte 8 und
32 werden getauscht. Der Tagesordnungspunkt 5 ver-
schiebt sich auf morgen und wird nach dem Tagesord-
nungspunkt 29 beraten. – Das haben Sie alle jetzt sicher
sofort neu sortiert. Falls Zweifel oder Unsicherheiten zu-
rückbleiben sollten, stehen Ihnen sowohl die Parlamen-
tarischen Geschäftsführer wie auch das Präsidium für
Auskünfte gern zur Verfügung.

Ich mache schließlich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzliste aufmerk-
sam:

Der am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgende
Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kultur
und Medien (22. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
sen werden:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-
Gemmeke, Volker Beck (Köln), weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Verbesserung des Schutzes personen-
bezogener Daten der Beschäftigten in der Pri-
vatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen

– Drucksache 17/4853 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien

Darf ich für alle diese vorgesehenen Änderungen Ihr
Einverständnis feststellen? – Das ist offensichtlich der
Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011
in Brüssel

Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1709900100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir im Rahmen dieser
Debatte über das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirt-
schafts- und Währungsunion beraten, das der heute be-
ginnende Europäische Rat beschließen wird, möchte ich
zunächst unseren Blick noch einmal auf die dramati-
schen Ereignisse in Japan und die Umbrüche im arabi-
schen Raum lenken. Seit einigen Wochen erleben wir in
zahlreichen Staaten der arabischen Welt tiefgreifende
Umwälzungen. Sie gründen in der Sehnsucht der Men-
schen nach Freiheit, nach politischer Selbstbestimmung.
Sie werden das Gesicht dieser Region verändern. Damit
werden sie auch das Gesicht der Welt verändern.

Die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder
vor der Universität in Sanaa demonstrieren, fordern Frei-
heit, sie fordern Demokratie, sie fordern soziale Gerech-
tigkeit, und sie fordern bessere Lebensbedingungen. Sie
wenden sich gegen Willkürherrschaft, Unterdrückung
und Korruption. Sie nehmen den Übergang zu einer
neuen Ordnung in ihre eigenen Hände. Dafür gebührt ih-
nen unser aller Respekt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Umwälzungen sind eine historische Chance für
die Menschen in der arabischen Welt, aber genauso auch
für uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb hat sich der
Europäische Rat am Freitag vor 14 Tagen mit diesem
Thema beschäftigt. Die Kommission hat Vorschläge für
eine neue Partnerschaft mit dieser Region vorgelegt.

Allerdings spüren wir gleichzeitig, wie fragil die Ent-
wicklungen sind und wie ungewiss ihr Ausgang ist. Wir
sehen das in Bahrain, in Jemen, in Syrien, in Algerien,
und wir sehen das natürlich noch viel gravierender in Li-
byen. Dort hat Gaddafi seinem eigenen Volk den Krieg
erklärt. Die in der vergangenen Woche im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1973
dient deshalb dem Ziel, diesem Krieg Gaddafis gegen
sein eigenes Volk Einhalt zu gebieten.

Die Bundesregierung hat sich, wie Sie wissen, bei der
Abstimmung über diese Resolution enthalten. Sie hat
sich enthalten, weil sie Bedenken hinsichtlich der militä-
rischen Umsetzung der Resolution hat. Deutschland ent-
sendet deshalb auch keine Soldaten der Bundeswehr.

Aber auch wenn das so ist, so gilt gleichzeitig: Die
Bundesregierung unterstützt die Ziele, die mit dieser Re-
solution verabschiedet wurden, uneingeschränkt. Sie hat
sich für diese Ziele von Anfang an eingesetzt. Deshalb
hoffen wir auf einen schnellen und vor allem nachhalti-
gen Erfolg, um diese Ziele zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir treten vor allen Din-
gen für stärkere wirtschaftliche Sanktionen ein. Ich spre-
che über dieses Thema, weil ich mich auf dem Rat in
Abstimmung mit allen Ministern – insbesondere natür-
lich mit dem Außenministerium – noch einmal für ein
umfassendes Ölembargo und weitreichende Handelsein-
schränkungen gegenüber Libyen einsetzen werde. Ich
hoffe, dass wir an diesem Punkt in der Europäischen
Union endlich auch eine gemeinschaftliche Haltung er-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

reichen. Dies sollte möglich sein. Kein Ölexport mehr
aus Libyen in ein europäisches Land, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Darüber hinaus ist es uns wichtig, humanitäre Hilfe
für Flüchtlinge aus Libyen zu leisten. Dazu gehört auch,
dass wir den Mitgliedstaaten, die außergewöhnlich stark
durch Migrationsströme belastet werden, solidarisch zur
Seite stehen. Wir kennen die Entwicklung der Zukunft
noch nicht. Ich will aber ganz deutlich sagen: Bürger-
kriegsflüchtlinge, wie wir sie eventuell aus Libyen zu er-
warten haben, sind Flüchtlinge, die unserer Solidarität
bedürfen. Flüchtlinge zum Beispiel aus Tunesien, wo die
Freiheit sich schon Bahn gebrochen hat, sind etwas an-
deres. Ich glaube, wir müssen hier deutlich unterschei-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, auch weil Deutschland
sich militärisch nicht an der Umsetzung der Resolution
1973 beteiligt, werden wir unsere NATO-Verbündeten
beim Einsatz von AWACS-Flugzeugen über Afghanistan
entlasten. Da ich an der morgigen zweiten und dritten
Lesung zum AWACS-Mandat wegen des zeitgleich statt-
findenden EU-Rates nicht teilnehmen kann, erlaube ich
mir, die Gelegenheit dieser Regierungserklärung zu nut-
zen, meine Haltung zu diesem Mandat vor diesem Haus
deutlich zu machen; denn darauf haben Sie einen An-
spruch.

Wir werden über den Beschluss der Bundesregierung
debattieren und abstimmen, bis zu 300 deutsche Solda-
ten für NATO-AWACS-Flüge zur Überwachung des af-
ghanischen Luftraums einzusetzen. Der Einsatz ist zeit-
lich befristet bis zum 31. Januar 2012. Die NATO-
AWACS-Flugzeuge leisten einen wichtigen Beitrag für
die Sicherheit ziviler und militärischer Flugbewegungen
im afghanischen Luftraum. Das AWACS-Mandat dient
dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in Afgha-
nistan sowie dem Schutz der afghanischen Bevölkerung.
Es folgt dem Gebot der Bündnissolidarität. Ich darf des-
halb bereits heute um Ihre Zustimmung bitten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, mindestens genauso sehr
bewegen uns die dramatischen Ereignisse in Japan. Sie
sind ein Einschnitt für die ganze Welt, ohne jeden Zwei-
fel. Auch in Deutschland und in Europa konnten wir
nach den Ereignissen in Japan nicht einfach zur Tages-
ordnung übergehen. Über die dazu notwendigen bisheri-
gen Entscheidungen der Bundesregierung haben wir am
vergangenen Donnerstag nach meiner Regierungserklä-
rung debattiert. Das ist heute nicht zu wiederholen.

Ich weise aber darauf hin, dass die Sicherheit der Kern-
energie auch Thema beim Rat der Staats- und Regierungs-
chefs sein wird. Deutschland hat dieses Thema angemel-
det; denn die Sicherheit der Kernkraftwerke innerhalb der
Europäischen Union geht alle Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union gleichermaßen an. Deshalb gehört dies
auf die Agenda unserer Beratungen. Ich werde die von
Kommissar Oettinger vorgeschlagene Durchführung von
freiwilligen Sicherheitsüberprüfungen, sogenannte Stress-
tests, für alle europäischen Kernkraftwerke unterstützen.
Ich werde darüber hinaus intensiv dafür werben, dass
auch unsere Nachbarländer außerhalb der Europäischen
Union solche Stresstests durchführen. Frankreich und
Deutschland werden zudem gemeinsam eine Initiative
der G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken
einbringen. Die zuständigen Minister werden dazu in
Kürze zu einer Konferenz zusammenkommen.

Das eigentlich zentrale Thema des morgigen Rates
werden aber die Beratung und Verabschiedung eines Ge-
samtpakets zur Stärkung der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion sein. Für mich ist dabei ganz wichtig: Der
Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion sind
Kernbereiche der europäischen Einigung. Sie sind un-
verzichtbar aus wirtschaftlichen wie aus politischen
Gründen. Deutschland profitiert vom Euro. Deutschland
profitiert vom Euro wie kaum ein anderes Land in der
Europäischen Union. Wir profitieren von der Preisstabi-
lität. Wir profitieren davon, dass wir beim Reisen keine
lästigen Umtauschgebühren mehr bezahlen müssen.

Unsere Wirtschaftsunternehmen, die vielfach stark ex-
portorientiert sind, profitieren von anderen Euro-Län-
dern, die wichtige Absatzmärkte für deutsche Waren sind.
Die nominalen Warenexporte Deutschlands in die Euro-
Zone haben sich zwischen 1999 und 2009 um 48 Prozent
erhöht. Durch entfallende Umtauschkosten werden in der
Euro-Zone rund 20 bis 25 Milliarden Euro jährlich einge-
spart. Dieses Geld kann an anderer Stelle investiert wer-
den.

Kurz gesagt: Der Euro sorgt für Arbeitsplätze, er
sorgt für Wirtschaftswachstum, er sorgt für Steuerein-
nahmen in Deutschland. Er ist eine stets stabile Währung
im Innen- wie im Außenwert, und zwar – das haben wir
erlebt – auch in Krisenzeiten. Wir haben eine stabile Ge-
meinschaftswährung, weil wir eine unabhängige Euro-
päische Zentralbank haben, die strikt dem Ziel der Si-
cherung der Preisstabilität verpflichtet ist. So steht es in
den Verträgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel härter uns die
internationale Finanz- und Bankenkrise 2008 getroffen
hätte, wenn wir nicht die gemeinsame Währung gehabt
hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, der Euro hat nicht nur einen
wirtschaftlichen Wert. Er ist weit mehr als eine verlässli-
che Währung. Er ist ökonomischer und politischer Aus-
druck unserer engen Verflechtung und Verbundenheit in
der Europäischen Union. Wir Mitglieder der Wirtschafts-
und Währungsunion bilden eine Verantwortungsgemein-
schaft. Jeder Einzelne von uns ist zu Eigenverantwortung
und Solidarität verpflichtet. An diesen Grundsätzen habe
ich, hat die ganze Bundesregierung im letzten Jahr ihr
Handeln ausgerichtet, als es um die Krisenbewältigung
auch innerhalb von Europa ging. An diesen Grundsätzen
orientiere ich mich jetzt und orientiert sich auch das Ge-
samtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungs-
union, das der Europäische Rat verabschieden wird.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Mit diesem Gesamtpaket ziehen wir die Lehren aus
der Schuldenkrise. Es ist ganz wichtig, noch einmal Fol-
gendes festzuhalten:

Erstens. Alles, was wir jetzt tun, ist Umgang mit den
Fehlern, die in der Vergangenheit aufgetreten sind – von
der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
unter Rot-Grün bis hin zu Ergebnissen innerhalb der
Banken- und Schuldenkrise. Es ist noch nicht die Umset-
zung der Lehren, die wir aus der Krise gezogen haben.

Zweitens. Wir bauen uns damit ein Rahmenwerk da-
für, dass die in der Vergangenheit aufgetretenen Fehler
nicht wieder passieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich verstehe natürlich, dass viele fragen – diese Dis-
kussionen führen wir auch hier im Parlament –: Was ist
eure Sicherheit, dass die Fehler, die in der Vergangenheit
aufgetreten sind und für die man angeblich auch das
richtige Rahmenwerk hatte, in der Zukunft nicht wieder
passieren?

Deshalb kann ich nur an uns alle appellieren: Das eine
ist das, was wir jetzt beschließen. Das andere ist die Be-
reitschaft, es dann auch wirklich einzuhalten und nicht
hier und dort irgendwelche politischen Begründungen
dafür zu finden, dass es jetzt gerade die Umstände nicht
erlauben. Das muss eine gemeinschaftliche Verpflich-
tung dieses Hohen Hauses sein, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seit Beginn der Schuldenkrise im Euro-Raum haben
wir immer wieder gefordert, dass neben allem notwendi-
gen Krisenmanagement auch über den Tag hinaus ge-
dacht werden muss. Vor allem müssen wir eine neue Sta-
bilitätskultur und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit
ins Zentrum unserer Bemühungen stellen; denn nur eine
höhere Wettbewerbsfähigkeit kann auf Dauer für das
Wachstum sorgen, das notwendig ist, um eine Perspek-
tive zum Abbau der Schulden zu schaffen.

Das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und
Währungsunion verfolgt deshalb drei Ziele: erstens mehr
Stabilität und Solidität, zweitens die Stärkung der Wett-
bewerbsfähigkeit und drittens ein ausgewogenes Ver-
hältnis von Eigenverantwortung und Solidarität. Damit
werden wir – davon bin ich überzeugt – die wirtschaftli-
che und politische Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und
Währungsunion stärken und erhöhen sowie nachhaltig
gestalten.

Zum ersten Ziel: Wir sorgen für mehr Stabilität und
Solidität. Dafür werden strengere Vorgaben eingeführt
und deren Einhaltung strikt überwacht. Das bezeichnen
wir als die Überarbeitung und Verschärfung des Stabili-
täts- und Wachstumspakts. Wir verschärfen ihn in der
Tat. Künftig riskieren Euro-Mitgliedstaaten auch dann
schon Sanktionen, wenn sie nicht die notwendigen
Schritte in Richtung eines ausgeglichenen Haushalts un-
ternehmen. Damit soll frühzeitig einem übermäßigen
Defizit entgegengesteuert werden.
Wir haben erreicht, dass Haushaltssünder bei Verlet-
zung der Maastricht-Defizitgrenze von 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts künftig früher und schneller be-
straft werden. Das ist die Stärkung des präventiven Arms
des Stabilitätspakts.

Außerdem wird ein neues Erfüllungskriterium in Zu-
kunft viel stärker berücksichtigt. Bis jetzt war schon
klar, dass es keine Verschuldung von mehr als 60 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts geben darf. Dieses Krite-
rium ist aber nie Gegenstand von Sanktionen gewesen.
Künftig müssen diejenigen mit Sanktionen rechnen, die
diesen Schuldenstand überschreiten. Davon ist im Übri-
gen auch Deutschland betroffen; denn unsere Gesamt-
verschuldung liegt über 60 Prozent des Bruttoinlands-
produkts. Der Abbau der Schulden muss nach den neuen
Regeln um ein Zwanzigstel, also 5 Prozent, des Brutto-
inlandsprodukts erfolgen. Dieser Aufgabe müssen auch
wir in der Bundesrepublik Deutschland uns stellen.

Dass wir diese Regelungen so streng gefasst haben
und dass kein einzelner Mitgliedstaat mehr dagegen op-
poniert, ist ein großer Fortschritt; denn von exorbitanten
Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten gehen große
Gefahren aus, und zwar nicht nur für das Land, sondern,
wie wir erlebt haben, für die Stabilität des Euros insge-
samt.

Des Weiteren – auch das ist neu – arbeiten wir an ei-
nem neuen Überwachungsverfahren, mit dem wir die
Entstehung schwerwiegender wirtschaftlicher Ungleich-
gewichte in Europa künftig vermeiden und notfalls ge-
gensteuern können. Die Fragen in diesem Bereich wer-
den sehr stark diskutiert, weil Ungleichgewichte
natürlich auf verschiedenen Ursachen beruhen können.
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben gegenüber
vielen europäischen Ländern Exportüberschüsse. Wenn
dies auf erhöhter Wettbewerbsfähigkeit beruht, darf
dies natürlich nicht zum Gegenstand von Klagen wer-
den – damit es da zu keiner Fehleinschätzung kommt –,
sondern muss begrüßt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Länder, die
sehr große Importüberschüsse haben; wir sprechen hier
vom asymmetrischen Ansatz. Hier muss aufgepasst wer-
den, ob sich nicht etwas andeutet, was langfristig oder
mittelfristig zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Er-
füllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts führt. Das
heißt: Wir minimieren weitere Risiken, die die Finanz-
stabilität Europas als Ganzes gefährden könnten. Auch
hier gilt: Künftig sind Sanktionen möglich, wenn ein
Mitgliedstaat die Empfehlungen missachtet.

Wir haben klargestellt, dass Handlungsbedarf vor al-
lem bei den Ländern mit Wettbewerbsschwächen be-
steht; denn Konvergenz in der Europäischen Union, ins-
besondere in der Euro-Zone, darf natürlich nicht
Annäherung an die Schwächeren sein, sondern muss im-
mer an den Stärkeren unter uns ausgerichtet sein, damit
Europa als Ganzes wettbewerbsfähig bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Schließlich werden die ordentliche Haushaltsführung
durch mehr Solidität und Verlässlichkeit der Statistiken
in Zukunft verpflichtend vorgeschrieben, damit die Er-
gebnisse, die wir haben, wirklich vergleichbar sind.
Auch das ist ein wichtiger Faktor. Wenn wir einmal an
die griechischen Zahlen, die Eurostat gemeldet wurden,
und an die Berichtigung der Zahlen zu den Defiziten
denken, so wissen wir, wovon wir sprechen.

Es ist ein großer Erfolg, dass jetzt alle Mitgliedstaaten
zu größeren Anstrengungen bereit sind. Die Richtlinien
sind von der Kommission vorgelegt; sie werden im Eu-
ropäischen Parlament und im Rat beraten und werden
natürlich auch hier im Deutschen Bundestag Gegenstand
von Beratungen sein.

Zweitens. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Da-
für verpflichten wir uns zu Strukturreformen und zur en-
geren Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken. Für
die dauerhafte Stabilisierung des Euros sind die Reform-
anstrengungen in den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten
von entscheidender Bedeutung. Alle Euro-Staaten – ich
beziehe Deutschland ausdrücklich mit ein – müssen mehr
tun, um wettbewerbsfähiger zu werden. Ich möchte an
dieser Stelle dem Ratspräsidenten Herman Van Rompuy
ausdrücklich danken, dass er gemeinsam mit dem Kom-
missionspräsidenten José Manuel Barroso die Verhand-
lungen über den Pakt für den Euro geführt hat.

Es ist gelungen, auch etliche Nicht-Euro-Staaten für
unseren Pakt zu gewinnen. Polen und Dänemark haben
ihre Unterstützung bereits öffentlich bekannt gegeben;
ich halte das für ein gutes Zeichen. Mir war die Öffnung
dieses Paktes für alle besonders wichtig; denn das Ziel
muss sein, dass möglichst viele Länder der Europäischen
Union der gemeinsamen Währung, dem Euro, beitreten.
Je mehr Mitgliedstaaten sich dem Pakt anschließen,
umso größer sind natürlich die gemeinschaftlichen Im-
pulse für den Binnenmarkt.

Bei diesem Pakt geht es ausschließlich um nationale
Zuständigkeiten. Deshalb werden die Verpflichtungen
im Rahmen dieses Paktes natürlich ausführlich hier im
Deutschen Bundestag debattiert. Das Europäische Parla-
ment wird informiert; das ist klar; denn es ist eine Insti-
tution der Europäischen Union. Wir arbeiten und koordi-
nieren uns aber in einem Bereich, der nationale
Zuständigkeiten umfasst. Das heißt also, der Pakt setzt
auf die direkte Verantwortlichkeit der Staats- und Regie-
rungschefs, die sich in Zukunft persönlich zu Strukturre-
formen verpflichten und für die nationale Umsetzung
sorgen müssen. Es versteht sich von selbst, dass dies der
Unterstützung des jeweiligen Parlaments, in diesem Fall
des Deutschen Bundestags und seiner Mehrheit, bedarf.
Das heißt, das wird Gegenstand intensiver Diskussionen
unter uns sein.

Wir machen damit die Erhöhung der Wettbewerbsfä-
higkeit zur Chefsache. Wir orientieren uns nicht an den
Schwächsten, sondern an den Besten, und zwar nicht nur
innerhalb Europas. Die ausdrückliche Verpflichtung ist
vielmehr, sich auch an unseren strategischen Partnern,
das heißt, an den Besten der Welt zu orientieren. Meine
Damen und Herren, wir könnten natürlich Stabilität des
Euros und Solidarität im Euro-Raum erreichen und
gleichzeitig den Abstand zur Weltspitze immer größer
werden lassen. Das ist nicht unser Ziel. Wohlstand für
die Menschen, Arbeitsplätze für die Menschen in
Deutschland werden nur erreichbar sein, wenn wir in
Europa an der Spitze der Welt dabei sind; das ist die
simple, aber unabdingbare Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Pakt nennt objektive Indikatoren. Die Kommis-
sion wird die Überwachung dieses Paktes vornehmen.

Wir müssen eines sehen: Deutschland ist beileibe nicht
überall und in allen Bereichen schon bei den Besten da-
bei. Auch wir müssen uns anstrengen. Deshalb haben wir
ein Aktionsprogramm dem Parlament vorgelegt, das un-
ter anderem die Ankündigung enthält, dass Deutschland
schon früher die vorgegebenen Neuverschuldungsgren-
zen erreichen wird. Zudem wird der Bund in diesem und
im nächsten Jahr weniger neue Schulden machen, als es
die Schuldenregel des Grundgesetzes vorsieht.

Wir wollen die regulierten Bereiche der Wirtschaft,
zum Beispiel im Busfernlinienverkehr, öffnen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh, das ist ja riesig! Ein Wachstumsprogramm!)


– Passen Sie auf. Schauen Sie: Die Wahrheit ist immer
konkret.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD)


– Ich hatte nicht die Absicht, gleich die gesamte deut-
sche Handwerksordnung abzuschaffen. Wenn Sie das
wollen, kann das Herr Steinbrück gleich mitteilen.


(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Das wäre etwas weitergehend, aber wir halten das nicht
für gegeben. Wir machen das, was wir sagen: Schritt für
Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


Dann schauen Sie sich einmal an, wie das aussieht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Busverkehr! Trittbrettfahrer! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Bus gegen die internationale Finanzkrise!)


– Herr Trittin, Sie wissen genau – eigentlich ist es bedau-
erlich –, wie Wettbewerbsverzerrungen zum Beispiel da-
von abhängen, ob ein Land seinen Eisenbahnverkehr für
den internationalen Wettbewerb öffnet.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)


Wir können darüber sehr viel reden: Mal sind es die
Eisenbahnen, mal sind es die Busse, dann ist es der ge-
meinsame europäische Flugraum. Genau um diese
Dinge geht es bei der Frage, ob sich Europa seinen
Wachstumsfragen widmet oder nicht.

Aber, meine Damen und Herren, ich werde lieber auf
weitere Beispiele verzichten, weil es große Teile dieses
Hauses nicht interessiert.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wandel mit Busverkehr!)


Die Koalitionsfraktionen werden dann natürlich gern in-
formiert.


(Lachen bei der SPD)


– Sie können ganz unbeteiligt und erfreut, wie kleinteilig
das im Konkreten wird, über diese Dinge hinwegsehen.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich kümmere mich lieber
um die wachsende Wettbewerbsfähigkeit Europas, als
dass ich dauernd Rettungsprogramme für andere Länder
machen muss. Wir setzen darauf, dass Europa insgesamt
besser wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie können sich dann ja um andere Dinge kümmern.

Ich komme nun zum dritten Ziel. Wir sorgen für ein
ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und
Solidarität. Dafür schaffen wir neben der heute bestehen-
den Fazilität, der EFSF, einen dauerhaften Stabilitätsme-
chanismus.

Wir haben bereits früh im letzten Jahr gefordert, dass
der Mechanismus einer verlässlichen rechtlichen Grund-
lage bedarf. Nachdem der Bundestag die notwendige
Vertragsänderung unterstützt hat, kann ich morgen beim
Europäischen Rat dem einstimmigen Beschluss zur ver-
einfachten Änderung von Art. 136 AEUV zustimmen.
Anschließend muss dies natürlich national ratifiziert
werden: bei uns mit Zustimmung des Bundestages und
des Bundesrates.

Die neue Vertragsbestimmung stellt auf unser Drän-
gen hin klar, dass der Mechanismus nur dann aktiviert
wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des
Euros als Ganzes zu wahren. Es handelt sich also um
eine sogenannte Ultima-Ratio-Klausel. Sie schafft die
gerade für Deutschland unabdingbare Rechtssicherheit
für den neuen Mechanismus und erfüllt damit den Geist
der Verträge.

Gegen große Widerstände hat Deutschland außerdem
durchgesetzt, dass auch die folgenden wichtigen Krite-
rien bei der Konstruktion des dauerhaften europäischen
Stabilitätsmechanismus eingehalten werden:

Erstens. Kredite des Mechanismus können nur als
letztes Mittel vergeben werden, nachdem die Kommis-
sion und der IWF in Verbindung mit der EZB die Schul-
dentragfähigkeit des Antragstellers untersucht haben.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es darf sich nur um Li-
quiditätsprobleme handeln.

Zweitens. Die Vergabe wird durch einstimmigen Be-
schluss entschieden. Das heißt, jeder Mitgliedstaat hat
sein Stimmrecht in jedem einzelnen Fall. Voraussetzung
ist immer, dass sich das entsprechende Euro-Mitglied zu
harten Eigenanstrengungen im Rahmen der Programm-
auflagen verpflichtet.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Meine Damen und Herren, wenn ich in den Februar
des vergangenen Jahres zurückblicke – damals haben
wir uns viel über die Frage gestritten, wann Griechen-
land Unterstützung bekommen kann –, sage ich: Wir ha-
ben die Prinzipien jetzt richtig vereinbart.

Für uns war von Anfang an klar – das hat sich be-
währt und ist im Zuge der Beratungen jetzt die gemein-
same Meinung aller –: Solidarität gibt es nur bei entspre-
chender Eigenanstrengung des einzelnen Landes, weil
die Euro-Zone nur dann harmonisch zusammenhalten
kann, wenn sich alle Länder auf ein gemeinsames Ni-
veau verständigen.

Dazu bedarf es vieler Reformen in den einzelnen Län-
dern. Das war nicht unumstritten, genauso wenig wie die
Frage, ob der IWF daran beteiligt wird, und vieles an-
dere mehr. Heute nimmt das jeder als gegeben hin. Ich
sage Ihnen: Es war richtig, dafür gekämpft zu haben,
weil diese Prinzipien innerhalb der Euro-Zone allgemein
gelten müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Europäische Stabilitätsmechanismus wird mit ei-
ner effektiven Darlehenskapazität von 500 Milliarden
Euro ausgestattet. Sie wissen, dass wir diese Ausstattung
im Rahmen eines AAA-Ratings wollen. Der Europäi-
sche Stabilitätsmechanismus bildet damit ein tragfähiges
Rettungsnetz für den äußersten Notfall. Er setzt sich zu-
sammen aus Kapital und Garantien. Die Summe des Ka-
pitals wird 80 Milliarden Euro betragen. In den Beratun-
gen werde ich noch einmal darauf drängen, dass der
Aufbau dieses Kapitalstocks über fünf Jahre verteilt
wird, also in mehreren Zeitschritten abläuft, beginnend
ab 2013.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über mehrere Legislaturperioden, meinen Sie!)


– Nun brauchen Sie nicht gleich wieder dazwischenzu-
schreien. Wir halten das so für richtig.

Ich bedanke mich bei den Finanzministern dafür, dass
sie das, was im Zusammenhang mit diesem Mechanis-
mus zu klären war, weitestgehend geklärt haben, sodass
wir im Europäischen Rat nur noch ganz wenige Fragen
zu besprechen haben. Das ist sehr gut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Haftung Deutschlands ist nach oben begrenzt.
Die Finanzierung des Mechanismus wird von den teil-
nehmenden Mitgliedstaaten anteilig gewährleistet, wo-
bei es im Grundsatz bei dem schon bisher verwendeten
EZB-Kapitalanteilschlüssel bleibt. Er wird lediglich
temporär geringfügig angepasst, um eine überproportio-
nale Belastung einiger Mitgliedstaaten zu verhindern.
Ich sage ganz klar: Mit der christlich-liberalen Koalition
wird es keine Vergemeinschaftung von Schulden geben.
Die wird es nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt es aber nicht mehr lange!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Aus genau diesem Grund lehnen wir auch die Einfüh-
rung von Euro-Bonds ab. Denn dies wäre die Verge-
meinschaftung von Schulden und der Einstieg in eine ge-
samtschuldnerische Haftung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wer solche Forderungen stellt, handelt nicht im Interesse
der deutschen Steuerzahler. Davon bin ich zutiefst über-
zeugt. Es geht aber nicht nur um die deutschen Steuer-
zahler. Ich bin dem Präsidenten der Europäischen Zen-
tralbank, Jean-Claude Trichet, sehr dankbar, der am
Montag in Brüssel noch einmal bekräftigt hat, dass mit
Euro-Bonds die Anreize für eine solide Haushaltspolitik
leiden. Genau das darf nicht passieren. Das heißt, dass es
nicht nur im Interesse des deutschen Steuerzahlers – was
schon wichtig ist –, sondern auch im Interesse Europas
ist, dass wir dies nicht machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es wird also weder regelmäßige noch dauerhafte
Transferleistungen geben. Zur dauerhaften Bewältigung
der Herausforderung ist vielmehr ein konsequenter Kon-
solidierungs- und Reformweg unerlässlich. Dafür setzen
wir uns ein. Wie schwierig das ist, haben wir am gestrigen
Tag erlebt. Die portugiesische Regierung hatte uns auf
dem Treffen der Euro-Gruppe ein umfassendes Reform-
programm für die Jahre 2011, 2012 und 2013 vorgelegt.
Dieses Programm hat die Zustimmung der Europäischen
Kommission und der Europäischen Zentralbank gefun-
den. Wir haben dem portugiesischen Premierminister
Sócrates dafür – das will ich auch heute noch einmal
tun– bei dem Treffen der Euro-Gruppe unsere Hochach-
tung ausgesprochen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sagen Sie das einmal Ihren Parteifreunden in Lissabon! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist Ihnen nur vorangegangen, Frau Bundeskanzlerin!)


– Das ist schon geschehen. Da brauchen Sie sich gar
nicht so aufzuregen. Das ist alles schon passiert. Ich
hoffe sowieso, dass wir nicht in so eine Lage kommen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, Sie kommen in so eine Lage! – Zuruf von der SPD)


– Mein Gott, wie kleinkariert sind Sie? Also wirklich,
Mannomann!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier geht es um die Frage, ob die Finanzstabilität des
Euro als Ganzes erhalten werden kann, und darum, dass
ein Premierminister – dabei ist es mir egal, ob er zu einer
sozialdemokratischen, einer christdemokratischen oder
sonst einer Partei gehört – Verantwortung gezeigt hat.
Dafür war ich dankbar. Es ist bedauerlich, dass es nicht
gelungen ist, dafür eine parlamentarische Mehrheit zu
bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Beklagen Sie sich bitte nicht darüber, dass wir uns dann
hier noch einmal mit den Folgen dieser Sache auseinan-
dersetzen müssen. Ich sage nur, dass es ein richtiger und
mutiger Schritt war und dass es auch zeigt, wie viel poli-
tischen Mutes es bedarf, wenn die Dinge in der Vergan-
genheit nicht richtig gelaufen sind.

Wir machen uns – um zum permanenten Stabilitäts-
mechanismus zurückzukommen – stark – das wird Teil
des Mechanismus sein – für die Beteiligung privater
Gläubiger. Dies ist ein immer wieder diskutierter Faktor.
Ich glaube, es ist absolut richtig, zu sagen: Ab 2013
muss im Falle der nicht gegebenen Solvenz eines Staates
die Beteiligung privater Gläubiger verpflichtend sein.
Das haben wir gegen viele Widerstände durchgesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage ausdrücklich: Das, was von einer Seite dieses
Hauses immer als Isolierung oder Alleinstehen Deutsch-
lands betrachtet wurde, ist notwendig gewesen, damit
wir zu einer vernünftigen Ordnung kommen; denn Sie
sehen an den Märkten ganz deutlich, dass die Beteili-
gung privater Gläubiger eine notwendige Voraussetzung
ist, um manche Probleme zu bewältigen. Auf jeden Fall
haben wir in der Zukunft dieses Instrumentarium zur
Verfügung. Das wird ein immanenter Bestandteil dieses
neuen Mechanismus sein.

Für mich gilt weiterhin der Grundsatz, den ich auch
am 15. Dezember in diesem Haus genannt habe: Nie-
mand in Europa wird allein gelassen. Niemand wird fal-
len gelassen; denn Europa gelingt nur gemeinsam.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keiner soll einsam sein!)


Aber dies bedarf natürlich gemeinsamer Anstrengungen,
also eines vernünftigen Verhältnisses von Eigenanstren-
gung und Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich kann Ihnen sagen – so weit sind wir in den Ge-
sprächen mit Irland noch nicht –, dass zum Beispiel
Griechenland beim Treffen der Chefs der Euro-Zone am
11. März überzeugend die Fortsetzung der Strukturrefor-
men dargelegt sowie ein 50 Milliarden Euro umfassen-
des Privatisierungsprogramm angekündigt hat.

Dass die übrigen Euro-Mitgliedstaaten bereit sind, so-
lidarisch zu handeln, haben wir mit unserem Beschluss
zum derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirm am
11. März 2011 deutlich gemacht. Im Falle Griechenlands
sind wir zu einer bestimmten Zinssenkung bereit.

Wir werden auch sicherstellen, dass das im Mai 2010
beschlossene Volumen des Euro-Rettungsschirms von
440 Milliarden Euro im Notfall effektiv zur Verfügung
gestellt werden kann. Dies wird allgemein erwartet.
Auch hier zeigen wir konkrete Solidarität und Verant-
wortung.

Ich bin überzeugt: Mit dieser Gesamtstrategie zur
Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion wird das
Jahr 2011 für den Euro und für die Europäische Union
zum Jahr des Vertrauens.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herbst der Entscheidung! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber nicht mit dieser Regierung!)


– Sie möchten also nicht, dass dieses Jahr zum Jahr des
Vertrauens wird. Es ist interessant, dies festzuhalten. Wir
wollen das. Ich glaube, das ist sehr wichtig und richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich würde an Ihrer Stelle, auch wenn es schwerfällt, in
diesen europäischen Angelegenheiten einmal die Kraft
aufbringen, ein kleines bisschen über den Tellerrand zu
gucken. Dies würde Europa wirklich guttun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sind Sie denn heute so nervös?)


Sie erheben sich hier über die portugiesische Opposition
und sind nicht einmal bei Sachen, bei denen Sie gar
nichts zu entscheiden haben, bereit, eine ernsthafte De-
batte zu führen. Das ist schon beachtlich, muss ich sa-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stand schon in der Bild-Zeitung!)


Es geht um die dauerhafte Stabilität des Euro. Wir
machen den Euro und Europa zukunftsfähig. Wir brin-
gen Eigenverantwortung und Solidarität in ein ausgewo-
genes Verhältnis. Wir füllen somit – das ist das Eigentli-
che, das jetzt passiert – eine Lücke in der Konstruktion
der Wirtschafts- und Währungsunion, die in ihrem gan-
zen Ausmaß erst im letzten Jahr offenbar geworden ist.
Damit stärken wir die politische und die wirtschaftliche
Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion;
denn nur ein stabiles und wettbewerbsstarkes Europa hat
Gewicht in der Welt.

Die Stärkung der Europäischen Union und ihrer ge-
meinsamen Währung ist eine zentrale Aufgabe unserer
Zeit. Die Bundesregierung setzt alles daran, diese zen-
trale Aufgabe so zu lösen, dass die Europäische Union
insgesamt und damit alle Bürgerinnen und Bürger der
Europäischen Union eine gute Zukunft haben. Für die-
sen Weg bitte ich den Deutschen Bundestag um Unter-
stützung, weil er aus meiner Sicht ein notwendiger Weg
ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709900200

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst

der Kollege Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1709900300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie müssen nicht ganz so an-
gefressen reagieren, wenn es zu einem gewissen Rumo-
ren – und nicht nur zu einem Stillhalten – auf einigen
Oppositionsbänken kommt, wenn Sie Einlassungen wie
„Jahr des Vertrauens“ von sich geben. Ein Teil dieses
Parlaments empfindet das als eine Wortblase und darf
dies auch zum Ausdruck bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das betrifft auch die Begrifflichkeit „Herbst der Ent-
scheidungen“. Nicht alle Parlamentarier müssen stillhal-
ten, wenn Sie solche Begriffe in Ihre Rede einspannen.

Die Europäische Union, um nicht zu sagen: ganz Eu-
ropa, befindet sich unbenommen der dramatischen und
erschütternden Ereignisse um uns herum an einem
Scheideweg. Ob Deutschland in und mit Europa am
Ende dieses Jahrzehnts noch eine führende Wohlstands-
region in der Welt ist, ob Europa und Deutschland noch
zu den führenden, einflussreichen, sich dynamisch ent-
wickelnden Regionen gehören und ob Europa seine Zivi-
lisation behalten bzw. behaupten kann, gegebenenfalls
sogar zum Vorbild für die Bürger aufstrebender Länder
machen kann, all das entscheidet sich maßgeblich bei
der Bewältigung der Krise, die uns seit Mitte 2007 in der
Klammer hält und inzwischen ganze Nationalstaaten in
den Schraubstock genommen hat. Schreitet die europäi-
sche Einigung voran, oder zerfällt sie mit der Folge einer
Renationalisierung, und zwar nicht nur einer Renationa-
lisierung von Währungen? Auf dieser Flughöhe müssen
wir, denke ich, die Debatte führen und nicht in den Nie-
derungen kleinlicher nationaler Egoismen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um die Frage, welche Bedeutung und welchen
Einfluss Europa zukünftig in einer sich rasant verändern-
den Welt hat. Ich will zu Beginn konzedieren, Frau Bun-
deskanzlerin, dass das heute und morgen im Europäi-
schen Rat zur Abstimmung anstehende Paket keine
kleinkarierte oder von oppositionellen Reflexen geprägte
Kritik verdient. Dieses Paket ist notwendig. Es ist aber
in mancherlei Hinsicht, wie ich glaube, nicht hinrei-
chend – ich komme darauf zurück –, und es wird aller-
dings sehr spät versendet. Es hat sehr lange gedauert, bis
in Teilen Ihrer Regierung, Ihrer Koalition die Einsicht
nachvollzogen wurde, dass aus einem Stolpern von Fall
zu Fall ein umfassender Ansatz gefunden werden muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Erkenntnis ist offenbar um die Jahreswende ge-
reift; denn in seiner Antwort auf Ihre Regierungserklä-
rung vom 15. Dezember 2010 hat Ihnen Frank-Walter
Steinmeier völlig zu Recht vorgehalten, dass die Zeit des
Durchmogelns vorbei ist.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf der Wegstrecke
seit Ausbruch der Griechenland-Krise erstaunlich viele
– zu viele – Volten und Pirouetten gedreht. Ihr Satz eben
in der Regierungserklärung: „Wir machen, was wir sa-
gen“ klingt vor dem Hintergrund der Volten, die diese
Regierung geschlagen hat, sehr nach Kabarett.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)

Diese Volten hätte man sportlich nennen können,
wenn sie denn nicht Glaubwürdigkeit gekostet hätten
und wenn sie nicht die Märkte maßgeblich irritiert und
eine Reihe, wenn nicht sogar viele, europäische Partner-
länder verstört hätten.

Es hieß zunächst: Es gibt keine Haushaltsmittel für
Griechenland. – Ich kann mich erinnern, wie Sie auf der
Welle gesurft sind, auf der Sie als eiserne Kanzlerin stili-
siert worden sind. Anschließend wurde diese Position
der Bundesregierung natürlich geräumt. Dann wurde der
laufende Rettungsschirm – die Abkürzung ist EFSF – in
einem dramatischen Umfeld im Mai 2010 verabschiedet,
aber die Bundesregierung hinterlegte, dass er nicht in
Anspruch genommen werden müsse, der Ernstfall stehe
nicht bevor. Das war alles andere als ein klares Signal an
die Märkte.

Dann beruhigten Sie die innenpolitischen Gemüter
und auch die innerparteilichen Heißsporne mit der An-
sage, dass dieser Rettungsschirm gar nicht in Anspruch
genommen werden müsse und bis 2013 zeitlich limitiert
sei. Ich habe folgendes Zitat von Ihnen in Erinnerung,
das lautet: Ich sage ganz klar, dass es eine Verlängerung
des Hilfsfonds nicht geben wird.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Wenn Sie sagen: „Es ist etwas ganz klar“, dann gehen
bei mir inzwischen die Warnblinkanlagen an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann traten Sie völlig berechtigt für automatisierte
Sanktionsmechanismen ein und gaben diese auf einem
denkwürdigen Spaziergang entlang der französischen
Kanalküste in Deauville auf. So wurde in einer Art
Orwell’scher Sprachverdrehung aus einem automatisier-
ten Sanktionsmechanismus ein quasi-automatischer.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Diese Wortschöpfung täuscht darüber hinweg, dass ein
sanktionsbewehrtes Defizitverfahren jetzt nur noch mög-
lich ist, wenn es vorher eine politische Entscheidung
gibt. Es läuft ein Automatismus ab, der durch eine quali-
fizierte Mehrheit allerdings wieder ausgehebelt werden
kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ja! Oder wollen Sie die Mitgliedstaaten entmachten?)

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1709900400

Dann traten Sie vehement für eine Gläubigerhaftung
ein, wie auch eben in Ihrer Regierungserklärung. Ich zi-
tiere aus einem Zeitungsartikel, in dem es heißt, sie, die
Bundeskanzlerin, werde kein Schlaraffenland für Banken
erlauben, in dem das Risiko zu 100 Prozent beim Steuer-
zahler abgegeben wird. Herr Schäuble sagte – ebenfalls
bemerkenswert –: Es kann nicht sein, dass Chancen von
den Investoren und Krisen von den Steuerzahlern getra-
gen werden. – Hört, hört! Gut gebrüllt! Aber was sind
die Fakten?

Eine Gläubigerhaftung soll es im Rahmen des perma-
nenten Rettungsschirmes ab 2013 geben – richtig, aber
nur im Insolvenzfall, nicht bereits bei Liquiditätsproble-
men. Das ist ein eminenter Unterschied. Dass ein solcher
Fall der Zahlungsunfähigkeit eintreten kann, bezweifeln
die europäischen Finanzminister im Übrigen selber. Sie
reden in einem Kommuniqué von dem unerwarteten
Fall, dass ein Land zahlungsunfähig wird. Aber wenn
der Insolvenzfall quasi ausgeschlossen wird, dann gibt
es ergo doch auch keine Gläubigerhaftung. Oder gibt es
da eine spezifische christdemokratische Logik?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nicht genug der Volten! Sie wollten lange Zeit – wie
ich behaupte: aus guten Gründen – keine Wirtschaftsre-
gierung der 17 Euro-Länder haben. Dann sind Sie wie
Zieten aus dem Busch mit der Befürwortung einer Wirt-
schaftsregierung der 17 Euro-Staaten gekommen. Es ist
in diesem Parlament inzwischen übrigens eine ganz
merkwürdige Konstellation festzustellen: Die Markt-
wirtschaftler, die das Prinzip hochhalten, dass Haftung
und Risiko zusammenfallen und Anleger haften müssen,
wenn ein Land seine Schulden nicht mehr bedienen
kann, sitzen eher auf den Bänken der Sozialdemokratie
und, wie ich vermute, auch der Grünen,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


während Vertreter einer Art des Neosozialismus, der fak-
tisch bedeutet, dass Kreditausfälle zulasten der Steuer-
zahler sozialisiert werden, eher in dem anderen Spek-
trum des Hohen Hauses zu finden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eine Büttenrede ist das!)


Die beiden Rettungsschirme, der laufende und der
permanente, sollten nicht aufgestockt werden


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie könnten in der „Distel“ auftreten!)


– Herr Kauder, ich danke Ihnen für die Ermunterung; sie
wird mich beflügeln –,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


jedenfalls nicht unter deutscher Beteiligung; so hieß es.
Sie haben heute dargestellt, dass es selbstverständlich
unter deutscher Beteiligung zu einer Ausweitung unserer
Bürgschaftsposition und zu Kapitaleinlagen kommt. All
dies wird heute oder morgen beschlossen. Vor dem Hin-
tergrund dieser Volten erinnere ich daran, was Sie eben
gesagt haben: Wir, die Regierung, machen, was wir sa-
gen. – Tatsächlich?


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie, Frau Merkel, haben sich zusammen mit Vertre-
tern der Koalitionsfraktionen durch Tabuisierungen und
Ideologisierungen, bezogen auf Transferunion, Haf-
tungsgemeinschaft, Euro-Anleihen und Fiskalunion, ein-
gemauert. Im Übrigen: Das, was jetzt beschlossen wird,
ist eine reine Umetikettierung dessen, was sich eigent-

(B)






Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)

lich hinter diesen Begriffen verbirgt. Denn wir haben
längst eine Transferunion,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


gar nicht einmal bezogen auf das, was seit den Römi-
schen Verträgen 1957 verabredet worden ist, noch nicht
einmal bezogen auf den Kohäsionsfonds und die Struk-
turfonds. Vielmehr haben wir es mit Blick auf die Kri-
senbewältigung längst mit einem Transfer von Liquidität
und Bonität von solventen europäischen Ländern zu not-
leidenden Ländern zu tun. Es ist ein Faktum.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Das ist aber keine Transferunion! Das ist etwas anderes!)


Sie haben sich durch die Tabuisierung und Ideologi-
sierung dieser Begriffe eingemauert: im Hinblick auf
Vorschläge, die zu einer adäquaten Problemlösung bei-
tragen könnten, und auch im Hinblick auf andere euro-
päische Partnerländer. Ihre Politik, Frau Merkel, hätte
schneller sein müssen, als es die Märkte erwarteten. Sie
hätten schneller, als es die Märkte erwarteten, Lösungen
finden und umsetzen müssen. Das hätte die Märkte beru-
higt. Ihre diversen Volten sind nicht mehr mit der Me-
thode „Versuch, Irrtum und Erkenntnisgewinn“ zu recht-
fertigen. Sie haben versäumt, den Märkten ein klares
Signal zu geben. Die Märkte wussten angesichts der
Rückzieher, der Volten, der Widersprüche dieser Koali-
tionsregierung nie genau, woran sie mit ihr waren.


(Thomas Oppermann [SPD]: So ist es!)


Insofern ist die Krise in der Euro-Zone auch eine Füh-
rungs- und Glaubwürdigkeitskrise.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange eine Füh-
rungsrolle verweigert und nationale Befindlichkeiten in
den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen gestellt. In dieser
Führungskrise ist übrigens die Europäische Zentralbank
sozusagen als Ausputzer für eine nicht handlungsfähige
Politik in die Situation gedrängt worden, Staatsanleihen
aufzukaufen, was wir heute beklagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erstens. Die deutsche Unentschlossenheit über lange
Zeit trug zu einer langen europäischen Entschlusslosig-
keit bei und lud damit die Märkte zu Testläufen gegen
einzelne Mitgliedstaaten ein. Das Abwarten, das allen-
falls begrenzt und mit erheblichen Kollateralschäden den
Vorteil hätte bringen können, dass die deutsche Stabili-
tätskultur vielleicht auf andere Länder hätte übertragen
werden können, hat auf der anderen Seite die Kosten
dieser Rettungsaktion gesteigert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Zweiten haben das Gewicht Deutschlands und
die Anerkennung unseres Wirkens für Europa, wenn
man so will: unsere politische Bonität als Deutsche,
spürbar abgenommen. Jeder, der das Ohr auf der Schiene
der europäischen Magistralen hat, weiß, wovon ich rede.
Das war vor Ausbruch der Griechenland-Krise in unse-
rer gemeinsamen Regierungszeit anders.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zum Dritten haben Sie gegenüber dem Publikum und
den Bürgern nicht fest und überzeugend kommuniziert.
Sie hätten erklären müssen, dass Deutschland Europa
braucht und dass es unserem Land immer nur so gut ge-
hen kann, wie es den anderen Ländern um uns herum gut
geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie hätten deutlicher und klarer erklären müssen, dass
und warum es in einem originären deutschen Interesse
liegt, einen Beitrag zur Förderung der Stabilität der
Euro-Zone und zur weiteren Integration Europas zu leis-
ten. Es war von vornherein klar, dass dieser Beitrag et-
was kosten würde und wir auf kleinliche nationale egois-
tische Vorteile zu verzichten hätten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es war von vornherein klar, Frau Merkel, dass die Auf-
stockung der beiden Rettungsschirme auf ihren Nenn-
wert etwas kosten würde,


(Zuruf von der FDP: Blankoscheck!)


und Herr Schäuble hat es von Anfang an gewusst.

Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange den Ein-
druck vermittelt, dass Solidaritätsleistungen für Europa
und die Übernahme von Risiken auch auf deutsche
Schultern eine Art Gnadenakt sei, der uns in Europa ab-
gerungen werden müsste. Wenn wir für den Aufbau Ost
bisher ungefähr 100 Prozent einer Jahreswirtschaftsleis-
tung vor der Wiedervereinigung aufgebracht und trans-
feriert haben, dann ist uns Europa nicht 10 Prozent wert?
Das, Frau Bundeskanzlerin, hätten Sie kommunizieren
müssen, statt den Sprachverklemmungen und Tabuisie-
rungen zu folgen, die – nicht aktiv von Ihnen betrieben;
das konzediere ich gerne – indirekt auch Raum für anti-
europäische Ressentiments gegeben haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Oh, finster!)


Das im Europäischen Rat jetzt anstehende Paket ist
richtig. Es ist notwendig. Es ist aber nicht hinreichend,
weil einige auf die Ursachen der Krise zielende Punkte
nicht aufgegriffen werden.

Ihr Paket für Wettbewerbsfähigkeit, Frau Merkel, ist
ebenfalls prinzipiell richtig, vermittelte aber lange den
Eindruck, dass es auch eine innenpolitische und inner-
parteiliche Funktion hatte, indem das Gelände planiert
werden sollte, auf dem der bereits absehbare Rückzug
von den unhaltbaren Bedingungen zu den beiden Ret-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)

tungsschirmen letztlich ohne Meuterei in den eigenen
Reihen gelingen sollte.

Solche Manöver kosten Glaubwürdigkeit, eines der
wichtigsten politischen Pfunde, auch im Verhältnis zu eu-
ropäischen Partnern. Dieses Pfund entgleitet Ihnen zuse-
hends: in der Personalie des Herrn zu Guttenberg, weil
Sie bürgerliche Tugenden hintangestellt haben; im Falle
der Kernenergie, weil Ihr Verständnis von einer Brücken-
technologie und von einem Ausstieg mit Augenmaß of-
fensichtlich mit einem Deal über eine Laufzeitverlänge-
rung von Kernkraftwerken bis möglichweise 2050 und
einer Kürzung von Haushaltsmitteln für alternative Ener-
gieversorgungsstrategien kollidiert; und auch im Fall des
UN-Mandats für eine Flugverbotszone über Libyen, weil
Sie als Oppositionsführerin seinerzeit die Regierung von
Gerhard Schröder und Joschka Fischer massiv für eine
Isolierung im Bündnissystem kritisiert haben, in die Sie
sich nun aber selbst durch das deutsche Abstimmungs-
verhalten im UN-Sicherheitsrat gebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Absurd!)


Wenn ich auf eine Detailkritik an dem Paket ver-
zichte, so bedeutet das nicht, dass dies bereits hinrei-
chend ist. Ich möchte dazu fünf oder sechs einzelne
Punkte anführen.

Erstens. Wer bezahlt die Schulden überschuldeter
Staaten, die Gläubiger oder die Steuerzahler? Ich halte
eine Gläubigerhaftung bereits im Illiquiditätsfall, nicht
erst im Insolvenzfall für dringend erforderlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Was passiert mit Staaten, die unter ihrer
Schuldenlast und unter ihrem Kapitaldienst zu ersticken
drohen? Das Szenario einer Umschuldung wird eintre-
ten. Dies sage ich Ihnen glasklar voraus, und zwar nicht,
weil ich besonders originell bin, sondern weil die über-
wiegende Anzahl der Experten, die man dazu hören
kann, eine solche Umschuldung sogar als Voraussetzung
für die Stabilisierung in der Euro-Zone ansieht. Ich erin-
nere in diesem Zusammenhang an den Vorschlag des
Bundesbankpräsidenten, der zusammen mit Mitarbeitern
der Bundesbank gefragt hat, warum es im Fall von Not-
krediten aus den Rettungsschirmen nicht automatisch
eine Laufzeitverlängerung der Anleihen des in Bedräng-
nis geratenen Landes um drei Jahre geben sollte.

Uns stehen hinsichtlich der Umschuldungsmöglich-
keiten verschiedene Instrumente zur Verfügung: Lauf-
zeitverlängerung, Zinserlass bis hin zu einem klassi-
schen Haircut. All dies müsste in meinen Augen
vorbereitet werden. Wir sind darin durchaus trainiert,
weil wir dies bereits im Pariser Club und im Londoner
Club geübt haben. Wir haben weltweit viele Erfahrungen
machen können, dass dies gelungen ist.

Drittens. Die Heranziehung des Bankensektors zur
Mitfinanzierung der Folgekosten der maßgeblich von
ihm ausgelösten Finanzkrise ist nicht nur eine finanzielle
oder haushalterische Frage. Ich bitte, auch den legitima-
torischen Aspekt nicht zu unterschätzen. Die Bürger
stellen die Frage: Wer zahlt? Wir als Politiker müssen ih-
nen sagen: Ihr zahlt im Fall der deutschen Abschirmung,
im Fall der Griechenland-Hilfe, im Fall des aktuellen
Schirmes und im Fall der Staatsanleihen der EZB. Da-
durch kann das Vertrauen in unsere Wirtschafts- und Ge-
sellschaftsordnung erschüttert werden. Deshalb sollte
der fehlende Konsens im Kreis der G-20-Staaten, in der
EU der 27 Staaten und in der Euro-Zone der 17 Staaten
über die Einführung einer Umsatzsteuer auf alle Finanz-
geschäfte – vulgo: einer Finanzmarkttransaktionsteuer –


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


nicht zum Vorwand dafür genommen werden, nichts zu
tun, sondern man sollte mit den sechs, sieben oder acht
Ländern in Europa anfangen, die dazu erklärtermaßen
bereit sind. Dies ist insbesondere auch der französische
Staatspräsident.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Viertens. Die Bankenkrise in Europa ist nicht über-
wunden. Durch harte Stresstests wird dies belegt werden.
Deshalb brauchen wir ein europäisches Bankeninsolvenz-
recht, um insbesondere mit Blick auf grenzüberschrei-
tende Bankinstitute zu dem zu kommen, was in Deutsch-
land richtigerweise verabschiedet worden ist, nämlich
einem Restrukturierungsgesetz.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich sage nur: WestLB! Ja, ja, das ist völlig richtig!)


Übrigens, die Vorarbeiten zu diesem Restrukturierungs-
gesetz sind maßgeblich von der damaligen Justizministe-
rin, meiner Kollegin Frau Zypries, und mir erarbeitet
worden – damit es da nicht zu einer Auseinandersetzung
um das Copyright kommt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Ich sage voraus, dass wir in Europa über ein solches
geordnetes Insolvenzrecht oder eine solche Bankenab-
wicklung hinaus auch eine europäische Fazilität zur Re-
strukturierung und Rekapitalisierung von Banken brau-
chen. Das ist ein heißes Thema, wie ich weiß, aber ich
sage ganz deutlich: Ohne eine Restrukturierung oder Re-
kapitalisierung von labilen Banken wird es keine umfas-
sende Lösung in Europa geben.

Fünftens. Ein weiterer Punkt ist, dass Europa, insbe-
sondere die Euro-Zone, natürlich von internen Ungleich-
gewichten geprägt ist. Die Deutschen werden inzwi-
schen als die Chinesen Europas bezeichnet. Unsere
Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse spie-
geln sich in den entsprechenden Defiziten anderer Län-
der wider. Weil ein Sabbatical, eine Art Ruhepause für
deutsche Exportaktivitäten, nicht infrage kommt, stehen
nur zwei Strategien zur Auswahl, nämlich einerseits, die
Wettbewerbsfähigkeit von Defizitländern zu stärken,
und andererseits, die Inlandsnachfrage in Deutschland
ebenfalls zu stärken.





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei beiden Strategien läuft es auf sehr handfeste Fragen
hinaus.

In Europa wird sich die Frage stellen, ob wir die euro-
päischen Mittel, die zur Verfügung stehen, zunehmend
für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Län-
der einsetzen, ob wir nach wie vor 40 Prozent, 45 Pro-
zent der Mittel in die Förderung des landwirtschaftlichen
Sektors stecken oder ob wir dieses Geld nicht viel besser
in die Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung und
in Bildung investieren, also in all das, wodurch die Wett-
bewerbsfähigkeit dieser Länder gefördert werden
könnte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hinsichtlich der Hebung der Nachfrage in Deutsch-
land geht es ganz konkret um die Lohn- und Gehaltsent-
wicklung. Ich füge hinzu: Mit Blick auf die Massenkauf-
kraft geht es auch um die Frage, ob die Kaufkraft in
Deutschland durch die Einführung gesetzlicher Mindest-
löhne nicht deutlich erhöht werden könnte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum haben Sie dagegen gestimmt?)


Mit dem Wegfall der ideologischen Systemkonkur-
renz 1989/1990 nach der Implosion der Sowjetunion und
ihrer Satrapen ist die Geschichte keineswegs zu Ende.
Stattdessen haben wir es heute im globalen Maßstab mit
einer ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz
zu tun. Europa muss in dieser Konkurrenz mehr sein als
eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Währungsunion,
nicht zuletzt deshalb, um die Kluft seiner Bürger gegen-
über europäischen Institutionen zu überwinden. Die Bür-
ger sind nicht müde an Europa, aber sie sind müde an der
Organisation Europas. Um diese Kluft zu überwinden,
muss Europa aus dem Zustand vornehmlich intergouver-
nementaler Beschlüsse herausgeführt werden. Es bedarf
einer Parlamentarisierung europäischer Entscheidungs-
prozesse mit Blick sowohl auf das Europäische Parla-
ment als auch auf die nationalen Parlamente.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Thomas Nord [DIE LINKE])


In diesem Sinn hat die Bundesregierung ihre Informa-
tionspflicht auf der Basis des Bundesverfassungsge-
richtsurteils mehrfach sträflich verletzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Die Art des Umgangs mit dem Pakt für Wettbewerbsfä-
higkeit gegenüber dem Parlament ist vor diesem Hinter-
grund inakzeptabel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])

Wir haben es mit einem immer weiter wachsenden Kom-
petenzzuwachs der Europäischen Kommission und auch
des Europäischen Rates zu tun. Es gibt aber keinen De-
mokratie- und Legitimationszuwachs. Das wird die Eu-
ropamüdigkeit eher fördern als abbauen.

Es geht allerdings um mehr als das. In dieser ökono-
misch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz müssen wir
eine neue Geschichte über Europa erzählen. Europa ist
nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion,
sondern es ist über eine Friedens- und Wohlstandsregion
hinaus eine Region, in der Rechtssicherheit, Sozialstaat-
lichkeit, Freizügigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit,
aber keine Korruption herrschen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb war übrigens die Reaktion auf die ungarische
Mediengesetzgebung in der Debatte in diesem Hause
seinerzeit unterirdisch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Thomas Nord [DIE LINKE])


Wenn wir insbesondere einer jüngeren Generation
und einer Wahlbevölkerung insgesamt Europa als histo-
risch einmalige Errungenschaft vermitteln wollen, statt
Europa nur als bürokratische Konstruktion – das Subsi-
diaritätsprinzip bei Glühbirnen lässt grüßen – und als ei-
nen reinen Männerklub mit Dame erscheinen zu lassen,
dann werden wir die Attraktivität dieses Kontinents neu
erklären und in eine faszinierende Geschichte fassen
müssen. Genau darum geht es heute und morgen im Eu-
ropäischen Rat bei der Bewältigung der Krise und den
anstehenden Beschlüssen.

Vielen Dank für das Zuhören.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709900500

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1709900600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn die Staats- und Regierungschefs in dieser Woche
zusammenkommen, dann geht es im Kern um die Stabi-
lität des Euro. Dies ist gleichzeitig eine zentrale Voraus-
setzung für die Stabilität Europas. In so schwierigen Fra-
gen war Arroganz noch nie ein guter Ratgeber, Herr
Steinbrück.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Das geht an Sie zurück!)


Dass Sie Ihre eigenen Verantwortlichkeiten ausblenden,
ist ebenfalls bemerkenswert.

Deutschland ist von seiner Geschichte geprägt. Die
Bürgerinnen und Bürger haben eine hohe Sensibilität,





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)

wenn es um ihre Währung geht. Deshalb geht es darum,
diese Währung zu sichern. Wir brauchen eine harte
Währung. Das ist seinerzeit bei der Umstellung auf den
Euro versprochen worden. Wir haben damals mit dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt dafür gesorgt. Dass wir
heute in einer so schwierigen Lage sind, Herr
Steinbrück, hat auch und vor allem damit zu tun, dass
der Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa im Jahr
2004 aufgeweicht wurde, und zwar deshalb, weil eine
rot-grüne Regierung innenpolitische Probleme hatte, die
sie zulasten des Euro und damit auf dem Rücken Euro-
pas ausgetragen hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Während Herr Schröder und Herr Fischer, die damals
zuständig waren, längst als hochbezahlte Lobbyisten un-
terwegs sind, dürfen wir heute die Scherben in Europa
zusammenkehren. Das ist die Wahrheit, Herr Steinbrück.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen, dass sich die Bürger auf unsere Währung
verlassen können. Deshalb ist es unser Ziel, den Euro zu
stabilisieren, ihn auf ein solides Fundament zu stellen
und einen Krisenmechanismus für den Notfall einzufüh-
ren.


(Zuruf von der SPD: Mövenpick!)


Diesem Ziel sind wir in den letzten zwölf Monaten nä-
hergekommen. Wir müssen aber jeden einzelnen Schritt
bis zum Schluss begleiten. Ich sage ganz deutlich: Eine
Zustimmung kann es nur zu einem Gesamtpaket geben,
weil es das Ziel sein muss, die Ursachen einer Krise zu
bekämpfen – dazu gehört auch eine Verschärfung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts –, und es nicht genügt,
die Symptome zu retuschieren. Das ist das Ziel, das wir
verfolgen, und dies rechtfertigt eine entsprechend inten-
sive Behandlung auf europäischer Ebene.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es besteht ein Unterschied zwischen einer Transfer-
union, wie Sie es verstehen, Herr Steinbrück, und einer
Haftungsunion. Sie wollten von Anfang an bedingungs-
lose Hilfe für Griechenland und werfen uns jetzt vor,
dass wir Griechenland nicht schnell genug geholfen hät-
ten. Sie haben schon zu einem Zeitpunkt, als Griechen-
land noch gar keine Hilfen wollte, davon gesprochen,
Griechenland das Geld hinterherzutragen. So werden Sie
nie eine Stabilitätskultur erreichen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie setzen sich für Euro-Bonds ein. Deutschland müsste
damit für die Schulden anderer Länder geradestehen. Sie
wollen nichts anderes als eine Vollkaskohaftung für Eu-
ropas Schulden. Eine solche Vollkaskohaftung machen
wir nicht mit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Was erzählen Sie für einen Blödsinn!)

Es sind nicht diejenigen die besseren Europäer, die
glauben, mit Euro-Bonds und einer EU-Steuer eine
schnelle Lösung zu haben. Stabilität wird es nur dann
geben, wenn jeder einzelne Mitgliedstaat sich darüber
im Klaren ist, dass er seiner stabilitätspolitischen Verant-
wortung gerecht werden muss. Sie, Herr Steinbrück, sa-
gen jetzt, wir hätten zu lange gezögert. Wer hat denn
aber dem Rettungsschirm in diesem Hause im letzten
Mai, kurz vor den NRW-Wahlen, nicht zugestimmt? Es
war Ihre Fraktion, die sich verweigert hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie sprachen von kleinkarierten nationalen Egoismen.
Das finde ich schon bemerkenswert. Es geht an dieser
Stelle auch um die Stabilität Deutschlands und um das
Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.


(Peer Steinbrück [SPD]: Eben!)


Wenn wir klare Regeln einfordern, dann geht es nicht
um kleinkarierte nationale Egoismen, sondern dann ist
das eine schlichte Notwendigkeit. Das sind wir den Bür-
gerinnen und Bürgern Deutschlands schuldig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die No-bail-out-Klausel ist eine Grundfeste Europas.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Eine der vielen Grundsätze, die Sie abschaffen!)


Es soll eben keine Schuldenüberwälzung auf andere
Staaten der Euro-Zone zugelassen werden, und es soll
keine Euro-Bonds oder gemeinsam finanzierte oder ga-
rantierte Schuldenrückkaufprogramme geben. Wir wol-
len eine Stabilitätsgemeinschaft. In der Tat ist Europa
eine Schicksalsgemeinschaft. Es ist aber nicht nur eine
Schicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Verantwor-
tungsgemeinschaft. Für diese Verantwortungsgemein-
schaft setzen wir uns ein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es geht nicht darum, dass wir jetzt neue Geschichten
über Europa erzählen. Wir müssen in einer ganz konkre-
ten Situation entscheiden, wie es weitergeht und wie wir
sicherstellen, dass solche Situationen in Zukunft mög-
lichst vermieden werden. Jeder Einzelstaat muss seiner
stabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden.
Deshalb wollen wir die Verschärfung des Stabilitätspakts
– das hat die Bundeskanzlerin eben noch einmal ausge-
führt –, ein Frühwarnsystem sowie nach Möglichkeit au-
tomatisierte Sanktionen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist zu
stärken, und zwar auch durch eine bessere Koordinie-
rung der Wirtschaftspolitik. Das alles sind integrale Be-
standteile eines Pakets, und ein Teil ist ohne den anderen
Teil nicht denkbar; das ist ein umfassender Ansatz. Die
Bundeskanzlerin hat heute hier gesagt, dass sie den Sta-
bilitäts- und Wachstumspakt nicht aufweichen will und
dass es eine gemeinsame Verpflichtung ist, dafür zu sor-
gen, dass er auch wirklich eingehalten wird. Dabei hat
sie die volle Unterstützung dieses Hauses, jedenfalls der
Koalitionsfraktionen in diesem Haus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben in den letzten Monaten doch einiges in Eu-
ropa erreicht, auch was das Umdenken bei anderen an-





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)

geht. Das haben wir deshalb erreicht, weil wir auch im
Deutschen Bundestag eine so klare Haltung eingenom-
men haben, weil wir in Anträgen immer wieder die roten
Linien aufgezeigt haben; das war notwendig. Dadurch
hatte die Bundeskanzlerin eine starke Verhandlungsposi-
tion in Brüssel. Diese Verhandlungsposition hat sie – das
will ich festhalten – klug genutzt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt drei Kernpunkte, für die sie ihre starke Ver-
handlungsposition genutzt hat. Erstens, das Ultima-Ra-
tio-Prinzip für den Einsatz der Stabilisierungsmechanis-
men. Hilfen werden nur dann gewährt, wenn die Euro-
Zone als Ganzes in Gefahr ist. Ich halte dies nach wie
vor für richtig. Wer wie die Opposition leichtfertig Gel-
der in Europa verteilt, schafft keine Anreize für eine so-
lide Finanzpolitik. Staaten müssen zuerst eigene An-
strengungen unternehmen, um die Verschuldung zu
stoppen. Wir sind froh, dass auch in Zukunft der IWF
stark vertreten sein wird und mit im Boot sitzt. Das ist
ein wichtiger Punkt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zweitens, das Einstimmigkeitsprinzip. Das Einstim-
migkeitsprinzip bei allen Maßnahmen des ESM ist eine
Lebensversicherung für den deutschen Steuerzahler.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht einstimmig! Das stimmt nicht!)


Niemand kann gegen unser Votum über den Einsatz der
Gelder der deutschen Steuerzahler bestimmen. Auch das
ist ein Erfolg für Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens. Wir wollen – auch das ist entsprechend ver-
handelt worden – eine Umschuldung, also ein Insolvenz-
recht für Staaten. Es ist wichtig, dass es eine Beteiligung
privater Gläubiger an Hilfsmaßnahmen geben wird. Das
darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleiben.
Vielmehr muss das, was die Staats- und Regierungschefs
der Euro-Gruppe bei ihrem letzten Treffen entschieden
haben, immer gelten und umgesetzt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt also drei glasklare Botschaften von der letzten
Sitzung der Staats- und Regierungschefs der Euro-
Gruppe: Ultima-Ratio-Prinzip, Einstimmigkeitsprinzip
und Gläubigerbeteiligung. Das sind die Kernpunkte.
Diese sind einzuhalten. Für uns ist auch wichtig, dass auf
dem bevorstehenden Gipfel klargestellt wird, Frau Bun-
deskanzlerin, dass das, was die Staats- und Regierungs-
chefs in aller Eindeutigkeit festgehalten haben, gilt und
dass das, was teilweise in dem Papier des Ecofin-Rats
nicht ganz so deutlich formuliert ist, hinter dem zurück-
steht, was die Staats- und Regierungschefs zugesagt ha-
ben. Das heißt, diese drei Punkte sind für uns nicht ver-
handelbar und müssen durchgesetzt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben natürlich noch ein Problem mit der Finan-
zierung des europäischen Stabilitätsmechanismus. Hier
geht es um Einlagen oder Bürgschaften. Wir sind uns in
der Koalition einig, dass das Ergebnis des Ecofin-Rates
nicht das Ergebnis des Gipfels der Staats- und Regie-
rungschefs sein darf. Wer Solidarität will – wir sind be-
reit, uns solidarisch zu verhalten –, der darf nicht diejeni-
gen überfordern, die Solidarität leisten sollen. Darüber
muss noch einmal geredet werden; denn deutsche Bürg-
schaften haben ein Triple-A. Deshalb ist über die Barein-
lagen nachzuverhandeln. Das hat die deutsche Regie-
rung in Europa schon angemeldet. Wir gehen davon aus,
dass es hier zu einer Veränderung kommt. Frau Bundes-
kanzlerin, Sie haben auch an dieser Stelle die volle Rü-
ckendeckung der Koalition für die Verhandlungen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das reicht also nicht aus! Es muss nachverhandelt werden! Dafür hat sie die volle Rückendeckung!)


Sie haben über die schwierige Situation in Portugal
gesprochen und haben deutlich gemacht, dass die von
den Staats- und Regierungschefs befürworteten Maßnah-
men nicht die Zustimmung des Parlaments gefunden ha-
ben. Das ist eine schwierige Situation, die in den nächs-
ten Tagen sicherlich eine Rolle spielen wird, auch in
Europa.

Wenn Portugal nicht sparen will, dann können und
dürfen wir nicht mit Geld des Steuerzahlers helfen. Die
Hilfe ist nur bei einem klaren Sparkonzept möglich. Der
Rettungsschirm ist kein Rettungsnetz und erst recht
keine Rettungshängematte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Lissabon wurden die Rechte der nationalen Parla-
mente gestärkt, und das ist gut so. Das zeigt sich in die-
sem Verfahren. Wir wollen, dass die Ratifizierung des
Vertrages und die Umsetzung der anderen Punkte gleich-
zeitig erfolgen. Es gibt viele Staaten in Europa, die ein
Interesse an einer schnellen Ratifizierung der Vertrags-
änderung haben. Deutschland hat ein ebenso großes In-
teresse daran, dass die Mechanismen, die hinter dieser
Ratifizierung stehen, verbindlich vereinbart werden.
Deshalb darf im weiteren Ablauf die Vertragsänderung
nur zusammen mit der Umsetzung und Verschärfung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes erfolgen. Wir brau-
chen klare Verhältnisse. Eine Ratifizierung gibt es nur
im Rahmen des Gesamtpakets.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will zum Schluss etwas festhalten,


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja! Kommen Sie zum Schluss!)


was auf europäischer Ebene keine Rolle spielt, aber hier
im Hause klar sein muss. Bei der Ratifizierung legen wir
größten Wert darauf, dass dieses Parlament nicht nur ein-
gebunden wird, sondern dass unsere Rechte bei der Um-
setzung der Maßnahmen gewahrt bleiben.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sagen Sie das mal Frau Merkel!)






Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)

Das heißt: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des
Parlaments. Deshalb werden wir in jedem Einzelfall, von
dem der Haushalt betroffen ist, dafür sorgen, dass der
Deutsche Bundestag seine Zustimmung geben muss. Die-
ser Parlamentsvorbehalt ist nicht verhandelbar. Das ist
eine ganz klare Linie, die diese Koalition vereinbart hat.
Wir werden die Rechte des Parlaments durchsetzen. Ich
lade die Opposition in diesem Hause ein, daran teilzuha-
ben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709900700

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709900800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen sagen:
Ich finde es unverfroren und arrogant, dass Sie eine Re-
gierungserklärung abgeben, ich Ihnen die ganze Zeit zu-
höre und Sie, wenn die Opposition erwidert, aufstehen,
herumlaufen und nicht zuhören. Das ist nicht anständig;
das ist arrogant und falsch, wenn ich das einmal deutlich
sagen darf.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Oh! Sie sind aber angefressen! Ich höre Ihnen zu!)


Wir hatten zunächst eine Bankenkrise, dann eine
Krise des Euro, und jetzt haben wir eine Staatsschulden-
krise, übrigens auch in unserem Land; denn Bund, Län-
der und Gemeinden haben im letzten Jahr neue Schulden
im Umfang von 300 Milliarden Euro gemacht. Davon
sind 232 Milliarden Euro auf die Bankenkrise zurückzu-
führen. Ich habe eine Frage: Wer bezahlt jetzt diese
Schulden? Bei uns sind das ganz eindeutig die Bürgerin-
nen und Bürger, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
und sogar die Hartz-IV-Empfangenden. Es gilt nicht das
Verursacherprinzip; sonst würden nämlich die Banken
die Schulden bezahlen müssen. Genau das haben Sie im-
mer abgelehnt.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP)


– Es ist richtig: Das haben wir schon einmal gesagt.
Aber geändert haben Sie es nicht, weil Sie die Banken
immer schonen; denn es regiert die Bankenlobby, es re-
gieren nicht Sie selbst. Das ist nämlich das Problem, mit
dem wir es in Deutschland zu tun haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Dasselbe gilt übrigens für Zahlungen auf europäi-
scher Ebene. Die Privatbanken verdienen glänzend. Ich
muss Ihnen, Herr Kauder, zwei Beispiele nennen, damit
Sie die in Baden-Württemberg verbreiten. Erstes Bei-
spiel: Die Europäische Zentralbank gibt keine Kredite an
Staaten, auch nicht in Ausnahmesituationen, obwohl das
jetzt dringend notwendig wäre. Was macht die Europäi-
sche Zentralbank? Sie gibt zum Beispiel der Deutschen
Bank einen Kredit über 1 Milliarde Euro und verlangt da-
für 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank zur
griechischen und zur irischen Regierung und sagt: Wir
haben gehört, ihr braucht Geld. – Dann antworten die Re-
gierungen: Das ist schön; wir hätten gerne 1 Milliarde
Euro. – Dann erwidert die Deutsche Bank: Wir leihen
euch das Geld, wenn ihr uns 13 Prozent – im Falle Grie-
chenlands – oder 10 Prozent – im Falle Irlands – Zinsen
zahlt. – Mit einer Überweisung verdient die Deutsche
Bank ein Schweinegeld, ohne irgendetwas hergestellt
oder irgendeinen Wert geschaffen zu haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, haben Sie schon mal etwas von Risikohaftung gehört?)


Ich nenne Ihnen jetzt das zweite Beispiel. Sie müssen
auch das zweite Beispiel verbreiten, Herr Kauder.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das erste ist schon falsch!)


Sie haben zusammen mit der SPD die Hypo Real Estate
verstaatlicht. Es ist schon selten, dass die CDU etwas
verstaatlichen will und die Linke Kritik dazu äußert. Das
lag einfach daran, dass wir gesagt haben: Wenn wir ver-
staatlichen, dann verstaatlichen wir nach dem schwedi-
schen Modell und übernehmen alle privaten Großban-
ken. – Sie aber wollten nur die höchstverschuldete Bank
übernehmen. Dadurch haben die Bürgerinnen und Bürger
von Ihnen die gesamten Schulden der Hypo Real Estate
bekommen. Insgesamt sind auch von unseren Bürgerin-
nen und Bürgern dadurch an die Deutsche Bank jetzt
schon 20 Milliarden Euro gezahlt worden. Deshalb kann
die riesige Dividenden an ihre Großaktionäre sowie Boni
über Boni an alle ihre Ackermänner auszahlen. Das ist
die Wahrheit. Genau das ist das Problem. Hier brauchen
wir endlich Gerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Staatsbankensystem der DDR haben wir ja erlebt!)


Jetzt komme ich zu Griechenland, Irland, Portugal
und Spanien und sage Ihnen: Was Sie dort machen, Frau
Bundeskanzlerin, ist eine Politik von Versailles. Ich hatte
gehofft, wir hätten aus der Geschichte endlich gelernt.
Deutschland hat zu Recht den Ersten Weltkrieg verloren.
Aber die Sieger konnten in Versailles nicht aufhören, zu
siegen, und haben ganz enge und demütigende Bedin-
gungen für Deutschland festgelegt. Das war nicht der
einzige, aber ein Grund dafür, dass dann die NSDAP mit
ihrem entsetzlichen Nationalismus, Rassismus und Anti-
semitismus solchen Erfolg in Deutschland hatte.


(Holger Krestel [FDP]: Hören Sie doch mal auf, die Geschichte zu verbiegen! Das ist ja peinlich!)


Ich dachte, wir hätten daraus gelernt. Aber was machen
wir? Wir machen gegenüber Griechenland, Irland, Por-
tugal und Spanien wieder eine Politik von Versailles. Sie
verlangen dort Lohnsenkungen, Rentensenkungen, Sen-
kungen der Sozialleistungen, Rücknahme von Investitio-
nen, und – die Frau Bundeskanzlerin hat es heute stolz
gesagt – Griechenland soll öffentliches Eigentum im
Wert von 50 Milliarden Euro verkaufen. Sollen die auch





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

noch die Akropolis verkaufen, oder was stellen Sie sich
eigentlich vor? Ich finde das indiskutabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Dass der portugiesische Ministerpräsident zurückge-
treten ist, liegt doch nur daran, dass die Opposition jetzt
mehrheitlich entschieden hat, diesen Kurs von Versailles
nicht mitzumachen, und das ist völlig richtig.


(Zurufe von der FDP)


– Ja, ich weiß, dass die Konservativen und die Linken
das auch entschieden haben. Wenn die Konservativen in
der Opposition sind, haben sie ab und zu auch einmal ei-
nen vernünftigen Gedanken; selten, aber immerhin, es
kommt vor.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das nächste Problem besteht darin, dass Sie hier die
Finanzmärkte nicht reguliert haben. Was haben Sie ge-
macht, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben weder die Spe-
kulation noch Leerverkäufe noch Hedgefonds noch
Zweckgesellschaften eingeschränkt. Es gibt auch keine
Finanztransaktionsteuer. Herr Steinbrück, ich habe gern
gehört, dass Sie für die Finanztransaktionsteuer sind. Sie
müssen nur zwei Dinge erklären, erstens, warum Sie sie
als Bundesfinanzminister nicht eingeführt haben, und,
zweitens, weshalb Sie bei einer namentlichen Abstim-
mung dagegen gestimmt haben. Wenn Sie das noch er-
klären, dann sind wir hier einen Schritt weiter.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Internationale Währungsfonds befürchtet jetzt
übrigens eine neue und noch schlimmere Krise, und
zwar deshalb, weil nichts reguliert worden ist. Wir wol-
len nicht vergessen: Sie haben einen Fonds für die
nächste Krise eingeführt. Da sollen die Banken jedes
Jahr 1 Milliarde Euro einzahlen. Da Sie den Banken sel-
ber innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Ver-
fügung gestellt haben, machen Sie damit eine sehr lang-
fristige Politik. Dann haben wir das Geld von den
Banken, wenn ich das Ganze richtig verstehe, schon in
480 Jahren zurück.

Aber abgesehen davon: Jede Bundesregierung achtet
immer auf den Export und nicht auf die Binnenwirt-
schaft. Deshalb die Reallohnsenkung, die Rentensen-
kung, die Sozialleistungssenkung! Sie wollen, dass alle
Produkte so billig wie möglich ins Ausland verkauft
werden können. Deshalb nehmen wir da auch Platz zwei
ein. Ich sage Ihnen: Diese Einseitigkeit muss endlich
überwunden werden. Wir brauchen eine Stärkung der
Binnenwirtschaft. Deshalb betone ich erneut: Die ein-
zige Mittelstandspartei ist die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


– Ich wusste, dass Sie sich freuen. Deshalb wiederhole
ich es. Ich will Ihnen auch die Gründe nennen, Frau
Homburger, damit Sie es verstehen. Passen Sie auf!

Wir sind die Einzigen, die Lohnsteigerungen wollen,
die Rentensteigerungen wollen und die Steigerungen der
Sozialleistungen wollen. Davon lebt der Gastwirt, davon
leben die kleinen und mittleren Unternehmen, die in der
Binnenwirtschaft agieren. Für die tun Sie gar nichts. Das
ist die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen ein soziales Europa der Völker, und Sie
wollen ein Hartz-IV-Europa.


(Lachen bei der FDP)


Der Reallohnabbau in den letzten zehn Jahren betrug in
Deutschland 4,5 Prozent, auch unter Mitregierung der
SPD. Erklären Sie doch einmal, weshalb keine andere
Industriegesellschaft einen Reallohnabbau hatte, nur
Deutschland. In Norwegen gab es sogar ein Plus von
25 Prozent. Was Sie auf dieser Strecke angerichtet ha-
ben, ist nicht vertretbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Dasselbe gilt für Renten und Sozialleistungen.

Sie wollen statt eines sozialen Europas ein Agenda-
2010-Europa. Da spielt auch gar keine Rolle, ob Union,
SPD, FDP oder Grüne handeln; da sind Sie sich ja einig.
Was bedeutet ein Agenda-2010-Europa? Das bedeutet:
prekäre Beschäftigung, Befristung, Leiharbeit, Aufsto-
ckung, das gesamte Paket im Niedriglohnsektor. Das al-
les ist durch die Agenda 2010 in Deutschland massen-
haft eingeführt worden.

Lassen Sie mich nur zu drei Dingen etwas sagen. Be-
fristete Beschäftigung bedeutet immer, den Leuten keine
Perspektive zu geben – weil sie nicht wissen, ob sie wie-
der einen Vertrag bekommen. Sie können sich überhaupt
nicht darauf einstellen. Das schwächt auch die Gewerk-
schaften; denn jemand, der einen befristeten Vertrag hat,
geht doch nicht zu einer Kundgebung gegen die Leitung
seines eigenen Unternehmens, weil er Angst hat, keinen
neuen Vertrag zu bekommen. Das ist ja auch Ihr Ziel.
Deshalb soll die befristete Beschäftigung ausgebaut wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Leiharbeit ist für mich eine moderne Form der Skla-
verei. Wir könnten wenigstens die französische Rege-
lung einführen, wonach ein Leiharbeiter von Anfang an
genauso viel Geld plus 10 Prozent bekommt. Dann wird
das eine reine Ausnahme. Aber hier arbeiten die Leihar-
beiter für einen Zweidrittellohn oder einen halben Lohn.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wollen die gleiche Bezahlung nach neun Monaten
einführen, wenn die Leiharbeiter schon längst wieder
entlassen sind. Liebe FDP, das könnt ihr nun wirklich
vergessen. Das ist eine Veralberung der Leute.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun zu den Aufstockerinnen und Aufstockern. Auf-
stockerinnen und Aufstocker verdienen, obwohl sie Voll-
zeit arbeiten, so wenig, dass sie ergänzend Hartz IV be-
antragen müssen. Wir betreiben diesbezüglich eine
Subventionierung von jährlich 10 Milliarden Euro. Die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Deutschlands zahlen





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

an die Aufstockerinnen und Aufstocker 10 Milliarden
Euro. Die Frau Bundeskanzlerin sagt immer, sie sei stolz
darauf, dass der Staat an dieser Stelle eingreift. Ich sage,
das ist ein Grund, sich zu schämen. Jemand, der einen
Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen Lohn haben,
mit dem er in Würde leben kann, und darf nicht zum So-
zialamt geschickt werden.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Die Rede hatten wir schon!)


– Sie müssen das ändern. Dann brauchen Sie sich das
nicht mehr zu anzuhören.


(Birgit Homburger [FDP]: Es ist Zeit, eine neue Rede zu schreiben!)


In Deutschland sind 22 Prozent aller Beschäftigungs-
verhältnisse prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das ist
mehr als ein Fünftel. Das ist die Realität, mit der wir es
zu tun haben.

Mit dem Agenda-Europa würde auch die Rente ab 67
eingeführt. Die ganze Zeit reden Sie vier – SPD, Grüne,
Union und FDP – davon, der demografische Faktor sei
entscheidend, die Leute würden immer älter. Das ist völ-
lig falsch. Entscheidend ist die Produktivität. Ein Bauer
konnte früher nur acht Menschen versorgen; heute ver-
sorgt er über 80 Menschen. Die Produktivitätssteigerung
ist das Entscheidende.


(Zuruf von der FDP: Das hat mit der Rente aber nichts zu tun!)


Deshalb müssen wir an eine Kürzung der Lebensarbeits-
zeit und auch der Wochenarbeitszeit denken, aber nicht
an eine Verlängerung.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Müntefering hat immer gesagt, man müsse auch
berücksichtigen, wie die Älteren beschäftigt sind. Ich sage
es Ihnen: Von den 63- bis 64-Jährigen haben 8,4 Prozent
der Männer und 3,7 Prozent der Frauen einen Vollzeitjob.
Das ist die Realität. Und da sagt auch die SPD diesen Leu-
ten, dass sie zwei Jahre länger arbeiten sollen. Ich finde
das indiskutabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Agenda-Europa bedeutet ferner, dass die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend die Kosten
für ihre Gesundheit alleine tragen müssen. Jetzt haben
Sie, Union und FDP, doch ernsthaft den Arbeitgeberan-
teil eingefroren und gesagt: Alle zusätzlichen Kosten
müssen die Versicherten, das heißt die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, alleine tragen. Das ist extrem un-
sozial.

Wir brauchen ein Europa frei von Atomenergie und
eine staatliche Energiepreisregulierung. An dieser Stelle
rufen Sie immer, das sei Planwirtschaft. Was Planwirt-
schaft angeht, haben Sie aber von Tuten und Blasen
keine Ahnung.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Da haben Sie mehr Ahnung! Das stimmt!)

– Das stimmt. – Wir hatten Jahrzehnte der staatlichen
Energiepreisregulierung in der Bundesrepublik Deutsch-
land, und dort gab es keine Planwirtschaft. Wenn Sie
nach dem Markt rufen würden, hätte ich nichts dagegen.
Wir haben hier aber nur vier Konzerne – das ist alles –,
die sich feudal Deutschland aufgeteilt haben. Entgegen
Ihrer Annahme sind sie in der Lage, einmal mittwochs
zu telefonieren und zu verabreden, wie sie uns über-
nächste Woche abzocken. Das muss endlich ein Ende ha-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen ein Europa des Friedens, frei von Krie-
gen. Nicht zu fassen ist, dass eine Bundesregierung aus
SPD und Grünen und dann aus Union und SPD Waffen-
exporte an das feudale Saudi-Arabien genehmigt, das
nicht nur Menschenrechte – insbesondere von Frauen –
verletzt, sondern aus dem sämtliche Zahlungen an die
Terrororganisation al-Qaida fließen. Von 2005 bis 2009
waren dies 471 Millionen Euro. Damit wurden Panzer
und Munitionsfabriken möglich. Jetzt marschiert Saudi-
Arabien in Bahrain ein und schießt mit deutschen Waf-
fen auf friedliche Demonstranten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709900900

Herr Kollege!


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709901000

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Die Regierung

von Union und SPD hat ferner von 2006 bis 2009 Waffen-
exporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro gelie-
fert. Gestern hat Herr Kauder gesagt, dass das ein Fehler
war. Das würde ich auch gern von der SPD hören. Das
war ein gravierender Fehler. Man weiß nämlich nie, auf
wen Diktatoren schießen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen zum Schluss: Der Kriegsbeschluss der
UNO ist falsch. Der Außenminister bekommt jetzt mit,
wie schwer es in Deutschland ist, nicht an einem Krieg
teilzunehmen. Ich füge hinzu: Was SPD und Grüne ma-
chen, ist reine Eierei. Sagen Sie doch einmal klipp und
klar, ob Sie dafür oder dagegen sind. Sagen Sie nicht
nur, die Regierung hätte sich klarer äußern müssen.


(Zurufe von der SPD)


Ich bin froh, einer Fraktion anzugehören, die klar
Nein zu Krieg als politischem Mittel sagt, wie übrigens
auch Willy Brandt.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Bitte bleiben Sie auch bei Ihrer Fraktion! – Thomas Oppermann [SPD]: Bleiben Sie bloß da! – Weitere Zurufe von der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709901100

Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1709901200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Der Europäische Rat heute und morgen wird eine ganz
bedeutende Entscheidung für Europa treffen. Er wird
nämlich einen Regelungsmechanismus beschließen, von
dem wir einige Teile dann noch in nationales Recht um-
setzen müssen. Er wird einen Regelungsmechanismus
beschließen, der verhindern soll, dass die Probleme, die
jetzt entstanden sind, in Zukunft wieder entstehen. Der
entscheidende Punkt ist, dass wir jetzt aus dem lernen,
was in der Vergangenheit nicht richtig funktioniert hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dafür ist natürlich, Herr Steinbrück, um gleich auf ei-
nen von Ihnen angesprochenen Punkt zu kommen, in
Europa eine Einigung zu erzielen. Hier gibt es nicht das
Diktat des einen, der sagt: „So muss es gemacht werden“
und dem alle anderen folgen müssen. Die Bundesregie-
rung hat vielmehr eine führende Rolle dabei gespielt,
dass man sich auf das geeinigt hat, was jetzt im Rat vor-
liegt. Dieses Ergebnis geht ausschließlich auf die kluge
Verhandlungsstrategie der Bundesregierung und der
Bundeskanzlerin zurück, auf keinen anderen. Das ist
Führung in der Europäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje! Alemannische Fasnacht!)


Richtig ist, Herr Steinbrück, dass auch in Zeiten, in
denen SPD-Bundeskanzler für Europapolitik Verantwor-
tung hatten, geführt wurde. Mit dem Ergebnis der Füh-
rung, die damals ausgeübt wurde, schlagen wir uns aber
heute herum. Sie haben den Stabilitätspakt aufgeweicht.
Das war ein Ergebnis Ihrer Führung. Damit müssen wir
jetzt zurechtkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Erzählen Sie doch nicht so einen Kokolores!)


Da kann ich nur sagen: Führung ist nicht immer nur gut.
Es muss sich auch um richtige Führung handeln.

Neben all den Mechanismen, die die Bundeskanzlerin
dargestellt hat und auf die die Kollegin Homburger noch
einmal eingegangen ist, ist noch etwas anderes entschei-
dend: Ein zentraler Punkt ist auch der Pakt für Wettbe-
werbsfähigkeit. Das ist nicht nur deshalb so, weil dieser
dazu beitragen soll, dass zentrale Wirtschaftsparameter
angeglichen werden, sondern auch, weil dieser Pakt für
Wettbewerbsfähigkeit, Frau Bundeskanzlerin – das
würde ich mir auch wünschen –, eine dauerhafte ständige
Kontrolle der Entwicklungen in den einzelnen Staaten in
Europa ermöglicht. Daran hat es doch bisher gefehlt. Es
hat in den letzten Jahren doch kaum jemand richtig zur
Kenntnis genommen, was in Griechenland abgelaufen
ist. Deswegen führt dieser Pakt für mehr Wettbewerbsfä-
higkeit auch dazu, dass genauer und intensiver hinge-
schaut wird, welche Entwicklungen in Europa ablaufen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Den Pakt gibt es doch gar nicht mehr!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gip-
fel in Europa, auf dem ein neuer Regelungsmechanismus
beschlossen wird, wird auch eine Zeit der intensiven
Diskussion über interne Angelegenheiten Europas zu ei-
nem zwar nicht endgültigen, aber einem gewissen Ab-
schluss bringen. Dies halte ich für notwendig. Wir brau-
chen nämlich ein starkes Europa für Wohlstand und
Zukunft in Europa selber. Aber angesichts dessen, was
auf der ganzen Welt los ist, brauchen wir auch ein star-
kes Europa als Partner bei den großen Herausforderun-
gen in der Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Hier nenne ich als Beispiel, das durch die Gescheh-
nisse in Japan eine neue Dimension bekommt, die Roh-
stoffpolitik. Wir müssen uns in Europa mit China über
die Rohstoffpolitik auseinandersetzen. Wir müssen uns
in Europa mit Fragen der Energiesicherheit auseinander-
setzen und uns damit beschäftigen, mit welchen Ener-
gieformen wir in die Zukunft gehen. Es ist geradezu ab-
surd, wenn wir in Europa sagen, dass die Sicherheit von
Kernkraft vorangetrieben werden muss, wir Ausstiegs-
szenarien haben – das ist alles in Ordnung – und China
uns heute bescheinigt, dass dort so wie bisher weiterge-
macht wird. Da muss sich Europa um eine Lösung für
die ganze Welt bemühen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Eu-
ropa muss sich auch darum kümmern, dass Menschen-
rechte in der Welt nicht nur eine Ausnahme sind und
nicht nur Europa ein Hort der Menschenrechte ist, son-
dern sie in der ganzen Welt geachtet werden.

An dieser Stelle muss ich sagen: Ja, es war richtig,
dass im Weltsicherheitsrat jetzt eine Entscheidung für
Libyen getroffen wurde. Es war aber genauso richtig,
dass die Bundesrepublik Deutschland sich aufgrund ver-
schiedener Fragen, die heute noch offen sind, im Sicher-
heitsrat der Stimme enthalten hat. Sie hat nicht Nein ge-
sagt, sondern nur erklärt: Wir können an diesem Mandat
nicht teilnehmen.

Aber unsere Solidarität und Unterstützung dort, wo
wir sie leisten können, wird morgen mit dem Beschluss
zum AWACS-Einsatz dokumentiert. Wir brauchen uns
von niemandem vorhalten zu lassen, dass wir im Bünd-
nis kein stabiler Partner seien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen rate ich dazu – darum würde ich auch bit-
ten, Frau Bundeskanzlerin –, dass man in Europa da-
rüber spricht und dass wir uns auch ein Bild davon ver-
schaffen, wie die Entwicklung nun in den einzelnen
Staaten verläuft. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wir
sorgen jetzt für einen Stopp. – Wir müssen auch dafür
Sorge tragen, wie es weitergeht.

Ich sehe mit einiger Sorge die Diskussionen um die
Verfassungsänderungen in Ägypten. Bis zum heutigen
Tag ist nicht sichergestellt, dass auch für koptische
Christen in Ägypten Religionsfreiheit gilt. Auch dort
müssen wir genauer hinschauen. Wir dürfen nicht ein-
fach schweigen, sondern müssen dafür sorgen, dass dies





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

erreicht werden kann, meine sehr verehrten Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ägypten und Tunesien sind etwas aus dem Blickwin-
kel verschwunden. Ich habe manchen Umsturz, manche
sogenannte Volksbewegung erlebt, beispielsweise im
Iran, ohne dass ich behaupten könnte, dass die Verhält-
nisse für die Menschen vor Ort durch diese Bewegung
besser geworden sind, als sie vorher waren. Deswegen
kommt es auch darauf an, solche Entwicklungen zu be-
gleiten. Ich würde herzlich darum bitten, dass dies auch
ein Thema in Europa bleibt.

Herr Steinbrück, natürlich haben Sie mit Ihrer Aus-
sage recht, dass es nicht nur darum geht, in dem Fall, in
dem tatsächlich Insolvenz eingetreten ist, zu helfen. Die
Euro-Gruppe hat sich im November 2010 mit genau dem
von Ihnen angesprochenen Thema befasst und dabei
auch ein Ergebnis erzielen können. Wegen der Bedenken
der Europäischen Zentralbank hat man gesagt: Im Falle
von Problemen, die auf eine Insolvenz hinauslaufen
könnten, muss mit den Gläubigern gesprochen werden,
dass sie das internationale Regelwerk einhalten.

Mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht zu machen. Ich
bin aber schon sehr froh, wenn das System der Haftung
auch von Privaten eintritt und die Solvenzregelungen,
die wir jetzt in dem europäischen Gesamtpaket beschlie-
ßen, dann auch zum Gesetz gemacht werden können.

Im Übrigen sage ich auf die Frage, wer eigentlich für
solche Dinge bezahlt, nur Folgendes: Es kommt doch
darauf an, zu differenzieren – jetzt in der konkreten aktu-
ellen Situation und für die Zukunft. Herr Steinbrück, Sie
haben als Bundesfinanzminister, unterstützt von uns,
doch genau diesen Weg beschritten. Sie haben doch die
Hypo Real Estate mit Steuergeldern finanziert, um sie zu
retten. Sie haben dabei nicht gefragt, wo private Gläubi-
ger sind. Auch Sie haben das gemacht. Die Frage ist
doch: Was geschieht in der Zukunft? Herr Steinbrück,
ich wäre angesichts der Verantwortung, die Sie für die
katastrophale Situation der WestLB tragen, etwas leiser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Peer Steinbrück [SPD])


Ich glaube, dass wir mit dem neuen System auf einem
guten Weg sind. Im Übrigen haben wir hier im Deut-
schen Bundestag beschlossen, dass wir eine Finanztrans-
aktionsteuer, eine Beteiligung privater Märkte, wollen.
Sie wissen als Fachmann doch genauso gut wie jeder an-
dere, dass eine Transaktionsteuer auf nationaler Ebene
völliger Unsinn ist und auf europäischer Ebene gerade
noch machbar ist.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann machen Sie es doch!)


– Ja, wissen Sie, man kann natürlich etwas wollen, aber
es muss dann auch zu einem Ergebnis führen. – Ich habe
mit den verantwortlichen Leuten in Singapur gespro-
chen. Sie haben gesagt: Führen Sie doch eine nationale
Transaktionsteuer ein, führen Sie doch eine europäische
Transaktionsteuer ein; dann bauen wir hier drei weitere
Türme, damit wir noch mehr in Singapur abwickeln kön-
nen. – Das Ganze treibt die Finanzaktivitäten aus Europa
und aus unserem Land heraus. Deswegen sollte man an
diesem Rednerpult als Fachmann, der Sie sind, nicht so
unverantwortlich daherreden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ban-
kenabgabe, die diese Koalition durchsetzt, hat zu man-
cher Diskussion geführt; aber sie ist richtig. Sie sorgt da-
für, dass diejenigen, die sich an entsprechenden Risiken
beteiligen, die Haftung dafür übernehmen müssen.

Herr Gysi, jetzt nur ein Satz zu Ihnen.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Nur einen? Mindestens zwei!)


Wissen Sie, ich halte es schon für einen großen Unsinn,
das Staatsbankensystem der DDR als Modell für
Deutschland zu betrachten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN: Oh! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Nur darüber haben Sie geredet. Sie haben davon gespro-
chen, dass die Europäische Zentralbank der Deutschen
Bank einen Kredit gibt und dafür 1 Prozent Zinsen ver-
langt. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das war eine Maß-
nahme in der Krise, weil nur so einigermaßen günstig
Kredite an die mittelständische Wirtschaft ausgereicht
werden konnten, wodurch Arbeitsplätze erhalten worden
sind; das war entscheidend. Aber das haben Sie, Herr
Gysi, noch nie kapiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, aber für 13 Prozent Zinsen!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße
es auch wegen der deutschen Haushaltssituation außer-
ordentlich, dass die Bundeskanzlerin bei den Verhand-
lungen darauf drängen wird, die Einlage der notwendi-
gen Barmittel über einen längeren Zeitraum zu verteilen,
sodass wir es besser mit unseren Haushaltszielen in Ein-
klang bringen können.

Ein letzter Hinweis: Ja, wir nehmen die Beurteilung
Europas in der Öffentlichkeit sehr bewusst wahr. Inso-
fern liegt in diesen Regelungen, die wir auf den Weg
bringen, die große Chance, den Menschen zu erklären,
dass es sich hier nicht um rein finanztechnische Maßnah-
men handelt, sondern es schlicht und ergreifend darum
geht, die Zukunftsfähigkeit Europas zu erhalten. Wir
wissen: Deutschland ist unser Vaterland, aber Europa ist
unsere Zukunft. Ohne Europa werden wir nie stark ge-
nug sein, um in der Welt im Wettbewerb bestehen zu
können. Deshalb ist die Maßnahme, die wir auf den Weg
bringen, im Interesse Deutschlands, aber auch im Inte-
resse ganz Europas.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Reine Ablenkungsrede!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709901300

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709901400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Frau Bundeskanzlerin, 68 Prozent bzw. 71 Prozent
der Bevölkerung – so eine andere Umfrage – halten Ihr
Atommoratorium für ein bloßes Wahlkampfmanöver.


(Zuruf von der FDP: Kommen Sie mal zum Thema!)


Das taten sie schon, bevor Herr Brüderle diese Wahrheit
auch noch ausdrücklich beim Bundesverband der Deut-
schen Industrie protokollieren ließ.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was heißt das? Die Glaubwürdigkeit der deutschen
Bundeskanzlerin ist in einer zentralen Frage beschädigt.
Dafür gibt es jenseits dieses Themas einen Grund. Sie
machen nicht viel richtig, aber selbst wenn Sie mal et-
was richtig machen, machen Sie es


(Birgit Homburger [FDP]: Falsch?)


verkehrt.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Birgit Homburger [FDP]: Das ist doch absurd! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Oberlehrer!)


Es ist richtig – ich erläutere das gern für Sie, Frau
Homburger –, skeptisch gegenüber einer deutschen Be-
teiligung an der Militäroperation in Libyen zu sein. Es
war falsch, sich deswegen im Sicherheitsrat zu enthalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der FDP)


Es ist richtig, dass wir dort dringend ein Waffenembargo
brauchen. Es ist aber falsch, sich anders als selbst die
Türkei nicht an der Durchsetzung dieses Waffenembar-
gos zu beteiligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Was?)


Es ist richtig, dass wir ein konsequentes Ölembargo für
Libyen brauchen, aber es ist peinlich, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass sich genau dazu der Europäische Rat
nicht wird durchringen können. Das kennzeichnet diese
Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dann stellt sich die Frage, wie handlungsfähig wir
sind.


(Oliver Luksic [FDP]: Die Grünen sind nicht regierungsfähig!)


Mit dem Satz: „Selbst da, wo Sie mal etwas Richtiges
machen, machen Sie es verkehrt“, ist Ihre Haltung ei-
gentlich noch freundlich beschrieben. Sie dementieren
häufig das, was Sie richtig machen. Sie reden national,
geben bei der Bild die „Eiserne Lady“, und am Ende se-
hen Sie sich gezwungen, europäisch zu handeln. Das
führt Sie in die verblüffende Situation, dass Sie hier per-
manent Niederlagen als Siege verkaufen müssen.

Liebe Frau Homburger, wenn Sie sagen, die Opposi-
tion sei so scharf auf die Euro-Bonds,


(Birgit Homburger [FDP]: Das steht im Antrag!)


muss ich Sie darauf hinweisen: Es war der Christdemo-
krat Jean-Claude Juncker, der den Vorschlag gemacht
hat.


(Otto Fricke [FDP]: Er wird nie Mitglied der FDP! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP – Gegenruf des Abg. Thomas Oppermann [SPD]: Ob das gegen ihn spricht?)


Es ist die Berichterstatterin des Europäischen Parla-
ments, Frau Goulard von den französischen Liberalen,
die genau dies fordert.


(Otto Fricke [FDP]: Das ist falsch! – Weiterer Zuruf von der FDP: Sie haben keine Ahnung!)


Also hören Sie auf, das bei anderen abzuladen, meine
Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Holger Krestel [FDP]: Sie verstehen davon doch so viel wie der Blinde von der Farbe! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU und der FDP)


Eine der Wahrheiten ist, dass Sie heute Bedenken
nachkommen, die wir bei der Einrichtung des Stabilitäts-
mechanismus in der ursprünglichen Form einer Luxem-
burger Zweckgesellschaft kritisiert haben. Heute legen
Sie zwar kein vergemeinschaftetes Modell vor, aber we-
nigstens schaffen Sie eine völkerrechtliche Grundlage
für diesen Stabilitätsmechanismus. Das ist nicht befrie-
digend, aber ein Schritt in die richtige Richtung.


(Otto Fricke [FDP]: Das Ziel ist richtig, nur er findet es falsch!)


Aber nach wie vor täuschen Sie die deutsche Öffent-
lichkeit über die Ursachen dieser Finanzkrise. Sie hat
drei Ursachen: Auf der einen Seite ist das die überbor-
dende staatliche wie private Verschuldung, auf der ande-
ren Seite sind es Leistungsbilanzungleichgewichte, und
es ist die Schwäche europäischer Banken. Das lässt sich
eben nicht auf das wahnwitzige Modell Griechenlands
mit seiner Staatsverschuldung reduzieren. Sie wissen
sehr genau, dass Irland und Spanien nach den
Maastricht-Kriterien lange Zeit Musterknaben waren,
von denen sich Deutschland zwar hätte eine Scheibe ab-
schneiden können, die aber das Problem massiver priva-
ter Überschuldung hatten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peer Steinbrück [SPD]: Richtig!)


Wir brauchen den Stabilitätspakt. Er ist notwendig,
aber er ist nicht hinreichend. Das dämmert Ihnen; Sie ha-





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

ben das an dieser Stelle zugegeben. Es kann eben nicht
dauerhaft gut gehen, dass die einen nur exportieren und
die anderen nur importieren, meine Damen und Herren.

Wenn wir uns aber in dieser schwierigen Situation be-
finden und wenn eine der Ursachen dafür die Schwäche
des europäischen Bankensektors ist, dann gehört es auch
dazu, dass Sie als deutsche Bundeskanzlerin den Mut ha-
ben, zu sagen, dass zur Rettung von Finanzmärkten – so
schwer das allen fällt; ich glaube, das geht allen Kolle-
ginnen und Kollegen hier im Hause so – auch gehört,
Banken retten zu müssen. Nur muss man dann den Mut
haben, Frau Bundeskanzlerin, diese bittere Wahrheit
auszusprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber Sie vermeiden das, weil Sie wissen, dass Ihnen
dann Ihr Koalitionsladen um die Ohren fliegt. Die FDP
hat lautstark verkündet, wenn es zu einer Aufstockung
des Rettungsfonds käme, dann würde sie die Koalition
beenden. Das ist eine interessante Aussage. Der Ret-
tungsfonds ist aufgestockt worden – das ist beschlossen –,
und was macht Herr Westerwelle? Er enthält sich wahr-
scheinlich jeden Kommentars.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Thomas Oppermann [SPD]: Montag ist die Koalition zu Ende!)


Sie sagen: Der Rettungsfonds, der Europäische Stabi-
litätsmechanismus, darf in Zukunft sogar Anleihen von
Staaten kaufen. Der EFSF darf das schon jetzt.


(Otto Fricke [FDP]: Was? Das ist doch gar nicht wahr! Das ist schlicht falsch!)


Aber es ist eigentlich egal, ob die Europäische Zentral-
bank, der ESM oder der EFSF das macht. Sie behaupten,
es gäbe keine Haftungsgemeinschaft. Natürlich gibt es
die. Wenn die Anleihen ausfallen, ist Deutschland mit ei-
nem guten Viertel daran beteiligt. Wegen zusätzlicher
Risikovorsorge hat die Bundesbank sogar weniger Ge-
winn überwiesen. Beim ESM sind wir mit 22 Milliarden
Euro größter Geldgeber. Die Garantien kommen noch
hinzu.


(Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Wofür sind die Garantien denn gut, liebe Frau
Homburger, wenn nicht, um schwächelnden EU-Staaten
unter die Arme zu greifen? Das, was hier beschlossen
wird, ist nichts anderes als eine Haftungsgemeinschaft.
Ich sage Ihnen: Es ist auch gut so, dass das eine Haf-
tungsgemeinschaft ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben in einem Antrag geschrieben, dass der
Deutsche Bundestag erwartet, dass gemeinsam finan-
zierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme aus-
geschlossen werden. Meine Damen und Herren, was ist
denn mit den irischen Anleihen im Wert von 77 Milliar-
den Euro, die bei der EZB liegen? Wenn die ausfallen,
sind wir in Deutschland mit dabei.


(Otto Fricke [FDP]: Nein!)

Deutschland steht schon lange für die Schulden anderer
Länder ein. Hören Sie auf, diese einfache Tatsache ge-
genüber der Bevölkerung vertuschen zu wollen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Richtig! Das ist eine Tatsache!)


Das hilft nämlich nicht weiter. Am Ende kommt so et-
was immer heraus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Zu der Frage einer einfachen Verlängerung haben Sie,
Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regierungserklärung
vom 27. Oktober 2010 gesagt – ich zitiere –:

Eine einfache Verlängerung [des derzeitigen Ret-
tungsschirms] … wird es mit Deutschland nicht ge-
ben.


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist ja auch so!)


Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei
dem … private Gläubiger beteiligt werden.


(Birgit Homburger [FDP]: Ja!)


Was ist der Fall? Wir haben eine Überführung. Der ESM
ist die Fortschreibung des EFSF.


(Birgit Homburger [FDP]: Herr Gott noch mal! Wer hat Ihnen dieses Zeug aufgeschrieben?)


Die Gläubigerbeteiligung wird nur unter äußerst engen
und restriktiven Bedingungen und keinesfalls automa-
tisch möglich sein. Das ist Ihr Kurs.

Ich kann das fortsetzen. Jahrelang waren Sie gegen
eine europäische Wirtschaftsregierung. Jetzt machen Sie
eine 180-Grad-Wendung. Damit der Deutsche Bundes-
tag das nicht merkt, haben Sie es am Bundestag vorbei
gemacht. Das hat Ihnen den zutreffenden Hinweis des
Bundestagspräsidenten eingebracht, es mache sich eine
gewisse „Wurstigkeit“ im Umgang mit Gesetzen in die-
sem Hause durch die Bundesregierung breit.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?)


In der Sache ist der Schwenk in Richtung Wirtschafts-
regierung richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Sie wol-
len bei den anderen etwas ändern, aber nicht bei sich
selbst. Leistungsbilanzungleichgewichte haben aber
zwei Seiten und nicht nur eine Seite. Über die Frage der
Stärkung der Binnennachfrage muss man nicht nur im
Zusammenhang mit dem Mindestlohn reden. Frau Bun-
deskanzlerin, Sie sagen zu Recht, dass es keine dauer-
hafte Abkopplung der Lohnentwicklung von der Produk-
tivität geben kann, und sind deswegen gegen die
automatischen Lohnindizes in anderen europäischen
Staaten. Das gilt aber auch umgekehrt. Es kann auch
keine dauerhafte Entkopplung der Lohnentwicklung von
der Produktivität in der Form geben, dass die Reallohn-
quote permanent sinkt, was in Deutschland der Fall ist.





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ein Defizit, das wir in Deutschland endlich und
schnell beheben müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme auf die berühmten Euro-Bonds zurück,
die die Europäische Union auflegt, also zu den Kredit-
garantien. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken
wollen, wenn wir beispielsweise mehr in den Ausbau der
Netze oder den Bereich Ausbildung investieren wollen,
dann müssen wir nicht nur den Haushalt umbauen. Da-
rauf hat der Kollege Steinbrück zu Recht hingewiesen.
Wenn man, wie jetzt vorgeschlagen, auf Projekt-Bonds
zurückgreift, was ist das anderes als eine andere Form
europäischer Verschuldung?


(Widerspruch bei Abgeordneten der FDP)


Ich sage: Es ist richtig, diesen Weg zu gehen. Hören Sie
auf, zu sagen, Sie seien gegen Euro-Bonds. Sie haben
dem Kind nur einen anderen Namen gegeben. Das ist die
Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn! Unter Ihrem intellektuellen Niveau ist das! – Widerspruch bei der FDP)


Fahren wir fort. Frau Merkel, Sie haben heute hier ge-
sagt: „Es wird … weder regelmäßige noch dauerhafte
Transferleistungen geben.“ Das legt die Frage nahe, ob
es unregelmäßige oder gelegentliche Transferleistungen
gibt. Ich möchte Ihnen eines in aller Deutlichkeit sagen:
Dieses Europa ist, seit es es gibt, eine Transferunion.
Kohäsionsfonds, Gemeinsame Agrarpolitik – all dies
sind Transfers.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Transfers sind zum politischen und ökonomischen
Vorteil auch und gerade Deutschlands.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709901500

Herr Kollege.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709901600

Deswegen kann man es nicht weiterhin für Führung

halten, in Deutschland nationale Reden zu halten und am
Ende vom gemeinsamen Europa dazu gezwungen zu
werden, vernünftig zu sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das verschärft die Europafeindlichkeit und die Europa-
müdigkeit. Führung, liebe Frau Bundeskanzlerin, besteht
darin, in Europa die Richtung anzugeben. Doch da
herrscht bei Ihnen ein erklecklicher Mangel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709901700

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Link das

Wort.

Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1709901800

Herr Kollege Trittin hat gerade in der Debatte gesagt,

dass der EFSF bereits jetzt Anleihen aufkaufen dürfe. Er
hat offengelassen, an welchem Markt, aber die Aussage
war klar. Ich möchte das ganz eindeutig richtigstellen:
Der EFSF darf keine Anleihen aufkaufen. Wir müssen
bei diesem wichtigen Thema schon bei der Wahrheit
bleiben, Kollege Trittin.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Er hat des Weiteren dargestellt, dass wir ohnehin
schon jetzt eine Transferunion hätten. Richtig: Wir ha-
ben Struktur- und Kohäsionsfonds. Auch die FDP steht
zu Struktur- und Kohäsionsfonds. Wir können uns jetzt
zwar gern über die Bedeutung des Wortes „Transfer-
union“ unterhalten. Aber die entscheidende Botschaft
dieser Debatte ist, dass es durch den ESM keine Haf-
tungsgemeinschaft und auch keine Ausweitung der
Transfers gegenüber dem gibt, was bereits jetzt in den
Verträgen zur Struktur- und Kohäsionspolitik steht. Das,
lieber Kollege Trittin, was wir jetzt bei der Unterstüt-
zung für die weniger entwickelten Regionen solidarisch
machen, ist etwas völlig anderes als das, was der ESM
bezüglich einer Nothilfe in einzelnen Fällen macht. Eine
Transferunion werden Sie hier auch mit noch so vielen
rhetorischen Tricks nicht herbeireden können, eine Haf-
tungsunion schon gar nicht; denn diese ist durch die Ver-
handlungslinie der Bundesregierung erfolgreich verhin-
dert worden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt keine Nebenreden halten! Gebt es einmal zu! – Gegenruf des Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Schreihals!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709901900

Zur Erwiderung, bitte, Herr Kollege Trittin.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709902000

Lieber Herr Kollege, zum Ersten: Ich wiederhole

gerne mein Beispiel, das ich gerade genannt habe. Bei
der Europäischen Zentralbank liegen 77 Milliarden Euro
Staatsanleihen aus Irland.


(Otto Fricke [FDP]: Sie wollen doch jetzt nicht die Zentralbank beeinflussen!)


Wenn diese 77 Milliarden Euro fällig werden, haften wir
dafür. Welchen Grund gibt es, hier öffentlich zu bestrei-
ten, dass es eine Haftungsgemeinschaft gibt? Das ist völ-
lig absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jetzt kommen wir zum Zweiten: Dabei geht es um
mehr als Technik.


(Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie jetzt der Zentralbank ernsthaft Vorschriften machen? Wollen Sie das oder nicht? – Birgit Homburger [FDP]: Politischer Einfluss auf die EZB!)






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

– Ich habe ein Faktum festgestellt. Ich weiß, dass Ihnen
das wehtut.


(Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie der EZB sagen, dass sie das tun muss? Wer entscheidet das?)


– Lieber Kollege Fricke, es gibt diese Staatsschulden.
Sie sind von der EZB aufgekauft worden. Wir haften,
wenn sie fällig werden. Das ist eine Haftungsgemein-
schaft. Um dieses simple Faktum kommen Sie nicht he-
rum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Über die FDP muss ich mich zunehmend wundern.
Sie hatten einen Außenminister, an den sich viele sozu-
sagen als Benchmark erinnern, nämlich Hans-Dietrich
Genscher. Er hat in der Frage der Notwendigkeit eines
gemeinsamen Europas, in der Frage der Behebung von
Wettbewerbsschwächen und in der Frage, ob man dieses
Europa öffnen soll, gerade nach Osteuropa, immer wie-
der für dieses gemeinsame Europa gestritten.


(Birgit Homburger [FDP]: Wir auch!)


Eine der Voraussetzungen dieses gemeinsamen Europas
war, dass wir gemeinschaftlich darangegangen sind,
auch und gerade die Wettbewerbsfähigkeit von Beitritts-
ländern, von schwachen Ländern anzuheben. Die ge-
samte Erweiterungspolitik ist von Anfang an und perma-
nent davon geprägt, dass es Transfers aus wirtschaftlich
stärkeren Regionen in schwächere Regionen gibt.


(Otto Fricke [FDP]: Mit konkretem Ziel!)


Das hält, übrigens auch in dem Krisenmechanismus, bis
heute an, indem wir Liquidität von starken Ländern in
schwächere Länder transferieren.


(Birgit Homburger [FDP]: Das hat damit nichts zu tun, verdammt noch mal! – Otto Fricke [FDP]: Nein, das haben wir nie gemacht! Nie Liquidität!)


Dies geschieht übrigens mit Ihrer Zustimmung.

Ich frage Sie: Welchen Grund gibt es, dass Sie diese
Errungenschaft Europas, die die Weiterentwicklung Eu-
ropas so befördert hat – dies war übrigens auch wirt-
schaftlich zu unserem Nutzen –, permanent in öffentli-
chen Veranstaltungen denunzieren? Transfer ist kein
Grund zur Denunzierung, Transfer ist eine Grundlage
dieses gemeinsamen Europas. Wer das in Abrede stellt,
versündigt sich am gemeinsamen Gedanken Europas.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709902100

Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1709902200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu
Ihnen, Herr Kollege Steinbrück. Ich hätte mich gern mit
noch mehr Rednern der Opposition auseinandergesetzt.
Es hat wahrscheinlich einen tieferen Sinn, dass hier von
allen Fraktionen die Fraktionsvorsitzenden gesprochen
haben und nur die SPD-Fraktion davon abgesehen hat;
aber das ist eine andere Geschichte.


(Peer Steinbrück [SPD]: Was geht Sie das an? – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ärgert Sie?)


Zum Inhalt Ihrer Rede: Das, was Sie gemacht haben,
bringt uns überhaupt nicht weiter. Es war rückwärtsge-
wandt und zu großen Teilen besserwisserisch. Genau das
brauchen wir in Europa und in den europapolitischen
Debatten nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ein Zweites. Es bedarf einer bestimmten Chuzpe, um
nicht zu sagen: einer bestimmten Dreistigkeit, sich hier
hinzustellen und solch eine Rede zu halten, wenn man
weiß, dass man selbst – ich denke an das Jahr 2003 – einen
aktiven Beitrag zu den heutigen Problemen geleistet hat,
nämlich die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstums-
paktes. Vieles von dem, was wir heute reparieren müs-
sen, ist diesem Umstand geschuldet.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie doch einmal einen Punkt! Einen einzigen Punkt! Eine Stelle, wo Sie das rückgängig machen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709902300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Hendricks?


Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1709902400

Jetzt noch nicht,


(Heinz-Joachim Barchmann [SPD]: Falsch behaupten und nicht richtigstellen lassen!)


auch wenn es mich freut, dass meine Rede offensichtlich
schon zu einem frühen Zeitpunkt dazu führt, dass der
Blutdruck der Oppositionsfraktionen steigt.

Noch ein Letztes zu Ihrer Rede. Sie werfen der Bun-
desregierung vor, dass die Märkte schneller reagiert hät-
ten. Ich kann dazu nur sagen: Es gibt in der Politik den
Anspruch, dass man nicht alles in vorauseilendem Ge-
horsam macht. Die Ratingagenturen weltweit, alles in al-
lem drei Stück, haben meiner Ansicht nach schon etwas
zu viel zu sagen; aber offensichtlich sehen Sie das an-
ders.

Man muss wissen: Wenn Entscheidungen in Europa
getroffen werden, dann werden diese anders getroffen
als hier bei uns im Bundestag oder in den Parlamenten
anderer Mitgliedstaaten. In Europa sind Kompromisse
gefragt. Genau diese waren auch in diesem Fall erforder-
lich. Ich bin der Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin





Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)

Merkel und vor allem unserem Bundesfinanzminister
und seinem gesamten Haus sehr dankbar, dass sich jetzt
in dem sogenannten Europäischen Stabilisierungsme-
chanismus, kurz ESM, die wesentlichen deutschen Posi-
tionen wiederfinden. Dazu sage ich nachher noch mehr.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Och nee!)


Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen wichtig – bei
so manchem Kommentar, den man liest oder hört, wird
das deutlich –, dass wir darauf hinweisen, warum wir das
alles überhaupt machen. Es war sicherlich von großem
Nutzen, dass wir heute in der Regierungserklärung von
Frau Bundeskanzlerin Merkel nochmals gehört haben,
was der konkrete Nutzen auch für uns, für die Menschen
in Deutschland ist. Sicher ist: Die Maßnahmen sind im
Interesse von Europa. Aber sicher ist auch: Sie sind im
Interesse Deutschlands.

Wir vergessen oft und allzu sehr, warum wir die ge-
meinsame Währung, warum wir den Euro seinerzeit aus
der Taufe gehoben haben. Zwei Drittel aller Exporte der
Bundesrepublik Deutschland gehen in Länder der Euro-
päischen Union und sichern damit Arbeitsplätze und
Wohlstand in Deutschland.

Wie sah es denn früher aus? Auf- und Abwertungen
und Währungsaufkäufe bestimmten das Bild, mit allen
damit verbundenen Belastungen für die deutsche Wirt-
schaft. In der Vergangenheit war es so, dass sogenannte
Fremdwährungsrisiken abgesichert werden mussten, da-
mit die deutsche Wirtschaft mehr Planbarkeit hatte. Diese
kosteten Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbe-
trag. Jahr für Jahr kam es durch den Euro in der deutschen
Wirtschaft und im Mittelstand zu größeren Einsparungen,
als sie dieses Haus mit jeder Unternehmensteuerreform
hätte erzielen können. Es ist wichtig, das alles zu erwäh-
nen und in Erinnerung zu rufen. Hinzu kommt: Der Euro
war in seiner Vergangenheit stabiler, als es die D-Mark je
war; auch dies gerät allzu häufig in Vergessenheit. Mit an-
deren Worten: Hätten wir ihn nicht, müssten wir ihn heute
geradezu erfinden.

Jetzt zurück zu den Maßnahmen. Wir wollen mehr
Stabilität, und wir wollen mehr Vertrauen. Ich glaube,
dies gelingt auch. Der bevorstehende Europäische Rat
wird sich natürlich schwerpunktmäßig mit dem soge-
nannten ESM auseinandersetzen. Aber dies ist eigentlich
erst der dritte Schritt in einer logischen Kette.

Der erste Schritt ist die Schärfung und Stärkung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts, beispielsweise da-
durch, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte in Zukunft
auch in Brüssel vorlegen – Stichwort: Europäisches Se-
mester –, nicht weil sich Brüssel zum Oberaufseher ma-
chen möchte, sondern weil man dann frühzeitig auf
Schieflagen hinweisen kann. Denn viele Probleme, über
die wir uns heute beklagen, hätten wir nicht bekommen,
hätten wir nur früher gehandelt. Es ist wichtig, dass wir
diese Maßnahme jetzt treffen und damit auch zu mehr
Stabilität und zu mehr Planbarkeit kommen.

Der zweite Schritt ist der Pakt für den Euro, der uns
zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen wird. Um eines
aufzuzeigen, Herr Kollege Steinbrück: Der Erfolg, den
die Bundesrepublik Deutschland hat, ist nicht zeitgleich
der Misserfolg der anderen Länder, vor allem der Part-
nerländer in Europa. So war Ihre Rede an diesem Punkt
allerdings zu verstehen. Genau das wäre aber nicht der
Fall.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein! Er hat es genau umgekehrt erklärt!)


Die anderen Länder profitieren geradezu davon, dass wir
in Deutschland eine wettbewerbsstarke Position haben.
Das geht nicht auf Kosten der anderen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Sie haben es nicht verstanden!)


Es sind keine kommunizierenden Röhren.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ach! Das ist doch logisch!)


Der dritte Schritt ist der Europäische Stabilisierungsme-
chanismus. Er ist die Ultima Ratio und greift nur dann,
wenn sich ein Land selbst nicht mehr helfen kann. Dann ist
es dazu verpflichtet, ehrgeizige, beherzte Reformpro-
gramme vorzulegen. Dann folgt eine Schuldentragfähig-
keitsanalyse – auch dies wurde heute Morgen schon ange-
sprochen – von Europäischer Kommission, IWF und EZB.
Nur dann, wenn der Euro als Ganzes in Gefahr ist – ich
wiederhole: nur dann; hier gibt es kein Oder –, wird unter-
stützend gehandelt.

Ein Letztes – weil es hieß, dass die Beteiligung der
privaten Gläubiger nicht ausreichend sei –: Sehr verehr-
ter Herr Kollege Steinbrück, Sie stehen im politischen
Leben und wissen, was in Verhandlungen realistisch ist
und was nicht. Fakt und Realität ist, dass in diesen Ver-
handlungen nicht mehr drin war. Trotzdem findet sich
die Handschrift Deutschlands auch hier wieder.

Um dies zu verdeutlichen, möchte ich aus einem Pa-
pier zitieren. Darin heißt es:

Wird bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse festge-
stellt, dass eine Rückführung der öffentlichen Ver-
schuldung mithilfe eines makroökonomischen An-
passungsprogramms auf eine nachhaltige Grundlage
nicht realistisch ist, wird das Empfängerland ver-
pflichtet, aktiv in Verhandlungen nach Treu und
Glauben mit seinen Gläubigern einzutreten, um
diese unmittelbar in die Wiederherstellung der
Schuldentragfähigkeit einzubinden. Die Gewährung
von Finanzhilfen steht unter dem Vorbehalt, dass der
Mitgliedstaat diesbezüglich ein plausibles Sanie-
rungskonzept vorlegt und sich zu einer angemesse-
nen und verhältnismäßigen Beteiligung des Privat-
sektors verpflichtet.

So weit das Zitat. Hier wurde nicht umsonst eine Be-
teiligung der privaten Gläubiger vorgesehen, gerade
auch auf Druck der Bundesrepublik Deutschland. Denn
unsere Position, die Position der Bundesregierung, ist,
dass wir diejenigen, die an den entsprechenden Papieren
verdienen, in die Haftung einbinden wollen.

Ein Allerletztes: Ich glaube, dass gerade die Europäi-
sche Union hiermit ihre Hausaufgaben gemacht hat.
Wenn ich an andere Stellen dieser Welt schaue, bei-
spielsweise in die USA, in denen die Verschuldung





Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)

14 Billionen Dollar beträgt, dann fürchte ich, wir werden
uns in Zukunft mit anderen Ecken dieser Welt noch nä-
her beschäftigen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709902500

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gin Barbara Hendricks.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1709902600

Herr Kollege Krichbaum, ich möchte auf den Beginn

Ihrer Ausführungen zurückkommen. Begonnen haben
Sie damit, Sie wollten sozusagen Ihren Blick in die Zu-
kunft richten. Als Nächstes haben Sie gesagt, Sie müss-
ten aber etwas zur Änderung des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts unter Rot-Grün im Jahre 2003/2004 sagen.

Nehmen Sie und vielleicht auch das ganze Haus, ins-
besondere die Kollegin Fraktionsvorsitzende der FDP,
die das immer fälschlich behauptet, doch bitte zur
Kenntnis: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist in der
Tat unter anderem auf Initiative von Deutschland im
Jahre 2003/2004 geändert worden. Der so geänderte Sta-
bilitäts- und Wachstumspakt ist durch die Bundeskanzle-
rin, Frau Merkel, zusammen mit dem damaligen Bun-
desfinanzminister, Herrn Steinbrück, im November des
Jahres 2005 gegenüber dem Währungskommissar
Almunia ausdrücklich bestätigt worden.

Diese Bundesregierung hat auch keinerlei Initiativen
unternommen, wesentliche Änderungen rückwirkend so-
zusagen wieder abzuwickeln. Keinerlei Versuch ist un-
ternommen worden.


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist ein bemerkenswerter Versuch, Schuld abzustreiten! Waren Sie es, oder waren Sie es nicht?)


Wenn man das Bundesfinanzministerium fragt, wa-
rum nicht, dann wird das Bundesfinanzministerium ant-
worten: Ja, weil die allermeisten dieser Maßnahmen
sinnvoll sind und waren.

Wenn ich das Haus abschließend noch darauf auf-
merksam machen darf, dass die so hochgelobte Schul-
denbremse, die wir mit breiter Mehrheit dieses Hauses
und mit Zustimmung des Bundesrates in die Verfassung
geschrieben haben, genau diesem so geänderten Mecha-
nismus des Stabilitäts- und Wachstumspakts nachgebil-
det worden ist, dann frage ich Sie: Sind Sie angesichts
dessen endlich einmal in der Lage, diese unzutreffenden
Behauptungen sein zu lassen, oder wollen Sie in Zukunft
auch die Schuldenbremse nicht mehr haben? Sie ent-
spricht genau demselben Mechanismus. Haben Sie das
einfach noch nicht verstanden, oder was ist los?


(Beifall bei der SPD – Thomas Oppermann [SPD]: Nicht verstanden!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709902700

Bitte schön, Herr Kollege.

Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1709902800

Frau Kollegin Hendricks, die Bundeskanzlerin hat

heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genau diesen
Blick zurück nicht gemacht. Sie hätte hier sehr wohl an-
fügen können, warum wir diesen Reparaturbetrieb über-
haupt haben aufmachen müssen. Sie hat darauf verzich-
tet,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein, hat sie nicht! – Thomas Oppermann [SPD]: Da haben Sie wieder nicht zugehört!)


im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Steinbrück.

Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer hier
diese Baustelle aufmacht, der muss sich dann auch anhö-
ren, warum wir diesen Schlamassel heute überhaupt zu
beseitigen haben.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Eben nicht!)


Was war nämlich der Grund?


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ein Blödsinn!)


– Jetzt hören Sie auch einmal zu. – Der Grund war, dass
Deutschland damals zusammen mit Frankreich in einer
verhängnisvollen Entente cordiale – um vielleicht einen
belegten Begriff zu benutzen –


(Heinz-Joachim Barchmann [SPD]: Vorsicht, Geschichte!)


genau für die Aufweichung des Stabilitätspaktes gesorgt
hat, was dann nachher als Sündenfall und Blaupause da-
für diente, dass andere, auch kleinere Länder hinterher
kamen und genau diese Tarife aufgeweicht wurden, für
die sich damals Helmut Kohl und auch Theo Waigel
nicht ohne Grund eingesetzt hatten, sodass wir genau
diese scharfen Mechanismen bekommen haben.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Und was ist mit der Schuldenbremse?)


Es ist Ihnen unter der damaligen Regierung nichts an-
deres eingefallen, als genau diese harten Kriterien aufzu-
weichen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie es nicht rückgängig gemacht?)


Dadurch wurde Vertrauen vergeudet. Da wurde Ver-
trauen verspielt. Deswegen haben wir heute viel von
dem Schlamassel zu beseitigen, den Sie damals ange-
richtet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Es ist einfach nur falsch, was er sagt! Es ist Unsinn, und er weiß es auch!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709902900

Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/

CSU-Fraktion.






(A) (C)



(D)(B)


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1709903000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wer den Euro stabilisieren will, der muss zum Stabili-
täts- und Wachstumspakt und zu einer soliden Stabili-
tätskultur zurückkehren. Wenn wir die Ereignisse in Por-
tugal betrachten, dann fällt schon auf, dass dieser Staat
im Moment Schwierigkeiten hat, die Vorgaben des be-
stehenden Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten.
Also, offenbar ist der Druck von außen manchmal not-
wendig und auch heilsam. Aber es führt an der Eigenver-
antwortung der Mitgliedstaaten kein Weg vorbei.

Das gilt auch für das zweite Ziel, das wir mit unseren
Maßnahmen hier verfolgen, nämlich, die Wettbewerbs-
fähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Wir müssen er-
reichen, dass sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
der einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone wieder ei-
nander annähert. Dazu ist sicherlich eine Koordination
erforderlich. Vor allem braucht man dafür aber eigene
Anstrengungen und den Mut zu eigenen Reformen.

Der Kern der Vereinbarungen wird der Europäische
Stabilisierungsmechanismus sein. Ich bleibe dabei, dass
Finanzhilfen nur dann Sinn machen, wenn zugleich ein
Regime zur Umstrukturierung von insolventen Banken
und Staaten besteht. Wir müssen Umschuldungen er-
möglichen. Dabei müssen wir die Beteiligung der Gläu-
biger durchsetzen. Deshalb bleibe ich dabei, dass der
Schuldenankauf auf dem Primärmarkt aus meiner Sicht
problematisch zu bewerten ist. Wir dürfen nicht dahin
kommen, dass aus nationalen Schulden vergemeinschaf-
tete Schulden werden.

Meine Damen und Herren von der SPD, das, was Sie
in Ihrem Antrag heute fordern, nämlich dass man eine
Gemeinschafts- und Verbundhaftung einrichtet, genau
das wollen wir nicht. Das dürfen wir nicht, und deswe-
gen lehnen wir das entschieden ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Finanzhilfen müssen teures Geld bleiben; denn wer
Hilfe bekommt, muss einen Anreiz haben, dass er von
dieser Hilfe auch wieder wegkommt. Herr Bundes-
finanzminister, deswegen bitte ich Sie, dass Sie sich da-
für einsetzen, dass die Zinsen für Kredite im Rahmen
des Europäischen Stabilisierungsmechanismus höher als
die Zinsen für Kredite des Internationalen Währungs-
fonds sind. Diese IWF-Kredite sind vorrangig vor den
europäischen Krediten, und deswegen müssen die euro-
päischen Kredite teurer sein.

Ich halte es für unabdingbar, dass die Kreditvergaben
unter den Mitgliedstaaten der Euro-Zone im Einverneh-
men beschlossen werden. Ich frage aber schon, wieso bei
der Vergabe von Krediten auch Staaten mitstimmen sol-
len, die zur Finanzierung dieser Kredite nichts mehr bei-
tragen, weil sie sich selbst schon unter dem Rettungs-
schirm befinden. Ich bitte, darauf zu achten, dass hier
kein Hebel entsteht, wodurch ein Mitgliedstaat, der
selbst schon Hilfe erhält, eine bessere Vereinbarung und
verbesserte Kreditkonditionen durchsetzen kann, weil
seine Zustimmung zur Kreditvergabe an einen dritten
Staat gefragt ist. Auch hier bitte ich, dass wir uns die
Dinge noch einmal genau überlegen.
Ich bin schon überrascht darüber, was ich heute aus
den Reihen der SPD zur Mitwirkung des Europäischen
Parlaments hören musste. Wir vereinbaren eine Hilfe
zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Deswegen
muss die Kontrolle dieser Hilfen in den Händen der Par-
lamente der Mitgliedstaaten liegen. Wer zahlt, schafft an.


(Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht der Rat aber anders!)


Ich sehe überhaupt keine Grundlage für das Angebot
der Europäischen Kommission, hierzu jetzt eine Verord-
nung zu erlassen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Juncker hat das aber anders gesehen!)


Wer eine Vergemeinschaftung in der Form will, dass das
Europäische Parlament beteiligt wird, der muss zur
Kenntnis nehmen, dass eine Veränderung im vereinfach-
ten Vertragsänderungsverfahren überhaupt nicht mehr
möglich ist. Sie müssen sich also schon entscheiden, was
Sie wollen.

Ich habe diesem sogenannten Term Sheet, das uns in
dieser Woche vorgelegt worden ist und auf dessen
Grundlage die weiteren Verhandlungen jetzt stattfinden
sollen, zwei Punkte entnommen, durch die Fragen aufge-
worfen werden, und ich bitte, hier nachzusteuern:

Hinsichtlich der Instrumente des Europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus ist angedacht, dass die Finanz-
minister ermächtigt werden, die Regeln autonom zu ver-
ändern. Die Frage, ob das eine Kompetenzübertragung
darstellt, darf man stellen. Ich bitte darum, dass wir
keine Bereiche schaffen, die der parlamentarischen Kon-
trolle entzogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gleiches gilt für die Möglichkeit, eine Übergangsre-
gelung für die Gläubigerbeteiligung bei diesen soge-
nannten Collective Action Clauses zu schaffen. Eine
Übergangsregelung bis Ende 2011 würde bedeuten, dass
wir nicht absehen können, was nach der Beschlussfas-
sung über diesen Europäischen Stabilisierungsmechanis-
mus noch folgt. Deswegen glaube ich, dass es notwendig
ist, darauf hinzuweisen: Grundlage für alle diese Verän-
derungen soll ein neuer Art. 136 im Vertrag über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union sein, der seinerseits
aber so unbestimmt ist, dass konkretisiert werden muss,
welche Folgen das zeitigen kann. Diese Grundlage kann
nur dadurch bestimmbar werden, dass wir völlig unzwei-
deutig regeln, nach welchen Verfahrensweisen Finanz-
hilfen gewährt werden sollen. Deswegen dürfen wir hier
keine Hintertüren offenlassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich setze mich dafür ein, dass wir dies auch bei der
Umsetzung in nationales Recht beachten, um Lösungen
zu finden, die auf dem Boden des Grundgesetzes reali-
sierbar sind. Dazu gehört die Beteiligung des Bundesta-
ges. Nach meiner Auffassung muss der Bundestag nicht





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

nur bei der Errichtung dieses Stabilisierungsmechanis-
mus, sondern bei jeder Aktivierung von Finanzhilfen im
Einzelfall beteiligt werden, und zwar in Form der vorhe-
rigen Zustimmung,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das sagen Sie aber in Richtung Regierungsbank!)


die konstitutiv für die Gewährung der Hilfe sein soll.
Wir sollten es so regeln wie beim Integrationsverantwor-
tungsgesetz: Nur wenn der Bundestag zustimmt, darf
auch die Bundesregierung zustimmen. Andernfalls muss
sie mit Nein stimmen. Das ist meine Position.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wir sollten auch überlegen, ob wir die Ermächtigung
für den Europäischen Stabilisierungsmechanismus kon-
ditionieren. Die Bundesregierung hat sich gegen Auf-
käufe auf dem Sekundärmarkt ausgesprochen. Lassen
Sie uns deshalb gesetzlich regeln, welche Instrumente
der Finanzhilfe wir zulassen wollen. Wir dürfen nicht am
Ende zu einer Vergemeinschaftung von nationalen
Schulden kommen. Diesen Rubikon dürfen wir nicht
überschreiten.

In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung
viel Erfolg bei ihren Verhandlungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709903100

Das Wort hat nun Kollege Norbert Barthle für die

CDU/CSU-Fraktion.


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1709903200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Ich will zunächst auf einen weiteren
Aspekt eingehen, der mir in der Rede von Herrn
Steinbrück aufgefallen ist. Herr Steinbrück hat aufgrund
der Tatsache, dass die Verhandlungsergebnisse auf euro-
päischer Ebene nicht immer hundertprozentig mit den
Verhandlungspositionen kongruent waren, die Glaub-
würdigkeit der Bundeskanzlerin infrage gestellt.

Ich halte das für sehr bemerkenswert, Herr
Steinbrück, zum einen vor dem Hintergrund, dass Sie,
soweit ich mich erinnere, früher ganz gut zusammenge-
arbeitet haben, und zum anderen, weil Sie dadurch einen
Anspruch erheben, an dem Sie sich selbst messen lassen
müssen. Wenn das der Maßstab für Glaubwürdigkeit ist,
dann frage ich Sie, ob bei all Ihren Verhandlungen das
Ergebnis genau der Position entsprochen hat, mit der Sie
in die Verhandlungen hineingegangen sind. Wenn Sie
diesen Anspruch an sich selbst erheben, frage ich Sie,
wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit aussieht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Ich will zunächst
auf die europäische Idee zurückkommen. Ich glaube,
man kann mit Fug und Recht sagen, dass CDU und CSU
die Europaparteien in Deutschland sind. Denn die euro-
päische Idee wurde von Anfang an von uns getragen.

Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter
Konrad Adenauer die Annäherung an Frankreich vollzo-
gen. Diese Annäherung war letztendlich Motor und
Grundlage der Europäischen Gemeinschaft und ihrer
Weiterentwicklung.

Es war ein weiterer Kanzler der Union, nämlich
Helmut Kohl, der die europäische Währung verwirklicht
hat. Diese Währung hat der Europäischen Union einen
ungeheuren Integrationsschub verliehen. Das zeigen
auch der im Anschluss erfolgte Beitritt einiger Staaten
und die Beitrittswünsche weiterer Länder, die sich alle
von der gemeinsamen Währung positive Wirkungen er-
warten.

Die Einführung einer gemeinsamen Währung war
eine historische Zäsur. Damals gab es viele, die daran
gezweifelt haben, ob es möglich ist, eigenständige Na-
tionalstaaten unter einer gemeinsamen Währung zusam-
menzufassen. Die Väter der Europäischen Währungs-
union haben dieses System aber so angelegt, dass es
gelingen soll und unumkehrbar ist.

Der Blick zurück zeigt uns, dass wir in Deutschland
von der Einführung der gemeinsamen Währung am
meisten profitiert haben. Denn wo stünden wir heute
auch im Hinblick auf die jüngste Finanz- und Wirt-
schaftskrise, wenn wir keine starke gemeinsame Wäh-
rung hätten?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Allein ein Blick auf den Kurs des Schweizer Franken
lässt erahnen, was mit der D-Mark passiert wäre, gäbe es
diese Währung nicht. Deshalb ist die Stabilität des Euro
nicht nur im europäischen Interesse, sondern insbeson-
dere auch im nationalen deutschen Interesse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es im euro-
päischen Raum in den vergangenen Jahren Tendenzen
gab, die zu einer Aufweichung des europäischen Stabili-
täts- und Wachstumspaktes geführt haben. Mein Vorred-
ner ist bereits darauf eingegangen. Ich will das nicht
wiederholen.

Ich will aber auch bemerken, dass wir ein Stück weit
Gefangene unseres eigenen Erfolgs sind. Denn die Au-
ßenstehenden, die internationalen Finanzmärkte, neh-
men den Euro-Raum inzwischen als eine Einheit wahr.
Das heißt, wenn ein Mitgliedsland schwächelt, sind auch
alle anderen betroffen. Deshalb ist es notwendig, dass
wir einen Mechanismus einführen, um gegen einzelne
schwächelnde Mitgliedstaaten, von denen eine Anste-
ckungsgefahr für andere ausgeht, gewappnet zu sein.

Bei den Maßnahmen, die wir jetzt ins Auge fassen,
geht es um die Verhinderung von Ansteckungen. Wir ha-
ben zunächst in einer schnellen Nothilfeaktion den Grie-
chenland-Rettungsschirm und die EFSF aufgebaut, um
schnelle Hilfe leisten zu können, ohne dabei die Eigen-





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

verantwortung der betroffenen Partnerländer beiseitezu-
schieben. Es ist wichtig, auch künftig Hilfe zu leisten –
aber nur unter streng kontrollierten Auflagen.

Es ist ein großer Erfolg der deutschen Verhandlungs-
führung, wichtige Punkte in diesem Regelwerk durchge-
setzt zu haben. Ich danke ganz besonders Bundeskanzle-
rin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble, die klug verhandelt haben, indem immer wie-
der sehr weitgehende Forderungen eingebracht wurden.
Deshalb können wir jetzt davon ausgehen, dass sich
viele unserer Grundkonstanten im Verhandlungsergebnis
abbilden werden. Auch das ist nicht nur im Interesse Eu-
ropas, sondern das ist auch im Interesse der deutschen
Bürgerinnen und Bürger.

Wer dies ausblendet, Herr Kollege Trittin, der zün-
delt an dem Haus, in dem wir gemeinsam wohnen.
Alle, die hier Skepsis verbreiten, handeln aus meiner
Sicht unverantwortlich. Das Zusammenstehen der Mit-
gliedsländer in der Europäischen Währungsunion ist in
unserem fundamentalen Interesse. Der Chefvolkswirt
der Deutschen Bank, Thomas Mayer, hat vor wenigen
Tagen gesagt – ich erlaube mir, ihn zu zitieren –:

… glaube ich nicht, dass Europa sich auch nur den
Versuch einer Alternative zur bestehenden Wäh-
rungsunion leisten sollte.

Das zeigt deutlich, dass wir keine ernsthaften Alternati-
ven haben.

Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Punkte des
Europäischen Stabilitätsmechanismus zusammenfassen.

Erstens. Es geht um die Verschärfung des Stabilitäts-
und Wachstumspaktes in ganz wesentlichen Punkten.
Neben einer besseren Haushaltskontrolle – dem soge-
nannten Europäischen Semester – wird es härtere und
schnellere Strafen für Schuldensünder geben. Das be-
trifft sowohl die Neuverschuldung als auch die Schul-
denstandsquote in Relation zum BIP. Davon sind auch
wir betroffen; das wissen wir. Unsere Schuldenstands-
quote liegt bei annähernd 80 Prozent des BIP, und diese
Regelungen werden uns zwingen, die Verschuldung ab-
zubauen. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen wer-
den. Auch das ist nicht nur im europäischen, sondern
auch im nationalen deutschen Interesse.

Zweite Kernbotschaft: Es entsteht ein Pakt für den
Euro. Dieser Pakt für den Euro ist so ausgestaltet, dass
sich die Mitgliedsländer verpflichten, ihre Wirtschafts-
politik besser zu koordinieren, ihre Wettbewerbsfähig-
keit zu stärken und gemeinsame Ziele zu vereinbaren,
die innerhalb von zwölf Monaten realisiert werden sol-
len. Damit wird es langfristig gelingen, Krisenszenarien,
wie wir sie beispielsweise in Irland erlebt haben, zu ver-
meiden. Das Ganze wird durch ein ständiges Monitoring
– die Europäer nennen das Scoreboard – unterstützt, um
Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und beseitigen
zu können. Auch das ist sowohl im europäischen als
auch im nationalen deutschen Interesse.

Die dritte Kernbotschaft ist die Einrichtung eines Ret-
tungsmechanismus mit einem Kapitalstock, über dessen
Ausgestaltung meine Vorredner schon hinlänglich be-
richtet haben. Ich will an dieser Stelle betonen, dass es
noch einige offene Fragen zur Ausgestaltung dieses Ka-
pitalstocks gibt. Insbesondere stellt sich die Frage, wie
die Einzahlung der deutschen Bareinlage von 22 Milliar-
den Euro in den Jahren ab 2013 gestaltet werden soll.
Selbstverständlich geht es auch um die Rechte des deut-
schen Parlaments bei der Ausgestaltung und dem Einsatz
des Krisenmechanismus. Auch diesbezüglich werden
wir den Gesetzgebungsprozess konstruktiv und kritisch
begleiten, denn wir alle sind daran interessiert, die
Rechte des deutschen Parlaments zu wahren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb fordere ich Sie alle auf, an der Ausgestaltung
des ESM und an der Gesetzgebung konstruktiv teilzu-
nehmen.

Der Bundesfinanzminister hat in diesen Tagen ein
schönes Zitat verwendet, das ich aufgreifen möchte: „Es
kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bö-
sen Nachbarn nicht gefällt.“ Wir haben keine bösen
Nachbarn in Europa; wir sind von guten Nachbarn um-
geben. Wir sollten alles dafür tun, dass dies so bleibt,
dass nicht aus guten Nachbarn böse werden, weil sie in-
solvent werden. Lassen Sie uns dies also so ausgestalten,
dass wir auch künftig in Frieden und umgeben von guten
Nachbarn leben können.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709903300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/5187. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthal-
tung der Linken abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5188. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5189. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 a bis e sowie die
Zusatzpunkte 4 bis 7 auf:





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Auf dem Weg zu einem nachhaltigen, effizien-
ten, bezahlbaren und sicheren Energiesystem

– Drucksache 17/5181 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Atomzeitalter beenden – Energiewende jetzt

– Drucksache 17/5202 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Verlängerung von Restlaufzeiten von Atom-
kraftwerken – Auswirkungen auf die Entwick-
lung des Wettbewerbs auf dem Strommarkt
und auf den Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien

– Drucksachen 17/832, 17/3089 –

d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid
Nestle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ener-
giewirtschaftsgesetzes

– Drucksache 17/3182 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/5148 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Breil

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Die Energieversorgung in kommunaler Hand

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Energienetze in die öffentliche Hand – Kom-
munalisierung der Energieversorgung er-
leichtern – Transparenz und demokratische
Kontrolle stärken

– Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Breil

ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine be-
schleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken

– Drucksache 17/5179 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes – Abschalten der acht unsichers-
ten Atomkraftwerke

– Drucksache 17/5180 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Energiewende jetzt

– Drucksache 17/5182 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnolo-
gien

– Drucksache 17/5183 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Rolf
Hempelmann für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1709903400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Ich bedauere sehr, dass die Bundes-
kanzlerin, die schon in der Debatte zu ihrer Regierungs-
erklärung weitgehend durch Abwesenheit geglänzt hat,
auch nun in der Debatte über das wichtige Thema der zu-
künftigen Energieversorgung nicht anwesend ist. Das
verstärkt die Bedenken, dass das, was zurzeit passiert,
nämlich die zeitweilige Rücknahme der Laufzeitverlän-
gerung, mehr ist als nur ein Wahlkampftrick.

Am 28. Oktober 2010 hat die Bundesregierung die
Verlängerung der Laufzeiten der 17 deutschen Atom-
kraftwerke beschlossen. Das ist noch kein halbes Jahr
her, 21 Wochen genau. Nun gibt es ein sogenanntes Mo-
ratorium. Die sieben ältesten Kernkraftwerke werden
vom Netz genommen. Innerhalb von drei Monaten sol-
len sie auf ihre Sicherheit überprüft werden. Fachleute
sagen, dass das, wenn es seriös gemacht werden soll,
mindestens ein Jahr dauert, eher länger. Was nach diesen
drei Monaten passiert, weiß kein Mensch. Wenn man
aber diejenigen, die in der Koalition Verantwortung tra-
gen, fragt – die Medien tun das jeden Tag –, dann stellt
man fest, dass die Antworten ständig unterschiedlich
ausfallen.


(Beifall bei der SPD)


Die einen sagen: Nichts wird mehr so sein wie zuvor.
Mit Sicherheit werden nicht mehr alle Atomkraftwerke
an das Netz gehen. – Herr Brüderle sagt vor dem BDI:
Das muss man nicht so ernst nehmen; das ist letztlich
dem Wahlkampf und den Landtagswahlen geschuldet.


(Manfred Nink [SPD]: Hört! Hört!)


Was vor einem halben Jahr gegen die Interessen der
Wettbewerber, der großen Vier, gegen den Rat der Wett-
bewerbsbehörden – Bundeskartellamt und Monopol-
kommission – und im Eildurchmarsch durch das Parla-
ment, wie selbst der Präsident des Bundestages Norbert
Lammert von der Union beklagt hat, und vorbei am Bun-
desrat durchgesetzt wurde, war wahrlich kein Meister-
stück. Das ist der Kernbestandteil des sogenannten Ener-
giekonzepts dieser Bundesregierung. Ich denke, man
kann sich darauf verständigen – das Ablegen eines einfa-
chen Geständnisses wäre eigentlich das Beste, was Sie
von der Koalition hier machen könnten –, dass dieses so-
genannte Energiekonzept gescheitert ist.

Sie haben es durchgezogen – ich habe es gesagt –,
und jetzt auf einmal, beispielsweise gestern im Wirt-
schaftsausschuss, heißt es von den Vertretern der Koali-
t
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1709903500
Lassen Sie uns gemeinsam an einem
Konzept arbeiten. Lassen Sie uns einvernehmlich die
Energiezukunft gestalten. Lassen Sie uns das miteinan-
der tun. – Ich höre das gerne. Ich nehme das ernst, und
ich nehme das auf. Aber ich sage Ihnen: Ich hätte mir ge-
wünscht, dass das schon vor einem halben Jahr Ihr An-
gebot gewesen wäre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Damals haben Sie vorbei am Parlament und vorbei an
denen, die schon vor Jahren Verantwortung übernom-
men haben, lediglich mit den vier Kernkraftbetreibern
Ihren Willen durchgesetzt.

Trotzdem wollen wir dieses Angebot aufgreifen. Da-
rüber hinaus wollen wir Ihnen ein Angebot machen.
Wenn Sie sich die Anträge anschauen, die heute vorlie-
gen – die von der SPD und die anderen –, dann stellen
Sie fest, dass in diesen Anträgen im Einzelnen beschrie-
ben wird, wie die Energiezukunft in Deutschland bei ei-
nem beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft und bei
einem beschleunigten Einstieg in die erneuerbaren Ener-
gien aussehen kann.

Die erste Voraussetzung ist, dass Sie es wirklich ernst
meinen, dass nicht das gilt, was Brüderle sagt. Gelten
muss das Wort derjenigen, die sagen, dass das alles ernst
gemeint sei. Lassen Sie die sieben Kraftwerke, die jetzt
vom Netz gehen, dauerhaft vom Netz. Lassen Sie auch
Krümmel als achtes Kraftwerk dauerhaft vom Netz. Üb-
rigens: Wer sagt, damit sei die Energieversorgung gefähr-
det, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der Sektor-
untersuchung des Bundeskartellamts deutlich geworden
ist, dass über 25 Prozent der deutschen Kraftwerkskapa-
zität aus unterschiedlichen Gründen ständig vom Netz
sind. Es sind nicht immer 100 Prozent am Netz. Das hat
nicht nur etwas mit Wartungen zu tun, sondern das hat
auch etwas damit zu tun, dass Kraftwerke gelegentlich,
wie man sagt, „nicht im Geld“ sind. Wir sollten jetzt dafür
sorgen, dass diejenigen Kraftwerke, die Atomkraftwerke
ersetzen können, tatsächlich ans Netz gehen und am Netz
bleiben.

Die zweite Voraussetzung ist, dass Sie endlich das
kerntechnische Regelwerk rechtsverbindlich einführen
und dafür sorgen, dass hohe Sicherheitsstandards in
Deutschland Realität werden.

Drittens – auch das beinhaltet einer unserer Anträge –:
Verzichten Sie auf Hermesbürgschaften, auf die Kredit-
versicherung von Atomprojekten im Ausland, zum Bei-
spiel in Brasilien.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie sich dieses Projekt anschauen, dann sehen Sie,
dass es in einem erdbebengefährdeten Gebiet realisiert
werden soll. Dort gab es schon in der Vergangenheit Vor-
fälle. Dort sind beispielsweise schon Maschinenhäuser
der Kraftwerksgeneration, die zunächst gebaut wurde,
abgesackt. Das sollte Warnung genug sein, gerade nach
den Ereignissen in Japan.

In einem unserer Anträge beschreiben wir im Einzel-
nen, wie der Systemumbau in Richtung von erneuerba-
ren Energien gelingen kann, sodass Energie bezahlbar
bleibt, sodass sie sauber und sicher ist. Wir beschreiben
in einem zweiten Antrag, wer die Träger dieses Umbaus
sein können. Das sind nicht die Großen, jedenfalls nicht
in erster Linie, sondern das sind eher mittelständische
Unternehmen und in starkem Maße auch die kommuna-
len Stadtwerke. Schauen Sie sich diese Anträge an, neh-
men Sie sie ernst – ich hätte das der Kanzlerin gerne per-





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

sönlich gesagt –, und laden Sie die Fraktionen des
Deutschen Bundestags zu konkreten Gesprächen ein.

Verlagern Sie die Diskussion nicht in Kommissionen.
Wir brauchen keine Ethikkommission. Wir haben bewie-
sen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


dass wir mit diesem Thema verantwortungsbewusst um-
gehen. Das muss uns nicht von außen gesagt werden. Im
Übrigen gibt es Stimmen von außen schon lange. Wir
haben sie schon lange ernst genommen.

Also: Ein Herr Töpfer, den wir sehr schätzen, wird in
der geplanten Kommission im Grunde genommen ver-
heizt. Wir hätten ihn gerne in unsere Diskussionen ein-
bezogen. Vielleicht kann man das noch tun. Das wird
keine Harmonieveranstaltung. Wir werden miteinander
ringen müssen, zum Beispiel um die Frage, wie wir es
mit dem Ersatz oder der Modernisierung von Kohle- und
Gaskraftwerken halten. Das ist nicht einfach. Wenn Sie
Herrn Töpfer dann als Mediator einsetzen wollen, gerne
– herzlich willkommen! –, aber bitte nicht in einer Kom-
mission, angesiedelt –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709903600

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1709903700

– außerhalb des Parlaments.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709903800

Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1709903900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich glaube, wir alle stehen nach wie vor unter dem
Eindruck der Ereignisse, die in Japan stattfinden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vor allen Dingen Brüderle!)


Diese Ereignisse haben deutlich gemacht, welche Folgen
ein Erdbeben und ein Tsunami auch in einer Hightechna-
tion wie Japan haben können und wie verwundbar wir
alle sind.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagen Sie denn dem BDI?)


Die Toten und das Leid der Menschen berühren uns alle
nach wie vor. Deshalb müssen wir alles tun, um den Ja-
panern zu helfen. Unsere Gedanken, unser Mitgefühl
sind bei ihnen. Was wir tun können, um ihnen in dieser
schwierigen Situation beizustehen, versuchen wir, zu
tun.
Für mich ist durchaus beeindruckend, wie ruhig und
besonnen die Japaner in dieser schwierigen Situation,
die für sie mit Sicherheit die größte Herausforderung seit
dem Zweiten Weltkrieg darstellt, umgehen. Da macht
mich, das will ich eingangs sagen, schon etwas betroffen
– um nicht zu sagen, dass man sich fast etwas schämt –,
was sich hier in Deutschland abspielt. Zum Teil findet
wirklich eine unerträgliche Selbstbespiegelung in den
Medien und in den Diskussionen statt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man hat manchmal fast den Eindruck, dass das Leid, die
Toten, die Verletzten und die Ereignisse dort insgesamt
zur Randnotiz werden, wenn wir uns mit unseren innen-
politischen Spielereien hier selbst zu bespiegeln versu-
chen.


(Michael Gerdes [SPD]: Passen Sie auf, was Sie sagen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Spielereien“ ist der richtige Begriff! Sie machen ja wohl deutlich, wie Sie dazu stehen! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Spielereien? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hat Herr Brüderle recht oder nicht? – Peter Friedrich [SPD]: Wo waren Sie bei der Abstimmung letzte Woche?)


Japan wird mit Sicherheit auch für uns eine Zäsur be-
deuten. Deshalb ist es richtig, innezuhalten, nachzuden-
ken und nicht einfach zu sagen: Weiter so! Das sagen wir
nicht; ich glaube, das sagt niemand;


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun es!)


sonst wären wir schlecht beraten. Deshalb machen wir
ein Moratorium. „Moratorium“ heißt aber nicht, dass
schon am Anfang klar ist, was am Ende herauskommt,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: MappusMoratorium!)


sondern „Moratorium“ heißt, nachzudenken über das,
was wir bisher getan haben,


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war schlimm genug!)


zu prüfen, wie wir im Bereich der Kernkraft maximale
Sicherheit – eine 100-prozentige Sicherheit hat es nie ge-
geben und wird es auch nie geben –


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss es aber geben bei Atomkraft!)


erreichen können. Es gilt, das zu bewerten und erst dann
zu entscheiden. Es gilt, sich klarzumachen, was wir tun
wollen. Das heißt, Aktionismus, Schnellschüsse helfen
uns hier nicht weiter.

Bei all der Betroffenheit und all den Diskussionen,
die wir hier haben, sage ich aber auch: Eine sachliche
Erörterung der Themen ist notwendig. Deshalb greife
ich gern das auf, was der Kollege Hempelmann hier an-
gesprochen hat. Bei einer sachlichen Erörterung zeigt
sich: Die Herausforderungen, die Fragen, die Probleme,
die wir im Energiebereich haben, sind heute nicht viel





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

anders, als sie vor sechs oder vor zwölf Monaten waren.
Auch in drei Monaten werden die Herausforderungen
dieselben sein.

Wir sind uns alle einig, dass wir einen beschleunigten
Übergang zu den erneuerbaren Energien wollen.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum machen Sie es dann nicht?)


Genau deshalb haben wir das Energiekonzept verab-
schiedet.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Laufzeit verlängert!)


Nicht eine Streckung, sondern eine Beschleunigung des
Übergangs zu den erneuerbaren Energien war und ist das
Ziel unseres Energiekonzepts.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!)


Man muss einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen,
etwa bei den Klimazielen. Wir haben das Ziel, nach dem
Kioto-Protokoll bis 2012 in Deutschland 21 Prozent des
CO2-Ausstoßes einzusparen. Das haben wir erreicht, das
haben wir im Moment sogar übererfüllt. Wir wollen in
Deutschland bis 2020 40 Prozent des CO2-Ausstoßes
einsparen. Fakt ist aber, dass die Kernenergie in
Deutschland im letzten Jahr rund 150 Millionen Tonnen
an CO2-Ausstoß eingespart hat, sprich: Diese Menge
wurde nicht emittiert. Wir emittieren im Moment unge-
fähr 800 Millionen Tonnen CO2. Das heißt, wir reden
immerhin über rund 20 Prozent. Unsere Klimaziele wä-
ren bei allen Anstrengungen, die wir bisher unternom-
men haben, ohne die Kernenergie nicht erreichbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das kann einem jetzt gefallen oder nicht; aber Adam
Riese lässt sich nicht umgehen. Das sind die Fakten, mit
denen wir es zu tun haben.

Welche Folgen hätte ein noch schnellerer Ausstieg
aus der Kernenergie? Wir haben das Ziel, bis zum Jahr
2020 den Anteil der Erneuerbaren an der Stromversor-
gung von heute 17 Prozent auf mehr als 35 Prozent zu
verdoppeln. Vielleicht schaffen wir sogar ein paar Pro-
zent mehr. Was machen wir aber mit dem Rest? Bei aller
Energieeffizienz und bei allen Fortschritten, die wir er-
reichen wollen, um eine Verdoppelung des Anteils der
erneuerbaren Energien von 1990 bis 2020 zu erreichen,
wird es sicher nicht gelingen, die Ziele, die wir uns bis-
her gesetzt haben, mit einem Ausstieg aus der Kernener-
gie und einem gleichzeitigen Ausstieg bzw. mit einer
gleichzeitigen Nichtinvestition, beispielsweise im Koh-
lebereich, zu erreichen.

Kohle ist der größte CO2-Emittent. Die heimische
Braunkohle trägt heute zu 25 Prozent zur Stromversor-
gung in Deutschland bei. Die Steinkohle trägt heute
ebenfalls zu fast 25 Prozent zur Stromversorgung bei.
Das heißt, fast 50 Prozent des deutschen Stromver-
brauchs werden heute durch Kohle erbracht. Deshalb
bleibt auch bei noch so großen Anstrengungen eine Lü-
cke von rund 60 Prozent des Energiebedarfs, die wir im
Jahr 2020 mit anderen Energieformen schließen müssen.
Ich frage Sie: Wie sollen wir das machen? Einen Einstieg
in die CCS-Technologie, um den CO2-Ausstoß durch
Kohlekraftwerke zu verhindern, wollen viele nicht. Den
Ausstieg aus der Kernenergie wollen wir alle. Wir wol-
len ihn jetzt sogar noch beschleunigen. Es gibt also aller-
hand Fragen, die wir zu beantworten haben.

Zur Versorgungssicherheit. Über 70 Prozent der
Stromversorgung werden heute durch die heimische Pro-
duktion gedeckt. Erneuerbare und Braunkohle habe ich
angesprochen. Es gibt außerdem in geringem Umfang
heimische Gasproduktion sowie Kernenergie. Bei einem
Ausstieg aus Kernenergie und Kohle wird diese Versor-
gungssicherheit so nicht mehr gewährleistet sein.

Im Übrigen sind wir nicht allein auf dieser Welt.
Wenn wir Deutschen vorpreschen, werden uns die Fran-
zosen, die Schweizer, die Tschechen, die Schweden, die
Finnen, die Belgier und die Holländer nicht automatisch
folgen. Bei der Beratung des vorherigen Tagesordnungs-
punktes haben wir die europäische Währung und die da-
mit verbundenen Notwendigkeiten behandelt. Diese sind
bei der Energieversorgung mindestens in dem Maße eine
europäische Herausforderung, wie dies im Bereich der
Währung der Fall ist.

Unsere Bürger sind bereit – zumindest im Lichte der
aktuellen Ereignisse –, bei einem schnelleren Umbau
mehr für die Energieversorgung zu bezahlen. Dass das
mehr kostet, wird sicherlich niemand bestreiten; schließ-
lich müsste der Netzausbau, der den Notwendigkeiten
sowieso hinterherhinkt, noch schneller vonstatten gehen.
Nicht nur Planungsverfahren müssten beschleunigt wer-
den, sondern es müssten auch hohe zweistellige Milliar-
denbeträge investiert werden. Das Problem der Speiche-
rung, das technologisch noch nicht abschließend gelöst
ist, ist ebenfalls mit hohen Kosten und vielem anderen
verbunden.

Wir wollen uns diesen Herausforderungen stellen.
Dabei dürfen wir aber nicht vergessen – das will ich ab-
schließend ins Zentrum der Überlegungen rücken –, dass
es vor allem um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit
des Industriestandortes Deutschland geht. In der Wirt-
schafts- und Finanzkrise haben wir gesehen, wie wichtig
der Industriestandort Deutschland ist. Heute spielen der
Produktions-, der Forschungs- und der Industriestandort
eine herausragende Rolle. Wir müssen die Wertschöp-
fungstiefe erhalten. Deshalb brauchen wir wettbewerbs-
fähige Strompreise und nicht nur wettbewerbsfähige
Energiepreise. Wenn es Ausschläge beim Öl- und beim
Gaspreis mit internationalen Auswirkungen gibt – Nord-
afrika, Mittlerer Osten –, trifft das alle in gleichem
Maße. Es trifft uns vielleicht sogar etwas weniger als an-
dere auf der Welt, weil wir beim Thema Energieeffizienz
größere Fortschritte gemacht haben. Außerdem zählen
wir zu den drei Nationen in der Welt, denen es am besten
gelungen ist, das Energiewachstum vom Wirtschafts-
wachstum zu entkoppeln.

Wir gehören schon heute zu denjenigen, die den
höchsten Strompreis in Europa haben. Der Strompreis ist
heute neben den Arbeitskosten und der Höhe der Steuern
einer der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Wettbe-
werb ist hier kein Selbstzweck, sondern entscheidet über





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

die Schaffung und die Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Unser zentrales Bemühen muss sein, die Wettbewerbsfä-
higkeit des Industriestandortes Deutschland durch ver-
trägliche, wettbewerbsfähige Strompreise zu erhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709904000

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1709904100

Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen. Das soll-

ten wir bei der Fortschreibung des verabschiedeten Ener-
gieprogramms und bei weiteren Maßnahmen nicht ver-
gessen. Ohne die Erhaltung des Industriestandortes
werden wir Deutschland nämlich nicht so weiterentwi-
ckeln können, wie wir alle hier es wollen. Das sollten
wir bedenken.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709904200

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spätestens Sonntag ist er ganz am Ende!)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1709904300

Wir sind gut beraten, darauf zu achten, Herr Trittin,

dass der Kernschmelze, die in Japan droht, nicht die
Hirnschmelze in Deutschland folgt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hilft unserem Industriestandort dann auch nicht mehr!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709904400

Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gregor, musst du eigentlich zu jedem Thema reden?)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709904500

Ja, Herr Trittin, ich weiß, dass Sie mich gerne hören;

deshalb rede ich zum zweiten Mal. Aber ich verspreche
Ihnen, heute und morgen nicht wieder zu reden, zumin-
dest nicht hier.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Morgen auch nicht? Das ist gut!)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
zur Katastrophe von Fukushima. Wie schlimm das ist,
wissen wir alle. Der Super-GAU ist noch nicht abgewen-
det. Ich habe in einer Stellungnahme von Pflugbeil gele-
sen, dass der Unfall jetzt schon den Grad von Tscherno-
byl erreicht hat. Das Ganze ist also eine beispiellose
Katastrophe.

Was hat die Regierung gemacht? Sie hat ein Morato-
rium von drei Monaten beschlossen. Sie hat die Lauf-
zeitverlängerung ausgesetzt, will prüfen und sagt, da-
nach werde man weitersehen. Nun lese ich heute in der
Süddeutschen Zeitung, Herr Brüderle, Folgendes


(Zurufe von der SPD)


– es tut mir leid; das muss ich Ihnen vorlesen; das ist
doch wirklich ein starkes Stück –:


(Peter Friedrich [SPD]: Wir freuen uns ja darauf!)


Was es denn mit den Meldungen von dem Morato-
rium auf sich habe, will BDI-Präsident Hans-Peter
Keitel wissen.

– Sie, Herr Brüderle, saßen da ja mit lauter Industriebos-
sen zusammen. –

Ausweislich des Protokolls der Sitzung gibt
Brüderle darauf eine folgenschwere Antwort: „Der
Minister bestätigte dies“,

– also das Moratorium –

steht darin, „und wies erläuternd darauf hin, dass
angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen
Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen
daher nicht immer rational seien.“


(Thomas Oppermann [SPD]: Unerhört!)


Im Übrigen sei er, Brüderle, ein Befürworter der
Kernenergie, auch mit Rücksicht auf Branchen, die
besonders viel Energie verbrauchen. „Es könne da-
her keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz ge-
fährde“, befindet Brüderle laut Protokoll.


(Thomas Oppermann [SPD]: Unerhört!)


Wissen Sie, Herr Brüderle: Wenn man sich mit so rei-
chen Knöppen einlässt, dann sollte man bedenken – das
haben Sie wohl vergessen –, dass das deutsche Knöppe
sind und deshalb ein Protokoll geführt wurde.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da stimmt Herr Brüderle Ihnen zu!)


Herr Brüderle, ich rate Ihnen, das nicht zu bestreiten.

Ich will aber auf etwas anderes hinweisen: Auch die
Kanzlerin spricht immer von Restrisiko. Restrisiko be-
deutet, dass wir, wenn wir je so etwas erleben wie das,
was jetzt in Japan geschehen ist, in diesem Land wahr-
scheinlich gar nicht mehr leben könnten. Niemand hat
das Recht, auch nur bei kleinstem Restrisiko die Bevöl-
kerung dieses Landes einer solchen Gefahr auszusetzen.
Sie nicht und auch nicht die Bundeskanzlerin. Niemand.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie, Herr Brüderle, nun wegen der Landtags-
wahlen die Laufzeitverlängerung aussetzen, aber danach
Ihre Politik im Kern weiterverfolgen wollen, kann ich
Ihnen nur sagen, dass das ein verantwortungsloses Spiel
mit den Bürgerinnen und Bürgern ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt komme ich auf den Ursprungsfehler. Wir müs-
sen uns in unserer Gesellschaft über ein paar Fragen ver-
ständigen. Zunächst einmal: Mit wem muss eigentlich
eine Einigung erzielt werden, wenn eine bestimmte Poli-
tik durchgesetzt werden soll? Ich habe das schon einmal
gesagt und wiederhole es: SPD und Grüne haben mit
dem Ausstieg begonnen – das ist ein Verdienst –; aber
die Bedingungen hierfür haben sie mit der Atomlobby
ausgehandelt. Warum hatten Sie nicht die Kraft, ihr ein-
mal zu sagen, dass der Bundestag der Gesetzgeber ist
und nicht die Atomlobby? Aber weil Sie alles nur mit ihr
ausgehandelt haben, war der Kompromiss so unzurei-
chend.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe damals gefragt, wie Sie eigentlich darauf
kommen, zu glauben, dass Sie in 30 Jahren noch regie-
ren, um das Ganze zu kontrollieren. Da haben Sie mir
gesagt: Auch eine nachfolgende Regierung kann von
diesem Beschluss nicht abweichen. Aber sie konnte ab-
weichen, wie Frau Merkel ja nun bewiesen hat.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das werden wir sehen! – Peter Friedrich [SPD]: Das werden wir noch sehen, Herr Gysi! Warten wir einmal Karlsruhe ab!)


Union und FDP begingen den schweren Fehler, die-
sen Kompromiss, so unzulänglich er war, nun auch noch
aufzukündigen. Damit haben Sie eine völlig überflüssige
gesellschaftspolitische Auseinandersetzung provoziert.
Worum ging es? Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Es
ging darum, dass die vier Atomkonzerne einen zusätzli-
chen Profit in Höhe von 120 Milliarden Euro erzielen
wollten. Das haben Sie ihnen zugebilligt.

Jetzt kommt der Höhepunkt. Dann sagt Frau Merkel
zu den Bossen, sie wolle aber auch für den Bund etwas
haben, und zwar 2,3 Milliarden Euro. Darauf erwidert
die Atomlobby, das sei zu viel. Letztendlich einigen sie
sich auf 1,5 Milliarden Euro.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatschkopf!)


Der Punkt ist doch, dass Sie den Bundestag ausschal-
ten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie könnten als Märchenerzähler auftreten!)


Herr Kauder, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einen
selbstständigen Gedanken gegenüber der Bundeskanzle-
rin


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


und sagten, Sie wollten mehr als 1,5 Milliarden Euro ha-
ben. Dann würde Ihnen die Bundeskanzlerin sagen, dass
das gar nicht geht, weil sie ja etwas anderes vereinbart
hat. Der Bundestag wird von Ihnen zu einem Abnick-
organ gemacht. So etwas geht nicht. Das gefährdet auch
die Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, das haben wir gestern Abend schon gehört!)


Herr Kauder, bei der Bankenlobby ist es dasselbe ge-
wesen. Die Bankenlobby hat doch entschieden, wie wir
die Krise angeblich lösen. Es entscheidet nicht Frau
Merkel, was Herr Ackermann macht, sondern Herr
Ackermann entscheidet, was Frau Merkel macht. Selbst
wenn sie ihm ein Essen ausgibt, entscheidet nicht etwa
sie, sondern er, welche 18 weiteren Personen eingeladen
werden. Das ist eine Verkehrung der demokratischen
Verhältnisse in diesem Land.


(Beifall bei der LINKEN)


Übrigens war es bei der Gesundheitsreform mit der
Pharmaindustrie und den privaten Krankenversicherun-
gen nicht anders. Die haben ebenfalls entschieden, was
hier passiert.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie etwas zum Thema Atom sagen?)


Bei Hartz IV war es genauso. Sie haben an den illegalen
Kungelrunden doch teilgenommen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gregor, gestern war es zu Afghanistan!)


Herr Beck, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz,
hat dort etwas Verfassungswidriges vereinbart, immer
unter Ausschluss der Linken. Es stört Sie, wenn wir von
Ihren Nebendeals erfahren. All das gefährdet die Demo-
kratie. Das müssen Sie sich überlegen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Von den Linken müssen wir uns über Demokratie nichts erzählen lassen!)


Ich will Ihnen auch sagen, warum die Demokratie ge-
fährdet wird: weil nichtzuständige Einrichtungen die
Entscheidungen treffen. Die Kungelrunde von Herrn
Beck ist nicht zuständig. Angerufen war der Vermitt-
lungsausschuss. Er hatte noch gar nicht getagt. Ich
möchte gerne, dass der Bundestag, der Bundesrat und
der Vermittlungsausschuss wieder die Entscheidungsgre-
mien werden. Entscheidungen dürfen nicht in den illega-
len Kungelrunden getroffen werden, an denen Sie sich
beteiligen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind uns einig – zumindest in der Opposition –,
dass die acht ältesten und pannenreifen AKW sofort und
für immer vom Netz genommen werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Streitfrage ist: Was wird mit den weiteren neun
AKW? Ich sage Ihnen: Was Sie hier bieten, ist willkür-
lich. Die SPD schreibt, bis 2020 sollten sie abgeschaltet
werden. Ursprünglich war von einer Laufzeit bis 2023
die Rede. Jetzt sagen Sie: bis 2020.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lesen Sie einmal den Gesetzentwurf!)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Die Grünen sagen: bis 2017. Ich halte das alles für will-
kürlich.

Wir schlagen etwas ganz anderes vor: dass wir uns
mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern, mit Umweltverbänden und mit kommunalen
Energieerzeugern beraten und dass die Abschaltung un-
verzüglich, ohne schuldhaftes Verzögern, das heißt so
schnell wie möglich, erfolgt,


(Ulrich Kelber [SPD]: Herzlich willkommen! Das haben wir schon vor Jahren gemacht!)


und zwar auf der Grundlage der Berechnungen von
Fachleuten und nicht basierend auf den willkürlichen
Gedanken, die Sie hier in den Raum bringen.


(Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, Herr Gysi!)


Zu Baden-Württemberg kann ich Ihnen auch noch et-
was sagen. Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 müs-
sen dauerhaft abgeschaltet bleiben. Auch Philippsburg 2
und Neckarwestheim 2 werden unverzüglich und unum-
kehrbar abgeschaltet und können nicht am Netz bleiben.
Da die EnBW mehrheitlich dem Land gehört, ist es gar
kein Problem, das umzusetzen, egal welche Regierung in
Baden-Württemberg gebildet wird.


(Zuruf von der SPD: Warten wir es ab!)


– Ja, warten wir das ab.


(Thomas Oppermann [SPD]: Atom-Mappus!)


Das ist aber nur das eine, was wir fordern.

Wir fordern darüber hinaus, den Verzicht auf Atom-
energie und Atomwaffen in das Grundgesetz aufzuneh-
men. Das ist dringend erforderlich. Es gibt das schöne
Beispiel Österreich. Dort steht das in der Verfassung.
Folgt man diesem Beispiel, gibt es auch keine Debatte
mehr.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dort benutzt man Atomstrom, um das Wasser hochzupumpen!)


– Herr Kauder, haben Sie doch einmal den Mut und tra-
gen Sie zur Zweidrittelmehrheit bei. Dann nehmen wir
das ins Grundgesetz auf. Danach wird sich im Bundestag
nie wieder eine Zweidrittelmehrheit finden, die es än-
dert. Dann wären wir endlich endgültig ausgestiegen.
Genau das brauchen wir.


(Beifall bei der LINKEN)


Übrigens liegen in Rheinland-Pfalz noch 20 Atom-
bomben der USA. Die müssten abgezogen werden. Der
Kalte Krieg ist seit über 20 Jahren vorbei. Wir brauchen
keine Atomwaffen in Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)


Des Weiteren brauchen wir ein Exportverbot für die
Technik, die für die energetische und militärische Nut-
zung der Atomkraft eingesetzt wird. Es geht wirklich
nicht an, dass wir weiterhin damit Profit machen und da-
ran verdienen, dass wir diese Technik weltweit verkau-
fen.

Mit dem, was Sie hier zu den Hermesbürgschaften ge-
sagt haben, haben Sie recht: Die Bundesregierung kann
den Bau von Atomkraftwerken nicht auch noch finan-
ziell begleiten. Hier muss ein Umdenken stattfinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen ein Sofortprogramm hinsichtlich der er-
neuerbaren Energien, gerade in Bayern und in Baden-
Württemberg, wo der Anteil der Atomenergie so groß
ist. Dort muss jetzt wirklich einmal etwas passieren.

Im Übrigen führt die Verlängerung der Laufzeiten bei
der Atomenergie zu verstopften Netzen. Dadurch wird
die Entwicklung der erneuerbaren Energien gebremst.
Ich sage das, weil Sie immer so tun, als ob dabei das Ge-
genteil herauskommen würde. Auch hier müssen wir
also umdenken.

Ich füge hinzu, dass wir Stromnetze in öffentlicher
Hand brauchen. Ich weiß, dass Sie sich darüber immer
aufregen; Sie wollen alles privatisieren. Wenn die
Stromnetze nicht in öffentlicher Hand sind, dann ist die
Politik auch nicht zuständig. Wenn die Politik nicht zu-
ständig ist, dann ist auch die Demokratie nicht zuständig.
Wenn alles privatisiert ist, dann ist es eben bei bestimm-
ten Fragen egal, ob man FDP oder Linke wählt, weil das
Parlament gar nicht mehr darüber zu entscheiden hat.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch so schon egal!)


Wir brauchen auch bei der Energieversorgung eine
Dezentralisierung und Kommunalisierung,


(Beifall bei der LINKEN)


weil kleinere Einheiten einfach übersichtlicher sind. Sie
möchten, dass ein Bürgermeister nichts mehr zu ent-
scheiden hat.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)


– Ja, natürlich! Wenn Sie alles privatisiert haben, hat der
Bürgermeister nichts mehr zu entscheiden, weder hin-
sichtlich der Energiepreise noch hinsichtlich der Wasser-
preise oder der Mieten. Ich möchte, dass die Politik für
die öffentliche Daseinsvorsorge zuständig bleibt, damit
die Wahl zwischen uns beiden für die Leute Sinn macht.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist die Frage, die dahintersteckt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir wollen keine Situation wie in der DDR!)


– Herr Kauder, quatschen Sie doch nicht immer von der
DDR. Sie wissen doch gar nicht, wie es dort war.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber Sie! Sie wissen es!)


– Ja, ich weiß es; ich habe dort gelebt.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sie wissen sogar, wie es bei den anderen war, wo Sie geschnüffelt haben!)


Aber ich gebe Ihnen nicht auch noch ein Essen aus, um
Ihnen den Osten zu erklären; das geht mir zu weit.

Herr Kauder, wir brauchen noch etwas – ich sage das
auch der FDP, die das grundsätzlich ablehnt –: Wir brau-
chen natürlich einen Preisstopp und eine staatliche Preis-
regulierung. Das gab es in der Bundesrepublik jahrzehn-
telang. Was war denn daran so schlimm? Seitdem die
Energieversorgung privatisiert ist, gehen die Preise nach
oben. Die Konzerne telefonieren miteinander und be-
sprechen das. Es gibt doch in diesem Bereich überhaupt
keinen Markt. Wir haben vier Konzerne, die sich die
Bundesrepublik Deutschland feudal aufgeteilt haben.
Also brauchen wir auch hier einen anderen Weg.

Wieder geht es um die Frage der Zuständigkeit der
Politik und der Demokratie. Sie begreifen eine einfache
Tatsache nicht: Der Bundestag wird demokratisch ge-
wählt; die Atomlobby wird nicht gewählt, die Chefs der
Pharmaindustrie werden nicht gewählt, die Chefs der
Banken werden auch nicht gewählt.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Natürlich werden die gewählt!)


Es macht einen Unterschied, dass die Bevölkerung den
Bundestag wählen darf, aber nicht den Vorstand der
Deutschen Bank. Insofern ist es eine Katastrophe, dass
der Vorstand der Deutschen Bank mehr zu sagen hat als
die Bundesregierung. Genau das müssen wir überwin-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Schließlich sage ich Ihnen: Am Samstag werden
große Demonstrationen stattfinden. Ich bitte Sie – auch
Sie, Herr Brüderle –, sie ernst zu nehmen. Die Bürgerin-
nen und Bürger werden dort ganz entschieden rufen:
„Atomkraft? Nein, danke!“ Nehmen Sie sie ernst! Veral-
bern Sie sie nicht mit einem Moratorium, das überhaupt
nicht ernst gemeint war.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709904600

Das Wort hat nun Bundesminister Rainer Brüderle.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und jetzt aufpassen, dass nicht wieder falsch protokolliert wird! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das kann im Bundestag nicht passieren!)


Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
Sie kritisieren, dass ein Zusammenhang zwischen unse-
rer Politik und dem Wahlkampf besteht. Sie haben nur
über Atomkraftwerke in Baden-Württemberg gespro-
chen; das nur nebenbei gesagt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Der hat über alles geredet!)

Sie haben aus einem Protokoll zitiert, zu dem der BDI
inzwischen erklärt hat, dass meine Ausführungen falsch
wiedergegeben worden sind.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Erde ist eine Scheibe! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Narrenmund tut Wahrheit kund! – Rolf Hempelmann [SPD]: Es ist noch schlimmer!)


Was ich kenne, ist meine Haltung und die Haltung der
Bundesregierung: Wir wollen in das Zeitalter der erneu-
erbaren Energien einsteigen. Wir machen verantwor-
tungsvolle Politik und halten Kurs. Es ist absurd, uns
Wahlkampfmanöver vorzuwerfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht!)


Einige von Ihnen stellen sich hin und fordern hier den
sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Das ist verant-
wortungslos. Sie wissen ganz genau, dass das unsere
Netze überhaupt nicht aushalten können. Das, was Sie
fordern, ist überhaupt nicht machbar.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Herr Trittin und Herr Gabriel, Sie haben sieben Jahre
Zeit gehabt, die Kernkraftwerke sofort abzuschalten; Sie
haben es nicht getan. Sie sollten etwas mehr die Seriosi-
tät, Ruhe und Besonnenheit übernehmen, die die Japaner
im Umgang mit der Atomkatastrophe und den beiden
Naturkatastrophen gezeigt haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Japan geht mit diesem Schicksalsschlag gelassen und
besonnen um. Teile der Opposition meinen, in Deutsch-
land Hysterie verbreiten zu müssen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Das ist der Lage in Japan völlig unangemessen, und das
ist der Lage in Deutschland völlig unangemessen.


(Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind der Regierung unangemessen! – Weitere Zurufe von der SPD)


Da wird versucht, aus jeder angeblichen Neuigkeit
eine Sensation zu kreieren. Wir sollten uns auch in der
politischen Debatte mit etwas mehr Ruhe und Sachlich-
keit des Themas annehmen. Ja, was in Japan passiert ist,
war ein Einschnitt:


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und?)


für Europa, für Deutschland und für die Welt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht so schlimm?)






Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Wir überprüfen bei allen Kernkraftwerken in Deutsch-
land die Sicherheit erneut umfassend. Die sieben ältesten
Kernkraftwerke in Deutschland werden zunächst abge-
schaltet.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vorübergehend!)


Die Prüfung ist hart, fair und ergebnisoffen. Eine Vor-
festlegung gibt es nicht. Aber eines ist klar: Sicherheit
geht vor. Eine ähnliche Überprüfung führen die Verei-
nigten Staaten, China und Russland durch.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Schon vor einem halben Jahr!)


Sie können doch nicht behaupten, dass die Landtags-
wahlen im Süden der Republik das Verhalten dieser Län-
der, die genauso vorgehen, beeinflussen würden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Zeit während des Moratoriums wird genutzt, damit
die neue Lage nach den japanischen Vorfällen seriös
überprüft werden kann.

Zentral für den Umstieg in das Zeitalter der regenera-
tiven Energien, den wir wollen, ist der Netzausbau. Wir
müssen die Netze schneller ausbauen. Schon heute feh-
len in Deutschland 3 600 Kilometer Stromleitungen –
Tendenz steigend.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, was tun Sie denn? – Gegenruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


– Wir stellen ein Konzept für den Netzausbau auf, um
diesen zu beschleunigen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe eine Netzplattform geschaffen, auf der wir auch
mit NGOs einen Dialog führen, damit wir schneller zu
einer Akzeptanz kommen.


(Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Aber Teile der Opposition sind gegen alles: gegen Kern-
kraft, gegen Kohlekraftwerke und gegen Leitungen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!)


Das ist unverantwortliche Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine Deindustrialisierung, die gegen Arbeitsplätze und
Wohlstand in Deutschland gerichtet ist, können Sie mit
Schwarz-Gelb nicht machen. Deshalb sollten Sie mit Be-
sonnenheit und Vernunft an diese Themen herangehen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie lügen ja schon wieder, Herr Brüderle!)


Wir bringen Schwung in den Netzausbau. Ich stelle
mir vor, dass wir als Resultat dieser nationalen Aufgabe
ein Konzept auf den Weg bringen, um diesen Ausbau er-
heblich zu beschleunigen. Ich lade Sie ein, mitzuma-
chen. Sie können nicht hier im Bundestag Ja zum Netz-
ausbau sagen, aber vor Ort bei den Blockierern dabei
sein. Wenn konkrete Maßnahmen bei Pumpspeicher-
kraftwerken und Netzen anstehen, machen Sie genau das
Gegenteil dessen, was Sie fordern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rot-rot-grüne Energiepolitik ist eine Nullnummer. Sie
blockieren beim Umbau des Kraftwerkparks.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Falsch!)


Sie sollten konsequent mithelfen, dass wir schneller in
das Zeitalter der regenerativen Energien kommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb haben Sie die Restlaufzeiten verlängert! Peinlich! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ist Ihre Rede schon rum? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War das schon alles? Was war denn die Aussage?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709904700

Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709904800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Herr Minister Brüderle, da kommen Sie
nicht mehr heraus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben beim BDI in Anwesenheit von RWE und Eon
die Wahrheit zu Protokoll gegeben. Das jetzt als Fehler
im Protokoll ausgeben zu wollen, macht Sie noch we-
sentlich unglaubwürdiger, als Sie es vorher schon waren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Überführt sind Sie!)


Ihr angebliches Atommoratorium ist reine Wahl-
kampftaktik. Das haben Sie beim BDI klar zugegeben.
Dabei brauchen wir heute doch keine Wahlkampftaktik,
um auf diese Herausforderungen des Atomunfalls in Ja-
pan zu reagieren. Er ist es, der zur Deindustrialisierung
Japans beiträgt. Es sind nicht die erneuerbaren Energien,
sondern es ist die Atomenergie, die eine Deindustriali-
sierung befördert. Das können Sie in Japan genau sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Vorsichtig!)


Nach dieser nuklearen Katastrophe in Japan sind zwei
entscheidende Handlungen zwingend erforderlich: Zum
einen müssen wir jetzt dem japanischen Volk in seiner
großen Not nach Erdbeben, Tsunami und Atomunfall
alle Hilfen geben, die uns möglich sind. Dabei sehe ich
auch große Defizite dieser Regierung.





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zum anderen braucht unser Planet endlich einen völlig
neuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Erde:
ohne Atomenergie und wegen des Klimaschutzes auch
ohne fossile Energien.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diesen neuen Entwurf für die Energieversorgung die-
ser Welt gibt es bereits. Die renommierten kalifornischen
Universitäten Stanford und Davis, die mit ihren Aus-
gründungen im Silicon Valley die dritte industrielle Re-
volution der Welt ermöglicht haben, haben jetzt einen
Plan für die vierte industrielle Revolution der Welt ge-
schaffen. Sie sagen: Der gesamte Weltenergiebedarf
kann danach bis 2030 zu 100 Prozent mit erneuerbaren
Energien gedeckt werden. Das ist technologisch mög-
lich, industriell machbar und hat ökonomisch große Vor-
teile.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Doch statt nun auf die Beschleunigung des Ausbaus
der erneuerbaren Energien zu setzen, was Frau Merkel
und Sie, Herr Brüderle, in der letzten Woche noch voll-
mundig erklärten, wurde in dieser Woche die Verkün-
dung von neuen Maßnahmen abgesagt. Offensichtlich
haben sich die Hardliner durchgesetzt. Offensichtlich ha-
ben Sie, Herr Brüderle, Herr Kauder und Herr Fuchs, die
Verabschiedung eines Beschleunigungskonzeptes in Sa-
chen erneuerbare Energien verhindert.

Es ist wie immer bei Ihrem Regierungshandeln: Eine
leere Versprechung reiht sich an die andere. Statt Mil-
liarden in den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren
Energien zu stecken, wurden die Mittel für erneuerbare
Energien im Haushalt 2011 gekürzt, und die Mittel für
die Effizienzsteigerung wurden gleich mit gekürzt. Das
widerspricht Ihren Worten doch völlig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Immer noch halten die Kanzlerin und Sie am uralten
kerntechnischen Regelwerk fest, ebenso am Atommana-
ger Hennenhöfer als Leiter der Atomaufsicht. Alles
spricht dafür, dass Sie nach der Wahl am kommenden
Sonntag wieder einen Pro-Atom-Kurs fahren werden.

Frau Merkel will sich heute auf dem EU-Gipfel für ei-
nen Stresstest der europäischen Atomkraftwerke einset-
zen. Da muss sie Herrn Oettinger aber sagen, dass das
nicht nach dem alten Euratom-Regelwerk geschehen
kann. Dieses Regelwerk ist zur Analyse der Gefahren
von Atomkraftwerken, die in Japan aufgetreten sind, un-
tauglich. Wir brauchen eine Veränderung der Euratom-
Regeln. Am besten wäre eine Abschaffung der Unter-
stützungsmodalitäten. Stattdessen brauchen wir einen
neuen EU-Vertrag für erneuerbare Energien, Eurenew.
Das wäre die richtige Antwort. Das müsste Frau Merkel
jetzt in Brüssel auf den Weg bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir Grünen haben längst gezeigt, wie eine Beschleu-
nigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien gelingen
kann. Das ist nachzulesen im Energiekonzept der Grü-
nen und in den Vorlagen, die wir heute einbringen. Wir
machen konkrete Vorschläge, wie dieses Land spätestens
zum Ende der nächsten Wahlperiode vollständig aus der
Atomenergie aussteigen kann. Mit dem unter Rot-Grün
geschaffenen erfolgreichen Erneuerbare-Energien-Ge-
setz haben wir bewiesen, dass wir eine solche Politik ge-
gen alle Widerstände aus den Reihen von Union, FDP
und Atomwirtschaft machtpolitisch durchsetzen können.

Wir müssen den Ausbau der Windkraft, der Solarener-
gie, der Wasserkraft, der Bioenergie und der Erdwärme
beschleunigen. Wir müssen den Kommunen mehr Ener-
giehoheit geben. Wir müssen die Energieeinsparpoten-
ziale heben und Bürgerakzeptanz für den notwendigen
Netz- und Speicherausbau schaffen. Herr Brüderle, die
Hauptengstellen liegen übrigens im 110-kV-Netz. Dort
finden die Abschaltungen statt. Für den Ausbau dieses
Netzes kann man Erdkabel nutzen. Doch die Deutsche
Energie-Agentur und Sie, Herr Brüderle, sprechen fast
nur vom Ausbau der großen 380-kV-Leitungen. Neue
Kohlekraftwerke sind – das ist eine Mahnung an die an-
dere Seite des Hauses, an SPD und Linke – für die Um-
setzung unseres Energiekonzepts nicht notwendig. Wir
müssen auch an den Klimaschutz denken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Brüderle, Sie wollen nur die großen Leitungen
bauen, um den Windstrom von Nord nach Süd zu brin-
gen. Fordern Sie lieber endlich Herrn Mappus in Baden-
Württemberg und Herrn Seehofer in Bayern auf, die Ge-
nehmigungsblockaden in Sachen Windenergie abzu-
schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Windstrom kann man mit neuen Windrädern auch in die
südlichen Bundesländer bringen.

Sie haben in der Vergangenheit bewiesen, dass Sie
den Blick nicht nach vorne richten. Ich will Ihnen Albert
Einstein in Erinnerung rufen, der gesagt hat, dass man
mit den Denkweisen, die ein Problem verursacht haben,
das Problem nicht lösen kann. Das werden die Wählerin-
nen und Wähler am kommenden Sonntag erkennen. Sie
sind mit Sicherheit in der Lage, die Konsequenzen zu
ziehen. Die Konsequenz ist: Die Atomparteien müssen
abgewählt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709904900

Das Wort hat nun Michael Fuchs für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709905000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Gysi, von Ihnen
etwas über Demokratie zu lernen, fällt mir wahrlich
schwer. Solange Sie nicht in der Lage sind, überhaupt
anzuerkennen, was Ihre Vorgängerpartei, die SED, in der
DDR-Zeit angestellt hat – ich nenne den Mauerbau; die
Mauertoten leugnen Sie nach wie vor, was unsäglich
ist –, brauchen wir in Sachen Demokratie keine Beleh-
rung von Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Des Weiteren darf ich Ihnen sagen: Es wäre interes-
sant, wenn Sie sich einmal mit Österreichern unterhalten
würden. Wir haben das vor kurzem getan. Wir haben uns
mit dem österreichischen Wirtschaftsminister unterhal-
ten und uns mit ihm auch über die Energieversorgung in
Österreich auseinandergesetzt. Was macht man dort? Die
Österreicher haben – da gebe ich Ihnen völlig recht –
jede Menge Pumpspeicherkraftwerke; das ist auch gut
so. Wir wären schon froh, wenn die Grünen in Deutsch-
land Pumpspeicherkraftwerke nicht verhindern würden.
Was aber machen die Österreicher nächtens? Sie kaufen
nächtens billigen Kernkraftstrom aus Temelin ein, pum-
pen damit das Wasser wieder nach oben und verkaufen
ihn tagsüber als Ökostrom nach Bayern. Das ist ein Re-
cycling, das mir nicht gefällt und das ich hier und auch
woanders nicht haben möchte. Das sollten Sie zur
Kenntnis nehmen. So funktioniert das nicht.

Lassen Sie mich nun zu Japan kommen. Ich bin in
meinem beruflichen Leben sehr häufig in Japan gewe-
sen. Ich kann nur sagen: Mir tut das, was dort passiert
ist, alles unglaublich leid, und ich empfinde ein tiefes
Mitgefühl für die Menschen dort. Mich stört aber in vie-
lerlei Hinsicht, wie wir mit der Situation in Japan umge-
hen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das finde auch ich!)


400 000 Menschen sind obdachlos. Wahrscheinlich sind
mehr als 20 000 Tote zu beklagen. Niemand weiß genau,
wie viele es tatsächlich sind. Und wir diskutieren hier
über Probleme, die die Japaner momentan überhaupt
nicht wahrnehmen. Wenn Sie sich anschauen, welche
Diskussionen in Japan geführt werden, dann stellen Sie
fest, dass es dabei um ganz andere Probleme geht. Dort
geht es eben um 400 000 Menschen, die keine Häuser
mehr haben und die verzweifelt nach ein paar Habselig-
keiten suchen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Genau das wollen wir vermeiden!)


Ich sage Ihnen noch etwas: Als ich kurz nach dem
verheerenden Tsunami die Worte Ihres Vorsitzenden
Gabriel gehört habe, habe ich gedacht: Hut ab! Das ist
staatstragend und vernünftig. Das ist genau das, was man
in dieser Situation sagen kann und machen muss. Aber
was anschließend passiert ist, nämlich dass es nur vier
Stunden gedauert hat, bis Sie angefangen haben, eine
Diskussion zu beginnen, die überhaupt nichts mit diesem
Unfall zu tun hat, ist schäbig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihr Moratorium ist schäbig!)


Das ist alles andere als der Situation angemessen. Die
Sache für Wahlkampfzwecke auszunutzen, ist zynisch
und für mich auch abstoßend.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was Sie machen, ist doch Wahlkampf!)


Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709905100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709905200

Nein. – Wir haben gesagt: Wir müssen ein Morato-

rium machen. Wir setzen die sieben ältesten Kernkraft-
werke in Stillstand, um sie besser überprüfen zu können.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ihre Reaktion ist unglaubwürdig! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und was machen Sie nach den drei Monaten? Das sagen Sie den Wählern nicht! Darin liegt der Wahlbetrug!)


Wir wollen in dieser Phase des Moratoriums aus dem,
was in Japan passiert ist, lernen und zuallererst einmal
feststellen, ob wir daraus Konsequenzen für unsere
Kraftwerke ziehen müssen. Das ist wichtig.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709905300

Herr Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Kotting-Uhl?


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709905400

Auch nicht. – Wir müssen als Allererstes die Frage

stellen: Was sind die technischen Konsequenzen, die wir
für unsere Kernkraftwerke ziehen müssen?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind ein Atomlobbyist!)


Ein Tsunami – das wird wahrscheinlich selbst die Grü-
nen-Fraktion zugeben, wobei Sie im Verdrängen großar-
tig sind – ist in Deutschland relativ unwahrscheinlich.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt wollen Sie verharmlosen!)


Dennoch haben wir mit Sicherheit Lehren daraus zu zie-
hen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit!)


Das werden wir mit der IAEO machen. Wir werden dies
dann konsequent in unseren Kernkraftwerken umsetzen.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709905500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Menzner?


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709905600

Auch nicht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709905700

Also generell keine Zwischenfragen? – Gut.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein mutiger Mensch!)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709905800

Ich möchte gerecht sein und niemandem eine Zwi-

schenfrage gestatten.

Die Strompreise – das hat der Kollege Pfeiffer gerade
völlig zu Recht gesagt – sollten wir allerdings im Blick
behalten. Was ist denn von Anfang an passiert? Die
Preise sind schon gestiegen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ganz schön gleich geblieben!)


Wenn Sie sich den Spotmarkt in Leipzig für das zweite
Quartal dieses Jahres anschauen, dann werden Sie fest-
stellen, dass der Preis für Großhandelsstrom um unge-
fähr 10 Prozent gestiegen ist.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch!)


Schon in dieser Woche – diese Zahl ist interessant –
mussten pro Tag circa 800 bis 1 000 Megawatt Strom
importiert werden. Ich frage Sie: Von wo wird dieser
Strom importiert? Der Strom ist überwiegend aus Osteu-
ropa gekommen, und zwar im Wesentlichen von Kern-
kraftwerken.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sollen auch abgeschaltet werden! Helfen Sie da mal mit!)


Wenn der Strom nicht aus Osteuropa war, dann kam er
zumindest von Kohlekraftwerken.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wir
den Strom nicht zur Verfügung stellen, dann kommt er
von irgendwo anders her. Es ist völlig richtig, was Herr
Fell eben gesagt hat: Der Strom kommt aus der Steck-
dose.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt!)


Aber er muss vorher auch dort hineingegeben werden.
Das ist das große Problem. Sie müssen sich über eines
im Klaren sein: Nur mit Wind, nur mit Solar werden wir
dieses Problem nicht lösen können.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mit allen Erneuerbaren!)


Mit einem weiteren Punkt muss aufgeräumt werden,
nämlich damit, dass es die rot-grüne Koalition war, die
die erneuerbaren Energien so weit vorangebracht haben.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber die Wahrheit!)


Ich habe einmal die Zahlen herausgesucht. Als Sie 1998
an die Regierung kamen, betrug der Anteil der erneuer-
baren Energien 4,7 Prozent.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Jetzt sind es 18 Prozent!)


Als Sie zu Recht abgewählt wurden, lag dieser Anteil bei
10,2 Prozent. Es gab in sieben Jahren also eine Steige-
rung um 5,5 Prozentpunkte. Heute haben wir einen An-
teil von 17 Prozent.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nur wegen dem Gesetz, das Sie abgelehnt haben! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seit die Bundeskanzlerin Merkel an der Regierung ist,
haben wir eine Steigerung um 6,8 Prozentpunkte in fünf
Jahren.


(Peter Friedrich [SPD]: Peinliche Milchmädchenrechnung, Herr Fuchs! Peinlich!)


Es ist schon fast beschämend, Herr Fell, wenn Sie be-
haupten, es würde nicht in erneuerbare Energien inves-
tiert. Im letzten Jahr sind rund 11,3 Milliarden Euro in
erneuerbare Energien investiert worden.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was reden Sie für einen Unsinn?)


Es hat noch nie eine so intensive Phase von Investitionen
in erneuerbare Energien gegeben wie jetzt. Auch das
sollten Sie zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nur dank Rot-Grün so! Sie haben das EEG abgelehnt!)


Last, but not least muss auch etwas über CO2 gesagt
werden. Wir alle hier kämpfen dafür, dass der Klima-
schutz Wirklichkeit wird. Das ist schwierig genug, weil
nicht alle Länder so intensiv Klimaschutz betreiben wie
wir. Sie wissen aber auch, dass die acht Kernkraftwerke,
die jetzt nicht am Netz sind, uns circa 30 Prozent Koh-
lendioxidausstoß ersparen. Das sind 48 Millionen Ton-
nen.


(Peter Friedrich [SPD]: Milchmädchenrechnung!)


Diese 48 Millionen Tonnen können wir auf kurze Frist
nur kompensieren, wenn es uns gelingt, aus Nachbarlän-
dern Strom zu importieren, und zwar dann Strom aus
Kernkraftwerken; denn ausschließlich Strom aus erneu-
erbaren Energien bekommen wir aus den Nachbarlän-
dern nicht.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt die Beratung im Umweltbundesamt völlig anders!)


Ansonsten werden wir die Klimabilanz Deutschlands
verschlechtern. Denn alle fossilen Kraftwerke, egal ob





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

Kohle-, Braunkohle- oder Gaskraftwerke, stoßen CO2
aus. Da können Sie sich nicht herausreden.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Stichwort Japan! Weiter so!)


Auch das wird ein Problem werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt wissen wir ja, was Sie mit Ihrem Moratorium vorhaben! Nichts!)


Das sehen wir ja schon beim Emissionshandel. Die
Preise für Zertifikate sind ebenfalls schon kräftig gestie-
gen, und zwar von 15 Euro auf 16,50 Euro. Das können
Sie am Spotmarkt beobachten. Sie sollten sich das anse-
hen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Liste vom Spotmarkt! Ich habe sie hier! Sie reden die Unwahrheit!)


Für uns geht es um eines: Wir wollen verantwortungs-
voll Energiepolitik betreiben, und zwar so, dass erstens
die Energieerzeugung sicher ist – darüber lassen wir
nicht mit uns reden –, dass zweitens die Energie zuver-
lässig vorhanden ist


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Weiter so! Das ist die Wahrheit!)


und dass sie drittens auch noch kostengünstig ist, sodass
die Verbraucherinnen und Verbraucher sie bezahlen kön-
nen und die Unternehmen nicht aus Deutschland abwan-
dern müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Abschalten! Abwählen! Mehr kann man dazu nicht sagen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709905900

Das Wort zu Kurzinterventionen erteile ich der Kolle-

gin Kotting-Uhl und danach der Kollegin Menzner.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709906000

Danke schön, Herr Präsident. – Herr Fuchs, Ihre Rede

gibt eigentlich Anlass, jetzt eine zehnminütige Kurzin-
tervention zu machen,


(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Bitte nicht!)


aber das würde der Gesamtdebatte wahrscheinlich nicht
weiterhelfen. Ich möchte Sie vielmehr auf einen Punkt
ansprechen, den Sie genannt haben. Sie haben die Ver-
gleichbarkeit zwischen dem, was in Fukushima passiert
ist, und dem, was hier passieren könnte, in Abrede ge-
stellt und das damit begründet, dass hier keine Tsunamis
zu erwarten seien.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich möchte Ihnen dazu einige Fragen stellen. Erste
Frage: Stellen Sie Japans Sicherheitsphilosophie, die un-
serer ähnlich ist – es geht um ein hochindustrialisiertes
Land, um ein Hochtechnologieland –, in Abrede? Mei-
nes Wissens hat Japan eine ähnliche Sicherheitsphiloso-
phie. Sprechen Sie das Japan ab?
Die zweite Frage: Stellen Sie in Abrede, dass auch bei
uns Kühlsysteme ausfallen können? Wenn Sie dies in
Abrede stellen und wenn Sie sagen, es gebe keine Ver-
gleichbarkeit, dann muss ich noch einmal auf das hin-
weisen – es ist relevant –, was Herr Brüderle sagte. Ich
möchte dies noch einmal zitieren, weil es sehr deutlich
ist:

… dass angesichts der bevorstehenden Landtags-
wahlen Druck auf der Politik laste und die Ent-
scheidungen daher nicht immer rational seien.

Das passt auch zum baden-württembergischen Minister-
präsidenten, zu Herrn Mappus – ich bin Baden-
Württembergerin –, der die Entscheidungen, die gefällt
wurden, in den Kontext eines emotionalen Ausnahmezu-
standes der Bürgerinnen und Bürger stellte.

Vor diesem Hintergrund frage ich Sie als Drittes:
Wem stellen Sie als Wirtschaftspolitiker – ich glaube,
Sie haben eine ähnliche Denke wie der Wirtschafts-
minister; auch Ihre Argumentation war ähnlich – die Ra-
tionalität in Abrede: der Bundeskanzlerin oder den Bür-
gerinnen und Bürgern?

Ich bitte Sie, diese drei Fragen zu beantworten.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die letzte Frage verstehe ich zwar nicht, aber okay!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709906100

Kollegin Menzner, bitte.


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709906200

Herr Kollege Fuchs, ich möchte mich auf ganz we-

nige Aspekte Ihrer Rede beschränken.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Danke!)


Sie haben versucht, zu suggerieren, dass das, was im-
mer als vernachlässigbares Restrisiko bezeichnet wurde,
für Deutschland nicht gelten würde. Aber Sie haben mit
keinem Satz darauf Bezug genommen, dass dieses ver-
meintlich so kleine Restrisiko in Japan, in einem Land,
das sehr hohe Sicherheitsstandards hat – es handelt sich
um eine Sicherheitsphilosophie, die immer als Vorbild
dargestellt wurde –, Realität geworden ist. Im Gegensatz
zu allen bisherigen Katastrophen können die Folgen die-
ser Katastrophe auch durch den Einsatz von noch so viel
Geld und Personal nicht in einem überschaubaren Zeit-
raum bewältigt werden. Man kann alles Geld der Welt
investieren und alle Technik der Welt einsetzen, die Fol-
gen werden Generationen von Japanerinnen und Japa-
nern zu tragen haben.

Dr. Pflugbeil hat in einer Stellungnahme sehr deutlich
zum Ausdruck gebracht, dass der Umfang der Freiset-
zung von Radioaktivität und die Strahlenwerte in Japan
in weiten Teilen schon heute dem entsprechen, was wir
in Tschernobyl erleben mussten. An dem Diskussionspa-
pier der Reaktor-Sicherheitskommission wird deutlich,
dass selbst die Reaktor-Sicherheitskommission auch in
deutschen Kraftwerken erheblichen Nachrüstbedarf
sieht. Von daher kann es nicht, wie Sie suggeriert haben,
nach drei Monaten so weitergehen wie vorher.





Dorothee Menzner


(A) (C)



(D)(B)

Abschließend möchte ich deutlich machen, dass wir
nach meiner Überzeugung zu einer schnellen Entschei-
dung kommen müssen.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wie lang ist eigentlich Ihre Redezeit? Das nimmt ja kein Ende!)


Diesen Hinweis habe ich bei Ihnen vermisst. Block 1 des
Kraftwerks Fukushima 1 sollte diesen Monat vom Netz
gehen. Jeder Tag und jeder Monat kann entscheidend
sein.

Nicht zuletzt möchte ich Sie und die Öffentlichkeit
darauf hinweisen – Sie als Wirtschaftspolitiker müssten
das eigentlich wissen –:


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden aber recht lange! Sehr lange sogar!)


Die Risiken, die mit Atomkraftwerken verbunden sind,
sind nicht versicherbar, sprich: Jeder Häuslebesitzer,
jede Bürgerin und jeder Bürger trägt dieses Risiko selbst,
und sie können sich dagegen nirgendwo versichern. Das
macht deutlich, wie dieses Risiko und dieses Wagnis
eingeschätzt werden.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709906300

Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709906400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Zuallererst möchte ich

ganz kurz das Thema Tsunami ansprechen, Frau Kolle-
gin. Was in Japan geschehen ist, konnte man sich auch
dort bisher nicht vorstellen. Nebenbei: Es hat in der His-
torie Japans nie ein Erdbeben dieser Größenordnung ge-
geben.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Genau darum geht es!)


Dies war also das allergrößte Erdbeben, das es dort je-
mals gegeben hat. Die Kernkraftwerke haben dieses Erd-
beben übrigens völlig unbeschädigt überstanden. Zer-
stört wurden sie bzw. die Kühlzuflüsse


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Ganz genau! Sie wurden zerstört!)


durch den anschließenden Megatsunami, der in dieser
Größenordnung nicht antizipiert wurde.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie denn das? Es heißt doch immer, das muss man erst analysieren!)


Man kann darüber nachdenken, ob es richtig oder
falsch war, nicht von der Möglichkeit eines solchen Tsu-
namis auszugehen. Bis dato war er nicht denkbar. Man-
che Orte – dieses Drama konnten Sie alle beobachten –
wurden von dem Tsunami zu fast 90 Prozent zerstört.
Kein Mensch, auch niemand in den kleineren Orten an
der Küste in der Nähe von Sendai, hat damit gerechnet.

(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und Sie sagen, in Deutschland sind solche Katastrophen nicht denkbar?)


Ein solches Ereignis haben die Japaner bei der Beur-
teilung dieser Problematik – das gestehe ich zu – nicht
bedacht. Das ist auch der Grund, warum wir gesagt ha-
ben – dazu stehe ich –: Es ist notwendig, dass wir Even-
tualitäten, die sich aus den Ereignissen in Japan ergeben,
überprüfen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Interessant!)


Es ist auch logisch und notwendig, dass man die Kern-
kraftwerke, die am ältesten sind, in Stillstand versetzt,
um parallel dazu diese Überprüfung durchzuführen. Nur,
wir wissen nicht schon vorher, was anschließend heraus-
kommt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch, natürlich! Alles sicher!)


Sie wissen ja schon, was bei der Überprüfung heraus-
kommt, bevor Sie überhaupt angefangen haben, nachzu-
denken.


(Widerspruch bei der SPD)


Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wenn Sie den Bericht der Reaktor-Sicherheitskommission vom Herbst gelesen hätten, hätten auch Sie es gewusst!)


– Wenn Sie mich genauso ausreden lassen würden, wie
ich die beiden Kolleginnen habe ausreden lassen, dann
wäre das höflich; aber das kann ich von Ihnen nicht er-
warten.

Ich gehe einmal davon aus, dass wir in dieser Phase in
jedem Einzelfall ernsthafteste Prüfungen durchführen
werden. Das ist auch notwendig.

Kühlsysteme. Es kann durchaus sein, dass wir auf-
grund der Erfahrungen, die wir in Japan gewonnen ha-
ben, zu dem Ergebnis kommen, dass die Kühlsysteme
nicht ausreichend redundant aufgebaut sind. Das ist eine
relevante Prüfung, die wir jetzt machen müssen. Dazu
stehe ich. Dies gilt jedoch nicht nur für die alten acht,
sondern auch für die neuen neun Kernkraftwerke. Sie
gehören genauso überprüft.

Sie behaupten, das Restrisiko werde nicht berücksich-
tigt. Wir tun das doch gerade.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Super! Ein halbes Jahr nach der Verlängerung!)


Wir sind doch gerade dabei, uns mit diesem Restrisiko
sehr intensiv zu beschäftigen; denn wir versuchen, die
Prüfungen durchzuführen. Wer macht es denn? Diese
Bundesregierung hat sofort reagiert. Die Kanzlerin hat
zwei Tage nach dem Vorfall gesagt, wir müssen das
Restrisiko überprüfen, müssen überprüfen, ob wir alle
Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben und ob es Erfah-
rungen oder Lehren gibt, die wir aus Japan mitnehmen





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

müssen. – Das tun wir jetzt. Ich halte das für richtig. Das
Verhalten der Bundesregierung ist klug.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wahlkampf ist das!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709906500

Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1709906600

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Fuchs, zu Ihrer Rede möchte ich jenseits der
Frage, wie man das Restrisiko genau bewertet, noch ei-
nes anmerken: Angesichts der halsbrecherischen Wende,
die Ihre Regierung hingelegt hat, und angesichts der
Vorgänge in Japan, die uns alle betroffen machen, finde
ich es unverschämt, dass jemand, der sein ganzes politi-
sches Leben dem Lobbyismus für Atomkraft gewidmet
hat, von hier vorne moralische Beurteilungen gegenüber
anderen ausspricht, was das Thema Wahlkampf angeht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomlobby! – Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist eine Frechheit!)


Ich möchte zu Ihnen sprechen, Kolleginnen und Kol-
legen von der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak-
tion, um um Zustimmung für unsere Gesetzentwürfe zu
werben; denn es ist für Sie die Möglichkeit, Ihren eige-
nen Widersprüchen zu entrinnen. Sie ertrinken nämlich
in Ihren Widersprüchen.

Herr Brüderle, Sie können es zwar auf einen Proto-
kollfehler schieben, aber ein Wirtschaftsminister mit ei-
ner minimalen Restachtung hätte die Gelegenheit ergrif-
fen, hier klarzustellen, was er denn dort tatsächlich
gesagt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Er kann sich nicht erinnern!)


Was haben Sie denn tatsächlich gesagt, wenn es ein Pro-
tokollfehler war? Wer soll Ihnen denn Ihre neue Nach-
denklichkeit überhaupt abnehmen, wenn Sie, statt die
Chance zu ergreifen, hier klarzustellen, was Sie tatsäch-
lich gesagt haben, nur sagen, es war ein Protokollfehler,
obwohl wir wissen, dass das, was dort steht, genau Ih-
rem Sprachgebrauch der letzten Wochen entspricht?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709906700

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Fuchs?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber selber keine Zwischenfragen zulassen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist nicht zu fassen!)


Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1709906800

Herr Fuchs, angesichts Ihres Mutes verweise ich Sie

auf die Kurzintervention, die Sie nachher tätigen kön-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ein anderer Widerspruch ist folgender: Die gleiche
Truppe von Ministerpräsidenten, die bei der Laufzeiten-
verlängerung unabhängig davon, ob die Zustimmung des
Bundesrates eingeholt werden muss oder nicht, auf ihrer
eigenen Unzuständigkeit bestanden hat, sitzt jetzt mit
der Kanzlerin bei Atomgipfeln zusammen und verkündet
öffentlich, dass sie von der Laufzeitenverlängerung jetzt
wieder herunter will.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])


Sie hoffen doch inständig darauf, dass unsere Klage
in Karlsruhe Erfolg hat, weil es der einzige Weg ist, auf
dem Sie die Nichtigkeit Ihres Beschlusses hergestellt be-
kommen und nicht den Schadenersatzforderungen der
Atomkonzerne ausgeliefert sein werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sage ich Ihnen auch: Die erste Amtshand-
lung einer SPD-geführten Landesregierung in Baden-
Württemberg wird es sein, sich dieser Klage gegen die
Laufzeitenverlängerung beim Bundesverfassungsgericht
anzuschließen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der dritte Widerspruch, der Ihr ganzes Manöver als
durchsichtig und wahltaktisch entlarvt, betrifft die hand-
werkliche Umsetzung. Am Dienstag letzter Woche,
15. März 2011, verkündete der Ministerpräsident des
Landes Baden-Württemberg im Landtag – ich zitiere
wörtlich –:

Kernkraftwerke, die nicht den erforderlichen Si-
cherheitsanforderungen genügen, werden abge-
schaltet – nicht in sieben Jahren, nicht in 15 Jahren,
nicht in 20 Jahren, sondern sofort.

An einer späteren Stelle in seiner Rede heißt es:

Neckarwestheim I wird abgeschaltet – dauerhaft –
und stillgelegt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Drei Monate!)


Am Tag darauf verkündet sein oberster Angestellter
in Sachen Atomstrom – das ist übrigens nicht die für die
Atomaufsicht zuständige Frau Gönner, sondern das ist
der Vorstandsvorsitzende der jetzt landeseigenen EnBW,
Herr Villis – in seiner Pressemitteilung vom 16. März
um 21.30 Uhr:

Der Block 1 des Kernkraftwerks Neckarwestheim
… und der Block 1 des Kernkraftwerks Philipps-

(Mittwoch, 16. März 2011)

Netz genommen. Zuvor hatte der Betreiber, die





Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)

EnBW …, entsprechende Anordnungen des Minis-
teriums … erhalten.

Diese Anordnungen sehen die vorübergehende Ein-
stellung des Betriebs der Anlagen für drei Monate
vor. Die Anordnungen wurden mit Verweis auf die
aktuellen Vorkommnisse in japanischen Kernkraft-
werken ausgesprochen. Die EnBW hatte bereits am
Dienstag … erklärt, GKN I vorübergehend freiwil-
lig abfahren zu wollen. Am gleichen Tag hatte das
Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr
Baden-Württemberg mitgeteilt, dass eine Sonder-
prüfung seiner Aufsichtsbeamten an den Standorten
in Philippsburg und Neckarwestheim keine sicher-
heitstechnischen Defizite ergeben habe. Der Be-
triebszustand der Anlagen ist nach dem Abfahren
vergleichbar mit dem während einer Revision.

Das sagt die EnBW Baden-Württemberg AG. Ihr Mora-
torium bietet so viel Rechtssicherheit wie das Ruhenlas-
sen eines Doktortitels.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wollten in Baden-Württemberg mit Atomkraft
Kasse machen. Deswegen haben Sie die EnBW gekauft.
Jetzt tritt das Gegenteil ein: Sie wird zu einem Sanie-
rungsfall. Sie hatten und haben keinen Plan B dafür, wie
Sie den Energiewechsel dauerhaft erreichen wollen und
werden. Wir haben ein Konzept dafür vorgelegt, wie wir
bis 2020 aus der Atomkraft aussteigen können. Wir ha-
ben heute Gesetzentwürfe dafür vorgelegt, wie wir den
Energiewechsel schaffen werden. Deswegen werden wir
in Baden-Württemberg nach der Wahl das Handwerk,
den Mittelstand und die Industrie an den Tisch bitten und
mit einer SPD-geführten Landesregierung ein sicheres
Konzept für den Energiewechsel in Baden-Württemberg
auf den Weg bringen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist doch Schwachsinn hoch fünf!)


– Herr von Stetten, an Ihrer Stelle würde ich mir lieber
Gedanken darüber machen, mit welchem Restpöstle Sie
Herrn Mappus versorgen, wenn er ab Montag auf Ar-
beitsplatzsuche ist, anstatt hier Zwischenrufe zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ministerpräsident von Baden-Württemberg!)


Damit der Energiewechsel tatsächlich sicher voran-
kommt und hier nicht zurückgerudert werden kann, wer-
den wir in Baden-Württemberg gemeinsam mit der In-
dustrie, dem Handwerk und dem Mittelstand einen
Energiewechsel mit Konzept vereinbaren. Dafür brau-
chen wir einen gesetzlichen Rahmen, den wir mit unse-
ren Anträgen bieten. Stimmen Sie ihnen zu, damit der
Wechsel tatsächlich stattfinden kann und hier nicht nur
weiter heiße Luft abgesondert wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709906900

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Michael Fuchs.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Fuchs oder Angsthase?)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1709907000

Herr Kollege Friedrich, erstens empfinde ich es als

eine Unverschämtheit, dass Sie mir vorwerfen, ich sei
mein ganzes Leben lang ein Kernkraftlobbyist gewesen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Er hat es nicht vorgeworfen, nur gesagt! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben selbst gesagt, Sie wollten sich „Atom-Fuchs“ nennen!)


Ich habe ein Unternehmen aufgebaut und 23 Jahre lang
geleitet und viele Arbeitsplätze in Deutschland geschaf-
fen. Ich weiß nicht, ob Sie das nachweisen können.

Zweitens. Ich habe festgestellt, dass Sie bei EURO-
SOLAR aktiv sind. Das ist wohl kein Lobbyistenverein?
Das ist der größte Lobbyistenverein für die unwirtschaft-
lichste erneuerbare Energie, die wir in Deutschland ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dietmar Nietan [SPD]: Unverschämtheit, Mister Angsthase! – Bettina Hagedorn [SPD]: Die strahlt aber nicht!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709907100

Kollege Friedrich, bitte.


Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1709907200

Herr Fuchs, ich habe nicht behauptet, dass Sie bei al-

len Ihren Wortmeldungen und Zitaten in den letzten Jah-
ren und auch bei Ihrer Rede hier eben als bezahlter Lob-
byist tätig waren.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Ich habe aber völlig zu Recht behauptet: Durch all Ihre
Einlassungen und Ihr permanentes Störfeuer gegen er-
neuerbare Energien in der Großen Koalition und jetzt
wieder wird eindeutig belegt, dass Sie politisch nur im
Interesse der Atomindustrie und für niemanden sonst ar-
beiten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Mit dem, was Sie hier erzählen, machen Sie die
Glaubwürdigkeit Ihrer eigenen politischen Wende zu-
nichte.

Ich bin übrigens nicht nur Mitglied bei EUROSO-
LAR, sondern ich besitze sogar Aktien des Bürgerunter-
nehmens solarcomplex AG – für 2 000 Euro.


(Birgit Homburger [FDP]: Ich auch!)






Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)

– Kollegin Homburger auch. – Wir setzen uns also für
die richtige Sache ein und sorgen dafür, dass die Ener-
giewende vor Ort vorankommt und dass sich die Betrei-
ber der Anlagen zur Erzeugung von erneuerbaren Ener-
gien gegen die Atomkonzerne in der Fläche durchsetzen
können. Ich sage Ihnen: Für diese Sache kämpfe ich sehr
gerne.

Gerade im Andenken an den verstorbenen Hermann
Scheer – es ist noch nicht so lange her; ich weiß, dass Sie
auch ihn in diesem Plenum hier immer als Lobbyisten
beschimpft haben –


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: War er ja auch!)


sage ich Ihnen: Ohne Hermann Scheer und ohne den
Mut der Parlamentarier von Rot-Grün wären wir bei den
Erneuerbaren bis heute dort stehen geblieben, wo Sie
noch immer hinwollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709907300

Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709907400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich halte es allmählich für nahezu unerträglich,
wie diese Debatte mit persönlichen, diffamierenden Vor-
würfen geführt wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: So sind die halt! – Gegenruf des Abg. Peter Friedrich [SPD]: Ach, Herr Kauder! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So sind sie, die CDUler! Nur noch persönliche Angriffe, wenn sie nicht mehr weiterwissen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Von mir habt ihr noch keinen einzigen gehört!)


Das ist dem Ernst der Situation nicht angemessen.

Die Bundesregierung hat auf das entsetzliche Un-
glück in Japan schnell und angemessen reagiert. Die sie
tragenden Parteien haben das unterstützt, indem sie das
Moratorium in Gang gesetzt haben.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht Herr Brüderle! – Rolf Hempelmann [SPD]: Warum sagt dann jeder etwas anderes über das Moratorium?)


– Das haben alle getan, die der Mehrheit angehören. Wir
haben das Moratorium einstimmig ausgesprochen. Da-
ran gibt es nichts zu diskutieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus Wahltaktik!)


Was bedeutet denn ein Moratorium? Das heißt nichts
anderes, als dass man die Zeit nutzt, um die Maßstäbe zu
überprüfen, nach denen wir bisher gehandelt haben. Es
ist genau richtig, das jetzt zu tun.

Der bekannte englische Ökonom John Maynard
Keynes hat einmal gesagt: „Wenn sich die Fakten än-
dern, ändere ich meine Meinung“. Genau darum geht es
jetzt. Wir müssen überprüfen, ob sich bei den Kernkraft-
werken in Deutschland die Fakten geändert haben.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben sich geändert! Das muss man doch nicht überprüfen!)


Wenn das der Fall sein sollte, dann muss entsprechend
gehandelt werden. Das warten wir in Ruhe ab. Nach ei-
nem Vierteljahr werden die Ergebnisse vorgelegt. Dann
können wir darüber reden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709907500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Koczy?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709907600

Ja, bitte schön.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709907700

Danke. – Herr Dr. Solms, Sie haben das Wort Morato-

rium gebraucht. Ich frage Sie, warum dieses Moratorium
sozusagen nur bis zum nationalen Tellerrand reicht. An-
gesichts der Tatsache, dass wir mit deutschem Geld eine
Hermesbürgschaft für ein Atomkraftwerk in Brasilien
mit veralteter Technologie aus den 70er-Jahren gewäh-
ren, von dem bekannt ist, dass es auf labilem Untergrund
steht und dass eine unabhängige Kontrolle nicht gewährt
ist, in dem Wissen, dass Brasilien das Zusatzprotokoll
zum Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat,
frage ich Sie: Warum stehen Sie weiterhin dazu, die Her-
mesbürgschaft für Angra 3 nicht zurückzuziehen in An-
betracht dessen, dass sich die Lage auch national verän-
dert hat? Warum sind Sie nicht bereit, das Moratorium
auch international durchzusetzen und die Grundsatzzu-
sage für die Hermesbürgschaft für Angra 3 zurückzuzie-
hen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu muss man wissen, dass Fukushima von der WestLB mitfinanziert wird!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709907800

Ich möchte in den vier Minuten meiner Redezeit die

Debatte nicht auf andere Themen lenken. Auch diese
Fragen müssen geprüft werden.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Der Antrag liegt vor, Herr Kollege Solms! Er steht hier zur Debatte an!)


Jetzt geht es in Deutschland um die Sicherheitskriterien
für die deutschen Kernkraftwerke. Diese werden über-
prüft, und danach wird gehandelt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Im Übrigen dreht sich der ganze Streit nur um die
Frage, wie wir aus der Kernenergie herauskommen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Bestimmt nicht mit Hermesbürgschaften!)


Denn alle Parteien fordern übereinstimmend, dass die
Kernkraftwerke auf Dauer abgeschaltet werden. Wir alle
definieren die Kernenergie als Brückentechnologie. Ich
will versuchen, die Emotionen ein bisschen zu dämpfen.
Der Streit dreht sich doch nur darum, wie schnell und
unter welchen Voraussetzungen dies geschehen kann
und durch welche Energieformen die Kernenergie er-
setzt werden kann. Nur darum geht der Streit. Es geht
nicht um die Frage „Kernenergie – Ja oder Nein?“. Diese
Entscheidung ist vor 30 oder 40 Jahren gefallen. Die
können Sie heute nicht mehr revidieren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709907900

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709908000

Ich würde jetzt gerne im Zusammenhang sprechen.

Ich habe nur noch anderthalb Minuten Redezeit.

Jetzt geht es darum, welche Voraussetzungen erfüllt
sein müssen. Neben der Sicherheit – es ist klar, dass sie
Vorrang hat – geht es um Wirtschaftlichkeit, Versor-
gungssicherheit und Klimaschutz. Darüber sollten wir
uns einig sein. Alle drei Rahmenbedingungen müssen
erfüllt sein.

Wir können nicht die Kernkraftwerke abschalten und
sie durch den Import von Kernenergie ersetzen. Das ist
ausgeschlossen. Darüber sollten wir uns einig sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir können auf Dauer die Kernenergie nicht durch neue
Kohlekraftwerke ersetzen. Das geht aus Klimaschutz-
gründen nicht. Auch dazu müssen Sie sich bekennen.


(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP] sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


Wenn wir also in das Zeitalter regenerativer Energien
eintreten wollen, dann müssen wir die regenerativen
Energien so schnell wie möglich marktfähig machen.


(Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD])


Dazu gehört selbstverständlich auch der Ausbau der
Hochspannungsnetze, Herr Fell, die Sie ein bisschen dif-
famiert haben, indem Sie sagten, das müsse durch die
Verlegung von Erdkabeln erfolgen. Das wird nicht mög-
lich sein.

Jetzt geht es darum, wie wir den Prozess beschleuni-
gen können. Wir stehen nicht im Gegensatz zu Ihnen,
wenn wir die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängern;


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Ihr habt es doch gemacht! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihr habt das Gesetz nicht zurückgezogen!)

vielmehr geht es uns darum, den Weg zur verstärkten
Nutzung regenerativer Energien so verantwortungsvoll,
vorsorgend und schnell wie möglich einzuschlagen.

Der Herr Kollege Brüderle hat mit den Eckpunkten
eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes einen sehr
guten Vorschlag gemacht. Es lohnt sich, gemeinsam da-
rüber zu reden. Diesbezüglich können wir nämlich
Handlungsbereitschaft zeigen. Wir haben doch schon oft
erlebt, dass große Infrastrukturinvestitionen in Deutsch-
land eine Planungs- und Genehmigungszeit von zehn bis
20 Jahren in Anspruch nehmen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn die Grünen dagegen protestieren, noch mal zehn!)


Wenn daran nichts geändert wird, werden wir noch auf
lange Zeit Kernenergie brauchen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


Da brauchen wir eine Handlungsinitiative, und auf diese
sollten wir uns konzentrieren, statt diesen Grundsatz-
streit auf Dauer weiterzuführen.

Im Übrigen, Herr Fell, möchte ich in Erinnerung ru-
fen, dass die erste Initiative zur Einspeiseförderung 1990
von Wirtschaftsminister Helmut Haussmann kam,


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Nein! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren Grüne und CDU/CSU!)


und zwar mit dem Stromeinspeisungsgesetz, das zum
1. Januar 1991 in Kraft getreten ist.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kam damals schon aus dem Parlament und nicht von der Regierung!)


Das haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
fortgesetzt – keine Frage. Aber das Gesetz von Helmut
Haussmann war die Initialzündung, und darauf haben
wir das Copyright.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Deswegen waren Sie auch ganz gegen das EEG! – Volker Kauder [CDU/CSU], an das Bündnis 90/Die Grünen gewandt: Ihr seid arrogante Säcke, damit das klar ist!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709908100

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Frank Schwabe.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1709908200

Herr Dr. Solms, ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass

Angra 3 ein sehr komplexes Thema ist. Ich würde von
der Bundesregierung gerne einmal wissen, was es dem-
nächst sonst noch an Bürgschaften für den Bau von
Kernkraftwerken in anderen Ländern der Welt geben
soll.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Sie haben gerade deutlich gemacht, dass Sie auch aus
der Nutzung der Atomenergie heraus wollen. Ich nehme
an, Sie sind ebenso wie die Koalition – zumindest gibt
sie das vor – gegen den Neubau von Atomkraftwerken.
Ich frage Sie: Ist es vor diesem Hintergrund vernünftig
und konsequent, in Deutschland aus der Nutzung der
Kernenergie heraus zu wollen und den Neubau von
Kernkraftwerken auszuschließen, gleichzeitig aber den
Neubau von Atomkraftwerken in gefährdeten Gebieten
in anderen Ländern durch Exportbürgschaften zu unter-
stützen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709908300

Herr Kollege Solms, bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709908400

Selbstverständlich müssen diese Maßnahmen nach

den gleichen Sicherheitskriterien, wie sie für Anlagen
hier in Deutschland gelten, überprüft werden. Das alles
steht unter dem gleichen Vorbehalt. Andererseits dürfen
wir uns aber auch nicht als Vormund anderer Länder auf-
spielen. Diese haben natürlich immer ihre nationale Ent-
scheidungshoheit, die wir nicht infrage stellen dürfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709908500

Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709908600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

reden momentan über die Glaubwürdigkeit der Kanzle-
rin, über die Glaubwürdigkeit der Energiepolitik der Ko-
alition und über Ihre eigene Glaubwürdigkeit, Herr
Brüderle. Sie haben gesagt, das Zitat, das heute in der
Presse steht, sei nicht von Ihnen. Gleichzeitig wollen Sie
uns nicht mitteilen, was Sie gesagt haben. Das, Herr
Brüderle, ist nicht glaubwürdig. Wir wissen alle, dass
Sie ein Freund der Atomwirtschaft sind und die Wirt-
schaft beruhigen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Alle anderen haben Sie offenbar richtig verstanden.
Die Protokollanten haben es richtig verstanden und die
Wirtschaft auch. Wenn etwa Herr Villis von EnBW sagt,
nach drei Monaten werde ein neues Spiel gespielt, dann
hat er Ihre Aussage absolut richtig verstanden. Stehen
Sie endlich zu dem, was Sie wirklich meinen, und versu-
chen Sie nicht, die Leute mit unglaubwürdigen Ausreden
zu vergackeiern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Keine Lügen mehr!)

Herr Fuchs, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir
würden Angst und Panik verbreiten.


(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Stimmt doch auch!)


Und was machen Sie? – Das einzige Argument, das Sie
noch haben, ist der Preis.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das interessiert Sie ja nicht!)


Sie präsentieren hier falsche Zahlen und behaupten, der
Preis sei gestiegen. Weil ich wusste, dass Sie das sagen
würde, habe ich eine Liste der Spotmarktpreise der ver-
gangenen Monate mitgebracht.


(Die Rednerin hält ein Schaubild hoch)


Anfang März, also lange vor der furchtbaren Kata-
strophe in Fukushima, waren die Preise auf dem Spot-
markt höher als jetzt. Hören Sie endlich auf, den Men-
schen Angst zu machen. Sie schüren Panik mit
Preisargumenten, die nicht stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Warum sind Sie in der Defensive? Noch vor einem
halben Jahr hat Angela Merkel von einer Revolution in
der Energieversorgung gesprochen und behauptet, das
Energiekonzept sei wirklich ein Jahrhundertwerk und
umfasse viel mehr als die Laufzeitenverlängerung. – Wir
erinnern uns! Solche Worte gehen nicht verloren. Sie ha-
ben gesagt, es gehe Ihnen mit Ihrem Energiekonzept
nicht nur um die Laufzeitenverlängerung. In dieser Wo-
che habe ich gefragt, was aus allen anderen 60 Maßnah-
men, die Sie sofort umsetzen wollten, geworden ist. Die
Antwort darauf ist verheerend. Ressortabstimmung? Im
Sommer wird es irgendwelche parlamentarischen Ver-
fahren geben. Sie haben nichts Konkretes gemacht, au-
ßer der Laufzeitenverlängerung. Das ist Ihr Energiekon-
zept.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709908700

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Skudelny?


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709908800

Ja.


Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1709908900

Frau Höhn, ist Ihnen die Studie des Öko-Instituts im

Auftrag des WWF bekannt, wonach die Stromgeste-
hungskosten nach dem jetzigen Moratorium um 10 Cent
pro Kilowattstunde steigen sollen? Diese Studie wurde
im Hinblick auf einen schnelleren Ausstieg aus der
Kernenergie durchgeführt. Das Öko-Institut ist nicht ver-
dächtig, ein Lobbyverein zu sein.






(A) (C)



(D)(B)


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709909000

Ich habe mir diese Studie sehr genau angeschaut. Wir

hatten gerade ein Gespräch mit Felix Matthes darüber.


(Abg. Judith Skudelny [FDP] nimmt wieder Platz)


– Stehen bleiben! Sonst wird die Zeit für die Beantwor-
tung Ihrer Frage nicht auf meine Redezeit angerechnet.

Wie gesagt, wir haben uns die Studie genau ange-
schaut. Felix Matthes geht weiter. Er sagt: Wenn man
sehr schnell aussteigt, noch in diesem Jahr zehn Atom-
kraftwerke vom Netz nimmt und dann in den nächsten
Jahren die anderen, dann würde der Preis um 10 Prozent
steigen. – Ich sage Ihnen: Die großen Energiekonzerne
haben – weil sie das Monopol innehaben – gerade nach
der Laufzeitenverlängerung die Preise nur in einem Jahr
um 7,5 Prozent erhöht – Sie dagegen haben behauptet,
dass die Preise sinken werden –, obwohl die Kosten ge-
sunken sind. Das ist Ihre Politik: Laufzeitenverlänge-
rung und höhere Preise! Das ist das Ergebnis der Politik
von Schwarz-Gelb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Es sind aber 10 Prozent, nicht 10 Cent! Man muss wenigstens lesen können!)


– Genau.


(Judith Skudelny [FDP]: Ich lese im Vergleich zu anderen! – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: 2 000 Prozent!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709909100

Frau Kollegin, Sie haben das Wort.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709909200

Danke schön. – Nun zur Sicherheit. Sie behaupten,

dass es nur Ihnen um Sicherheit geht. Herr Brüderle hat
gerade gesagt: Sicherheit geht vor. – Angela Merkel hat
gesagt: Sicherheit steht über allem; im Zweifel für Si-
cherheit, darauf können sich die Menschen verlassen. –
Ich will deutlich machen, was Angela Merkel selbst, als
sie von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin war, in
punkto Sicherheit gemacht hat. Wer war damals für die
Sicherheit der Atomkraftwerke zuständig? Das war der
Abteilungsleiter Hennenhöfer. Was hat Herr Hennenhöfer
in der Zeit, als Angela Merkel Umweltministerin war,
gemacht? Ich stelle nur einen Punkt von den vielen Ver-
werfungen, für die er verantwortlich ist, und der Lob-
byarbeit, die er für die Atomkraft geleistet hat, heraus.
Er hat damals gegen den massiven Widerstand der grü-
nen Umweltministerin in Sachsen-Anhalt die Verstür-
zung von Atommüllfässern in Morsleben umgesetzt.
Alle erinnern sich sicherlich noch an die Bilder, wie der
Bagger die Atommüllfässer einfach hinunterkippt. Alles
ohne jegliche Sorgfalt! Das hat Herr Hennenhöfer durch-
gesetzt. Die Lagerung von Atommüll der Kraftwerksbe-
treiber in Morsleben war nicht rechtens. Die Sicherheit
von Herrn Hennenhöfer und dieser Kanzlerin ist nichts
anderes als Unsicherheit. Nun muss der Staat für Mors-
leben über 2 Milliarden Euro aufbringen, um die Unsi-
cherheit von Herrn Hennenhöfer zu revidieren. Das ist
die Sicherheit dieser Kanzlerin!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Den grün sprechenden Röttgen sehe ich überhaupt
nicht. Er taucht in der Debatte nicht auf. Grün sprechen,
schwarz-gelb handeln! Er hat den Atomsicherheitsexper-
ten Renneberg abgesetzt und Herrn Hennenhöfer wieder
eingestellt. Das ist Ihre Politik. Am Ende soll dann die
Reaktor-Sicherheitskommission die Standards festlegen.


(Zuruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ CSU])


– Herr Pfeiffer, wer ist denn in der Reaktor-Sicherheits-
kommission und in den Arbeitsgruppen vertreten? Dort
finden wir die Vertreter von Areva, EnBW, Eon und an-
deren Kraftwerksbetreiber. Die Betreiber sollen über die
Sicherheit ihrer eigenen Kraftwerke bestimmen. So sieht
das Sicherheitskonzept dieser schwarz-gelben Regierung
aus. Das machen wir nicht mit; denn das ist keine Si-
cherheit für die Bevölkerung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Am Ende will ich noch etwas zu dem Vorwurf sagen,
Grüne seien immer gegen den Netzausbau.


(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihr seid gegen alles!)


Das ist der letzte Vorwurf, der Ihnen noch geblieben ist.
Schauen wir uns einmal die Daten der Bundesnetzagen-
tur an! Ich verweise auf den Monitoringbericht 2010. Es
gibt 24 Projekte im vordringlichen Bedarf, wir haben
zehn Projekte, bei denen es Probleme gibt, und wir ha-
ben drei Projekte, gegen die es Bürgerproteste gibt. Pro-
teste gegen die Konzepte dieser drei Projekte, gegen die
es Bürgerproteste gibt, kommen nicht nur von den Grü-
nen, sondern auch von allen anderen Parteien. Deshalb
sage ich: Lasst uns doch gemeinsam überlegen, wer
wirklich den Netzausbau verhindert. Das sind nämlich
die Betreiber, die nicht wollen, dass die erneuerbaren
Energien stärker ins Netz einspeisen. Das ist der Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709909300

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709909400

Ja, ich komme zum Ende. – Deshalb schlagen wir

Grüne einen Fahrplan vor: Wir wollen in der nächsten
Legislaturperiode raus aus der Nutzung der Atomkraft.
Wir wollen den Ausstieg endgültig machen, wir wollen
Ihnen von CDU und FDP jede Möglichkeit nehmen, den
Ausstieg wieder zurückzunehmen. Wir wollen das mit
Energieeffizienz und mit den erneuerbaren Energien er-
reichen.

Wir haben einen Antrag vorgelegt – der ist hier mehr-
fach erwähnt worden –, der die Hermesbürgschaften für





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

Angra 3 in Brasilien betrifft. Heute können Sie durch Ihr
Stimmverhalten deutlich machen: Es gibt keine Milliar-
den mehr aus Deutschland für den Bau eines Atomkraft-
werks in einem Erdbebengebiet. – Das stellen wir zur
Abstimmung. Ich hoffe, Sie stimmen dem zu.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709909500

Das Wort hat nun Kollege Franz Obermeier für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1709909600

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wie die

Debatte jetzt geführt wird, hat im Prinzip mit der Über-
schrift relativ wenig zu tun. Es geht um die zukünftige
Energieversorgung in Deutschland.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wir haben dazu Anträge vorgelegt!)


Vor dem Hintergrund der Wahl am kommenden Sonntag
in Baden-Württemberg möchte man keine Chance unge-
nutzt lassen, um den amtierenden Ministerpräsidenten in
Misskredit zu bringen.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sagen Sie doch etwas zu den Gesetzentwürfen und Anträgen!)


Deswegen sprach auch der Generalsekretär der SPD von
Baden-Württemberg hier, wenn auch relativ fachunkun-
dig. Aber das spielt keine Rolle.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Friedrich [SPD]: Wer hat das Recht, so etwas zu beurteilen? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso spricht der Umweltminister nicht?)


Es geht um die Frage: Wie erfüllen wir die klassi-
schen Vorgaben des Energiekonzepts der Bundesregie-
rung so, dass sie mit den ökonomischen Belangen unse-
res Landes, also mit unseren ureigensten Interessen, in
Einklang gebracht werden können? Heute früh gab es
schon eine Veranstaltung mit Stephan Kohler von der
dena. Er hat uns dringend nahegelegt, dass wir uns dem
Effizienzkriterium, das auch im Energiekonzept der
Bundesregierung eine ganz zentrale Rolle spielt, ver-
stärkt zuwenden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Deshalb habt ihr um 60 Prozent gekürzt!)


Das ist eine Anregung, die wir wirklich ernst nehmen
sollen. Wir sollen natürlich auch die Frage der Poten-
ziale der erneuerbaren Energien intelligent diskutieren.
Es nutzt nämlich nichts, wenn man blindlings die Wind-
energie ausbaut, aber nicht dafür sorgt, dass das Produkt
Strom von dort weggeleitet wird. Die Schau, die Sie hier
abziehen, soll nur überdecken, dass Sie einen falschen
Schritt in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ge-
macht haben. Sie haben nämlich nichts dafür getan, dass
die Netze in Deutschland so ausgebaut werden, dass der
Strom möglichst rasch zu den Verbrauchern gelangt.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU] – Peter Friedrich [SPD]: Herr, schmeiß Kompetenz vom Himmel!)


Wir stehen – damit wende ich mich dem Energiekon-
zept der Bundesregierung zu – auch vor der technologi-
schen Herausforderung, wie wir die notwendige Ener-
giespeicherkapazität schaffen, um die erneuerbaren
Energien auch dann verfügbar zu haben, wenn wir den
Strom tatsächlich brauchen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709909700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer

Grünenkollegin, die ich, weil sie so weit weg sitzt, nicht
erkenne?


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1709909800

Das ist Frau Nestle.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709909900

Richtig, wunderbar.


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1709910000

Mit Vergnügen, Frau Nestle.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind nicht so kurzsichtig wie der Brüderle! Der hat mich vorhin mit Gabriel verwechselt!)


– Der hat Sie nur in Umrissen gesehen.


Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709910100

Danke, Herr Obermeier. – Sie sprachen gerade davon,

dass wir Grünen noch nie etwas für den Ausbau der
Stromnetze getan hätten. Abgesehen von der Tatsache,
dass wir als einzige Fraktion ein umfassendes Konzept
für den Ausbau der Stromnetze vorgelegt haben, frage
ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass es im Moment zu über
90 Prozent an den Verteilnetzen liegt, wenn erneuerbare
Energien nicht abtransportiert werden können, dass wir
seit vielen Jahren dafür kämpfen, diese Verteilnetze
schnell, bürgerfreundlich und unterirdisch zu bauen, und
zwar zu fast keinen Mehrkosten, und dass insbesondere
die Union seit Jahren dagegen kämpft, diese bürger-
freundliche Lösung umzusetzen, mit der wir schon
längst die Netze hätten, die wir brauchen, und dann fast
nichts mehr abgeregelt würde?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Geld spielt ja keine Rolle!)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1709910200

Frau Nestle, vielleicht sollten wir uns im Wirtschafts-

ausschuss einmal darüber unterhalten, wo denn die
Widerstände gegen eine unterirdische Verlegung von
110-kV-Leitungen tatsächlich liegen. Aus meinem Wahl-
kreis ist mir kein einziger Fall bekannt, bei dem die un-





Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)

terirdische Verlegung einer 110-kV-Leitung gescheitert
wäre.

Aber Tatsache ist, Frau Nestle, dass wir in Deutsch-
land bei den Höchstspannungsübertragungsnetzen seit
Jahren die allergrößten Probleme haben. Ich erinnere Sie
an den Fall in Schleswig-Holstein, in dem über zehn
Jahre Prozesse hinsichtlich der Genehmigung und des
Baus einer Höchstspannungsübertragungsleitung geführt
wurden und nach zehn Jahren der Antragsteller aufgege-
ben hat. Das sind unsere Probleme.

In all den Jahren, in denen wir die Problematik schon
kennen – die dena hat zweifelsfrei festgestellt, dass wir
3 600 Kilometer neue Höchstspannungsübertragungslei-
tungen brauchen –, sind in Deutschland ganze 19 Kilo-
meter verlegt worden. Das sind unsere Probleme.

Was die 110-kV-Leitungen betrifft, sollten Sie mir
einmal sagen, wo denn Schwierigkeiten bestehen. Kon-
kret gefragt: Wo gibt es Anträge, die nicht genehmigt
wurden? Dann gehen wir der Geschichte gern nach.

Ich war bei der Frage: Wie schaffen wir den Übergang
unter Beachtung des Kriteriums der Versorgungssicher-
heit? Kolleginnen und Kollegen, da müssen wir schon
zusammenstehen. Wenn es um Genehmigungen geht
– sei es für 110-kV-Leitungen, sei es für Höchstspan-
nungsleitungen –, verlange ich von den Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses, dass sie die Anträge dann auch
vor Ort begleiten mit dem Ziel, dass die Leitungen mög-
lichst umweltverträglich geplant und gebaut werden, so-
dass wir nicht den Vorwurf bekommen, dass wir im fer-
nen Berlin die Gesetze machen, vor Ort aber mit den
Demonstranten gegen die Leitungen auf die Straße ge-
hen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das ist leider Realität!)


Das geht nicht, Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen
ganz genau, warum ich das eindeutig in eine Richtung
sage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt will ich noch ein Wort zu den scharfen Aus-
einandersetzungen über die Kernenergie und über die
Laufzeitverlängerung im Energiekonzept der Bundesre-
gierung sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Op-
position, bitte tun Sie nicht so, als wären die Verhält-
nisse, die in Japan zu der extremen Situation geführt
haben, eins zu eins auf Mitteleuropa und auf Deutsch-
land übertragbar!


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das sagt auch keiner!)


Dem ist nicht so,


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das hat keiner gesagt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kein Mensch, Herr Obermeier!)


es sei denn, Sie würden erklären, dass Sie bei uns mit ei-
nem Tsunami und einer Welle von 13 Meter Höhe rech-
nen. Nach meinem Sicherheitsbedürfnis und meiner Ein-
schätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit gehe ich nicht
davon aus, dass die Kernkraftwerke in Deutschland von
einem Tsunami bedroht sind.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie mal was von Forsmark gehört?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709910300

Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage der Kol-

legin Menzner?


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1709910400

Der Frau Kollegin Menzner? Bitte schön.


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709910500

Herr Kollege Obermeier, Sie betonten eben, dass aus

Ihrer Sicht die Verhältnisse von Japan nicht eins zu eins
auf Deutschland zu übertragen sind. Das mag ja richtig
sein, aber die Japaner sehen sich mit einer Situation kon-
frontiert, mit der sie nicht gerechnet haben. Stellen Sie in
Abrede, dass auch in Deutschland uns heute vielleicht
noch sehr unwahrscheinlich anmutende Ereignisse ein-
treten könnten, die eine ähnliche Situation provozieren
könnten? Ich denke zum Beispiel an einen Flugzeugab-
sturz – verschiedene AKW sind in Einfluggebieten –,
einen länger andauernden Stromausfall – das ist sicher
auch nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich –,
der dann möglicherweise Auslöser für ähnliche Pro-
bleme ist.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1709910600

Liebe Kollegin Menzner, genau mit diesen Themen

möchte ich mich in den restlichen drei Minuten befas-
sen.


(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Dann kann ich mich ja setzen!)


– Bitte, Sie dürfen sich setzen.

Eine Eins-zu-eins-Übertragung der Verhältnisse von
Japan auf Deutschland ist mit Sicherheit nicht zulässig.
Dennoch sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht,
das kerntechnische Regelwerk unter dem Eindruck des-
sen, was in Japan passiert ist, zu überdenken, zu ergän-
zen und die Dinge einzuarbeiten, die wir aus der Erfah-
rung von Japan heraus noch nicht eingearbeitet haben.

Dabei rede ich ganz konkret von folgenden Fragen:
Wie sind unsere Kernkraftwerke gegen Erdbeben gesi-
chert? Wie sieht es mit der Notstromversorgung aus?
Noch konkreter: Wie ist die Notwasserversorgung in
dem speziellen Fall in unseren Kernkraftwerken berech-
net?

Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen heute nicht
sagen, welches Ergebnis diese Untersuchung zeitigen
wird. Man wird sich auch über die Frage unterhalten
müssen, mit welchen Erdbebenwerten auf der Richter-
skala wir in Kontinentaleuropa und mit welchem ent-
sprechenden Sicherheitszuschlag wir zu rechnen haben.





Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)

Diese Fragen werden wir in den nächsten drei Mona-
ten ganz explizit und in aller Ruhe und Sachlichkeit erör-
tern. Dann wird es ein Ergebnis geben, und dann wird
entschieden, welche kerntechnischen Anlagen den Si-
cherheitsanforderungen entsprechen und welche nicht.
Deswegen ist das Philosophieren über die Frage, was ein
dreimonatiges Moratorium bedeutet, für meine Begriffe
völlig fehl am Platz.

Es ist klug, in diesem Zusammenhang nicht panikhaft
und hysterisch zu agieren, sondern die Dinge sachlich
und richtig zu analysieren und dann vernünftig zu ent-
scheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Höhn, mit den Worten „panikhaft“ und „hyste-
risch“ habe ich auch Sie gemeint. Das ist mir eingefal-
len, als Sie gesprochen haben. Ich will Ihnen sagen:
Wenn man in drei Monaten nicht fertig wird, lässt sich
das Moratorium ohne Weiteres verlängern. Es könnte ja
sein, dass wir aus irgendwelchen Gründen in drei Mona-
ten die notwendigen Erkenntnisse aus Japan nicht prä-
sent haben.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir im Detail
relativ wenig wissen über die Ursachen dafür, was ge-
rade in Japan passiert ist. Es müsste uns aber schon inte-
ressieren, was konkret die Ursache war. Vor allem
müsste uns der sicherheitstechnische Unterschied zwi-
schen den jetzt kaputten Anlagen in Japan und unseren
Anlagen interessieren. Das möchte ich auch in Form ei-
ner Synopse dargestellt haben. Das Moratorium lässt
sich also verlängern.

Frau Höhn, wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass das,
was jetzt schon läuft und auf uns zukommt, eine Preis-
steigerung für den Stromverbraucher zur Folge hat?
Wollen Sie das bestreiten? Nein. Das dürfen Sie nicht
bestreiten.

Eines ist doch klar: Wenn das Angebot verknappt
wird, dann steigt der Preis für die Nachfrager. Das ist
eine Regel, die auch Sie kennen sollten.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Offensichtlich ist nichts knapp, sonst wäre der Preis hochgegangen!)


Wir legen den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Kern-
kraftwerke, weil wir die Ängste unserer Bürgerschaft
ernst nehmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Abwählen! Abschalten!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709910700

Das Wort hat der Kollege Kelber für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU: Jetzt kommt der Cheflobbyist!)


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1709910800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Plauderrunden deutscher Wirtschaftsver-
bände werden immer mehr zum deutschen WikiLeaks
der Energiepolitik. Im Spätherbst plauderte dort ein
RWE-Vorstand aus, dass es einen Geheimvertrag zwi-
schen der Bundesregierung und den Atomkonzernen
gibt, der erst mit deutlicher Verspätung der Öffentlich-
keit präsentiert wurde.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Den es nicht gab!)


Jetzt lernen wir, was es, wie der Bundeswirtschafts-
minister am 14. März dort ehrlich sagte, mit dem soge-
nannten Moratorium auf sich hat. Natürlich ist das Pro-
tokoll nicht fehlerhaft. Ich glaube, die Mehrheit der
Bevölkerung ist der festen Überzeugung, dass dieses
Protokoll der Wahrheit entspricht.

So schön es ist, dass die Wahrheit immer ans Licht
kommt, Herr Pfeiffer, so groß ist das Misstrauen, das
durch solche Meldungen, durch solches Verhalten in der
Bevölkerung gegenüber der Politik entsteht. Der Deut-
sche Bundestag könnte aber heute wieder Vertrauen zu-
rückgewinnen und der klaren Mehrheitsposition der
deutschen Bevölkerung, die ja zu drei Vierteln will, dass
die Atomkraftwerke zügig abgeschaltet werden, zum
Durchbruch verhelfen. Um das zu ermöglichen, legen
wir heute den Entwurf eines Abschaltgesetzes zur Ab-
stimmung vor. Um das zu ermöglichen, legen wir ein
Programm für eine Energiewende vor. Darüber können
Sie heute abstimmen, ganz konkret und ohne jegliche
Ausflüchte.


(Zuruf des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/ CSU])


In dem Abschaltgesetz geht es um die Rücknahme der
Laufzeitverlängerung und die sofortige und dauerhafte
Abschaltung der ältesten sieben Atommeiler und des
Pannenreaktors in Krümmel. Zur Ehrlichkeit gehört
auch dazu, zu sagen, was bei der Anhörung zur Laufzeit-
verlängerung zur Sprache kam. Ich schaue gerade Herrn
Kauch, den Sprecher der FDP, der ja nach mir redet, und
Frau Dött von der CDU/CSU an, die ja beide dabei wa-
ren. Bei dieser Anhörung war klar, dass Sie ohne jegli-
che Sicherheitsüberprüfung die Laufzeitverlängerung
von acht Jahren für die ältesten Atomkraftwerke durch-
setzen werden. In dieser Anhörung, die Sie ja zeitlich be-
grenzt haben, indem Sie die Debatte mit geschäftsord-
nungswidrigen Tricks beendet haben, war auch klar, dass
die Notstromversorgung in Forsmark und in Krümmel
nicht durch einen Tsunami, sondern durch andere Vor-
kommnisse außer Kraft gesetzt wurde. Dort war klar,
dass laut einem von der Gesellschaft für Anlagen- und
Reaktorsicherheit vorgelegten Gutachten verschiedene
deutsche Atomkraftwerke nicht mehr auf die modernsten
Sicherheitsstandards hochzurüsten sind. In der Sachver-
ständigenanhörung war auch klar, dass bei vielen Kraft-
werken eine Redundanz der Notstromversorgung nicht
gegeben ist, kein Schutz vor terroristischen Angriffen
besteht, Notfallwarten fehlen und bei allen älteren Reak-
toren die Abklingbecken, die jetzt in Japan ein großes





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

Problem darstellen, außerhalb des Sicherheitsbereichs
dieser Kraftwerke liegen.

Zwischen Bundesminister Röttgen, der am Anfang
nicht da war, dann eine kurze Stippvisite unternommen
hat, wieder gegangen ist und jetzt wieder hereingekom-
men ist, um seine Sachen zu packen,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden darf er auch nicht!)


und der Sicherheit in Atommeilern verhält es sich ja wie
bei Und täglich grüßt das Murmeltier. Jetzt hat er an die
Presse ein Papier gegeben, in dem den Betreibern von
Atomkraftwerken stahlharte Auflagen gemacht werden.
Im Spätherbst gab es schon einmal ein Papier, das die
Kosten für Nachrüstungen der bestehenden Atomkraft-
werke auf 50 Milliarden Euro beziffert hat.

Was ist herausgekommen? 500 Millionen Euro zahlt
die Industrie pro Reaktor, für den Rest sollen die Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler im Notfall aufkommen.

Herausgekommen ist auch, dass es keine Liste mit
den erforderlichen Nachrüstungen gibt und dass teil-
weise bis zu zehn Jahre, also über die Restlaufzeit hi-
naus, notwendige Nachrüstungen aufgeschoben werden
können.

Herausgekommen ist auch eine Verwässerung der
Vorschriften im Atomgesetz, die Wegnahme des Klage-
rechts für Anwohner und der Stopp des aktualisierten
über Tausend Seiten umfassenden Sicherheitskonzepts,
des sogenannten kerntechnischen Regelwerks, indem es
vom Minister und dem Atomlobbyisten, der vom Minis-
ter als oberster Atomaufseher eingestellt wurde, außer
Kraft gesetzt wurde.

Einen solchen Unterschied zwischen Reden und Han-
deln nennt man, mit Verlaub, Frau Präsidentin, politische
Hochstapelei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In einem zweiten Antrag haben wir in 40 Punkten
aufgelistet, was jetzt getan werden muss, um die Ener-
giewende wieder einzuleiten. Es geht um Netzausbau,
um Energiesparen, um die Ermöglichung von Investitio-
nen durch Stadtwerke bis hin zur Gebäudedämmung.

Wir erinnern uns: Sie haben in den letzten 16 Mona-
ten nicht nur die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlän-
gert, Sie haben auch die Markteinführung von Minikraft-
werken gestoppt, Fernwärme höher besteuert, das
Marktanreizprogramm für Erneuerbare zusammengestri-
chen, die Mittel für das Gebäudedämmungsprogramm,
das Sie, Herr Obermeier, gerade als eine wichtige Maß-
nahme bezeichnet haben, auf die Sie sich konzentrieren
wollen, um 60 Prozent gekürzt und waren auch völlig
untätig beim Netzausbau. So sieht die Realität der letz-
ten 16 Monate aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Deutschland braucht keine Regierung, die Geheim-
verträge in Kungelrunden abschließt, Moratorien ausruft
und Kommissionen einberuft, nur um über Landtags-
wahlen hinwegzukommen. Deutschland braucht keine
Regierung, die erneuerbare Energien und Energieeffi-
zienz blockiert. Deutschland braucht ein selbstbewusstes
Parlament, das seine Aufgabe wahrnimmt. Das heißt:
Zustimmung zum Abschaltgesetz und Rückkehr zur
Energiewende.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709910900

Der Kollege Kauch hat für die FDP-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1709911000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will

mich gar nicht mit den Halbwahrheiten und Unwahrhei-
ten beschäftigen, die Herr Kelber hier verbreitet hat, weil
ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger es inzwi-
schen leid sind, dass die Abgeordneten sich in den De-
batten der letzten zwei Wochen hier nur wechselseitig
vorwerfen, was sie denn versäumt, gemacht oder ver-
meintlich nicht gemacht haben. Wir sollten uns jetzt da-
rum kümmern, wie wir mit der Situation umgehen, vor
der wir stehen.

Klar ist für diese Koalition: Wir wollen den Weg in
das Zeitalter der Erneuerbaren gehen. Die Kernkraft war
und ist nur Brückentechnologie.

Diese Debatte können wir aber nicht führen, ohne ei-
nen Blick auf den Klimaschutz und die Versorgungssi-
cherheit zu richten. Es kann nicht sein, dass wir diese
Debatte führen, ohne auch nur einen Moment darüber
nachzudenken, welche Auswirkungen die Anträge, die
die Opposition hier vorlegt, für den Klimaschutz haben.
Im letzten Jahr haben Sie gesagt, Klimaschutz habe Prio-
rität. Jetzt ist Klimaschutz für Sie völlig egal. Das ist
nicht redlich, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie unseren Antrag! – Gegenruf des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auch das gehört zur Wahrheit!)


Das Hochfahren der Kohle- und Gaskraftwerke ver-
schärft die Problematik, unsere Klimaschutzziele zu er-
reichen.

Dennoch gilt: Fukushima hat die Lage geändert. Si-
cherheit muss neu gedacht werden. Gleiche Risiken
müssen anders bewertet werden als zuvor.

Deswegen ist es die gemeinsame Aufgabe aller, die
nicht den Bürgerinnen und Bürger vorspielen, man
könne morgen die Kraftwerke abschalten, die Sicher-
heitsreserven unserer Kraftwerke zu erhöhen, schärfere
Sicherheitsanforderungen nach dem Moratorium zu ver-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

abschieden und deutlich zu machen, dass die Kraft-
werke, die nicht nachgerüstet werden können oder bei
denen das wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, abgeschaltet
werden. Dies prüfen wir während des Moratoriums. Das
ist glaubwürdige Politik, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Reak-
toren – ob es nun diese sind oder andere, die momentan
weiterlaufen – nicht den Sicherheitsanforderungen, die
wir neu definieren werden, entspricht, dann müssen wir
uns heute darauf vorbereiten, wie wir schneller in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien kommen und wie
wir gegebenenfalls ein befristetes Hochfahren von fossi-
len Kraftwerken an anderer Stelle ausgleichen können.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Klimaschutz!)


Ganz klar ist, dass wir bei den erneuerbaren Energien
nicht allein ein Mengenproblem haben. Selbst wenn wir
so große Anreize setzten, dass die Kapazitäten von er-
neuerbaren Energien hochgefahren würden, kämen sie
momentan bei diesem Netz nicht zum Verbraucher und
wären in diesem Netz nicht stabil anbindbar.

Deshalb müssen wir den Engpass für die erneuerba-
ren Energien beseitigen, indem wir Netze ausbauen und
Speicher fördern. Das ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, beim Netzausbau geht es
auch um die Planungszeiten. Es kann doch nicht sein,
dass es bei Stromtrassen teilweise Genehmigungszeiten
von acht Jahren gibt. Ich will gar nicht darüber diskutie-
ren, wie viel davon auf Protest zurückgeht, wie viel auf
zu wenige Beamte in den Ländern und wie viel auf den
rechtlichen Rahmen, den der Bund ändern kann. Eines
ist aber klar: Genehmigungszeiten von acht Jahren gehen
nicht. An dieser Stelle müssen Bund und Länder zusam-
menarbeiten. Genau diese Frage werden wir im nächsten
Monat mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer
besprechen müssen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709911100

Achten Sie bitte auf die Zeit, Kollege Kauch.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1709911200

Meine Damen und Herren, Folgendes ist ebenfalls

klar – ich sage das auch sehr deutlich in Richtung der
Bundesregierung; auch der Bundesfinanzminister muss
erkennen, dass wir eine veränderte Lage haben –: Wenn
wir mehr Gas im Stromsektor brauchen, müssen wir bei
der Gebäudesanierung vorankommen, damit weniger
Gas für Heizzwecke verbraucht wird.


(Zurufe von der SPD: Hui!)


Das bedeutet, dass wir das Gebäudesanierungspro-
gramm in einem größeren Umfang finanzieren müssen,
als es bisher vorgesehen ist. Auch für den Bundeshaus-
halt ist das Moratorium nicht ohne Auswirkungen,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709911300

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Heil das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709911400

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Herr Brüderle und Herr Kauch, die Glaubwürdig-
keit ist nur theoretisch sehr einfach wiederherzustellen,
wenn man sie einmal verloren hat. Es geht um das alte
Motto: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man
sagt. Wenn man Glaubwürdigkeit verspielt hat – das ha-
ben Sie –, ist das zu beachten, was Ihnen die frühere Bi-
schöfin Margot Käßmann geraten hat. Sie hat in Bezug
auf Ihren Zickzackkurs in der Atompolitik gesagt, es
würde ihr persönlich – ich glaube, auch vielen Bürgerin-
nen und Bürgern in diesem Land – Respekt abnötigen
und zu mehr Glaubwürdigkeit führen, wenn Sie wenigs-
tens einmal den Mut hätten, zu sagen, dass Sie im Herbst
letzten Jahres falsche Entscheidungen getroffen haben,
die jetzt zu korrigieren sind. Diesen Mut haben Sie nicht.
Sie eiern herum.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auf der Grundlage der Erkenntnisse war die Entscheidung richtig!)


– Können Sie das bitte wiederholen?


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auf der Grundlage der Erkenntnisse war die Entscheidung richtig! Dazu stehe ich! – Gegenruf des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiederholen Sie das noch einmal für das Protokoll! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ganz laut für das Protokoll!)


– „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“,
hat einmal ein deutscher Politiker gesagt.

Herr Brüderle, meine Damen und Herren von der Ko-
alition, ich sage in aller Deutlichkeit, dass das, was die
Süddeutsche Zeitung heute berichtet hat, der Wahrheit
entspricht: Sie, Herr Brüderle, haben an dem Tag, an
dem Frau Merkel das Moratorium verkündet hat, das
Ganze in internen Runden gegenüber der deutschen
Wirtschaft als irrationales Wahlkampfmanöver bezeich-
net. Sie können hier nicht so tun, als sei das ein Proto-
kollfehler; das glaubt Ihnen kein Mensch.

Die Debatte heute hat gezeigt – im Unterschied zu
den Demutsschauspielereien der letzten Woche, die Sie
an den Tag gelegt haben –, dass Sie schon jetzt versu-
chen – die Rede von Herrn Obermeier war ein Beleg da-
für –, die Ereignisse in Japan zu relativieren. Sie beach-
ten nicht, dass es nicht nur die Vorfälle in Japan gab,
sondern auch die Vorfälle in Tschernobyl, 1979 auf
Three Mile Island bei Harrisburg, später in Forsmark
2007. Die Vorfälle ereigneten sich also auch in hochin-
dustrialisierten Hightechländern wie Schweden.





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, Tatsache ist: Sie schaffen
es nicht, den Menschen in Deutschland ein X für ein U
vorzumachen. Sie können noch so sehr versuchen, sich
herauszureden: Sie waren es, die die Restlaufzeiten auch
alter, unsicherer Schrottreaktoren um acht Jahre verlän-
gern wollten. Sie sollten einmal die Traute haben, hier
im Deutschen Bundestag zu bekennen: Ja, wir haben uns
geirrt. Dann kann man hier weiterreden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will eines zur Legendenbildung bei der CDU/
CSU sagen. Sie haben im Herbst letzten Jahres das außer
Kraft gesetzt, was die Bundesminister Jürgen Trittin und
Sigmar Gabriel auf den Weg gebracht haben: die Überar-
beitung des kerntechnischen Regelwerks. Unser Ziel war
es, nicht nur den geordneten Ausstieg zu organisieren,
sondern auch die Sicherheitsanforderungen für die noch
im Netz befindlichen Reaktoren auf den Stand von Wis-
senschaft und Technik der Jetztzeit zu bringen und sie
nicht auf dem Stand der 60er- und frühen 70er-Jahre zu
belassen.


(Birgit Homburger [FDP]: Wir haben es gemacht und Sie haben es nicht gemacht! Das ist die Wahrheit!)


Es waren Bundesminister Röttgen und sein Abteilungs-
leiter, die dafür gesorgt haben, dass dieser Weg ausge-
setzt wurde. Sie könnten das kerntechnische Regelwerk
sofort wieder in Kraft setzen, wenn Sie denn wollten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Brüderle, ich will mich mit den wirtschaftlichen
Auswirkungen Ihrer komplett gescheiterten Energiepoli-
tik beschäftigen. Für uns alle müsste eigentlich das Ziel
sein, eine sichere, saubere, tragfähige und bezahlbare
Energieversorgung für unser Land, für den Industrie-
standort Deutschland, zu sichern. Das, was Sie im
Herbst mit der Laufzeitverlängerung, der Verlängerung
der Restlaufzeiten alter, abgeschriebener Atommeiler,
gemacht haben, hat nicht erst nach der Katastrophe in Ja-
pan zu Folgendem geführt: zu Investitionsstillstand und
Attentismus. Es ist Tatsache, dass Sie den Großkonflikt
wieder aufgerissen haben, der die Republik 30 oder
40 Jahre lang gespalten hat und den Rot-Grün befriedet
hat. Das hat dazu geführt, dass keiner mehr so richtig
wusste, wo es langgeht.

Die EVU, denen zuliebe Sie das gemacht haben,
wussten zwar, dass ihr Oligopol verfestigt wird, haben
aber kurzfristig den Fehler gemacht, die Dollarzeichen
in den Augen wichtiger zu nehmen als die langfristige
Entwicklung. Aber auch diese Unternehmen mussten da-
mit rechnen, dass es Klagen vonseiten des Bundesrates
und der Fraktionen dieses Hauses geben würde, mit dem
Ergebnis, dass keiner genau weiß, was läuft. Keiner
weiß, wie 2013 die Bundestagswahlen ausgehen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709911500

Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Frage des Kolle-

gen Otto?

Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709911600

Wenn ich meinen Gedanken noch beenden darf, sehr

wohl, Herr Otto.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709911700

Das wird Ihnen nicht gelingen. Herr Otto wird gleich

Ihre Redezeit verlängern, die demnächst abläuft.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709911800

Dann dringend Herr Otto, bitte schön.


(Heiterkeit)



Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1709911900

Ich verlängere gern Ihre Redezeit, Herr Kollege Heil.

Helfen Sie mir bei Ihrer Argumentation, die lautet,
die Ereignisse in Japan hätten erwiesen, dass das Ener-
giekonzept dieser Bundesregierung falsch sei und dass
wir allein Fehler gemacht hätten. Das ist das Mantra Ih-
rer Rede.

Erklären Sie mir bitte Folgendes: Wenn wir die Lauf-
zeitverlängerung nicht beschlossen hätten, wären dann
die sieben Meiler, die wir jetzt abgeschaltet haben, im
Rahmen des Konzepts, das Sie vorher verabschiedet hat-
ten, vom Netz, ja oder nein?

Erklären Sie mir bitte vor diesem Hintergrund: Was
hat die Katastrophe in Japan, die wir sehr ernst nehmen,
mit der Laufzeitverlängerung, die wir im Herbst be-
schlossen haben, zu tun? Entweder erkennen wir, dass
alle Kernkraftwerke unsicher sind. Dann müssen sie un-
abhängig vom Zeitpunkt, zu dem sie errichtet worden
sind, vom Netz genommen werden. Wenn aber die Mei-
ler sicher sind und die Sicherheitsüberprüfung tatsäch-
lich keine neuen Erkenntnisse liefert, frage ich Sie: Wo
ist der Zusammenhang zwischen Japan und der Verlän-
gerung der Laufzeiten?


(Ulrich Kelber [SPD]: Wo ist der Zusammenhang in Ihrer Rede?)


– Das ist eine konkrete Frage, die auch beantwortet wird.

Damit kein Missverständnis aufkommt, Herr Kollege
Heil, sage ich: Japan gibt uns Anlass zum Nachdenken.


(Zurufe von der SPD: Ach so!)


Aber das hat doch nichts mit der Laufzeitverlängerung
zu tun, verdammt noch einmal.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn unsere Kernkraftwerke aufgrund neuer Er-
kenntnisse unsicher sind, sind sie abzuschalten. Das hat
nichts mit der Frage des Energiekonzeptes zu tun.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Doch! Doch!)


Diese Logik erschließt sich mir nicht. Vielleicht können
Sie mir dabei etwas nachhelfen.






(A) (C)



(D)(B)


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709912000

Geschätzter Kollege Otto, ich bedanke mich ganz

herzlich für diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegen-
heit gibt, Aufklärung in Ihren Reihen zu leisten und mit
einigen Mythen aufzuräumen, die bewusst verbreitet
werden.

Erstens. Die Laufzeitverlängerung ist natürlich eine
Risikoverlängerung erster Güte; das ist gar keine Frage.
Sie haben die Laufzeiten der alten Reaktoren, die Sie in
Ihrem Moratorium nun für drei Monate vom Netz neh-
men wollen, um sage und schreibe acht Jahre pro Reak-
tor verlängert. Sie haben also Druckwasserreaktoren der
alten Baulinien aus den 70er-Jahren verlängert.

Gleichzeitig hat Ihr Bundesumweltminister, der ei-
gentlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er überhaupt?)


auf Druck der Atomlobbyisten im Zusammenhang mit
der Laufzeitverlängerung das kerntechnische Regel-
werk, das die Standards für die Sicherheit von Atom-
kraftwerken und für ihren Betrieb festlegt, abgelehnt und
damit die Regelung der Betriebsgenehmigung vom
Tisch gewischt.

Sie haben nichts für die Sicherheit getan, sondern das
waren Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel. Sie haben sie
mit diesem Atomkonsens vom Tisch gewischt. Deshalb
müssen Sie sich Folgendes zurechnen lassen: Wir hätten
die sieben Altmeiler und das Kraftwerk Krümmel vom
Netz genommen. Heute sehen Sie, dass das richtig und
notwendig ist.

Herr Staatssekretär, Sie müssen die Frage beantwor-
ten, ob Sie das eigentlich dauerhaft oder nur für drei Mo-
nate machen wollen. Das könnten Sie der deutschen Öf-
fentlichkeit sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und zwar noch vor der Landtagswahl!)


Herr Otto, Sie müssen zweitens zur Kenntnis nehmen:
Wir haben mit dem Energiekonsens den geordneten Aus-
stieg aus der Atomkraft organisiert, und wir haben die
Regeln für den Betrieb von Kernkraftwerken verschärft.

Sie haben die Regeln vom Tisch genommen, die
schon für Probebetrieb, Aufsicht und Genehmigung gal-
ten. Sie haben gleichzeitig – Sie müssen begründen, wa-
rum Sie das getan haben – die Restlaufzeiten für alte, ab-
geschriebene Atommeiler verlängert.

Sie können sich dabei noch so sehr herausreden, aber
die deutsche Öffentlichkeit wird Ihnen diesen Eiertanz
nicht abnehmen. Deshalb biete ich Ihnen Folgendes an
– wir kennen uns aus anderer Zusammenarbeit, Herr
Otto, und schätzen uns durchaus –: Für dieses Land ist
ein Energiekonsens notwendig, der über mehrere Legis-
laturperioden und Regierungswechsel halten sollte. Das
bieten wir Ihnen mit den heutigen Anträgen unter zwei
Prämissen an.
Erstens. Wir müssen zum geordneten Ausstieg aus
der Atomkraft auf klarer Rechtsgrundlage und nicht mit
windiger §-19-Begründung


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!)


zurückfinden. Deshalb: zurück zum rot-grünen Atom-
konsens!

Mit Blick auf den Atomkonsens müssen wir sagen,
wo wir hinwollen, nicht nur, wo wir herausmüssen. Da-
bei geht es um Energieeffizienz, Energiesparen, moderne
Energieproduktion und erneuerbare Energien.

Herr Otto, die Vertreter Ihrer Fraktion und Sie als
Staatssekretär versuchen immer, die Grünen und andere
so ein bisschen in die Ecke zu stellen – Herr Brüderle hat
das auch mit der SPD versucht, ohne dass er dafür einen
Nachweis erbringen konnte –, indem Sie sagen, sie seien
gegen Pumpspeicherkraftwerke und Netzausbau. Herr
Brüderle, ich empfehle Ihnen: Reden Sie einmal mit dem
Landtagskandidaten der FDP aus dem Hotzenwald in
Baden-Württemberg, der auch gegen dieses Pumpspei-
cherkraftwerk ist. Reden Sie mit CDU- und FDP-Kom-
munalpolitikern, die gegen den Netzausbau sind. So bil-
lig will ich es mir gar nicht machen. Aber ich verstehe
eines nicht: Warum können Sie nicht begreifen, dass die
Akzeptanz des Projektes, das wir gemeinsam wollen – es
geht um den Ausbau von Hochspannungsleitungen und
Verteilernetzen –, steigen würde, wenn die Menschen die
Sicherheit hätten, dass das zum geordneten Ausstieg aus
der Atomkraft führt? Dann hätten auch die Befürworter
des Ausbaus bessere Argumente. Dass Sie diesen Zu-
sammenhang nicht erkennen, halte ich für kurzsichtig.


(Beifall bei der SPD)


Herr Otto, ich gebe Ihnen noch ein Argument mit auf
den Weg – Sie sind wie ich Wirtschaftspolitiker; in ein-
zelnen Bereichen sind wir unterschiedlicher Auffassung –:
Wie Sie diese Planungsunsicherheit hinsichtlich der not-
wendigen Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik
und erneuerbare Energien herbeiführen konnten, das
werden Sie sich anrechnen lassen müssen. Ich sage es
noch einmal: Kehren Sie zurück auf den Weg der Ver-
nunft! Nichts Halbgares und keine Volten schlagen vor
Landtagswahlen! Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeit
und einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft. Wir
brauchen ein neues Energiekonzept, das Investitionen in
moderne Kraftwerkstechnik und erneuerbare Energien
vorsieht. Das wäre Wirtschaftspolitik aus einem Guss.
Das wäre etwas anderes als der Dilettantismus und die
Klientelpolitik, die Sie hier an den Tag gelegt haben,
Herr Otto. Sie können sich wieder setzen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das war sehr arrogant, Herr Kollege! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war eine Tatsache!)


– Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Schlimm genug!)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

An dieser Stelle geht es um die Sache, lieber Herr Kol-
lege. Das, was passiert ist, ist viel zu ernst, als dass Sie
das hier einfach so abtun könnten. 68 Prozent der Men-
schen in Deutschland würden keinen Pfifferling darauf
setzen, dass Sie es mit diesem ominösen Moratorium
ernst meinen.

Wegen der Rechtsgrundlage sollten Sie einmal in das
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
schauen. Den Artikel „Par ordre du mutti“,


(Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Mufti!)


per Anweisung der Bundeskanzlerin, finden Sie dort
nicht. Die Energieversorgungsunternehmen bereiten die
Klagen schon vor, die sie nach der Landtagswahl gegen
das einbringen werden, was Sie jetzt rechtswidrig ma-
chen. Deshalb sage ich: Schaffen Sie eine klare Rechts-
grundlage für den geordneten Ausstieg. Wir legen heute
den Entwurf eines Ausstiegsgesetzes vor. Helfen Sie mit,
damit wir in Deutschland die modernste Energieversor-
gung bekommen, mit erneuerbaren Energien, mit effi-
zienten Kraftwerken und mit Energiesparen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709912100

Herr Kollege Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709912200

Sauber, sicher und bezahlbar – dafür stehen wir.

Chaos ist Ihre Sache.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709912300

Die Kollegin Marie-Luise Dött hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1709912400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im

Lichte der schlimmen Ereignisse in Japan führen wir
eine sehr intensive Diskussion über die Zukunft der
Energieversorgung in Deutschland; das ist richtig. Die
Ereignisse in Japan lassen ein Weiter-so nicht zu.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum machen Sie dann weiter so?)


Aber was passiert jetzt in Deutschland? Wir erleben
eine hemmungslose Instrumentalisierung der Ereignisse
in Japan durch die Opposition für die Durchsetzung ihrer
ideologiegetriebenen Energiepolitik.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Brüderle hat das instrumentalisiert! Der hat das sogar zu Protokoll gegeben!)


Wir erleben eine bewusste Verunsicherung der Bürger
unseres Landes, um alte Feindbilder und überholte Poli-
tikkonzepte von Rot-Grün zu neuem Leben zu erwe-
cken.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Klimaskeptikerin!)


Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist
nicht akzeptabel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es besteht keine Gefahr für die Bürger in unserem Land.
Unsere Kernkraftwerke sind sicher.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen gibt es auch ein Moratorium!)


Ihre Methode – gute Kernkraftwerke unter Rot-Grün,
schlechte unter Schwarz-Gelb; gute Castortransporte un-
ter Rot-Grün, schlechte unter Schwarz-Gelb – ist billig
und erzeugt bei den Bürgern nur Kopfschütteln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Ihre Rede erzeugt bei Ihrer eigenen Fraktion Grausen!)


Kommen Sie den Bürgern jetzt doch nicht mit dem
Spruch, dass Sie alles schon immer gewusst haben. Sie
haben in Ihrer Regierungszeit kein Kraftwerk wegen Si-
cherheitsbedenken abgeschaltet.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Röttgen darf nicht reden, aber Frau Dött! Das ist die CDU!)


Wären die Kraftwerke nicht sicher gewesen, wären Sie
verpflichtet gewesen, die Anlagen abzuschalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben es nicht getan. Sie haben das Gegenteil ge-
macht: Sie haben Ihren Ausstiegsbeschluss damals da-
durch erkauft, dass Sie auf zusätzliche Investitionen in
die Sicherheit der Kraftwerke schriftlich verzichtet ha-
ben.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben geredet, aber nicht gehandelt. So sieht rot-
grüne Sicherheitskultur aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709912500

Frau Dött, möchten Sie Herrn Kelber die Gelegenheit

zu einer Zwischenfrage geben?


Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1709912600

Nein, vielen Dank. – Sosehr uns alle die Bilder aus

Japan bewegen: Kehren Sie zu einer sachlichen Diskus-
sion zurück! Das, was in Japan passiert ist, kann und
wird für uns nicht folgenlos bleiben.


(Peter Friedrich [SPD]: Aha! Ihre Rede war aber bisher nicht so!)


Wir müssen – hören Sie zu! – neu bewerten und mit er-
gänzenden Maßnahmen prüfen. Genau das tun wir jetzt.
Wir werden die Sicherheitsannahmen zu Erdbebengefah-
ren, zu den Auswirkungen von Hochwasserereignissen,





Marie-Luise Dött


(A) (C)



(D)(B)

zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels, zu ter-
roristischen Angriffen, zu Cyberattacken und zu mögli-
chen Gefahren von Flugzeugabstürzen genau prüfen.
Wir werden insbesondere auch die Wirkungen eines
möglichen Zusammentreffens verschiedener Scha-
densereignisse prüfen. Und wir werden die technische
Situation in den Kraftwerken genau analysieren – zum
Beispiel wie die Strom- und Notstromversorgung sowie
die externe Infrastruktur ausgelegt sind – und prüfen,
wie robust sie bei Schadensereignissen sind. Gründlich-
keit in der Analyse und Konsequenz im Handeln – das
ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die Bürger
verlassen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste Pri-
orität.

Genau weil das so ist, haben wir sofort gehandelt. Wir
haben aus Vorsorgegründen die älteren Kraftwerke vom
Netz genommen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, die sind so sicher!)


Sie werden nicht wieder ans Netz gehen, bis wir genau
wissen, ob sie neuen, noch strengeren Sicherheitskrite-
rien gerecht werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und dann munter weiter!)


Wenn Kraftwerke diese neuen, noch strengeren Kriterien
nicht erfüllen, müssen sie nachgerüstet werden, oder sie
gehen nicht wieder ans Netz.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oder schön weiter!)


Das gilt natürlich auch für die Kraftwerke, die nach 1980
ans Netz gegangen sind. Auch diese Kraftwerke werden
nach den gleichen Kriterien geprüft.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind sie denn jetzt sicher oder nicht? Warum überprüfen Sie die denn dann, wenn die so sicher sind?)


So sieht verantwortlicher Umgang mit Kernenergie aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die in Deutschland in den nächsten drei Monaten
stattfindenden Sicherheitsüberprüfungen aller deutschen
Kraftwerke sind ein wichtiger Schritt. Aber die Sicher-
heit der Kernkraft ist gerade auch eine europäische Auf-
gabe. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen in
Brüssel reichen nicht aus. Die Teilnahme aller Staaten
und die Prüfung nach einheitlichen, strengen Kriterien
sind erforderlich. Die Bundeskanzlerin wird dieses
Thema mit Nachdruck in Brüssel verfolgen. Sie hat auch
dabei unsere volle Unterstützung.

Die ergebnisoffene Sicherheitsüberprüfung aller deut-
schen Kernkraftwerke kann dazu führen, dass wir unser
Energiekonzept nachjustieren müssen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Am besten in die Tonne werfen!)

An dem zentralen Ansatz unseres Konzepts, den Über-
gang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien mög-
lichst schnell zu vollziehen, wird nicht gerüttelt. Im
Gegenteil: Wir werden diesen Übergang weiter be-
schleunigen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch?)


Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze
und Speicherkapazitäten beschleunigen. Wir werden ge-
rade auch bei der Erhöhung der Energieeffizienz für
schnelle Fortschritte sorgen. Dafür werden wir in den
nächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen und
sehr konkrete Vorhaben auf den Weg bringen. Ein Bei-
spiel dafür ist das bereits vorgelegte Eckpunktepapier für
ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz.

Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen
– „Atomzeitalter beenden – Energiewende jetzt“ –, geht
mit manchen Vorschlägen durchaus in die richtige Rich-
tung. Aber Sie laufen nicht nur mit dem Titel des An-
trags den Ereignissen hinterher;


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Rolf Hempelmann [SPD]: Wer läuft hier hinterher?)


die Energiewende läuft bereits, und wir werden sie in
den nächsten Monaten noch beschleunigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zickzack! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn gemacht außer Laufzeitverlängerung?)


Meine Damen und Herren von der SPD, Sie laufen mit
Ihrem schnell zusammengezimmerten Gesetzentwurf
zur Stilllegung von Atomkraftwerken den Grünen ge-
nauso hilflos hinterher wie den Linken beim Mindest-
lohn.

Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn
Sie es mit der Energiewende ernst meinen, dann wird es
endlich Zeit, dass Sie sich daran beteiligen. Hören Sie
auf, in Berlin lauthals die Energiewende zu fordern und
sich dann vor Ort bei jedem Streit in die Büsche zu
schlagen


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Moment mal! Wo machen wir das?)


und jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau nach
dem Mund zu reden. Es wird Zeit, dass Sie für die not-
wendigen Stromtrassen werben, statt vor Ort Bürgerini-
tiativen dagegen zu initiieren.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen Sie doch mal, wer vor Ort dagegen ist! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Informieren Sie sich mal, Frau Dött!)


Stellen Sie sich nicht scheinheilig hinter Forderungen
nach Erdverkabelung.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gehen Sie mal beichten! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal die ganzen Bei Marie-Luise Dött spiele, wo Bürger sich wehren! Und zwar immer mit der CDU zusammen!)





(A) (C)


(D)(B)


Reden Sie mit den Menschen über die Kosten und reden
Sie mit ihnen über die Auswirkungen hinsichtlich Bo-
denversiegelung und Landschaftsbild. Wo sind denn da
Ihr ökologisches Gewissen, Frau Höhn, und Ihr umwelt-
politischer Sachverstand?


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr Sachverstand? Sie wissen doch gar nicht, worüber Sie reden, Frau Dött!)


Sagen Sie den Bürgern endlich ehrlich, dass Sonne und
Wind den Strom nicht umsonst liefern, dass erneuerbare
Energien zwar richtig, aber noch teuer sind.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Atomkraftwerke sind teuer für die Bevölkerung! Morsleben über 2 Milliarden Euro! Asse! Das ist teuer!)


Reden Sie nicht vormittags über die Notwendigkeit der
Speicherung der erneuerbaren Energien, wenn Sie am
Nachmittag zur Demonstration gegen neue Pumpspei-
cherkraftwerke gehen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709912700

Frau Dött.


Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1709912800

Führen Sie mit uns und den Bürgern endlich eine ehr-

liche Diskussion darüber, wie der Wirtschaftsstandort
Deutschland mit einem verlässlichen, bezahlbaren und
klimaverträglichen Energiemix gesichert und gestärkt
wird.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch sowieso nur die Interessen der Wirtschaft vertreten! Das haben Sie doch selber gesagt!)


Ich komme zu meinem letzten Satz. Treten Sie end-
lich für einen gesellschaftlichen Konsens des Anpackens
ein und organisieren Sie nicht ständig den des Still-
stands.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! – Peter Friedrich [SPD]: Peinlich!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709912900

Zu einer Kurzintervention der Kollege Kelber.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1709913000

Frau Kollegin Dött, Sie müssen mit sich selber aus-

machen, ob Sie es in Ordnung finden, als letzte Rednerin
in einer Debatte auf kein einziges Argument Ihrer Vor-
rednerinnen und Vorredner einzugehen, sondern stoisch
eine Rede abzulesen, die Beschimpfungen der anderen
enthält. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Aber eines ist nicht in Ordnung – das kann jeder, der
uns zuhört oder das Protokoll liest, selbst überprüfen –:
Der Vertrag des Jahres 2000, der zum Atomkonsens ge-
führt hat, ist öffentlich nachzulesen. Er ist auch nicht ge-
heim ausgehandelt worden. Er war von vornherein von-
seiten der Regierung öffentlich gemacht worden; auch
das ist ein Unterschied zu Ihnen. Sie haben daraus zitiert
und behaupten, dass der Satz, man wolle die Sicherheits-
philosophie für Atomkraftwerke beibehalten, belegt,
dass Rot-Grün auf zusätzliche Sicherheitsauflagen ver-
zichtet hatte. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich nicht den
nächsten Absatz gelesen haben. Vielleicht haben Sie ein-
fach nur etwas abgelesen, das Ihnen andere aufgeschrie-
ben haben.

Im nächsten Absatz wird die Pflicht zu periodischen
Sicherheitsüberprüfungen von Atomkraftwerken erst-
mals in Deutschland eingeführt; dies findet sich dann
auch im entsprechenden Gesetz. Das ist das, was Sie
jetzt tun. Bei diesen periodischen Sicherheitsüberprüfun-
gen – es sollen übrigens nicht in drei Monaten
17 Atomkraftwerke überprüft werden, sondern man soll
sich ein bis zwei Jahre in allen Details um ein einziges
kümmern – werden alle Sicherheitsaspekte betrachtet.
Dann wird das anhand des seit 1973, seit dem Kalkar-
Urteil, verfassungsrechtlich festgelegten Prinzips
„Nachrüstung nach dem Stand von Wissenschaft und
Technik“ nachvollzogen. Haben Sie diesen Absatz gele-
sen? Hören Sie jetzt endlich auf, die Unwahrheit – eine
bewusste Unwahrheit kann man mit vier Buchstaben
auch anders bezeichnen – zu wiederholen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rolf Hempelmann [SPD]: Das „ü“ ist ein Buchstabe!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709913100

Frau Dött zur Reaktion.


(Peter Friedrich [SPD]: Letzte Chance!)


Dann habe ich noch eine Kurzintervention des Kollegen
Lenkert.


Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1709913200

Herr Kelber, vielen Dank, dass Sie besonders darauf

hingewiesen haben, dass es wichtig ist, sich diese Ab-
schnitte sehr genau anzuschauen.


(Peter Friedrich [SPD]: Dann machen Sie mal! – Ulrich Kelber [SPD]: Genau! Zitieren Sie vollständig!)


Sie haben angesprochen, dass ich als letzte Rednerin
verschiedene Punkte thematisiert habe. Es hat mir be-
sonders viel Freude gemacht, als letzte Rednerin noch
einmal zusammenfassen, um welche Debatte es hier
überhaupt geht


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch nur abgelesen, was vorher aufgeschrieben wurde!)


und mit welcher Thematik wir uns hier beschäftigen.

Zurzeit ist es so, Herr Kelber, dass wir aufgrund der
schrecklichen Ereignisse in Japan, des Erdbebens und
des Tsunami, neue Erkenntnisse haben und einiges
wahrscheinlich neu beurteilen müssen. Dies wollen wir





Marie-Luise Dött


(A) (C)



(D)(B)

auf unsere Sicherheitsvorstellungen hinsichtlich unserer
Kraftwerke anwenden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nach dem Stand von Wissenschaft und Technik!)


Danach wollen wir entscheiden, was gemacht werden
muss, damit wir weiterhin sagen können: Unsere Kraft-
werke sind sicher.

Wenn es aufgrund irgendwelcher Nachrüstungen, von
denen wir jetzt noch nichts wissen, so wäre, dass sich
das Ganze nicht rechnet und die Kraftwerke vom Netz
gehen müssten, dann würde dies in der Konsequenz be-
deuten, dass wir andere Voraussetzungen unserem Ener-
giekonzept zugrunde legen müssten, wenn es darum
geht, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu errei-
chen. Diese anderen Voraussetzungen müssten dann be-
wertet werden. Man müsste sich, da Kernkraftwerke
CO2-frei sind, beispielsweise fragen: Wie können wir
unsere Klimaziele erreichen? Können wir Kernkraft-
werke einfach ersetzen? Dazu habe ich von Ihnen nur
sehr wenig gehört.

Sie wollen auch aus der Nutzung der Kohle ausstei-
gen. Wir brauchen aber eine grundlastfähige Energie, um
in Deutschland Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
All die Fragen, die damit verbunden sind, werden wir
nach dem Moratorium, nachdem wir die Überprüfung
durchgeführt haben, beantworten und dann sehr schnell
handeln. Denn die Ereignisse in Japan und die schreckli-
chen Bilder haben uns vor Augen geführt, dass wir sehr
schnell – so schnell es möglich ist – aussteigen sollten.
Das werden wir verwirklichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Zu Ihrem manipulierten Zitat sagen Sie nichts? Erst falsch zitieren und dann nichts dazu sagen, das ist peinlich! – Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach! Sie sind viel peinlicher! – Peter Friedrich [SPD]: Schamesröte wäre angebracht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709913300

Herr Lenkert, bitte.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709913400

Danke, Frau Präsidentin. – Frau Dött, ich habe ein

paar Fragen zu Ihrer Rede. Sie machten indirekt darauf
aufmerksam, dass erneuerbare Energie viel mehr Geld
kostet. Sie sprachen ohnehin nur von Kosten. Wir haben
gestern im Umweltausschuss – Sie waren anwesend –
über den Leitfaden für erneuerbare Energien diskutiert.
Darin wurde die Feststellung getroffen, dass bei Investi-
tionen von 800 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050 im
Vergleich zur jetzigen Energiepolitik ein zusätzlicher
Gewinn von 660 Milliarden Euro zu erwarten ist. Da
stellt sich mir die Frage: Warum gehen wir hier nicht
schneller vor? Dies entspricht in zehn Jahren übrigens
Investitionen von etwa 200 Milliarden Euro. Das war Ih-
nen die Bankenrettung in nur zwei Jahren wert. Für eine
sichere Zukunft wäre das angebracht.
Meine zweite Frage betrifft ebenfalls das Thema
Preise. Herr Kurth von der Bundesnetzagentur stellte
fest, dass die Strompreise in diesem Jahr um 0,5 bis
1 Cent pro Kilowattstunde hätten gesenkt werden kön-
nen, weil die Spotpreise an der Leipziger Strombörse um
über 2 Cent gesunken sind. Die EEG-Umlage stieg um
1,5 Cent. Es kam aber flächendeckend zu Preiserhöhun-
gen, und zwar mit der Begründung: EEG-Umlage. Sind
nicht auch Sie der Meinung, dass wir an dieser Stelle
eine staatliche Preisaufsicht benötigen, um die Gewinn-
macherei im Schatten der erneuerbaren Energien mit der
Behauptung, erneuerbare Energien seien an allem
schuld, zu begrenzen?

Als Letztes zu Ihrer Aussage, dass der Klimaschutz
von der Opposition nicht ernst genommen würde. Ges-
tern lagen im Umweltausschuss drei Anträge der Opposi-
tion vor, die darauf zielten, verbindliche Klimaschutz-
ziele für die Bundesrepublik und die EU festzuschreiben.
Alle drei haben FDP und CDU/CSU abgelehnt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709913500

Frau Dött.


Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1709913600

Herr Lenkert, ich habe gesagt, dass die erneuerbaren

Energien noch teuer sind. Sie wissen selbst: Wenn man
investiert, kostet das eine ganze Menge. Es gibt Investi-
tionszyklen. Investitionen bringen erst dann etwas, wenn
sie abgeschrieben sind. Bei erneuerbaren Energien brau-
chen wir ein ganz anderes Netz, um die Energie zum
Bürger, vor allen Dingen aber zum Mittelstand und zur
Industrie zu liefern. Von daher habe ich gesagt: noch.
Wir werden das machen. Wir müssen aber die Preise im
Auge behalten.

Wie Sie wissen, werden zurzeit Umfragen durchge-
führt, in denen die Bürger gefragt werden: Wie viel mehr
wären Sie zu zahlen bereit, wenn wir aus der Kernkraft
aussteigen würden? Im Schnitt würden die Bürger im
Jahr etwa 15 Euro mehr für Strom zahlen. Es geht aber
nicht nur um den Endverbraucher, um den Bürger, son-
dern es geht auch um die Frage: Behalten wir unsere In-
dustrie in Deutschland? Wenn man kein ausgewogenes
Energiekonzept hat, stellt sich auch die Frage: Behalte
ich die Arbeitsplätze in Deutschland oder nicht?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709913700

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5181, 17/5202, 17/5179, 17/5180
und 17/5182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie
in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einver-
standen. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zur Änderung des Energiewirtschaftsgeset-
zes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Drucksache 17/5148, den Gesetzentwurf auf Drucksache
17/3182 abzulehnen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, bitte ich um ihr Handzeichen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung bei Zustimmung von Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Dagegen
haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Fraktion der
SPD hat sich enthalten. Eine dritte Beratung entfällt
dementsprechend.

Tagesordnungspunkt 4 c. Wir setzen die Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5148
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3649 mit dem Titel
„Die Energieversorgung in kommunaler Hand“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und
FDP. Dagegen hat die SPD gestimmt. Linke und
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3671 mit dem Ti-
tel „Energienetze in die öffentliche Hand – Kommunali-
sierung der Energieversorgung erleichtern – Transparenz
und demokratische Kontrolle stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Die übri-
gen Fraktionen haben dafür gestimmt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5183 mit dem Titel „Keine Hermesbürg-
schaften für Atomtechnologien“. Wer stimmt für den
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen
abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja nicht zu fassen! – Zuruf von der SPD: Da kommt es heraus! – Peter Friedrich [SPD]: Das wird jetzt auch noch mit Steuergeldern unterstützt!)


Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie
33 h bis k und 24 sowie Zusatzpunkt 8 a und b auf:

33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung der Vorschriften über den Wertersatz bei
Widerruf von Fernabsatzverträgen und über
verbundene Verträge

– Drucksache 17/5097 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 4. Februar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Franzö-
sischen Republik über den Güterstand der
Wahl-Zugewinngemeinschaft

– Drucksache 17/5126 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen

– Drucksachen 17/5127, 17/5201 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Com-
monwealth der Bahamas über die Unterstüt-
zung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch
Informationsaustausch

– Drucksache 17/5128 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Fürstentum
Monaco über die Unterstützung in Steuer- und
Steuerstrafsachen durch Informationsaus-
tausch

– Drucksache 17/5129 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Kaimaninseln über die Un-
terstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen
durch Informationsaustausch

– Drucksache 17/5130 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid
Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Manuel
Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

zu der Mitteilung der Kommission an das Eu-
ropäische Parlament und den Rat Auf dem
Weg zu einer verstärkten europäischen Kata-
strophenabwehr: die Rolle von Katastrophen-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


schutz und humanitärer Hilfe 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip


(KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10)


hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesre-
gierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen
Union

Katastrophenabwehr in Europa effektiv ge-
stalten

– Drucksache 17/5194 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten

– Drucksache 17/5177 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung
für Leistungen der Integrationsfachdienste er-
möglichen

– Drucksache 17/5205 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleiches Rentenrecht in Ost und West

– Drucksache 17/5207 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von
Europäischen Betriebsräten umsetzen

– Drucksache 17/5184 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –
Finanzierung langfristig sichern

– Drucksache 17/5185 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Schutz vor militärischem Fluglärm

– Drucksache 17/5206 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 34 a bis q.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 34 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 20. August 2009 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über
die Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppelbür-
ger

– Drucksache 17/4810 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 17/5068 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

Fritz Rudolf Körper
Elke Hoff
Paul Schäfer (Köln)

Agnes Malczak

Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5068, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4810
anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf zustim-
men? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion
Die Linke. Die übrigen Fraktionen haben dafür ge-
stimmt.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dem zustimmen möchte,
den bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in drit-
ter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom
16. April 2009 über die Änderungen des Über-
einkommens vom 5. September 1998 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land, der Regierung des Königreichs Däne-
mark und der Regierung der Republik Polen
über das Multinationale Korps Nordost

– Drucksache 17/4809 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 17/5084 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

Lars Klingbeil
Elke Hoff
Paul Schäfer (Köln)

Omid Nouripour

Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5084, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4809
anzunehmen. Hier gibt es nur zwei Lesungen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Frak-
tion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen ha-
ben zugestimmt.

Tagesordnungspunkt 34 c:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Beschleunigung der Zahlung von Entschä-
digungsleistungen bei der Anrechnung des
Lastenausgleichs und zur Änderung des Auf-
bauhilfefondsgesetzes (ZEALG)


– Drucksache 17/4807 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/5086 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Petra Hinz (Essen)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/5087 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Roland Claus
Alexander Bonde

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5086, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4807 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer diesem Gesetz-
entwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Hand-
zeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Das ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher
bitte auf? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 34 d:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 1. Juli 2010 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und den Ver-
einigten Arabischen Emiraten zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung und der Steuer-
verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen

– Drucksache 17/4806 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/5186 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Thomas Gambke

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5186, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4806 an-
zunehmen. Wer möchte für den Gesetzentwurf
stimmen? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Frak-
tionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher
bitte auf? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmverhältnis wie vorher angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 e:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Durchführung der Verordnung (EG)

Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehender
Aus- und Durchführungsbestimmungen auf
dem Gebiet des internationalen Unterhaltsver-
fahrensrechts

– Drucksache 17/4887 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/5240 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5240, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4887 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte dem
Gesetzentwurf zustimmen? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Erheben mögen sich bitte die-
jenigen, die zustimmen wollen. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter
Beratung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 f:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrs-
gesetzes und anderer Gesetze

– Drucksache 17/4144 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/5169 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5169, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/4144 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dafür ist, erhebe sich bitte. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 34 g:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die vorläufige Durchführung unmittelbar
geltender Vorschriften der Europäischen Union
über die Zulassung oder Genehmigung des In-
verkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln

– Drucksache 17/4985 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/5199 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Gustav Herzog
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Friedrich Ostendorff

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/5199, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/4985 anzunehmen.
Wer möchte dafür stimmen? – Wer ist dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung
der übrigen Fraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmverhältnis wie vorher angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 h:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über
den Abschluss des Übereinkommens über die
internationale Geltendmachung der Unter-
haltsansprüche von Kindern und anderen Fa-
milienangehörigen durch die Europäische Ge-
meinschaft
KOM(2009) 373 endg.; Ratsdok. 12265/09

– Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Dr. Eva Högl
Stephan Thomae
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5241, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktio-
nen und Die Linke, dagegen hat die SPD-Fraktion ge-
stimmt, enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.

Tagesordnungspunkt 34 i:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem

Bericht der Kommission an den Rat, das Eu-
ropäische Parlament, den Europäischen Wirt-
schafts- und Sozialausschuss und den Aus-
schuss der Regionen
Anwendung der Richtlinie 2004/48/EG des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates vom
29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte
des geistigen Eigentums

(inkl. 5140/11 ADD 1)


(ADD 1 in Englisch)

KOM(2010) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11

– Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5242, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen und
die SPD-Fraktion gestimmt, dagegen hat Bündnis 90/
Die Grünen gestimmt, Die Linke hat sich enthalten.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 34 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 234 zu Petitionen

– Drucksache 17/5059 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Diese Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 235 zu Petitionen
– Drucksache 17/5060 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 236 zu Petitionen
– Drucksache 17/5061 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD.
Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grü-
nen haben sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 34 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 237 zu Petitionen
– Drucksache 17/5062 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 34 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 238 zu Petitionen
– Drucksache 17/5063 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage-
gen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, die übri-
gen Fraktionen dafür.

Tagesordnungspunkt 34 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 239 zu Petitionen
– Drucksache 17/5064 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls angenom-
men. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt, die
übrigen Fraktionen waren dafür.

Tagesordnungspunkt 34 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 240 zu Petitionen

– Drucksache 17/5065 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Ge-
genstimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen.
Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.

Tagesordnungspunkt 34 q:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 241 zu Petitionen

– Drucksache 17/5066 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen
SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen
gestimmt.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 28 a und b
auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines Bundesfreiwilligendiens-
tes

– Drucksache 17/4803 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)


– Drucksache 17/5249 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Dr. Peter Tauber
Sönke Rix
Florian Bernschneider
Heidrun Dittrich
Kai Gehring

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligen-
dienste – Bürgerschaftliches Engagement
der jungen Generation anerkennen und för-
dern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf,
Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Stärkung der Jugendfreiwilligendienste –
Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen,
Rechtssicherheit schaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix,
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Chancen nutzen – Jugendfreiwilligendienste
stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch,
Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen
statt Bundesfreiwilligendienst einführen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt
auf den Weg bringen – Quantität, Qualität
und Attraktivität steigern

– Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, 17/4845,
17/3436, 17/5249 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Dr. Peter Tauber
Sönke Rix
Florian Bernschneider
Heidrun Dittrich
Kai Gehring

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1709913800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute ist ein denkwürdiger Tag. Wir fassen heute
Beschlüsse von historischer Tragweite. Nach über 50 Jah-
ren beschließen wir das Ende der Pflichtdienste in
Deutschland. Den liebgewordenen Zivi und den liebge-
wordenen Grundwehrdienstleistenden gibt es ab 1. Juli
nicht mehr. Die Einberufung zum Wehrdienst und damit
die Einberufung zum Zivildienst werden wir heute aus-
setzen.

In wenigen Tagen, am 11. April, begehen wir mit ei-
nem Festakt 50 Jahre Zivildienst. Im April 1961 haben
die ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer ihren
Ersatzdienst angetreten. Bis heute haben über 2,5 Mil-
lionen junge Männer diesen Dienst geleistet, zuletzt jähr-
lich 90 000. Der Festakt wird eine Art Beerdigung, aber
es wird eine fröhliche Beerdigung. Wir trauern zwar um
den Zivildienst, aber wir freuen uns auf die neuen Frei-
willigendienste und den Bundesfreiwilligendienst.

Gerade auch wegen der großen Bedeutung, die der Zi-
vildienst erlangt hat, stellt uns seine Aussetzung vor eine
große Herausforderung. Herausforderungen sind immer
auch Chancen. Eine solche haben wir mit dem neuen





Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)

Bundesfreiwilligendienst ergriffen. Mit diesem Dienst
ist in kurzer Zeit etwas Großes und Gutes geschaffen
worden; das ist das Fazit der Sachverständigenanhörung.


(Ute Kumpf [SPD]: Die haben etwas ganz anderes erzählt!)


Wir ermöglichen damit freiwilliges Engagement in einer
sehr großen Breite in Deutschland: im sozialen Bereich,
in den Bereichen Ökologie, Kultur und Sport, Integra-
tion und im Zivil- und Katastrophenschutz. Wir ermögli-
chen es, dass sich künftig Menschen jeden Alters im
Bundesfreiwilligendienst engagieren können. Den jun-
gen Männern wird künftig der Wehrersatzdienst nicht
mehr abverlangt, aber sie dürfen sich freiwillig engagie-
ren. Das tut ihnen gut und der Gesellschaft.

Die Opposition trägt jetzt aus meiner Sicht etwas
kleinkariert und wenig konstruktiv Kritik vor. Ihre Kritik
ist deshalb nicht konstruktiv, weil Sie keine Lösungs-
wege aufzeigen. Es gibt zum Beispiel ein Nebeneinander
von Bundesfreiwilligendienst und Jugendfreiwilligen-
diensten. Wir sind uns einig, dass wir beide langfristig
zusammenführen wollen. Ein einheitlicher Dienst stößt
heute aber an verfassungsrechtliche Grenzen. Es ist nicht
möglich, den Ländern einfach 350 Millionen Euro zu
überweisen, indem wir ihnen zum Beispiel die Einnah-
men durch einen Umsatzsteuerpunkt abtreten, weil die
Länder dann beim Einsatz dieser Gelder völlig frei sind.
Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Forschung,
Polizei, Schuldenabbau – es gibt viele sinnvolle Aufga-
ben, für die die Länder das Geld einsetzen könnten; nur
ein Bruchteil würde bei den Freiwilligendiensten an-
kommen. Eine Verfassungsänderung in diesem einen
Punkt ist wenig realistisch.

Die Lösung ist die Schaffung eines Bundesfreiwilli-
gendienstes bei gleichzeitigem Ausbau und besserer För-
derung der bestehenden Jugendfreiwilligendienste. Die
Stärke der Freiwilligendienste war schon immer ihre
Vielfalt. So bunt wie unsere Gesellschaft sind auch die
Freiwilligendienste.

Festzuhalten bleibt auch, dass wir noch nie so viel
Geld für die Freiwilligendienste in Deutschland zur Ver-
fügung gestellt haben. Auch die bestehenden Freiwilli-
gendienste profitieren von dieser Regelung. Bisher ha-
ben wir den Ländern eine Förderung von 72 Euro pro
Monat für ein Freiwilliges Soziales Jahr gezahlt; künftig
sind es 200 Euro pro Monat. Zusätzlich gibt es – auch
das ist neu – 50 Euro bei besonderem pädagogischen Be-
treuungsbedarf.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso schreiben Sie das nicht ins Gesetz?)


Das Koppelungsmodell verhindert, dass sich der Bun-
desfreiwilligendienst zulasten der bestehenden Dienste
etabliert. Insgesamt werden vom Bund künftig 350 Mil-
lionen Euro eingesetzt. Die Länder bezahlen 12 Mil-
lionen Euro; den Löwenanteil davon tragen Baden-
Württemberg und Bayern. 8 Millionen Euro kommen
aus dem Europäischen Sozialfonds.

Zum Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftli-
che Aufgaben möchte ich anmerken, dass künftig nur
noch ein Teil der heutigen Mitarbeiter für den neuen
Bundesfreiwilligendienst benötigt wird und in den
nächsten Monaten und Jahren Veränderungen möglich
und auch nötig sind. So wollen wir die administrativen
Aufgaben im Zusammenhang mit der Familienpflegezeit
vom BAZ erledigen lassen und nach außen vergebene
Aufgaben auf das BAZ zurückübertragen.

Positiv ist in der Anhörung die vorgesehene Regelung
für die älteren Freiwilligen aufgenommen worden. Über
27-Jährige müssen mindestens 20 Stunden pro Woche
leisten. Wir grenzen den Bundesfreiwilligendienst damit
klar von anderen Ehrenämtern ab und verhindern, dass
das Ehrenamt in der Breite verstaatlicht wird.

Wir wollen beim Kindergeld noch eine Veränderung
vornehmen. Ich denke, wir sind uns einig, dass auch der
Bundesfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechti-
gung führen sollte. Die Kindergeldfrage soll in einem
Steuergesetz, zum Beispiel im Steuervereinfachungsge-
setz, geregelt werden. Der Betrag von 550 Euro plus
50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbe-
darf müsste möglicherweise noch etwas reduziert wer-
den; aber dafür erhielten die kindergeldberechtigten
Freiwilligen weiter Kindergeld.

Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel, 35 000 Ju-
gendfreiwillige und 35 000 Bundesfreiwilligendienst-
leistende pro Jahr zu gewinnen, erreichen können, wenn
auch vielleicht nicht gleich zum 1. Juli. Aber auch bisher
war der Dienstantritt beim Jugendfreiwilligendienst in
der Regel nicht der 1. Juli, sondern der 1. September.

Wir haben in letzter Zeit zudem eine hohe Bereit-
schaft bei Zivildienstleistenden erlebt, den Zivildienst
freiwillig zu verlängern. Auch diesbezüglich hat die Op-
position seinerzeit viel Kritik vorgetragen. Diese Rege-
lung hat sich aber bestens bewährt. Sie werden sehen,
dass auch der Bundesfreiwilligendienst angenommen
und funktionieren wird. Es spricht einiges dafür, dass
sich die Menschen in unserem Land für einen Bundes-
freiwilligendienst entscheiden werden.

Richtig ist aber auch, dass wir den Zivildienst nicht
vollkommen ersetzen können. Das ist auch nicht die
Aufgabe des Bundesfreiwilligendienstes. Einige Stellen
werden künftig nicht mehr zu besetzen sein, zum Bei-
spiel die als Pförtner in einer Einrichtung. Es ist für
junge Menschen schlechterdings keine Herausforderung,
einen solchen Dienst zu leisten. Dagegen werden wahr-
scheinlich Stellen in Pflegeeinrichtungen stark nachge-
fragt werden.

Der Bundesfreiwilligendienst wird uns den Abschied
vom liebgewonnenen Zivildienst erleichtern. Mit dem
neuen Bundesfreiwilligendienst haben wir in kurzer Zeit
etwas Großes und Gutes geschaffen. Dank möchte ich
der Ministerin und dem Ministerium sagen. Dank auch
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sowie den Ver-
bänden für die eigentlich recht konstruktive Diskussion
des Entwurfes.


(Sönke Rix [SPD]: Wieso „eigentlich“?)


Die Kritik der Opposition werden wir ertragen. Ich bin
sicher: Die Praxis wird die Kritik widerlegen.





Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709913900

Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1709914000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Weil der Dank meines Vorredners nicht nur an die Kolle-
gen der Regierungsfraktion, sondern auch an die anderen
Kollegen so schön war, möchte ich auch Ihnen von
Schwarz-Gelb danken, dass Sie den Mut haben, die
Wehrpflicht auszusetzen, und damit, wie Sie gesagt ha-
ben, ein liebgewonnenes Kind – Sie haben das sicherlich
mehr liebgewonnen als wir – gegen ein neues Modell,
auf das ich gleich in meiner Rede eingehen werden, ein-
tauschen. Dafür gebührt Ihnen Dank, aus welchen Grün-
den auch immer Sie das getan haben. Dieser Mut ist auf
jeden Fall einen Dank wert.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der CDU/ CSU: Ich bin gerührt!)


Wir reden heute zum x-ten Mal – schon das ist etwas
Tolles; darüber kann man froh sein – über das Thema
Freiwilligendienste. Es ist schön, dass wir den Wegfall
des Zivildienstes zum Anlass nehmen, bei den Jugend-
freiwilligendiensten etwas zu verbessern; das finde ich
in Ordnung. Aber nun komme ich auf den Gesetzentwurf
zu sprechen, der heute verabschiedet wird.

Nach relativ kurzer Zeit der Diskussion – es war ein
ziemlich sportliches Tempo – soll nun zum 1. Juli dieses
Jahres der Bundesfreiwilligendienst umgesetzt werden.
Sie haben gesagt, angesichts der Anhörung und der Ge-
spräche mit den Vertretern der Fachverbände und den
Fachexperten sei alles quasi im Lot und in Ordnung. Das
liegt in der Natur der Sache. Ich habe auch andere, kriti-
sche Stimmen gehört, insbesondere bei der Anhörung.
Kritisiert wurde unter anderem die staatliche Steuerung
eines Freiwilligendienstes. Kritisiert wurde auch die
Doppelstruktur. Kritisiert wurde die Regelung im Bun-
desfreiwilligendienstgesetz betreffend das Kindergeld.
Sicherlich ist es positiv, dass die Freiwilligendienste für
alle Generationen offen stehen sollen. Nichtsdestotrotz
wurde kritisch darauf hingewiesen, dass Jung und Alt
unterschiedliche Ansprechpartner in den Seminaren und
unterschiedliche Seminarformen brauchen. Es wurde
auch die Aufrechterhaltung des – so heißt es noch –
Bundesamtes für den Zivildienst kritisiert. Gefordert
wurde eine Organisation für Freiwilligendienste auf der
Basis der Zivilgesellschaft. Es wurden des Weiteren eine
wissenschaftliche Begleitung und einheitliche Struktu-
ren gefordert. Es war zwar die Rede von mittelfristigen
und langfristigen Übergängen. Aber eine einheitliche
Struktur wurde von der überwiegenden Anzahl der Ex-
perten gefordert, genauso wie eine Regelung der Kinder-
geldfrage.
Unsere Kritik deckt sich mit diesen Kritikpunkten.
Wir hatten von Ihnen ein Gesamtkonzept erwartet. Es
kann nicht nur darum gehen, die Lücke, die durch den
Wegfall des Zivildienstes entsteht, mit dem Bundesfrei-
willigendienst zu schließen. Im Rahmen eines Gesamt-
konzeptes hätten die Fragen beantwortet werden müs-
sen: Wie können wir das bürgerschaftliche Engagement
insgesamt stärken, um den Wegfall des Zivildienstes auf-
zufangen? Wie können wir einige Tätigkeiten von Zivil-
dienstleistenden in sozialversicherungspflichtige Jobs
überführen? Diese Debatte hat nicht stattgefunden. Es
gibt zwar die Ankündigung, die Mittel für den Bereich
des FSJ aufzustocken. Aber es sind noch keine entspre-
chenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen
worden. Es hat auch noch keine intensiven Gespräche
mit Verbänden und Kommunen darüber gegeben, wie
man die Rahmenbedingungen und die Anerkennung bei
FSJ und FÖJ verbessern kann. Das alles fehlt. Das ist
leider enttäuschend.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Natürlich besteht die Gefahr einer Doppelstruktur. Es
gibt unterschiedliche Ansätze. Vonseiten der Regierung
und der schwarz-gelben Koalition wird immer wieder
betont, ein junger Freiwilliger solle gar nicht merken,
welchen Dienst er leistet. Das ist ein richtiger Ansatz.
Ich finde das auch gut. Sie haben dankenswerterweise
die Kritik von Verbänden und Opposition aufgegriffen.
Das war am Anfang nicht so. Sie haben in diesem Be-
reich etwas verändert. Aber es gibt noch Unterschiede
und eine unterschiedliche Förderung durch den Bund. Es
gibt auch Unterschiede bei der Ausgestaltung der Kin-
dergeldregelung, genauso wie bei der pädagogischen Be-
gleitung und der Anerkennung der Plätze.

Auch das ist noch ein Wunsch, den wir gehabt hätten.
Sie, Herr Grübel, sagen zwar, der Markt werde entschei-
den, welche Plätze attraktiv sind – der Posten des Pfört-
ners im Seniorenheim ist sicher nicht so attraktiv wie der
desjenigen, der mit Kindergartenkindern einen Platz ge-
stalten kann –; aber es wäre die Aufgabe bei solch einem
Gesetz gewesen, diese Dinge zu überprüfen. Wir können
nicht darauf warten, dass der Markt das regelt. Ich hätte
mir gewünscht, dass wir alle Zivildienstplätze überprü-
fen, bevor sie Bundesfreiwilligenplätze werden.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben dankend zur Kenntnis genommen, dass Sie
erkannt haben, dass beim Kindergeld eine Regelung ge-
troffen werden muss, aber wir beschließen das Gesetz
jetzt. Da reicht die Ankündigung nicht aus, dass die un-
terschiedliche Regelung des Kindergeldes im Jugend-
freiwilligendienst und im Bundesfreiwilligendienst ir-
gendwann durch die Steuergesetzgebung erfolgt. Wir
würden das gerne jetzt klären; denn der Bundesfreiwilli-
gendienst wird zum 1. Juli umgesetzt. Deshalb hätten
wir jetzt gerne Antworten und nicht nur eine Ankündi-
gung.


(Ute Kumpf [SPD]: Und auch das Ohr der Ministerin!)






Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte gerne auf die Widersprüche, die es gab,
eingehen. In der Anhörung wurde erwähnt, dass die Frei-
willigendienste quasi auf Pflichtstrukturen stoßen. Das
liegt zum einen an der automatischen Anerkennung der
Plätze, die ich gerade kritisiert habe, aber auch daran,
dass wir die Verwaltung, die dem Zivildienst zugrunde
lag, nutzen. Wir hätten Einsparungen vornehmen kön-
nen. In Richtung FDP will ich sagen – Graf Strachwitz
hat das sehr gut auf den Punkt gebracht –: Es ist nicht
unbedingt im Sinne von jungen Menschen, ein staatli-
ches Dienstverhältnis einzugehen, wenn man sich für
eine besondere Form von bürgerschaftlichem Engage-
ment entscheidet. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie
diese Kritik annehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine dauerhafte finanzielle und rechtli-
che Voraussetzung, um FSJ und FÖJ zu stärken, und
nicht nur eine Ankündigung der Mittelerhöhung. Wir
brauchen ein Jugendfreiwilligenstatusgesetz. Wir brau-
chen keine unterschiedlichen Rechtsformen für unter-
schiedliche Freiwilligendienste. Wir brauchen noch in
dieser Legislaturperiode eine Überprüfung des Gesetzes;
denn ich gehe davon aus, dass Sie es heute mit Mehrheit
beschließen werden. Wir brauchen ein ganzheitliches
Konzept zur Stärkung der Freiwilligendienste und des
bürgerlichen Engagements, das gemeinsam mit den Län-
dern abgestimmt werden muss. Dann vermeiden wir
Doppelstrukturen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709914100

Für die FDP hat Miriam Gruß das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1709914200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede da-
mit beginnen, den Jungen Liberalen im Namen der FDP-
Fraktion zu danken, die vor 20 Jahren den wegweisen-
den Beschluss getroffen haben, die Wehrpflicht auszu-
setzen.


(Sönke Rix [SPD]: Ich habe vergessen, den Jusos zu danken!)


Ich danke den Kolleginnen und Kollegen dieser Koali-
tion, die dieses jetzt im Europäischen Jahr der Freiwilli-
gentätigkeit umsetzen und damit die Konsequenzen ge-
zogen haben. Wir legen hiermit eine beachtliche Reform
vor, die die Freiwilligentätigkeit auf ganz neue Beine
stellt, Bewährtes übernimmt, aber auch Neues schafft.
Ich glaube, dass die Freiwilligentätigkeit in Deutschland
im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit einen
ganz starken Impuls von dieser Koalition bekommt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Daten und Fakten sind schon oft genannt worden.
Ich will aber noch einmal betonen, dass ich es für richtig
und wichtig erachte, dass die Freiwilligentätigkeit für
Mann und Frau geöffnet wird, dass sich alle Altersgrup-
pen einbringen können und dass wir eine breite Varianz
an Möglichkeiten, sich einzubringen, haben, so etwa in
den Bereichen Sport, Bildung und, was uns als FDP-
Fraktion besonders wichtig war, im Bereich Integration;
denn auch hier gibt es viele Bemühungen vor Ort. Die
sollen anerkannt werden. Durch die neuen Strukturen
sollen dafür Möglichkeiten eröffnet werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Wille ist ungebrochen da. Über ein Drittel aller
Deutschen engagieren sich bereits jetzt ehrenamtlich.
Von denjenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ abgeschlossen
haben, könnten sich über 70 Prozent vorstellen, sich wei-
terhin zu engagieren, und nahezu 100 Prozent würden es
weiterempfehlen. Das heißt, die Deutschen wollen sich
freiwillig engagieren, und sie tun es auch. Deswegen
wird mir nicht angst und bange bei der Frage, ob wir die
35 000 Plätze besetzen können. Junge Menschen wollen
sich engagieren. Sie sehen dadurch die Chance, neue
Einblicke zu gewinnen, ihren Horizont zu erweitern,
sich, je nachdem, wie viel Zeit sie einbringen wollen, ein
Jahr oder länger, auch Themenfeldern zu öffnen, die sie
aus der Schule vielleicht so nicht kannten, sich vielleicht
im Hinblick auf den zukünftigen Berufsweg zu orientie-
ren. Wir haben damit die Chance für die Gesellschaft,
dass Freiwilligkeit das Miteinander fördert und alle Ge-
nerationen zusammenführt.

Ich bin der Meinung: Es ist eine sehr gute Reform. Ich
möchte mich dafür noch einmal ganz herzlich bedanken.
Im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit ist das
ein tolles Signal dieser Koalition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709914300

Harald Koch hat das Wort für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709914400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Werte Gäste! Wie Herr Grübel vorhin sagte, wird
der Bundesfreiwilligendienst eine kurze Halbwertszeit
haben. In der Anhörung bemängelten mehrere Sachver-
ständige die Doppelstrukturen zwischen existierenden
Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilli-
gendienst und meinten, mittelfristig sei eine einheitliche
Struktur durch Zusammenführung der Dienste nötig. Der
Bundesfreiwilligendienst, so wie er geplant ist, wird
schnell wieder Geschichte sein.

Kurzfristig können nun aber gemeinwohlorientierte
Einrichtungen wegen einer Bevorteilung des staatlich or-
ganisierten Bundesfreiwilligendienstes in Existenznöte
geraten. Bei ihnen wird die Nachfrage nach Jugendfrei-
willigendienstplätzen zurückgehen. Für die Linke ist in-





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)

des klar: Es darf keine Freiwilligendienste erster und
zweiter Klasse geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Zudem ist erstaunlich, dass die FDP als vermeintliche
Partei des Bürokratieabbaus diesen Doppelstrukturen
und diesem Bürokratiemonster – so muss man es ja be-
zeichnen – mucksmäuschenstill zustimmt.


(Florian Bernschneider [FDP]: Schön, dass ihr uns das jetzt vorwerft! – Norbert Geis [CDU/ CSU]: Nur nicht übertreiben!)


Die Anhörung hat gangbare Alternativen aufgezeigt.


(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Welche denn? Benennen Sie die doch mal!)


Es wäre etwas anderes möglich gewesen.

Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koali-
tion, hätten Sie auf die Linke gehört,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Hätten wir heute noch die DDR! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


hätten Sie diese Probleme von vornherein verhindern
können. Die Wehrpflicht gehört nicht nur ausgesetzt,
sondern ganz abgeschafft.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann braucht man auch keinen Platzhalter für einen Zi-
vildienst zu schaffen, der – das ist sicher – nicht mehr
zurückkommt.

Die durch die Aussetzung der Wehrpflicht und damit
des Zivildienstes entstehenden Lücken im sozialen Be-
reich müssen ohne Zweifel geschlossen werden. Aber
wir bezweifeln, dass der Weg, den Sie einschlagen, der
richtige ist. Vielmehr müssen neue, sozialversicherungs-
pflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden – für qualifi-
zierte Beschäftigte und mit tariflichem Lohn oder we-
nigstens Mindestlohn.


(Beifall bei der LINKEN)


Jugendfreiwilligendienste haben nur flankierenden Cha-
rakter. Grundsätzlich dürfen junge wie alte Menschen
nicht Lückenbüßer in einem von Ihnen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Koalition, zu verantwortenden
System des stetigen Sozialabbaus sein.

Die Linke will lieber die rechtlichen Grundlagen
schaffen, um bestehende Jugendfreiwilligendienste wei-
ter ausbauen zu können, anstatt einen Bundesfreiwilli-
gendienst einzuführen; denn Jugendfreiwilligendienste
als Bildungs- und Lernorte zwischen Schule und Beruf
haben eine wichtige individuelle und gesellschaftliche
Funktion. Es wird immer in Abrede gestellt, dass wir das
anerkennen. Auch deshalb haben wir unseren Antrag ge-
stellt. Die Dienste unterstützen bei der Suche nach per-
sönlicher, gesellschaftlicher und beruflicher Orientie-
rung. Sie verschaffen vielfältige Kompetenzen. Sie
sensibilisieren für Probleme und ermutigen zur Partizi-
pation an der Gesellschaft. So gesehen sind Jugendfrei-
willigendienste bereits Lernorte für Demokratie und So-
lidarität. Das – nicht irgendwelche halbgaren Para-
lellstrukturen – muss gestärkt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern in unserem Antrag eindeutige Mindest-
standards für die Durchführung von Jugendfreiwilligen-
diensten. Diese Dienste müssen klar von Zwangsdiens-
ten wie dem Zivildienst, von sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigung sowie von Ausbildung abge-
grenzt werden. Sie sollten nur Menschen bis 27 Jahren
offenstehen, auch um die Abgrenzung zu den Freiwilli-
gendiensten aller Generationen zu festigen.

Wer es mit einem Lern- und Bildungsdienst ernst
meint, muss auch Mindeststandards in der inhaltlichen
Ausgestaltung schaffen. Ich spreche nicht von Festle-
gungen zu der Zahl von Seminartagen, sondern von In-
halten, die in diesem Bundesfreiwilligendienst konkret
vermittelt werden sollen. Dies fehlt im Gesetzentwurf
völlig. Das ist wieder einmal typisch: das eine sagen, das
andere tun.

Typisch ist auch, von der Attraktivität des Bundesfrei-
willigendienstes zu reden und dann nur eine Obergrenze
für Aufwandsentschädigungen einzuziehen. Die Linke
fordert, dass eine angemessene Aufwandsentschädigung
gezahlt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Die im Gesetzentwurf vorgesehene freie Verhandelbar-
keit geht im Zweifel immer zulasten der jungen Men-
schen. Das zeigt die praktische Erfahrung. Wir brauchen
daher dringend eine Untergrenze für das Taschengeld.
Alle jungen Leute müssen sich einen solchen Freiwilli-
gendienst auch leisten können.

Der Linken ist weiterhin wichtig, dass Jugendfreiwil-
ligendienste ausschließlich und dauerhaft arbeitsmarkt-
neutral sind. Junge Menschen dürfen auch nur in ge-
meinwohlorientierten Bereichen eingesetzt werden. Der
bisherige Zivildienst hat die dauerhafte Arbeitsmarkneu-
tralität nicht gewährleisten können. Die dort Tätigen
wurden immer seltener für zusätzliche Arbeiten einge-
setzt. Deshalb will die Linke, dass die Arbeitsmarktneu-
tralität regelmäßig, effizient und streng bei Trägern und
Einsatzstellen geprüft wird. Wir stellen uns klar gegen
jegliche Verdrängung betrieblicher Ausbildungsplätze
sowie sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsver-
hältnisse.


(Beifall bei der LINKEN)


Es müssen ferner bei jedem Träger Mitbestimmungs-
strukturen für die Jugendlichen geschaffen werden. Es
geht um echte Mitbestimmung und nicht nur um die
Wahl von Vertretern. Auch die inhaltliche Ausrichtung
muss mitbestimmt werden können.

Es ist aus linker Sicht dringend nötig, die Jugendfrei-
willigendienste für jugendliche Migrantinnen und Mi-
granten, für Menschen mit Behinderungen sowie für so-
zial Benachteiligte zu öffnen. Das halten wir für sehr
wichtig.


(Beifall bei der LINKEN)






Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
der Bundesfreiwilligendienst ist unnötig. Er ist derzeit
Ihr einziges Aushängeschild im Bereich der Jugendpoli-
tik.


(Sönke Rix [SPD]: Aushängeschild? So weit würde ich nicht gehen! Nicht einmal ich!)


Auf zentrale Fragen von jungen Menschen wie auf Fra-
gen der Jugendarbeitslosigkeit finden Sie keine Antwor-
ten. Stattdessen werden auch die Jugendfreiwilligen-
dienste seit Jahren durch permanente Mittelkürzungen
im Bundeshaushalt bei den Jugendverbänden geschwächt.
Das ist wirklich erbärmlich. Der Bundesfreiwilligen-
dienst wird gesicherte Zukunftschancen für junge Men-
schen nicht ersetzen.

Kurzum: Schaffen Sie die Wehrpflicht ab!


(Beifall bei der LINKEN)


Schaffen Sie reguläre, qualifizierte Arbeitsplätze im so-
zialen Bereich!


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben wir schon mal gehört!)


Schaffen Sie noch bessere Jugendfreiwilligendienste als
soziales Plus! Nehmen Sie sich der Jugendpolitik als Zu-
kunftspolitik ernsthaft an!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir wollen keine FDJ!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709914500

Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709914600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Regierung hat uns Grüne ganz klar an ihrer Seite,
wenn es darum geht, bürgerschaftliches Engagement und
eine Kultur für Freiwilligkeit zu stärken. Sie müssen es
aber auch tatsächlich tun. Der Bundesfreiwilligendienst
ist das unausgegorene Ergebnis einer beispiellosen Hau-
ruckaktion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Hatten Kanzlerin Merkel und die Herren Seehofer
und Guttenberg die Wehrpflicht vor einem Jahr noch
zum konservativen Marken- und Identitätskern erklärt,
haben sie diesen mittlerweile über Bord geworfen. Das
ist gut, und das war auch mehr als überfällig. Für den
Ausstieg aus der Wehrpflicht haben wir Grüne 30 Jahre
lang geworben; das steht quasi in unserer grünen Ge-
burtsurkunde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das hätten Sie ja mal unter Rot-Grün machen können!)


Bis zum Jahr 2005 haben wir bei der SPD leider auf Gra-
nit gebissen. Das kann man auch so deutlich sagen. Weil
wir Grünen die Wehrpflicht für so überflüssig halten, tra-
gen wir die Aussetzung als historischen Schritt mit.

Schlecht an Ihrem Vorgehen ist allerdings die dilet-
tantische und sprunghafte Umsetzung. Sie hätten einmal
überlegen müssen, welche Konsequenzen auf uns zu-
kommen, wenn Wehrpflicht und Zivildienst fallen. Die
Bundesregierung handelt an dieser Stelle leichtfertig,
weil die Folgewirkungen nicht genug durchdacht wor-
den sind.

Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer
für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgs-
modell sein. Wer den Zivildienst beendet, muss die Pfle-
gemisere und den Fachkräftemangel im Sozialbereich
dringend bekämpfen. Das hat Minister Rösler ganz klar
vernachlässigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer aus den Pflichtdiensten aussteigt, muss für
150 000 junge Männer zusätzlich einen Ausbildungs-
und Studienplatz bereitstellen; sonst droht eine Genera-
tion Warteschleife. Ministerin Schavan hat das lange
übersehen und dann ausgesessen.

Wer Freiwilligendienste ausbauen will, der muss erst
einmal den ersten Schritt tun, nämlich ein Freiwilligen-
dienstestatusgesetz machen und sich um eine weitere
Stärkung der Zivilgesellschaft kümmern. Mit dem jetzt
vorgelegten Gesetzentwurf tut Frau Schröder das glatte
Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wieso das denn?)


– Das sage ich Ihnen jetzt gerne.

Der erste zentrale Kritikpunkt ist, dass der Bundes-
freiwilligendienst zu ineffizienten Doppelstrukturen und
einer Ungleichbehandlung der bestehenden Freiwilligen-
dienste führt.


(Widerspruch bei Abgeordneten der FDP – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sind doch Sprüche! – Gegenruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist ein Fakt!)


Die Grundkonstruktion ist einfach falsch: Auf der einen
Seite haben wir die zivilgesellschaftlichen Freiwilligen-
dienste vor Ort und auf der anderen Seite einen Bundes-
staatsdienst. Auch Sie haben ja in Ihrer Rede hier einge-
räumt, dass man langfristig eine Lösung aus einem Guss
benötigt und dass eine Zusammenführung notwendig ist.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Aber der Weg! Zeig mal einen Weg auf, der praktikabel ist!)


Das zeigt doch, dass auch Sie mit dieser Konstruktion
nicht gut leben können. Es ist ein Kardinalfehler, dass
Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter
Klasse schaffen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist falsch!)






Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

Sie sprechen immer von gleich guten Bedingungen
für alle Freiwilligen und Dienststellen. Das kommt aber
nur in Ihren Sonntagsreden vor, nicht aber in Ihrem Ge-
setz. Damit wird eine Chance vertan; denn es ist über-
haupt nicht akzeptabel, dass der Bundesdienst höher ge-
fördert wird als das bewährte Freiwillige Soziale Jahr
und das Freiwillige Ökologische Jahr.

Es wird sich auch in Form geringerer Nachfrage nach
dem Bundesdienst rächen, dass die Eltern von Bundes-
dienstleistenden künftig den Kindergeldanspruch verlie-
ren. Hier sparen Sie nicht nur an der falschen Stelle. Mit
der Gewährung von Kindergeld hätten Sie wirklich mit
der oft beschworenen Anerkennungskultur Ernst machen
können. Das tun Sie nicht. Sie setzen vielmehr Fehlan-
reize, die Freiwillige, Träger und Dienststellen ausbaden
müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ein gelungener Systemwechsel vom Pflichtdienst zu
Freiwilligendiensten hätte ein Gesamtkonzept ge-
braucht. Dieses aufzustellen, hat Ministerin Schröder
versäumt. Sie hätte eine breite gesellschaftliche Debatte
unter Einbeziehung aller Beteiligten initiieren müssen.
Dazu hätte sie sich auch mehrere Monate Zeit lassen
können. Aber der selbst verursachte Zeitdruck innerhalb
der Koalition hat dazu geführt, dass die zivilgesellschaft-
lichen Akteure überrumpelt wurden, dass der vor uns lie-
gende Gesetzentwurf unausgereift und ein fraktionsüber-
greifender Konsens verhindert worden ist.

Wir befürchten Nachteile für die Erfolgsmodelle FSJ
und FÖJ. Sie bekommen künftig Konkurrenz durch die-
sen Bundesdienst. Langfristig drohen die zivilgesell-
schaftlichen Freiwilligendienste verdrängt zu werden.
Diese Sorge muss man ernst nehmen. Das Bundesminis-
terium hat zwar mit den Trägern ein Kopplungsmodell
verabredet, das die Zahl der Bundesplätze an die FSJ-
und FÖJ-Plätze bindet. Sie verweigern aber, dies auch in
Ihr Gesetz hineinzuschreiben. Wenn dieses informelle
Kopplungsmodell nicht mehr gilt, stellt sich schon die
Frage: Was passiert eigentlich mit den bewährten Ju-
gendfreiwilligendiensten? Da ist Skepsis angebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ihr Bundesdienst tritt das Träger- und Subsidiaritäts-
prinzip mit Füßen. Freiwilligendienste sollten von der
Zivilgesellschaft, von den Trägern, von den kleinen Ein-
richtungen, von Verbänden und Vereinen organisiert
werden, weil es sich eben um eine besondere Form des
bürgerschaftlichen Engagements handelt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das geschieht doch!)


Sie schaffen aber einen Bundesdienst, der sogar ein öf-
fentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet. Das
geht nicht nur am Ziel vorbei, sondern auch an der Le-
bensrealität der jungen Generation.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie haben völlig recht: Auch ältere Menschen brau-
chen passgenaue Engagementmöglichkeiten. Dazu ist
der Bundesdienst jedoch aus unserer Sicht der falsche
Weg. Es gab einen erfolgreichen Freiwilligendienst aller
Generationen. Hier hätte man ein Nachfolgeprogramm
auf den Weg bringen können. Aber wenn Sie jetzt die
20-Stunden-Regel für ältere Freiwillige festschreiben,
stellt sich schon die Frage: Welche Auswirkungen hat
das auf die Arbeitsmarktneutralität?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Arbeitsmarktneutralität, die schon beim Zivil-
dienst nicht eingehalten wurde – sonst wäre die Aufre-
gung gar nicht so groß –, wird hier jetzt womöglich erst
recht nicht eingehalten. Deshalb muss man sich das im-
mer wieder anschauen.

Ein ganz zentraler Kritikpunkt lautet: Statt Bürokra-
tieabbau betreibt Schwarz-Gelb nichts anderes als Be-
standsschutz für das Bundesamt für den Zivildienst. Da-
bei hat das BAZ mit dem Ausstieg aus dem Zivildienst
seine Kernaufgabe schlichtweg verloren.

Es ist ein Treppenwitz, dass die Koalition nicht ein-
mal mehr schlankere Strukturen anpeilt, obwohl die
Ministerin das auch immer wieder angekündigt hat, son-
dern dem BAZ jetzt reihenweise Aufgaben zuweist und
zuschaufelt. Das ist das Gegenteil von Bürokratieabbau.
Mich würde es gar nicht wundern, wenn CDU und FDP
in zwei Jahren nach noch mehr Personal für das Bundes-
amt rufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Alles in allem sind wir der Überzeugung, dass die
Bundesregierung die Chance verspielt, mit der Zivilge-
sellschaft eine nachhaltige Ausbauoffensive für Freiwil-
ligendienste auf den Weg zu bringen. Wir Grüne streiten
weiter dafür, Quantität, Qualität und Attraktivität der
Freiwilligendienste zu stärken und insgesamt bessere
Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement
zu fördern. Anstatt eine neue Bundesbürokratie aufzu-
bauen, sollten wir die Mittel tatsächlich auf die Förde-
rung von Freiwilligkeit konzentrieren. Weil Sie das nicht
tun, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709914700

Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1709914800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Tu was für dein Land, tu was für dich – wer das von jun-





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

gen Menschen fordert, der muss in der Tat die richtigen
Rahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun wir
mit dem Bundesfreiwilligendienst und mit der Stärkung
der Jugendfreiwilligendienste. Unser Antrag liegt Ihnen
vor.

Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag gemein-
sam vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu
stärken. Was haben wir getan? Wir haben zunächst ein-
mal die Deckelung der Platzförderung aufgehoben. Jeder
Platz im Jugendfreiwilligendienst wird künftig geför-
dert. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar
schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischen
werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligen-
dienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Le-
gislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung einge-
führt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf
besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche
über das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige
Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausge-
baut. Künftig können Jugendliche sich auch in der Poli-
tik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der In-
tegration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihren
Ideen einbringen. Das ist eine gute Sache.

Für diesen Bereich stellen wir insgesamt 350 Millio-
nen Euro zur Verfügung. Ich glaube, man kann mit Fug
und Recht behaupten: Das ist die große gesellschafts-
politische Entscheidung, das große gesellschaftspoliti-
sche Projekt dieser Legislaturperiode. Ich danke der
Ministerin, dass sie nicht mit dem Geld aus dem Zivil-
dienst einen Beitrag zum Sparpaket geleistet hat, sodass
wir das heute auf den Weg bringen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist aber natürlich schwierig – damit wende ich
mich an den Kollegen Gehring und auch an den Kolle-
gen Rix –, wenn man einen solchen fundamentalen
Wechsel vornimmt. Da bleiben Fragen offen. Auch
heute sind sie noch offen. Der Kollege Grübel hat das
Kindergeld angesprochen. Man kann auch die Umsatz-
steuerbefreiung nennen. Wir haben dort Hausaufgaben
zu erledigen. Natürlich müssen wir hier nicht nach unten
nivellieren, sondern wir müssen das Ganze evaluieren,
um am Ende besser zu werden.

In meiner letzten Rede habe ich Sie eingeladen, dabei
mitzumachen. Beim Kollegen Rix habe ich den Ein-
druck, dass er sich ein bisschen auf uns zubewegt und
den Weg mitgeht.


(Sönke Rix [SPD]: Vertun Sie sich da mal nicht! – Gegenruf des Abg. Markus Grübel [CDU/CSU]: Das darf dir jetzt nicht peinlich sein, dass wir gut zusammenarbeiten! – Sönke Rix [SPD]: Das ist ein vergiftetes Lob!)


Beim Kollegen Gehring habe ich den Eindruck, dass er
am Ende ein wenig in die Sprachmuster zurückfällt, die
wir am Anfang der Debatte hatten.

Das finde ich sehr schade; denn man kann konstatie-
ren, dass wir jetzt zwei Säulen haben, die entgegen Ihrer
Unkenrufe gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!)


– Doch, das stimmt. Behaupten Sie nicht das Falsche,
Herr Gehring. Sie können es nachlesen. Wir haben da-
rüber diskutiert. Sie behaupten es einfach nur. Den Ge-
genbeweis sind Sie hier vorne eben schuldig geblieben.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen, dass die Höhe des Taschengeldes im Vordergrund steht! Ich kenne den Gesetzestext!)


Diese beiden Säulen haben wir, weil die Länder sich
in der Kompetenzfrage nicht bewegen und der Bund sich
auch nicht aus der Verantwortung, die er übernommen
hat, zurückziehen will. Es ist auch gut, dass wir hier mit
zwei Säulen ein Angebot für junge Menschen machen,
die sich freiwillig engagieren wollen. Es bleibt dabei:
Wir wollen das Ganze so organisieren, dass es keinen
Unterschied für die Jugendlichen in den Freiwilligen-
diensten und im BFD gibt, egal in welcher dieser beiden
Säulen sie sich bewegen. Die Hausaufgaben, die wir
nach wie vor zu erledigen haben, habe ich angesprochen.
Dabei bleibt es auch; das ist keine Frage.

Es gibt aber noch einige andere Dinge zu tun: Stich-
wort „Anerkennungskultur“.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht reden, sondern handeln!)


Natürlich müssen wir uns noch intensiv Gedanken da-
rüber machen, was nicht nur wir als Politik, sondern auch
die Träger, die Einrichtungen, die Kommunen sowie die
Länder dazu beitragen können, damit es sich für junge
Menschen – neben der Erfahrung, die sie sammeln –
lohnt, einen solchen Dienst zu tun. Ich glaube allerdings,
dass wir dabei nicht nur über einen konkreten Nutzen re-
den müssen, sondern es auch um die Frage der Wert-
schätzung geht.


(Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Frau Präsidentin, ich glaube, der Kollege möchte eine
Frage stellen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709914900

Möchten Sie denn die Frage zulassen und damit Ihre

Redezeit unendlich verlängern?


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1709915000

Ich würde die Frage zulassen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709915100

Bitte schön, Herr Gehring.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1709915200

Ich rede nicht „unendlich“. Keine Sorge!


(Otto Fricke [FDP]: Doch! Das hat die Präsidentin zugesagt!)


Bitte schön, Herr Kollege.






(A) (C)



(D)(B)


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709915300

Ich höre in den Debatten des letzten Dreivierteljahres

– eigentlich seit vielen Jahren –, dass man etwas für die
Anerkennungskultur tun muss. Ich würde gerne wissen
– vielleicht können Sie ein bisschen für die Regierung
sprechen; Frau Schröder ist zumindest anwesend –:


(Zuruf von der CDU/CSU: Was soll das denn heißen?)


Gibt es in der Kultusministerkonferenz, in der Jugend-
ministerkonferenz oder in den ganzen Bund-Länder-Ver-
einbarungen konkrete Verabredungen zur Verbesserung
der Anerkennungskultur? Wie ist denn da der Fahrplan?
Die Bundesebene ist da doch ganz klar in der Initiatoren-
rolle.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1709915400

Lieber Kollege, herzlichen Dank für die Frage. Sie

wissen – ich hoffe, dass Sie es wissen –, dass die Minis-
terin bei dieser Frage bereits initiativ ist: Es gibt einen
Gesprächskreis in ihrem Hause, in dem genau diese
Frage mit den Ländern und Kommunen erörtert wird.


(Ute Kumpf [SPD]: Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann gründe einen Arbeitskreis!)


Sie wissen auch, dass es unheimlich schwierig ist, von-
seiten des Bundes in gewisse Kompetenzen einzugrei-
fen. Ich nenne das Beispiel einer Anerkennung in Form
zusätzlicher Wartesemester: Das können wir in diesem
Hause, selbst wenn wir es wollten, nicht regeln; dazu
brauchen wir in der Tat die Kultusministerkonferenz und
die Länder.


(Sönke Rix [SPD]: Aber das hätte doch in ein Gesamtkonzept gehört!)


Man kann andere Dinge hinzunehmen: die Frage, ob
Freiwillige das, was sie in ihrem Freiwilligendienst leis-
ten, bei einer möglichen Berufsqualifizierung anerkannt
bekommen. Auch das können wir nicht in jedem Fall in
diesem Haus regeln. Wir brauchen ein Miteinander. Wir
beginnen jetzt;


(Sönke Rix [SPD]: Zu spät!)


es geht, wie gesagt, um einen Prozess. Es wäre schön,
wenn Sie da mitgehen würden.


(Beifall der Abg. Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU])


Herzlichen Dank, Sie dürfen sich gerne wieder setzen. –
Frau Präsidentin, keine Sorge, ich werde nicht ohne
Ende weiterreden.

Ich glaube, dass man das Ganze schön mit einem Zitat
von Konrad Adenauer zusammenfassen kann. Er hat ein-
mal gesagt, dass jeder einzelne Bürger das Gefühl und
das Bewusstsein haben muss, dass er selbst Mitträger
des Staates ist. Er müsse erkennen und wissen, dass es
ein gemeinsames Interesse gibt, das beachtet werden
muss, und dass das in seinem eigenen, ureigensten Inte-
resse geschieht.

Was heißt das? Wenn man das ernst nimmt, dann
muss man jungen Menschen in dieser Gesellschaft die
Chance geben, Verantwortung zu übernehmen. Genau
das wollen wir mit den Jugendfreiwilligendiensten und
dem Bundesfreiwilligendienst erreichen. Denn wir kön-
nen nicht von der jungen Generation erwarten, dass sie
irgendwann Verantwortung für Deutschland übernimmt,
wenn sie vorher keine Gelegenheit hatte, sich selbst und
ihre Fähigkeiten zu erproben. Deswegen bleibt es rich-
tig, dass wir diesen Weg gehen.

Wir brauchen auch künftig den Thorsten, der bei der
Caritas alte Menschen pflegt. Wir brauchen die Lisa-
Marie, die in einer Jugendwohngruppe der Diakonie mit
sozial benachteiligten jungen Menschen arbeitet, die
Melanie in der Schutzstation Wattenmeer, die Vogelzäh-
lungen vornimmt und Wattexkursionen durchführt, den
Giovanni im Sportverein,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Mustafa brauchen wir auch! – Zuruf von der LINKEN: Was ist mit Marcel und Kevin?)


die Heike bei der Hausaufgabenbetreuung des Förder-
vereins der örtlichen Schule, den Murat im kommuna-
len Integrationsprojekt, die Sabine bei der Aktion Süh-
nezeichen Friedensdienste, die ein Jahr in Israel
verbringt – 800 junge Menschen aus Deutschland ma-
chen das gerade –, auch den Lars, der freiwillig Wehr-
dienst leistet und sagt:


(Ute Kumpf [SPD]: Wo ist Ayse?)


„Bevor ich in den Hörsaal gehe, trete ich auf dem Ap-
pellplatz an und gehe über die Hindernisbahn.“ All das
gehört zusammen. Wir müssen jungen Menschen die
Chance geben, Verantwortung für unser Land zu über-
nehmen. Wenn das freiwillig geschieht, ist das eine wun-
derbare Sache.


(Sönke Rix [SPD]: Freiwilligendienst ist auch ein Lerndienst!)


Ich habe Sie schon letztes Mal eingeladen, mitzuma-
chen. Sie haben jederzeit die Chance dazu; die Türen
stehen offen. Vielleicht nutzen Sie sie das nächste Mal.
Darüber würde ich mich sehr freuen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709915500

Rolf Schwanitz hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1709915600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Drei Feststellungen sind mir heute bei der ab-
schließenden Beratung des Gesetzentwurfes wichtig.

Erste Feststellung. Der Gesetzentwurf ist keine Errun-
genschaft, schon gar keine alternativlose Errungen-
schaft, sondern das Ergebnis einer Notoperation; Sie zie-
hen das im Schnellverfahren durch das Parlament.


(Beifall bei der SPD)






Rolf Schwanitz


(A) (C)



(D)(B)

Der Anlass für diese Notoperation ist natürlich die über-
stürzte Aussetzung der Wehrpflicht, die Sie vorgenom-
men haben. Genauso, wie Sie die Strukturen im Bundes-
wehrbereich überstürzt auf die neue Situation einstellen,
tun Sie das angesichts des Wegfalls des Zivildienstes
auch bei der sozialen Infrastruktur.

Sie sind übrigens an dieser Stelle realistisch. Das
merke ich, wenn ich in den Text des Gesetzes schaue.
Denn der Gesetzentwurf besagt, es gehe um die Mini-
mierung der negativen Effekte. Also bitte schön: Backen
Sie kleine Brötchen. Das ist nicht die soziale Errungen-
schaft, sondern der Versuch der Nothilfe aufgrund eines
Dilemmas, das Sie selbst geschaffen haben, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sollen wir den Wehrdienst länger behalten?)


Zweite Feststellung. Anstatt auf wirkliche Reformen
zu setzen und den Freiwilligendienst sowie die bewähr-
ten Strukturen zu stärken, sind Sie auf ein altes Staats-
denken zurückgefallen und haben nun einen neuen, zu-
sätzlichen staatlichen Freiwilligendienst etabliert – mit
allen Nachteilen und Folgen, die hier schon diskutiert
worden sind.

Wir haben Ihnen frühzeitig gesagt: Nehmen Sie das
freiwerdende Geld – das ist für einen Haushälter nicht
selbstverständlich – und weisen Sie große Teile davon
dem Freiwilligendienst an.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie uns den Weg, das verfassungskonform zu machen, Herr Kollege! – Gegenruf der Abg. Ute Kumpf [SPD]: Sie wollten doch nicht!)


Denn wir wissen: Dort ist die Nachfrage faktisch dreimal
so groß wie das bisherige Angebot.

Sie, Frau Ministerin, haben bei dieser Ausgangssitua-
tion diese Option nach meiner Überzeugung niemals
ernsthaft erwogen.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben zwei Gegenargumente gebracht, zu denen ich
etwas sagen möchte.

Das erste Gegenargument hieß, es gebe ein Gebot der
institutionellen Vorsorge. Das heißt, für den plötzlichen
Fall, dass die Wehrpflicht wieder aktiviert wird, müsse
man die staatlichen Strukturen vorhalten. – Ich bin ge-
spannt, ob im Herbst, wenn das Standortkonzept für die
Bundeswehr im Deutschen Bundestag diskutiert wird,
die Kasernen in Zellophan gepackt und vorgehalten wer-
den, meine Damen und Herren.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Eigentlich dürfte man solche schlichten Argumente von-
seiten der Bundesregierung gar nicht mehr zulassen.

Das zweite Argument, das Sie gebracht haben, war, es
fehle beim Freiwilligendienst die Finanzierungskompe-
tenz des Bundes. Deswegen dürfe man nicht über das
heutige Maß hinausgehen und finanziell fördern. Mitt-
lerweile ist diese These mindestens zweifach widerlegt
worden. Das geschah zum einen durch die heutige Lage
selbst. Die Länder geben ausweislich ihrer eigenen Zah-
len rund 20 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilli-
gendienste aus.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Davon 8 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds!)


Übrigens stammt der größte Teil davon aus ESF-Mitteln
und nicht einmal aus originären Landesmitteln.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau!)


Schon 2011, also in diesem Jahr, stehen diesen
20 Millionen Euro 50 Millionen Euro an Förderung durch
den Bund gegenüber.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist doch ein Widerspruch!)


Es gibt sogar vier Länder, die dafür noch nicht einmal ei-
gene Landesmittel zur Verfügung stellen.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau! Und dann wollen Sie die Zuständigkeit auf die Länder übertragen! – Zuruf des Abg. Florian Bernschneider [FDP])


Also tun Sie doch nicht so, als sei das ein verfassungs-
widriger Zustand, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Völlig absurd wird diese Frage beim Blick auf das
nächste Jahr 2012. Dann werden Sie – das kritisieren wir
nicht – 100 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilli-
gendienste ausgeben. Das ist das Fünffache der Länder-
mittel – ich rechne die ESF-Mittel hinzu – oder das
Zehnfache der Ländermittel ohne die ESF-Mittel.


(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)


Also hören Sie auf mit solch künstlichen Argumenten, es
gebe keine Finanzierungskompetenz des Bundes. Es gibt
keine Legimitation für Doppelstrukturen. Das ist die Si-
tuation.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dritte Feststellung. Sie haben nicht nur im Zusam-
menhang mit dem Wegfall des Zivildienstes die Situa-
tion schlecht vorbereitet, sondern Sie haben auch in Ih-
rem eigenen Haus die Hausaufgaben nicht gemacht.


(Caren Marks [SPD]: Genau!)


Damit meine ich natürlich das Bundesamt für den Zivil-
dienst. Sie haben erst einmal auf den windigen Vor-
schlag von Frau von der Leyen gesetzt, dass dort das Bil-
dungspaket für Familien mit Kinderzuschlag verwaltet
werden sollte. Ich weiß gar nicht, wie Beamte aus Köln
den Musikunterricht im Erzgebirge hätten kontrollieren
sollen.


(Heiterkeit bei der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Caren Marks [SPD]: Das wusste keiner!)






Rolf Schwanitz


(A) (C)



(D)(B)

Ich bin froh, dass der Bundesrat diesen Unsinn verhin-
dert hat, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nachdem sich diese Situation jetzt erledigt hat, sagen
Sie: Wir ziehen von Trägern, von Fachleuten, von Ex-
perten vor allen Dingen als Regiefunktion Programm-
steuerungselemente zurück in das Amt. Mit dieser Tätig-
keit sollen 120 Beamte in Lohn und Brot kommen.
Dabei wird auch Expertise verloren gehen.


(Ute Kumpf [SPD]: Unverantwortlich!)


Auch darüber müssen wir zu gegebener Zeit noch einmal
reden.

Am schlimmsten allerdings finde ich, dass rund
30 Prozent der Beschäftigten des Bundesamtes, also
etwa 200 Planstellen, bis zum heutigen Zeitpunkt noch
nicht wissen, mit welcher Aufgabe sie künftig ausgestat-
tet werden sollen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bei den Kreiswehrersatzämtern so in noch größerem Ausmaß!)


Ich bedanke mich bei allen Fraktionen, dass gestern
der Haushaltsausschuss Folgendes gesagt hat: Hier muss
ein Personalkonzept auf den Tisch, das muss im Parla-
ment beraten werden. – Denn diese Unsicherheit ist ge-
genüber den Beschäftigten und gegenüber dem Steuer-
zahler völlig unzumutbar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie starten jetzt eine Öffentlichkeitskampagne. In den
Ausschreibungsunterlagen zu dieser Öffentlichkeitskam-
pagne habe ich einen schönen Satz gefunden, den ich zi-
tieren möchte. Dort heißt es:

Die Kampagne

– es geht um den Bundesfreiwilligendienst –

soll darüber hinaus deutlich machen, dass das
BMFSFJ kompetent, verantwortlich und erfolgver-
sprechend auf die Aussetzung der Wehrpflicht rea-
giert hat, und die positive Rolle von Bundesfamili-
enministerin Schröder kommunizieren.


(Caren Marks [SPD]: Das hat sie auch nötig!)


Echte Reformpolitik hätte diese Schminke nicht nötig
gehabt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Mehr Mut zu echter Reformpolitik und weniger Engage-
ment für die Fassade, das hätte dem Freiwilligendienst
gutgetan und auch Ihnen persönlich.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709915700

Florian Bernschneider hat jetzt das Wort für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709915800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich finde es interessant, mit welcher Doppelzün-
gigkeit die Opposition hier argumentiert. Auf der einen
Seite regen Sie sich darüber auf, wie groß der staatliche
Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst ist, und beto-
nen, wie schlimm es ist, dass der Staat jetzt auf die Zivil-
gesellschaft Einfluss nimmt. Auf der anderen Seite ha-
ben Sie jede Menge Forderungen, was wir noch alles
gesetzlich regeln müssen, damit die Zivilgesellschaft das
ja nicht selbst regelt.


(Caren Marks [SPD]: Nichts verstanden!)


Ich sage Ihnen ganz klar: Die Zivilgesellschaft weiß viel
besser, wie der Unterricht pädagogisch zu gestalten ist.
Das können wir in einem Gesetz gar nicht so gut regeln.


(Beifall bei der FDP)


Seit August 2010 debattieren wir hier im Parlament
über die Pläne der Koalition aus Union und FDP zur
Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch über die
Aussetzung des Zivildienstes. Schon im Juni 2010 hat
die Ministerin im Ausschuss angekündigt, eine Erhe-
bung durchzuführen, welche Folgen die Aussetzung der
Wehrpflicht für den Zivildienst hat.


(Caren Marks [SPD]: Angekündigt hat sie schon viel!)


Ich glaube, dass Sie sich jetzt schon ein halbes Jahr lang
darüber ärgern, dass es nun Union und FDP sind, die die-
sen wichtigen Schritt unternehmen. Das kann ich zwar
gut verstehen, aber heute, ein halbes Jahr später, kann
mir niemand erzählen, dass diese Lesung für ihn überra-
schend kommt. Sie können nicht sagen, dass die Bera-
tungen im Schweinsgalopp stattgefunden hätten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Union und FDP haben das vergangene halbe Jahr ge-
nutzt, um offene Fragen gemeinsam zu klären. Es ging
dabei um offene Fragen, die wir uns gestellt haben, und
um offene Fragen, die Sie gestellt haben. Zum Beispiel
ging es um die Frage, wie wir verhindern können, dass
der Bundesfreiwilligendienst – das wurde auch heute oft
angesprochen – die Existenz der bestehenden Freiwilli-
gendienste FSJ und FÖJ gefährdet. Wir legen Ihnen
heute eine Antwort auf diese Frage vor: Das Kopplungs-
modell und die Stärkung der Jugendfreiwilligendienste
sorgen dafür. Beide Säulen sind nur dann stark, wenn
beide Bereiche miteinander und nicht gegeneinander ar-
beiten.

Wir haben das vergangene halbe Jahr auch genutzt,
um die Sonntagsreden, die wir im Zusammenhang mit
den Jugendfreiwilligendiensten alle – das sage ich ganz
offen – viel zu oft gehalten haben, endlich in konkrete
Punkte zu überführen. In Ihren Anträgen heißt es ganz
abstrakt: Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste neuen
Zielgruppen eröffnen. Wir machen Ihnen jetzt endlich
einen konkreten Vorschlag, wie das aussehen kann:





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

50 Euro mehr zusätzliche Bildungsförderung für Ju-
gendliche mit besonderem pädagogischen Förderbedarf.


(Abg. Harald Koch [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709915900

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage zulas-

sen?


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709916000

Nein. – Wir haben das vergangene halbe Jahr aber

auch genutzt, um ein paar Realitäten anzuerkennen, zum
Beispiel, dass für FSJ und FÖJ die Länder zuständig sind
und der Bund nur einen relativ geringen Spielraum hat.
Diesen Spielraum nutzen wir jetzt. Statt mit 72 Euro
werden FSJ-Plätze künftig mit 200 Euro monatlich ge-
fördert.

SPD und Grüne gehen auf diese Realitäten in ihren
Reden selten ein. Sie haben die Realität aber längst er-
kannt. Das sieht man, wenn man ihre Anträge liest. SPD
und Grüne fordern in keinem Satz, die Pauschalen bzw.
die Bildungsförderung, die wir bei FSJ und FÖJ vorse-
hen, auf über 200 Euro anzuheben. Anscheinend ist Ih-
nen also bewusst, dass der Bund viel mehr gar nicht ma-
chen kann. Die Linken hingegen fordern mehr als
200 Euro. Das habe ich in Ihrem Antrag gelesen. Aller-
dings müssen auch Sie anerkennen, dass wir dafür nicht
zuständig sind.


(Caren Marks [SPD]: Die FDP ist für gar nichts zuständig!)


Das ist wie immer: Wenn linke Politik auf die Realität
trifft, funktioniert das nicht richtig.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Realitäten sind Ihre Spezialität! Ich sage nur: Steuersenkungen!)


Das sieht man in den Ländern, in denen Sie mitregieren.
Schauen Sie einmal in die Länder – ich sage das, weil
das erwähnt wurde –, in denen die Linke die Verantwor-
tung für die Freiwilligendienste trägt. Schauen Sie ein-
mal, was die Linke in diesen Ländern für die Freiwilli-
gendienste tut, nämlich relativ wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Es passiert selten – auch das muss man einmal fest-
halten –, dass die Forderungen der Opposition hinter de-
nen der Regierung zurückbleiben. Die SPD fordert
30 000 Freiwilligendienstplätze. Die Grünen fordern
eine Verdoppelung der Freiwilligendienstplätze. Wir le-
gen Ihnen heute ein Konzept vor, mit dem eine Ver-
dreifachung der Freiwilligendienstplätze in Deutschland
möglich ist. Das geht natürlich nur, weil wir mit der
zweiten Säule, nämlich dem Bundesfreiwilligendienst,
eine Möglichkeit geschaffen haben, die Fördermöglich-
keiten des Bundes voll auszureizen.

Deswegen lasse ich mir von Ihnen nicht länger erzäh-
len, wir hätten kein Gesamtkonzept vorgelegt. Wie ist
denn Ihr Gesamtkonzept? Ein Blick in den Antrag der
Grünen gibt darüber gut Auskunft. Darin steht: Wir wol-
len uns jetzt mit Bund, Ländern und Trägern zusammen-
setzen und am Kaffeetisch darüber beraten, wie dieses
Gesamtkonzept aussehen soll.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht am Kaffeetisch! Dafür gibt es Gremien! Es gibt den Bundesrat, die KMK!)


– Sehr geehrter Herr Kollege, das alles ist schön und
richtig. Aber das ist doch genau das, was Sie hier for-
dern. Sie fordern jetzt runde Tische, um zu klären, wie es
weitergehen soll.

Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Am 1. Juli set-
zen wir die Wehrpflicht aus. Ich finde es toll, dass die
Grünen zustimmen, und ich finde das sehr vernünftig.
Aber es ist doch nicht vernünftig, sich jetzt zwei, drei
Jahre lang an runde Tische zurückzuziehen


(Sönke Rix [SPD]: Vorher!)


und mit den Ländern darüber zu streiten, wer für die
Freiwilligendienste überhaupt zuständig ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709916100

Möchten Sie denn eine Frage der Kollegin Malczak

zulassen?


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709916200

Nein.


(Caren Marks [SPD]: Sehr souverän!)


Ihre Begründung, warum Sie den Bundesfreiwilligen-
dienst, die Doppelstrukturen so strikt ablehnen, ist aller
Ehren wert. Ich finde es vernünftig, dass Sie sagen, Sie
hätten das lieber in einer Säule. Auch wir hätten das lie-
ber in einer Säule. Ich versuche Ihnen gerade zu erklä-
ren, dass das wegen der Zuständigkeiten von Bund und
Ländern nur schwer möglich ist. Aber was ich so absurd
finde, ist, dass Sie diese Doppelstruktur nach wie vor als
eines Ihrer Hauptargumente dafür verkaufen, warum Sie
dem Bundesfreiwilligendienst nicht zustimmen können.
Was hatten wir denn bis jetzt? Es gab den Zivildienst
und die Freiwilligendienste.


(Sönke Rix [SPD]: Der Zivildienst ist aber kein bürgerschaftliches Engagement!)


Waren das keine Doppelstrukturen, die da über Jahre
hinweg bestanden haben?


(Caren Marks [SPD]: Das ist ja wohl etwas ganz anderes! Das ist wirklich ein Armutszeugnis!)


War es nicht ungerecht, dass ein Freiwilliger weniger be-
kommen hat als ein Zivildienstleistender, obwohl sie die
gleichen Aufgaben hatten?


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vom Regen in die Traufe ist doch kein Argument!)


Sie haben die Ungerechtigkeit mit der 14-c-Regelung
noch einmal gesteigert, indem sogar innerhalb der Frei-





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

willigendienste junge Frauen Nachteile gegenüber jun-
gen Männern hatten.


(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das kann ja wohl nicht sein!)


Ich gebe zu: Auch uns gelingt es mit diesem Modell
nicht, das in eine Struktur zu packen. Aber das ist nichts
Neues; das habe ich Ihnen gerade gesagt. Die Doppel-
strukturen gab es schon in der Vergangenheit. Aber wir
beseitigen wenigstens die Ungerechtigkeiten. Sie konn-
ten in der Vergangenheit sehr wohl ruhig damit schlafen,
beides zu haben, nämlich Ungerechtigkeiten und Dop-
pelstrukturen. Deswegen: Nehmen Sie das nicht länger
als vorgeschobenes Argument!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem An-
trag der Linken sagen. Ich habe heute Frau Dittrich als
ausgewiesene Expertin der Linken für bürgerschaftliches
Engagement vermisst. Aber auch der andere Redner hat
deutlich gemacht, dass bei den Linken einiges durchei-
nandergeht, wenn es um bürgerschaftliches Engagement
geht. Das merkt man allein daran, dass das Thema Min-
destlohn beim bürgerschaftlichen Engagement immer
eine herausragende Rolle bei Ihnen spielt.


(Sönke Rix [SPD]: Wenn man direkt jemanden anspricht, sollte man auch Zwischenfragen zulassen!)


Bei Ihnen geht auch jetzt wieder etwas durcheinander.


(Caren Marks [SPD]: Bei Ihnen geht was durcheinander!)


In der Nr. 1 g Ihres Antrags führen Sie aus, dass der Be-
zug des Kindergeldes um die Zeit des Jugendfreiwilli-
gendienstes verlängert werden soll. Das ist Ihre Forde-
rung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709916300

Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709916400

Ja.


(Sönke Rix [SPD]: Ein Glück!)


Diese Forderung ist völlig unnötig; denn das ist schon
lange der Fall. Aber ich weiß, was Sie damit meinen,
und es ist lieb gemeint. Darauf sind viele Kollegen ein-
gegangen. Es geht darum, das Kindergeld im Bundes-
freiwilligendienst einzuführen. Das sollte Ihnen erst ein-
mal bewusst sein.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709916500

Herr Kollege.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709916600

Das müssen wir noch schaffen; das ist wichtig.

Die FDP-Fraktion fordert die Bundesregierung auf,
hier noch ein besseres Konzept nachzuliefern. Dazu fin-
den zurzeit schon Gespräche statt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709916700

Herr Kollege.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709916800

Ich bin zuversichtlich, dass das funktioniert, Frau Prä-

sidentin, und komme jetzt zum Ende.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Sehr souverän!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709916900

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-

legin Malczak.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709917000

Sehr geehrter Herr Kollege Bernschneider, Sie selbst

haben angekündigt, jetzt würden noch im Nachhinein
Gespräche stattfinden, also doch auch bei Ihnen runde
Tische. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, das zu ma-
chen, bevor das Gesetz heute hier verabschiedet wird.
Der Kollege Gehring hat vorhin klargemacht: Uns geht
es nicht um runde Tische, sondern es gibt bestimmte
Gremien wie den Bundesrat, die Kultusministerkonfe-
renz und die Jugendministerkonferenz.

Ich möchte Ihnen nur eine kurze Frage stellen: Mei-
nen Sie nicht, dass Sie die Zeit im Zusammenhang mit
der Verkürzung des Wehrdienstes und des Zivildienstes
auf sechs Monate, die jetzt wieder hinfällig ist, vielleicht
besser dafür hätten verwenden sollen, die entscheiden-
den Gremien vorher einzubinden? So müssten Sie nicht
schon heute ankündigen, dass die Gespräche im Nachhi-
nein folgen und dass dann Nachbesserungen kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709917100

Herr Bernschneider, bitte.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709917200

Frau Kollegin, darauf möchte ich gerne antworten.

Sie wissen: Manchmal ist es eben so, dass erst der eine
einen kleinen Schritt gehen muss, um dann gemeinsam
einen großen Schritt zu gehen. So war das bei der FDP
und der Union. Sie wissen, dass sich die FDP von An-
fang an gewünscht hat, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir
konnten dann die Union im Laufe der Verhandlungen da-
von überzeugen, dass es tatsächlich sinnvoll ist, darauf
zu verzichten.

Ich finde das gar nicht schlimm. Sie sollten sich eher
fragen, warum Sie es in Ihrer Regierungszeit niemals ge-
schafft haben, die SPD zu überzeugen. Von daher,
glaube ich, ist dies kein Grund, die FDP anzugreifen. Ich
finde, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Liberalen ha-
ben es geschafft, den Koalitionspartner davon zu über-
zeugen, die Wehrpflicht auszusetzen. Davon könnten Sie
sich eine große Scheibe abschneiden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Agnes Malczak [BÜND Florian Bernschneider NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, das war eher Guttenberg als die FDP!)





(A) (C)


(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709917300

Norbert Geis hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709917400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Natürlich ist die Einführung des Bundesfreiwil-
ligendienstes eine Reaktion auf die Aussetzung der
Wehrpflicht und damit verbunden des Zivildienstes. Was
ist daran falsch? Die Aussetzung der Wehrpflicht und
damit verbunden die Aussetzung des Zivildienstes mar-
kieren einen der größten Veränderungsprozesse der letz-
ten 20 Jahre. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Bun-
deswehr, sondern vor allem auch auf die soziale Struktur
unserer Gesellschaft.

Der Staatsbürger in Uniform war, wie das Gelöbnis es
sagt – Hunderttausende von Jugendlichen haben dieses
Gelöbnis abgelegt –, bereit, seinem Land zu dienen und
das Recht und die Freiheit seines Volkes tapfer zu vertei-
digen. Das sind die Worte in dem Gelöbnis. Dem Zivil-
dienst lag eine ähnliche Aufgabe zugrunde. Der Zivil-
dienst hat den Jugendlichen wohl zum ersten Mal in
seinem Leben mit der Not und der Bedürftigkeit in unse-
rer Gesellschaft konfrontiert. Der Jugendliche hat da sei-
nen Beitrag geleistet. Das dürfen wir heute nicht verges-
sen. Der Zivildienst und die Wehrpflicht haben 50 Jahre
lang in unserer Gesellschaft segensreich gewirkt und ha-
ben mit einen großen Anteil daran, dass sich die Jugend-
lichen am Ende in einer ganz großen Zahl mit unserer
freiheitlichen Gesellschaftsordnung, mit unserem Rechts-
staat identifiziert haben. Das war eine große Leistung.


(Harald Koch [DIE LINKE]: Das waren Zwangsdienste!)


Den Gedanken, dass man eine gewisse Zeit seines Le-
bens dem Gemeinwesen widmet, greift der Bundesfrei-
willigendienst auf; diesen haben zuvor auch schon die
Jugendfreiwilligendienste aufgegriffen. Ich halte es für
ausgezeichnet, dass wir die Linie, die in unserer Gesell-
schaft entstanden ist, durch den Bundesfreiwilligen-
dienst fortsetzen.

Die Abschaffung des Zivildienstes – das ist heute
schon gesagt worden – reißt natürlich eine Lücke in un-
sere Gesellschaft. Gerade weil wir eine älter werdende
Gesellschaft sind und gerade weil viele Menschen in ho-
hem Alter pflegebedürftig sind, große Bedürftigkeit ha-
ben, war es gut und richtig – das haben uns alle Verbände
gesagt –, dass wir Zivildienstleistende hatten. Diese Zi-
vildienstleistenden haben zusammen mit den Verbänden,
den großen Verbänden wie Caritas, Diakonie, Arbeiter-
wohlfahrt und anderen Wohlfahrtsverbänden, aber auch
zusammen mit kleineren Gruppierungen einen großen
Dienst an der Gesellschaft erbracht. Diesen Dienst soll
nun der Bundesfreiwilligendienst fortsetzen. Was ist da-
ran falsch?

Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Einfüh-
rung des Bundesfreiwilligendienstes. Das bestätigen die
Zusage und die Anerkennung der großen Verbände, die
ich eben genannt habe. Sie alle freuen sich und sind
dankbar, dass der Bund einen solchen neuen Dienst er-
richtet. Wir sollten den Bundesfreiwilligendienst so se-
hen, wie er gesehen werden muss.


(Sönke Rix [SPD]: Das ist Ihre Interpretation! – Caren Marks [SPD]: Die ist sehr schräg!)


Er ist eine Chance, und zwar nicht nur für Jugendliche,
sondern auch für Erwachsene – auch für Rentner –, die
bereit sind, einen Teil ihres Lebens der Gesellschaft zu
opfern. Das ist, glaube ich, eine gute Seite innerhalb un-
serer Gesellschaft; das wird auch nicht geringer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709917500

Herr Geis, würden Sie eine Zwischenfrage der Kolle-

gin Dittrich von der Linken zulassen?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709917600

Ja, bitte.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Jetzt hast du einen Fehler gemacht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709917700

Bitte schön.


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709917800

Herr Geis, Sie können sich sicherlich an die Sachver-

ständigenanhörung zum Bundesfreiwilligendienst erin-
nern. Sie haben gerade gesagt: Der Zivildienst, der jetzt
wegfallen wird, wird eine große Lücke reißen. Können
Sie uns im Parlament vielleicht erklären, wie das Fehlen
des Zivildienstes, der arbeitsmarktneutral gewesen sein
soll, eine große Lücke reißen wird? Wie ist dieser Wider-
spruch zu erklären? Wie kann es sein, dass auch der
Bundesfreiwilligendienst arbeitsmarktneutral sein wird?
Könnten Sie das bitte einmal erklären? Dann wären wir
hier im Parlament – auch die jungen Menschen auf der
Zuschauertribüne – vielleicht etwas weiter.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709917900

Ich glaube nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst

eine Konkurrenz zum Ehrenamt darstellt. Ich glaube
auch nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine Kon-
kurrenz zu den Jugendfreiwilligendiensten oder den Be-
schäftigten darstellt.


(Sönke Rix [SPD]: Warum nicht?)


– Er ist ganz anders strukturiert.


(Sönke Rix [SPD]: Ach, ich dachte, das ist gleich!)


Für die Beschäftigten ist es der Beruf, dem diese Men-
schen nachgehen. Der Bundesfreiwilligendienst sieht





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)

eine Dauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr vor, und
die Entlohnung ist niedrig. Wir wissen, dass Kleidung
und Wohnraum gestellt und auch ein Taschengeld gezahlt
werden kann. Das alles kann für den Beschäftigten im
Gesamtrahmen der sozialen Fürsorge in unserem Land
aber kein Ersatz sein. – Sie dürfen sich wieder setzen.


(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Darf ich nicht nachfragen?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709918000

Nein, das können Sie nicht.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709918100

Ja, das ist nicht möglich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube
fest, dass der Sozialstaat ohne die Freiwilligendienste
und ohne die vielen bürgerschaftlichen Engagements
– dazu zähle ich auch die Caritas, natürlich auch die Dia-
konie und die Arbeiterwohlfahrt – nicht aufrechterhalten
werden kann. Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür,
dass er aufrechterhalten werden kann, ist, dass wir Frei-
willige finden, die bereit sind, in diesen Organisationen
tätig zu sein.

Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb die Frei-
willigen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft
spielen können. Durch die Freiwilligen entsteht eine
neue Bindungskraft innerhalb der Gesellschaft. Dadurch,
dass die Menschen aufeinander zugehen, sich gegensei-
tig und den Bedürftigen helfen, entsteht Bindung inner-
halb der Gesellschaft.

Dass es Freiwilligendienste gibt – ob kleinere Organi-
sationen, größere Gruppierungen oder große wie den Ca-
ritasverband –, beweist, dass es innerhalb der Gesell-
schaft eine Kraft gibt, die nicht dem Staat zugeordnet
werden kann, die aber auch nicht dem durch Konkurrenz
und Wettbewerb gekennzeichneten Markt zugeordnet
werden kann, sondern einen selbstständigen Raum aus-
füllt. Das ist das, was vorhin genannt worden ist. Es geht
darum, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu über-
nehmen. Das ist das Potenzial, das wir im Freiwilligen-
dienst sehen. Er ist eine Art Partizipation an der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit, an dem Leben der
Gesellschaft. Zwischen Staat und Markt entsteht eine
dritte Säule: die Säule der freiwilligen Betätigung der
Menschen, der Freiwilligkeit und des bürgerschaftlichen
Engagements.

Ich halte dies für sehr wichtig. Ich bin der Bundesre-
gierung und der Frau Ministerin außerordentlich dank-
bar, dass wir den Ansatz, für den Zivildienst nun den
Bundesfreiwilligendienst einzuführen, gefunden haben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709918200

Der Kollege Klaus Riegert hat das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1709918300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Aus Sicht des Unterausschusses Bürgerschaftliches En-
gagement bin ich froh, dass die ganze Debatte von der
gemeinsamen Sorge und dem Willen getragen war, einen
Konsens zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage-
ments zu erzielen. Dafür möchte ich herzlich danken.


(Sönke Rix [SPD]: Das hat Herr Bernschneider aber gerade anders gesagt!)


In der Tat stehen wir vor einer historischen Zäsur. Wir
gehen nämlich vom Zivildienst, von einem Zwang, hin
zur Freiwilligkeit. Ich glaube, dies ist ein entscheidender
Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Die Demokratie
lebt bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selbst
nicht schaffen kann. Deshalb müssen wir auf Freiheit,
Beteiligung und Teilhabe achten und uns Gedanken ma-
chen, wie wir junge Menschen motivieren, sich einzu-
bringen und im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes,
der nicht wie der Zivildienst Zwang ist, sondern freiwil-
lig, Dienst für die Gesellschaft zu tun.

Dabei müssen wir individuelle Aspekte wie die so-
ziale Situation oder die Flexibilität des Engagements ge-
nerationsübergreifend beachten, damit das Angebot bei
Berufseinsteigern, Menschen in Übergängen, Schülern,
Studenten, Vorruheständlern und benachteiligten Men-
schen ankommt. Für den Dienst als Bildungsinstrument
braucht man im Hinblick auf die Freiwilligkeit beson-
dere Motivation. Forscher würden sagen: Motivation ist
entweder intrinsisch oder extrinsisch. – Jetzt sehe ich in
ein paar verdutzte Gesichter. Da man in Debatten auch
etwas lernen soll,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


habe ich die entsprechende Wikipedia-Definition mitge-
bracht.


(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, Wikipedia! Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich mir hier von Abgeordneten der Union etwas von Wikipedia vorlesen lassen muss!)


Der Begriff intrinsische Motivation bezeichnet das
Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun

(weil es einfach Spaß macht, – zum Beispiel, wenn Marcus Weinberg für den FC Bundestag auf dem Fußballfeld rackert – Interessen befriedigt oder eine Herausforderung darstellt)


Bei der extrinsischen Motivation steht dagegen der
Wunsch im Vordergrund, bestimmte Leistungen zu

(Belohnung)

vermeiden möchte. Die neuere Motivationsfor-
schung unterscheidet zwischen zwei intrinsischen
und drei extrinsischen Quellen der Motivation.





Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)

So weit Wikipedia. – Diese Vielfalt, auf den kurzen
Nenner gebracht, sollten wir zulassen, und wir sollten
neben dem neuen Bundesfreiwilligendienst auch die bis-
herigen Dienste würdigen. Deshalb, glaube ich, ist an
dieser Stelle ein herzlicher Dank an die engagierten jun-
gen Menschen, Männer und Frauen, im FSJ, im FÖJ, in
den Auslandsdiensten und in „weltwärts“ angebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu müssen wir Angebote machen; das wurde ja
schon hinreichend diskutiert. Wir müssen auch neue Ein-
satzfelder generieren und dafür werben und hier eine
neue Kultur der Freiwilligkeit – wie es die Frau Bundes-
ministerin genannt hat – herstellen. Die Rahmenbedin-
gungen dafür sind sehr wichtig. Das haben wir ja jetzt
die ganze Zeit diskutiert. Ich glaube, außer dem, was wir
hier diskutieren, geht es auch darum, dass wir junge
Leute für diesen Dienst begeistern. Wir müssen ein posi-
tives Klima schaffen, damit die jungen Leute, Frauen
und Männer, sich freiwillig für den Dienst bewerben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709918400

Herr Kollege, Herr Koch würde Ihnen gern eine Zwi-

schenfrage stellen.


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1709918500

Ja, gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709918600

Bitte schön.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: „Intrinsisch“ hieß das Wort!)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709918700

Werter Herr Kollege, eigentlich wollte ich die Frage

schon den Vorrednern aus Ihrer Fraktion stellen. Sie ha-
ben sich jetzt auch auf die freiwillig Dienstleistenden,
FSJ und FÖJ, berufen und haben gesagt, diese würden
diesen Dienst angeblich begrüßen. Es gibt einen Rat der
Sprecherinnen und Sprecher der Schleswig-Holsteiner
FSJler und FÖJler, der über 1 000 der freiwillig Dienen-
den vertritt und ein Papier erarbeitet hat. Dieses ist im
März unter dem Titel – ich halte es einmal hoch – „Was
für einen Freiwilligendienst wollen wir haben?“ verab-
schiedet worden. Ich zitiere einmal daraus und möchte
dann kurz Ihre Position dazu hören.

Der Bundesfreiwilligendienst ist die unnötige Ein-
richtung einer Doppelstruktur, die für Verwirrung
der jungen Menschen sorgt, die sich engagieren
wollen.

Ich will nur sagen: Berufen Sie sich also bitte nicht
auf die freiwillig Dienstleistenden in den Freiwilligen-
diensten.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nicht auf den Unterausschuss!)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1709918800

Lieber Herr Kollege, da haben wir – wie die Debatte

gezeigt hat – ein rechtliches Problem. Da waren wir ja
unterschiedlicher Meinung. Auch der Kollege Schwanitz
hat da die Verfassungslage einmal kurz übergangen.


(Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht!)


Im Bereich des Zivildienstes geht es nicht um eine Ab-
schaffung, sondern um eine Aussetzung. Auch bei Aus-
setzung des Wehrdienstes wollen wir für die Zukunft die
notwendigen Rechtsgrundlagen behalten, um auf eine
Sicherheitslage vorbereitet zu sein, die eine Wiederein-
richtung des Wehrdienstes, was wir uns alle nicht wün-
schen – wir gehen auch nicht davon aus, dass das der
Fall sein wird –, nötig macht. Aufgrund der Verfassungs-
lage war es zwingend notwendig, den Gesetzentwurf so
zu gestalten, wie er vorliegt.

Wenn Sie noch ein bisschen gewartet hätten, dann
hätten Sie gemerkt, dass ich in meinem Schlusswort ver-
suchen wollte, die Brücke in die Zukunft zu schlagen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krücke und keine Brücke!)


Wenn man ein neues Instrument wie den Bundesfrei-
willigendienst schafft und aus Zwang Freiwilligkeit
macht – darüber habe ich ja schon gesprochen –, dann
muss man die Instrumente natürlich auch ausprobieren.
Es ist die Frage, ob man sich zuerst an den runden Tisch
setzen sollte oder anschließend, wenn man dann auf-
grund eines Gesetzes weiß, worüber man spricht. Der
Kollege Rix hat es sehr vernünftig formuliert, indem er
gesagt hat, dass man evaluieren muss. Das heißt, man
muss sich natürlich anschauen: Wie funktioniert das Ge-
setz? Wie kann man es weiterentwickeln, um es dann in
eine gute Zukunft zu führen?

Wenn irgendwann einmal der Tag kommt, an dem das
aufgrund der Verfassungslage zulässig ist, dann kann
man die Freiwilligendienste auch vereinen.


(Sönke Rix [SPD]: Die Verfassungslage lässt das heute schon zu! Oder verstoßen wir etwa die ganze Zeit gegen die Verfassung?)


Momentan haben wir aber eine andere Gesetzeslage.
Deswegen haben wir das so beschlossen.


(Sönke Rix [SPD]: Das Freiwilligendienstegesetz gibt es doch schon! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit dem Freiwilligendienstegesetz?)


– Wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie eine
Zwischenfrage stellen, sonst geht das von meiner Zeit
ab.


(Sönke Rix [SPD]: Nein, ich will Ihre Redezeit nicht verlängern!)


Ich nehme den Faden wieder auf und knüpfe an meine
Rede an.

Wir müssen diesen Bundesfreiwilligendienst positiv
begleiten, wir müssen junge Menschen für diesen Dienst
begeistern, und wir müssen die Einsatzstellen auffor-
dern, den Dienst so auszugestalten, dass er attraktiv wird
und sich junge Menschen dadurch anerkannt fühlen.





Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube – der Kollege Markus Grübel hat das ja
schon gesagt –, dass wir heute einen historischen Tag ha-
ben. Nach 50 Jahren Zivildienst haben wir heute nämlich
die Stunde null des Bundesfreiwilligendienstes. Es freut
mich, dass ich als letzter Redner sozusagen den Segen
für dieses Gesetz geben darf.


(Caren Marks [SPD]: Den Segen? Ich denke, Sie bräuchten Mehrheiten!)


Ob es eine Mehrheit gibt, müssen Sie jetzt bestimmen.
Ich wünsche mir 50 gute Jahre für den Bundesfreiwilli-
gendienst.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sönke Rix [SPD]: Für den Segen haben wir den Papst eingeladen! – Caren Marks [SPD]: Ich wusste gar nicht, dass Gesetzentwürfe mit 50 Prozent Mehrheit verabschiedet werden!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709918900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/5249, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/4803 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in der Schlussabstimmung mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenom-
men.

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5255. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist bei Zustimmung durch die SPD-Fraktion und die
Fraktion Die Linke, bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen und bei Ablehnung durch die Koalitionsfraktio-
nen abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 28 b. Wir setzen die Abstim-
mungen über die Beschlussempfehlung fort. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4692 mit
dem Titel „Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligen-
dienste – Bürgerschaftliches Engagement der jungen Ge-
neration anerkennen und fördern“. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Antrag bei Zustimmung durch die Koalitions- und Ab-
lehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/2117 mit dem Titel „Stärkung der Ju-
gendfreiwilligendienste – Platzangebot ausbauen, Quali-
tät erhöhen, Rechtssicherheit schaffen“. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Dagegen ge-
stimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen.

Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/3429 mit dem Titel „Chancen nutzen – Jugendfrei-
willigendienste stärken“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Dafür haben gestimmt CDU/CSU und FDP. Dagegen ha-
ben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.

Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/4845 mit dem Titel „Ju-
gendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt
Bundesfreiwilligendienst einführen“. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen gestimmt hat die Linke. Enthalten hat
sich die SPD-Fraktion.

Schließlich und letztlich empfiehlt der Ausschuss un-
ter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/3436 mit dem Titel „Aufbauoffen-
sive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen –
Quantität, Qualität und Attraktivität steigern“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen, Gegenstimmen der SPD und Grünen und Enthal-
tung der Fraktion Die Linke.

Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 6:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Beschäftigte am Aufschwung beteiligen –
Staatlich begünstigtes Lohndumping aufgeben

– Drucksache 17/4877 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Hierfür ist eine Dreiviertelstunde Debatte
vorgesehen. – Dazu sehe und höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709919000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir haben in Deutschland ein zentrales Pro-
blem, über das im Regelfall sehr wenig geredet wird:


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eines? – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das sind die Linken!)


Wir haben in Deutschland seit dem Jahr 2000 eine
Lohnsenkung zu verzeichnen. Der durchschnittliche Be-
schäftigte verdient heute preisbereinigt ungefähr 3 bis
4 Prozent weniger als im Jahr 2000, und dies in einem
Land, in dem wir eine ganz beständige Steigerung der
Produktivität haben, wo also eine deutlich stärkere Be-
teiligung an der Entwicklung der Ökonomie möglich
wäre. Das ist ein grandioser Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn man dann noch berücksichtigt, dass jüngst der
Wirtschaftsaufschwung zu dramatischen Steigerungen
der Unternehmensgewinne geführt hat und die Bundes-
regierung mit Bundeskanzlerin Merkel und Minister
Brüderle beständig den Aufschwung bejubelt, dann
muss man sagen: Sie bejubeln einen Aufschwung der
Profite; es ist aber kein Aufschwung, der bei der breiten
Masse der Bevölkerung ankommt. Bei der breiten Masse
der Bevölkerung herrschen nach wie vor Stagnation,
Lohndumping und Sozialdumping vor.

In der jüngsten Zeit erleben wir, dass die Regierung
den Beschäftigten im Aufschwung sogar noch zuruft:
Eure Löhne können ruhig ein bisschen erhöht werden. –
Das ist heuchlerisch und zynisch; denn dass es diese Ent-
wicklung überhaupt gegeben hat, hängt damit zusam-
men, dass durch die Veränderungen am Arbeitsmarkt
und die Agenda 2010 die Durchsetzungsmöglichkeiten
und Kampfbedingungen für die Gewerkschaften drama-
tisch verschlechtert worden sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)


Zu den Punkten, die zuallererst zu nennen sind, ge-
hört die Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen,
Leiharbeit und Minijobs. Es ist doch völlig klar, dass es
in einem Tarifbereich, in dem ein großer Teil der Be-
schäftigten nur befristet oder in Leiharbeit tätig ist, für
die Gewerkschaften außerordentlich schwierig ist, Tarif-
runden durchzuführen und Druck auf die Arbeitgeber
auszuüben.

Ich habe es selbst erlebt. In den 80er-Jahren waren die
Verhältnisse noch anders. Damals herrschte noch eine
andere Ordnung am Arbeitsmarkt, und es war sehr wohl
möglich, in Tarif- und Streikauseinandersetzungen nach-
haltig Druck auszuüben und den Beschäftigten einen
halbwegs angemessenen Anteil am wirtschaftlichen
Fortschritt zu sichern.

Diese Bedingungen sind durch politisches Wollen ge-
rade in den letzten zehn Jahren, begonnen mit der
Agenda 2010 durch Rot-Grün und massiv unterstützt
und fortgesetzt durch Schwarz-Gelb, unterhöhlt worden.
Deshalb haben wir die miserable Lohnentwicklung zu
verzeichnen, von der ich eben bereits gesprochen habe.
Hinzu kommt, dass in dieser Entwicklung mit den
Hartz-IV-Gesetzen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber
Erwerbslosen eingeführt worden sind. Diese Sanktions-
möglichkeiten bedeuten, dass einem Erwerbslosen zuge-
mutet werden kann, für 2,50 Euro pro Stunde Klos zu
putzen oder für 3,80 Euro pro Stunde den Hof zu kehren,
und zwar vollkommen unabhängig davon, was der Be-
troffene oder die Betroffene in der Vergangenheit an
Qualifikationen und beruflicher Erfahrung erworben hat.

Erstens ist das zynisch und eine sozialpolitische Kata-
strophe. Zweitens hat es aber auch ganz verheerende
Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten von Ge-
werkschaften, weil sich mittlerweile im Kreise der noch
Beschäftigten natürlich herumgesprochen hat, was ei-
nem droht, wenn man Arbeitslosengeld II bezieht. Dies
hat eine ungeheuer disziplinierende Wirkung. Nicht nur
weil es unsozial ist, sondern auch wegen dieser diszipli-
nierenden Wirkung gehört Hartz IV abgeschafft. Das ist
völlig klar.


(Beifall bei der LINKEN)


Um wieder bessere Lohnentwicklungen durchsetzbar
zu machen, wollen wir die gesamte Agenda 2010 rück-
abwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Solange man das nicht macht, wird Deutschland weiter-
hin ein Land des Lohndumpings und des Sozialdum-
pings sein und wird es weiterhin eine schlechte Entwick-
lung der Löhne geben.

Eine Notmaßnahme, die unmittelbar ansteht, ist die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes mit der
Perspektive von 10 Euro. Das ist das Mindeste. Aber wir
brauchen vor allen Dingen wieder eine Ordnung am Ar-
beitsmarkt. Dazu gehören weitere Etappen wie die Be-
schränkung von Befristungsmöglichkeiten; Befristungen
dürfen nur in äußersten Notfällen zulässig sein.

Wir brauchen außerdem eine Entwicklung, die dem
Unwesen der Leiharbeit begegnet. Im Musterländle Ba-
den-Württemberg, wo ich herkomme, ist bei den Be-
schäftigten vom Wirtschaftsaufschwung nichts zu spü-
ren, ganz im Gegenteil. 80 Prozent der neu geschaffenen
Arbeitsplätze sind Arbeitsplätze in der Leiharbeitsbran-
che, die alle deutlich schlechter bezahlt sind als die
Stammbelegschaft. Deswegen brauchen wir mindestens
die Einführung von Equal Pay. Obendrauf wollen wir
absichern, dass in diesem Bereich zusätzliche Prämien
gezahlt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die einzige Partei, die konsequent für diese Linie
steht – die überhaupt erst wegen der Politik der vier
Hartz-IV-Parteien entstanden ist –, ist die Linke.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Sehr schlecht, Herr Schlecht! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Schlecht, das war schlecht! – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Das war wirklich sehr schlecht!)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709919100

Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1709919200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter

Herr Kollege Schlecht, Sie begannen Ihren Vortrag mit
dem Hinweis, es gebe ein Problem in diesem Land. Nach
Ihrem Vortrag stimme ich Ihnen zu, und ich nenne das
Problem beim Namen: Es sind die Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Allein mit dem Ruf nach immer mehr Wohltaten, die
angeblich nichts kosten, ist diesem Land sicherlich nicht
gedient. Entscheidend ist, was man daraus macht. Den-
ken Sie nur an das Märchen Tischlein deck dich der Ge-
brüder Grimm: Auf Zuruf wird aufgetafelt, ohne dass je-
mand zahlt.

An genau dieses Märchen erinnert mich Ihr Antrag.
Es handelt sich dabei – vom gesetzlichen Mindestlohn
bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen – um
ein Wünsch-dir-Was der Sozialpolitik. Es gibt nur ein
einziges Problem: Im wahren Leben deckt sich kein
Tisch von selbst, und irgendjemand zahlt immer die Ze-
che.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Ihrem Falle wären das übrigens die Langzeitarbeitslo-
sen, die Geringqualifizierten sowie die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die mit ihrem Einkommen die
Wohltaten finanzieren sollen, die Sie ausschütten wol-
len.

Ich will nur auf einige Punkte aus Ihrem Antrag ein-
gehen, zunächst auf Ihre Forderung nach einem gesetzli-
chen Mindestlohn von 10 Euro.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine gute Forderung!)


Das hört sich zunächst einmal verlockend an. Die bittere
Wahrheit ist aber: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu
niedrig ist, hilft niemandem.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt!)


Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu hoch ist, kostet Ar-
beitsplätze, denn die Firmen, die keine höheren Gehälter
zahlen können, müssen Mitarbeiter entlassen. Das sind
die Gesetze der Ökonomie, über die auch die Linken
sich nicht hinwegsetzen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein einheitlicher Mindestlohn nimmt übrigens auch
keine Rücksicht auf Branchen oder Regionen. In Grenz-
gebieten geht der Kunde ins Ausland, wenn es in
Deutschland zu teuer ist, zum Beispiel nach Polen. Dort
gibt es tatsächlich einen Mindestlohn, aber dieser beträgt
1,85 Euro.

Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet vor allem den
Schwächsten. Als Erste entlassen werden nämlich die
Menschen ohne Schulausbildung und die Menschen
ohne Ausbildung. Das schadet im Ergebnis auch dem
Beitragszahler; denn die Finanzierung von Arbeitslosig-
keit ist immer sehr viel teurer als staatliche Zuzahlungen
zum Lohn.

Alle diese Effekte sind durch Studien belegt. Selbst
die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem
Ergebnis: „Ein genereller Mindestlohn – ohne jede Dif-
ferenzierung – scheint nicht sinnvoll.“ Man höre! Wir
wissen um diese Probleme, und deshalb lehnen wir einen
gesetzlichen Mindestlohn ab. Wir wollen, dass jeder eine
Chance auf Arbeit hat, insbesondere die Schwächeren.
Wir wollen, dass Familien ein Mindesteinkommen ha-
ben. Das geht übrigens nicht mit einem einheitlichen ge-
setzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro; denn die
Leistungen, die eine Familie schon heute im Rahmen des
Transfereinkommens, zum Beispiel in Form von Ar-
beitslosengeld II oder Sozialhilfe, erhält, sind höher als
dieser Mindestlohn.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um den Wert von Arbeit!)


Es geht aber mit einer Kombination aus fairen Löhnen
und ergänzenden staatlichen Leistungen. Wir wollen üb-
rigens auch, dass die Menschen, die arbeiten, mehr ha-
ben als die Menschen, die nicht arbeiten. Das ist ein be-
rechtigtes Interesse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie soll denn das mit 3 Euro pro Stunde gehen?)


Wir wollen Mindestlöhne, aber tarifliche Branchenmin-
destlöhne, damit die Tarifparteien ihre Souveränität er-
halten und unterschiedliche Branchenbedingungen be-
rücksichtigt werden. So viel zum ersten Beispiel aus
Ihrem Antrag.

Das zweite Beispiel aus Ihrem Antrag, meine Damen
und Herren von der Linken. Sie fordern, dass Arbeitslose
nur die Arbeit annehmen müssen, bei der eine Entloh-
nung wie zuvor stattfindet. Das klingt auf den ersten
Blick charmant. Das wird zum Beispiel die zwischen-
zeitlich arbeitslosen Bankmanager der Hypo Real Estate
erfreuen. Bei einem Jahreseinkommen in Höhe von circa
200 000 Euro aufwärts werden diese auf dem normalen
Arbeitsmarkt kaum jemanden finden, der sie beschäfti-
gen könnte. In diesem Fall lässt sich sagen: Willkommen
in der Arbeitslosigkeit, finanziert von Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern, vergoldet mit einer Abfindung
und abgesegnet von Ihnen, meine Damen und Herren
von der Linken!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Beispiel drei. Sie fordern ein bedingungsloses Grund-
einkommen anstelle des Arbeitslosengeldes II.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, das tun wir nicht!)


Egal wie man sich verhält: Der Steuerzahler zückt das
Portemonnaie. Ich frage Sie: Wer ist denn der Steuerzah-





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

ler in Deutschland? Das sind die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die jeden Tag zur Arbeit gehen und mit
zum Teil kleinen Einkommen diesen Staat finanzieren.
Das sind nicht nur die großen Bosse, sondern auch die
Verkäuferin, der Maurer oder der Arbeiter am Band. Ge-
nau um deren Steuerzahlungen geht es: Deren Steuergel-
der schütten Sie aus. Ich wünschte mir, dass Sie damit
vorsichtiger umgingen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Summa summarum kostet Ihr Wunschzettel zig Mil-
liarden Euro. Das ist so unseriös,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Zulasten der Arbeitnehmer!)


dass Ihnen inzwischen alle Ihre Finanzpolitiker von der
Stange gehen, zum Beispiel Ihr ehemaliger Genosse
Ronald Weckesser.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Er arbeitet inzwischen bei der FDP!)


Er wurde gefragt, was er denn von diesen Ihren Forde-
rungen halte. Er stellte fest:

Es werden Dinge versprochen, die nicht einmal
dann eingehalten werden könnten, wenn wir die
Wahl gewännen. … Das weiß jeder.

Aber die Parteikonzeption laute, Forderungen müssten
nicht realisierbar sein, sondern nur andere in Zugzwang
bringen. Kurzum: Sie verfolgen ausschließlich eine
Tischleindeckdich-Politik der leeren Versprechen.

Das erleben übrigens besonders schmerzlich die Men-
schen, die in Ländern leben, in denen die Linken mitre-
gieren, zum Beispiel in Berlin,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Und in Nordkorea!)


insbesondere die Familien, die Kinder und die Jugend-
lichen, auf deren Rücken gespart wurde. Die Liste der
Grausamkeiten von Rot-Rot ist lang. Ich möchte nur ei-
nige wenige nennen: Kürzung der Sozialhilfe- und Pfle-
geleistungen um fast 50 Millionen Euro, Kürzung des
Blindengeldes, Kürzungen der Leistungen für Senioren-
arbeit, Selbsthilfegruppen und Ehrenamt um mehr als
50 Prozent. Das wurde im sogenannten LIGA-Vertrag
ausgestaltet. Dafür wurden im letzten Jahr die Gaspreise
zum wiederholten Mal erhöht. Nicht erhöht wurden über
viele Jahre die Bezüge der Beschäftigten im öffentlichen
Dienst. Erst im letzten Jahr hat es eine Erhöhung gege-
ben. Aber der Rückstand zu den anderen Ländern ist er-
heblich.

Das zeigt einmal mehr: Dort, wo Sie regieren, tun Sie
in keiner Weise das, was Sie einfordern. Sie dreschen
Phrasen; aber Sie lassen keine Taten folgen. Die Arbeit-
nehmer, von denen ich gesprochen habe, können über
den Titel Ihres Antrags „Beschäftigte am Aufschwung
beteiligen“ nur lachen, meine Damen und Herren von
der Linken.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Denen vergeht das Lachen!)

Mein Fazit ist: Dort, wo die Linken regieren, geht es
den Menschen schlechter.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war schon immer so!)


Ihre Politikmodelle helfen niemandem. Deshalb werden
wir Ihren Antrag ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein Niveau unter der Zimmertemperatur!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709919300

Der Kollege Josip Juratovic hat das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1709919400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Kolleginnen und Kollegen der Lin-
ken, ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie in Ihrem
Allerweltsantrag kurz vor den Landtagswahlen in Ba-
den-Württemberg und Rheinland-Pfalz alle Forderungen
platzieren, die Sie in Ihren alten Anträgen gefunden ha-
ben. Die Überschrift von Ihrem Antrag ist gut gewählt;
aber der Inhalt ist sehr mager.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ein Beispiel für Ihre realitätsfernen Forderungen ist,
dass in der Zukunft wir Politiker die Mindestlohnhöhe
festlegen sollen. Ich sage Ihnen: Das kann nicht funktio-
nieren.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Gut!)


Wir brauchen stattdessen einen flächendeckenden An-
fangsmindestlohn von 8,50 Euro,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schlecht!)


der bereits gesellschaftlich mit den Gewerkschaften ab-
gestimmt ist. Dann brauchen wir eine Mindestlohnkom-
mission,


(Beifall bei der SPD)


in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Wissenschaftler
analysieren, wie sich Produktivität, Lohnzuwächse,
Wachstum und Inflation entwickeln, und danach die
Höhe des Mindestlohns festlegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einverstanden! Da sind wir sofort bei Ihnen!)


Ein zweites Beispiel für Ihre Allerweltsforderungen
ist der Antistreikparagraf. Das ist wirklich nicht das Pro-
blem, das den Gewerkschaften aktuell unter den Nägeln
brennt. Wir brauchen keine populistischen Allerwelts-
forderungen, sondern realitätsbezogene Lösungen, und
zwar für alle Menschen in unserem Land.


(Beifall bei der SPD)






Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe den Eindruck, dass die Realität in der Welt
draußen hier im Parlament – sowohl von links als auch
von rechts – verdrängt wird.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihr seid noch nie angekommen in der Realität!)


Union und FDP sehen nicht die massiven Verwerfungen
im Niedriglohnsektor, und die Linke verkämpft sich für
alte Klamotten wie den Antistreikparagrafen. Die tat-
sächlichen Probleme der arbeitenden Menschen und der
anständigen Unternehmer werden viel zu wenig wahrge-
nommen.

Leiharbeit ist nur ein Beispiel dafür, dass sich die
Funktionsweise unserer Wirtschaft in den vergangenen
Jahren dramatisch verändert hat. Leiharbeit ist heute Teil
der Mischkalkulation in den Betrieben. Billige Leihar-
beiter werden in der betriebswirtschaftlichen Logik in
den Unternehmensprofit von vornherein einkalkuliert.
Das zeigt, dass Leiharbeit nicht mehr, wie sie gedacht
war, nur Auftragsspitzen abdeckt. Das ist ein klarer
Missbrauch von Leiharbeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es wird noch schlimmer: Leiharbeit wird in den Bilan-
zen nicht wie Personalkosten behandelt, sondern als
Sonderaufwendung, genau wie der Einkauf von Schrau-
ben und Toilettenpapier. Das ist menschenunwürdig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich auf die gesellschaftlichen Auswir-
kungen von Leiharbeit eingehen.

Erstens. Leiharbeit schafft Kinderarmut. Frau
Connemann, wenn Sie hier von Kinderarmut sprechen,
dann sollten Sie zuerst die Niedriglöhne der Eltern als
Ursache von Kinderarmut bekämpfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens. Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn
wir Niedriglöhne staatlich subventionieren. Rund 92 000
Leiharbeiter erhalten so wenig Lohn, dass sie ihr Ein-
kommen durch Sozialhilfe aufstocken müssen. Das kos-
tet den Steuerzahler 700 Millionen Euro im Jahr.

Drittens. Die Leiharbeit von heute schafft die Armuts-
rentner von morgen. Leiharbeiter brauchen über 70 Bei-
tragsjahre, um eine Rente in der Höhe der Grundsiche-
rung zu erhalten. Kein Leiharbeiter kann sich eine
Riester-Rente leisten.

Viertens. Leiharbeiter werden gesellschaftlich stigma-
tisiert. Sie erhalten keine Kredite. Eine Familiengrün-
dung können sie sich finanziell nicht leisten. Kollegin-
nen und Kollegen, in was für einem Land leben wir,
wenn eine Familiengründung inzwischen zum Luxus ge-
worden ist?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Fünftens. Leiharbeit schafft eine Entsolidarisierung
im Betrieb. Man kann in Betrieben oft sehen, dass die
rechte Autotür von einem festangestellten Mitarbeiter
eingebaut wird und die linke Autotür von einem Leihar-
beiter, der bestenfalls 70 Prozent des Lohns des festan-
gestellten bekommt. Es kann doch nicht sein, dass die
Arbeiter für exakt die gleichen Handgriffe unterschied-
lich entlohnt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das dient nicht gerade dem gesellschaftlichen Zusam-
menhalt. Deshalb müssen wir verhindern, dass die Ar-
beitnehmer gegeneinander ausgespielt werden.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen verhindern, dass Leiharbeiter als Dank für
ihre Flexibilität und ihren Lohnverzicht in einer Krise als
Allererste entlassen werden.


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Alles Forderungen der Linken!)


Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet von einem
knallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, son-
dern auf Produktionskostensenkung beruht. Der erste
Teil dieser Kostensenkung ist die schon angesprochene
Mischkalkulation in den Unternehmen. Es wird genau
ausgerechnet, was wie viel kosten darf, und dann wird
Druck auf die einzelnen Unternehmensteile ausgeübt,
insbesondere auch auf Zulieferer und Leiharbeiter. Das
geht so weit, dass man bereits mit Zahlungsverzögerun-
gen bei den Zulieferern von bis zu sechs Monaten kalku-
liert.

Der zweite Teil dieser Kostensenkung ist die Leis-
tungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz. Gerade ältere
Arbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen voll-
bringen. Daher gibt es bei den Arbeitnehmern eine stei-
gende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine
steigende Zahl psychischer Erkrankungen.

Unsere Wirtschaft handelt rein wachstums- und pro-
fitorientiert. Es gibt nur noch die reine Betriebswirt-
schaft. Die Volkswirtschaft hat niemand mehr im Blick.
Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vor-
bei. Viele der Gründer unserer Nachkriegswirtschaft
sind heute entsetzt darüber, was ihre Enkel aus der sozia-
len Marktwirtschaft gemacht haben.

In meinen zahllosen Gesprächen erfahre ich, dass
viele Menschen ratlos sind, wenn sie diese einseitige
Orientierung der Wirtschaft spüren. Angesichts dessen
müssen wir gemeinsam mit Gewerkschaften, Unterneh-
men, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Zi-
vilgesellschaft überlegen, wie wir unsere Wirtschafts-
und Arbeitswelt organisieren. Aber wir dürfen nicht nur
nachdenken, sondern wir müssen auch politisch handeln.
Dass die Bundeskanzlerin bei jedem Problem nach einer
Kommission, einem Moratorium oder nach den Sozial-
partnern ruft und dann alles für alternativlos erklärt, ist
ein Zeichen von Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit
dieser Regierung.





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, wir müssen zeigen: Wir
wissen, wie die Realität draußen aussieht, und wir haben
die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein, da-
raus politische Handlungen abzuleiten und die politi-
schen Rahmenbedingungen entsprechend zu setzen.

Meine Damen und Herren der Regierungsparteien,
nicht nur reden, sondern endlich auch handeln!


(Otto Fricke [FDP]: Was machen Sie eigentlich?)


Ein flächendeckender Mindestlohn und das Prinzip
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, was so viele Pro-
bleme lösen würde und gesellschaftlich unumstritten ist,
könnten sofort eingeführt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie regieren in Berlin mit! Rot-Rot! Wowereit ist doch stellvertretender Bundesvorsitzender, oder?)


Wir brauchen eine Kultur des Anstands in der Ar-
beitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft. Kolleginnen und
Kollegen, ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass es
viele gute Unternehmer gibt, die von der marktradikalen
Logik dazu gezwungen werden, ihren Betrieb durch
schlechte Löhne über Wasser zu halten. Wir müssen
diese Arbeitgeber durch einen allgemeinen flächende-
ckenden Mindestlohn und durch das Prinzip „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ vor Lohndumping schützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt darf eben nicht
nur auf Profitmaximierung ausgerichtet sein, sondern sie
muss auch eine Antwort auf die Frage geben können:
Wie wollen wir in der Zukunft leben? Arbeit ist ein ent-
scheidender Bestandteil des Lebens, weil Arbeit Sinn
stiftet. Jeder Mensch will gebraucht werden. Wir brau-
chen Respekt und Wertschätzung der Arbeit. Arbeit
muss sich außerdem daran messen lassen, ob sie zu mehr
Lebensqualität für alle Menschen beiträgt.

Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit
sind Werte und Tugenden, die unsere Wirtschaft so groß
und erfolgreich gemacht haben. Wir alle, auch die Unter-
nehmer, müssen daher zurück zu den Werten und Tugen-
den.

Meine Damen und Herren, am Sonntag hat man in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine Chance,
der Erreichung dieser Ziele näherzukommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt der Werbeblock!)


Auch in unserem Musterländle ist jeder zweite Job, der
nach der Krise entstanden ist, in der Leiharbeit angesie-
delt.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)

Der wirtschaftliche Erfolg spielt sich auch hier auf dem
Rücken der Leiharbeiter ab. Wenn Baden-Württemberg
wieder das Land der Pioniere werden will, brauchen wir
durch faire Arbeitsbedingungen motivierte Arbeitneh-
mer.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann ist es besser, sie wählen CDU!)


Ein erster Schritt ist die Verabschiedung des von der
SPD geforderten Tariftreuegesetzes. Öffentliche Aufträge
sollten nur an gute Arbeitgeber vergeben werden. Ich
denke, der Staat sollte als Auftraggeber mit gutem Bei-
spiel vorangehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Menschen in Baden-Württemberg brauchen nach
57 Jahren endlich wieder verantwortungsvolle und reali-
tätsnahe Politik mit Empathie und Vernunft.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schöne Wahlkampfrede war das, Herr Juratovic! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das hatte mit dem Antrag nicht viel zu tun!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709919500

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb spricht für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709919600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit den Anträgen der Linken ist es so: Die Überschriften
wechseln; der Inhalt ist immer der gleiche. Auch das,
was heute vorliegt, enthält wieder viel Bekanntes, Herr
Kollege Schlecht. Das einzig Neue – das will ich immer-
hin festhalten – scheint Ihr Vorschlag zu § 146 SGB III
zu sein, den Sie irgendwo aus der Schublade gezogen
haben. Allerdings ist mir der aktuelle Hintergrund nicht
ganz schlüssig.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war in den 80er-Jahren problematisch!)


– In den 80er-Jahren war die Neutralitätspflicht der Bun-
desanstalt für Arbeit noch ein Problem. – Ich kann mich
aber nicht daran erinnern, dass die Bundesagentur für
Arbeit in den letzten Tarifauseinandersetzungen sich für
die eine oder andere Richtung eingesetzt hat, was dazu
hätte animieren können, Ihren Antrag entsprechend zu
gestalten. Vielleicht wollen Sie nur ein bisschen variie-
ren; das wäre lobenswert. Sie sollten mehr nachdenken.
Dann fällt Ihnen vielleicht noch etwas Besseres ein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Da aufgrund der ständigen Wiederholungen eigent-
lich alles schon besprochen worden ist, will ich gezielt
ein paar Aspekte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie machen
einen Denkfehler, Herr Kollege Schlecht. Sie gehen da-





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

von aus, der durchschnittliche Beschäftigte verdiene seit
dem Jahr 2000 weniger. Den durchschnittlichen Beschäf-
tigten gibt es aber nicht, sondern es gibt Beschäftigte mit
jeweils individuellem Entgelt. Ich bezweifle Ihre These,
dass es in den vergangenen zehn Jahren bei dem einzel-
nen Arbeitnehmer tatsächlich zu Lohnkürzungen ge-
kommen ist.

Es ist Folgendes passiert – das führt zu dem Ergebnis,
das Sie angesprochen haben –:

Wenn man in einer Volkswirtschaft einen Niedrig-
lohnsektor einrichtet, so wie es Rot-Grün mit den Ar-
beitsmarktreformen der Jahre 2004 und 2005 getan hat,
dann muss das Durchschnittseinkommen dieser Volks-
wirtschaft notwendigerweise sinken. Das ist der erste Ef-
fekt.

Der zweite Effekt ist: In einer Aufschwungphase, in
der viele Menschen mit einer geringeren Qualifikation
die Chance bekommen, sich zusätzlich am volkswirt-
schaftlichen Leistungsprozess zu beteiligen, sinken die
durchschnittlichen Löhne. In der Krise halten die Unter-
nehmen diejenigen Beschäftigten, die besonders qualifi-
ziert sind und die über ein hohes Einkommen verfügen,
während die Geringqualifizierten, die herangezogen wer-
den, um das Leistungsvermögen des Unternehmens in
Phasen hoher Auslastung zu erhöhen, entlassen werden.
Dies erklärt den Befund, den Sie festgestellt haben.

Aus meiner Sicht wäre es jedoch falsch, daraus zu
schließen, dass in den vergangenen zehn Jahren in den
Unternehmen in Deutschland flächendeckend Lohndrü-
ckerei stattgefunden hat. Im Gegenteil, die Chancen der
Arbeitnehmer haben sich durch die demografische Ent-
wicklung und zusätzlich durch den wirtschaftlichen Auf-
schwung verbessert; in Verhandlungen mit den Arbeitge-
bern haben sie eine bessere Position als zuvor. Dies wird
sich in den nächsten Jahren noch deutlicher zeigen.

Außerdem stellen Sie immer wieder fest, die Zeitar-
beit und die befristete Beschäftigung seien der Standard
bei der Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse. Auch da
muss man sagen – zu diesem Ergebnis können auch Sie,
Herr Kollege Schlecht, durch Nachdenken kommen –,
dass es ganz normal ist, dass die Unternehmen nach der
schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise in der Ge-
schichte der Bundesrepublik an den Aufbau neuer Be-
schäftigung zunächst vorsichtig herangehen, auch was
die Nutzung solcher Instrumente angeht.

Wir wissen aus dem letzten Konjunkturzyklus, dass
flexible Beschäftigungsverhältnisse sehr schnell in dau-
erhafte Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere in
Vollzeitstellen umgewandelt worden sind. Man kann si-
cherlich zu Recht erwarten, dass das auch jetzt wieder
passieren wird. Die Unternehmer sind gut beraten, wenn
sie qualifizierte Arbeitnehmer an das eigene Unterneh-
men binden, weil der Arbeitsmarkt in Deutschland in
zwei bis drei Jahren gerade in Bezug auf solche Arbeit-
nehmer leergefegt sein wird.

Das waren die Anmerkungen, die ich machen wollte;
mehr war heute nicht drin. Kollege Kober wird sicher-
lich noch wichtige Beiträge leisten. Zum Thema Zeitar-
beit will ich in der Debatte, die in circa zwei Stunden in
diesem Hause zu führen sein wird, gerne mehr sagen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709919700

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht

das Wort.


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709919800

Herr Kolb, da Sie mich in Ihrer Rede angesprochen

hatten, möchte ich Ihnen noch einmal sagen: An den em-
pirischen Daten kommen Sie nicht vorbei. Entspre-
chende Daten gibt es ja nicht nur von Eurostat und
AMECO, sondern auch von der Internationalen Arbeits-
organisation und anderen. Daraus ergibt sich völlig ein-
deutig, dass die Realeinkommen in Deutschland in den
letzten zehn Jahren preisbereinigt im Durchschnitt – ich
habe gar nicht vom durchschnittlichen Beschäftigten ge-
sprochen –


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Gleiche!)


um 3 bis 4 Prozent gesunken sind.

Das Skandalöse ist – das regt zumindest mich auf, Sie
anscheinend nicht –, dass eine solche Entwicklung nur in
Deutschland zu verzeichnen ist. In allen anderen Län-
dern sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahren
mehr oder minder deutlich angestiegen. Nach uns kom-
men gleich Belgien und Österreich mit plus 6 Prozent,
Frankreich mit plus 10 Prozent, die Niederlande mit plus
15 Prozent. Nur Deutschland liegt bei einer Größenord-
nung von minus 3 bis minus 4 Prozent, obwohl es doch
eines der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa ist.
Das ist der eigentliche Skandal. Daran kommen Sie nicht
vorbei.

Hinter dieser Durchschnittsbildung verbergen sich na-
türlich Bereiche, in denen es noch dramatisch schlechter
läuft. Das liegt daran, dass von Rot-Grün im letzten Jahr-
zehnt – Schröder war immer stolz darauf – sehr erfolgreich
ein Hunger- und Niedriglohnsektor ausgebaut worden ist.
Infolgedessen gibt es Beschäftigte, deren derzeitige Ein-
kommen gegenüber den Einkommen von vor zehn Jahren
um 10, 20 oder 30 Prozent gesunken sind. Es gibt sicher-
lich auch einige Wirtschaftsbranchen, in denen es für Ein-
zelne günstiger gelaufen ist, sodass deren Einkommen ge-
stiegen sind.

Das Problem der Lohnsenkung ist nicht nur ein Pro-
blem im Dienstleistungsbereich; Lohnsenkungsprozesse
gibt es vielmehr längst auch in Bereichen, in denen qua-
lifizierte Beschäftigte arbeiten. In der derzeit laufenden
Tarifrunde für Journalisten in der Zeitungsbranche wird
von den Verlegern gefordert, die Gehälter für neu einzu-
stellende Journalisten um sage und schreibe 25 Prozent
abzusenken. Der Background dafür, dass mit Verve sol-
che frechen Forderungen aufgestellt werden, ist, dass
auch in Zeitungsredaktionen mittlerweile in zunehmen-
dem Maße eine Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen
eingetreten ist,





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)


(Otto Fricke [FDP]: Frau Präsidentin, ist das noch eine Kurzintervention?)


dass immer mehr auf Leiharbeiter zurückgegriffen wird,
dass immer mehr befristet eingestellt wird und dass in
immer stärkerem Maße Freie eingesetzt werden. Das ist
wirklich ein Skandal.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709919900

Herr Kollege, Sie hatten nicht das Wort zu einer zwei-

ten Rede, sondern nur zu einer Kurzintervention.


(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Ich wollte ihm noch etwas erklären, weil er es anscheinend nicht versteht! Er ist sehr weit weg von der Lebensrealität!)


Möchten Sie erwidern, Herr Kolb?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709920000

Nein, Herr Kollege Schlecht, das kann man nicht sa-

gen. Ich stehe mitten im Leben. Ich glaube, dass ich eine
sehr gute und auch nahe Anschauung dessen habe, was
in den Betrieben tatsächlich passiert.

Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, und das, was
Sie soeben ergänzend vorgetragen haben, ändert daran
nichts. Bei einer Durchschnittsbetrachtung – es ist
gleichgültig, ob man den durchschnittlich Beschäftigten
oder das Durchschnittseinkommen zugrunde legt – zeigt
sich: Die Einführung eines Niedriglohnsektors führt im-
mer dazu, dass die Durchschnittswerte sinken.

Es ist nicht die FDP gewesen, die den Niedriglohn-
sektor erfunden und gesetzlich verankert hat; vielmehr
haben dafür seinerzeit die Kollegen von SPD und Grü-
nen gesorgt.


(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Sie haben aber immer applaudiert!)


– Nein.

Ich kann Ihnen sagen, warum der Effekt in Deutsch-
land besonders stark ist. Deutschland hatte im Gegensatz
zu vielen anderen Ländern in Europa keinen Niedrig-
lohnsektor, mit dem Ergebnis, dass wir 2004/2005 unter
der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder mehr als 5 Mil-
lionen Arbeitslose hatten. Da es sich dabei überwiegend
um geringqualifizierte Beschäftigte handelte, hatte
Gerhard Schröder damals folgende Idee: Wenn wir diese
Menschen in Arbeit bringen wollen, müssen wir Arbeits-
verhältnisse schaffen, bei denen der Lohn, der dort zu
Buche steht, auch mit einer geringeren Wertschöpfung
erarbeitet werden kann. Bezogen auf das zurückliegende
Jahrzehnt ist dieser Effekt in Deutschland deswegen be-
sonders ausgeprägt.

Man kann das alles also erklären. Ich habe es Ihnen
bewusst erläutert, damit Sie bei Ihrem nächsten Antrag
vielleicht von neuen Erkenntnissen und Analysen ausge-
hen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP auch!)

Sie haben gesagt, die Beschäftigten seien am Auf-
schwung zu beteiligen. Ich möchte feststellen: Uns geht
es in der Tat darum, die Menschen am Aufschwung zu
beteiligen. Wir haben die Menschen am Aufschwung be-
teiligt: die große Zahl derjenigen, die neue Beschäfti-
gungsverhältnisse gefunden haben und die aus der Kurz-
arbeit in ein normales Beschäftigungsverhältnis zurück-
gekehrt sind.

Wir haben selbst vorgeschlagen – Sie haben den Wirt-
schaftsminister zitiert –, dass die Tarifpartner Spiel-
räume nutzen sollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, son-
dern die der Tarifpartner, die vorhandenen Spielräume
zu nutzen. Das werden sie verantwortungsvoll tun. Ich
bin ein großer Anhänger und Verfechter des Prinzips der
Tarifautonomie. Die Politik sollte sich in die Tariffin-
dung meines Erachtens nicht einmischen, sondern sie
sollte den Tarifpartnern als denjenigen, die sich vor Ort
auskennen, das Geschäft überlassen. Damit sind wir in
der Vergangenheit gut gefahren und werden es auch in
Zukunft tun.

Frau Präsidentin, danke dafür, dass Sie mich durch
Klopfen auf das Ende meiner Redezeit hingewiesen ha-
ben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709920100

Ich habe jetzt einen rhythmischen Hinweis gegeben.

Das geht offensichtlich auch.

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Der Antrag der Linken behandelt
viele richtige und wichtige Themen, die wir hier im Bun-
destag bereits häufig debattiert haben. Es ist bekannt,
dass wir viele der genannten Forderungen unterstützen
und dazu schon zahlreiche Anträge gestellt haben.

Insgesamt sieht dieser Antrag aber schon ein bisschen
nach Wahlkampfhilfe für die Linke in Baden-Württem-
berg aus.


(Zurufe von der FDP: Nicht doch!)


Mir soll es aber recht sein. Ich rede gerne zu diesen The-
men; denn sie sind mir ein Anliegen.

Wichtig sind mir diese Themen auch – Herr Kolb, Sie
sprechen es immer wieder an –, weil wir Grünen sehr
wohl wissen, dass die Politik unter Rot-Grün zu Fehlent-
wicklungen beigetragen hat, die korrigiert werden müs-
sen. Entscheidend ist, dass wir die Augen nicht ver-
schließen. Schon lange wollen und fordern wir an ver-
schiedenen Stellen Korrekturen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Arbeitswelt wird zunehmend atypisch: Prekäre
Beschäftigung nimmt zu. Viele Menschen erleben tag-
täglich eine Arbeitswelt, die aufreibender und unsicherer
wird, und viel zu viele Menschen arbeiten und können





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

dennoch nicht von ihren Löhnen leben. Die Koalition
ignoriert diese Realität.

Ich habe ebenfalls das Zitat von Minister Brüderle ge-
lesen: „Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige
Lohnerhöhungen möglich.“ Als ich das las, dachte ich
– es kommt selten vor –: Recht hat er. Wenn sich die Bun-
desregierung für Lohnerhöhungen, ausgehandelt durch
die Tarifparteien, ausspricht, muss sie aber auch selber
ihre Möglichkeit nutzen und Verantwortung überneh-
men. Konkret bedeutet das, dass sie für entsprechende
politische Rahmenbedingungen sorgen muss, damit pre-
kär Beschäftigte, die eben nicht von tariflichen Lohner-
höhungen profitieren, endlich Löhne erhalten, von denen
sie auch leben können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung und insbesondere die FDP ste-
hen aber bei allen notwendigen Maßnahmen auf der
Bremse. Das geht zulasten der Beschäftigten und der
Ärmsten in unserer Gesellschaft.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nehmen Sie das zurück, Frau Kollegin! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da hat die Kollegin völlig recht!)


Wir unterstützen zwar nicht alle, aber etliche Forde-
rungen in diesem Antrag, und zwar ohne Wenn und
Aber.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wir brauchen eine Regulierung in der Leiharbeit, Ände-
rungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz, Erleichterun-
gen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifver-
trägen und ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften.
Wir brauchen insbesondere – das steht nicht im Antrag
der Linken – eine Reform bei den Minijobs. Davon wür-
den vor allem Frauen profitieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wollen Sie sie abschaffen, Frau Müller-Gemmeke?)


Wir fordern auch eine Grundsicherung, die gesellschaft-
liche, kulturelle und politische Teilhabe ermöglicht.
Dazu gehört auch unser Antrag, in dem wir ein Sank-
tionsmoratorium fordern.

Der zentrale und wichtigste Punkt ist aber ein gesetz-
licher Mindestlohn. Ich wünsche mir noch immer, dass
wir, die Opposition, dabei an einem Strang ziehen. Das
entscheidende Thema ist momentan nicht die Höhe des
Mindestlohns; entscheidend ist, dass überhaupt ein Min-
destlohn eingeführt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Josip Juratovic [SPD] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie viel darf es denn momentan sein?)


– Herr Kolb, wir haben da immer eine sehr klare Mei-
nung.
Ich kann in Richtung der Koalitionsfraktionen nur sa-
gen: Stellen Sie sich endlich ernsthaft dem Thema Min-
destlohn; denn alle Menschen haben das Recht, für ihre
Arbeit gerecht und fair entlohnt zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir begründen höhere Löhne aus der Perspektive der
Beschäftigten. Sie müssen diese Begründung aber nicht
teilen; Mindestlöhne und die konsequente Regulierung
der Leiharbeit könnten auch mit Ihrer wirtschaftspoliti-
schen Programmatik begründet werden, auch mit der
wettbewerbspolitischen Tradition der FDP; denn Dum-
pinglöhne führen zu einer Wettbewerbsverzerrung zulas-
ten der tariftreuen Betriebe, die vom Markt verdrängt
werden, wenn sie faire Löhne zahlen.

Sie haben sich auch den Subventionsabbau auf die
Fahnen geschrieben. Mit Mindestlöhnen und allgemein-
verbindlich erklärten Tariflöhnen über dem Niveau des
Arbeitslosengeldes II wäre endlich Schluss mit der staat-
lichen Subventionierung beispielsweise bei der Leihar-
beit.


(Beifall des Abg. Josip Juratovic [SPD])


Vor allem könnten Sie auch bei der Haushaltskonsolidie-
rung punkten, weil höhere Löhne auch zu höheren Ein-
nahmen führen, die Sozialversicherungen stabilisieren
und die Sozialleistungen mindern. Alles zusammen
würde Ihrer Programmatik voll und ganz entsprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Programmatik hin oder her: Schlussendlich geht es
um Gerechtigkeit. Die Politik darf sich nicht einer alter-
nativen Zwangsläufigkeit eines freien Marktes unterord-
nen. Die Gesellschaft und die Menschen sind nicht aus-
schließlich Teil der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft ist
Teil der Gesellschaft. Daraus ergeben sich Konsequen-
zen für die Politik. In diesem Sinne möchte ich mit ei-
nem Zitat von Margot Käßmann enden:

Die Schwächsten sind der Maßstab für die Gerech-
tigkeit.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709920200

Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1709920300

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die

Fraktion Die Linke legt heute wieder ein Sammelsurium
der bekannten Vorschläge vor, um damit Wahlkampf zu
betreiben; das ist offensichtlich, aber das wird Ihnen





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass die Programm-
punkte, die im Antrag vorgestellt werden, zum einen bei
den Bürgerinnen und Bürgern nicht verfangen und dass
zum anderen ihre Umsetzung für den hiesigen Arbeits-
markt und die Menschen in Deutschland sehr schlecht
wäre.

Es werden immer die falschen Vergleiche gezogen.
Herr Schlecht, Sie haben hier einen sehr langfristigen
Vergleich der Situation im Jahr 2002 mit der jetzigen Si-
tuation angestellt. Sie entwerfen das Bild einer Gesell-
schaft des Jammerns; das trifft in keiner Weise zu. Sie
sollten sich mehr in der Realität bewegen. Es ist festzu-
stellen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern seit langem nicht mehr so gut gegangen ist wie un-
ter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In den vergangenen 18 Monaten ist es noch besser ge-
worden;


(Beifall bei der FDP)


denn die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland – unter
Rot-Grün waren etwa 5 Millionen Arbeitslose zu bekla-
gen – ist auf 3 Millionen gesunken; das heißt, 2 Millio-
nen zuvor arbeitslose Menschen haben eine Arbeit ge-
funden. Das ist letztendlich die Grundlage dafür, ein
eigenständiges Leben zu führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist aber nicht im Sinne der Linken in unserem
Lande. Sie fordern hier, die Zumutbarkeitsregeln, die
Rot-Grün richtigerweise geändert hat – ich möchte das
anerkennen –, aufzubohren, sodass es beispielsweise für
jemanden, der früher als Architekt beschäftigt war, nicht
mehr zumutbar wäre, einen Job als Bauaufseher anzu-
nehmen. Das wird in Ihrem Antrag begründet. Wir sehen
das anders. Wichtig ist, dass jeder eine zumutbare Arbeit
annimmt, weil das letztlich entscheidend dafür ist, am
Arbeitsprozess teilnehmen zu können.

Man wundert sich schon, wenn man an Folgendes
denkt: Ihre Vergangenheit liegt in der PDS und im Sozia-
lismus der DDR. Dort gab es eine disziplinierende
Pflicht, nämlich die Arbeitspflicht, werter Herr Kollege
Schlecht,


(Zuruf von der FDP: Durfte man eigentlich streiken in der DDR?)


und keine sogenannte disziplinierende Wirkung unter
dem Gesichtspunkt: Wenn ich arbeite, habe ich auch
mehr zum Leben. – Das ist nämlich ein gewaltiger Un-
terschied. In der damaligen DDR musste man arbeiten;
trotzdem hat man schlecht verdient. Auch das ist Reali-
tät.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das wollen Sie offensichtlich hiermit erreichen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das hätten die Linken gerne wieder! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Herr Straubinger guckt in die Zukunft!)

Ich bin natürlich auch über Behauptungen verwun-
dert, dass es den Arbeitnehmern nicht besser gehen
würde. Die Lohnsteigerungen in den Jahren 2008, 2009
und 2010 waren moderat, aber die Preissteigerungsrate
lag noch darunter. Somit gab es ein Einkommensplus für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist letzt-
lich entscheidend.

Wir sind aus dem Tal der Tränen, das Rot-Grün mit
der damaligen Politik geschaffen hat und das durch mas-
sive Arbeitslosigkeit in Deutschland gekennzeichnet
war, herausgekommen. Die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer sowie unsere Wirtschaftsbetriebe haben
letztlich aufgrund der Regierungsverantwortung von
CDU/CSU und FDP Kraft geschöpft.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt machen Sie aber auch Wahlkampf! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja richtig dicke! Reden Sie doch mal zum Thema!)


Das wird auch weiterhin so sein. Damit werden die Men-
schen eine richtige Grundlage für Beschäftigung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie uns noch einmal die Debatte von heute
Vormittag zu Gemüte führen. Da hat die versammelte
Linke in diesem Haus aufgrund der schrecklichen Ereig-
nisse in Japan gefordert, sofort aus der Nutzung der
Kernkraft auszusteigen. Auch das bedeutet mehr Ar-
beitslosigkeit in unserem Land, und zwar von gutbezahl-
ten Kräften.


(Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!)


– Natürlich! Die Menschen in den Kraftwerksbetrieben
wollen arbeiten und nicht mit Sozialplänen abgespeist
werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, wie viele Arbeitsplätze bei den erneuerbaren Energien anstehen?)


Das muss man einmal deutlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie nehmen letztlich keine Rücksicht auf die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Linken wollen nur
einen Beitrag zur Deindustrialisierung des Landes leis-
ten.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stehen doch immer auf der Bremse, wenn es um neue Technologien geht!)


Ihre Forderung, dass Siemens keine Kraftwerkstechnik
mehr exportieren solle, stellt nur ein Arbeitsplatzpro-
gramm für die französische, für die amerikanische, für





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

die chinesische, für die japanische Industrie sowie mög-
licherweise für die Exporteure aus Russland dar. Auf de-
ren Technik möchte ich mich nicht verlassen. Da ist es
mir lieber, wenn unser Land funktionierende Sicher-
heitstechnik exportiert


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Lieber deutsche Waffen exportieren!)


und wenn die entsprechenden Arbeitsplätze in unserem
Land gesichert sind, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Um diese Frage geht es auch am Sonntag bei den
Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in Baden-
Württemberg.


(Zuruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Wer für Arbeitsplätze ist, tut gut daran, die CDU zu un-
terstützen.


(Zuruf von der SPD: Das hat Sie wieder 1 Prozent gekostet! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709920400

Die Schlusssequenz wird als Wahlkampfspot geson-

dert gesendet.


(Heiterkeit)


Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Kober
für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1709920500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Schlecht, Sie haben Ihre Rede mit der
Aussage begonnen, Deutschland habe ein zentrales Pro-
blem. Dem möchte ich entgegenhalten: Deutschland hat
vor allen Dingen einen zentralen Vorteil, eine zentrale
Kraft mit einer zentralen Idee: Das ist die Politik der
christlich-liberalen Koalition. So erfolgreich ist bisher
noch keine Koalition in diesem Land gewesen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Eine phänomenale Rede! – Weiterer Zuruf von der SPD: Was für ein toller Einstieg!)


In die Regierungszeit dieser Bundesregierung fiel die
geringste Arbeitslosigkeit seit 1991. Sie werden anmer-
ken, das sei nicht allein die Tat dieser Regierung. Völlig
richtig: Das ist die Tat vieler Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer sowie vieler innovations- und investitions-
freudiger Unternehmer.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ganz genau!)


Es müsste Ihnen doch zu denken geben, dass diejenigen
Länder am erfolgreichsten sind, und zwar insbesondere
hinsichtlich Arbeitsplätze, Wohlstand und Kaufkraft,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo wer regiert?)


in denen Schwarz-Gelb am längsten zusammen regiert
und in denen seit langer Zeit eine christlich-liberale Poli-
tik gemacht wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ganz genau! – Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD])


Das ist beispielsweise in Baden-Württemberg der Fall.
Die durchschnittliche Kaufkraft in Baden-Württemberg
liegt 7 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Dafür gibt
es einen Grund. Das fällt nicht vom Himmel.

Wir müssen die Voraussetzungen für Investitionen
schaffen. Wir müssen das für Investitionen notwendige
Vertrauen aufbauen, und wir müssen in die Bildung in-
vestieren. Deswegen ist es ein Kernanliegen dieser Bun-
desregierung, die Bildungsausgaben des Bundes zu er-
höhen. Sie sollen bis zum Jahr 2013 um 12 Milliarden
Euro erhöht werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Keine Schulexperimente in Baden-Württemberg! – Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD])


In Baden-Württemberg hatten wir schon im Jahr 2006
die höchsten Bildungsausgaben eines westdeutschen
Flächenlandes: 5 000 Euro pro Kind. Wir haben im Rah-
men einer Bildungs- und Qualitätsoffensive weitere
528 Millionen Euro investiert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut! Das muss auch so bleiben!)


Ich kann Ihnen sagen: Das ist die richtige Politik.
Diese Politik hilft den Menschen. Sie sorgt dafür, dass
die Menschen aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt
erwirtschaften und auf eigenen Beinen stehen können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Da die Schwächsten in dieser Gesellschaft angespro-
chen wurden, möchte ich sagen, dass diese Bundesregie-
rung dafür gesorgt hat, dass wir in Bildung und bessere
Teilhabechancen von jungen Menschen investieren.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben bei den Schwächsten in der Gesellschaft gespart!)


Gerade die Schwächsten der Gesellschaft profitieren da-
von. Wir haben das Bildungspaket auf den Weg gebracht
und unterstützen damit die Menschen, die Sie vergessen
haben. Wir bringen 740 Millionen Euro auf, um gerade
die Kinder von Langzeitarbeitslosen, von Wohngeld-
empfängern und Empfängern des Kinderzuschlags zu
unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


All das ist Ausweis einer verantwortungsvollen Poli-
tik,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die muss auch fortgesetzt werden!)


die Wohlstand und Teilhabechancen für die Menschen
schafft.





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709920600

Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Peter

Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709920700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft ge-
hören in der Tat gute Löhne für gute Arbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! – Zurufe von der LINKEN: Bravo!)


In einer sozialen Marktwirtschaft werden die Löhne des-
wegen in freier Verhandlung zwischen Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbänden festgelegt, geschützt durch
die Tarifautonomie, die in unserem Grundgesetz festge-
schrieben ist. Es gibt keinen besseren Weg zu guten Löh-
nen als den über die Tarifautonomie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir die vergangenen drei Jahre betrachten, in
denen die Bundesrepublik Deutschland die schwerste
Wirtschaftskrise seit ihrem Bestehen durchgemacht hat,
müssen wir feststellen, dass die Tarifpartner, also die Ge-
werkschaften und die Arbeitgeberverbände, in hohem
Maße verantwortlich gehandelt haben. Sie haben bei-
spielsweise in der Krise Tarifverträge abgeschlossen, in
denen die Beschäftigungssicherung an Nummer eins
stand und damit Vorrang hatte, während man bei den
Lohnforderungen sehr bescheiden war.

Auf der anderen Seite gilt: Jetzt, in Zeiten des wirt-
schaftlichen Aufschwungs, muss es auch möglich sein,
entsprechende Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer zu realisieren. Genau das haben
der Bundeswirtschaftsminister und die Bundeskanzlerin
gesagt. Sie haben recht damit. Die Tarifautonomie hat
uns geholfen, aus der Krise herauszukommen. Jetzt hilft
sie, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am
Aufschwung teilhaben können. Das ist richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Und es funktioniert schon!)


Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, die Tarifauto-
nomie in Deutschland schlechtzureden. Im Gegenteil:
Sie hat sich bewährt, sie ist erfolgreich, und sie wird
auch in Zukunft erfolgreich sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richtig ist aber auch, dass es Bereiche gibt, in denen
sie nicht funktioniert.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Lohndumping passt nun einmal nicht zu sozialer Markt-
wirtschaft.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Deshalb ist in solchen Fällen staatliches Handeln not-
wendig.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir schon immer!)


Das ist der Grund dafür, dass CDU, CSU und FDP in der
Regierung Helmut Kohl unter Federführung von Norbert
Blüm das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffen ha-
ben. Das ist auch der Grund dafür, dass wir in der Gro-
ßen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeits-
bedingungengesetz novelliert haben. Wir wollten Fol-
gendes möglich machen: Dort, wo es notwendig ist, sol-
len branchenbezogene Mindestlöhne vereinbart werden
können.

Jetzt schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wir haben
mittlerweile in acht Branchen Mindestlöhne. Fünf dieser
Mindestlöhne sind unter der Regierung von CDU/CSU
und FDP eingeführt worden.


(Burkhard Lischka [SPD]: Da haben Sie sich aber geziert!)


Nur ein einziger Mindestlohn ist aufgrund des Gesetzes
aus der Regierungszeit der CDU/CSU von Rot-Grün
festgelegt worden.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Welcher war das?)


Die Schlussfolgerung lautet also: Mindestlöhne gibt es
dann, wenn CDU/CSU und FDP regieren, und sie gibt es
praktisch nie, wenn Rot-Grün regiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genauso geht es weiter. Noch heute werden wir hier
im Deutschen Bundestag das Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetz novellieren und damit ermöglichen, dass für die
Zeitarbeit ein Mindestlohn, eine untere Lohngrenze,
festgelegt werden kann. Heute ist also ein Tag, an dem
wir die Grundlage für einen weiteren Mindestlohn, näm-
lich in der Zeitarbeit, schaffen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber nicht freiwillig!)


Am vergangenen Freitag hat der Gemeinsame Tarif-
ausschuss einen Mindestlohn für das Wach- und Sicher-
heitsgewerbe festgelegt. Jetzt ist der Weg frei, dass auch
dieser Mindestlohn durch die Bundesministerin für Ar-
beit und Soziales per Rechtsverordnung festgelegt wer-
den kann.

Ich wiederhole: Es ist notwendig, dass der Staat dort,
wo die Tariffindung nicht mehr funktioniert, hilft und
Lohndumping entgegenwirkt. Wir handeln, indem wir
branchenbezogene Mindestlöhne einführen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das hat aber lange gedauert, Herr Kollege!)






Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Diese Mindestlöhne sind zum größten Teil in Zeiten, in
denen CDU/CSU und FDP regiert haben, festgelegt wor-
den, bzw. sie werden jetzt neu festgelegt. Damit ist ei-
gentlich klar, wer entgegen aller Verdächtigungen und
aller Polemik der eigentliche Begründer von Mindest-
löhnen in Deutschland ist, nämlich die christlich-liberale
Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD und der LINKEN)


Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass
diese Debatte offensichtlich wegen der Wahlen am kom-
menden Sonntag in Rheinland-Pfalz und Baden-
Württemberg beantragt worden ist.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709920800

Herr Kollege Weiß, ich muss Sie darauf aufmerksam

machen, dass Sie wegen der zu Ende gegangenen Rede-
zeit zu den Wahlen in Baden-Württemberg und Rhein-
land-Pfalz leider nichts Sachdienliches mehr vortragen
können.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709920900

Herr Präsident, es bedarf in der Tat nur noch einer

einzigen Bemerkung. Baden-Württemberg ist mit
5 Prozent Wirtschaftswachstum und der niedrigsten Ar-
beitslosigkeit das Spitzenland in Deutschland. Deswe-
gen haben tüchtige Bürgerinnen und Bürger eine tüch-
tige Regierung aus CDU und FDP verdient, die diesen
Kurs fortsetzt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709921000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4877 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011

(Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 – WehrRÄndG 2011)


– Drucksache 17/4821 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 17/5239 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)

Dr. Hans-Peter Bartels
Elke Hoff
Paul Schäfer (Köln)

Agnes Malczak

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/5243 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde

Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibt es kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas
de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Wehrrechtsände-
rungsgesetz, das heute abschließend beraten wird, setzen
wir die Verpflichtung zum Grundwehrdienst zum 1. Juli
dieses Jahres aus. Zugleich führen wir einen freiwilligen
Wehrdienst ein. Beides sind zentrale Elemente auf dem
Weg zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Ich wieder-
hole: Wir reden nicht nur über die Aussetzung der Wehr-
pflicht, wir reden gleichzeitig über die Einführung eines
neuen freiwilligen Wehrdienstes.

Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leis-
tungsstark, wirksam, international geachtet und im
Bündnis verankert sowie nachhaltig finanzierbar sind.
Unser Land braucht Streitkräfte, die auf die gegenwär-
tige Situation reagieren können und ausreichend vorbe-
reitet und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen
anzupassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist der Grund, warum eine Neuausrichtung der Bun-
deswehr erforderlich ist.

Ich habe bei meinem Amtsantritt – dieser war erst vor
drei Wochen – gesagt, dass ich mir die Zeit nehme, die ich
brauche. Das heißt nicht, dass ich Entscheidungen auf die
lange Bank schiebe oder schieben kann. Bis Juni dieses
Jahres möchte ich die grundlegenden Festlegungen über
die Zahl der Soldaten, über das Fähigkeitsprofil und über
die groben Strukturen der Bundeswehr treffen. Auch die
Entscheidung über das Ministerium und die Entschei-
dung über die zivile Wehrverwaltung gehören dazu. Alle
diese Entscheidungen müssen in einem Zusammenhang
getroffen, in einem Zusammenhang begründet und in ei-
nem Zusammenhang umgesetzt werden. Das habe ich
vor.





Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung


(A) (C)



(D)(B)


Bundesminister Dr. Thomas de Maizière

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Entscheidung, die Verpflichtung zum Grund-
wehrdienst auszusetzen, ist richtig, und sie ist nicht mehr
infrage zu stellen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspoli-
tisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militä-
risch nicht mehr erforderlich.


(Zuruf von der SPD: Na ja!)


Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auch
nicht mehr gewährleistet. Es gibt keinen Weg zurück.
Ich sage das nicht mit Freude. Denn die Aussetzung der
Wehrpflicht heute ist kein Freudenakt. Es ist eine not-
wendige, aber mich nicht fröhlich stimmende Entschei-
dung.

Entscheidend sind heute nicht mehr hohe Zahlen von
Soldaten, sondern professionelle Streitkräfte, die unter
schwierigen und anspruchsvollen Bedingungen rasch
und erfolgreich im Inland und im Ausland im Rahmen
der verfassungsrechtlichen Grundlagen zum Einsatz ge-
bracht werden können.

Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden,
tritt an die Stelle des verpflichtenden Grundwehrdienstes
ein neuer freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten
für junge Frauen und Männer. Weder die verfassungs-
rechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage der
Wehrpflicht werden gänzlich abgeschafft. Nicht zuletzt
ist dies eine Rückversicherung mit Blick auf die sich in
der Zukunft möglicherweise ändernden sicherheitspoliti-
schen Rahmenbedingungen.

Mit dem freiwilligen Wehrdienst verdeutlichen wir
zugleich, dass junge Frauen und Männer Dienst in der
Bundeswehr im Sinne eines staatsbürgerlichen Engage-
ments leisten können, ohne sich gleich länger als Soldat
auf Zeit verpflichten zu müssen. Das ist ganz ohne Frage
ein Einschnitt. Niemand kann Ihnen heute mit Sicherheit
sagen, wie viele Freiwillige am 1. Juli zu uns kommen
werden.

Es gibt viele Spekulationen über die Zahlen; dabei
wird hinsichtlich der Kurzzeitfreiwilligen und Grund-
wehrdienstleistenden viel durcheinandergeworfen. Ich
kann das nicht im Einzelnen bewerten. Ich finde es nicht
verwunderlich, dass es keine klare Auskunft über die
Zahlen gibt; schließlich verabschieden wir erst heute
diesen Gesetzentwurf. Ich werde keine Zahl nennen, wie
viele wohl am 1. Juli den neuen freiwilligen Wehrdienst
antreten werden. Ich freue mich über jede und über je-
den, der kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Frage, ob dieses Gesetz ein Erfolg wird, entschei-
det sich erst im Laufe der Jahre, nicht im ersten Quartal
dieses Jahres.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich halte es für selbstverständlich, dass gesetzgeberische
Entscheidungen – auch diese – auf ihre Praktikabilität
und gesellschaftliche Akzeptanz überprüft werden. Ich
schlage Ihnen deshalb vor, dass wir schon nach dem ers-
ten Jahr eine Evaluierung dieses Gesetzes und des frei-
willigen Wehrdienstes durchführen. Dazu werde ich dem
Deutschen Bundestag gern einen Bericht vorlegen. Dann
können wir sehen, welche Erfahrungen wir damit ge-
macht haben und wo wir im Einzelnen nachsteuern müs-
sen.

Meine Damen und Herren, wir setzen natürlich ver-
stärkt auf Nachwuchswerbung. Wir müssen sicherstel-
len, dass wir die Besten und die Fähigsten für den neuen
freiwilligen Wehrdienst gewinnen, und zwar solche
Frauen und Männer, die als Soldaten auch eine ethische
Verpflichtung empfinden; ich komme gleich darauf zu-
rück.

Deswegen – aber nicht nur deswegen – auch ein Wort
an die jungen Frauen. Bisher haben wir um junge Frauen
als länger dienende Zeitsoldaten geworben, nicht als
Grundwehrdienstleistende. Das wird sich jetzt ändern.
Es ist nicht nur aus Gründen der Demografie und eines
Ergänzungsbedarfs, sondern es liegt auch im Sinne der
Streitkräfte, dass wir mit dieser tollen Generation junger
Frauen so umgehen und um sie so werben, dass wir viele
von ihnen für die Streitkräfte gewinnen. Ich würde mich
freuen, wenn Sie alle dabei mithelfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der deutlich verbesserte Wehrsold für den freiwilli-
gen Wehrdienst und die Verpflichtungsprämien für Sol-
daten auf Zeit senden starke Signale. Ich freue mich sehr
über den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen,
der vorsieht, dass man bestimmte Zahlungen wegen der
längeren Beratungsfrist des Bundesrates schon vor In-
krafttreten des Gesetzes leisten kann. Das wäre für uns
eine gute Grundlage, um kurzfristig zu handeln.

Wir streben bessere Unterbringungsstandards für
Mannschaften und nach Möglichkeit heimatnahe Ver-
wendungen an. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Fort-
geltung der Steuerfreiheit der Geld- und Sachbezüge, der
kostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungen
des Arbeitsplatzschutzgesetzes, all das sind weitere Ele-
mente einer attraktiven Ausgestaltung des freiwilligen
Wehrdienstes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Darüber hinaus wollen wir im Rahmen der Berufsför-
derung die Möglichkeiten der Teilnahme an Aus-, Wei-
ter- und Fortbildungsmaßnahmen erweitern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen
Satz aus dem Entschließungsantrag der SPD vortragen,
den ich mir gerne zu eigen machen möchte – ich zitie-
re –:

Wer freiwillig Wehrdienst leistet, muss besser ge-
stellt werden als derjenige, der keinen Freiwilligen-
dienst versieht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung


(A) (C)



(D)(B)


Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Damit bin ich voll einverstanden. Ich werde Sie daran
erinnern. Wenn wir mit SPD-Wissenschaftsministern
über Wartezeiten und Ähnliches reden, dann hoffe ich
auf Ihre Unterstützung.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


– Vielen Dank.

Nur wenn wir den Dienst attraktiv ausgestalten, si-
chern wir die personelle Einsatzbereitschaft der Bundes-
wehr. Das alles ist notwendig und unverzichtbar. Aber
– das soll im Rahmen dieser Rede mein letzter Gedanke
sein – neben den rein materiellen Maßnahmen zur Steige-
rung der Attraktivität darf ein Aspekt nicht vernachlässigt
werden: Jeder, der sich für einen Dienst in den Streitkräf-
ten entscheidet, ob als freiwillig Wehrdienstleistender
bzw. als Berufs- oder als Zeitsoldat, muss Anerkennung
für seinen freiwilligen Dienst erfahren. Wer ausschließ-
lich wegen des Geldes zur Bundeswehr kommt, ist viel-
leicht genau derjenige, den wir nicht haben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ausschließlich mit finanziellen Anreizen und Ver-
günstigungen werden wir den freiwilligen Wehrdienst
nicht lebensfähig erhalten und der Bundeswehr nicht
helfen. Ein Soldat muss sich darauf verlassen können,
dass sein Dienst als das angesehen und geachtet wird,
was er ist: als ein Dienst an unserer Gesellschaft, als ein
ehrenvoller Dienst für unser Land, auf den der Soldat
stolz ist und auf den unser Land stolz ist.

Wenn es gelingt, dafür ein größeres Bewusstsein zu
schaffen – das geht mit keiner Werbekampagne und auch
nicht über Nacht, sondern nur im Rahmen eines Prozes-
ses, den wir in unserer Gesellschaft anstoßen müssen –
und sichtbar zu machen, was Soldaten heute und morgen
für unser Land leisten, dann können wir zuversichtlich
sein, dass auch künftig der Dienst in der Bundeswehr,
auch der freiwillige Wehrdienst in der Bundeswehr, zum
Wohle und Nutzen von uns allen ist. Ich bitte Sie auf die-
sem Weg herzlich um Unterstützung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709921100

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter

Bartels für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1709921200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-

gentlich ist dies ein Thema, bei dem hier im Bundestag
sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten sichtbar werden
können. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass die
bisherige Ausgestaltung der Wehrpflicht nicht mehr halt-
bar ist. Wenn fast die Hälfte eines Jahrgangs als untaug-
lich ausgemustert wird, damit das Verfassungsgebot der
Wehrgerechtigkeit nicht zu eklatant verletzt wird, dann
ist das nicht mehr haltbar und muss geändert werden.
Wenn aus einem Jahrgang von 400 000 jungen Männern
nur noch 50 000 im Jahr zu einem praktikumsartigen
Grundwehrdienst eingezogen werden, dann ist es mit der
allgemeinen Pflicht zum Dienen nicht mehr weit her.

Deshalb haben wir Sozialdemokraten bereits in der
letzten Wahlperiode den Übergang zu einem freiwilligen
Wehrdienst vorgeschlagen. Dass Sie von der Regie-
rungskoalition nun auf diese Idee eingehen, begrüßen
wir ausdrücklich. Unser Konzept orientiert sich an den
positiven Erfahrungen mit den FWDL, den 25 000 frei-
willig länger Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr.
Auch hier sehe ich einen gemeinsamen Ansatz von Re-
gierung und SPD.

Um Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition, nun aber nicht durch zu viele Gemeinsamkeiten
zu irritieren, will ich einiges zu Ihrem Umgang mit dem
Thema Wehrpflicht in den vergangenen Monaten sagen:
Dass Ihr damaliger Verteidigungsminister erst theatra-
lisch beteuern musste, mit ihm sei die Abschaffung der
Wehrpflicht nicht zu machen, um dann Monate später
genau dies in die Wege zu leiten, entbehrt nicht gerade
einer gewissen persönlichen Konsequenz. Das haben wir
bei ihm öfter erlebt; sei es drum. Aber die Verkürzung
der Grundwehrdienstzeit von neun auf sechs Monate,
wie es Ihr Kompromiss im Koalitionsvertrag vorsah, war
nun wirklich eine Veralberung Ihres eigenen sicherheits-
politischen Sachverstandes und eine Veralberung der
Bundeswehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])


W6, das nützt und nutzte niemandem: den Wehr-
pflichtigen nicht, der Truppe nicht, nicht einmal der Ko-
alition.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709921300

Herr Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Koppelin?


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1709921400

Aber gern.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Im Sinne der Vernunft! – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Hat er wieder kein Rederecht?)



Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1709921500

Verehrter Herr Kollege, da Sie die Haltung der Union

angesprochen haben, möchte ich fragen: Wie war es in
Ihrer Partei? Sie waren schließlich in einer Koalition mit
den Grünen. Ich erinnere daran, dass die Grünen, ähnlich
wie die FDP, für die Aussetzung der Wehrpflicht waren.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Die Grünen konnten es nicht durchsetzen. Wir haben es
in dieser Koalition durchgesetzt. Wie war da die Haltung
der Sozialdemokraten? Erinnere ich mich richtig, dass
Ihre Verteidigungsminister gesagt haben: Mit uns ist das
nicht zu machen?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1709921600

Genau. Deshalb sind wir dabei geblieben.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist aber sehr konsequent! – Zuruf von der SPD: Qualität setzt sich eben durch!)


– Ja, das hätte eine Frage an die Grünen sein können.
Wir hatten kein Problem damit, dass wir als Befürworter
der Wehrpflicht in der Koalition mit den Grünen bei der
Wehrpflicht geblieben sind. In der letzten Wahlperiode
hätte es die Möglichkeit gegeben, mit der Union zu et-
was Neuem zu kommen. Das ist offenbar nur unter Ih-
rem Einfluss möglich gewesen.


(Lachen bei der FDP – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Mit den Grünen nicht, aber mit der Union! Das soll mal einer verstehen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt werfen Sie der Union einen Zickzackkurs vor! Das ist abenteuerlich!)


W6 war ein Kompromiss, der eigentlich eine Win-
win-Situation hätte werden sollen. Wenn man Kompro-
misse eingeht, sollten eigentlich beide Seiten gewinnen.
In diesem Fall haben beide verloren.

Wir Sozialdemokraten werden Ihrem Wehrrechtsän-
derungsgesetz heute nicht zustimmen, weil die Rahmen-
bedingungen noch völlig unklar sind.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Was?)


Wir kennen die Struktur der künftigen Bundeswehr
nicht. Was sollen die Freiwilligen dort tun? Wir kennen
das notwendige Programm zur Steigerung der Attraktivi-
tät nicht. Das wird Geld kosten. Wird der Freiwilligen-
dienst daran scheitern? Wir wissen nicht, wie Sie künftig
für diesen und für die anderen Freiwilligendienste wer-
ben wollen. Wollen Sie das überhaupt? Von nichts
kommt nichts. Schauen Sie sich einmal Ihre ersten Frei-
willigenzahlen an. Das ist niederschmetternd. Der Minis-
ter sprach heute von einer Evaluation, mithilfe derer
nach dem ersten Jahr geschaut werden soll, ob das alles
überhaupt funktioniert. Im Hinblick darauf stelle ich
fest: Ihr Wehrrechtsänderungsgesetz ist ein weiteres Ex-
periment mit der Wehrpflicht mit dem Ziel der Abschaf-
fung. Ich bin etwas unsicher, ob das mit den Koalitions-
fraktionen so vereinbart war. Wir haben das bisher an
keiner Stelle so gehört.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Kraut und Rüben! – Elke Hoff [FDP]: Unfug!)


Ein Wehrrechtsänderungsgesetz für ein Jahr: herzlichen
Glückwunsch!

Was uns als Opposition heute am meisten irritiert hat,
ist der völlig wurschtige Umgang der Regierung mit gel-
tenden Gesetzen. Ich hoffe, wir sind uns hier im Parla-
ment einig, dass die Wehrpflicht noch gilt. Etwas Neues
gilt erst dann, wenn wir hier im Deutschen Bundestag
ein neues Gesetz beschlossen haben; darüber reden wir
gerade. Aber Ihr fabelhafter Minister a. D. hat die Re-
form einfach vorgezogen – ganz ohne gesetzliche Grund-
lage.
Ich lese Ihnen vor, was die Kreiswehrersatzämter in
den ersten Tagen dieses Jahres 160 000 wehrpflichtigen
jungen Männern per Brief mitgeteilt haben:

Die Bundesregierung hat beschlossen, ab dem
1. Juli 2011 die Einberufung zum Grundwehrdienst
auszusetzen.

Und weiter:

Im Vorgriff auf die geplante gesetzliche Regelung
besteht (…) die Möglichkeit, ab dem 1. März 2011

– das war schon –

freiwilligen Wehrdienst zu leisten.

Ich frage Sie, Herr Minister de Maizière: Wozu bera-
ten wir hier eigentlich noch einen Gesetzentwurf, wenn
die Regierung der Auffassung ist, es gehe auch ohne?


(Christoph Schnurr [FDP]: Weil wir das Parlament sind!)


Wieso machen Sie als Koalitionsfraktionen sich noch die
Mühe, Änderungsanträge zum Gesetzentwurf der Regie-
rung einzubringen? Die Regierung bewegt sich bei ih-
rem Umgang mit dem Parlament hart am Rande der
Rechtsstaatlichkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das erleben wir bei der Wehrpflicht und genauso bei der
Rücknahme der von Ihnen durchgesetzten gesetzlichen
Regelungen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraft-
werke. Es erfolgt einfach eine Rücknahme per Presse-
konferenz.

Sie sollten ernsthaft zur verfassungsmäßigen Praxis
zurückkehren. Gesetze verpflichten die Exekutive. Ge-
setze ernst zu nehmen, ist keine freiwillige Leistung der
Regierung, sondern ihre Pflicht – auch beim Übergang
zum freiwilligen Wehrdienst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Reform des Wehrrechts findet nicht isoliert statt,
sondern sie ist Teil einer weiteren Verkleinerung der
Bundeswehr, um Geld zu sparen. Das Prinzip, auch beim
Militär sparsam zu haushalten, gehört wohl zu den Ge-
meinsamkeiten hier im Parlament.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ehrlich?)


Es waren christdemokratische und sozialdemokratische
Verteidigungsminister, die unsere Bundeswehr nach dem
Ende des Kalten Krieges umgebaut und ihren Umfang
von über 600 000 Soldaten bei der Vereinigung auf heute
250 000 reduziert haben. Seit vielen Jahren ist die Bun-
deswehr eine Armee im Einsatz. Sie hat sich bewährt,
und sie bewährt sich heute – auch in schwierigen Missio-
nen.

Gerade in der heutigen Lage sollten wir mit beliebig
anmutenden Sparvorgaben aber vorsichtig sein. Wir wis-
sen nicht, was die nächsten Jahre bringen. Wer hätte vor
drei Monaten mit dieser Freiheitsbewegung in der arabi-
schen Welt gerechnet? Wer war 2001 auf den 11. Sep-





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)

tember vorbereitet? Wie lange im Voraus wussten wir,
wann der Kalte Krieg zu Ende geht? Was zeigen die ak-
tuellen Katastrophen in Japan mit Blick auf unsere Fä-
higkeit, schnell große Personalkörper für den Katastro-
phenschutz zu mobilisieren?

Ich will nicht Kassandra spielen,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, Sie sind auch keine Frau!)


aber, Herr Minister de Maizière, lassen Sie uns vorsich-
tig dabei sein, Fähigkeiten allzu leichtfertig aus der
Hand zu geben. Es kann einen raschen politischen Wan-
del geben – zum Guten und zum weniger Guten. Wir
sollten deshalb nicht allzu schnell in die Lage kommen,
sagen zu müssen: Die Bundeswehr kann das nicht mehr.
Herr Schockenhoff hat in dieser Woche die Libyen-Poli-
tik des Außenministers damit begründet. Das ist nicht
gut, und das stimmt in der gegenwärtigen Lage übrigens
auch nicht. Deshalb wäre es besser, wenn wir uns einig
wären, dass es keine Bundeswehrreform nach Kassen-
lage geben darf.

Der ausgeplante Umfang von 185 000 Soldaten muss
jetzt stehen. Zerschlagen Sie nicht diese Minimalstruk-
tur!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Es muss struktursicher sein, dass 15 000 Soldaten frei-
willige Wehrdienstleistende sind; das darf keine variable
Größe sein, die in den Haushaltslöchern der Zukunft ver-
schwindet.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie uns bitte so viel Gemeinsamkeit herstel-
len, dass nicht jede neue Regierung eine neue Bundes-
wehrreform anfangen muss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Sie kommen so schnell nicht in Versuchung!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709921700

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Erdel für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Erdel (FDP):
Rede ID: ID1709921800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich danke dem Bundesverteidigungsminister
für seine klaren Worte heute an uns alle; denn er hat da-
mit einen ganz klaren Weg und ein ganz klares Ziel vor-
gezeichnet. Er hat uns mitgeteilt, wie er sich vorstellt,
diese Strukturreform anzugehen. Das heißt, er schießt
nicht aus der Hüfte. So ähnlich kommen mir aber Ihre
Vorschläge vor, Herr Kollege Bartels. Nein, es gibt ein
klares Konzept, einen klaren Masterplan dafür, wie diese
Strukturreform stattfinden soll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit diesem Gesetzentwurf geben wir den Startschuss
für die vielleicht umfassendste Strukturreform, die diese
Bundeswehr bisher erlebt hat, indem wir die Wehrpflicht
jetzt aussetzen. Dadurch wird uns aber auch die Mög-
lichkeit eröffnet, künftig Reservisten einzuziehen und im
Falle eines Falles auch eine Rekonstitution zu vollzie-
hen.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle, den Millionen von
Wehrpflichtigen meinen Dank auszudrücken, die in den
letzten 56 Jahren Dienst für Deutschland und in der si-
cherheitspolitischen Lagebeurteilung der frühen Jahr-
zehnte auch einen wichtigen Dienst für die Sicherheit
Europas geleistet haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte mich aber auch bei den vielen Freiwilli-
gen bedanken. Denn wenn wir wie heute über die Aus-
setzung der Wehrpflicht diskutieren, dann erwecken wir
immer den Eindruck, als würde die Bundeswehr nur aus
Wehrpflichtigen bestehen. 190 000 Soldaten der Bundes-
wehr sind Zeit- und Berufssoldaten. Auch das müssen
wir berücksichtigen.

Seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ein Prozess hin
zu einer Professionalisierung ab. Die Waffensysteme
und Verfahren werden komplexer und machen eine län-
gere Stehzeit notwendig. Deswegen und auch vor dem
Hintergrund einer ständigen sicherheitspolitischen Lage-
beurteilung ist es notwendig, die Bundeswehr zu profes-
sionalisieren, und den finalen Schritt zur Professionali-
sierung gehen wir mit dem Aussetzen der Wehrpflicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In den vergangenen Jahrzehnten war es einfach, die
sicherheitspolitische Lage Deutschlands zu beurteilen.
Wir lebten in schwierigen Zeiten. Eine undurchdringbare
Grenze zog sich mitten durch unser Land, und es gab
zwei Blöcke.

Jetzt zeigt sich, dass die Volatilität in der politischen
Lagebeurteilung zunimmt. Ich will nur ein Beispiel nen-
nen. Die Frauen und Männer, die Ende der 40er-Jahre
unser Grundgesetz verfasst haben, haben sich sicherlich
nicht vorstellen können, dass wir uns im Jahr 2010 mit
Piraterie beschäftigen müssen, ein Phänomen, das in den
letzten zehn Jahren aufgetaucht ist und uns auch sicher-
heitspolitisch beschäftigt.

Wenn wir nur noch 17 Prozent eines Jahrgangs unse-
rer jungen Männer als Wehrpflichtige zur Bundeswehr
holen, dann kann nicht mehr von Gerechtigkeit gegen-
über diesen jungen Männern gesprochen werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder
die Gefahr beschworen, dass ein Staat im Staat entsteht.
Ich sehe diese Gefahr nicht.


(Zuruf von der LINKEN: Doch!)






Rainer Erdel


(A) (C)



(D)(B)

Unsere Zeit- und Berufssoldaten sind bereits jetzt inte-
graler Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie genießen ho-
hes Ansehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie tragen Verantwortung in Vereinen und Kirchen und
sind kommunalpolitische Mandatsträger. Auch unter uns
sind einige Berufssoldaten, die sich politisch engagieren.
Deswegen ist dieser Vorwurf absurd und eine Unver-
schämtheit gegenüber unseren Zeit- und Berufssoldaten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
freue mich, dass wir im Gegensatz zu der Diskussion
von vor vier Wochen heute eine sehr sachliche Diskus-
sion führen. Gehen Sie diesen Weg mit! Denn im We-
sentlichen sehe ich bei allen Ihren Vorschlägen ein ge-
meinsames Ziel: die Bundeswehr zu reformieren. Gehen
wir es an!

Abschließend wünsche ich Ihnen, Herr Minister, viel
Tatkraft für das klare Konzept, das Sie geschildert ha-
ben. Die Unterstützung der FDP-Fraktion ist Ihnen dabei
sicher.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709921900

Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709922000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass ab

Juli die Wehrpflicht für die jungen Männer ausgesetzt
wird, ist, finde ich, durchaus ein Grund zur Freude, Herr
Minister. Keine Wehrüberwachung, Gewissenserklärung
und ungewollte Zäsuren der Lebensplanungen mehr: Das
ist durchaus gut, vor allem für die Betroffenen oder po-
tenziell Betroffenen.

Die Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass Sie
diesen Schritt nur halbherzig und inkonsequent gehen.
Spätestens seit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation
ist die sicherheitspolitische Begründung für den Pflicht-
dienst an der Waffe entfallen. Wenn man sagt, dass es
auf absehbare Zeit keine konkrete militärische Bedro-
hung gibt, wäre es konsequent gewesen, die Wehrpflicht
nicht nur auszusetzen, mit der Option, dies schnell wie-
der rückgängig machen zu können, sondern sie abzu-
schaffen. Daran halten wir fest.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Nächstes Jahr!)


Zu dieser Zäsur hat sich die Regierung leider nicht
durchringen können, weil Sie offensichtlich von der
Sorge getrieben sind, ob Sie noch genug junge Leute für
die Truppe bekommen. Daher führen Sie jetzt im Rah-
men des – auch das ist interessant – Wehrpflichtgesetzes
eine neue Statusgruppe ein, die sogenannten freiwillig
Wehrdienstleistenden.

Sie suggerieren dabei, es handele sich um einen Frei-
willigendienst wie andere auch. Es gibt dann aber offen-
sichtlich zwei Arten von Freiwilligen: einerseits die
Idealisten, die im Freiwilligen Sozialen Jahr engagiert
sind, und andererseits die freiwillig Wehrdienstleisten-
den, die de facto doch berufstätig sind und für die man
einen materiellen Anreiz schaffen muss.

Das führt dazu, dass diejenigen, die beispielsweise
ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, mit einem
Drittel der Summe derjenigen nach Hause gehen, die den
neuen Wehrdienst leisten. Es handelt sich exakt um die
Differenz zwischen 400 Euro und 1 200 Euro. Das fin-
den wir nicht nur ungerecht, sondern das finden wir in-
akzeptabel. Da gehen wir nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Andererseits nehmen Sie eine scharfe Differenzierung
zwischen den Quasisoldaten und den Soldaten auf Zeit
vor. Gegenüber Letzteren sind die neuen freiwillig
Wehrdienstleistenden nämlich benachteiligt. Diese Dis-
kriminierung erklärt sich ganz einfach daraus, dass man
bei den Mannschaftsdienstgraden weiter sparen will und
froh ist, Leute zu haben, die für kleines Geld arbeiten,
die man aber dennoch in die Auslandseinsätze schicken
kann. Denn spätestens nach zwölf Monaten – so steht es
in Ihrem Gesetzentwurf – muss man eine Verpflich-
tungserklärung unterschreiben, dass man bereit ist, in
Auslandseinsätze zu gehen. Auch das gefällt uns ganz
und gar nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Es scheint im Übrigen noch gar nicht klar zu sein, wie
viele Nachwuchssoldaten gebraucht werden. Der Gene-
ralinspekteur hielt im letzten Sommer 7 500 für ausrei-
chend, der Exminister zu Guttenberg auch. Jetzt sind wir
bei 15 000. Die Zahl hängt natürlich vom Gesamtum-
fang der Streitkräfte ab. Auch dieser ist nicht festgelegt,
ist unklar. Das zeigt, wie konfus Ihr Herangehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch andere Einzelheiten des Gesetzes sind unver-
daulich. Ich nenne nur zwei Beispiele. Die Meldestellen
müssen unaufgefordert die Daten aller Jungen und Mäd-
chen an die Bundeswehr schicken. Das ist mit den Da-
tenschutzbestimmungen nicht in Einklang zu bringen,
und das ist eine nicht zu vertretende Privilegierung der
Bundeswehr gegenüber anderen Arbeitgebern.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem fehlt in dem Gesetzentwurf eine klare Vor-
gabe, dass Minderjährige nicht angeworben werden sol-
len. Die UN-Vereinbarungen zu Kinderrechten und Kin-
dersoldaten sehen einen anderen Umgang vor.

Auch diese beiden Punkte sind für uns maßgebliche
Gründe, weshalb wir nicht zustimmen werden.





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Bundeswehr raus aus der Schule!)


Sie legen einen Gesetzentwurf vor, der mit heißer Na-
del gestrickt und in vielerlei Hinsicht misslungen ist.
Das hat den einen Grund, dass die öffentlichen Kassen
wegen Ihrer Bankenrettung klamm sind, Sie aber zu-
gleich eine Effizienzsteigerung bei der Einsatzarmee
wollen, die Geld kostet. Nur deshalb hat insbesondere
Ihr Vorgänger, Herr de Maizière, die Aussetzung der
Wehrpflicht vorangetrieben, und nur deshalb gibt es
diese Eile.

Dabei ist ein Murksgesetz herausgekommen, und
Murksgesetzen stimmen wir nicht zu.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluss ein paar
grundsätzliche Anmerkungen: Manche sagen, der Weg-
fall der Wehrpflicht verändere das innere Gefüge der
Streitkräfte und ihre Stellung in der Gesellschaft erheb-
lich. An dieser These könnte etwas dran sein. Wenn die
alte Klammer von Staatsbürger, Landesverteidigung und
Wehrform, die eigentlich schon länger nicht mehr exis-
tiert, jetzt vollends aufgelöst wird, dann könnte das mit
einem beträchtlichen Risiko verbunden sein.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Mit was für einem?)


– Das wird doch durchaus diskutiert. Davor können Sie
doch nicht die Augen verschließen. Die Gefahr, dass wir
es irgendwann mit einer professionalisierten Kaste von
mobilen Einsatzsoldaten zu tun haben werden, für die
sich die Gesellschaft nicht mehr sonderlich interessiert,
ist doch gegeben. Da muss man gegensteuern. Das ist die
Aufgabe.


(Zuruf der Abg. Elke Hoff [FDP])


Entscheidend dafür ist aber nicht in erster Linie die
Wehrform, sondern das sind der Auftrag der Streitkräfte
und der Stellenwert, den die sogenannte Innere Führung
in der Praxis hat. Dieser Maßstab muss für die Bundes-
wehrreform gelten, die mit diesem Gesetzentwurf auf
den Weg gebracht werden soll.

Herr Minister, diese Reform muss vom Kopf auf die
Füße gestellt werden. Dazu gehört an erster Stelle, zu de-
finieren, wofür wir die Bundeswehr überhaupt noch
brauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU])


Dafür brauchen wir eine gründliche und kritische Be-
standsaufnahme der Auslandseinsätze der vergangenen
20 Jahre. Es ist ein Grundfehler, die Dinge jetzt auf die
Erhöhung der Einsatzeffizienz zu verkürzen. Der Afgha-
nistan-Krieg ist keine Blaupause. Er darf keine Blau-
pause sein. Er ist ein abschreckendes Beispiel. Deshalb
sagt die Linke: Diese Kriegseinsätze wollen wir nicht,
und wir wollen auch keine Reform, die sie effektivieren
soll.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Mehrheit der Bevölkerung will das auch nicht.
Wahrscheinlich wäre es gut, wenn die Menschen zumin-
dest die Möglichkeit hätten, sich direkter an solchen Ent-
scheidungen der Politik zu beteiligen. Darüber sollte
man nachdenken.

Vollends abenteuerlich wird es – wir reden ja über
eine Gesamtreform der Bundeswehr –, wenn Sie jetzt
auch noch über neue Aufträge für die Soldatinnen und
Soldaten nachdenken. Sie sollen jetzt auch noch unser
wirtschaftliches Interesse an billigen Ressourcen und
Rohstoffen durchsetzen. Es muss definitiv klargestellt
werden: Landesverteidigung ja, Wirtschaftskriege nein. –
Basta.


(Beifall bei der LINKEN)


Es bleibt mit Blick auf die Veränderungen der inneren
Verfassung der Bundeswehr richtig, den Staatsbürger in
Uniform mehr in das Zentrum zu rücken. Das war in ei-
nem bestimmten historischen Einschnitt schon einmal
notwendig, nämlich 1969/70, als es darum ging, den
überkommenen Traditionalismus aus der Wehrmacht zu
überwinden. Damals ging es um Modernisierung. In die-
ser Hinsicht ist einiges gelungen, was wir auch klugen
Soldaten verdanken. Einer davon trägt den Namen
Ulrich de Maizière.

Jetzt geht es darum, unter veränderten Umständen den
Anspruch auf größtmögliche Zivilität in den Streitkräf-
ten einzulösen und das Leitbild des Staatsbürgers in Uni-
form zu erneuern und mit Leben zu erfüllen. Das ist bis-
lang nur bruchstückhaft umgesetzt, wenn überhaupt. Das
ist eine Aufgabe, der sich der neue Verteidigungsminis-
ter durchaus energisch stellen sollte.

Das Gesetz, das heute verabschiedet werden soll, ist
ein schlechter Auftakt für die Bundeswehrreform. Die
Minister haben gesagt, sie wollten sich Zeit zum Nach-
denken lassen. Sie sollten über eine Bundeswehr nach-
denken, die bezahlbar ist, die den veränderten sicher-
heitspolitischen Erfordernissen entspricht und die
deshalb nach unserer Überzeugung erheblich kleiner und
defensiv ausgerichtet sein sollte.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709922100

Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709922200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Minister de Maizière, ich wünsche Ihnen für die Aus-
übung Ihres neuen Amtes viel Glück und Erfolg. Ihr
Vorgänger hat Ihnen mit der Bundeswehrreform eine
große Herausforderung vermacht. Allerdings hat er Ih-
nen auch das ganze Chaos vererbt, das er angerichtet hat.
Wenn man sich die Reform als ein Haus vorstellt,
kommt einem das Bild einer Baustelle in den Sinn, auf
der nichts an Ort und Stelle ist. Die Baupläne sind nur
grobe Skizzen, und die Handwerker wissen noch nicht





Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

einmal, wie viele Quadratmeter das Gebäude schließlich
haben soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Verteidigungsminister, Sie müssen sich heute noch
nicht die volle Verantwortung für die bisherigen Fehler
zu eigen machen. Doch Sie und Ihre Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition müssen sich den Vorwurf ge-
fallen lassen, dass sie schon bei der Schaffung des krum-
men und schiefen Rohbaus dabei waren.

In der Expertenanhörung in der vergangenen Woche
wurden nicht nur die zahlreichen Fehler im Wehrrechts-
änderungsgesetz thematisiert. Ein ganz grundlegender
Mangel dieses Reformschritts kam wiederholt zur Spra-
che. Die Bundesregierung hat darauf verzichtet, vor der
Reform über heutige und zukünftige Aufgaben, Fähig-
keiten und Grenzen der Bundeswehr zu sprechen.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das Fundament der Baustelle Bundeswehrreform ist
noch viel zu schwach. Nicht zuletzt wurde in der Anhö-
rung aber auch deutlich, dass etliche Rahmenbedingun-
gen für die Aussetzung der Wehrpflicht noch gar nicht
geklärt sind. Attraktivität des Dienstes, Nachwuchsge-
winnung, Ausbildung und Verwendung der freiwillig
Wehrdienstleistenden sind Stichworte für ungelöste Pro-
bleme. Wir brauchen hier schnell Antworten. Trotzdem
wird mit der Verabschiedung dieses Gesetzes heute ein
notwendiger und historischer Schritt vollzogen.

Wir Grüne haben seit Jahren eine Bundeswehr ohne
Wehrpflicht gefordert, und wir hatten und haben dafür
gute Gründe. Die allgemeine Wehrpflicht war sicher-
heitspolitisch schon lange nicht mehr begründbar. Der
erhebliche Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer
ist nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Doch die Union
und auch die SPD haben viel zu lange an dieser über-
kommenen Wehrform festgehalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP] und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Weniger als die Hälfte aller jungen Männer eines Jahr-
gangs hat zuletzt Wehr- oder Zivildienst geleistet. Die
Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch ungerecht-
fertigt. Sie war auch höchst ungerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Wirklich bitter ist aber, dass Sie so unendlich viel Zeit
und Ressourcen für nichts verplempert haben. Noch im
April 2010 haben wir Grüne im Bundestag einen Antrag
gestellt, in dem wir von der Bundesregierung gefordert
haben, ein schlüssiges, tragfähiges sicherheitspolitisches
Konzept vorzulegen, mit dem die Bundeswehr ihren
Auftrag ohne Rückgriff auf die Wehrpflicht erfüllen
kann. In der namentlichen Abstimmung haben Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, diesen An-
trag abgelehnt. Damals dachte ich, Sie würden krampf-
haft an der Wehrpflicht als Relikt des Kalten Krieges
festhalten. Heute beschleicht mich manchmal der ungute
Verdacht, dass sich Ihre Stimmen vor allem gegen die
Forderung gerichtet haben, ein Konzept zu entwickeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn rund acht Monate später hat das Kabinett die Aus-
setzung der Wehrpflicht beschlossen, ohne Konzept.

Sie haben auch viel Zeit und viele Mittel für die sinn-
lose, wirklich völlig vernunftwidrige Verkürzung des
Wehrdienstes auf sechs Monate verschwendet. Aus fi-
nanziellen Gründen musste die Wehrpflicht dann doch
weichen. Auf einmal fiel auch Ihnen ein, dass die Wehr-
pflicht sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar ist.
Dann musste alles ganz schnell gehen. Heute beraten wir
deshalb über ein unausgegorenes Gesetz. Das zeigen
auch die zahlreichen Korrekturen der Koalitionsfraktio-
nen an dem ersten Entwurf. Diese Änderungen beseiti-
gen zwar einige Fehler, aber viele Kritikpunkte bleiben.

Da wäre zum Beispiel die fehlende Altersgrenze für
den freiwilligen Wehrdienst. Der Entwurf schließt den
Dienst Minderjähriger nicht ausdrücklich aus, auch
wenn bestimmte Grenzen gezogen werden. Deutschland
kämpft international aber gegen den Einsatz und die Re-
krutierung von Kindersoldaten. Wir haben das Zusatz-
protokoll der UN-Kinderrechtskonvention über die Be-
teiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten 2004
ratifiziert. Dieses Engagement ist nur glaubwürdig und
kann nur glaubwürdig sein, wenn wir bei unserer eige-
nen Armee konsequent sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb fordern wir in unserem Änderungsantrag den
Bundestag dazu auf, beim Kampf gegen den Einsatz von
Kindersoldaten in der Bundeswehr Konsequenz zu zei-
gen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709922300

Frau Kollegin, darf der Kollege Koppelin eine Zwi-

schenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709922400

Bitte, gerne.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1709922500

Danke, Frau Kollegin. – Ich habe schon sehr früh, seit

ich im Bundestag bin, die Freiwilligenarmee gefordert.
Wäre es nicht viel besser – man kann manches kritisie-
ren; das billige ich Ihnen zu –, an einem solchen Tag zu-
frieden zu sein – das gilt für Ihre Partei wie für meine –,
dass wir uns endlich durchgesetzt haben, dass wir die
Freiwilligenarmee bekommen und dass die Wehrpflicht
ausgesetzt wird? Das ist doch ein großer Erfolg, bei allen
Schwierigkeiten, die es noch geben wird.

Vielen Dank dafür, dass ich Sie noch etwas fragen
darf. Können Sie in Richtung SPD sagen, wie es damals





Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) (C)



(D)(B)

in Ihrer Koalition war und warum Sie sich nicht durch-
setzen konnten?


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ging sie noch in den Kindergarten!)



Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709922600

Ich weiß, dass in der Weizsäcker-Kommission disku-

tiert wurde, den Wehrdienst auf sechs Monate zu verkür-
zen. Damals fand man das aber unsinnig, sodass man es
nicht getan hat. Glauben Sie mir: Ich würde tausendmal
lieber unter Rot-Grün mit der SPD, die damals leider
noch nicht so weit war, die Aussetzung der Wehrpflicht
beschließen als heute mit Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Christoph Schnurr [FDP]: Ist sie heute so weit?)


Wieder zurück zum Gesetz. Ein weiterer problemati-
scher Punkt ist die Erhebung personenbezogener Daten
der 17-Jährigen bei den Meldebehörden und die Spei-
cherung dieser Daten für ein Jahr. Die massenhafte Da-
tensammlung soll zum Zwecke der Werbung für den
freiwilligen Wehrdienst eingeführt werden. Dieser Ein-
griff in die informationelle Selbstbestimmung minder-
jähriger Frauen und Männer ist unverhältnismäßig. Ich
wundere mich schon sehr, dass die FDP dem zustimmt.
Sonst schreiben Sie sich den Datenschutz doch auch
groß auf Ihre Fahne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Zuruf von der FDP: Zu Recht!)


In dem zweiten Punkt unseres Änderungsantrags – dem
können Sie zustimmen – fordern wir den Verzicht auf
diese Datensammlung.

Der Zeitdruck, die Fehler, das Chaos – auf der Bau-
stelle der Bundeswehrreform wurden die ersten Ele-
mente des neuen Hauses errichtet. Aber nicht nur das
Fundament ist rissig, auch die Wände sind bisher noch
sehr wacklig. Leidtragende dieses Pfuschs am Bau sind
am Ende die Soldatinnen und Soldaten, die zivilen Bun-
deswehrangehörigen und die betroffenen jungen Men-
schen. Herr Minister, wir werden weiterhin sehr kritisch
begleiten, wie es mit der Reform weitergeht, und wir
hoffen, dass Sie als neuer Bauherr systematischer und
gründlicher sind als Ihr Vorgänger. Es müssen dringend
Nachbesserungen zu diesem Gesetz vorgenommen wer-
den. Deshalb freue ich mich auch über die angekündigte
Evaluation. Mit der Zustimmung zu unserem Ände-
rungsantrag könnte der Bundestag heute schon zwei Pro-
bleme abräumen.

Der Abschied von der Wehrpflichtarmee war aber
längst überfällig und ist in der Sache völlig richtig. Da-
rum werden wir diesem Gesetz heute trotzdem zustim-
men.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Viele der Vorschläge, die wir Grünen seit Jahren auf den
Tisch gelegt haben, werden in der Reformdebatte disku-
tiert und begrüßt. Wir haben nicht nur die Abschaffung
der Wehrpflicht, sondern auch eine Verkleinerung der
Armee insgesamt, andere Strukturen und eine andere
Beschaffungspolitik gefordert. Aber wenn die nächsten
Reformschritte genauso stümperhaft erfolgen, können
wir das nicht noch einmal unterstützen. Eine derart man-
gelhafte Ausfertigung und Umsetzung werden wir nicht
noch ein weiteres Mal mittragen, selbst wenn dann die
Vorschläge in der Sache richtig sein mögen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir ohne Sie!)


– Sie können das auch ohne uns Grüne machen. Es mag
Ihnen egal sein, ob Ihre Vorschläge vom Parlament mit-
getragen werden oder nicht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Die Drohung nehmen wir ernst!)


Aber wir halten eine breite parlamentarische Unterstüt-
zung für die Reform der Parlamentsarmee für notwen-
dig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn sie ist eine Voraussetzung für die so oft ange-
mahnte gesellschaftliche Unterstützung. Wir fordern die
Bundesregierung daher eindringlich dazu auf, bei den
weiteren Reformschritten eine größere Sorgfalt an den
Tag zu legen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709922700

Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Gädechens für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1709922800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat hat
die eingeleitete Reform unserer Bundeswehr eine beson-
dere Dimension, weil mit der Aussetzung der allgemei-
nen Wehrpflicht nicht nur eine tiefgreifende Zäsur in un-
seren Streitkräften vorgenommen wird, sondern weil wir
damit auch auf ein Element in unserer Gesellschaft ver-
zichten, das deutlich gemacht hat: Dieser Staat gibt dir
nicht nur etwas, sondern er verlangt auch etwas. Er ver-
langte von gemusterten Männern, dass sie bereit waren,
ihre Wehrpflicht abzuleisten. Das Signal in die Gesell-
schaft war klar und deutlich: Man muss bereit sein, die-
sem Staat zu dienen, ihn notfalls zu verteidigen, damit
nicht nur die Demokratie geschützt wird, sondern auch
die Gesellschaft solidarisch und mit dem notwendigen
Zusammenhalt existieren kann.

Nun gibt es einige Kollegen im Saal, die über ihre ei-
genen Erfahrungen im bisherigen Wehr- oder Zivildienst
berichten könnten. Ich denke, es waren meist wichtige





Ingo Gädechens


(A) (C)



(D)(B)

Erfahrungen und erlebnisreiche Zeiten, die viele hier au-
torisieren, ein fachkundiges Urteil über die bisherige
Form des Wehrdienstes abzugeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bei mir persönlich ist es noch ein wenig anders. Wer
wie ich über Jahrzehnte als Berufssoldat in der Bundes-
wehr gedient hat – als Truppenfachlehrer und Ausbilder,
als Vorgesetzter und Dienststellenleiter –, hat bei jedem
Stellenwechsel besonders auf die neuen Wehrpflichtigen
geblickt und geachtet. In den Jahrzehnten durfte ich eine
große Menge an Erfahrungen mit der Wehrpflicht sam-
meln. Es war stets hochinteressant, zu sehen, wie aus
den jungen Männern, aus den Grundwehrdienstleisten-
den, die oftmals unterschiedliche Bildungsabschlüsse
hatten und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und
Gegenden Deutschlands kamen, echte Kameraden wur-
den. Es waren Männer, denen am Anfang manchmal ein
wenig Rücksichtnahme und Toleranz fehlte und die
Schwierigkeiten hatten, sich in die Kameradschaft einzu-
ordnen. Dennoch wurden die meisten wichtige Leis-
tungsträger, auf die man sich selbst in schwierigsten Si-
tuationen verlassen konnte. Natürlich gab es hin und
wieder auch andere. Trotzdem bleibt resümierend als Er-
gebnis, dass der Wehrdienst für viele Männer oft eine
sehr wichtige Lebenserfahrung war, die ihnen geholfen
hat, als Persönlichkeit zu reifen, um im weiteren Leben
erfolgreich zu sein.

Die Bundeswehr im Bündnis war über Jahrzehnte
nicht nur Garant der äußeren Sicherheit, sondern durch
die Wehrpflicht auch so etwas wie die Schule der Na-
tion. So gesehen oder, besser gesagt, nur so gesehen
müssten wir alles daransetzen, die Wehrpflicht in ihrer
bisherigen Form zu erhalten. Die Welt um uns herum
– wir hörten es bereits – hat sich aber dramatisch verän-
dert. Die Sicherheitslage heute ist eine völlig andere als
vor 25 Jahren. Aus einer reinen Verteidigungsarmee
wurde die Armee der Einheit. Der oftmals steinige Weg
führte weiter bis zu einer Einsatzarmee mit schwierigs-
ten Auslandseinsätzen. Dieser Weg war häufig nicht nur
holprig, sondern zog sich über mehrere Reformen und
Reförmchen über einen längeren Zeitraum hin und hat
unseren Soldatinnen und Soldaten in vielerlei Hinsicht
sehr viel abverlangt.

Viel Zeit hat sich die Politik bei ihren Entscheidungen
genommen, besonders viel unter einem Verteidigungs-
minister Scharping und leider auch unter Peter Struck.
Nun beklagt die Opposition schon wieder, es gehe alles
viel zu schnell. Herr Schäfer sagt, das Gesetz sei mit der
heißen Nadel gestrickt; man hätte viele Dinge lieber pa-
rallel beraten. Im Verteidigungsausschuss beklagte ins-
besondere die SPD, man hätte sich lieber noch ein wenig
mehr Zeit genommen.

Diese Regierungskoalition aber handelt. Sie handelt
mit Bedacht, aber schnell, weil unsere Soldatinnen und
Soldaten reformgebeutelt sind.


(Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Dann ist ja gut!)


Die Bundeswehr braucht und will auch endlich Klarheit.
Sie will endlich Entscheidungen, die zu Planungssicher-
heit führen, zu Sicherheit bei den Dienstposten, Sicher-
heit für das eigene Fortkommen innerhalb oder auch au-
ßerhalb der Bundeswehr bis hin zur Sicherheit bei der
Frage: Welche Standorte bleiben erhalten? Welche ste-
hen zukünftig nicht mehr zur Verfügung?


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch endlich!)


In den vergangenen Jahrzehnten war aufgrund der si-
cherheitspolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht die
richtige Wehrform. Deshalb danke ich meinen Kamera-
dinnen und Kameraden sowie allen Ausbilderinnen und
Ausbildern, die in meist vorbildlicher Weise und unter
Berücksichtigung des Prinzips der Inneren Führung
junge Männer ausgebildet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine gewaltige Zahl: Rund 7,5 Millionen Wehrpflich-
tige haben gelobt, der Bundesrepublik Deutschland treu
zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen
Volkes tapfer zu verteidigen. Dafür möchte ich im Na-
men der CDU/CSU-Fraktion allen ehemaligen und auch
den noch diensttuenden Wehrpflichtigen herzlichen Dank
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute und für die Zukunft brauchen wir eine ange-
passte Form des Dienstes in unserer Bundeswehr, eine
Armee im Einsatz. Was der Einsatz einer Armee wirk-
lich bedeutet, erleben wir besonders schmerzlich in Af-
ghanistan oder auch teilweise auf See im Kampf gegen
Piraterie.

Wir brauchen nicht nur das bestmögliche Gerät und
modernste Ausrüstung, sondern wir brauchen auch ein
Wehrrecht, das Klarheit schafft und die Menschen rekru-
tiert, die sich einer manchmal gefährlichen, aber stets
fordernden Aufgabe stellen wollen.

Hierzu bietet die Koalition in dem vorgelegten Gesetz-
entwurf ein neues angepasstes Angebot, das einen frei-
willigen 12- bis 23-monatigen Wehrdienst vorsieht. Da-
rüber hinaus kann der Weg vom Soldaten auf Zeit zum
Berufssoldaten führen, so wie es ihn bereits heute gibt.

Der bisher vorhandene Werbeeffekt durch die allge-
meine Wehrpflicht wird mit ausgesetzt, geht also verlo-
ren. Deshalb müssen wir zwangsläufig attraktivitätsstei-
gernde Maßnahmen einleiten, die neben Berufsförde-
rung verstärkt Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnah-
men ins Gesamtportfolio aufnehmen. Auch hier reagiert
die Koalition konsequent und bringt ein Maßnahmenpa-
ket zur Steigerung der Attraktivität auf den Weg. Kreis-
wehrersatzämter und Zentren für Nachwuchsgewinnung
müssen schnellstmöglich so aufgestellt werden, dass Ein-
stellungen mit klaren Aussagen und Vorgaben erfolgen
können.

Der Umstrukturierungsprozess hin zur Freiwilligenar-
mee wird all diejenigen, die es gut mit der Bundeswehr
meinen, auch weiterhin fordern. Die Regierungskoali-
tion arbeitet intensiv an der Beantwortung vieler Fragen.
Uns geht es neben einer vernünftigen Struktur um die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerechte Be-





Ingo Gädechens


(A) (C)



(D)(B)

soldung, um eine gute sanitätsärztliche Versorgung, um
Fürsorge und um Verpflegung bis hin zur Einsatzvor-
und -nachsorge.

Meine Damen und Herren, die Wehrpflicht war ein
bedeutendes Element in der damals noch jungen Bun-
desrepublik Deutschland. Sie auszusetzen, fällt vielen
nicht leicht – der Minister sagte es bereits – und hat zu
intensiven, aber auch zielführenden Diskussionen ge-
führt.

Der Bundestag hat gerade in sicherheitspolitischen
Fragen und in Fragen der Bundeswehr nach einem größt-
möglichen Konsens gesucht und ihn auch sehr oft gefun-
den. Ich denke – das richte ich an die Kolleginnen und
Kollegen der SPD –, man sollte dieser Tradition folgen.
Ich bitte um Zustimmung zum Wehrrechtsänderungsge-
setz.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709922900

Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1709923000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aus-
setzung der Wehrpflicht ist ein großer politischer, aber
auch gesellschaftlicher Schritt in Deutschland. Er mar-
kiert das Ende einer langen Tradition.

Die Aussetzung der Wehrpflicht ist richtig. Die Ver-
pflichtung junger Männer zum Grundwehrdienst ist
heute sicherheitspolitisch nicht mehr gerechtfertigt. Mitt-
lerweile besteht hierüber im Parlament Konsens über die
Parteigrenzen hinweg. Ich denke, es ist gut, dass wir uns
im Grundsatz gemeinsam auf diesen Weg machen.


(Rainer Erdel [FDP]: Dann stimmt doch zu!)


Die Aussetzung der Wehrpflicht stellt uns aber auch
vor eine neue, vor eine gravierende Herausforderung.
Eine Institution wie die Bundeswehr, die sich bisher da-
rauf verlassen konnte, einen Großteil des geeigneten
Nachwuchses aus den eigenen Reihen zu rekrutieren,
muss sich nun dem freien Wettbewerb stellen. Jede
Schulabgängerin und jeder Schulabgänger steht vor der
Frage: Wie geht es weiter? In diesem Moment muss die
Bundeswehr eine ernsthafte Alternative sein, eine Alter-
native, die Möglichkeiten bietet und Chancen eröffnet.

Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions-
fraktionen, ich will es Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:
Hier haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht.


(Beifall bei der SPD – Ingo Gädechens [CDU/ CSU]: Doch!)


Sie haben die Wehrpflicht verkürzt, und nun setzen Sie
sie aus – und das alles in einem unwahrscheinlichen
Tempo. Dabei haben Sie es schlichtweg verpasst, die
Bundeswehr attraktiver zu machen und so aufzustellen,
dass sie auf dem freien Markt ausreichend geeigneten
Nachwuchs finden kann.

Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind erst seit wenigen
Wochen im Amt. Sie persönlich können nichts für den
Scherbenhaufen, den man Ihnen hinterlassen hat; andere
nennen es ein „gut bestelltes Haus“. Aber die Zeit
drängt. Wir müssen den Themenkomplex Nachwuchsge-
winnung und Attraktivitätssteigerung jetzt zügig ange-
hen. Sie haben eine enorme Kraftanstrengung vor sich.
Ich will Ihnen ausdrücklich danken für die ersten Ge-
spräche, die die SPD gemeinsam mit Ihnen führen
konnte, und will Ihnen unsere ehrliche Unterstützung an-
bieten, wenn es in den kommenden Wochen darum geht,
das Versäumte nachzuholen und die Attraktivität der
Bundeswehr zu steigern.


(Beifall bei der SPD – Ingo Gädechens [CDU/ CSU]: Was haben wir denn versäumt?)


Es sollte in unser aller Interesse sein, dass wir diese
Reform zustande bekommen. Die Umwandlung der
Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee ist ein zentraler
Pfeiler dieser Reform. Er wird maßgeblich über ihren
Erfolg entscheiden. Die Erhöhung der Attraktivität, die
Intensivierung der Nachwuchsgewinnung und die kon-
zeptionelle Planung, wie wir die besten Hände und die
besten Köpfe in unsere Armee bekommen können, muss
integraler Bestandteil jeglicher Reformbemühungen in
den kommenden Wochen sein. Um es klar zu sagen: Es
kann keine Reform der Bundeswehr ohne eine signifi-
kante Erhöhung der Attraktivität geben.

Herr Minister, Sie haben recht, wenn Sie sagen, die
Steigerung der Attraktivität ist keine reine Frage des
Haushalts. Es geht hier auch um Ansehen, es geht um ge-
sellschaftlichen Stellenwert, und es geht auch um Über-
zeugungen und Idealismus. Aber Attraktivität ist auch
eine monetäre Frage. Deshalb wird es uns nur mit schö-
nen Slogans, mit schönen Bildern und mit Anzeigen-
kampagnen nicht gelingen, ausreichend Nachwuchs für
die Bundeswehr zu gewinnen. Eine Bundeswehrreform,
die getrieben ist vom strategischen Parameter der Haus-
haltskonsolidierung, wird nicht gelingen. Die Abschaf-
fung der Wehrpflicht wird gerade am Anfang – das ha-
ben die Experten bestätigt – nicht kostenneutral sein. Es
muss also darum gehen, neue Anreize zu setzen. Herr
Minister, ich habe die Hoffnung, dass Sie Ihre guten Be-
ziehungen zum Finanzminister im Sinne der Truppe nut-
zen werden.

Bei der Frage der Attraktivität dürfen wir aber nicht
außer Acht lassen, dass sie ebenso wichtig ist für unsere
Soldatinnen und Soldaten, die heute schon als Berufs-
und Zeitsoldaten tätig sind. Sie sind wichtige Multiplika-
toren für die Gewinnung von Nachwuchs. Sie berichten
von ihren Erfahrungen in der Truppe und von der Wert-
schätzung, die ihnen entgegengebracht wird. Lassen Sie
es mich auch an dieser Stelle anmerken: Die weitere
Kürzung des Weihnachtsgeldes war im Übrigen kein
Zeichen der Wertschätzung und auch kein positives Si-
gnal für die Nachwuchsgewinnung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)

Wenn es uns nicht gelingt, bessere Perspektiven zu
schaffen, etwa indem wir Angebote zur Ausbildung,
Weiterbildung und zum Studium erhöhen, indem wir
auch die Bundeswehruniversitäten öffnen, dann wird die
Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns nicht
gelingt, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, etwa
durch ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder
auch durch eine Neuregelung beim Trennungsgeld und
der Umzugskostenvergütung, zu erreichen, dann wird
die Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns
nicht gelingt, Laufbahnen anders zu planen und Beförde-
rungsstaus abzubauen, wird die Bundeswehr nicht at-
traktiver werden.

Ich bin mir sicher, Sie werden genauso wie wir bei
Truppenbesuchen auf diese Punkte angesprochen. Die
Soldaten und Soldatinnen haben sehr konkrete Vorstel-
lungen, wie man den Dienst attraktiver gestalten kann.
Ich finde, an der Stelle sollten wir als Parlamentarier ein-
fach einmal genauer zuhören und die Sorgen und Wün-
sche der Soldaten auch ernst nehmen.

Bei allem haushaltspolitischen Spagat, den wir zu be-
wältigen haben, ist festzuhalten: Soldatinnen und Solda-
ten und auch die Zivilbeschäftigten verdienen unsere be-
sondere Aufmerksamkeit. Gerade die letzten Wochen
haben uns doch gelehrt, wie schnell sich die weltpoliti-
sche Lage verändern kann. Ich hoffe, uns allen ist noch
einmal bewusst geworden, dass es gut ist, zu wissen,
dass wir uns auf eine gut aufgestellte, eine hochmoti-
vierte und gut ausgebildete Bundeswehr in jedem Fall
verlassen können.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Aussetzung der
Wehrpflicht verändert die Bundeswehr maßgeblich. Wir
alle tragen Verantwortung, dass diese Reform gelingt.
Als die Kanzlerin auf der Kommandeurstagung in Dres-
den im letzten Jahr den Soldaten euphorisch zurief, sie
wünsche gemäß dem Motto „No risk, no fun“ viel Spaß
bei der Veränderung, da war ich schon verwundert. Ich
wünsche uns allen in den kommenden Monaten den not-
wendigen Ernst, wenn wir die Herausforderungen, die
vor uns liegen, gemeinsam angehen.

Vielen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Machen Sie doch mit! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Dann können Sie doch mitmachen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709923100

Das Wort hat der Kollege Christoph Schnurr von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1709923200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bartels, Sie sind zu Beginn Ihrer Ausführungen
wieder auf die Frage eingegangen, warum diese Koali-
tion den Wehrdienst von neun Monaten auf sechs Mo-
nate reduziert hat. Ich will Sie gleich am Anfang daran
erinnern, dass wir über diese Frage, diese Entscheidung
und diesen Beschluss der Koalition in diesem Hohen
Hause bereits im Sommer des letzten Jahres mehrfach
ausführlich diskutiert haben, und zwar nicht nur im Ver-
teidigungsausschuss, sondern auch im Plenum. Heute
geht es nicht um die Frage, ob wir einen sechsmonatigen
Wehrdienst haben, sondern um die Entscheidung – und
das ist eine historische Entscheidung –, ob wir die Wehr-
pflicht aussetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Minister hat heute gesprochen. Er hat angekün-
digt, dass er Ende des Jahres eine Evaluierung vorneh-
men möchte und einmal zurückblicken will, wie viele
junge Frauen und Männer denn den Dienst bei der Bun-
deswehr auf freiwilliger Basis aufnehmen möchten. Und
die SPD spricht schon wieder davon, dass die Koali-
tionsfraktionen Experimente auf Kosten der Wehrpflich-
tigen machten!


(Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: So ist es auch!)


– Nein, das ist eben nicht so. Wir wollen zurückblicken.
Es ist doch richtig, dass man auch einmal zurückblickt,
um dann zu sehen, welche weiteren Maßnahmen man
einführen und welche Änderungen man vielleicht vor-
nehmen kann, und zwar nicht im Hinblick auf die Aus-
setzung der Wehrpflicht, sondern in Bezug auf die Stei-
gerung der Attraktivität


(Rainer Arnold [SPD]: Sie haben überhaupt nichts für die Attraktivität getan!)


und das Bekanntmachen des ehrenamtlichen Engage-
ments, um die Kultur des freiwilligen Dienstes in diesem
Land vielleicht weiter zu fördern.

Herr Minister, dabei haben Sie unsere volle Unterstüt-
zung. Ich begrüße diese Ankündigung am heutigen Tage
ausdrücklich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz wird
hier am heutigen Tag nicht nur besprochen und debat-
tiert, sondern auch verabschiedet. Das ist ein historischer
Schritt. Wir entscheiden heute über ein maßgebliches
Momentum im Hinblick auf die Strukturreform, über die
Aussetzung der Wehrpflicht.

Die Wehrpflicht ist ein massiver Eingriff in die
Grundrechte junger Männer. Deshalb muss die Begrün-
dung für diesen Eingriff in die Freiheit junger Menschen
kontinuierlich überprüft werden. Diese Evaluierung
wurde vorgenommen.

Die FDP – das ist bekannt und kein Geheimnis – for-
dert die Aussetzung der Wehrpflicht seit Jahren, und
zwar nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus sicher-
heitspolitischen Erwägungen. Wir brauchen in Zukunft
keine großen Streitkräfte, sondern eine hochprofessio-
nelle, flexible, gut ausgebildete und gut ausgerüstete
Bundeswehr.

Die Union hat intensive Beratungen über diese Frage
angestellt. Die Kollegen der Union – ich zolle ihnen
meinen Respekt – sind zu einem Entschluss gekommen,
der es heute ermöglicht, die Wehrpflicht auszusetzen.





Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)

Die Bundeswehr wird mit diesem Gesetz auf die Frei-
willigkeit und nicht mehr auf die Pflicht setzen. Das hat
selbstverständlich auch für uns als Deutscher Bundestag
Konsequenzen. Natürlich muss die Bundeswehr als Ar-
beitgeber noch attraktiver werden. Die Frage des Maß-
nahmenkatalogs werden wir daher weiter thematisieren
und behandeln. Es sind erste Maßnahmen vorgeschlagen
worden. Diese Maßnahmen sind aber erst der Anfang
und sicherlich nicht das Ende, um die Bundeswehr noch
attraktiver zu gestalten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr, die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Infrastruktur
der Standorte, die Versetzungshäufigkeit, finanzielle An-
reize sowie die Ausbildung und Fortbildungsmaßnah-
men sind weitere Aspekte, die in diesem Zusammenhang
berücksichtigt werden müssen und auch berücksichtigt
werden.

Wir brauchen aber auch eine Kultur der Freiwillig-
keit. Dazu ist vieles gesagt worden. Diese Prozesse soll-
ten und werden wir weiter begleiten.

Zum Schluss möchte ich Ihnen nicht nur empfehlen,
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen,
sondern auch der Grünenfraktion meinen Dank dafür
ausdrücken, dass sie unserem Gesetzentwurf – ein histo-
rischer Schritt in der Bundeswehrreform, aber auch ein
historischer Schritt, wenn man sich die Geschichte der
Bundeswehr ansieht – heute hier zustimmt.


(Zuruf von der LINKEN: Das sind Koalitionsverhandlungen!)


– Das ist keine Koalitionsverhandlung, Frau Kollegin.
Wenn Teile der Opposition der richtigen Entscheidung
der Koalition zustimmen, darf ich sie an dieser Stelle
doch auch einmal loben, glaube ich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Bundeswehr ist gut aufgestellt. In Zukunft wer-
den wir den Weg in die richtige Richtung gehen.

Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709923300

Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1709923400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem heutigen Beschluss wird die allgemeine Wehr-
pflicht nach 55 Jahren ausgesetzt. Es ist ein historischer
Tag in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf der einen
Seite entfällt damit für zukünftige Generationen junger
Männer die Pflicht, einen Wehr- oder Ersatzdienst zu
leisten. Sie gewinnen dadurch Lebenszeit, die sie zum
Beispiel für ihr berufliches Fortkommen einsetzen kön-
nen. Auf der anderen Seite bedeutet der Wegfall für die
Bundeswehr, dass sie sich neu organisieren und vor al-
lem ihre Nachwuchswerbung auf neue Beine stellen
muss.

Von den Befürwortern der Wehrpflicht wurde immer
hochgehalten, dass gerade die Wehrpflicht dafür sorgt,
dass sich die Bundeswehr nicht von der Gesellschaft ab-
koppelt und keine militärische Sonderkultur entsteht,
sondern sich der soziale und weltanschauliche Pluralis-
mus in unserem Land auch in unserer Armee wiederfin-
det. Zentrales Leitbild dafür ist der Staatsbürger in Uni-
form; das gilt weiterhin, dafür braucht man am Ende
keine Wehrpflicht. Aber ohne Wehrpflicht müssen wir
ein noch stärkeres Augenmerk darauf richten.

Wir, der Deutsche Bundestag, entsenden unsere Sol-
daten, unsere Parlamentsarmee in Einsätze auf der gan-
zen Welt. Sie sind dort oftmals schwierigen Konflikt-
situationen ausgesetzt, die im äußersten Fall auch den
Einsatz von Waffengewalt erfordern. Wir müssen uns
dann darauf verlassen können, dass ihr Handeln ethi-
schen Maßstäben genügt und die Soldaten vorbildliche
Botschafter unseres Landes, unserer Demokratie und un-
serer Werteordnung sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, wir stellen diese Anforde-
rungen nicht an andere Freiwilligendienste. Ich betone
das deswegen, weil vonseiten der Opposition immer
wieder gefragt wurde, warum denn der freiwillige Wehr-
dienst bevorzugt behandelt werde und nicht mit anderen
Freiwilligendiensten gleichgestellt sei. Der Dienst an der
Waffe ist eben nicht mit anderen Diensten vergleichbar,
die für unser Land genauso wichtig sind, aber einen fun-
damental anderen Charakter haben.

Bei der Bundeswehr gibt es ein überragendes Inte-
resse daran, dass wir junge Menschen aus allen Schich-
ten der Gesellschaft erreichen und für einen Dienst ge-
winnen. Frau Kollegin Malczak, „erreichen“ heißt in
diesem Zusammenhang auch, dass wir sie anschreiben
können müssen. Deswegen ist es gerechtfertigt, dass die
Werbung für den freiwilligen Wehrdienst einen Sonder-
status hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei den anderen Freiwilligendiensten muss man auch werben!)


– Kollege Gehring, Sie haben jetzt nicht zugehört. Der
Dienst an der Waffe ist eben nicht mit anderen Freiwilli-
gendiensten vergleichbar. Die anderen Freiwilligen-
dienste sind genauso wichtig, aber bei der Bundeswehr
– ich sage es noch einmal, weil es wichtig ist – haben wir
ein Interesse daran, dass sie einen Querschnitt der Be-
völkerung abbildet.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei anderen Freiwilligendiensten auch!)


Dies ist bei anderen Freiwilligendiensten nicht der Fall.





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Zu-
sammenhang von der Steigerung der Attraktivität des
Dienstes sprechen, darf das nicht nur mehr Geld bedeu-
ten. Die finanziellen Aspekte sind wichtig – das gebe ich
zu –; aber es ist mindestens genauso wichtig, dass gerade
wir als Parlamentarier den Soldaten vermitteln, welche
zentrale Rolle wir ihnen als Botschafter unserer Demo-
kratie und unserer Werteordnung beimessen, dass es eine
besondere Ehre ist, unser Land im Ausland vertreten zu
dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben recht: Das vermittelt man nicht mit großen
Anzeigen. Wir müssen vielmehr den Soldaten Wert-
schätzung entgegenbringen, in Debatten wie heute, in öf-
fentlichen Äußerungen und im persönlichen Gespräch.


(Christoph Schnurr [FDP]: Völlig richtig!)


Das ist der zentrale Beitrag, den wir als Parlamentarier
zur Steigerung der Attraktivität und des Ansehens des
Dienstes und damit für die Zukunft der Bundeswehr leis-
ten können und müssen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709923500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung wehrrechtlicher Vorschriften 2011.

Uns liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31
der Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll neh-
men.1)

Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5239, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4821 in
der Ausschussfassung anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab-
stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag von
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5244? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-
trag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen ab-
gelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-
Fraktion und der Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –

1) Anlage 2
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.

Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/5245. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen der SPD und der Linken ange-
nommen.

Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5246. Wer stimmt dafür? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion ist bei Zustimmung der SPD-Fraktion mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5247. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die-
ser Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion bei
Zustimmung der Linken und Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5248. Wer stimmt dafür? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abge-
lehnt.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für die Umsetzung der Gleichstellung von
Sinti und Roma in Deutschland und Europa
– Drucksache 17/5191 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erinnern uns alle noch an die eindringliche und berüh-





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

rende Rede von Zoni Weisz am 27. Januar in diesem
Hause an dieser Stelle. Wir hatten damals zum ersten
Mal einen Vertreter der Sinti und Roma eingeladen, bei
der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zu spre-
chen.

Ich will ihn mit folgendem Appell aus seiner Rede zi-
tieren:

Wir sind doch Europäer und müssen dieselben
Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit glei-
chen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten.

Im Protokoll auf der Homepage des Deutschen Bun-
destages steht, dass Zoni Weisz dies unter Beifall des ge-
samten Plenums gesagt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Frank Heinrich [CDU/ CSU])


Leider ist aus dem gemeinsamen Applaus von damals
kein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen hervorgegan-
gen. Auf die Gründe, warum es dazu nicht kam, will ich
hier jetzt nicht eingehen, weil es um die Sache geht.
Dennoch sage ich: Ich hoffe, dass wir noch eine Chance
in den Beratungen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie können wir den Forderungen an uns, die Zoni
Weisz in seiner Rede formuliert hat, politisch gerecht
werden? Zunächst sicherlich, indem wir die historische
Perspektive betrachten. Wir müssen uns darüber klar
sein, dass Sinti und Roma Teil Europas, Teil Deutsch-
lands sind. Wir müssen daran erinnern, dass sie in der
Geschichte immer wieder Opfer von Verfolgung und
Diskriminierung wurden, was in der Vernichtungspolitik
der Nazis seinen Höhepunkt, seinen Extrempunkt fand.
Etwa eine halbe Million Sinti und Roma sind ihr zum
Opfer gefallen. Daraus erwächst für Deutschland eine
mehr als besondere historische und selbstverständlich
auch moralische Verantwortung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch heute werden Sinti und Roma Opfer aggressiver
Diskriminierung. In diesen Tagen erreichen uns wieder
erschreckende Berichte aus Ungarn, wo die Bürgerwehr
der rechtsextremen Jobbik-Partei über Wochen hinweg
Roma terrorisiert hat. Sie hat ausdrücklich angekündigt,
dass sie dies auch weiterhin tun will. Es heißt sogar: un-
ter Duldung der örtlichen Polizei. Offenbar, so ist zu er-
fahren, plant diese Organisation weitere Aktionen. Zum
Glück gibt es in Ungarn Menschenrechtsorganisationen,
die dagegen protestieren. Auch die Roma selbst haben
zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Trotzdem ist es
offenbar so, dass die Hasstiraden, die den Roma entge-
gengeschleudert werden, in Ungarn von vielen gesell-
schaftlichen Schichten vertreten und akzeptiert werden,
dass ihnen nicht widerstanden wird. Die Roma brauchen
unsere Unterstützung, sie brauchen unsere Solidarität,
genau wie die Menschenrechtsorganisationen, die dage-
gen aufstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)


Natürlich reicht es nicht, nach Ungarn zu schauen. Es
ist auch notwendig, auf uns selbst zu blicken, auf das ei-
gene Land, in dem nach wie vor Vorurteile gegen Sinti
und Roma, Klischees und manches, was nicht gerade auf
gelungene Integration hindeutet, wahrgenommen werden
können. Wie kann sich die besondere deutsche Verant-
wortung jenseits des Applauses von damals und anderer
symbolischer Gesten zeigen? In unserem Antrag sagen
wir, worum es konkret gehen muss: um die Lebenssitua-
tion der größten in Europa lebenden ethnischen Minder-
heit. Diese müssen wir verbessern. Deutschland muss
sich deswegen auf europäischer Ebene dafür einsetzen,
dass der neue Aktionsrahmen zur Integration von Roma
rasch entwickelt wird. Deutschland muss darauf hinwir-
ken, dass das Rahmenübereinkommen des Europarates
zum Schutz nationaler Minderheiten in allen Ländern
– in wirklich allen Ländern –, die diesem Übereinkom-
men beigetreten sind, angewandt wird.

Die ungarische Ratspräsidentschaft hat Anfang dieses
Jahres angekündigt, die Integration der Roma zu einem
Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Die Situation in
Ungarn habe ich eingangs beschrieben. Lassen Sie mich
an dieser Stelle eines deutlich sagen: So wichtig der eu-
ropäische Rahmen, die europäische Programme und Ini-
tiativen, die in dem Antrag genannt werden, auch immer
sind, Europa darf kein Alibi sein. Nein, wir haben auch
in Deutschland eine Verantwortung. Auch hier müssen
wir sie zeigen. Die besondere Verantwortung Deutsch-
lands muss sich da zeigen, wo es um konkrete Menschen
geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Deswegen können wir nicht das aussparen, was die
Bundesregierung im April 2010 beschlossen hat, das
Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo. Wir alle wis-
sen, dass im Kosovo Kapazitäten zur Aufnahme, erst
recht zur Integration, an allen Ecken und Enden fehlen.
Wir haben in einem Antrag schon damals das sofortige
Ende der Zwangsrückführungen gefordert. Das tun wir
jetzt wieder und fordern die Bundesregierung auf, sich
gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der
Abschiebung von Roma in das Kosovo einzusetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es ist unerträglich, wenn Kinder, die in Deutschland ge-
boren und aufgewachsen sind, in ein Land geschickt
werden, das im Grunde kein Ort für sie ist, in dem sie
keine Perspektive, keinen anständigen Wohnraum und
auch keine echte Chance auf Bildung haben.

„Besondere Verantwortung Deutschlands“ heißt auch,
ganz praktisch zu handeln, auch innerhalb Europas. Wa-
rum gab es eigentlich keine laute Empörung der Bundes-
regierung, als Frankreich im vergangenen Sommer
Roma mit drastischen Maßnahmen abschob? Da darf





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Außenpolitik nicht aufhören. Da muss sie gerade erst an-
fangen, wenn sie glaubwürdig sein soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich möchte zum Schluss noch einen Satz von Zoni
Weisz zitieren. Er sagte:

Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das
durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und
verfolgt worden ist, heute – im 21. Jahrhundert –
immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen
Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.

Das müssen wir ändern. Darum unser Antrag.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709923600

Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1709923700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! „Für die Umsetzung der Gleichstel-
lung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa“ –
so lautet der Titel des Antrags der Grünen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass wir einen ganz großen Teil
dessen, was wir am 27. Januar hier miteinander erlebt
haben, noch in Erinnerung haben – nicht nur den Ap-
plaus, sondern auch die Bewegtheit – und dass wir uns
auch über die moralische und geschichtliche Verantwor-
tung einig sind. Deshalb bin ich froh darüber, dass ich an
der Stelle den Staffelstab aufnehmen kann.

Sie haben die historische Perspektive genannt, Frau
Kollegin. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Zoni Weisz an
dem Gedenktag zum ersten Mal aus dieser Perspektive
gesprochen, uns dadurch bereichert und diese Farbe in
die Diskussion eingebracht hat. Für mich persönlich war
das sehr bewegend, weil ich selbst – und auch meine
Frau – sehr viele verschiedenste Erlebnisse und Begeg-
nungen mit Mitgliedern dieser Gruppe hatte.

Es ist richtig: Es ist eine der größten Gruppen, die
noch dazu vernachlässigt wurde, was ihre Wahrnehmung
als Geschädigte angeht, als Opfer der NS-Zeit: Es waren
500 000. Oft wurde über viele andere Gruppen geredet.

Heute gehören in Europa 10 bis 12 Millionen Men-
schen dieser größten ethnischen Minderheit an; wir ha-
ben das gerade gehört. Inzwischen gibt es eine klare Be-
nennung: Das ist die Gruppe der Roma. Die Identität
bestimmt sich nicht nur aus dem Roma-Sein, sondern
auch aus der regionalen und nationalen Kultur, aus der
sie stammen.

Besonders im Süden Europas – von der Europäischen
Grundrechteagentur wurden immer wieder einige Länder
genannt – sind Diskriminierungen vorgekommen, die
nicht unbedingt struktureller Art waren. Zwar gab es Er-
mahnungen, aber die Diskriminierungen geschahen oft in
dem Alltagsmiteinander. Es gab Segregation anstatt Inte-
gration sowie eine Ghettoisierung und erschwerte Bil-
dungszugänge. Das lag nicht nur an den Personen selbst,
sondern oft auch an den Strukturen, auch an uns.

Menschenhandel wird an der Stelle immer angeführt.
In einigen Regionen Europas stammen 80 Prozent derer,
die mit Menschenhandel, Zwangsarbeit, sexueller Aus-
beutung und Bettelei von Kindern zu tun haben, aus die-
ser Personengruppe. Das darf nicht sein. Das dürfen wir
nicht einfach so hinnehmen.

2006 haben 76 Prozent der Roma in Deutschland Dis-
kriminierungen am Arbeitsplatz erlebt; so ist ihre Aus-
sage. Das ist als solches nicht sofort ein Problem des
Rechts; da ist auch ein Teil subjektiv. Aber das dürfen
wir so nicht stehen lassen. Darum müssen wir uns küm-
mern; denn das darf in unserem Land nicht so sein und
bleiben. Deshalb ist für mich der Gedanke klar: Wehret
den Anfängen des Antiziganismus.

Gut, dass wir es hier noch einmal vor Augen geführt
bekommen haben. Danke auch ein Stück weit dafür, dass
Zoni Weisz hier reden durfte, dass dies angestoßen und
von Ihnen angenommen wurde. Sie sind uns ein Stück
vorausgegangen; denn auch wir haben einen Antrag in
der Pipeline. Wir möchten gerne in dieser Frage ins Ge-
spräch kommen. Vielleicht gibt es da eine Chance.

Ich werde jetzt nicht umfassend über den rechtlichen
Status referieren. In Europa gibt es die Grund-
rechtecharta, auf die sich jeder EU-Bürger berufen kann.
Helmut Schmidt hat 1982 gesagt, dass das Völkermord
war. Helmut Kohl hat das später ebenfalls betont, auch
hier vor dem Hohen Haus.

Inzwischen gibt es Rahmenabkommen. Wir haben
das Jahrzehnt der Integration der Roma. Das muss man
natürlich umsetzen. Deshalb bin ich froh, dass es uns
präsent gemacht wurde. Auch wir, ich persönlich und
meine ganze Fraktion, sind sehr dankbar, dass die Rats-
präsidentschaft Ungarns der europäischen Roma-Strate-
gie auf der Tagesordnung Priorität einräumt. Das begrü-
ßen wir, und das werden wir unterstützen. Sie werden
das auch in unserem Antrag, der Ihnen bald vorliegen
wird, sehen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann?)


Auf den Unterschied werden meine Kollegen, die
gleich reden – unter anderem ein Kollege aus dem In-
nenausschuss; ich bin kein Jurist –, genauer eingehen.
Sie sagen, dass Sie der faktischen Ausgrenzung und
Stigmatisierung durch die Asylpolitik entgegentreten
möchten. Ja, es gibt hohe Vertreter, die das stützen. Auch
uns in Deutschland werden Vorwürfe gemacht. Navi
Pillay hat deutlich gesagt, dass auch wir hier daran zu ar-
beiten haben. Sie fordern eine Aussetzung des Rücknah-
meabkommens. Wir sagen, dass man damit letztlich
auch die Bekämpfung der illegalen Migration unter-
gräbt; das sollte man nicht tun. Wir möchten das Asyl-
recht als solches nicht aussetzen. Wir finden, das ist kein
Mittel zum Minderheitenschutz.





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

Die Forderungen, die wir stellen werden – ich möchte
unserem Antrag nicht vorgreifen –, sind zu großen Tei-
len identisch mit denen in Ihrem Antrag. Darüber bin ich
sehr froh. Sie fordern zum Beispiel das Eintreten gegen
jede Form von Antiziganismus in Politik und Zivilge-
sellschaft.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann in etwa dürfen wir mit dem Antrag rechnen?)


– Ich werde Ihnen bei Gelegenheit sagen, wann genau
wir ihn einbringen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die sind auf einem guten Weg! Die haben noch Beratungsbedarf!)


Ich sage bewusst: Darauf müssen wir nicht nur als Politi-
ker, sondern auch als Einzelne Wert legen. Wir müssen
es benennen, und wir müssen die Menschen auffordern,
Sinti und Roma in ihrem Umfeld zu begegnen.

Wir müssen EU-weit an einer Verbesserung der Situa-
tion mitwirken. Wir müssen für Chancengleichheit ein-
treten. Wir müssen natürlich auch kritische Gespräche
mit den Roma führen. Mögliche Themen sind die Rechte
der Frauen und manche ihrer Vorbehalte gegen Schulbe-
suche. Wir müssen die europäische Ratspräsidentschaft
in ihrer Einstellung, die Roma-Strategie prioritär zu be-
handeln, unterstützen. Bei den EU-Staaten, die das Rah-
menübereinkommen des Europarats zum Schutz natio-
naler Minderheiten noch nicht anerkannt haben, müssen
wir dafür werben. Wir müssen die eingesetzte Task
Force unterstützen. Wir wünschen uns natürlich eine
Einbeziehung der Vertreter der Roma in alle Gespräche,
die es dazu gibt.

Danke für die Initiative. Danke für den 27. Januar
2011 – die Gedenkveranstaltung hat mich sehr bewegt –,
danke Zoni Weisz für den Anstoß zum Nachdenken über
dieses Thema und danke, dass dieser Anstoß angenom-
men wurde. Ich bin gespannt, wie wir weiter damit ver-
fahren.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709923800

Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin

Kerstin Griese.


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1709923900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Uns alle hat die Rede von Zoni Weisz am Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus, am 27. Januar, hier
in diesem Haus sehr beeindruckt und betroffen gemacht.
Er hat davon berichtet, wie er als siebenjähriger Junge
seine Familie verloren hat, die in den Zug nach Ausch-
witz getrieben worden war. Meine beiden Vorredner ha-
ben schon gesagt, dass es das erste Mal war, dass ein
Vertreter der Opfergruppe der Sinti und Roma an diesem
Gedenktag hier gesprochen hat und damit ein deutliches
Zeichen gesetzt hat, dass wir an diese viel zu lange ver-
gessene Opfergruppe, an die vielen Sinti und Roma, die
in ganzen Familien in die Lager der Nazis eingeliefert
worden sind, endlich mehr und auch würdig erinnern
müssen.

Ich habe oft mit Menschen gesprochen, die die KZ
überlebt haben. Sie haben gesagt, dass sie zum ersten
Mal Kinder in den Lagern gesehen haben, als die Sinti
und Roma dorthin verschleppt worden waren. Hundert-
tausende wurden ermordet, wurden entrechtet und wur-
den ihres kulturellen Erbes beraubt. Gerade deshalb ist
es so wichtig, dass wir in Verantwortung vor unserer Ge-
schichte jeder Diskriminierung der heute in Deutschland
und in Europa lebenden Sinti und Roma entgegentreten,
und zwar nicht nur an Gedenktagen und in Erinnerungs-
reden, sondern auch in unserer alltäglichen Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Was uns bei der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar,
glaube ich, alle besonders betroffen gemacht hat, waren
seine historischen und aktuellen Bezüge: der Verweis auf
die jahrhundertelange Tradition der Ausgrenzung von
Sinti und Roma, aber eben auch der Verweis auf die
Kontinuitäten nach 1945, als bei den Behörden weiterhin
mit den Akten der Nazis gearbeitet wurde, wenn es um
Sinti und Roma ging. Er hat uns Beispiele vor Augen ge-
führt, wie heute in Rumänien und Bulgarien Roma dis-
kriminiert werden, wie in Ungarn Rechtsextremisten Ju-
den, Sinti und Roma überfallen.

Wir haben es eben schon gehört: Mit etwa
12 Millionen Menschen sind die Roma die größte Min-
derheit in Europa. Das Europäische Parlament hat schon
2008 beschlossen, eine europäische Strategie für die
Roma zu entwickeln. Wir erwarten dafür in den nächsten
Wochen einen neuen EU-Rahmen. Wir setzen uns dafür
ein – ich will das ausdrücklich unterstützen –, dass die
Anstrengungen der EU verstärkt werden. Noch mehr set-
zen wir uns dafür ein, dass sich auch die Mitgliedstaaten
daran halten. Auf europäischer Ebene sind hierzu schon
einige gute Beschlüsse gefasst worden.

Sie erinnern sich sicherlich daran, dass die EU-Justiz-
kommissarin Frau Reding im letzten September den
französischen Präsidenten wegen der Gruppenabschie-
bung von Roma aus Frankreich scharf kritisieren musste
und eine Klage der EU-Kommission wegen Diskriminie-
rung aufgrund der ethnischen Herkunft oder Rasse ange-
droht hat. Die EU hat hierzu also schon eine sehr eindeu-
tige Position.

Wir begrüßen es sehr, dass sich die ungarische Rats-
präsidentschaft vorgenommen hat, bald, noch in den
nächsten Wochen, die Anstrengungen auf europäischer
Ebene zur Integration der Roma zu verstärken. Dies soll
auch Teil der Strategie „Europa 2020“ werden. Denn
nachhaltiges Wachstum heißt auch, dass man alle Bevöl-
kerungsgruppen teilhaben lässt: an Bildung, an Gesund-
heit, an Integration und auch an guten Wohnmöglichkei-
ten. Wir erwarten, dass gerade zu diesen Themen, zu
Bildung, Gesundheit und Wohnen, in der EU-Strategie





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

deutliche Worte gefunden werden. Dazu muss auch gehö-
ren, dass die Sinti und Roma an der Entwicklung dieser
Strategie von Anfang an beteiligt werden und dass trans-
parent überprüft wird, welche Fortschritte es gibt.

Es ist in dieser Debatte schon zu Recht gesagt wor-
den: Wir schauen nicht nur nach Europa, sondern auch
darauf, was bei uns los ist. Es gibt noch immer offene
und subtile Diskriminierung. In einer aktuellen Studie
mit dem Titel „Die Abwertung der Anderen. Eine euro-
päische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen
und Diskriminierung“ wurde untersucht, inwieweit
Menschen, die eigentlich, rein rechtlich, gleichberechtigt
sind, diskriminiert werden und inwieweit in ihnen an-
dere oder Fremde gesehen werden. Das Erschreckende
ist, dass dabei herausgekommen ist, dass Sinti und Roma
in der Unbeliebtheitsskala mit 79 Prozent Spitzenreiter
im Spektrum der Menschenfeindlichkeit waren. Es wur-
den viele Beispiele gefunden – in Aschermittwochsre-
den, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche und
im öffentlichen Leben –, die belegen, dass Sinti und
Roma diskriminiert werden.

Auch dies ist schon erwähnt worden: Ein besonderes
Problem ist die Abschiebung von Roma aus Deutschland
in den Kosovo, weil sie dort häufig diskriminiert wer-
den, keine Gesundheits- und Sozialleistungen bekom-
men und keine Chance auf Bildung und Arbeit erhalten.
Das ist besonders dann problematisch, wenn es sich um
Familien mit Kindern handelt, die entweder hier geboren
oder aufgewachsen sind, oder wenn es sich um alte, pfle-
gebedürftige oder traumatisierte Menschen handelt. Wir
wissen aus Berichten von Vertretern internationaler Or-
ganisationen und deutscher Sozialverbände, die vor ei-
nem Jahr mit einer Delegation im Kosovo waren, dass
abgeschobene Familien von Roma dort auch direkte Ge-
walt erlebt haben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Kinder haben in der Schule keinen Unterricht bekommen!)


Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an die Innen-
minister aller Länder, die Ermessensspielräume in Ein-
zelfallprüfungen großzügiger zu nutzen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vonseiten der
SPD-Fraktion sind der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sehr dankbar für die Initiative zu diesem Antrag; stre-
ckenweise haben wir sogar schon ein bisschen gemein-
sam daran gearbeitet. Auch nach Ihrer Rede, Kollege
Heinrich, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir es in den
Ausschussberatungen schaffen können, einen gemeinsa-
men Antrag zu erarbeiten. Wir brauchen eine Positionie-
rung, die im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet,
damit wir aus der Rede von Zoni Weisz vom 27. Januar
dieses Jahres Lehren ziehen und real und konkret etwas
für die Sinti und Roma erreichen können.

Wir sollten den Appell, dass ein Volk, das über Jahr-
hunderte diskriminiert und verfolgt worden ist, nun eine
bessere Zukunft braucht, wirklich ernst nehmen. Des-
halb mein Appell gerade an die Koalitionsfraktionen:
Lassen Sie uns versuchen, einen gemeinsamen Be-
schluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen,
in dem die Grundüberzeugung zum Ausdruck kommt,
dass wir mehr tun müssen, um der Diskriminierung von
Sinti und Roma bei uns und in Europa entgegenzuwirken
und das Problem der menschlichen Schicksale, die bei
einer Abschiebung drohen, so zu lösen, dass wir unse-
rem Anspruch an ein humanes Miteinander in Europa
gerecht werden!

Heute Morgen ist schon viel über Europa diskutiert
worden. Zu einem Europa der Zukunft und zu einer Stra-
tegie für ein Europa 2020 gehört neben der wirtschaftli-
chen Gemeinschaft auch eine Gemeinschaft sozialer, hu-
manitärer und demokratischer Standards, in der
Minderheiten gewürdigt werden und bessere Chancen
bekommen. Deshalb meine Bitte – die Sachlichkeit der
Debatte, aber auch die Gemeinsamkeit, mit der wir uns
auf die Rede vom 27. Januar dieses Jahres beziehen,
stimmen mich ein wenig hoffnungsfroh –: Lassen Sie
uns real etwas zur Verbesserung der Situation der Men-
schen unternehmen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709924000

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Serkan

Tören.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1709924100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Si-

tuation der Roma und Sinti in Deutschland und Europa
greifen wir ein wichtiges Thema auf. Denn eines gehört
zu den ganz traurigen Kapiteln der europäischen Histo-
rie: die Geschichte der Roma in Europa, die über Jahr-
zehnte hinweg mit Unterdrückung, Diskriminierung und
Ausgrenzung verbunden war. Der schlimmste Abschnitt
war zweifelsfrei ihre Verfolgung während der Zeit des
Dritten Reiches, einer Zeit, der mehrere Hunderttausend
Menschen zum Opfer gefallen sind. Am Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011
hier im Deutschen Bundestag hat Zoni Weisz uns allen
seine Empfindungen sehr eindrucksvoll geschildert.

Wenn man die verschiedenen Staaten Europas be-
trachtet, kann man eines festhalten: Die gegenwärtige
Situation der Roma stellt sich doch sehr unterschiedlich
dar. Nehmen wir etwa viele Staaten Mittel- und Osteuro-
pas! Dort leben heute die meisten Roma. Die Probleme
der betroffenen Menschen sind in diesen Staaten am
deutlichsten zu erkennen. Es geht dabei um schlechte
Wohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde
Bildungschancen. Noch gravierender ist jedoch die so-
ziale Situation. Diese ist oft durch Ausgrenzung und Iso-
lation geprägt.

Dass die Kinder der Roma in gesonderten Klassen ge-
trennt von den anderen Kindern unterrichtet werden, ist





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates
nicht vereinbar.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überhaupt nicht!)


Wenn die Wohnungen der Roma in räumlich getrennten
Gebieten oder Stadtvierteln liegen, dann zementieren
sich Integrationsprobleme; dann existiert ein Klima, das
von gegenseitigen Vorurteilen und Missverständnissen
geprägt ist. Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgren-
zung zu durchbrechen und die Roma besser zu integrie-
ren, ist eine Herausforderung, die viele europäische
Staaten noch nicht ausreichend bewältigt haben.

Eines gehört ebenfalls zur Wahrheit: Auch innerhalb
der Gemeinschaften der Sinti und Roma muss zum Teil
ein Umdenken stattfinden. Verbesserte Rahmenbedin-
gungen haben keinen positiven Effekt, wenn sie von den
betroffenen Volksgruppen nicht als Chance begriffen
werden. Ein verbesserter Zugang zu Bildung ist unbe-
dingt notwendig. Die Eltern müssen ihre Kinder dann
aber auch zur Schule schicken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Gleichstellung von Sinti und Roma in allen gesell-
schaftlichen Bereichen ist absolut wünschenswert. So-
lange aber innerhalb der Familien der Sinti und Roma
Frauen zum Teil unterdrückt werden, häuslicher Gewalt
ausgesetzt sind und ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht
wahrnehmen können, kann eine tatsächliche Gleichstel-
lung von Frauen auch nicht erfolgen.


(Kerstin Griese [SPD]: Das ist ein bisschen zu pauschal, finde ich!)


Wir beraten heute den Antrag der Fraktion der Grü-
nen für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und
Roma in Deutschland und Europa. Als christlich-liberale
Koalition werden wir in Kürze einen eigenen, sehr viel
ausgewogeneren und sachorientierten Antrag zur Situa-
tion der Sinti und Roma in Europa in den Deutschen
Bundestag einbringen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709924200

Herr Kollege Tören, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Winkler?


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1709924300

Ja.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich hatte mich bereits
vor zwei Sätzen zu einer Zwischenfrage gemeldet, als
Sie den Schulbesuch und die Eltern, die ihre Kinder
nicht zur Schule schicken, angesprochen haben.

Ohne Schärfe in die Debatte bringen zu wollen,
möchte ich darauf hinweisen, dass wir letztes Jahr mit ei-
ner Delegation des Innenausschusses im Kosovo waren.
Dort wurde uns berichtet, dass die aus Deutschland in
den Kosovo abgeschobenen Kinder der Sinti und Roma
in der Regel nicht Serbisch und Albanisch sprechen kön-
nen, da sie in Deutschland aufgewachsen sind. Diese
Kinder sprechen zu Hause Romanes, Deutsch oder eine
andere Sprache. In der Regel sprechen sie aber nicht die
Mehrheitssprache der jeweiligen Gegend im Kosovo. Es
ist also nicht gewährleistet – das wurde flächendeckend
berichtet –, dass die Kinder, die wir dorthin abschieben,
überhaupt beschult werden können, wenn sie von ihren
Eltern in die Schule geschickt werden. Entweder sitzen
sie dort und können dem Unterricht nicht folgen oder sie
gehen logischerweise irgendwann einfach nicht mehr
hin, weil ihnen nicht geholfen wird.

Sie hatten einen Fall geschildert. Ich wollte Sie
schlicht und ergreifend bitten, diese Umstände im Rah-
men ihrer Beratungen über den zu erwartenden Antrag
zu berücksichtigen. Es ist vielleicht nicht der Haupt-
punkt. Denn es gibt nicht nur Probleme mit der Bereit-
schaft der Eltern, ihre Kinder wirklich beschulen zu las-
sen. Es gibt auch Probleme bei denjenigen, die von
Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden. Es
gibt von staatlicher Seite kein Angebot einer entspre-
chenden Beschulung. Wir sollten zumindest im Hinblick
auf die Fälle, für die wir mittelbar verantwortlich sind,
weil wir die betreffenden Personen abgeschoben haben,
in Zukunft darauf achten, dass dieses Problem in Ge-
sprächen mit der Regierung des Kosovo angesprochen
wird. Ich möchte Sie mit dieser Zwischenbemerkung bit-
ten, dies zu berücksichtigen. Vielleicht können Sie kurz
dazu Stellung nehmen.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1709924400

Mit Sicherheit werden wir uns diese Thematik bei der

Antragsberatung innerhalb der Koalition näher an-
schauen; das ist ganz klar. Ich habe hier auf einen ande-
ren Sachverhalt aufmerksam gemacht, den es durchaus
gibt – an dieser Stelle dürfen wir uns auch nicht ver-
schließen oder ein Thema tabuisieren –: Es geht darum,
dass Eltern in der Community ihre Kinder bewusst nicht
zur Schule schicken. Das ist ein weiter verbreitetes Phä-
nomen als das, das Sie beschrieben haben. Insofern ist
unser Hauptanliegen, uns erst einmal darum zu küm-
mern. Das andere Thema werden wir uns in der weiteren
Antragsberatung natürlich auch anschauen, Herr Kollege
Winkler.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist genau andersrum!)


Als christlich-liberale Koalition werden wir in Kürze
einen eigenen, sehr viel ausgewogeneren und sachorien-
tierten Antrag zu der Situation der Roma und Sinti in
Europa in den Deutschen Bundestag einbringen; ich
sagte es bereits. Wir möchten damit Folgendes zum Aus-
druck bringen: Uns ist das Thema sehr wichtig, und wir
wollen eine Verbesserung der Situation der Roma und
Sinti.

In dem Antrag der Grünen werden die aktuellen Be-
mühungen der Bundesregierung in keinster Weise er-
wähnt, beispielsweise die aktive Arbeit in internationalen
Foren wie der OSZE oder die Arbeit im Europarat, der





Serkan Tören


(A) (C)



(B)

die Integration der Roma und Sinti in Europa auf vielfäl-
tige Weise fördert. Auch unterstützt die Bundesregierung
seit vielen Jahren zahlreiche Menschenrechtsprojekte zur
Unterstützung der Roma und Sinti im Rahmen des EU-
Stabilitätspaktes für Südosteuropa bzw. des regionalen
Kooperationsrates für Südosteuropa. Die Bundesregie-
rung arbeitet eng mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und
Roma im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bun-
des zusammen.

Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir uns, dass sich
die Bundesregierung weiterhin zur Verbesserung der
Menschenrechtslage der Roma und Sinti einbringt. Was
uns als FDP besonders wichtig ist: Wir bekämpfen expli-
zit den Menschenhandel, welcher unter Roma und Sinti
aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation ver-
mehrt auftritt. Die Bundesregierung fördert auch EU-
weite Kampagnen wie „Dosta!“ zur Verbesserung der
Lage der Roma und Sinti und zum Abbau von Vorurtei-
len und Ausgrenzung. Die Bundesregierung unterstützt
das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher
Sinti und Roma in Heidelberg, welches Forschungsar-
beiten und Promotionen in diesem Bereich ideell und
materiell ermöglicht. Als christlich-liberale Koalition
möchten wir in dem Zusammenhang insbesondere die
ungarische EU-Ratspräsidentschaft auffordern: Setzen
Sie den eingeschlagenen Weg zur Umsetzung einer um-
fassenden Roma-Strategie weiter fort.

All dies werden wir auch in unserem eigenen Koali-
tionsantrag zur Situation der Roma und Sinti thematisie-
ren. Damit arbeiten wir effektiv auf eine Verbesserung
der Lebenssituation der Roma und Sinti in Europa hin.
All diese von mir erwähnten Bemühungen der Bundesre-
gierung kommen in dem Antrag der Grünen leider kaum
vor.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einige Worte zu
dem Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo sagen. Die
Forderungen der Grünen nach einem generellen Ab-
schiebestopp bzw. nach einer Aussetzung des Rücknah-
meabkommens mit dem Kosovo sind aus meiner Sicht
sehr problematisch und zu kurz gedacht. Die schwierige
soziale und wirtschaftliche Lage von Roma und Sinti al-
leine kann kein generelles Abschiebehindernis darstel-
len. Grundsätzlich möchte ich sagen: Ein Abschie-
bestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute
Krisenentwicklungen, also nur eine Ultima Ratio.

Als christlich-liberale Koalition verfolgen wir das
Ziel: Die Situation der Roma und Sinti in Europa muss
verbessert werden. Als FDP-Bundestagsfraktion nehmen
wir uns dieser Herausforderung an, und wir werden in
Kürze zusammen mit dem Koalitionspartner einen abge-
rundeten und in sich stimmigen Antrag vorlegen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709924500

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709924600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im

Dezember vorigen Jahres wurde hier in Berlin der Euro-
päische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma verliehen.
In ihrer Laudatio verwies Frau Professor Dr. Rita
Süssmuth auf die zahlreichen Diskriminierungen von
Sinti und Roma europaweit, und sie mahnte:

Es geht nicht um Minderheitenrechte, sondern um
Menschenrechte.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angelika Graf [Rosenheim] [SPD])


Diesen Gedanken möchte ich hier gerne einführen.

Wenn wir über die Gleichstellung von Sinti und Roma
in Deutschland und Europa diskutieren, dann reden wir
nicht primär über Sinti und Roma, sondern debattieren
vielmehr über Bürgerrechte und Menschenrechte in
Deutschland und in der Europäischen Union. Hier gibt
es eklatante Defizite.

Vor knapp einem Jahr war ich in Ungarn – ebenso wie
DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger und Romani Rose,
der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und
Roma. Neonazis hatten ein Haus in Brand gesteckt. Als
der Familienvater mit seinem fünfjährigen Sohn dem In-
ferno entkommen wollte, wurden sie beide erschossen,
weil sie Roma waren.

In Italien und Frankreich wurden Sinti und Roma iso-
liert oder des Landes verwiesen. Auch in der Slowakei,
in Bulgarien und Rumänien werden Sinti und Roma teils
wie Aussätzige behandelt. Sie sind de jure EU-Bürgerin-
nen und Bürger. De facto aber werden sie pauschal aus-
gegrenzt.

Das sind die Aufgaben, über die wir heute reden. Ich
bin dankbar, dass Bündnis 90/Die Grünen einen so weit-
gefassten Antrag vorgelegt haben.

In meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf in Berlin
gibt es eine Gedenkstätte. In Berlin fanden 1936 Olym-
pische Spiele statt. Die Reichshauptstadt sollte von Zi-
geunern gesäubert werden. Die meisten Sinti und Roma,
die damals in Marzahn interniert waren, wurden später
im KZ in den Gaskammern ermordet. Wir haben kein
Recht, diese Geschichte zu vergessen, aber wir haben die
gemeinsame Pflicht, neuen Anfängen zu wehren.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dabei spreche ich nicht nur von der extremen Rechten.
Ausgrenzung beginnt oft in der Mitte der Gesellschaft.

Sinti und Roma werden noch immer oder schon wie-
der diskriminiert: bei der Bildung, bei der Gesundheit,
beim Arbeiten, beim Wohnen, sozial, kulturell, rechtlich.
Darauf macht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
aufmerksam. Die Linke unterstützt ihn weitgehend.

Überfällig ist auch, dass die EU eine gemeinsame
Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma verab-
schieden will. Aber dieses EU-Papier entlässt keinen

(D)






Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Staat aus seiner nationalen Verantwortung, auch Deutsch-
land nicht.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der Kern, über den wir zu diskutieren haben.

Es wurde schon angesprochen: Die Bundesrepublik
Deutschland will weiterhin hier lebende und Schutz su-
chende Sinti und Roma in den Kosovo abschieben. Dort
sind sie dem Ungewissen und Schlimmerem ausgelie-
fert. Die Linke hält das im doppelten Sinn für unmora-
lisch: gegenüber der Geschichte und gegenüber den
Menschen, die davon betroffen sind.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich zum Schluss ganz persönlich eine
Bitte äußern: Die heutige Debatte ist bei allen Differen-
zen – vielleicht gibt es kleine Unterschiede – sehr ver-
antwortungsvoll geführt worden und war von Vorhaben
geprägt, die aus allen Fraktionen vorgetragen wurden.
Lassen Sie die Debatte am heutigen Nachmittag und die
folgende Beratung, in der auch die Anträge der anderen
Fraktionen diskutiert werden, nicht folgenlos bleiben. Es
geht nicht darum, dass wir diesen Antrag unverändert
beschließen, sondern darum, dass wir uns um die Bür-
ger- und Menschenrechte auch dieser Bürgerinnen und
Bürger der Europäischen Union kümmern und ihnen hel-
fen, diese Rechte wahrzunehmen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709924700

Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1709924800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich bin dem Präsidium des Deutschen Bundestages
ausdrücklich dankbar, dass am 27. Januar dieses Jahres
Zoni Weisz die Rede zur Erinnerung an die Befreiung
der Insassen der KZ gehalten hat. Es war eine eindringli-
che und anrührende Rede, die unter die Haut gegangen
ist. Er hat nicht nur erinnert, sondern gemahnt. Er hat
uns gemahnt, dass es auch heute noch schwierige Situa-
tionen für die Sinti und Roma in Europa gibt.

Ja, es ist richtig, dass die Situation der Roma immer
noch nicht in allen europäischen Ländern befriedigend
ist. Sie ist außerordentlich problematisch und zum Teil
prekär. Die Achtung und der Schutz von Minderheiten
zählen zu den Kopenhagener Kriterien, die alle Staaten
erfüllen müssten, bevor sie der Europäischen Union bei-
treten können. Aber wie in einigen anderen Bereichen
auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfahren in der
Frage der Roma sehr leichtfertig über gravierende Defi-
zite, die es bis zum heutigen Tage gibt, hinweggegangen.
So müssen wir leider bis heute feststellen, dass es in Eu-
ropa in einzelnen Ländern nach wie vor nicht nur eine ba-
nale Diskriminierung und Benachteiligung dieser Volks-
gruppe gibt. Hier ist in erster Linie die Europäische
Union gefragt. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür dank-
bar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das Schicksal
und die Situation der Roma dieses Jahr zu einem zentra-
len Thema gemacht hat, und das vor dem Hintergrund,
dass es in Ungarn selbst problematische Situationen gibt.

Hier in Deutschland gibt es weder eine staatliche Dis-
kriminierung noch eine Ausgrenzung dieser Volks-
gruppe aus dem Schul- oder Gesundheitsbereich. Aber
es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftli-
che Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem
Hause vermutlich klar.

Wichtig ist – darauf müssen wir immer wieder hin-
weisen –, dass die rechtmäßig in Deutschland lebenden
Sinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe haben.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Theoretisch! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Aber diese Möglichkeiten werden leider nicht ausrei-
chend genutzt. Nicht ohne Grund hat der Deutsche Bun-
destag 2007 festgestellt – die Kollegin Graf wird sich an
den von der Großen Koalition eingebrachten Antrag er-
innern –, dass bei den Bemühungen, die soziale Situation
von Roma zu verbessern, auch die Hürden in der Roma-
Gesellschaft überwunden werden müssen. In vielen Fa-
milien, so haben wir festgestellt, bestehen Vorbehalte
hinsichtlich eines Schulbesuchs der Kinder. Bildung
wird dort nicht als Chance verstanden, obwohl sie eines
der wichtigsten Instrumente darstellt, dem Teufelskreis
aus Armut und Arbeitslosigkeit zu entkommen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Fragen Sie doch mal nach den Ursachen!)


– Das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Das ist
der Text des Beschlusses. – Mitunter werden Kinder von
ihren Eltern von der Schule genommen, um zum Unter-
halt der Familie beizutragen oder bereits in jungem Alter
verheiratet zu werden. Jungen und Mädchen werden in-
nerhalb der Roma-Gesellschaft oft ungleich behandelt,
sodass der Anteil der Roma-Frauen ohne Schulbildung
jenen der Männer übersteigt.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind
Dinge, die den Kindern aus solchen Familien den Weg in
eine gute Zukunft versperren. Wir müssen in Gesprächen
mit den Repräsentanten der Roma für diese Probleme
sensibilisieren und deutlich machen: Ihr müsst eure Kin-
der in die Schule schicken. Ihr dürft eure Frauen nicht
verprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheira-
ten. – Diese Dinge versperren den Menschen den Weg in
das Miteinander in unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb haben wir seinerzeit die Bundesregierung auf-
gefordert, in Gesprächen mit Vertretern der Roma in
Deutschland und in anderen europäischen Ländern da-





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

rauf hinzuwirken, dass sie sich innerhalb ihrer Gemein-
schaft dafür engagieren, diese Defizite zu beheben. Sei-
tens der Bundesregierung gibt es viel Unterstützung für
diese Volksgruppe. Die Bundesregierung unterstützt den
Zentralrat der Sinti und Roma, und es gibt inzwischen
– was ich sehr begrüße – eine Gedenkstätte, die daran er-
innert, was den Sinti und Roma im Dritten Reich wider-
fahren ist. Wir sollten aus unserer deutschen Warte he-
raus in Gesprächen mit Vertretern dieser Volksgruppen
sehr deutlich machen, dass wir ihr Schicksal kennen und
an ihrer Seite stehen. Wir müssen sie aber auch animie-
ren, Teil unserer Gesellschaft zu werden.

Herr Weisz ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es
einem Roma gelingen kann, nicht nur Teil der Gesell-
schaft zu werden, sondern auch eine herausgehobene
Position zu erringen und ein höchst respektables Amt zu
bekleiden. Er hat uns mit seiner Rede bewegt und auf
das Schicksal der Roma aufmerksam gemacht.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist oberlehrerhaft, was Sie da machen!)


Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir noch eine
ganze Menge gemeinsamer Arbeit vor uns haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709924900

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1709925000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

wenigen Tagen hat das Europäische Parlament eine Re-
solution zur Lage der Roma verabschiedet, und heute
sprechen wir im Bundestag über einen Antrag der Grü-
nen zur Umsetzung der Gleichstellung der Roma in Eu-
ropa. Ich denke, das ist eine Konsequenz aus dem, was
uns Zoni Weisz im Januar mitgegeben hat.

Der Antrag der Grünen nimmt Bezug auf seine Rede
– diese habe ich als erschütternd und zutiefst berührend
in Erinnerung – zum Gedenktag für die Opfer des Natio-
nalsozialismus. Zoni Weisz hat vor uns allen nicht nur
seine schrecklichen Erlebnisse als Kind während des Na-
tionalsozialismus geschildert – ich kann mich gut daran
erinnern, wie er geschildert hat, dass er seine Angehöri-
gen im Zug hat wegfahren sehen und sie nie wiedergese-
hen hat –, sondern er ist auch auf die heutige Lebens-
situation vieler Sinti und Roma in Europa, insbesondere
in den osteuropäischen Ländern, eingegangen. Er hat
diese Situation als menschenunwürdig beschrieben. Sinti
und Roma werden ausgegrenzt, systematisch schlechter-
gestellt, leben oft in Gettos und werden bei Gelegenheit
schnell des Landes verwiesen.

Ich selbst war einige Male in osteuropäischen Län-
dern und habe dort auch Roma-Siedlungen besucht. Ich
habe vorgefunden: Es gibt keine Stromversorgung und
nur eine schlechte Trinkwasserversorgung. Die Abwas-
serentsorgung ist teilweise ebenfalls sehr schlecht. Die
Sinti und Roma, mit denen ich gesprochen habe, haben
zudem über behördliche Willkür geklagt. Die Gesund-
heitsversorgung ist miserabel. Frauen und Kinder wer-
den Opfer von Menschenhandel. Das ist in menschen-
rechtlicher Hinsicht eine unmögliche Situation. Daher
kann ich die Mahnung von Zoni Weisz nur unterstützen:
Verschließen wir nicht die Augen vor der oft menschen-
unwürdigen Lebenssituation vieler Roma in Europa!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist nicht das erste Mal – Frau Steinbach hat das an-
gesprochen –, dass wir dieses Thema aufnehmen. Der
Antrag der ehemaligen Großen Koalition ist uns allen
vielleicht noch in Erinnerung. Roma, Sinti, Gitanos und
Manouches bilden zusammen die größte ethnische Min-
derheit Europas. Sie werden – das muss man ganz klar
ansprechen – nicht nur in Osteuropa diskriminiert, son-
dern zum Beispiel auch in Deutschland, wo neben den
70 000 Sinti und Roma mit deutschem Pass viele aus
Osteuropa leben. Das Leben für diese Bevölkerungs-
gruppe ist oft nicht einfach; denn auch bei uns sind Vor-
urteile prävalent. Frau Steinbach und Herr Tören, ich
möchte keine Schärfe in die Debatte bringen, aber man-
ches, was Sie vorgetragen haben, war doch sehr pau-
schal.


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Ich habe zitiert!)


Nicht jeder Roma wendet Gewalt in der Familie an.
Auch Bildungsferne kann man nicht generell der ganzen
Volksgruppe zur Last legen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sinti und Roma werden leider häufig Opfer von ras-
sistisch motivierter Gewalt. In Deutschland besuchen
Sinti- und Roma-Kinder trotz Normalbegabung überpro-
portional häufig Förderschulen. Sinti und Roma sind
auch kaum in politischen Vertretungen und Institutionen
vertreten.

Ich finde es gut, dass sich die ungarische Ratspräsi-
dentschaft trotz der Aktionen der Rechtsextremisten in
Ungarn dieses Themas annimmt und versucht, eine so-
ziale Integration der Roma in Europa zu befördern. Das
Europäische Parlament hat eine Entschließung verab-
schiedet, in der auf die wachsende Stigmatisierung so-
wie den aufkommenden Antiziganismus im politischen
Diskurs und in der breiten Öffentlichkeit hingewiesen
wird. Zudem wird in dieser Entschließung die Rückfüh-
rung von Roma in mehreren Mitgliedstaaten als „frag-
würdig“ bezeichnet.

Seit 2008 schieben Frankreich und Italien Roma mas-
siv in den Kosovo ab. Mit dem deutsch-kosovarischen
Rücknahmeabkommen vom April 2010 ist auch bei uns
faktisch der Weg frei für die Abschiebung von circa
11 700 Roma.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das passiert leider auch!)


Nach einer UNICEF-Studie sind – das wurde vom Kol-
legen Winkler schon angesprochen – die Hälfte davon





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)

Minderjährige, von denen zwei Drittel in Deutschland
geboren wurden, die hier sozialisiert sind und Deutsch-
land als ihre Heimat sehen. Die Studie fand heraus, dass
drei von vier abgeschobenen Kindern in dem Land, in
das sie verbracht werden, nicht mehr in die Schule ge-
hen, weil die Familien dort zu arm und ohne Beschäfti-
gung sind, Sprachbarrieren haben – wenn sie hier bei uns
aufgewachsen sind, können sie die Sprache des Landes
nicht, in das sie verbracht werden – oder ihnen Papiere
fehlen. Deshalb ist es richtig, dass SPD-geführte Bun-
desländer besonders sensibel mit den Rückführungen
umgehen und umfassende individuelle Einzelfallprüfun-
gen durchführen. Nordrhein-Westfalen führt beispiels-
weise keine Kinder, ältere oder pflegebedürftige Men-
schen zurück.

Ich darf Sie daran erinnern, dass unser ehemaliger
CDU-Kollege Professor Dr. Christian Schwarz-Schilling,
der ehemalige Hohe Repräsentant der internationalen
Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und hoch-
geschätzte Menschenrechtsverteidiger, mit Blick auf die
Situation der Kinder die Abschiebung der Roma verur-
teilt und sie als historisch verantwortungslos bezeichnet.
Ich denke, wir sollten die Mahnungen von Zoni Weisz
aufnehmen und mit und für Sinti und Roma europaweit
Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben entwi-
ckeln. Deswegen habe ich mich sehr über Ihren Beitrag
gefreut, Herr Kollege Heinrich. Ich habe die Hoffnung,
dass wir aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, wirk-
liche Perspektiven entwickeln, wie wir in diesem Haus
zu einer Lösung dieses Problems kommen. Ich würde es
sehr begrüßen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709925100

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709925200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Als Nürnberger Abgeordneter ist man mit
den Themen Alltagsdiskriminierung und Intoleranz his-
torisch auf besondere Art und Weise verknüpft. Das gilt
ganz besonders für die Diskriminierung von Sinti und
Roma. Der Verweis auf die schändlichen Nürnberger
Rassegesetze darf hier nicht fehlen. Sie wissen, dass von
diesem unsäglichen Blutschutzgesetz von 1936 auch
Sinti und Roma betroffen waren. Am ehemaligen Stand-
ort des Nürnberger Industrie- und Kulturvereins erinnert
heute ein Gedenkstein daran. Wir müssen uns immer
wieder dieses Unrechts bewusst werden, damit wir für
die Zukunft daraus Lehren ziehen können. Ich bin stolz,
dass es zur Gründung des Landesverbandes Bayern der
Deutschen Sinti und Roma in Nürnberg kam. Ich hono-
riere vor allem den Beitrag, den Sinti und Roma zur Ge-
denkstättenarbeit in Nürnberg leisten.

(Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP])


Wir tun uns dennoch mit dem vorliegenden Antrag – es
ist bereits erwähnt worden, dass die CDU/CSU und die
FDP einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema vorle-
gen werden – etwas zu leicht. Der Antiziganismus – ich
verweise noch einmal auf die Nürnberger Geschichte –
ist ein Thema, mit dem wir uns inhaltlich auseinander-
setzen müssen. Er hat offenbar in Europa Wurzeln, die
nur ganz schwer auszureißen sind. Da gilt es nach unse-
rer Auffassung anzusetzen. Es gibt nach wie vor eine
Vielzahl von Klischees und sehr viel Unwissenheit über
die Lebensweise der Sinti und Roma. Die Klischees und
Vorurteile werden gerne kultiviert und führen wie alle
Vorurteile und Klischees zu sozialer Ausgrenzung. Des-
halb ist es notwendig, dass wir uns mit diesem Thema
beschäftigen. Wir werden das mittels eines Antrags tun.

Ich will aber deutlich sagen, warum wir dem Antrag
des Bündnisses 90/Die Grünen heute nicht zustimmen
können. Er suggeriert, es gebe gezielte Abschiebungen
in das Kosovo. Frau Kollegin Graf, wer das Rückfüh-
rungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit
den Abschiebungen von Frankreich gleichstellt, neigt
schon sehr zu Pauschalisierungen, um es vorsichtig aus-
zudrücken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Ich habe das nicht gleichgestellt!)


Sie tun Ihrem Anliegen damit keinen Gefallen.

Worum geht es? Es geht darum, dass in erster Linie
die manchmal wirklich bedauerlichen wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse des Heimatlandes nicht da-
rüber hinwegtäuschen dürfen, dass wir es mit zwei ver-
schiedenen Problemen zu tun haben. Das eine ist die so-
ziale Situation der Sinti und Roma hier in Deutschland
und in Europa, wo sie als Flüchtlinge Zuflucht gefunden
haben; das andere ist das Asylrecht. In ihrem Antrag ver-
suchen die Grünen – es tut mir leid, wenn ich das sagen
muss –, gewollt oder ungewollt, beides über einen
Kamm zu scheren.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da werden Menschen real abgeschoben, ganz real!)


Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass das deutsche
Asylrecht auch in dieser Frage anzuwenden ist. Wir
müssen letztendlich darauf Rücksicht nehmen, dass die
völkerrechtliche Praxis, was die Anwendung des Asyl-
rechts und die Anerkennung des Flüchtlingsstatus anbe-
trifft, zu wahren ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709925300

Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ströbele?


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709925400

Gern. Wenn ich den Gedanken noch schnell zu Ende

bringen darf, stehe ich für die Beantwortung einer Zwi-
schenfrage selbstverständlich zur Verfügung.





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

Ich will noch einmal darauf abzielen, dass es einen
deutlichen Unterschied gibt. Auf der einen Seite steht
der ehrenwerte Ansatz: Wir müssen sozialer Benachteili-
gung, Ausgrenzung überall dort begegnen bzw. sie ver-
hindern und abstellen, wo wir sie antreffen. Aber auf der
anderen Seite müssen wir auch das, was wir an asyl-
rechtlichen Grundlagen und an rechtmäßigen, legalen
Formen der Rückführung haben, beachten.

Herr Kollege, bitte schön.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709925500

Bitte schön, Herr Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege. – Geben Sie mir recht darin,
dass die Sinti und Roma, die sich derzeit in Deutschland
aufhalten und jetzt von der Abschiebung oder Rückfüh-
rung bedroht sind, aus ihrem Heimatland, nämlich dem
Kosovo, nicht aus ökonomischen Gründen weggegangen
sind, sondern deshalb, weil man sie nach der Befreiung
des Kosovo dort systematisch verfolgt hat, weil man ihre
Häuser angesteckt hat und weil sie um ihr Leben fürch-
ten mussten? Bei mir hier im Deutschen Bundestag sind
danach mehrere Delegationen angekommen, die diese
Leute vertreten haben bzw. selber aus dem Kosovo ka-
men und mir im Einzelnen berichtet haben, welcher
scheußlichen Verfolgung sie im Kosovo ausgesetzt wa-
ren, weswegen sie dann in die Nachbarländer gegangen
sind, aber auch nach Deutschland, insbesondere übrigens
nach Bayern; gerade in der Nähe von München sind sie
heute ansässig. Wenn man diese Leute jetzt gegen ihren
Willen mit Gewalt wieder dahin zurückbringt, müssen
sie berechtigterweise befürchten, dass die Verfolgung,
derentwegen sie dort weggegangen sind, sie erneut trifft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709925600

Herr Kollege Ströbele, die Antwort auf diese Frage

soll zeigen, dass es um zwei unterschiedliche Problem-
bereiche geht. Das eine ist die durchaus nachvollzieh-
bare Situation, was den Aufenthalt anbetrifft. Das andere
ist die Frage der Rückführung. Ich gebe Ihnen in diesem
Punkt natürlich recht: Viele von ihnen sind nicht freiwil-
lig von dort weggegangen; das steckt ja in dem Begriff
der Vertreibung. Für uns ergibt sich nach den asylrechtli-
chen Grundsätzen und der völkerrechtlichen Praxis eine
entscheidende Frage: Ist durch die geänderte Situation in
der Heimat eine Rückkehr möglich?

Am Schluss dieser Rede darf ich mir erlauben, noch
einen Gedanken vorzutragen. Gerade dieser Punkt macht
mich etwas ratlos: Vollenden wir damit nicht sogar das,
was einmal verbrecherisch begann? Menschen werden
aus ihrer Heimat vertrieben, müssen an einen Ort, an den
sie vielleicht nicht wollten. Die entscheidende Frage ist
– so verstehe ich die völkerrechtliche Praxis –, dass wir
alles tun müssen, um ihnen die Rückkehr wieder zu er-
möglichen. Also ist doch unsere Unterstützung in erster
Linie dort gefragt. Das ist, glaube ich, der Punkt. Wir
dürfen das, was einmal durch Unrecht eingetreten ist,
nicht sozusagen historisch auch noch legitimieren. Des-
halb sind es zwei verschiedene Dinge. Das eine ist, hier
alles zu tun, um eine soziale Teilhabe zu ermöglichen;
das andere ist, dort, wo es rechtlich zulässig und notwen-
dig ist, Menschen wieder in eine Situation zurückzufüh-
ren, die ihnen angestammt ist und aus der sie eigentlich
kommen. So verstehe ich den politischen Auftrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709925700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5191 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
überlassungsgesetzes – Verhinderung von
Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung

– Drucksache 17/4804 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann,
Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur strikten Regulierung der Ar-
beitnehmerüberlassung

– Drucksache 17/3752 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/5238 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
dagegen Widerspruch? – Das scheint nicht der Fall zu
sein. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zah-
len stimmen. Wir haben ein glänzendes Wachstum von
3,6 Prozent. Wir haben 41 Millionen Menschen in Ar-





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

beit; das ist ein Rekordwert. Wir sind zuversichtlich,
dass die Arbeitslosigkeit 2011 im Jahresschnitt unter der
3-Millionen-Grenze sein wird.

Ja, die Zahlen stimmen. Dennoch glauben viele Men-
schen in unserem Land, dass etwas nicht stimmt. Unter
dem Druck des globalen Wettbewerbs drohen unfaire
Arbeitsbedingungen am unteren Rand des Arbeitsmark-
tes Fuß zu fassen. Es sind insbesondere Vorfälle aus dem
Bereich der Zeitarbeit gewesen, die den Menschen die-
sen Eindruck vermittelt haben. Einige haben Schlupflö-
cher ausgenutzt, um die Stammbelegschaft systematisch
schlechterzustellen. Das ist weder der Sinn von Zeitar-
beit noch die Intention des Gesetzes. Wer seiner Beleg-
schaft kündigt, um sie für die gleiche Arbeit zu schlech-
teren Löhnen als Zeitarbeiter wieder einzustellen, der
kündigt den fairen Umgang miteinander auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das wollen wir nicht tolerieren. Deshalb schließen wir
mit diesem Gesetz die Gesetzeslücke.

Wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeitar-
beit kann für Geringqualifizierte eine wichtige Alterna-
tive zur Arbeitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei
Drittel der Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma an-
fangen, vorher nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat
keinen Berufsabschluss. Sie haben als Zeitarbeitnehme-
rinnen und -arbeitnehmer volle Arbeitnehmerrechte:
Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, und sie sind so-
zialversicherungspflichtig beschäftigt. Auf der anderen
Seite gibt die Zeitarbeit Unternehmen die Möglichkeit,
ihren Personalbedarf flexibel zu decken. Sie gibt ihnen
Beweglichkeit für Auftragsspitzen oder besondere Pro-
jekte. Wir sind uns deshalb einig, dass wir aus diesen
Gründen die Zeitarbeit brauchen. Das ist auch einer der
Gründe, warum vor gut acht Jahren SPD und Grüne die
Zeitarbeit flexibilisiert haben. Wir sind nach wie vor der
Überzeugung, dass der Grundgedanke richtig ist, da-
durch Menschen in Arbeit zu bringen, weil Arbeit immer
besser als Arbeitslosigkeit ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir stehen heute eher vor
einer anderen Herausforderung. Es geht einerseits da-
rum, die Flexibilität zu erhalten, und andererseits darum,
die Fairness in der Zeitarbeit zu sichern. Hierzu trägt
auch die europäische Leiharbeitsrichtlinie bei, die wir
vollständig, eins zu eins, umsetzen. Am 1. Mai werden
wir unseren Arbeitsmarkt vollständig öffnen, auch für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den acht
neuen EU-Mitgliedstaaten. Sie sind willkommen auf un-
serem Arbeitsmarkt. Was wir aber nicht wollen, ist, den
Arbeitsmarkt für ausländische Billiglöhne öffnen. Des-
halb habe ich mich immer klar für eine Lohnuntergrenze
in der Leiharbeit ausgesprochen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Wir ziehen jetzt in der Leih- und Zeitarbeit eine gesetzli-
che Lohnuntergrenze ein, die auf Vorschlag der Tarif-
partner durch Rechtsverordnung festgelegt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es wird eine Lohnuntergrenze für die Verleihzeit und
für die verleihfreie Zeit geben. Sie wird für Inländer und
für Ausländer gelten. Ferner haben wir uns darauf ver-
ständigt, dass der Zoll die Einhaltung der Lohnunter-
grenze kontrolliert. Hier wird der gleiche Mechanismus
wie bei der Kontrolle der Mindestlöhne nach dem Ar-
beitnehmer-Entsendegesetz greifen. Das geht aber nur
mit einer sorgfältigen Abgrenzung der Prüfzuständigkei-
ten und der Kontrollbefugnisse der Bundesagentur für
Arbeit einerseits und der Zollbehörden andererseits. Wir
brauchen dazu die erforderliche Zeit.

Sie alle wissen, meine Damen und Herren, dass die
entsprechenden Regelungen in Vorbereitung sind und
dass sie rechtzeitig eine Kontrolle der künftigen Lohnun-
tergrenze gewährleisten.

Abschließend möchte ich noch etwas zum Thema
Equal Pay sagen. Es ist nicht in Ordnung, wenn Men-
schen für die gleiche Leistung in demselben Betrieb dau-
erhaft ungleich bezahlt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Dann machen wir doch gemeinsam ein Equal Pay!)


Im Gesetz steht: Es gilt Equal Pay,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nur in der Praxis nicht!)


gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Leiharbeitern und
Stammbelegschaft, es sei denn, die Tarifparteien einigen
sich auf eine abweichende Lösung. Ich weiß sehr wohl,
dass es einen unseligen Tarifparteienwettbewerb nach un-
ten gegeben hat. Das war übel. Das hat dem Ansehen der
Zeitarbeit richtig geschadet.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie geschützt!)


Ein Gerichtsurteil hat hier jetzt eine Zäsur gesetzt; das ist
richtig. Für uns bleibt es aber unstreitig, dass die Tarifau-
tonomie erst einmal Vorrang hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


Erst wenn sie versagt, muss der Staat eingreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb erwarten wir jetzt, dass die Sozialpartner ihre
Freiräume nutzen und sich mit Augenmaß auf eine An-
näherung an Equal Pay verständigen.


(Katja Mast [SPD]: Neun Monate!)


Wenn die Tarifparteien innerhalb eines Jahres keine
Tariflösung finden, dann


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Setzen Sie eine Kommission ein!)


werden wir eine Kommission einsetzen,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das übliche Instrument dieser Regierung, um nichts zu tun!)


die an ihrer statt die Regeln für Equal Pay auslotet und
dem Gesetzgeber einen Vorschlag unterbreiten muss.





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie viel Kommissionen gibt es eigentlich mittlerweile in der Bundesregierung?)


Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über-
zeugung, dass die Tarifautonomie ein schützenswertes
Instrument ist. Es ist aber eben auch unsere gemeinsame
Aufgabe, sicherzustellen, dass der Sozialstaat wirkt. Das
gelingt meines Erachtens am besten in einem breiten
Konsens und nicht im Streit. Heute gehen wir einen ers-
ten und wichtigen Schritt in diese Richtung.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709925800

Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709925900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Bundesministerin, diese Beratung bietet vielleicht
die Gelegenheit, einmal grundsätzlich darüber zu reden,
was der eigentliche Sinn und Zweck von Arbeitnehmer-
überlassung, also von Zeit- und Leiharbeit, überhaupt
ist.


(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Gar keiner!)


Schon hier gibt es einen Widerspruch zu dem, was Sie,
Frau Ministerin, eben gesagt haben. Wir sind nicht der
Meinung, dass das, was wünschenswert wäre und was
Sie hier in leuchtenden Farben beschrieben haben, tat-
sächlich eingetreten ist. Die Daten geben nämlich nicht
her, dass Zeit- und Leiharbeit im Wesentlichen eine Art
arbeitsmarktpolitisches Instrument ist, um Menschen in
Arbeit zu führen. Nach Studien des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung ist ein sogenannter Klebeef-
fekt, also die Tatsache, dass Menschen über Zeit- und
Leiharbeit tatsächlich in feste Beschäftigung bzw. ordent-
liche Arbeit kommen, nur in 7 Prozent der Fälle festzu-
stellen.

Gleichwohl kann man aus wirtschaftspolitischer Sicht
argumentieren, dass Zeit- und Leiharbeit als Flexibili-
tätsinstrument sinnvoll für die Abdeckung von Auftrags-
spitzen von Unternehmen sein kann. In diesem Sinne
sind die Gewerkschaften und auch wir Sozialdemokraten
nicht der Meinung, dass man Zeit- und Leiharbeit ver-
bieten sollte. Als Instrument zur Abdeckung von Auf-
tragsspitzen der Unternehmen ist sie akzeptabel. Frau
Ministerin, es darf aber nicht sein, dass Zeit- und Leihar-
beit in Deutschland weiter als Instrument des Lohndum-
pings und damit zum Lohndrücken missbraucht wird.
Das ist aber leider Realität in diesem Lande.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie hatten wenig Redezeit, ich habe auch wenig Rede-
zeit, aber die Höflichkeit hätte es geboten, Frau Ministe-
rin, dass Sie, als Sie eben über die Einführung eines
Mindestlohnes in Form einer absoluten Lohnuntergrenze
gesprochen haben, gesagt hätten, dass diese Regelung,
die von Ihnen ursprünglich nicht im Gesetz vorgesehen
war, aber durch die Annahme der Beschlussempfehlun-
gen des Ausschusses quasi dem Gesetzeswerk als Omni-
bus aufgesetzt wird, Ihnen in zähen Verhandlungen in
der Nacht vor allen Dingen gegen den Widerstand der
FDP abgerungen werden musste.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? – Weiterer Zuruf von der FDP: Mehrfache Wiederholung macht das nicht wahrer!)


Wir Sozialdemokraten haben also in diesen Verhandlun-
gen dafür gesorgt, dass vor Inkrafttreten der Arbeitneh-
merfreizügigkeit am 1. Mai 2011 zumindest ein Mindest-
lohn als gesetzliche Lohnuntergrenze eingeführt wird.
Wir haben dafür gesorgt, nicht Sie – mit Copyright, Frau
Dr. von der Leyen, sollten Sie sich an dieser Stelle aus-
kennen –; das zu erwähnen, wäre ein Akt der Höflichkeit
gewesen.

Gleichwohl kann ich nicht feststellen, dass dieser Ge-
setzentwurf zureichend ist, um das zu erreichen, was of-
fensichtlich beabsichtigt ist, nämlich den Missbrauch
von Zeit- und Leiharbeit zu bekämpfen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn die SPD alles richtig gemacht hätte, hätten wir gar nichts zu tun! Dann könnten wir den Bundestag abschließen und nach Hause gehen!)


– Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Ich weiß nicht, ob
Sie sich mit diesem Thema irgendwann einmal beschäf-
tigt haben oder hier nur rumkrakeelen wollen. Die Wahr-
heit ist: Zeit- und Leiharbeit wird in diesem Land massiv
missbraucht.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Mein Gott! Sie sind aber nervös!)


Frau von der Leyen, an einem der Abende, an denen
wir keine Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses
hatten, hatte ich noch den Nachtrhythmus drauf und
konnte nicht richtig schlafen, weil wir sonst immer mit-
einander verhandelt haben. In dieser Nacht hatte ich die
Gelegenheit, einmal das Nachtmagazin der ARD zu se-
hen. Dort wurde die Situation sehr gut beschrieben. Es
gab ein Interview mit zwei Beschäftigten: der eine
Stammbelegschaftskollege, der andere Leiharbeitnehmer;
beide in einem Hamburger Unternehmen tätig; beide die
gleiche Qualifikation; beide die gleiche Tätigkeit. Der
eine Unterschied war, dass der Kollege Leiharbeiter we-
niger Urlaub hat als der Stammbelegschaftsbeschäftigte.
Der wesentliche Unterschied war, dass er trotz gleicher
Tätigkeit 900 Euro weniger bekommt. Das nehmen Men-
schen als entwürdigend wahr, wenn sie es zu erleben ha-
ben.

Aber auch der Stammbelegschaftskollege war nicht
glücklich über die Situation, weil er trotz Ihres Placebo-
Gesetzes nach wie vor damit rechnen muss, dass er zu-
künftig durch jemanden ersetzt wird, der schlechter be-
zahlt wird. Genau an dieser Stelle versagt Ihr Gesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Ihr wohlfeiler Hinweis auf eine Tarifautonomie, die in
diesem Bereich eben nicht mehr funktioniert, ist eine
Ablenkung davon. Zu Recht zitieren Sie, dass das Ar-
beitnehmerüberlassungsgesetz bis dato im Prinzip den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kennt. Sie
verschweigen aber, dass das nicht die Regel ist, Frau
Ministerin. Sie verschweigen das. Und Sie wissen ganz
genau – da können Sie sich auch nicht herausstehlen –,
dass wir dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nicht
effektiv begegnen können, wenn wir nicht den Grund-
satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ als Gesetzgeber
im Gesetz scharfschalten.

Ich nehme es als ein Stück Heuchelei wahr, wenn die
für Arbeit und Sozialordnung zuständige Ministerin an-
kündigt – ich darf das zitieren, was Sie eben gesagt ha-
ben –: Wir schauen uns ein Jahr lang noch einmal an, ob
sich etwas bewegt, und drohen damit, nach einem Jahr
eine Kommission einzusetzen. – Was für eine Ankündi-
gung! Diejenigen, die Zeit- und Leiharbeit missbrau-
chen, zittern wirklich davor, dass Sie eine Kommission
einsetzen.

Frau Ministerin, die Wahrheit ist: Wir hätten längst in
den Verhandlungen – ich glaube, sogar mit Ihnen – eine
bessere Lösung erzielt, was den Grundsatz „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ betrifft, wenn Sie nicht in Gei-
selhaft eines Koalitionspartners namens FDP wären, der
nicht einmal nach neun Monaten gleichen Lohn für glei-
che Arbeit wollte, sondern sich dafür eingesetzt hat, dass
selbst nach neun Monaten dauerhaft nur der Grundlohn
gleich ist, nicht aber die Zuschläge. Sie, die FDP und die
CDU/CSU, verhindern den Kampf gegen den Miss-
brauch von Zeit- und Leiharbeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich nur sa-
gen: Dieses Gesetz beinhaltet zwar einen großen Fort-
schritt, was die Lohnuntergrenze betrifft. Deshalb wer-
den wir dem Antrag ganz folgerichtig zustimmen. Wir
haben das zusammen mit den Grünen in den Verhand-
lungen durchgesetzt. Ich halte dies für eine gute Nach-
richt. Das ist überfällig. Es ist notwendig, dass wir vor
dem 1. Mai zumindest zu einem Mindestlohn in dieser
Branche kommen. Zureichend ist es aber nicht.

Wenn man dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit
effektiv begegnen will, sind einige weitere Dinge not-
wendig, Frau Ministerin. Das können Sie unserem Ent-
schließungsantrag entnehmen. Wir wollen die Mitbe-
stimmungsrechte der Betriebsräte ausweiten, was den
Einsatz von Zeit- und Leiharbeit betrifft. Warum verwei-
gern Sie das eigentlich? Wir wollen gleiche Teilhabe der
Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer beim
Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen, beispielsweise
Kinderbetreuung, Gemeinschaftsverpflegung und Beför-
derungsmitteln. Wir wollen die konzerninterne Verleihe
an dieser Stelle einschränken. Das halte ich für dringend
notwendig. Wir wollen vor allen Dingen, dass es keine
Verträge von Fall zu Fall gibt – Stichwort: Synchronisa-
tionsverbot.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre schön gewesen, wenn Sie bei der Anhörung dabei gewesen wären!)


Wir wollen auch eine zeitliche Befristung auf ein Jahr,
was den Einsatz von Zeit- und Leiharbeitern betrifft.

Das Wichtigste ist aber – und das ist der Geist der
EU-Richtlinie zur Leiharbeit, die bis zum 5. Dezember
dieses Jahres umzusetzen ist –, dass wir uneingeschränkt
den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
durchsetzen wollen. Mindestlohn ist das eine. Wir sind
stolz darauf, dass wir Ihnen das abringen konnten.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Das reicht aber nicht, weil „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ das ist, was die Menschen brauchen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709926000

Herr Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709926100

Ich sage Ihnen: Wer den Menschen das verweigert,

der hat keine Ahnung von der Lebensrealität dieser Men-
schen. Es ist unwürdig, was Sie hier abziehen. Deshalb
werden wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen
können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber schwach!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709926200

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709926300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Heil, ich schätze Sie eigentlich sehr; aber
ich finde das, was Sie hier tun, nicht konsequent. Wenn
Sie mit uns der Meinung sind, dass wir hier – insbeson-
dere was den Antrag anbelangt – in die richtige Richtung
gehen, dann sollten Sie auch die Größe aufbringen, die-
sen Schritt am Ende komplett mitzugehen, das heißt,
dem Gesetz insgesamt zuzustimmen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)


Das fände ich richtig. Schade, dass Sie das verweigern
wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie schon einmal Art. 38 gelesen?)


So viel zum Thema „Konsens und gemeinsames Bemü-
hen“.

Ich will für uns, die FDP, erstens festhalten: Die Zeit-
arbeit ist für uns ein wichtiges Instrument zur Gewähr-
leistung von Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wir wollen





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Zeitarbeit erhalten und auch künftig am deutschen Ar-
beitsmarkt gangbar machen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Noch weiter gangbar machen?)


Wir haben aber immer gesagt: Wir wollen keinen Miss-
brauch der Zeitarbeit. Wir treten Tendenzen, Stammbe-
legschaften durch Zeitarbeiter zu ersetzen, deutlich ent-
gegen. Deswegen haben Kollege Schiewerling und ich
sehr frühzeitig, zu Beginn letzten Jahres, gesagt: Wir
werden mit einer Drehtürklausel genau dies verhindern,
nämlich dass Belegschaften entlassen und über Zeitar-
beitsunternehmen zurückgeholt werden. Wir sind auch
der Meinung: Zeitarbeit darf kein Mittel zur Lohndiffe-
renzierung nach unten sein; auch das wollen wir defini-
tiv nicht.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Realität!)


Deswegen sind wir in den Verhandlungen konkrete
Schritte gegangen. Herr Kollege Heil, die Verhandlun-
gen waren nicht einfach – das will ich festhalten –; aber
wir sollten hier keine Legendenbildung betreiben. Wir
haben gemeinsam eine Lohnuntergrenze verabredet, die
am Ende auf Ihren Wunsch hin – das will ich hier bestä-
tigen – als absolute Lohnuntergrenze ausgestaltet wurde.
Wir sind diesen Schritt auch deswegen mitgegangen,
weil sich durch die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit
– Sie können es auch Mindestlohn nennen – in Deutsch-
land de facto nichts ändern wird; denn die Tarifautono-
mie funktioniert in diesem Bereich. Es ist der Bereich
mit der mit Abstand höchsten Tarifbindung: 98 Prozent
der Arbeitsverhältnisse sind tarifgebunden, entweder di-
rekt durch Tarifmitgliedschaft oder durch Bezugnahme
auf Tarifverträge. Es wird sich für die deutschen Zeitar-
beitsunternehmen und die bei ihnen angestellten deut-
schen Zeitarbeiter de facto nichts ändern. Aber es gibt
einen Schutz gegen die erwarteten und – vor allen Din-
gen von Ihnen – befürchteten Verwerfungen am Arbeits-
markt aufgrund der Freizügigkeit ab dem 1. Mai; diesen
Schritt gehen wir mit.

Zweitens. Die FDP-Fraktion hat sehr früh auf das
Thema Equal Pay hingewiesen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Monaten!)


Wenn Sie sich erinnern: Im Sommer letzten Jahres – da
waren Sie noch sehr mit der Diskussion über Mindest-
lohn und Freizügigkeit beschäftigt –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, nein!)


haben wir gesagt, dass die Durchsetzung von Equal Pay
eigentlich kein Problem ist. Man muss sagen – Herr
Heil, ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen –: Bei
den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss und in der
Arbeitsgruppe hat nicht die SPD Angebote gemacht,
sondern die Koalition. Wenn Sie sich erinnern, von wem
jeweils die Angebote vorgetragen wurden, werden Sie
das bestätigen müssen.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Opposition hat Angebote gemacht!)


Wir wollten das Thema angehen – das haben wir ge-
sagt –; aber dabei wollten wir eine Auffanglinie schaf-
fen, damit die Tarifpartner im Vorfeld tätig werden.
Nach langen Verhandlungen mussten wir am Ende fest-
stellen: „We agree to disagree.“ Wir sind nicht auf einen
Nenner gekommen. Jetzt machen wir genau das, was wir
anfangs vorhatten: Wir fordern die Tarifpartner auf, im
Vorfeld tätig zu werden und ausdifferenziert – Branche
für Branche, entsprechend den jeweiligen Bedingungen –
aufzuzeigen, was hier Equal Pay bedeutet und welche
Frist angemessen ist. Wir wollen – da stehen wir weiter-
hin bereit – eine Auffanglinie schaffen und sagen: Am
Ende, nach einer bestimmten Frist, muss immer klar
sein, dass Equal Pay gezahlt wird.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709926400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709926500

Ja, ich gestatte sie. Sie kommt gerade noch rechtzeitig

in der Redezeit. Danke, Herr Heil.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709926600

Herr Heil, bitte schön.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709926700

Ich mache das gerne. Das ist eine Art Wiedergutma-

chung: Ihr Kollege Otto hat mir vorhin in der Energiede-
batte zu etwas mehr Redezeit verholfen.

Herr Kolb, ich habe in diesem Zusammenhang zwei
ernsthafte Fragen, verbunden mit der Bitte um präzise
Antworten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich versuche das!)


Es geht mir um Klarstellungen zu den Verhandlungen,
damit da keine Legendenbildung stattfindet.

Erstens. Ist es richtig, dass Sie in den Verhandlungen
erreichen wollten, dass es in den ersten neun Monaten
einer Beschäftigung keinen gesetzlich vorgeschriebenen
gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und Sie diese Zeit
pauschal als Einarbeitungszeit definiert haben? Ist es
richtig, dass Sie erst nach neun Monaten Beschäfti-
gungszeit den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Ar-
beit“ uneingeschränkt per Gesetz durchsetzen wollten,
wissend, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerin-
nen und Leiharbeitnehmer weniger als drei Monate in ei-
nem Unternehmen beschäftigt sind?

Zweitens. Ist es richtig, dass Sie unter „Equal Pay“
nicht das verstehen, was heute übrigens im Gesetz steht,
nämlich dass es sich auf wesentliche Arbeitsbedingun-
gen inklusive Arbeitsentgelt bezieht? Stimmt es, dass
Sie den Gesetzentwurf einfach umdrehen wollten und
auch nach neun Monaten Beschäftigungszeit kein Equal





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Pay in dem Sinne zulassen wollten, wie es jetzt im Ge-
setz steht, sondern nur bezogen auf den Grundlohn, dass
Sie also die Zuschläge herausrechnen wollten?

Können Sie mir das bitte bestätigen, um zu unterstrei-
chen, warum wir „agree to disagree“, weil wir faule Kom-
promisse zulasten der Arbeitnehmer nicht mitmachen
wollen?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709926800

Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für die Frage

und die Gelegenheit, zu präzisieren.


(Anton Schaaf [SPD]: Schön bei der Wahrheit bleiben, Herr Kollege!)


Wir haben uns in den Verhandlungen – wenn Sie Zah-
len nennen, kann ich das umgekehrt auch tun – aus sehr
unterschiedlichen Ecken aufeinander zubewegt. Es ist
richtig, dass die Koalition zunächst ein Angebot über
zwölf Monate gemacht hat. Es ist richtig – das darf ich
auch sagen –, dass Sie vom allerersten Tag an weniger
wollten und das in einer sehr forschen Art und Weise
vorgetragen haben. Es ist richtig, dass wir uns im Laufe
der Verhandlungen aufeinander zubewegt haben.

Wenn ich das recht erinnere, standen wir, bevor wir
festgestellt haben, dass wir nicht übereinkommen, bei
neun und Sie bei drei Monaten. Von den jeweiligen
Startpunkten aus betrachtet ergibt sich ungefähr eine
gleiche Entfernung. An dieser Stelle haben wir nicht
weiter verhandelt, weil man gesehen hat, dass es keinen
Sinn macht, und weil wir eine andere Wahrnehmung hat-
ten.

Ich habe das in den Verhandlungen als „masochisti-
schen Ansatz“ bezeichnet; denn nach Ihnen ist es nur
gut, wenn es wehtut. Wir haben gesagt: Wir wollen
schon das Signal an die Zeitarbeitsunternehmen senden:
Ihr könnt nicht ewig so weitermachen.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Aber das muss nicht dazu führen, dass Arbeitsverhält-
nisse bedroht werden.

Dabei sind wir nicht übereingekommen. Jetzt werden
wir erleben – da bin ich mir sicher; die Signale haben
wir jedenfalls –, dass sich die Zeitarbeitsunternehmen
und die Einsatzbranchen Gedanken machen werden
– das ist übrigens keine unverbindliche Ankündigung –
und wir innerhalb der nächsten zwölf Monate – –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war nicht meine Frage, Herr Kollege! Die zweite hätte ich gern beantwortet!)


– Sie bekommen auch die zweite Frage beantwortet,
wenn der Präsident zustimmt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709926900

Jeder kann Fragen stellen, wie er will, und jeder kann

antworten, wie er will. So ist es.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Präsident, das war ein Zwischenruf! – Weitere Zurufe von der SPD)


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709927000

Aus meiner Sicht, Herr Kollege Heil, gehört auch das

dazu, was ich jetzt noch gesagt habe.

Was die konkrete Ausgestaltung der Frage nach Equal
Pay – dabei gibt es in der Tat eine Bandbreite – anbe-
langt, haben die Verhandlungen in einer Arbeitsgruppe
stattgefunden. Sie haben verwirrende Ergebnisse gelie-
fert. Es hieß zunächst, man habe sich auch über Fragen
verständigt wie: Was heißt Equal Pay?


(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Dann hieß es, der Kollege Heil habe den Konsens in
dieser Unterarbeitsgruppe wieder aufgekündigt, sodass
ich mich außerstande sehe, zu bestätigen, dass wir uns
auf irgendetwas an dieser Stelle hätten verständigen kön-
nen. Sie wollten das selbst nicht; das muss man auch sa-
gen.


(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Sie waren da vielleicht ein Stück weit ferngesteuert.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin direkt gewählter Abgeordneter! Ich lasse mich nicht fernsteuern! Ich weiß nicht, wie das in der FDP ist!)


Ich habe durchaus Verständnis für Dinge, die im Hinter-
grund von Verhandlungen ablaufen.

Ich kann nur sagen: Die Koalition hat sich wirklich
fair und nach Kräften bemüht, die Zeitarbeit zu moderni-
sieren und die Fehler, die Sie bei den Hartz-Gesetzen ge-
macht haben – so muss ich Sie verstehen, Herr Heil –,
ein Stück weit zurückzunehmen,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


aber dabei das Instrument der Zeitarbeit nicht kaputtzu-
machen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist schon lange über die Redezeit, oder?)


In diesem Sinne werden wir uns mit Interesse an-
schauen, wie es weitergeht. Wir stehen dazu, dass auch
der zweite Teil, die Umsetzung der Kontrolle, noch
kommt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben Sie nur nicht gemacht, weil Sie Angst hatten, dass es zustimmungspflichtig wird, Herr Kollege Kolb!)


Da dürfen Sie sich auf uns als Verhandlungspartner ver-
lassen.

Wir werden auch weiterhin dafür garantieren, dass es
einen Missbrauch der Zeitarbeit in Deutschland mit uns
nicht geben wird.

Danke für die Aufmerksamkeit.





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Unglaublich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709927100

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709927200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es immer nett, wenn Sie sich streiten. Sie sollten weiter-
machen. Das ist interessant.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lernen Sie noch was, Frau Kollegin! – Zuruf von der FDP: Sie könnten uns ein bisschen Redezeit abgeben!)


Wir nehmen heute circa einer Million Menschen das
Menschenrecht auf gleiches Geld für gleiche Arbeit. Ich
zitiere aus Art. 23 der Erklärung der Menschenrechte:

Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Früher war Leiharbeit dafür da, Auftragsspitzen abzu-
fangen. Die Hartz-Gesetze von Rot-Grün haben es er-
möglicht, dass die Leiharbeit inzwischen zum Billig-
lohnsektor geworden ist.

Die Zeche zahlen die Leiharbeiternehmer.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


In meinem Wahlkreis gibt es einen Leiharbeitnehmer,
der fünf Jahre unter dem Leiharbeitstarifvertrag des
Christlichen Gewerkschaftsbundes arbeiten musste. Die-
ser ist jetzt ungültig. Deshalb steht ihm der gleiche Lohn
wie einem Stammbeschäftigten zu. Für ihn heißt das in
Zahlen: Er ist in fünf Jahren um 28 000 Euro betrogen
worden.

Leiharbeit ist und bleibt ein milliardenschweres Ge-
schäft, das auf dem Rücken der Beschäftigten betrieben
wird. Wer profitiert davon? Einerseits profitieren die Fir-
men, die Leiharbeiter einsetzen. Sie senken ihre Lohn-
kosten und entledigen sich der Verantwortung für ihre
Beschäftigten. Andererseits profitiert die Leiharbeits-
branche. Allein der Marktführer Randstad konnte seinen
Umsatz von 2002 bis 2010 verdreifachen. Die Bosse bei
Randstad freuen sich mittlerweile über einen fetten Um-
satz in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzei-
tig ist für viele Leiharbeitnehmer der Monat zu lang, um
von dem Geld leben zu können.

Die schwarz-gelbe Regierung entscheidet gegen die
Mehrheit der Deutschen. Eine Umfrage der Wochenzei-
tung Die Zeit ergab, dass 91 Prozent der Deutschen für
Equal Pay in der Leiharbeit sind. Doch was macht die
Bundesregierung? Statt endlich gleichen Lohn für glei-
che Arbeit einzuführen, beschließt sie einen Mindest-
lohn in der Leiharbeitsbranche. Zu einem Mindestlohn
in der Leiharbeitsbranche sagt die Linke Nein. Wir brau-
chen keinen Mindestlohn, wir brauchen Equal Pay,


(Beifall bei der LINKEN)


weil der Mindestlohn dazu führt, dass die Leiharbeiter
weiterhin weniger verdienen als die Stammbelegschaft.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für die verleihfreie Zeit braucht ihr auch den Mindestlohn!)


– Da bin ich aber noch nicht. Ich bin noch bei der Arbeit.

In der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen
beispielsweise verdient man in der untersten Entgelt-
gruppe 13,77 Euro. Da der Mindestlohn in der Leihar-
beitsbranche im Westen 7,60 Euro beträgt, verdient ein
Leiharbeitnehmer etwa 45 Prozent weniger als ein
Stammbeschäftigter. Der Mindestlohn darf nur in der ver-
leihfreien Zeit gelten. Für die Arbeit gilt: Gleiches Geld
für gleiche Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Als Zweites regelt die Bundesregierung den Drehtür-
effekt. Sie verhindert zwar, dass eine Firma ihre Be-
schäftigten zu einem schlechteren Entgelt über eine ei-
gene Leiharbeitsfirma beschäftigen darf. Wenn diese
Personen allerdings sechs Monate arbeitslos oder woan-
ders beschäftigt waren, ist das wieder möglich. Wo ist
die Verbesserung? Die Umgehung ist vorprogrammiert.
Es liegt auf der Hand, was man machen muss, um die
Beschäftigten wieder einstellen zu können.

Die Bundesregierung behauptet zudem, mit ihrem
Gesetz über Leiharbeit schaffe sie einen Mindestlohn,
der nicht unterschritten werden kann. Das ist schlicht
nicht wahr. Auch hier ein Beispiel: Adecco, eine der
größten Leiharbeitsfirmen weltweit, zeigt, wie es geht.
Bereits jetzt müssen Beschäftigte neue Arbeitsverträge
unterschreiben. Der Unterschied war für sie kaum zu
merken. Statt Adecco GmbH stand Adecco Outsourcing
GmbH im Arbeitsvertrag. Was hat sich geändert? Die
Kolleginnen und Kollegen sind keine Leiharbeitnehmer
mehr. Adecco hat sie in die konzerneigene Werkver-
tragsfirma ausgegliedert, und für Werkvertragsbeschäf-
tigte gilt der Mindestlohn nicht. So einfach ist das.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Für die Kolleginnen und Kollegen heißt das, dass
selbst die schlechten Bedingungen, die wir hier beschlie-
ßen sollen, schon jetzt unterlaufen werden. Das Gesetz
der Bundesregierung ist Murks.


(Beifall bei der LINKEN)


Leiharbeit darf nur dafür da sein, Auftragsspitzen aufzu-
fangen.

Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir mit der Lohn-
drückerei Schluss machen. Die Linke sagt: Gleiches
Geld für gleiche Arbeit. Wenn Sie das Wohl der Leihar-
beitnehmerinnen und -arbeitnehmer im Auge haben,
müssen Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, damit
sich endlich etwas bewegt und wir diese unsozialen Be-
dingungen endlich abschaffen.





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709927300

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke

von Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Un-
sere Position in Sachen Leiharbeit ist bekannt. Unsere
zentralen Forderungen sind die konsequente Anwendung
von Equal Pay, eine Flexibilitätsprämie für Leiharbeits-
kräfte in Höhe von 10 Prozent und die Wiedereinführung
des Synchronisationsverbots. Wir meinen, nur eine kon-
sequente Regulierung stoppt den Missbrauch in der
Leiharbeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also das Gegenteil von dem, was Rot-Grün in der Regierungszeit beschlossen hat!)


– Herr Kolb, stellen Sie doch eine Frage.

Nicht nur die Interessen der Wirtschaft und der Leih-
arbeitsbranche dürfen im Mittelpunkt stehen, sondern
die Politik muss auch den Beschäftigten in der Leihar-
beit gerecht werden. Sie haben einen berechtigten An-
spruch auf die gleichen Arbeitnehmerrechte, auf faire
Löhne und gute Arbeitsbedingungen wie alle anderen
Beschäftigten auch.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709927400

Frau Kollegin Müller-Gemmeke, erlauben Sie eine

Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber natürlich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709927500

Bitte schön, Herr Kolb.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist TäterOpfer-Ausgleich!)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1709927600

Das soll jetzt ausgleichende Gerechtigkeit sein. – Ich

möchte nur auf Verantwortlichkeiten hinweisen. Ich er-
innere mich noch – ich bin lange genug im Deutschen
Bundestag –, dass Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen als
besonders wichtig erkannt hatte, dass die Zeitarbeit ge-
rade auch Menschen mit geringerer Qualifikation die
Möglichkeit zur Integration in den Arbeitsmarkt eröff-
net. Ist es nicht ein bisschen so, dass Sie hier wie der
weibliche Zauberlehrling stehen? Ich glaube, die Geis-
ter, die Sie riefen, werden Ihnen jetzt zu viel. Sie machen
jetzt die Drehung zurück. Das, was Sie jetzt verändern
wollen und als Ihre Vorschläge präsentiert haben, ist
doch das glatte Gegenteil dessen, was Sie in der Regie-
rungsverantwortung 2004/2005 damals gemacht haben.
Können Sie mir das bestätigen?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kollege Kolb, ich bestätige Ihnen, dass wir unsere
Meinung geändert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es wäre schön, wenn auch die FDP das hin und wieder
einmal täte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das dauert!)


Denn Politik muss meiner Meinung nach schlichtweg
auch schauen, wie Gesetze wirken und welche Entwick-
lungen und Fehlentwicklungen es gibt. Wir haben immer
gesagt: Wir haben andere Erwartungen gehabt. Ich
nenne zum Beispiel den Klebeeffekt, der nicht eingetre-
ten ist. Wir haben nicht damit gerechnet, dass beispiels-
weise die Christlichen Gewerkschaften


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die sogenannten!)


so in diese Branche gehen und einen solchen Lohndruck
machen, wie sie es getan haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Weitsicht hat gefehlt!)


– Herr Kolb, ich bin jetzt dran. – Wenn Fehlentwicklun-
gen zu sehen sind, dann muss die Politik Verantwortung
übernehmen. Dann muss man auch die Größe haben, zu
sagen: Da sind Dinge gelaufen, die wir so nicht haben
wollten. – Deswegen muss man dann Maßnahmen er-
greifen, damit die Fehlentwicklungen wieder gestoppt
werden. Das finde ich überhaupt nicht schlimm, sondern
richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich wünsche mir, dass das auch die FDP irgendwann ein-
mal macht.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Haben sich die Grünen in allem geirrt während ihrer Regierungszeit?)


Ich habe gerade von den gleichen Rechten der Be-
schäftigten geredet. Wir meinen, dass der Gesetzentwurf
dem nicht gerecht wird. Einzig und allein die Lohnunter-
grenze ist ein richtiger und vor allem auch ein notwendi-
ger Schritt. Dieser Lohnuntergrenze werden wir nachher
zustimmen. Der Gesetzentwurf in Gänze aber ist und
bleibt eine Minimalreform, der wir nicht zustimmen
werden; denn Sie werden Ihrer Verantwortung den Leih-
arbeitskräften gegenüber nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, Sie suggerieren
immer wieder, die Leiharbeitsbranche sei eine Branche
wie alle anderen auch. Fakt ist aber: In keiner anderen
Branche müssen so viele Beschäftigte aufstockendes
Arbeitslosengeld II beantragen. Schon heute muss der
Staat circa eine halbe Milliarde Euro pro Jahr an Trans-
ferleistungen für Leiharbeitskräfte ausgeben. Darin sind
die langfristigen Kosten von Leiharbeitskarrieren noch
gar nicht enthalten; denn die niedrigen Rentenansprüche
führen die Menschen direkt in die Altersarmut. Keine
andere Branche wird in diesem Umfang staatlich sub-
ventioniert.

Sie betonen auch immer, dass der Großteil der Leihar-
beitskräfte vorher arbeitslos war. Das ist richtig, aber es
ist auf gar keinen Fall eine Rechtfertigung für die Leih-
arbeit. Natürlich kündigt kein Mensch sein festes Ar-
beitsverhältnis, um in der Leiharbeit für kurze Zeit und
unter schlechteren Arbeitsbedingungen weniger zu ver-
dienen. Deutlich wird aber, dass der Beschäftigungsauf-
bau stark in die Leiharbeit geht und Stammbelegschaften
schleichend ersetzt werden.

Auch der sogenannte Klebeeffekt ist ein Mythos. Ge-
rade einmal 7 Prozent der Leiharbeitskräfte werden in
reguläre Beschäftigungen übernommen. Diese Bilanz ist
unterirdisch und zeigt, dass die Leiharbeit als arbeits-
marktpolitisches Instrument nicht funktioniert. Das wird
von dieser Regierung wohl auch nicht gewollt; denn die
Unternehmen profitieren doppelt: Sie erhalten Flexibili-
tät und billige Arbeitskräfte. Die Leiharbeitskräfte hin-
gegen leiden unter einer doppelten Belastung: Sie ver-
dienen weniger und haben keinen sicheren Job. Das ist
ungerecht und nicht fair.

Die heutige Entscheidung zur Leiharbeit im Bundes-
tag ist also wichtig. Es geht darum, ob wir den Umbau in
der Arbeitswelt hin zu noch mehr prekärer Beschäfti-
gung befördern oder stoppen. Wir Grünen entscheiden
uns für eine soziale Arbeitswelt. Sozial ist, was gute Ar-
beit schafft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, lange haben wir
auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung warten
müssen. Jetzt aber geht es ganz schnell. Am Montag
fand die Anhörung statt, und heute, drei Tage später,
wird das Verfahren schon abgeschlossen. Dies geschieht,
wie ich finde, trotz dieses wichtigen Themas auch noch
zu einer sehr späten Tageszeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Besser spät als nie!)


In der Anhörung wurden vielfältige Bedenken von Ex-
perten geäußert. Sie ignorieren komplett die Gewerk-
schaften und vor allem auch Teile der Wissenschaft. Das
hat uns aber nicht überrascht.

Gestern in der Ausschusssitzung haben wir auf unsere
Maximalforderungen verzichtet und versucht, mit kon-
kreten Änderungsanträgen einige wenige Verbesserun-
gen des Gesetzentwurfs zu erreichen. Wir haben bei-
spielsweise beantragt, dass die Auszubildenden in die
Drehtürklausel einbezogen werden, dass Betriebsräte
mehr Rechte erhalten und dass Leiharbeitskräfte nicht in
bestreikten Betrieben eingesetzt werden dürfen. Vor al-
lem haben wir auch beantragt, dass die arbeitsvertragli-
che Bezugnahme auf Tarifverträge gestrichen und der
Zugang zur betrieblichen Weiterbildung erleichtert wird,
damit der Gesetzentwurf zumindest der EU-Richtlinie
über Leiharbeit gerecht wird. Leider hatten wir keinen
Erfolg. Nicht einmal über diese Minimalforderungen ha-
ben Sie ernsthaft diskutiert.

Der Gesetzentwurf bleibt also nahezu bedeutungslos
für die Beschäftigten. Die Interessen der Leiharbeits-
branche und der Wirtschaft bedienen Sie aber. Das kann
ich nur Klientelpolitik pur nennen. Vor allem spalten Sie
die Gesellschaft mit dem unregulierten Anstieg der Leih-
arbeit weiter, und zwar nicht nur in Arm und Reich, son-
dern auch in regulär und prekär Beschäftigte. Soziale
Gerechtigkeit und verantwortungsbewusste Politik sehen
anders aus.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709927700

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Schiewerling

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1709927800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Arbeitnehmerüberlassung hat eine lange Geschichte.
Sie hat nicht erst im Jahre 2001 begonnen; es gab sie da-
vor auch schon. Durch Hartz I wurde allerdings bewirkt,
dass sie sich von einem arbeitsmarktpolitischen Instru-
ment zu einer Branche entwickelt hat. Dies geschah,
weil die Rahmenbedingungen durch die damalige Ge-
setzgebung unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Si-
tuation, der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwie-
rigen Entwicklung in den Sozialsystemen verändert
wurden. Dadurch sollte wesentlich mehr Flexibilität in
diesen Bereichen entstehen.

Mittlerweile gibt es circa 1 600 Zeitarbeitsfirmen. In
der Tat gibt es in 98 Prozent dieser Firmen einen Tarif-
vertrag; die allermeisten dieser Tarifverträge wurden mit
DGB-Gewerkschaften abgeschlossen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich verurteile das überhaupt nicht. Vom Grundsatz her
gilt Equal Pay. Ich kenne die Geschichte sehr genau.


(Zuruf von der LINKEN: Ich auch!)


Wenn wir wollen, dass Equal Pay in der Zeitarbeitsbran-
che gilt, dann brauchen wir in dieser Branche ab 2013
einfach keine Tarifverträge mehr abzuschließen. Da-
durch würden wir völlig problemlos Equal Pay für alle
erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709927900

Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Vogler?


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1709928000

Ja.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709928100

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr

Kollege. – Mich würde interessieren, wie Sie auf 98 Pro-
zent kommen. Es gibt ja ein Urteil des Bundesarbeitsge-
richts, das festgestellt hat, dass bestimmte Gewerkschaf-
ten überhaupt nicht tariffähig sind. Sie nennen sich zwar
christlich, sind meiner Auffassung nach aber weder
christlich noch Gewerkschaften. Deren Tarifverträge
sind von Anfang an nichtig und ungültig. Wie bewerten
Sie diese Tatsache? Welche Vorstellungen haben Sie, um
dem Wildwuchs, dass Arbeitgeber mit bestimmten Ge-
werkschaften Tarifverträge abschließen, die gar nicht im
Interesse der Beschäftigten sind, und dass Gewerkschaf-
ten auf Veranlassung von Arbeitgebern gegründet wer-
den, nur um Dumpinglöhne in ihren Betrieben aufrecht-
zuerhalten, entgegenzutreten?

Bei uns im Münsterland arbeiten Beschäftigte in der
Leiharbeitsbranche für 5,60 Euro pro Stunde. Jeden
Donnerstagabend gibt es extra verlängerte Öffnungszei-
ten bei der GAB, bei den Argen, damit die Leute dort er-
gänzendes ALG II beantragen können. Halten Sie das
tatsächlich für würdige Arbeitsbedingungen? Ich glaube,
hier müssen Sie noch ordentlich nachlegen und noch ein-
mal genau überprüfen, wie die Situation bei uns im
Münsterland tatsächlich ist.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1709928200

Liebe Frau Kollegin Vogler, die Situation ist auch im

Münsterland sehr differenziert zu beurteilen.

Erstens. Tarifverträge werden von Gewerkschaften
geschlossen, egal in welchem Bereich. Die 98-prozen-
tige Tarifbindung haben wir. Ein Teil der Tarifverträge
wurde als nicht gültig eingestuft – dennoch gibt es zur
Stunde Tarifverträge –; ich gehe davon aus, dass dies im
Nachhinein geregelt und nachgeholt wird. Es bestehen
sicherlich Probleme. Sie haben aber nichts mit Grund-
satzfragen im Hinblick auf Tarifverträge zu tun, sondern
betreffen gewerkschaftliche Entscheidungen in einem
ganz bestimmten Bereich.

Zweitens. Ich will Ihnen gerne sagen, dass auch ich
einen Stundenlohn von 5,40 Euro nicht gut finde. Sehen
Sie: Deswegen schaffen wir mit diesem Gesetz die Vo-
raussetzungen für eine Lohnuntergrenze. Wir wollen sol-
che Löhne verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich hoffe sehr, dass Sie dem zustimmen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings! Wir sind wirklich gespannt, ob die dann zustimmen!)


Drittens möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang
sagen: Ich halte es schon für notwendig, die Zeitarbeits-
branche sehr differenziert zu betrachten. Es geht nämlich
nicht nur um Stundenlöhne von 5,40 Euro; dieses Bei-
spiel, das eine bestimmte Branche, nämlich ungelernte
Arbeitskräfte, betrifft, haben Sie gerade genannt. Viel-
mehr ist das Tarifsystem in der Zeitarbeitsbranche sehr
ausdifferenziert. Im Münsterland, aus dem wir beide
kommen, gibt es auch Zeitarbeitsfirmen, die ihren Mitar-
beitern 16 Euro die Stunde zahlen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wahrscheinlich, weil sie sonst 20 kriegen würden!)


Ich kenne Industriebetriebe, die Wert darauf legen, dass
vom ersten Tag an Equal Pay gilt. Diese Betriebe kennen
auch Sie. Ich glaube, dass es notwendig ist, von dem ge-
samten Kübel der Verwerfungen, den Sie über der Zeit-
arbeit ausgießen, ein wenig Abstand zu nehmen, die
Dinge sehr differenziert zu betrachten und genau zu
überprüfen, an welchen Ecken wir Veränderungen benö-
tigen. Genau das tun wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wenn die Leute alle zu wenig verdienen, kann ich das nicht differenziert betrachten!)


Ich glaube allerdings, dass es in den vergangenen Jah-
ren – das gestehe ich gerne zu, und deswegen handeln
wir heute – zu Verwerfungen gekommen ist, weil Be-
triebe ihre Betriebskonzeption darauf abgestellt haben,
mit möglichst niedrigen Löhnen und durch Ausgliede-
rungen in eigene Zeitarbeitsfirmen geschäftsfähig zu
sein.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ja! Geschäftsmodell Lohndumping!)


Dies steht in deutlichem Widerspruch zur sozialen
Marktwirtschaft, zur sozialen Verantwortung und zum
Handeln eines ehrbaren Kaufmanns, der nicht nur Um-
sätze, sondern auch seine Mitarbeiter im Blick haben
muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit dem heute vorliegenden Gesetz führen wir mit
der sogenannten Drehtürklausel eine Regelung ein, die
dem einen Riegel vorschiebt. Außerdem verhindern wir
Verwerfungen im Bereich der Zeitarbeit, zu denen es
aufgrund der Herstellung der vollständigen Arbeitneh-
merfreizügigkeit in der EU ab dem 1. Mai dieses Jahres
kommen könnte. Darüber hinaus schaffen wir für die
Verleihzeiten und die verleihfreien Zeiten eine Lohnun-
tergrenze, die wie ein Mindestlohn wirkt. Im Übrigen
werden wir mit diesem Gesetz die europarechtskonfor-
men Regelungen umsetzen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das haben wir ja in der Anhörung gehört!)


3 Prozent aller Beschäftigten sind in Deutschland in
einer Zeitarbeitsbranche tätig. Nicht ganz Deutschland
arbeitet in Zeitarbeit, sondern nur 3 Prozent aller Be-
schäftigten.


(Zuruf von der LINKEN: Und das ist gar nichts?)






Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)

Das sind – zugegebenermaßen – 1 Million Menschen.
Die Branche erlebt einen deutlichen Aufschwung. In der
Aufschwungphase geht es Betrieben darum, Auftrags-
spitzen aufzufangen – ich erlebe das immer wieder – und
flexibel auf den Personalbedarf der Wirtschaft zu reagie-
ren. Ich sage sehr deutlich: Das gelingt, auch dank der
guten Zusammenarbeit mit den Regionalagenturen vor
Ort. Davon profitieren übrigens nicht nur alle Zeitar-
beitsfirmen, die wir kennen, sondern auch eine Zeitar-
beitsfirma, an der der DGB beteiligt ist.

Es zeigt sich, dass Betriebe zurzeit mit Festanstellun-
gen zögern; ich halte das für falsch. Sie vergeben eher
zeitlich begrenzte Verträge. Das ist für unsere gesell-
schaftliche Entwicklung hochgefährlich, weil sich junge
Menschen, die keinen Dauerarbeitsplatz bekommen,
nicht für Kinder und Familie entscheiden. Wir sind da-
bei, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.

Wir haben die Verwerfungen, die es im Augenblick
gibt, im Blick; das gilt auch für andere Bereiche. Ich
frage mich, ob es notwendig ist, jemanden länger als
zwölf Monate an einen Betrieb zu verleihen. Ich glaube,
dass das nichts mehr mit Zeitarbeit zu tun hat, sondern
ein Regelarbeitsverhältnis ist. Wir sollten das gut im
Blick behalten.

Ich will auch deutlich sagen, dass es Zeitarbeit nicht
nur in der Wirtschaft gibt. Es gibt sie leider auch im
kommunalen Bereich und in Wohlfahrtsverbänden, und
zwar in einer Form, wie ich sie nicht vermutet hätte.
Leiharbeit kommt insbesondere im Bereich der Pflege
vor. Die Arbeiterwohlfahrt in Essen zum Beispiel hat zu
meinem großen Erstaunen ein komplettes Geschäftsmo-
dell entwickelt.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Im Bundestag haben wir auch Leiharbeit!)


Sehr deutlich möchte ich sagen, dass ich den Klebe-
effekt durch Vermittlung nicht geringschätze. Die Werte
schwanken übrigens, Frau Kollegin Krellmann, zwi-
schen 8 und 15 Prozent;


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Genau! Richtig!)


das ist nicht genau festgelegt. Diesen Klebeeffekt gibt es
aber. Ich begrüße das außerordentlich. Hier macht sich
die Zeitarbeit als eine Brücke zur dauerhaften Beschäfti-
gung sehr positiv bemerkbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Bei aller Diskussion dürfen wir eines nicht übersehen:
Der Aufschwung, den wir in der Wirtschaft erleben, ist
auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Weniger Menschen
sind im Bereich der Kurzarbeit tätig. Wir haben einen
deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Es ist zu
einem nach einer solchen Krisensituation nie gekannten
Aufschwung im Bereich der sozialversicherungspflichti-
gen Beschäftigungsverhältnisse gekommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Abrüstung!)


Ich möchte Ihnen abschließend zwei Dinge sagen:
Erstens. Ich würde der Opposition raten, in ihrer Wort-
wahl zum Thema Zeitarbeit etwas sorgsamer zu sein.
Die Menschen, die dort arbeiten, möchten auf das, was
sie leisten, stolz sein.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie möchten es!)


Sie haben Respekt für die Arbeitsleistung, die sie erbrin-
gen, verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709928300

Kollege Schiewerling, achten Sie bitte auf die Zeit.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1709928400

Ich komme zum Schluss. – Zweitens. Ich glaube, dass

wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, einen
wichtigen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit und zu mehr
Regelungen in diesem Bereich machen. Das ist nicht nur
für die Beschäftigten, sondern auch für die Akzeptanz
der Branche und damit für die Betriebe wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709928500

Das Wort hat die Kollegin Kramme für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1709928600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Unionsparteien und der FDP, ich frage mich immer
Folgendes: Liegt bei Ihnen Sarkasmus oder Zynismus
vor? Ist es schlichtweg der Balken im Auge, wenn Sie
über die Zustände in der Leiharbeit reden?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie ist nah dran!)


Ich kann nur sagen: Ich nehme ein komplette Realitäts-
verkehrung wahr.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Manche haben einen Balken im Auge und ein Brett vorm Kopf!)


Ihr Gesetzentwurf ist löchrig wie ein Schweizer Käse.
Man kann auch sagen, er sieht aus wie ein Sack voller
Kartoffeln, in dem es nur eine einzige genießbare Kar-
toffel gibt.

Wir alle wissen, dass es zwei Kernprobleme im Be-
reich der Leiharbeit gibt. Das eine Problem ist: Die Leih-
arbeit ist eine Niedriglohntätigkeit. Viele Menschen, die
in der Leiharbeit beschäftigt sind, bekommen nicht nur
Niedriglöhne, sondern Armutslöhne. Das andere Pro-
blem ist: Immer mehr Menschen sind in der Leiharbeit
beschäftigt. Das liegt daran, dass Stammarbeitnehmer
durch Leiharbeitskräfte substituiert werden. Das macht
uns große Sorgen. Denn Menschen in der Leiharbeit sind
über die Armutslöhne, mit denen sie auskommen müs-
sen, sozial nur unzureichend abgesichert. Vor allem be-





Anette Kramme


(A) (C)



(D)(B)

reitet es große Sorgen, wenn man sich ausrechnet, was
diese Menschen eines Tages an Rente bekommen wer-
den. Es ist volkswirtschaftlich auch äußerst unökono-
misch, über SGB II Jahr für Jahr 500 Millionen Euro an
Aufstockungsleistungen zuzuzahlen und damit Dum-
pingunternehmen in dieser Republik letztlich finanziell
zu unterstützen.

Wenn Sie einen Gesetzentwurf zum Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz vorlegen, könnte man denken, dass
Sie damit die Kernprobleme der Leiharbeit angehen und
auf die Realität eingehen. Das ist aber leider nicht zu be-
obachten.

Sie legen hier eine winzige Regelung vor, mit der ge-
gen die sogenannte Drehtürmethode vorgegangen wer-
den soll. Was ist diese Drehtürmethode? Dabei geht es
darum, dass Arbeitnehmer zunächst in einem Stamm-
unternehmen beschäftigt waren, dort entlassen worden
sind oder mit der Arbeit aufgehört haben, weil sie nur ei-
nen befristeten Arbeitsvertrag hatten, danach in einem
Leiharbeitsunternehmen auftauchen und am gleichen
Arbeitsplatz weiterarbeiten.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist die sogenannte AWO-Methode!)


Es ist richtig: Das ist ein Problem, das gelöst werden
muss. In der Gesamtproblematik der Leiharbeit in das
aber eine Marginalie.

Die Regelung kann durch Arbeitgeber auch ganz
leicht umgangen werden, indem sie mit dem Leiharbeits-
unternehmen einfach absprechen: Schickt mir andere
Leiharbeitnehmer. – Dann muss kein Equal Pay gelten,
wie es vorgesehen ist. Man kann auch mit einem kom-
plett fremden Unternehmen der Leiharbeit zusammenar-
beiten, zu dem es nie Kontakte oder Berührungspunkte
gegeben hat.

Sie schreiben in dem Gesetzentwurf weiter: Leihar-
beit soll nur noch vorübergehend sein. – Damit reagieren
Sie auf die EU-Leiharbeitsrichtlinie. Europäische Richt-
linien sind aber so auszulegen, dass sie effektiv sind. Das
tun Sie an dieser Stelle nicht, sondern Sie sagen: Vo-
rübergehend ist alles, was irgendwann einmal ein Ende
hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorübergehend!)


Zu solch einem Ende kann es aber natürlich auch erst in
10 oder 15 Jahren kommen.


(Beifall bei der SPD)


Dabei hat sich der europäische Gesetzgeber durchaus et-
was dabei überlegt, zu sagen, dass Leiharbeit nur vo-
rübergehend geleistet werden soll.

Es geht hierbei darum, dass Dauerarbeitsplätze in
Stammunternehmen vorhanden sein sollen, dass die Be-
schäftigung primär dort stattfinden soll, zu guten Kondi-
tionen, und dass die Leiharbeit ihre Probleme hat, wes-
halb mit ihr nur Auftragsspitzen abgedeckt und Vertre-
tungsregelungen umgesetzt werden sollen.

Ein weiteres Problem lösen Sie ebenfalls nicht. Damit
liegt ein gravierender Verstoß gegen die EU-Leiharbeits-
richtlinie vor. Danach sind Abweichungen vom Grund-
satz Equal Pay nur dann gestattet, wenn es Regelungen
zur Sicherung des Gesamtschutzniveaus der Leiharbeit-
nehmer gibt. Hier haben Sie jegliche Regelung unterlas-
sen.

Meine Damen und Herren, wir brauchen drei Dinge:

Erstens. Wir brauchen Equal Pay und Equal Treat-
ment, um die Verdrängung von Stammarbeitnehmern zu
verhindern.

Zweitens. Wir brauchen eine Höchstüberlassungs-
dauer, um ebenfalls zu verhindern, dass dieser Verdrän-
gungswettbewerb stattfindet.

Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zu-
sammenhang ist für uns: Es muss ein Synchronisierungs-
verbot geben, weil wir in der Realität immer mehr fest-
gestellt haben, dass Leiharbeitsverträge mit Arbeit-
nehmern parallel zum Auftrag des Entleihunternehmens
abgeschlossen werden. Das kann und darf nicht sein.

Eine allerletzte Konstellation sei an dieser Stelle ge-
nannt: Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte
schaden nie. Betriebsräte können gut und flexibel mit
Leiharbeit umgehen, wenn sie auch Rechte haben, um
auf die spezifische Situation im Unternehmen einzuge-
hen.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709928700

Der Kollege Vogel hat für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709928800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben eben ja schon darüber geredet: Als Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die
Zeitarbeit flexibilisiert haben


(Anton Schaaf [SPD]: Da waren Sie doch noch gar nicht hier, Herr Kollege Vogel!)


– ich habe mir vom Kollegen Kolb umfangreich berich-
ten lassen, lieber Toni Schaaf –, hatten Sie doch in Wahr-
heit – wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie das zu –
zwei Ziele im Blick: Sie hatten einerseits natürlich ein
Flexibilitätsinstrument für die Unternehmen im Blick,
andererseits aber doch auch – zumindest hoffe ich das
für Sie – den Einstieg für Arbeitslose in den Arbeits-
markt.

Jetzt sagen Sie: Es hat Fehlentwicklungen gegeben;
die wollen wir korrigieren. Ich frage Sie: Was sind denn
diese Fehlentwicklungen? Ist es eine Fehlentwicklung,
dass zwei Drittel der Arbeitslosen, die in der Zeitarbeit
tätig sind, darüber den Einstieg in den Arbeitsmarkt fin-
den? Ist es eine Fehlentwicklung, dass drei Viertel davon
dauerhaft im Arbeitsmarkt bleiben und dass 40 Prozent
der Unqualifizierten, die in der Zeitarbeit beschäftigt
sind, darüber in den Arbeitsmarkt kommen?





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dass sie 40 Prozent weniger verdienen, Herr Vogel, runtergedrückt werden! – Anette Kramme [SPD]: Dass sie nach drei Monaten wieder gefeuert werden! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja oder nein, Herr Heil?)


Wenn das so ist, dann kann ich für die christlich-liberale
Koalition nur sagen: Wir sagen, das ist eine Errungen-
schaft und keine Fehlentwicklung. Diese wollen wir er-
halten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber vielleicht meinen Sie mit der Fehlentwicklung
etwas anderes. Vielleicht meinen Sie Ereignisse in der
Art von schwarzen Schafen, die die Zeitarbeit missbrau-
chen, wie wir es bei Schlecker und bei der Arbeiterwohl-
fahrt im Ruhrgebiet erlebt haben. Schönen Gruß an die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da könnten Sie
positiv Einfluss nehmen.

Wenn Sie das meinen, dann frage ich mich, warum
Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Genau das
führen wir nämlich ein: eine Anti-Schlecker-Klausel und
einen Mindestlohn mit Blick auf die ausländischen Zeit-
arbeitsunternehmen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Weil Sie das mit Schlecker nicht verstanden haben!)


Wenn das die Fehlentwicklungen sind, dann könnten Sie
zustimmen. Ich habe heute von Ihnen keinen Grund ge-
hört, dem Gesetzentwurf in irgendeinem Punkt nicht zu-
zustimmen. Ich habe das Gefühl, Sie meinen es mit der
Korrektur von Fehlentwicklungen nicht richtig ernst,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit zum Beispiel steht nicht drin!)


Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Auch wir
meinen, dass es bei der Zeitarbeit noch einen Punkt gibt,
der korrigiert werden muss, damit die Zeitarbeit nicht
nur ein Steg in den Arbeitsmarkt ist, sondern eine Brü-
cke. Dabei geht es um das Equal Pay. Das haben wir sel-
ber thematisiert.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Monaten!)


– Ja, lieber Kollege Heil. – Wir wissen, dass es mit dem
Equal Pay nicht ganz einfach ist. Es kann auch, zum Bei-
spiel wenn man es ab dem ersten Tag vorsieht, wie Sie es
wollen, negative Effekte haben. Ich zitiere kurz, was
Herr Walwei vom IAB in der Anhörung gesagt hat. Es
ist übrigens interessant, dass in der Anhörung, von der
auch Sie heute häufig gesprochen haben, kein einziger
Kollege von Ihnen, liebe Opposition, auch nur eine ein-
zige Frage an die anerkannt unabhängigen Akteure BA
und IAB gestellt hat. Sie haben nur die von Ihnen selbst
bestellten Sachverständigen befragt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unangenehme Wahrheiten will die SPD nicht hören!)

Deswegen zitiere ich, was Herr Walwei gesagt hat:

Bei Equal Treatment muss man ganz klar sagen,
dass dies ab dem ersten Tag und ohne Ausnahme
die Zeitarbeit erheblich verteuern würde. Die Inan-
spruchnahme ginge dann definitiv zurück. Da muss
man ganz klar sagen, dass damit dann Zugangs-
hürden für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer
wachsen würden. Es käme im Grunde zur Rache
des Gutgemeinten.

Das wollen wir nicht. Wir wollen das auch für die Gerin-
gerqualifizierten erhalten. Deshalb sagen wir: Die Tarif-
partner regeln das Equal Pay.

Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben ebenso
wie ein anderer Kollege von Heuchelei gesprochen und
gesagt, dass das Aufgabe der Politik sei. Das ist der Un-
terschied zwischen Ihnen und uns: Wir wollen den Tarif-
partnern nicht die Brosamen überlassen, die übrigblei-
ben, nachdem die Politik alles geregelt hat. Wir vertrauen
den Tarifpartnern, dass sie eine gute Lösung finden wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Nur dann, wenn sie nicht handeln, werden wir nach ei-
nem Jahr tätig.

In diesem Sinne ist festzustellen: In der Frage des
Equal Pay wird es entweder eine guten Lösung der Tarif-
partner oder durch die Kommission geben, die wir nach
einem Jahr einsetzen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit einer Arbeitsgruppe! Wenn wieder keiner weiterweiß, dann gibt es einen Arbeitskreis!)


Alle anderen Probleme, die Sie beklagen, die die Zeitar-
beit aber nicht kaputtmachen würden, sind gelöst. In die-
sem Sinne kann ich nicht erkennen, warum Sie dem Ge-
setzentwurf nicht zustimmen.

Ich kann nur erkennen, dass Sie viel Schauspiel be-
treiben und wir uns um die Probleme der Menschen
kümmern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Arbeitnehmer brauchen die FDP wirklich nicht!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709928900

Der Kollege Lehrieder hat für die Unionsfraktion das

Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709929000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! In der Diskussion wurde bereits einiges
ausgeführt. Wir führen die zweite und dritte Beratung
des Gesetzentwurfs durch, der den Missbrauch bei der
Zeitarbeit unterbinden soll.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Lieber Kollege Hubertus Heil, wir haben lange ver-
handelt. Es wäre gut, wenn Sie als SPD das Ergebnis der
Verhandlungen mittragen könnten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre schön gewesen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das tragen wir mit! Das ist der Mindestlohn! Da stimmen wir zu! Aber den restlichen Schrott brauchen wir nicht!)


Wir haben vieles mit in den Gesetzentwurf hineinver-
handeln können. Wir haben uns sehr viel Mühe mit Ih-
nen gegeben. Es wäre schön, wenn Sie das ganze Paket
mitschultern könnten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann hätten Sie sich mehr bewegen müssen! Sie sind halt nicht gut genug!)


Kollege Vogel hat gerade die Anhörung angespro-
chen, die am Montag stattgefunden hat. Auf meine
Frage, ob durch die Zeitarbeit eine Verdrängung regulä-
rer Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang er-
folgt, hat der Sachverständige Walwei ausgeführt, dass
das nach seiner Erkenntnis gerade nicht der Fall ist.
Denn, wie Sie selber gesagt haben, Herr Heil, haben
viele Leiharbeitnehmer nach einer kurzen Frist das Un-
ternehmen verlassen. Insofern kommt es nicht zu einer
spürbaren Verdrängung aus regulären Beschäftigungs-
verhältnissen.

Wir haben auch festgestellt, dass durch die von Ihnen
vorgegebene gesetzliche Regelung Möglichkeiten zum
Missbrauch gegeben waren. Der Gesetzentwurf sieht
deshalb Regelungen vor, um die Fälle von Scheinzeitar-
beit zu vermeiden, in denen den Arbeitnehmern gekün-
digt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer zu
schlechteren Bedingungen und Löhnen wieder im ehe-
maligen Unternehmen zu beschäftigen. Auf die Drehtür-
klausel wurde bereits zu Beginn der Debatte von unserer
Ministerin hingewiesen.

Wer Zeitarbeit auf diese Weise missbraucht, um Ar-
beitslöhne zu drücken, der untergräbt ein an sich gutes
Instrument der Arbeitsmarktpolitik und verkennt den
Sinn der Zeitarbeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 7 Prozent!)


Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nun
sichergestellt, dass ein solcher Missbrauchsmechanismus
nicht mehr möglich ist. Zugleich wird damit die EU-
Leiharbeitsrichtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 19. November 2008 in nationales Recht
umgesetzt. Wir gewährleisten damit, dass die Zeitarbeit
nicht mehr als Drehtür zur Absenkung von Arbeitslöh-
nen und Arbeitsbedingungen genutzt werden kann. Wir
leisten damit einen notwendigen und wichtigen Beitrag
zur Verbesserung eines für den Arbeitsmarkt bewährten
Instruments.

Selbstverständlich ist es wünschenswert, feste Anstel-
lungen bzw. unbefristete Arbeitsverträge auf dem Ar-
beitsmarkt zu haben. Das ist bei über 95 Prozent der Be-
schäftigungsverhältnisse in unserem Land auch der Fall.
Unser Ziel ist es aber, allen arbeitsfähigen Menschen die
Möglichkeit zu bieten, einer Arbeit nachzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Arbeit zu haben, ist besser als gar keine Arbeit. Die
Zeitarbeit ist daher auch ein Sprungbrett in eine feste Be-
schäftigung. Sie ist die Chance für jeden, der Arbeit
sucht; Kollege Vogel hat auf diesen Aspekt bereits hin-
gewiesen.

Der Leiharbeit haben wir es zu verdanken, dass ge-
rade in den Krisenzeiten der letzten Jahre Geringqualifi-
zierte und Arbeitslose eine Chance auf Beschäftigung
hatten. Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeit-
arbeitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbil-
dung, und zwei Drittel hatten vor ihrer Anstellung keine
Arbeit.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Logisch!)


Die Flexibilität der Zeitarbeit machte es möglich, den
konjunkturellen Aufschwung schneller in Beschäftigung
umzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP])


Sicherlich – das soll nicht in Abrede gestellt werden –
ist in der Zeitarbeitsbranche, die sich von einem Arbeits-
marktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelt
hat, einiges unglücklich gelaufen. Schlupflöcher, die auf
Kosten der Arbeitnehmer ausgenutzt wurden, werden
mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nun ge-
schlossen. Folgende Kernpunkte sind darin enthalten.

Erstens erfolgt eine Ausdehnung der Erlaubnispflicht
der Arbeitnehmerüberlassung auch auf solche Überlas-
sungen, mit denen keine Gewinnerzielungsabsicht ver-
bunden ist, sowie auf solche, die nicht auf Dauer ange-
legt sind.

Zweitens wird in Zukunft verhindert, dass zuvor ar-
beitslose Leiharbeitnehmer für einen Zeitraum von bis
zu sechs Wochen von einem Unternehmen zu einem
Nettogehalt beschäftigt werden, das dem zuletzt gezahl-
ten Arbeitslosengeld entspricht.

Drittens wird den Zeitarbeitnehmern nun das Recht
eingeräumt, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen
oder -diensten zu erhalten.

Last, but not least – viertens – geht der Entleiher die
Verpflichtung ein, Leiharbeitnehmer über freie Stellen
im Unternehmen in Kenntnis zu setzen.

Ein weiterer zentraler Punkt ist die Festlegung einer
absoluten Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit. Eine sol-
che haben wir in Höhe von 7,60 Euro für die alten und
6,65 Euro für die neuen Bundesländern eingeführt.

Erlauben Sie mir, am Ende meiner Redezeit noch ein-
mal auf das viel gerühmte Equal Pay einzugehen. Lieber
Herr Kollege Heil, Equal Pay soll im Laufe der nächsten
Monaten insbesondere bei auslaufenden Tarifverträgen
von den Tarifvertragsparteien diskutiert bzw. in Tarifver-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

träge hinein verhandelt werden, die wir dann mit den Ar-
beitgeberverbänden und mit den Gewerkschaften für all-
gemeinverbindlich erklären können.

Die Forderungen der SPD zeigen, dass ihr sehr viele
Gewerkschafter davongelaufen sind. Wir halten es für
sinnvoll, dass die Tarifvertragsparteien, denen wir ein
großes Vertrauen entgegenbringen, innerhalb des nächs-
ten Jahres – auf diesen Zeitraum hat die Frau Ministerin
hingewiesen – Regelungen anstreben, die wir dann über-
prüfen werden und übernehmen können. Das ist allemal
gescheiter, als sich aus der Hüfte heraus auf eine Begren-
zung der Verleihdauer auf einen Zeitraum zwischen drei
und neun Monaten – Kollege Heil und Kollege Kolb hat-
ten davon gesprochen – zu entscheiden.

Lassen Sie uns das prüfen. Es wird ja auch in Zukunft
Handlungsbedarf geben. Lassen Sie uns dieses an sich
vernünftige Instrument weiterentwickeln.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709929100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Ver-
hinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/4804 in der Ausschussfassung mit
den in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben
anzunehmen.

Die Fraktion der SPD hat getrennte Abstimmung über
die Maßgaben beantragt.

Ich rufe daher zunächst die in der Beschlussempfeh-
lung genannten Maßgaben auf. Ich bitte diejenigen, die
diesen zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind die in
der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich lasse jetzt über die übrigen Teile des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4804 abstimmen. Ich bitte die-
jenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind
auch die übrigen Teile des Gesetzentwurfs mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom-
men. Der Gesetzentwurf ist somit in allen Teilen in
zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.

Wir stimmen zuerst über den Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5253 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan-
trag ist abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5254. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.

Wir kommen zu dem von der Fraktion Die Linke ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur strikten Regulie-
rung der Arbeitnehmerüberlassung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Ge-
setzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/
3752 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zu-
satzpunkt 9 auf:

10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Mit Transparenz und parlamentarischer Be-
teiligung gegen die Ausweitung von Rüstungs-
exporten

– Drucksache 17/5054 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

(Federführung strittig)


ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuver-
lässigkeit konsequent aussetzen

– Drucksache 17/5204 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Ich bitte diejenigen, die an dieser Aussprache teilha-
ben wollen, sich einen Platz im Plenum zu suchen, und
diejenigen, die eine Aussprache zu anderen Themen füh-
ren wollen, das Plenum zu verlassen. – Frau Ministerin
von der Leyen, ist es möglich, dass wir mit den Beratun-
gen fortfahren?

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1709929200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was ist der Grund für unseren Antrag und für einen Neu-
anfang? Wir teilen die Einschätzung der evangelischen
und der katholischen Kirche, die uns in der Gemeinsa-
men Konferenz Kirche und Entwicklung auffordern, in
der Rüstungs- und Waffenexportpolitik Deutschlands ei-
nen Neuanfang mit Transparenz und parlamentarischer
Beteiligung zu machen. Vor dem Hintergrund meiner
elfjährigen Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat – das
Entwicklungsministerium ist seit 1998 dort Mitglied –
unterstütze ich diesen notwendigen Neuanfang aus tiefer
eigener Überzeugung und Erfahrung. Ich meine das
durchaus selbstkritisch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Welche konkreten Gründe gibt es aktuell? Durch die
Umstrukturierung der Bundeswehr verfügen die deut-
schen Streitkräfte zukünftig über Waffen und Rüstungs-
güter, die nicht mehr benötigt werden. Die Gefahr ist
groß, dass diese Waffen weltweit und damit auch in Kri-
sengebiete exportiert werden. Deutschland darf aber
nicht dazu beitragen, dass damit Konflikte in anderen
Regionen angeheizt werden. Das hätte entsetzliche Kon-
sequenzen für das Leben von Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Entsprechende Entwicklungen bei der Umstrukturie-
rung von Armeen gibt es in vielen Industrieländern.
Auch deshalb ist es notwendig, dass der gemeinsame
Standpunkt der Europäischen Union zu Rüstungsausga-
ben aus dem Jahr 2008 endlich von allen EU-Ländern,
auch von Deutschland, in einer rechtlich bindenden
Form gefasst wird; denn mit diesen acht Kriterien wer-
den Festlegungen für eine restriktive Waffen- und Rüs-
tungsexportpolitik in der Europäischen Union insgesamt
getroffen. Dazu gehören unter anderem die Einhaltung
der internationalen Verpflichtungen des Empfängerlan-
des, die Achtung der Menschenrechte und des humanitä-
ren Völkerrechts durch das Empfängerland, die Frage,
ob das betreffende Land in einer Region mit bewaffneten
Konflikten oder in einer Spannungsregion liegt, und die
Frage, wie sich ein solches Empfängerland gegenüber
der internationalen Gemeinschaft verhält.

Rot-Grün hat, beginnend im Jahr 1999 und dann im
Jahr 2000, sehr restriktive politische Grundsätze für den
Waffen- und Rüstungsexport erarbeitet, die für das Ver-
halten der Bundesregierung prägend sein sollten, und
man hat sie so ausgestaltet, dass in Länder außerhalb der
NATO bzw. in der NATO gleichgestellte Staaten nur in
begründeten Einzelfällen geliefert werden kann. Ich sage
aber auch: Es bestand und es besteht immer die Gefahr
der unterschiedlichen Interpretation, ob bei konkreten
Entscheidungen die politischen Grundsätze eingehalten
wurden bzw. werden oder nicht.

Der zweite Grund, warum es notwendig ist, jetzt ent-
sprechende Initiativen zu ergreifen, ist folgender: Die
schwarz-gelbe Bundesregierung hat angekündigt, dass
sie von einer restriktiven zu einer verantwortungsbe-
wussten Exportpolitik übergehen will.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist doch nicht Ihr Ernst!)


Das lässt Schlimmes vermuten, zumal die europäische
Rüstungslobby auf die Lockerung der Bestimmungen für
den Rüstungsexport drängt.

Der dritte Punkt ist – ich glaube, da sind wir uns alle
einig –:


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Jetzt schauen wir mal!)


Die Erfahrungen vieler europäischer Länder, Frank-
reichs, Italiens, Spaniens, Großbritanniens und auch
Deutschlands, mit Waffen- und Rüstungsexporten unter
dem Zeichen geostrategischer Stabilität an nordafrikani-
sche Länder und Länder des Nahen Ostens in den letzten
Jahren und zum Teil Jahrzehnten zeigen, wie notwendig
Transparenz sowohl in unserem Land als auch in ande-
ren europäischen Ländern für derartige Exportentschei-
dungen ist. Wären diese Verhaltensweisen früher öffent-
lich diskutiert worden, hätten viele Entscheidungen
keinen Bestand gehabt.

Wir alle haben gelernt – das ist hoffentlich ein Ergeb-
nis dieser Debatte –: Waffenlieferungen in Länder, die
nicht der Demokratie verpflichtet sind, darf es nicht ge-
ben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist natürlich wichtig, dass man Waffenembargos be-
schließt. Aber sie werden doch immer erst beschlossen,
wenn die Krisensituation schon eingetreten ist. An-
schließend wird oft genug Business as usual betrieben.
Eine solche Praxis muss ein Ende haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern deshalb eine restriktive Genehmigungs-
praxis, die eine Kultur der Zurückhaltung erkennen lässt
und die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch die
Hintertür einer europäischen Harmonisierung verwäs-
sert. Wir fordern, nicht Lobbyinteressen zu bedienen, in-
dem Exportrichtlinien aufgeweicht werden, sondern An-
sätze der Konversion wiederzubeleben, um die zivile
Produktion deutscher Unternehmen, die neben Rüs-
tungsgütern in vielen Fällen auch zivile Produkte her-
stellen, zu stärken.

Gerade jetzt, da Deutschland als nicht ständiges Mit-
glied in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden ist, for-





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)

dern wir die Bundesregierung auf, die Verhandlungen
für ein weltweites Waffenhandelsabkommen im Jahr
2012 zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen und
dabei vor allen Dingen abrüstungspolitisch engagierte
Nichtregierungsorganisationen in die Beratungen einzu-
beziehen. Ziel des Abkommens muss es sein, eine mög-
lichst große Zahl von Staaten – ich verweise auf China,
Russland und die USA – auf grundlegende Prinzipien
zur Begrenzung und Kontrolle der Rüstungstransfers zu
verpflichten und völkerrechtlich bindende Richtlinien
für alle Rüstungsexporte zu entwickeln.

Die Zahl der Exportgenehmigungen für sogenannte
kleine und leichte Waffen, also für Massenvernichtungs-
waffen in Zeitlupe, wie sie Kofi Annan genannt hat,
muss endlich drastisch reduziert werden. Hier müssen
entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden.

Der Kern unseres Antrags – da bitte ich alle Kollegin-
nen und Kollegen um Unterstützung –, besteht aber da-
rin, dass wir den Vorschlag der Gemeinsamen Konferenz
Kirche und Entwicklung für eine stärkere parlamentari-
sche Beteiligung bei Rüstungs- und Waffenexportent-
scheidungen aufgreifen. Wir formulieren in unserem An-
trag:

Ein geeignetes Instrument dafür

– für die frühzeitige Einbeziehung des Deutschen Bun-
destages in den Entscheidungsprozess –

könnten vertrauliche Beratungen im Unteraus-
schuss des Auswärtigen Ausschusses des Deut-
schen Bundestages für „Abrüstung, Rüstungskon-
trolle und Nichtverbreitung“ sein …

Wir gehen davon aus, dass die Kolleginnen und Kol-
legen in diesem Hause, und zwar in allen Fraktionen, ein
Interesse daran haben, die Beteiligung des Deutschen
Bundestages zu stärken, und bieten deshalb ausdrücklich
an, einen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten, mit
dem Ziel, diese Rechte des Deutschen Bundestages zu
erweitern. Schweden zum Beispiel hat einen solchen
Prozess der parlamentarischen Beteiligung.

Zum Schluss. Die nordafrikanischen Länder brauchen
Chancen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Per-
spektiven für die Jugendlichen, die aufbegehren. Sie
müssen ihre Militärausgaben drosseln und die Mittel für
Bildung, Arbeit und zivile Entwicklung einsetzen. Insge-
samt befanden sich laut dem Bonner International Center
for Conversion im Jahr 2009 elf Länder der Region
Nordafrika/Naher Osten unter den Ländern mit den
höchsten Militarisierungsgraden. Das wichtigste Boll-
werk gegen mögliche islamistische Gewalt ist aber die
Unterstützung von Demokratie und Zukunftsperspekti-
ven in diesen Ländern; es ist nicht die Lieferung von
Waffen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709929300

Der Kollege Fritz hat nun für die Unionsfraktion das

Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1709929400

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Frie-
denspolitik und muss Friedenspolitik sein. Daran gibt es
seit der Gründung dieser Republik keinen Zweifel. Was
Rüstungsexportpolitik angeht, liebe Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul, haben wir in diesem Parlament eine
lange gemeinsame Praxis. Das hängt auch damit zusam-
men, dass das Verhalten nach Änderung von Mehrheiten
in der Regel nicht kurzfristig geändert wurde. Aus dem
Wort „verantwortungsvoll“ zu schließen, unsere Politik
sei nicht mehr restriktiv, passt, finde ich, überhaupt nicht
in die Diskussion in diesem Hause zu dem komplizierten
Thema Rüstungsexport.

Sie wissen ganz genau, dass durch den Lissabon-Ver-
trag, durch den Binnenmarkt vieles, von dem wir früher
ausgegangen sind, von der Praktikabilität des Umgangs
und der Kooperation innerhalb der Europäischen Union
her nicht mehr passt. Deshalb gibt es Bedarf, da etwas zu
ändern, und das soll gemacht werden.

Reden Sie doch bitte nicht klein, was stets das Ziel
der Bundesregierungen und vor allen Dingen des Bun-
destages war! Es waren immer Kollegen aus dem Deut-
schen Bundestag, die das vorangetrieben haben, indem
sie gesagt haben: Lasst uns eine gemeinsame europäi-
sche Exportkontrollpolitik betreiben, weil sie, wenn der
Standard höher wird, auf jeden Fall insgesamt bessere
Ergebnisse zeitigt als viele nationale Ansätze mit den
Zwängen, die Sie dargestellt haben. Insofern kann ich
das, was Sie hier vorgetragen haben, nicht ganz verste-
hen.

Ich kenne logischerweise all die Themen und Papiere,
auf die Sie sich beziehen. Ich sage hier nur: Der Antrag,
den Sie eingebracht haben, über den zu reden wir Gele-
genheit haben werden, enthält, was Veränderungen an-
geht, etwa hinsichtlich der parlamentarischen Beteili-
gung, keine neuen Vorschläge. Das diskutieren wir seit
20 Jahren.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja, aber jetzt müssen wir es mal machen!)


– Jetzt passen Sie einmal auf.

Der Vorschlag, das Parlament, das ich als den wich-
tigsten Kontrolleur ansehe, was Rüstungsexportpolitik
angeht, zumindest teilweise zur Genehmigungsbehörde
zu machen, hat zwei Seiten, die man ernsthaft betrachten
muss. Das Beispiel Schweden repräsentiert eine Seite.
Die dortige Praxis habe ich mir schon vor Jahren ganz
genau angesehen und immer wieder mit Kollegen disku-
tiert.

Bedenken Sie einmal Folgendes: In deutschen Groß-
städten wurde sehr ausgiebig über die Einrichtung von
Vergabeausschüssen in Form von politischen Gremien





Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)

diskutiert, die die Aufträge für die Stadt verteilen. Wenn
Sie sich heute umschauen, dann stellen Sie fest, dass es
nicht mehr viele davon gibt. Es ist nämlich nicht gut, die
Dinge zu vermischen. Außerdem ist die Anfälligkeit,
etwa für Korruption, viel zu groß, wenn man die Dinge
nicht auseinanderhält. Wir sind bereit, ernsthaft darüber
zu reden; schließlich gibt es gute Argumente für beide
Positionen. Denken Sie aber daran, dass das kein Thema
ist, das man von Anfang an für zentral erklären muss,
nur weil es starke Kräfte gibt, die das fordern.

Wir haben in diesem Bereich eine Trennung zwischen
Exekutive und Legislative. In diesem Fall geht es um
exekutives Handeln. Es geht nicht nur um die Genehmi-
gung von wenigen Großaufträgen. Dem Bundestag ist
im Übrigen noch nie verweigert worden, rechtzeitig in-
formiert zu werden. Jeder Kollege, der sich darum küm-
merte, konnte sich informieren und kann das auch heute
noch. Es geht um Folgendes: Zur Bundesverwaltung ge-
hört das Bundesausfuhramt und das Zollkriminalinstitut.
Die Kontrollfähigkeiten des Zolls sind – das wissen Sie
aufgrund Ihrer früheren Mitwirkung ganz genau – immer
stärker geworden. Das führt dazu, dass Unternehmen
häufiger eine Unbedenklichkeitserklärung beantragen.
Dadurch ist die Anzahl der Genehmigungen dieser An-
träge enorm gewachsen. Es gibt in diesem Bereich eine
große Sensibilität, auch der Unternehmen. Niemand will
sich in die kriminelle Ecke stellen. Das ist auch gut so.
Das alles jetzt in die Verantwortung des Bundestags zu
stellen, das ist keine positive Entwicklung. Damit sind
auch Schwierigkeiten verbunden.

Meine Redezeit ist seltsamerweise fast vorüber.


(Heiterkeit)


– So ist das manchmal, wenn man sich nicht an das Kon-
zept hält.

Die Praxis der Kontrolle, an der Sie beteiligt waren,
Frau Wieczorek-Zeul, führt dazu, dass wir ganz viele de-
likate Probleme haben, bei denen es berechtigte Ein-
wände gibt. Auch heute kann blockiert werden. Die Aus-
einandersetzungen wegen Genehmigungsverfahren, die
sich über Jahre hinziehen, sind nicht beliebt. Ich bin den-
noch für restriktive Verfahren, weil die Folgen falscher
Entscheidungen immer bedacht werden müssen.

Zu den anderen Themen will ich jetzt nichts sagen.
Ich will nur noch anführen, dass Siegfried Lenz in seiner
Novelle Schweigeminute, die der eine oder andere viel-
leicht gelesen hat, den schönen Satz geschrieben hat:

Was wir verschweigen … ist mitunter folgenreicher
als das, was wir sagen.

Das gilt auch für dieses Thema. Deshalb sind wir für
Transparenz, für Kontrolle und für eindeutige, klare Ver-
fahren.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Informationen vor allem!)


Wenn Sie mit uns darüber reden möchten, was man bes-
ser machen kann, sind wir dabei. Populistischen Forde-
rungen stimmen wir aber nicht zu.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709929500

Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709929600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe

in den letzten Wochen mehrfach gehört, dass Deutsch-
land eine strenge Rüstungsexportkontrolle habe. Das ist
wirklich eine Legende.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist keine Legende!)


Damit müssen wir endlich einmal aufräumen.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn wenn es eine strenge Exportkontrolle gäbe, dann
wäre Deutschland doch nicht weltweit die Nummer drei
der waffenexportierenden Länder, dann hätte Deutsch-
land auch keine Waffen an Libyen, an Ägypten, an
Saudi-Arabien und all die anderen Länder geliefert, für
die jetzt plötzlich ein Waffenembargo gilt und gegen die
der Westen möglicherweise Krieg führt. Ich möchte das
einmal an drei Beispielen aufzeigen:

Erstens. Was passiert eigentlich mit den Waffen, wenn
sie erst einmal exportiert worden sind? Das weiß kein
Mensch. Das muss man sich einmal vorstellen. Es ist aus-
reichend, wenn eine Waffenschmiede wie Heckler &
Koch, die Maschinenpistolen herstellt, ein Schreiben vor-
legt, in dem zum Beispiel Mexiko versichert: Ja, die Ma-
schinenpistolen, die wir kaufen, bleiben bei uns im Land.
Wir liefern sie nicht weiter. – Danach kontrolliert das nie
wieder jemand. Angesichts dessen sage ich immer: Jede
Frittenbude in Deutschland wird besser kontrolliert als
Waffenexporte. Wenn ich in Hamburg eine Frittenbude
aufmache, dann reicht es nicht aus, dass ich am Anfang
ein Schreiben schicke, in dem ich bestätige: Ja, ich mache
jeden Tag sauber und wechsle jede Woche das Öl. – Da
kommen natürlich regelmäßig Kontrolleure und kontrol-
lieren das. Bei den Waffenexporten ist das nicht der Fall.

Das führt dazu, dass deutsche Waffen bei allen Krie-
gen in der Welt auftauchen. In Mexiko hat zum Beispiel
Heckler & Koch jetzt ein Strafverfahren am Hals, weil
deutsche Gewehre plötzlich in Provinzen auftauchen, für
die ein Embargo gilt. Beim Krieg in Georgien sind plötz-
lich Sondereinheiten mit deutschen G36-Sturmgewehren
aufgetaucht. Diese Gewehre hätten dort gar nicht sein
dürfen; dafür gab es nie eine Genehmigung. Oder den-
ken Sie an den Sohn von Gaddafi, der neulich in Tripolis
mit einem deutschen Sturmgewehr vom Typ G36 we-
delte. Das hätte nie dort sein dürfen. Wenn man nicht
kontrolliert, wo die Waffen in den einzelnen Ländern
verbleiben, dann kommt es natürlich dazu, dass sie wild
in die ganze Welt exportiert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Man sollte sich einmal anschauen, was die Amerika-
ner machen. Die Amerikaner haben eine entsprechende





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

Endverbleibskontrolle. Sie schicken gerne einmal Kon-
trolleure ins Land, die nachschauen, ob die Waffen wirk-
lich da geblieben sind, wohin sie geliefert wurden. Das
ist doch das Mindeste, was Deutschland machen könnte.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens: die Frage der Menschenrechte. Es war hier
mehrfach die Rede von den Rüstungsexportrichtlinien
der Bundesregierung. Diese können Sie getrost in die
Tonne drücken; sie sind völlig unverbindlich. Es gibt in
Deutschland kein Verbot des Exports von Waffen in
menschenrechtsverletzende Staaten. Das muss man ein
für alle Mal klarstellen. Es handelt sich um eine unver-
bindliche Richtlinie. Es wird nämlich abgewogen zwi-
schen den Fragen, wie viel Geld verdient wird, wie
wichtig ein Land in politischer Hinsicht ist und wie es
mit der Einhaltung der Menschenrechte im betreffenden
Land aussieht. Die Menschenrechte fallen am Ende im-
mer hinten herunter. Anders kann man doch gar nicht er-
klären, dass nach Saudi-Arabien Tausende von Sturmge-
wehren geliefert werden,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Panzer!)


obwohl die Bundesregierung selber in ihrem Menschen-
rechtsbericht schreibt, dass dort dauerhaft schwere Men-
schenrechtsverletzungen stattfinden.

Es reicht insofern nicht aus, auf die Menschenrechte
hinzuweisen, sondern eine rechtsverbindliche Regelung
muss her.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin dafür, dass als minimaler Standard festgelegt
wird, dass in ein Land, in dem es nach dem Menschen-
rechtsbericht der Bundesregierung dauerhaft schwere
Menschenrechtsverletzungen gibt, keine Waffen mehr
exportiert werden dürfen. – Punkt! Hier darf dann keine
Abwägung mehr vorgenommen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens: die Frage der Transparenz. Man muss sich
einmal vorstellen, dass wir und die Öffentlichkeit zum
Beispiel von einer Lieferung von Panzern nach Chile,
die die Bundesregierung genehmigt, erst anderthalb
Jahre später erfahren. Das darf doch wohl nicht wahr
sein. Das Mindeste ist – das finde ich auch richtig –, dass
wir vorab informiert werden, welche Anträge vorliegen
und was wann wohin gehen soll, damit wir gegebenen-
falls einschreiten können. Heute kann niemand mehr die
Waffen, die nach Libyen gegangen sind, zurückholen.
Erst vor einigen Wochen haben wir erfahren, wie viele
Waffen im Jahr 2009 dorthin exportiert wurden. Für das
Jahr 2010 liegen uns ja noch gar keine Daten vor.

Schließlich unterstütze ich die Forderung der SPD,
dass die Exporte von Kleinwaffen drastisch reduziert
werden. Das aber einfach nur in den Raum zu stellen, än-
dert nichts. Die SPD und die Grünen haben diese Forde-
rung schon 1998 erhoben; hinterher sind die Exporte von
Kleinwaffen aber gestiegen. Hier müssen Sie klare Gren-
zen ziehen. Es müssen Verbote erlassen werden, dass in
bestimmte Regionen und Staaten, die Menschenrechte
verletzen, oder wohin auch immer Waffen geliefert wer-
den.

Ich bin im Übrigen der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Mit einer vernünftigen Endverbleibskontrolle, die mit
Transparenz, klaren Menschenrechtskriterien und dem
Verbot des Exports von Kleinwaffen einhergeht, könnte
ein Anfang gemacht werden. Darauf könnte man sich
jetzt schon verständigen; das fände ich gut. In ein paar
Jahren kommt es dann zu einem Totalverbot.

Ich bedanke mich bei Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709929700

Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1709929800

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Es

ist schade, dass wir am letzten Freitag nicht die – in der
Qualität ganz anderen – Anträge der SPD und der Grü-
nen beraten haben. Das hätte uns deutlich mehr gebracht,
als sich ausschließlich mit dem populistischen Klientel-
antrag der Linken zu beschäftigen. Der Antrag der Lin-
ken hat nur dazu gedient, in irgendwelchen Antifa-Ver-
öffentlichungen zu zeigen, dass schon etwas läuft und
wer hier gut und böse ist.


(Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie gegen Antifa?)


Das war doch der einzige Zweck. Die heutige Debatte
hätte also schon früher stattfinden können.

Frau Wieczorek-Zeul, was Sie hier vorgelegt haben,
ist zwar seriöser, ich wage aber, zu bezweifeln, dass Ihre
Fraktion Ihnen und damit sich einen Gefallen damit ge-
tan hat, Sie hier als Rednerin vorzuschicken.

Letzte Woche gab es den neuesten Rüstungsexportbe-
richt. Wenn man die Zahlen darin liest, fällt einem auf,
dass zwischen dem Jahr 2003 und heute ein Gesamtvolu-
men an Kriegswaffenexporten aus Deutschland pro Jahr
im Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro zu verzeichnen ist.
Das sind, um einmal die Größenordnung klarzustellen,
etwa 0,15 Prozent des Gesamtexports. Ein Jahr sticht da-
bei heraus, nämlich das Jahr 2005. Damals waren nicht
nur Sie als Entwicklungshilfeministerin, sondern auch
Außenminister Joseph Fischer im Bundessicherheitsrat
vertreten. In diesem Jahr wurden Kriegswaffen mit einem
Wert von 1,63 Milliarden Euro exportiert. Das machte
0,26 Prozent des Gesamtexports aus.


(Christoph Schnurr [FDP]: Hört! Hört!)


Jetzt könnten wir natürlich denken, dass es sich dabei
vielleicht um besondere Exporte in verbündete NATO-
Staaten handelte. Wenn man sich das Ganze etwas ge-





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

nauer anschaut, kommt man zu dem Ergebnis, dass von
den 1,6 Milliarden Euro Exporte im Wert von 911 Mil-
lionen Euro in Entwicklungsländer gingen, für die Sie
zuständig waren, Frau Wieczorek-Zeul.


(Christoph Schnurr [FDP]: Hört! Hört!)


Dennoch sagten Sie uns gerade: Waffenlieferungen in
Länder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, sind
zu untersagen.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Natürlich!)


– Entschuldigung, Sie waren die dienstälteste Ministe-
rin, als Schwarz-Rot abgewählt wurde. Sie waren jahre-
lang zuständig. Kaum sind Sie aus dem Amt, erzählen
Sie uns hier etwas vom Pferd und sagen, was einzu-
schränken sei.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das habe ich schon lange erzählt!)


Das ist doch wirklich nicht glaubwürdig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Genau in dem Jahr, in dem Rot-Grün hauptverant-
wortlich war, stieg die Anzahl der Kriegswaffenexporte.
Jetzt werden wieder Kriegswaffen im Wert von etwa
1,3 Milliarden Euro exportiert.

Kriegswaffenexport ist in seinem Wesen kein Pro-
blem des Kleinwaffenexports. Kleinwaffen sind sozusa-
gen Stangenware auf diesem Markt. Diese Länder, auch
Saudi-Arabien, können sie überall kaufen. Das große
Problem und die ernsthafte Herausforderung sind hoch-
technologische Waffensysteme. Wenn Sie dieses Thema
beleuchten, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass eine be-
sondere Herausforderung darin besteht, dass die Absatz-
märkte innerhalb der NATO und innerhalb der EU in den
Jahren des Kalten Krieges deutlich größer waren. Gott
sei Dank haben wir mittlerweile eine andere Sicherheits-
lage. Daher sind die entsprechenden Unternehmen jetzt
in der Bedrängnis, nur noch wesentlich geringere Stück-
zahlen verkaufen zu können, was die Stückpreise erhöht.
Allerdings haben die Staaten der Europäischen Union
feste Budgets, was zusätzlichen Druck bedeutet.

Die einzig sinnvolle Forderung, die wir in diesem Be-
reich aufstellen müssen, lautet doch, dass es innerhalb
der Europäischen Union nicht nur, was die Rüstungsun-
ternehmen angeht, sondern auch, was die Rüstungsbud-
gets betrifft, zu einer Harmonisierung und Integration
kommt. Nur dann können die Stückzahlen innerhalb un-
serer Wertegemeinschaft so erhöht werden, dass der öko-
nomische Druck, Exporte in Länder außerhalb der EU zu
tätigen, nicht mehr in der Weise besteht wie im Moment.
Die Forderung lautet also, die Rüstungsprogramme in-
nerhalb der Europäischen Union zu harmonisieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein weiteres Thema ist Dual Use. Dazu habe ich am
vergangenen Freitag ebenfalls schon etwas gesagt. Auch
hier ist es doch nicht so, wie Sie suggerieren: dass die
deutschen Unternehmen diejenigen sind, die andere an
den Rand drängen. Vielmehr machen zahlreiche Kon-
kurrenzunternehmen aus anderen Ländern der Europäi-
schen Union regelrecht Werbung: Kauft diese Produkte
nicht bei deutschen Unternehmen, sondern kauft sie bei
uns. Wir haben zwar möglicherweise schlechtere Pro-
dukte, aber bis die deutschen Anbieter ihre Exportgeneh-
migung bekommen, habt ihr schon längst, was ihr
braucht. – Das ist doch die Realität.

Wir müssen überlegen, wie wir zu schnellen Verfah-
ren kommen, die natürlich auch zu einer Ablehnung ei-
nes Antrags führen können. Um dies zu erreichen, kann
das Ziel sinnvollerweise nur eine Harmonisierung euro-
päischer Anforderungen an die Exportbestimmungen für
Dual-Use-Produkte sein.


(Beifall bei der FDP)


Nur dann, wenn wir gleichgerichtete Vorschriften haben,
besteht kein Konkurrenzverhältnis mehr innerhalb der
Europäischen Union und innerhalb der NATO.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie jetzt aus Deutschland liefern oder nicht?)


Meine Damen und Herren, der Kollege Fritz hat
schon das meiste zu der Forderung nach einer Vorabbe-
fassung des Deutschen Bundestages gesagt. Wir haben
eine Exekutive und eine Legislative. Wir tun uns keinen
Gefallen – ich habe dasselbe gesagt, als ich in einem an-
deren Parlament Oppositionspolitiker war –, wenn wir
als Parlament bei klassischen Angelegenheiten der Exe-
kutive unsere Finger im Spiel haben. Wir haben gar nicht
die Kompetenz und die Mitarbeiter dafür.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Sie nicht, aber wir schon!)


– Herr van Aken, Sie natürlich schon. Sie haben Mitar-
beiter dafür; Sie haben Tausende von Beamten in Ihrer
Fraktion, die einzelne Rüstungsexportgenehmigungsan-
träge prüfen können. – Das glauben Sie doch wohl selber
nicht. Das ist doch völliger Blödsinn; Sie betreiben hier
nur Populismus. Wenn Sie sich ernsthaft damit beschäf-
tigen, kommen Sie nicht zu dem Ergebnis, dass der
Deutsche Bundestag eine Rüstungsexportkontrollbe-
hörde werden kann; das ist ausgeschlossen. Der Geheim-
schutz und Nachrichtendienste wie der BND sind in die-
sem Bereich beteiligt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Grund!)


Man kann das doch nicht im Deutschen Bundestag ma-
chen.

Im Übrigen kommt es oft zu der Situation, dass es im
Zuge eines solchen Genehmigungsverfahrens zu einer
Rücknahme des Antrags kommt; mit dieser Möglichkeit
kann man dem Unternehmen eine öffentliche Darstel-
lung ersparen. So handelt man sinnvoll. Diese Bundesre-
gierung und diese Koalition werden dieses Thema ge-
nauso verantwortlich wie die Vorgängerregierungen
handhaben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genauso unverantwortlich!)






Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

Wir werden in einem Spannungsfeld von berechtigten
Interessen unserer Industrie und Sicherheitsinteressen
eine vernünftige Abwägung treffen. Ich habe auch ange-
sichts der beteiligten Minister überhaupt keine Sorge,
dass hier planlos die Schleusen geöffnet werden. Alle
Damen und Herren, die sich mit dieser Aufgabe beschäf-
tigen, handeln verantwortungsvoll; sie ist bei ihnen in
guten Händen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kommen dann die ganzen Waffen nach Nordafrika?)


Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709929900

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Keul das Wort.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709930000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gestern haben wir in den Ausschüssen über
den Rüstungsexportbericht debattiert, aber leider nicht
über den von 2010, sondern über den von 2009. Es ist
wieder einmal über ein Jahr ins Land gegangen; die im
Berichtszeitraum gelieferten Waffen sind längst im Ein-
satz.

2009 wurden Exporte im Wert von mehr als
5 Milliarden Euro genehmigt. Dabei wurde nicht nur an
verbündete Demokratien geliefert: Der Wert der geneh-
migten Kriegswaffenausfuhren an Drittstaaten war mehr
als doppelt so hoch wie der Wert der Ausfuhren an EU-
und NATO-Staaten. Dabei darf nach der Rüstungsexport-
richtlinie der Bundesregierung eigentlich nur in Ausnah-
mefällen an Drittstaaten geliefert werden. Diese Ent-
wicklung ist ganz klar gesetzeswidrig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus ist die Berücksichtigung menschen-
rechtlicher Standards in dieser Richtlinie festgeschrie-
ben. Dennoch wurde an Mubarak, Gaddafi und andere
Despoten geliefert.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Bei Fischer auch! Unter Rot-Grün auch!)


Saudi-Arabien hat gleich eine ganze Waffenfabrik be-
kommen.

Das Problem liegt auf der Hand: Die Bundesregie-
rung unterliegt in diesen Bereichen weder einer parla-
mentarischen noch einer gerichtlichen Kontrolle. Sie
trifft ihre Exportentscheidungen in geheim tagenden
Gremien, ohne sich dafür irgendwo rechtfertigen zu
müssen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das fällt euch rechtzeitig ein!)


Sie fühlt sich zur Auskunft über einzelne Ausfuhrgeneh-
migungen und deren Begründung nicht verpflichtet.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist es!)

Die Lobby der Menschenrechte kann mit den Wirt-
schaftsinteressen hier gar nicht mithalten. Der Kollege
Lindner hat uns schon letzte Woche eindrücklich vor
Augen geführt, was die Koalition von einer restriktiven
Exportpolitik hält, als er hier zum Thema Rüstungsex-
porte ein flammendes Bekenntnis zur Exportnation
Deutschland abgegeben hat.

Die SPD erhebt in ihrem Antrag die berechtigte For-
derung nach Transparenz und parlamentarischer Beteili-
gung. Im Kern der Forderung steht die frühzeitige
Einbindung des Deutschen Bundestages in die Genehmi-
gungsverfahren. Diese Forderung teilen wir Grünen, da
die Bundesregierung nur so gezwungen werden kann,
ihre Entscheidungsgründe offenzulegen.

Richtig ist auch die Forderung, die Konversion von
Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie zu unterstützen;
denn gerade der europäische Markt wird aufgrund der
Sparmaßnahmen künftig nicht mehr wie im bisherigen
Umfange für die Abnahme von Rüstungsgütern zur Ver-
fügung stehen. Die Rüstungsexportrichtlinie ist eindeu-
tig: „Beschäftigungspolitische Gründe“ dürfen bei der
Genehmigung „keine ausschlaggebende Rolle spielen“;
der Rüstungsexport in Drittstaaten darf „nicht zum Auf-
bau zusätzlicher, exportspezifischer Kapazitäten füh-
ren“.

Auch wenn wir den Antrag der SPD grundsätzlich un-
terstützen, habe ich einige Verbesserungsvorschläge. Zu-
nächst einmal greift der Titel des Antrags zu kurz. Wir
sind nicht nur dafür, „die Ausweitung von Rüstungsex-
porten“ zu stoppen; es geht uns darum, den Umfang der
Rüstungsexporte zu verringern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, die Rüstungsexport-
richtlinie und den EU-Kodex für Waffenausfuhren in das
Außenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um den Normen
damit eine höhere Verbindlichkeit zu verschaffen.

Wir sind außerdem für die konsequente Übertragung
der Federführung vom Wirtschaftsministerium an das
Auswärtige Amt, wo die Einschätzung von Krisenregio-
nen und Menschenrechtslagen deutlich besser aufgeho-
ben sein dürfte.

Zuletzt noch einige Worte zu Heckler & Koch: Da wir
bereits am 10. Februar über den Antrag der Linken de-
battiert haben, mache ich es kurz. Das Unternehmen
steht im Verdacht, Waffen nach Mexiko geliefert zu ha-
ben, und zwar in Provinzen, in die es nicht hätte liefern
dürfen. Die Bundesregierung hat deswegen die Geneh-
migung der Ausfuhranträge nach Mexiko ausgesetzt. Da
der Verdacht der Unzuverlässigkeit aber gerade nicht das
Empfängerland, sondern das exportierende Unterneh-
men betrifft, reicht es nicht, die Aussetzung auf Mexiko
zu beschränken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Also ein politischer Schuldspruch!)






Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

Leider musste die Fraktion der Linken unbedingt
noch die Forderung nach einem Totalverbot aller Waffen-
exporte anhängen und dazu das Grundgesetz bemühen.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Eine gute Forderung!)


Wahrscheinlich wollen Sie einfach nicht, dass wir Ihren
Anträgen zustimmen. Aber bei uns ist es anders: Wir
freuen uns über Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709930100

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner

hat unser Kollege Dr. Reinhard Brandl von der Fraktion
der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1709930200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich wundere mich schon darüber, welche
Debatte wir heute führen und – genauer gesagt – was die
SPD heute hier fordert.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja!)


Der Wunsch, dem Parlament ein Mitspracherecht bei
Rüstungsexporten einzuräumen, ist nicht wirklich neu.
Am 19. Oktober 2000 hat zum Beispiel die damalige
PDS einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem sie
genau das fordert. Meine Damen und Herren von der
SPD, ich erspare es Ihnen, jetzt darzulegen, mit welcher
Begründung die Redner der SPD dies damals abgelehnt
haben.


(Christoph Schnurr [FDP]: Das wäre aber interessant!)


Ich könnte die SPD-Reden von damals heute fast selbst
halten.

Meine Damen und Herren, Sie waren danach noch
neun Jahre an der Regierung beteiligt. Warum haben Sie
denn in dieser Zeit keine Parlamentsbeteiligung einge-
führt?


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja!)


Zumindest mit Blick auf die Zeit bis 2005 können Sie
wohl nicht sagen, dass es an uns gelegen habe.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Da können Sie uns viel erzählen!)


Ich vermute, dass es nicht an den Grünen lag, sondern
daran, dass Sie selbst es nicht als sinnvoll erachtet ha-
ben. Da hatten Sie recht: Wir sind als Parlament keine
Genehmigungsbehörde.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Exekutive! – Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja! Ja!)

Das ist klassische Aufgabe von Verwaltung und Regie-
rung. Der Kollege Fritz hat es vorhin ausgeführt.

Aber wir üben parlamentarische Kontrolle aus. Diese
Aufgabe müssen wir ernst nehmen. Ich bin zum Beispiel
in dem Punkt, den Sie in Ihrem Antrag aufführen, näm-
lich dass die Rüstungsexportberichte schneller vorgelegt
werden müssen, völlig Ihrer Meinung. Frau Kollegin
Keul hat es ebenfalls angesprochen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Elf Jahre im Bundessicherheitsrat!)


Aber warum Sie jetzt plötzlich bei der Frage der Par-
lamentsbeteiligung auf die Position der Linken um-
schwenken, ist mir nicht erklärbar.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Weil das die Forderung der evangelischen und der katholischen Kirche ist! – Zurufe von der FDP)


– Diese Position haben Sie übernommen. Ich möchte
über die Gründe nicht spekulieren; das ist Ihre Sache.

Mich stört aber, dass Sie in Ihrem Antrag unter-
schwellig den Eindruck erwecken, dass die Bundesregie-
rung bei der Genehmigung von Exportgeschäften seit
Ihrem Ausscheiden aus der Regierung plötzlich verant-
wortungslos handelt.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Elf Jahre Bundessicherheitsrat! Das ist schon spektakulär!)


Das ist nicht gerechtfertigt; das wissen Sie auch. Deswe-
gen verwenden Sie in Ihrem Antrag vorsichtshalber auch
nur Formulierungen wie „es könnte sein“, „es besteht die
Gefahr, dass … “ und „das kann dazu führen“.

Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, dass die
Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Ex-
port von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus
Ihrer rot-grünen Regierungszeit und der Gemeinsame
Standpunkt der Europäischen Union aus 2008 unverän-
dert Grundlage für Genehmigungen sind. Die christlich-
liberale Koalition hat daran nichts geändert.

Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfolgen
einzelfallbezogen unter besonderer Berücksichtigung
der außenpolitischen Position und der Menschenrechts-
lage im Empfängerland. Genehmigungen werden nur er-
teilt, wenn zuvor der Endverbleib im Endempfängerland
sichergestellt ist. Auch an diesem Verfahren haben wir
nichts geändert. Die Kriterien, die in Ihrer Regierungs-
zeit galten, gelten auch heute noch.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709930300

Kollege Dr. Reinhard Brandl, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Ströbele?


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1709930400

Ja, ich gestatte sie.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709930500

Dann hat der Kollege Ströbele jetzt Gelegenheit, eine

Zwischenfrage zu stellen.






(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Präsident. – Sie haben mich aufmerken
lassen, als Sie gesagt haben, der Endverbleib werde si-
chergestellt. Wie wird er sichergestellt? Was sagen Sie
dazu, dass die Regierung des Landes, in das geliefert
wird – das gilt zum Beispiel im Fall von Mexiko –, nicht
einmal darüber informiert wird, dass es eine Einschrän-
kung gibt? Wie soll angesichts dessen der Endverbleib
sichergestellt werden? Können Sie mir das erklären?


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1709930600

Es ist richtig, dass es Fälle wie den gibt, den Sie an-

sprechen. Wir erfahren davon manchmal aus der Presse.
Auch ich habe mich geärgert, als ich Gaddafi gesehen
habe oder als gemeldet wurde, dass Heckler & Koch
Waffen in eine Unruheprovinz geliefert haben soll.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wenn es denn so stimmt!)


Der Punkt ist: Das müssen wir aufklären. Im Fall von
Heckler & Koch sind Gerichte dafür zuständig. Diese
Ermittlungen warten wir ab.

Jedes Jahr werden viele Anträge gestellt. Ich glaube,
es sind 16 000 Anträge. Das ist eine große Zahl.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die prüft dann alle Herr van Aken!)


Wenn es in Einzelfällen zu Problemen kommt, dann
muss man daraus lernen. Das ist ja richtig.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können das gar nicht sicherstellen!)


Vielen Dank für die Zwischenfrage, Herr Kollege.

Es gibt einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag, der
mich stört. Sie stellen sehr undifferenziert jede mögliche
Ausweitung von Rüstungsexporten als Gefahr für den
Frieden dar. Es findet sich zum Beispiel kein Hinweis
darauf, dass der größte Teil der tatsächlich ausgeführten
Kriegswaffen in NATO-, der NATO gleichgestellte oder
EU-Länder geht. 2009 waren es 76 Prozent. Da stellt
sich die Frage, wie Sie es grundsätzlich mit der deut-
schen Rüstungsindustrie halten. Mich stört die Doppel-
züngigkeit, mit der hier manchmal gesprochen wird. Wir
fordern hier immer wieder – diesbezüglich gibt es einen
breiten Konsens –, dass die Bundeswehr für ihre Aufga-
ben bestmöglich ausgerüstet wird. Ich bin froh, dass wir
wesentliche Kompetenzen dafür in unserem eigenen
Land haben. Das liegt in unserem ureigenen sicherheits-
politischen Interesse.

Es versteht wirklich jeder, dass man mit dem Export
von Rüstungsgütern sehr sensibel umgehen muss. In
Deutschland haben wir ein Genehmigungs- und Kon-
trollverfahren dafür gefunden. Das haben Sie in Ihrer
Regierungszeit praktiziert, und wir haben es fortgeführt.
Deshalb ist es unfair, eine ganze Branche und damit die
Arbeit vieler Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in den Betrieben pauschal zu verurteilen, als unethisch
zu bezeichnen und diese Menschen damit in eine be-
stimmte Ecke zu stellen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr gut!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709930700

Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege

Jan van Aken.


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709930800

Ich möchte nur kurz auf die Debatte, die wir in der

letzten Woche hier geführt haben, zurückkommen. Herr
Fritz, ich habe Sie in der letzten Woche an dieser Stelle
einen Rüstungslobbyisten genannt.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das fand ich schlimm!)


Das würde ich gerne zurücknehmen, weil ich noch nicht
weiß, ob Sie ein Rüstungslobbyist sind oder nicht. Ich
weiß das von einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion. Herr
Kauder zum Beispiel vertritt gerne Heckler & Koch als
Anwalt. Von Ihnen weiß ich das aber nicht. Deswegen
entschuldige ich mich an dieser Stelle für diesen Vor-
wurf.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das war eine gute Kurzintervention!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709930900

Kollege Fritz, wollen Sie antworten?


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1709931000

Ich nehme das gerne entgegen, Herr Präsident.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709931100

Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Daher

schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5054 und 17/5204 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die
Fraktionen der Sozialdemokraten und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss.

Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Aus-
schuss.

Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Überwei-
sungsvorschläge sind abgelehnt.

Jetzt lasse ich über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

und Technologie. Wer stimmt für diese Überweisungs-
vorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Überweisungsvorschläge sind angenommen. Damit
liegt die Federführung zu beiden Vorlagen beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutz-
gesetzes und weiterer Gesetze

– Drucksache 17/5178 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)


b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Krankenhausinfektionen vermeiden – Tödli-
che und gefährliche Keime bekämpfen

– Drucksache 17/4489 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Prävention von Krankenhausinfektionen ver-
bessern

– Drucksache 17/5203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat zunächst Bundesminister Dr. Philipp
Rösler.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1709931200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren Abgeordnete! Schätzungen zufolge
gibt es jährlich 400 000 bis 600 000 sogenannte Kran-
kenhausinfektionen und aufgrund solcher Infektionen
jährlich circa 7 500 bis 15 000 tote Menschen in Deutsch-
land. Es trifft dann meist die Älteren, die Schwachen und
im wahrsten Sinne des Wortes die Kranken im System.
All diese Menschen haben keine Lobby. Sie haben keine
Interessenvertreter – mit einer Ausnahme: Diejenigen,
die genau die Interessen dieser Menschen vertreten, sind
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages; denn die
Initiative zu diesem Gesetz zur Änderung des Infektions-
schutzgesetzes stammt aus den Reihen der Abgeordne-
ten von CDU/CSU und FDP.

Das gemeinsame Ziel ist es, mit den vorhandenen gu-
ten Instrumenten – auch mit den Instrumenten, die die
Vorgängerregierungen geschaffen haben – die Menschen
in Deutschland künftig vor solchen Krankenhausinfek-
tionen besser schützen zu können, als dies bisher der Fall
ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein Problem bei diesen Infektionen ist nicht allein
ihre hohe Zahl, sondern der Anteil an resistenten Erre-
gern. Fachleute beziffern den Anteil der Krankenhausin-
fektionen in Deutschland aufgrund dieser Erreger auf bis
zu 20 Prozent. In den Niederlanden – zum Vergleich –
beträgt dieser Anteil gerade einmal 1 Prozent.

Man kann solche Resistenzen durch den richtigen
Einsatz von antibiotischen Medikamenten verhindern.
Deswegen sieht dieses Gesetz die Einrichtung einer
„Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“
am Robert Koch-Institut vor. Das ist eine wissenschaftli-
che Kommission, die Leitlinien für den richtigen Ge-
brauch von Antibiotika entwickeln soll. Denn uns geht
es nicht nur darum, Infektionen, die es gibt, zu bekämp-
fen, sondern auch darum, Infektionen durch einen besse-
ren und optimalen Einsatz von Antibiotika von vornhe-
rein zu verhindern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Existenz solcher Gesetze allein reicht aus unserer
Sicht nicht aus. Zum Teil gibt es zwar schon gute Emp-
fehlungen; die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie ist
hier nur ein Beispiel. Aber wir müssen auch dafür sor-
gen, dass solche Gesetze dann in der Praxis umgesetzt
werden.

Am Robert Koch-Institut gibt es bereits eine Kom-
mission; sie heißt „Kommission für Krankenhaushy-
giene und Infektionsprävention“, kurz: KRINKO. Diese
Kommission hat schon längst Empfehlungen entwickelt,
wie beispielsweise die Prozesse in den Kliniken, aber
auch die baulichen Maßnahmen daraufhin ausgerichtet
werden können, um die Anzahl von Krankenhausinfek-
tionen künftig zu reduzieren oder sie gar ganz zu vermei-
den.

Das Problem ist nur, dass solche Vorschläge bisher
nur empfehlenden Charakter haben. Mit diesem Gesetz
bekommen diese Fachempfehlungen eine höhere Ver-
bindlichkeit. Wir stellen damit sicher, dass es nicht nur
gute Gesetze und nicht nur gute Vorgaben gibt, sondern
dass diese Vorgaben im klinischen Alltag auch umge-
setzt werden. So können die Menschen vor Krankenhaus-
infektionen besser geschützt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Erreichen wollen wir dies, indem wir den Ländern die
Möglichkeit geben, ohne ein eigenes Landeshygienege-
setz eine Hygieneverordnung auf Grundlage des Infek-
tionsschutzgesetzes des Bundes auf den Weg zu bringen.
Bisher gibt es nur sieben Bundesländer, die eine solche





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)

eigene Hygieneverordnung haben. Wir wollen nicht nur,
dass mehr Länder Hygieneverordnungen auf den Weg
bringen und dass sie dies schneller tun, sondern wir wol-
len auch möglichst einheitliche Standards. Nach diesem
Gesetzestext wäre die Einheitlichkeit dadurch gegeben,
dass immer dann davon auszugehen ist, dass man den
Stand der Wissenschaft eingehalten hat, wenn man die
Empfehlungen der KRINKO befolgt. Damit stellen wir
beide Ziele sicher: mehr und schneller erlassene Hygie-
neverordnungen auf Landesebene und gleichzeitig eine
Vereinheitlichung. Erreger machen nicht an Landesgren-
zen halt. Deswegen hat es Sinn, die Schutzmaßnahmen
nicht an Landesgrenzen auszurichten, sondern möglichst
bundeseinheitlich auszugestalten.

Ebenso wollen wir dafür sorgen, dass die Ergebnisse
solcher Maßnahmen künftig gemessen werden können
und diese Ergebnisse veröffentlicht werden, damit die
Menschen ein Stück weit selbst einen Einblick in die
Hygienesituation in den jeweiligen medizinischen Ein-
richtungen bekommen. Auch das kann bewirken, dass
der Anreiz für die Kliniken größer wird, selber für bes-
sere Hygienemaßnahmen zu sorgen.

Ebenso möchten wir, dass die Menschen, die heute
mit resistenten Erregern befallen sind, schon im ambulan-
ten und nicht erst im stationären Bereich als Hochrisiko-
patient erkannt werden und dass sie, noch bevor sie mit
solchen hochresistenten Stämmen stationär im Kranken-
haus aufgenommen werden, davon befreit, also saniert
werden. Dadurch wird verhindert, dass sich solche Erre-
ger in den Kliniken verbreiten. Wir wollen die betroffe-
nen Menschen, wie gesagt, von vornherein im ambulan-
ten Bereich von diesen Erregern befreien und damit
einen höheren Schutzgrad in den Kliniken erreichen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Insgesamt können wir feststellen, dass es schon heute
durchaus gute Maßnahmen gibt, zum Beispiel die „Ak-
tion Saubere Hände“, die ganz konkret in den klinischen
Alltag integriert werden können. Wir brauchen aber wei-
tere Instrumente; wir haben einige vorgeschlagen. Fach-
leute gehen davon aus, dass man die Zahl der Infektio-
nen durch bessere Hygienemaßnahmen langfristig um 20
bis 30 Prozent senken kann. Es sollte unser gemeinsa-
mes Ziel sein, die Zahl der Krankenhausinfektionen zum
Schutz der Patientinnen und Patienten zu senken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709931300

Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Bärbel Bas

von der Fraktion der Sozialdemokraten.


(Beifall bei der SPD)



Bärbel Bas (SPD):
Rede ID: ID1709931400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist in der Tat ein äußerst wichtiges Thema. Das Robert
Koch-Institut – dessen Namensgeber hat nicht grundlos
einen Nobelpreis für seine Forschung in dem Bereich be-
kommen und gilt heute als Vorreiter für die moderne
Krankenhaushygiene – setzt Standards und gibt Empfeh-
lungen. Aber das Problem, das wir in der Tat haben – das
haben Sie richtig beschrieben, Herr Minister –, ist, dass
diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden; sonst
müssten wir uns heute hier im Hause nicht über dieses
Thema unterhalten.

Ich glaube, wir brauchen uns nicht über die Zahl, wie
viele Menschen sich infizieren, zu streiten. Jeder Ein-
zelne ist einer zu viel. Wer mit Menschen gesprochen
hat, die Angehörige durch solch eine Infektion im Kran-
kenhaus verloren haben, weiß das. Diese Infektionen
können auch Amputationen zur Folge haben. Der Lei-
densweg für die Betroffenen ist lang. Zu dem Leid des
Einzelnen kommen die hohen Kosten der Behandlung
solcher Infektionen hinzu.

Was müssen wir tun? Wie können wir eine Lösung
finden? Ich weiß, dass ein Argument ist, dass wir auf der
Bundesebene nicht viel tun können, weil die Kranken-
häuser Länderangelegenheit sind. Wir sollten uns, wenn
wir Ihren Gesetzentwurf betrachten, fragen, ob wir alle
nicht mutiger sein sollten. Es gibt schon jetzt über alle
Fraktionen hinweg weitaus bessere Vorschläge, die Kran-
kenhaushygiene zu verbessern. Ich weiß, dass selbst die
Kollegen Ihrer eigenen Fraktion deutlich weitreichen-
dere Vorschläge gemacht haben, als man sie jetzt in Ih-
rem Gesetzentwurf findet. Das finde ich bemerkenswert.

Sie haben zum Beispiel gesagt, dass die Länder die
Verordnung jetzt umsetzen sollen; bisher hätten das nur
sechs oder sieben Länder getan. Das ist richtig; aber
dann müssen Sie, finde ich, den Ländern eine Frist set-
zen. Es bringt nichts, dies auf den Sankt-Nimmerleins-
Tag zu vertagen. Die Länder sollten nicht wieder unend-
lich viel Zeit haben, um etwas für die Krankenhaushy-
giene zu tun.

Kollege Spahn und ich sind beide aus NRW. Es gibt
dort ein bemerkenswertes Projekt, bei dem es ein Scree-
ning von Risikopatienten direkt bei der Aufnahme im
Krankenhaus gibt. Dieses anerkannte Projekt hat schon
tolle Erfolge erzielt. Ich verstehe nicht, warum so etwas
nicht als Standard in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen
wird.


(Beifall bei der SPD)


Ich denke, es ist eine wichtige Entscheidung, Risiko-
patienten direkt bei Aufnahme zu screenen. Die Daten
und Zahlen, die wir dabei gewinnen, müssen ausgewer-
tet und transparent gemacht werden. Vor allen Dingen ist
es wichtig, sie der Forschung zur Verfügung zu stellen,
damit herausgefunden werden kann, warum es zu diesen
Infektionen kommt.

Außerdem brauchen wir deutlich mehr Fachpersonal;
das werden auch meine Kollegen sicherlich noch anspre-
chen. Wir haben auf diesem Gebiet schon Know-how
verloren, und zwar massiv. Selbst wenn wir jetzt auf
Bundesebene die Forderung aufstellen, dass es ab einer
Krankenhausgröße von 300 oder 400 Betten in jedem
Krankenhaus Hygienefachärzte gibt, müssen wir fest-
stellen: Wir können diese Forderung nicht erfüllen, weil
das nötige Hygienefachpersonal nicht vorhanden ist.
Dennoch finde ich, dass eine solche Regelung, bezogen





Bärbel Bas


(A) (C)



(D)(B)

auf eine bestimmte Bettenanzahl oder Fallzahl, auf jeden
Fall als Standard in dieses Gesetz gehört. Ich glaube,
Ihre FDP-Kollegen haben eine Größenordnung von
30 000 Fällen vorgeschlagen. Diese Regelung sollte man
in das Gesetz aufnehmen. Man darf nicht so vage blei-
ben.


(Beifall bei der SPD)


Ein weiterer Aspekt ist – ich habe das mit Spannung
gelesen; deswegen will ich darauf zu sprechen kommen –:
Sie sagen, dass ambulant tätige, niedergelassene Ärzte
Sanierungen durchführen und dafür eine Abrechnungs-
ziffer bekommen sollen. Ich persönlich halte das – abge-
sehen davon, dass es vielleicht Geldverschwendung ist –
medizinisch bzw. aus hygienischen Gründen nicht für
sinnvoll.

Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Patient wird,
eine Woche oder 14 Tage nachdem er beim Arzt war, ins
Krankenhaus aufgenommen. In der Zwischenzeit war er
vielleicht im Pflegeheim oder zu Hause und hat sich den
Keim schon wieder irgendwo anders eingefangen. Ich
finde, es ist medizinisch sinnvoller, in ein Aufnahme-
screening in einer stationären Einrichtung zu investieren,
als es im ambulanten Bereich durchführen zu lassen. Ich
glaube, es bringt uns in Sachen Hygiene überhaupt nicht
weiter, das Aufnahmescreening weiterhin niedergelasse-
nen Ärzten zu überlassen. Das macht für mich in medizi-
nischer und hygienischer Hinsicht keinen Sinn.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen Eingangsscreenings im Hinblick auf
Risikogruppen. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Ih-
ren Blick nach NRW zu richten, sich mit dem Projekt,
von dem ich sprach, zu beschäftigen und sich die ent-
sprechenden Zahlen anzuschauen. Es wurde in diesen
Bereich investiert. Es ist nachgewiesen, dass sich In-
vestitionen in die Krankenhaushygiene im Verhältnis
1 zu 10 rechnen. Ich finde, das ist bemerkenswert und
auf Bundesebene nachahmenswert.

Ich kann Sie nur auffordern, alle Vorschläge, die auf
dem Tisch liegen – seien sie von den Linken, seien es
unsere Vorschläge zum Hygienepersonal, seien sie von
Ihrer eigenen Fraktion –, ernst zu nehmen und diesen
Gesetzentwurf deutlich zu verbessern. Wir brauchen
eine Verbesserung im Bereich der Hygiene, damit die
Menschen, wenn sie ins Krankenhaus kommen, keine
Angst mehr haben müssen, dass sie sich möglicherweise
infizieren und das Krankenhaus noch kränker verlassen,
als sie es waren, bevor sie ins Krankenhaus kamen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709931500

Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Als Nächster hat

unser Kollege Lothar Riebsamen von der Fraktion der
CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1709931600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ob im Krankenhaus, in der Praxis, im Pflege-
heim – geschwächte Menschen geben sich überall, wo
sie unterwegs sind, jeden Tag millionenfach die be-
rühmte Klinke in die Hand. Nun möchte ich nicht be-
haupten, dass die Türklinken in diesem Zusammenhang
das größte Problem sind. Aber in der Tat – der Herr
Minister hat es erwähnt – ist die Zahl der Krankenhaus-
infektionen und vor allem die Zahl derjenigen, die daran
sterben, allzu hoch. Diese Zahl ist sogar höher als die der
Verkehrstoten, die wir in diesem Land jedes Jahr zu ver-
zeichnen haben. Es ist daher richtig, dies zu ändern.
Heute ist somit ein guter Tag für die Patientinnen und
Patienten in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich denke, es ist nicht nur ein guter Tag, sondern auch
ein gutes Jahr für die Patientinnen und Patienten. Denn
wir bringen nicht nur diesen Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Infektionsschutzgesetzes in den Bundes-
tag ein, sondern wir werden ihm auch ein Patienten-
schutzgesetz folgen lassen, um die flächendeckende Ver-
sorgung mit Ärzten im Land sicherzustellen. Außerdem
werden wir, ebenfalls noch in diesem Jahr, ein Patienten-
rechtegesetz erarbeiten, mit dem wir dafür sorgen wer-
den, dass sich Patienten und Leistungserbringer mehr
auf Augenhöhe begegnen.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Da bin ich gespannt!)


Im europäischen bzw. im internationalen Vergleich
stehen wir übrigens gar nicht so schlecht da. Es gibt Län-
der, in denen die Infektionsraten noch höher sind als in
Deutschland. Allerdings gibt es auch Länder, die deut-
lich geringere Infektionsraten zu verzeichnen haben. Wir
müssen und wollen uns an den Ländern orientieren, die
es bisher besser machen als wir.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)


Die Problematik liegt vor allem darin, dass viele In-
fektionen durch zunehmend resistente Keime entstehen,
die dann nur schwer therapierbar sind und eine sehr
lange Behandlungsdauer erfordern. Es kommt hinzu,
dass unsere Gesellschaft älter wird. Älter werdende Pa-
tienten sind natürlich noch anfälliger.

Deswegen werden wir drei Wege gehen, um zu einer
Verbesserung der Situation zu kommen: Erstens. Wir
werden mit diesem Gesetz die Hygienequalität unmittel-
bar in den Einrichtungen verbessern. Zweitens. Wir wer-
den für einen sachgerechteren Einsatz von Antibiotika
sorgen, um Resistenzen zu minimieren. Drittens. Wir
werden sektorübergreifend für mehr Prävention sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zu meinem ersten Punkt: die Verbesse-
rung der Hygienequalität. Dazu brauchen wir alle Bun-
desländer im Boot.





Lothar Riebsamen


(A) (C)



(D)(B)


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Welche sind denn nicht im Boot?)


Wir haben es gehört: Es sind bisher sieben Bundesländer
im Boot. Baden-Württemberg gehört seit dem 1. Januar
2011 dazu. 7 Bundesländer von 16 haben eine Hygiene-
verordnung erlassen. Daran mag man erkennen, dass die
Priorität noch nicht in allen Ländern an der gleichen
Stelle gesetzt wird. Wir werden die Länder daher moti-
vieren, im föderativen Wettbewerb zu handeln. Wir wer-
den aber auch für Wettbewerb um Qualität innerhalb der
Einrichtungen sorgen.

Es ist richtig, den Richtlinien zur Krankenhaushy-
giene, die es beim Robert Koch-Institut bereits gibt, Ge-
setzes-charakter zu verleihen, um ihnen mehr juristisches
Gewicht zu geben. Es muss klar sein, dass die Einhal-
tung des Standes der Technik und der Wissenschaft zu-
künftig verpflichtend sein muss. Ein Baustein dafür wird
ein Mehr an Qualitätssicherung und Transparenz sein.
Dafür ist es notwendig, Indikatoren zu schaffen, die eine
Vergleichbarkeit ermöglichen.

Wir werden den Gemeinsamen Bundesausschuss auf-
fordern, den Kliniken, den Einrichtungen und uns ent-
sprechende Indikatoren vorzugeben. Die Risikolage ist
von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Es
reicht nicht aus, schlicht und ergreifend Informationen
über die Anzahl der Infektionen ans Schwarze Brett zu
tackern oder im Internet zu veröffentlichen. Wir brau-
chen Vergleichbarkeit. Es muss für jeden nachvollzieh-
bar sein – auch für die Patientinnen und Patienten –, ob
es sich um eine vermeidbare Infektion handelt. Kolibak-
terien haben beispielsweise nichts in einem Hüftgelenk
zu suchen.


(Bärbel Bas [SPD]: Das stimmt allerdings!)


Es muss für jeden nachvollziehbar sein, ob es sich um ei-
nen deutlich komplexeren Sachverhalt handelt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es nützt herzlich wenig, Pläne zu machen, wenn diese
Pläne nicht umgesetzt werden. Deswegen werden wir
auch Vorgaben zur Umsetzung machen. Ich habe am
Wochenende mit einem Architekten geredet, der den
Auftrag hat, einen OP-Saal zu sanieren, auch in hygieni-
scher Hinsicht. Er hat mir erzählt, dass während seiner
ersten Aufnahme der Situation ein leitender Mitarbeiter
mit einem Tablett voller Wurstbrötchen durch den asepti-
schen Bereich des OPs gewandelt ist. Da nützen Hygie-
nerichtlinien natürlich nichts.


(Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt darauf an, wie viele Antibiotika in der Wurst sind!)


Da nützen auch große bauliche Maßnahmen nichts. Der
Faktor Mensch spielt eine große Rolle. Deswegen
kommt den Führungskräften in den Häusern eine beson-
dere Verantwortung zu. Sie dürfen es nicht ignorieren,
wenn im nachgeordneten Bereich Fehler gemacht wur-
den. Mit diesem Gesetz werden die Leiter der Einrich-
tungen zukünftig in Haftung genommen, wenn unsere
Vorgaben nicht eingehalten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein zweiter Punkt ist der gezieltere Einsatz von Anti-
biotika, um Resistenzen zu minimieren. Wir werden eine
neue Kommission einrichten, die sich mit antiinfektiver
Resistenz und Therapie beschäftigt. Die erarbeiteten
Standards werden Gesetzescharakter und dadurch ein
größeres juristisches Gewicht erhalten. Der Gemeinsame
Bundesausschuss wird verpflichtet, diese Indikatoren
auf der Grundlage der etablierten Systeme – Erfassung,
Auswertung und Rückkopplung – für einen rationalen
Einsatz zu erarbeiten, damit Antibiotika nur dort einge-
setzt werden, wo es tatsächlich auch angezeigt ist.

Ein dritter Punkt ist die sektorübergreifende Präven-
tion. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf entspre-
chende Anreize schaffen und die vertragsärztliche Ver-
gütung verändern. Das Screenen von Risikopatienten,
zum Beispiel vor planbaren Operationen, und das Sanie-
ren wird vergütet, um das Risiko innerhalb der Kliniken
und auch sektorübergreifend – wie gesagt: Der Erreger
kann vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder in die Pra-
xis transportiert werden – zu reduzieren.

Mit der Änderung dieses Infektionsschutzgesetzes
werden wir eine deutliche Verbesserung für die Patienten
in Bezug auf ihr Leid erlangen,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)


aber wir werden auch ein deutliches Mehr an Wirtschaft-
lichkeit für die Krankenhäuser und auch für die gesetzli-
che Krankenversicherung insgesamt erreichen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Funktioniert nicht!)


Freilich sind Vorleistungen der Einrichtungen not-
wendig, und es gibt eine große Anzahl von Krankenhäu-
sern, die Risikopatienten vor geplanten Operationen
auch bisher schon screenen und isolieren, wenn dies not-
wendig ist. Dies hat sich bewährt. Diese Krankenhäuser
haben kapiert, dass es sich rechnet. Sie haben kapiert,
dass man zuerst zwar Geld in die Hand nehmen muss, es
zum Schluss aber günstiger und wirtschaftlicher für sie
ist, das Screening durchzuführen.

Zukünftig haben wir hinsichtlich der Qualität ein
Mehr an Wettbewerb in unseren Einrichtungen, und wir
haben zukünftig mehr Transparenz in den Einrichtungen.
Dadurch erreichen wir mehr Sicherheit für die Patientin-
nen und Patienten.

Deswegen gibt es mit diesem Gesetzentwurf, mit der
Vermeidung von Infektionen, nur Gewinner. Die größten
Gewinner sind die Patienten in unserem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709931700

Als Nächster hat unser Kollege Harald Weinberg von

der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709931800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Dieser Gesetzentwurf zur Krankenhaushy-
giene kommt zu spät.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ach je!)


Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Linksfraktion,
meine Fraktion, hat bereits 2009 einen Antrag zur Be-
kämpfung von Krankenhausinfektionen vorgelegt. Das
Robert Koch-Institut hat gute Richtlinien erlassen. Die
Niederlande und andere Staaten zeigen, wie die Zahl der
Krankenhausinfektionen durch konsequente Hygiene-
standards wirksam gesenkt werden kann.

Während die schwarz-gelbe Koalition durch die
Schweinegrippe zu großem Aktionismus befeuert
wurde, sah die Bundesregierung beim Thema Kranken-
haushygiene jahrelang weg. Tausende Menschenleben
hätten gerettet werden können, wenn früher effektive
Maßnahmen ergriffen worden wären.


(Beifall bei der LINKEN)


An Krankenhausinfektionen sterben in Deutschland
mehr Menschen als an den Folgen von Verkehrsunfällen,
illegalen Drogen, Aids und Selbsttötungen zusammen-
genommen. Sogar der Bund spricht in seiner Gesund-
heitsberichterstattung von bis zu 40 000 Toten jedes
Jahr. Das sind bis zu 100 Tote jeden Tag. Dieser Zustand
war und ist durch nichts zu rechtfertigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hinter diesen Zahlen verbergen sich tragische Einzel-
schicksale. Insbesondere Patienten mit einem relativ
schwachen Immunsystem sind betroffen, also Neugebo-
rene und ältere Menschen. Im epidemiologischen Be-
richt der EU über Infektionskrankheiten von 2010 wird
die Zunahme von Krankenhausinfektionen noch vor der
Bedrohung durch pandemische Influenza und HIV als
größte Gefahr eingeordnet. Verlaufen diese Infektionen
nicht tödlich, können sie trotzdem schwerwiegende
Schädigungen an verschiedenen Organen hervorrufen.
Bleibende Behinderungen und Amputationen können die
Folge sein.

Wirksame Maßnahmen für die Verbesserung der
Krankenhaushygiene sind also mehr als überfällig:

Erstens. Die von der Kommission für Krankenhaus-
hygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-In-
stitut aufgestellten Richtlinien müssen flächendeckend
umgesetzt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens. Es ist eine grundsätzliche Meldepflicht für
Infektionen mit multiresistenten Keimen und ein ver-
bindliches Screening bei der Aufnahme in stationäre
Einrichtungen einzuführen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])


Drittens. An allen Krankenhäusern müssen Fachärz-
tinnen und Fachärzte für Hygiene und Hygienefach-
kräfte die Einhaltung von Hygienestandards sicherstel-
len. Wir brauchen bundeseinheitliche wirksame
Sanktionen für den Fall, dass dagegen verstoßen wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Viertens. Durch die Vergütungsregelungen und Inves-
titionszuschläge für Krankenhäuser müssen Anreize für
die Einhaltung von Hygienestandards geboten werden.

Fünftens. Es müssen entsprechende Fachkräfte ausge-
bildet werden, weil es bis jetzt so wenige gibt.

Sechstens. Der massenhafte Einsatz von Antibiotika
in der kommerziellen Tierhaltung und auch die übermä-
ßige Anwendung beim Menschen haben zu einer drama-
tischen Zunahme von multiresistenten Keimen geführt.
Der Antibiotikaeinsatz ist daher auf das medizinisch not-
wendige Maß zu beschränken.


(Beifall bei der LINKEN)


All dies haben wir schon mit unserem Antrag von
2009 gefordert. Unseren damaligen Antrag lehnte die
Union übrigens mit der Begründung ab, die Bundesre-
gierung sei, soweit ihre Zuständigkeit das zulasse, be-
reits tätig geworden. Es gebe mit dem Infektionsschutz-
gesetz und den Krankenhaushygieneverordnungen schon
effektive Regelungen zur Prävention. Deswegen hat die
Union damals den Antrag abgelehnt.

Die FDP, damals Oppositionsfraktion, meinte, dass
für die Einhaltung hygienischer Standards in erster Linie
die Krankenhäuser selbst die Verantwortung trügen. Die
Bundesregierung dürfe hierfür nicht verantwortlich ge-
macht werden. Deswegen hat sie damals dem Antrag
nicht zugestimmt. – Auf einmal geht es doch.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wenigstens lernfähig!)


Nachdem die Presse häufiger über skandalöse Zu-
stände und Tote in Krankenhäusern berichtet hat, konn-
ten Sie die Suche nach einer Lösung für das Problem of-
fensichtlich nicht weiter auf die lange Bank schieben. Es
bewegt auch die Bürgerinnen und Bürger: Allein in der
letzten und in der aktuellen Wahlperiode sind
20 Petitionen, also Eingaben und Beschwerden von Be-
troffenen und Bürgern, zum Thema Krankenhaushy-
giene beim Deutschen Bundestag eingegangen.

In diesen Tagen fühle ich mich an die Geschichte von
Ignaz Semmelweis erinnert. Das war ein ungarisch-
österreichischer Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts
– also vor 150 Jahren – das verstärkte Auftreten von
Kindbettfieber in Krankenhäusern mit Gebärstationen
auf mangelnde Handhygiene bei den Ärzten und dem
Personal zurückgeführt hat.

Seine Erkenntnisse wurden von der Mehrheit seiner
Fachkollegen damals als spekulativer Unfug abgelehnt,
weil sie nicht zur herrschenden Lehrmeinung passten.
Semmelweis starb im Irrenhaus, und es gab Gerüchte,
die besagen, er sei von seinen eigenen Ärztekollegen
dorthin abgeschoben worden, weil er zu unbequem war.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist da jetzt die Parallele?)






Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)

Seine Erkenntnisse zur Krankenhaus- und Handhy-
giene setzten sich erst zwei Ärztegenerationen später zu
Anfang des 20. Jahrhunderts durch. Es ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit, dass sich die Betroffenen darauf
verlassen können müssen, sich im Krankenhaus nicht
neue, weitere und schwerwiegende Krankheiten zuzu-
ziehen. Es ist zu hoffen, dass es nicht zwei Generationen
dauert, bis das der Fall ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun bewegt sich die Regierung endlich in die richtige
Richtung. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierung
bleibt aber hinter dem zurück, was möglich und notwen-
dig ist, um Deutschland in Sachen Krankenhaushygiene
in die europäische Spitzengruppe zu führen. Wir werden
in den weiteren Beratungen darauf drängen, dass die er-
forderlichen Verbesserungen vorgenommen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709931900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste hat unsere

Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Bitte, Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Ganz so martialisch
wie mein Vorredner will ich nicht an das Thema heran-
gehen. Es ist zwar leicht, am Ende eines Erkenntnispro-
zesses zu sagen: „Wir haben es schon immer besser ge-
wusst; jetzt kommt zum Glück die Erkenntnis zum
Tragen“,


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Man hätte unserem Antrag vielleicht zustimmen können! – Katja Kipping [DIE LINKE]: Das hat er so nicht gesagt!)


aber ich glaube, man muss ein bisschen fairer damit um-
gehen.


(Zuruf von der LINKEN: Lieber ehrlich damit umgehen!)


– Wie gnädig.

In der Tat liegt ein Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Krankenhaushygiene vor, dessen Inhalt noch vor
zwei Jahren vom größeren Teil dieses Hauses abgelehnt
worden ist. Das sehe ich genauso. Man sieht, dass es ei-
nen längeren Erkenntnisprozess gegeben hat, der zu der
Einsicht geführt hat, dass wir nicht weiter nur auf frei-
willige Maßnahmen und das Engagement der Länder
und Kommunen bei der Hygieneüberwachung setzen
können, sondern auf allen Ebenen konsequent arbeiten
müssen. So lässt sich die Vorgeschichte beschreiben.

Es ist zwar nicht verkehrt, auf die verschiedenen frei-
willigen Instrumente einzugehen. Diese nutzen wir auch
in vielen anderen Bereichen. Man muss aber deutlich sa-
gen, dass der Erkenntnisgewinn zu lange gedauert hat.

Ich selber komme aus Münster. Dort kann man erle-
ben, dass konsequentes Handeln und ein strikter Hy-
giene- und Präventionsplan dazu führen, dass die Infek-
tionsraten in den Krankenhäusern massiv gesenkt
werden können, nämlich auf ungefähr 1 Prozent wie in
den Niederlanden.

Als Münsteranerin weiß ich auch, dass man, wenn
man einen Unfall hat und in ein grenznahes Kranken-
haus kommt, als Risikopatient gilt, weil wir – jedenfalls
bislang – so schlechte Hygienestandards haben. Das al-
les ist ernst zu nehmen und ein Hinweis darauf, dass wir
große Defizite haben.

Der Gesetzentwurf versucht, einige Problemfaktoren
anzugehen, und zwar vor allen Dingen mit Regelungen,
die über die Länderverordnungen zum Tragen kommen
sollen. Ein Defizit ist aber, dass Sie die Dinge, die man
im Bundesinfektionsschutzgesetz regeln könnte, nicht
auch dort regeln, zum Beispiel das Instrument des Scree-
nings, das sich in den Niederlanden so gut bewährt hat.
Warum gibt es dazu keine gesetzliche Vorgabe im Bun-
desinfektionsschutzgesetz? Das leuchtet mir nicht ein.
Eine solche Vorgabe würde dazu führen, dass wir bun-
desweit einen bestimmten Standard hätten, der überall
– sowohl in Krankenhäusern als auch in anderen Ein-
richtungen – einzuhalten wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Diesen wichtigen Schritt könnte man gehen. Es ist nicht
nachvollziehbar, dass Sie dieses Problem, obwohl wir
eine Bundeskompetenz dafür haben, nicht auf Bundes-
ebene angehen.

Die Niederlande profitieren davon, dass sie seit Jahr-
zehnten eine sehr restriktive Antibiotikastrategie haben.
Was machen wir? Wir setzen erneut eine Kommission
ein. Es gab ja schon eine Vorläuferkommission; ich
konnte bei meiner Recherche allerdings keinerlei Ergeb-
nisse oder Zwischenberichte finden. Die neue Kommis-
sion soll jetzt zwar verbindliche Empfehlungen abgeben,
aber das wird dauern. Wir brauchen einen ganz konkre-
ten Plan, um in der ambulanten medizinischen Versor-
gung wirklich zu einem viel restriktiveren Antibiotika-
einsatz zu kommen.

Wir wissen alle, dass eine neue und sehr gefährliche
Quelle von MRSA die Landwirtschaft, die Tierzucht, ist.
Was ist diesbezüglich vorgesehen? Dieser gesamte Be-
reich ist in dem Gesetzentwurf komplett ausgeklammert
worden. Es gibt keine gezielten Maßnahmen für die Be-
schäftigten in der Landwirtschaft. Ich habe keinen einzi-
gen Ansatz in diesem Papier dazu gefunden, was wir in
landwirtschaftlich geprägten Regionen ganz gezielt ma-
chen müssen, um zu weiteren Fortschritten zu kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da besteht ein massiver Nachbesserungsbedarf.





Maria Anna Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)

Der Gesetzentwurf liefert aber eine gute Vorlage, um
im Sinne des Patientenschutzes voranzukommen. Ich
bitte aber darum, zusätzlich die Frage eines neuen EBM
noch einmal genauer zu betrachten. Es geht nicht darum,
Anreize zu schaffen. Es geht darum, wirksame Instru-
mente wie das Screening sehr zielgerichtet einzusetzen,
und zwar nicht als zusätzliche Einkommensmöglichkeit
für Ärzte, sondern um im Übergang zwischen ambulan-
ter und stationärer Versorgung sowohl Risiken auszu-
schließen als auch die Sanierung von MRSA zu gewähr-
leisten.

Heute liegt tatsächlich ein Vorschlag für einen Schritt
in Richtung Patientenschutz auf dem Tisch. Wir müssen
allerdings zusehen, dass er auch wirklich stringent und
tatkräftig umgesetzt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709932000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat unser

Kollege Lars Lindemann von der Fraktion der FDP das
Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Lars Lindemann (FDP):
Rede ID: ID1709932100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Weinberg, die Regierung hat nichts auf die lange Bank
geschoben, wie Sie ganz am Anfang behauptet haben.
Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode sehr be-
müht, das Thema aufzugreifen. Es hat zwar eine gewisse
Zeit gedauert, bis wir zu diesem Entwurf gekommen
sind. Aber das Thema stand von Anfang auf der Agenda.


(Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Das Eingeständnis des Zurückbleibens hinter eigent-
lich als selbstverständlich empfundenen Hygienestan-
dards im Gesundheits- und Pflegebereich in Deutschland
ist nicht angenehm. Es ist auch keine annehmbare Bot-
schaft für die Patientinnen und Patienten in unserem
Land. Darüber sind wir uns alle einig; das brauchen wir,
denke ich, hier nicht weiter zu erörtern.

Unser Problem liegt darin, dass es viele unterschiedli-
che Versorgungseinrichtungen in diesem Land gibt, die
mit großer Selbstverständlichkeit Hervorragendes auf
dem Gebiet der Hygiene leisten, jedoch nicht alle so er-
folgreich sind, wie wir uns das wünschen und vorstellen.
Daran müssen wir miteinander arbeiten.

Dies erkennend, geht es in dem von der Koalition vor-
gelegten Gesetzentwurf nicht in erster Linie darum, das
Verhalten Einzelner zu pönalisieren oder öffentlich zu
sanktionieren, sondern darum, die systemischen Unzu-
länglichkeiten – so will ich das nennen – herauszuarbei-
ten und diesen dann mit gesetzgeberischem Handeln ent-
gegenzuwirken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben festzustellen, dass jedes Jahr in Deutsch-
land Tausende Menschen an Infektionen, die sie sich in
verschiedenen Versorgungsbereichen zuziehen, erkran-
ken und schlimmstenfalls auch sterben. Das Risiko im
Vergleich zum Straßenverkehr ist hier bereits mehrfach
beschrieben worden. Diese Auffassung teilen wir. Wir
haben in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die
Zahl schwer behandelbarer Infektionen, ausgelöst durch
mehrfach resistente Erreger, seit Jahren zunimmt.
Ebenso ist festzustellen, dass ein übermäßiger und undif-
ferenzierter Einsatz von Antibiotika – auch in der Tier-
zucht – ganz wesentlich zu Entstehung und Vermehrung
neuer resistenter Keime beigetragen hat. Schließlich ha-
ben wir festzustellen, dass es regional gut funktionie-
rende Netzwerke gibt, die sich der Problemlage ange-
nommen haben, jedoch leider nicht flächendeckend.

Die Analyse des Vorgehens anderer Länder, aber auch
der Ergebnisse einiger Modellprojekte – auch aus Ihrem
Heimatort, Frau Klein-Schmeink – zeigt, dass es An-
sätze gibt, die man verfolgen kann. Die Schlussfolgerun-
gen, die wir daraus gezogen haben, sind in den Gesetz-
entwurf aufgenommen worden.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber nicht stringent!)


Durch Verbesserung der Hygienequalität und Verän-
derung des Einsatzes von Antibiotika lassen sich tau-
sendfaches Leid vermeiden und erhebliche Kosten spa-
ren; darauf ist schon hingewiesen worden. Die
Ersparnisse werden weit über den Aufwendungen lie-
gen, die die Umsetzung des Gesetzes nach sich ziehen
wird. Es ist deshalb richtig, dass nun alle Bundesländer
verpflichtet werden, auf der Grundlage des Infektions-
schutzgesetzes Hygieneverordnungen zu erlassen, die
sodann beispielsweise die erforderliche Ausstattung mit
Hygienefachkräften in den adressierten Einrichtungen
verbindlich vorschreiben. Es ist richtig, dass die Emp-
fehlungen des RKI in Sachen Hygiene für die Adressa-
ten einen verbindlichen Charakter erhalten. Es ist zudem
zielführend, dass neben der Kommission für die Erarbei-
tung von Hygienerichtlinien eine Kommission, die den
Ursachenzusammenhang zwischen der Art und Weise
der Verordnung von Antibiotika und der Entstehung von
Resistenzen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, einbe-
rufen wird.

Es ist richtig, dass die Verantwortlichen in den adres-
sierten Einrichtungen verpflichtet werden, den Stand der
medizinischen Wissenschaft hinsichtlich Hygiene und
auch der Verordnung von Antibiotika einzuhalten haben,
der sich dann in den jeweils aktuellen Empfehlungen der
Kommissionen ausdrückt. Es ist richtig, dass den Leitern
der adressierten Einrichtungen verpflichtend aufgegeben
wird, das Auftreten von nosokomialen Infektionen bei
Häufungen dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden
und über die Landesbehörden auch dem RKI mitzutei-
len.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit den vorgesehenen Vergütungsregeln werden die
Voraussetzungen für ein verbessertes Screening und die
Sanierung der betroffenen Patienten geschaffen. Ich bin





Lars Lindemann


(A) (C)



(D)(B)

auf Ihrer Seite, dass wir da mehr tun können. Darüber
werden wir noch Gespräche führen.

Zudem wird es Vorgaben zur sektorenübergreifenden
Qualitätssicherung geben, die, wenn die Indikatoren ge-
funden und veröffentlicht sind, zu einem qualitätsför-
dernden Wettbewerb führen werden.

Zum Schluss. Ich freue mich über die sachorientierten
Vorschläge und inhaltliche Unterstützung durch die Op-
position. Sie hat konkrete Vorschläge gemacht, aus de-
nen hervorgeht, wie wir gemeinsam an einer Verbesse-
rung arbeiten können. Ich bin zuversichtlich – und ich
werbe ausdrücklich bei Ihnen, meine Damen und Herren
der SPD –, dass wir uns in den anstehenden Berichter-
stattergesprächen über das eine oder andere auseinander-
setzen können und dass es uns gelingt, unserem gemein-
samen Ziel der Reduzierung von Infektionsraten zum
Schutz aller Betroffenen ein Stück weit näherzukom-
men.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709932200

Vielen Dank, Herr Kollege Lindemann. – Nächste auf

meiner Rednerliste ist unsere Frau Kollegin Dr. Marlies
Volkmer von der Fraktion der SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1709932300

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Jeder von uns hat sicherlich schon von solchen tra-
gischen Ereignissen gehört: Jemand geht wegen einer
Routineuntersuchung ins Krankenhaus und verstirbt dort
an einer Sepsis. Oder ein Mensch muss nach einem Un-
fall künstlich beatmet werden und bekommt dann im
Krankenhaus eine schwere Lungenentzündung, auf die
kein Antibiotikum anspricht.

Das sind leider keine bedauernswerten Einzelfälle,
sondern das ist hunderttausendfache Realität in deut-
schen Krankenhäusern. Wir haben leider auch 7 500 bis
15 000 Todesfälle wegen Krankenhausinfektionen in
Deutschland.


(Zuruf von der FDP: Deshalb handeln wir jetzt!)


Diese Zahl zeigt schon ein Problem: Wir wissen über-
haupt nicht, wie viele Krankenhausinfektionen wir ge-
nau haben. Erstens werden nicht alle Fälle diagnostiziert,
zweitens werden nicht alle Fälle gemeldet, und drittens
werden die gemeldeten Fälle nicht zusammengeführt.
Das ist ein unhaltbarer Zustand.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung und eine
Verhaltensänderung, und zwar sowohl in den Einrichtun-
gen des Gesundheitswesens als auch in der Politik. Es
darf nicht so sein, dass Hygiene das fünfte Rad am Wa-
gen ist; denn ohne einen guten Hygienestandard gibt es
keine sichere und erfolgreiche Behandlung der Patien-
ten. Auf eine sichere Behandlung haben Patientinnen
und Patienten jedoch einen Anspruch.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Daher ist es auch so wichtig, dass wir in den Universitä-
ten wieder flächendeckend Lehrstühle für Hygiene ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als ich studiert habe, gab es diese noch. Ich habe in mei-
nem Staatsexamen noch eine Prüfung in Hygiene able-
gen müssen. Das halte ich auch für richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nun geht die Bundesregierung das Problem der Kran-
kenhaushygiene mit einem Gesetzentwurf an, aber es ist
– das ist schon gesagt worden – ein äußerst zaghafter
Entwurf.


(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Besser als der von Ulla Schmidt!)


Ein Beispiel sind die Antibiotikaresistenzen. Die Ursa-
chen für Antibiotikaresistenzen sind komplex. Eine Ur-
sache führt der Gesetzentwurf ausdrücklich auf. Es ist
die unsachgemäße Verordnung von Antibiotika, und
zwar sowohl für Menschen als auch für Nutztiere. Doch
statt eine Strategie vorzustellen, wie man damit sinnvoll
umgehen kann, gründet die Bundesregierung eine neue
Kommission,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schon wieder! Das ist ja unglaublich!)


zusätzlich zur bereits bestehenden Kommission für
Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Aber
was passiert denn, wenn die Leiter von medizinischen
Einrichtungen den Empfehlungen solcher Kommissio-
nen nicht folgen? Nichts passiert. Wir brauchen aber für
solche Fälle Sanktionsmöglichkeiten, zum Beispiel in
Form von Vergütungsabschlägen, die Krankenhäuser al-
lethalben dann hinnehmen müssen.

Ein Thema, das Sie bei der Erstellung des Gesetzent-
wurfes überhaupt nicht auf dem Radarschirm hatten, ist
die unzureichende Personalausstattung der Kliniken.


(Beifall bei der SPD)


Je größer der Zeitdruck, desto flüchtiger wird zum Bei-
spiel die Händedesinfektion ausfallen. Das ist nun ein-
mal eine ganz einfache und wirkungsvolle Methode in
der Hygiene. Ein Vergleich zwischen Deutschland und
den Niederlanden ist aufschlussreich. In einer deutschen
Intensivstation versorgt eine Pflegekraft drei Patienten,
in den Niederlanden ist das Verhältnis nahezu eins zu
eins. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wenn Sie weiter auf Kosten der Beschäftigten in den
Krankenhäusern sparen, wie mit der letzten Gesund-
heitsreform geschehen, wird sich der Zeitdruck in den
Krankenhäusern weiter erhöhen. Das steht einem konse-
quenten Hygienemanagement und einer Senkung der In-
fektionsraten absolut entgegen.





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE] – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!)


Das ist aber das Letzte, was wir gebrauchen können;
denn es darf nicht sein, dass jemand wegen einer Kran-
kenhausinfektion kränker aus dem Krankenhaus heraus-
kommt, als er hineingegangen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709932400

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Volkmer. – Jetzt hat

als Nächster unser Kollege Erwin Rüddel für die Frak-
tion der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1709932500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! 2011 wird das Jahr der Patientinnen und Pa-
tienten.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das Jahr der Kommissionen!)


Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher insbesondere den
vorliegenden Gesetzentwurf. Ich freue mich über die
durchaus positive Bewertung dieses Gesetzentwurfs
durch die Opposition. Ich denke, wir werden bei diesem
Gesetz zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden.

Mit dem Gesetz werden die Voraussetzungen geschaf-
fen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern und bei
medizinischen Behandlungen durchgreifend zu verbes-
sern sowie die Infektionsrate durch Krankenhauskeime
deutlich zu reduzieren.

In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Mel-
dungen über infektionsbedingte Todesfälle, die mit
Recht Unruhe und Sorgen in der Bevölkerung ausgelöst
haben. Nach vorsichtiger Schätzung von Experten sind
in Deutschland durch Infektionen in Kliniken, die auf
mangelnde Hygiene zurückzuführen sind, jährlich zwi-
schen 7 500 und 15 000 Todesfälle zu beklagen. Darüber
hinaus erkranken jedes Jahr schätzungsweise rund
400 000 bis 600 000 Patientinnen und Patienten an In-
fektionen, die im Zusammenhang mit einer medizini-
schen Maßnahme stehen. Nach anderen Schätzungen
muss sogar von noch höheren Fallzahlen ausgegangen
werden.

Unabhängig davon, welcher Einschätzung wir jeweils
Glauben schenken und mehr Plausibilität zubilligen wol-
len: Es besteht in jedem Fall ein dringender Handlungs-
bedarf. Jede zusätzliche Infektion bedeutet persönliches
Leid.


(Beifall der Abg. Johannes Singhammer [CDU/ CSU] und Lars Lindemann [FDP])


Durch das Gesetz werden die Bundesländer verpflich-
tet, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Ver-
ordnungen zur Infektionshygiene und zur Prävention
von resistenten Krankheitserregern in medizinischen
Einrichtungen zu erlassen. Durch einheitliche Standards
und Qualitätsberichte sowie durch zusätzlichen Exper-
tenrat und Präventionsmaßnahmen nach dem Stand der
medizinischen Wissenschaft lassen sich – das sagen
Fachleute – rund 30 Prozent der Infektionen mit Klinik-
keimen vermeiden.

Hinzu kommt, dass wir Anreizsysteme für die nieder-
gelassenen Ärzte schaffen wollen, die bereits im Vorfeld
verhindern sollen, dass gefährliche Keime überhaupt in
die Krankenhäuser gelangen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein Auslöser der öffentlichen Diskussion über man-
gelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern waren
zweifellos die beklagenswerten Vorfälle im vorigen
Sommer auf der Intensivstation der Universitätsklinik
Mainz. Auch wenn sich zwischenzeitlich herausgestellt
hat, dass diese nicht die Folge mangelnder Hygiene, son-
dern einer Vergiftung aufgrund einer verseuchten Infu-
sionslösung waren, hätte dies für das zuständige Gesund-
heitsministerium in Mainz Veranlassung sein können,
eine eigene Hygieneverordnung für die Ärzte und Kran-
kenhäuser in Rheinland-Pfalz zu erlassen, wozu die Ge-
setzeslage dem Land durchaus Handhabe gegeben hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die verantwortliche Ministerin in Mainz, Frau Dreyer,
hat dies allerdings versäumt,


(Mechthild Rawert [SPD]: Gibt es das schon in Baden-Württemberg?)


und das steht leider auch beispielhaft für Defizite und
Versäumnisse der Gesundheitspolitik in Rheinland-
Pfalz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch deshalb ist es gut und richtig, dass nun der Bund
die Initiative ergreift und wir den vorliegenden Gesetz-
entwurf beraten. Für uns ist dabei entscheidend, dass
Hygienepersonal in die Krankenhäuser kommt, dass die
Hygieneleitlinien des Robert-Koch-Instituts verbindlich
werden und dass es jährliche Qualitätsberichte gibt.

Nicht recht verständlich ist mir in diesem Zusammen-
hang die Kritik der Deutschen Krankenhausgesellschaft
an unserem Vorhaben. Der Kampf gegen mangelnde
Sauberkeit, unzureichende Reinigung oder verschmutz-
tes Operationsgerät in unseren Krankenhäusern sollte
eine bare Selbstverständlichkeit sein.

Ja, es stimmt: Wir wollen, dass Hygienebeauftragte
und zusätzliche Ärzte neu eingestellt werden, damit in
deutschen Krankenhäusern das Augenmerk verstärkt auf
Sauberkeit und Hygiene gelegt wird. Das wird Geld kos-
ten. Auf der anderen Seite aber werden diese Mehrkos-
ten dadurch mehr als ausgeglichen, dass Infektionen mit
all ihren entsprechenden Folgekosten in großer Zahl ver-
mieden werden.

Der GKV-Spitzenverband hat mit Recht darauf hinge-
wiesen, dass die Krankenhäuser allein in diesem Jahr
1,9 Milliarden Euro zusätzlich von den Beitragszahlern
erhalten. Mit diesem Geld sollte sich einiges bewirken





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)

lassen, um die hygienische Situation in unseren Kliniken
zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Gemeinsame Bundesausschuss wird dazu geeignete
Standards und Vergleichsmarken entwickeln, die für die
Qualitätsberichte der Krankenhäuser als Richtschnur
dienen werden.

Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
sind wir auf dem richtigen Weg. Wir unterstützen den
Gesundheitsminister in seinem Bestreben, auf diese
Weise unser Gesundheitswesen zu stärken. Wir werden
deshalb gemeinsam – dabei schließe ich die Opposition
mit ein – für eine bundeseinheitliche gesetzliche Rege-
lung zur Verbesserung der Hygiene in Krankenhäusern
und anderen medizinischen Einrichtungen sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709932600

Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Mir liegen

keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die
Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/5178, 17/4489 und 17/5203 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Es spricht
niemand dagegen. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Erweiterung des Kündigungs-
schutzes der Arbeitnehmerinnen und Ar-

(Schutz vor Kündigungen wegen eines unbedeutenden wirtschaftlichen Schadens)


– Drucksache 17/648 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Wolfgang Neškoviæ, Jan Korte,
Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Verbot der Verdachts-
kündigung und der Erweiterung der Kün-
digungsvoraussetzungen bei Bagatelldelik-
ten

– Drucksache 17/649 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Aus-schuss)


– Drucksache 17/4281 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen
korrigieren – Pflicht zur Abmahnung einfüh-
ren

– Drucksachen 17/1986, 17/4281 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb

Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto-
koll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgender
Kolleginnen und Kollegen – ich lasse die Fraktionsbe-
zeichnung jetzt weg und erwähne nur die Namen –: Kol-
legin Gitta Connemann, Kollege Ottmar Schreiner1),
Kollegin Gabriele Molitor,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Kollegin Sabine Zimmermann, Kollegin Ingrid
Hönlinger, Kollege Ulrich Lange und Kollege Johannes
Vogel. Die Reden sind somit zu Protokoll genommen.2)

Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur
Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehme-

(Schutz vor Kündigung wegen eines unbedeutenden wirtschaftlichen Schadens)

Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4281, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/648 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-
nung die weitere Beratung.

Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 12 a. Wir
kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke zum Verbot der Verdachtskündigung
und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen
bei Bagatelldelikten. Der Ausschuss für Arbeit und So-
ziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/4281, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/649 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 12 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ungerechtigkei-
ten bei Bagatellkündigungen korrigieren – Pflicht zur
Abmahnung einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/4281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1986 abzulehnen. Wer stimmt

1) Der Redebeitrag lag zu Redaktionsschluss nicht vor und wird zu ei-
nem späteren Zeitpunkt abgedruckt.

2) Anlage 3





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist somit angenom-
men.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen
– Gemeinsam die Entwicklung ländlicher
Räume stärken

– Drucksachen 17/2478, 17/5117 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Heinz Paula
Horst Meierhofer
Kornelia Möller
Markus Tressel

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu
Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden fol-
gender Kolleginnen und Kollegen: Kollege Horst
Meierhofer,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Kollege Heinz Paula, Kollegin Marlene Mortler,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kollege Dr. Ilja Seifert, Kollege Markus Tressel, Kol-
lege Klaus Brähmig und Kollege Dr. Edmund Geisen.1)


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Beifall zeigt, dass alle einverstanden sind, dass die
Reden zu Protokoll genommen werden.


(Mechthild Rawert [SPD]: So meinten die das nicht!)


– Okay, den Eindruck habe ich auch gehabt.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen
CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Tourismus und
Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Ent-
wicklung ländlicher Räume stärken“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/5117, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/2478 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.

1) Anlage 4
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und Leistungseinschränkungen im Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch abschaffen

– Drucksache 17/5174 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. Bitte
schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709932700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 9. Fe-

bruar 2010 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass
die Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig sind und
dass das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzmi-
nimum für Hilfebedürftige dem Grunde nach unverfüg-
bar ist. Dieses Urteil ging zurück auf eine Klage von
Thomas Kallay. Nur wenige Tage nach dem Urteil
drohte das zuständige Jobcenter Frau Kallay unter win-
digen Vorwänden eine 100-prozentige Sanktion an. 100-
prozentige Sanktion meint den kompletten Entzug der
Hartz-IV-Leistung.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Da
macht ein Erwerbsloser von seinen rechtsstaatlichen
Rechten Gebrauch, klagt, bekommt Recht, aber kurz da-
rauf droht seiner Frau der komplette Entzug des ohnehin
niedrigen Hartz-IV-Regelsatzes. Hier deutet sich doch
an, dass Sanktionen disziplinierend eingesetzt werden
und die Wehrhaftigkeit von Betroffenen untergraben sol-
len. Deswegen gehören sie abgeschafft.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Glück kannte die Familie einige Abgeordnete. Als
es Nachfragen aus ganz unterschiedlichen politischen
Richtungen gab, wurde diese Androhung auch zurückge-
zogen.

Doch nicht jeder, der von Sanktionen betroffen ist, hat
dieses Glück. Jährlich werden mehr als 700 000 Sanktionen
verhängt. Eine Sanktion bedeutet in diesem Zusammen-
hang, dass die ohnehin niedrigen Regelleistungen gekürzt
werden. Die Wirkung dieser Sanktionen ist verheerend.
Zum einen widersprechen sie dem Grundrecht auf ein so-
ziokulturelles Existenzminimum, zum anderen führen sie





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

bei den Betroffenen zu Existenzangst, ja, zu richtiger
existenzieller Not. Um das noch einmal zu verdeutlichen:
Jeden Monat sind im Durchschnitt 12 000 Menschen vom
kompletten Entzug der Hartz-IV-Leistungen betroffen.
Ja, selbst Schwangere werden mit dem kompletten Ent-
zug der Leistungen bedroht, wenn sie nicht jeden 1-Euro-
Job, nicht jedes Jobangebot annehmen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zumutbar!)


Die Betroffenen werden durch diese Sanktionsmöglich-
keit wehrlos gegenüber ausbeuterischen Arbeitsverhält-
nissen.

Ich habe von einem Fall gehört, bei dem eine Frau in
einem Bewerbungsgespräch nur kritisch die Höhe des
angebotenen Lohnes, der übrigens sehr niedrig war, hin-
terfragt hat. Daraufhin ist sie nicht eingestellt worden. Es
wurde ein Vermerk angefertigt, dass dort kritisch nach-
gefragt worden ist, und ihre Unterlagen wurden mit die-
sem Vermerk an die Bundesagentur zurückgeschickt.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Diese Fälle würde ich gerne einmal sehen!)


Ihr wurde sofort der Regelsatz gekürzt mit dem Hinweis
darauf, das sei ein Fall von fehlender Mitwirkung.

Hinzu kommen enorm hohe Fehlerquoten. 37 Prozent
aller Widersprüche gegen Sanktionen ist in Gänze statt-
gegeben worden. Das heißt, dass diesen Leuten nach-
weislich zu Unrecht das Existenzminimum vorenthalten
wurde. Ich möchte Sie einmal erleben, wenn Ihnen über
Monate hinweg die Diäten einfach nicht überwiesen
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Hier reden wir über Menschen, die wirklich kaum ein fi-
nanzielles Polster haben.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ich würde Sie da auch einmal gerne sehen wollen, Frau Kipping!)


Das zentrale Argument der schwarz-gelben Bundesre-
gierung lautet – Zitat –:

… Sanktionen dienen dazu, die Besetzung von Ar-
beitsplätzen zu unterstützen …

Schauen wir uns doch einmal das Verhältnis von offe-
nen Stellen zu Erwerbslosen an. Wenn wir die offiziellen
Statistiken betrachten und nur die offensichtlichsten
Tricks bei der Berechnung von Arbeitslosen herausneh-
men, erhalten wir folgendes Ergebnis: Auf eine offene
Stelle kommen zehn Erwerbslose. Egal wie sehr sie sich
bemühen, müssen von diesen zehn also neun leer ausge-
hen. Das ist nüchterne Mathematik.

Das heißt, das Problem ist nicht die angebliche Ar-
beitsunwilligkeit; das Problem ist, dass es diese Ge-
sellschaft nicht schafft, die vorhandene Erwerbsarbeit
gerecht zu verteilen, zum Beispiel durch Arbeitszeit-
verkürzung.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke fordert deswegen: Weg mit den Sanktio-
nen. Wir fordern, die vorhandene Erwerbsarbeit durch
Arbeitszeitverkürzung gerechter zu verteilen.

Ja, wir lehnen Zwang zur Arbeit genauso ab wie Er-
werbslosigkeit wider Willen; denn beides widerspricht
unserem Verständnis von einer freiheitlichen und einer
humanistischen Gesellschaft.

Insofern möchte ich mit dem Zitat des Humanisten
Erich Fromm enden. Er sagte,

daß der Mensch unter allen Umständen das Recht
hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und
Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung
usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das
unter keinen Umständen eingeschränkt werden
darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Be-
treffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“.

So weit der Humanist Erich Fromm.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709932800

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat unser

Kollege Dr. Carsten Linnemann von der Fraktion der
CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1709932900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kipping,
herzlichen Dank für die Einführung. In der Tat machen
Sie den Vorschlag, die Sanktionen abzuschaffen, sodass
die Menschen, die von der Solidargemeinschaft Unter-
stützung bekommen, am Ende keiner Kontrolle mehr un-
terliegen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau der Punkt!)


Die Frage ist: Macht das Sinn? Diese Frage muss man
sich stellen. Wir verneinen das, und ich will es Ihnen
auch begründen.

Zunächst einmal müssen wir uns fragen: Welche
Gruppen werden von der Solidargemeinschaft unter-
stützt?

Zum einen ist das die Gruppe der Menschen, die am
Rande der Gesellschaft stehen. Dabei handelt es sich um
Menschen, die sich nicht selber helfen können. Sie kön-
nen nicht, wie Röpke sagt, wenn sie Hilfe suchen, ihren
rechten Arm nehmen. Das sind Menschen, die unsere
Unterstützung brauchen – wie geistig Behinderte, kör-
perlich Behinderte und andere. Diese Menschen brau-
chen Solidarität, und zwar nicht nur die normale Solida-
rität, sondern die bedingungslose Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum anderen gibt es die Menschen, über die Sie spre-
chen, nämlich die SGB-II-Empfänger. Das sind Lang-
zeitarbeitslose, die von der Solidargemeinschaft unter-





Dr. Carsten Linnemann


(A) (C)



(D)(B)

stützt werden, also von den Menschen, die mit ihren
Einkommensteuern und Umsatzsteuern das soziale Netz
in Deutschland finanzieren. Das kann man ja einmal aus-
sprechen. Auch die Langzeitarbeitslosen brauchen un-
sere Solidarität – aber nicht bedingungslos. Das ist der
Unterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt habe ich so viel über Solidarität gesprochen.
Was steckt hinter Solidarität? Das Ganze ist nichts ande-
res als eine Vertragsvereinbarung zwischen Menschen,
die in das System einzahlen, also die Solidargemein-
schaft, und Menschen, die das Geld abrufen und gleich-
zeitig eine Gegenleistung erbringen. Es ist also nichts
anderes – Herr Zimmer, Sie haben es letztens gesagt –
als das Prinzip der Reziprozität. Das heißt, Solidarität ist
keine Einbahnstraße, sondern beruht auf dem Prinzip der
Gegenseitigkeit.

Für diese Gegenseitigkeit bedarf es Schranken. Diese
Schranken sind wichtig, damit – –


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709933000

Schnaufen Sie einmal schnell durch. Es gibt den

Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zu-
lassen?


Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1709933100

Ja, gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709933200

Jetzt ist die Zwischenfrage unserer Kollegin gerne er-

laubt.


Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709933300

Ich habe vernommen, dass Sie annehmen, dass Men-

schen, die keiner Berufstätigkeit nachgehen, keine für
die Gesellschaft nützliche Arbeit verrichten.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das hat er nie gesagt! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Zuhören! Sind Sie in einer anderen Debatte?)


Ich kenne jede Menge Mütter, die ihre Kinder erziehen.
Ich kenne jede Menge Menschen, die Steuern zahlen,
weil sie Lebensmittel, Kleidung und alle Sachen, die sie
für ihren alltäglichen Bedarf benötigen, einkaufen und
natürlich wie jeder andere auch Mehrwertsteuer zahlen.
Natürlich tragen sie zur Solidargemeinschaft bei. Wieso
diskreditieren Sie hier Menschen, bloß weil sie vom Ar-
beitsprozess ausgeschlossen sind? Was meinen Sie, wie
viele dieser Menschen sich in dieser Zeit gegen Atom-
kraft oder für sehr viele andere Sachen engagieren, die
ohne bürgerschaftliches Engagement überhaupt nicht
mehr laufen würden, weil so viel weggekürzt worden
ist?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1709933400

Ich habe eben versucht, zu erklären, was die Solidar-

gemeinschaft ist. Das sind in erster Linie die Menschen,
die in Deutschland arbeiten gehen, Einkommensteuer
und andere Dinge zahlen. Natürlich gehören auch die
Menschen dazu, die einkaufen gehen und mit der Mehr-
wertsteuer einen Beitrag leisten; aber in erster Linie sind
es die Menschen, die den Kuchen, der in Deutschland
verteilt wird, erst erwirtschaften. Das ist so. Damit habe
ich nichts Falsches gesagt, sondern nur das, was Realität
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich zu den Schranken zurückkommen.
Wir brauchen Schranken, damit das Prinzip der Gegen-
seitigkeit funktioniert, damit wir ein gutes Zusammenle-
ben in der Gesellschaft haben.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil anscheinend kaum
noch jemand zuhört – Sie haben eben auch nicht zuge-
hört, sonst hätten Sie die Frage nicht gestellt –,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


in die Wirtschaftsgeschichte einsteigen. Ich bin Fan von
Adam Smith, dem alten Schotten, der gesagt hat: Es be-
darf verschiedener Schranken, damit das Zusammenle-
ben funktioniert. In der Familie gibt es eine natürliche
Schranke, weil der eine für den anderen einsteht: Wenn
mein Bruder einen Platten hat, helfe ich ihm; da brau-
chen wir keine Gesetze.


(Zuruf von der LINKEN: Wenn Menschen arbeitslos sind, dann helfen sie doch auch!)


Eine Ebene höher finden wir die Schranke in der Dorfge-
meinschaft, im Vereinsleben – Adam Smith bezeichnet
sie als die „Schranke der Ethik“ –: Man tut etwas oder
tut es nicht; man läuft nicht nackt über den Sportplatz,
weil man das einfach nicht tut.

Wenn diese Schranken nicht funktionieren, dann
kommen gesetzliche Schranken zum Einsatz, damit das
Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert. Bei Hartz IV
machen wir nichts anderes:


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nackt über den Sportplatz laufen?)


Damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert,
brauchen wir Schranken. Sanktionen sind hier ein Instru-
ment. Wir nutzen dieses Instrument, damit das, was die
Solidargemeinschaft einzahlt, sachgerecht verwendet
wird. Ich bin sicher, dass das System der Sanktionen
funktioniert.

Frau Kipping, Sie haben absolute Zahlen genannt; das
ist clever. Man muss aber sagen, dass die Quote der
Fälle, in denen es zu Sanktionen kommt, in den verschie-
denen Bundesländern zwischen 2 und 4 Prozent liegt.
Das System funktioniert. Insofern räume ich Ihrem An-
trag wenig Chancen ein. Wir können gerne im Aus-
schuss darüber reden; aber wir werden diesen Antrag
nicht unterstützen.

Ich bedanke mich, wünsche Ihnen einen schönen
Abend und zu dieser Zeit auch eine geruhsame Nacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709933500

Vielen Dank für die höfliche Schlussformel. – Als

Nächste hat unsere Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von
der Fraktion der SPD das Wort.

Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1709933600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von

der Linken! Sie beklagen in Ihrem Antrag Sanktionen
und Leistungseinschränkungen bei Hartz IV und in der
Sozialhilfe. Es ist richtig: In beiden Gesetzen sind ent-
sprechende Möglichkeiten verankert. Ich stimme Ihnen
zu: Gerade vor dem Hintergrund des Urteils der obersten
Verfassungsrichter zur Grundsicherung vom Februar
2010 gehören Sanktionen und Leistungskürzungen auf
den Prüfstand. Deshalb haben wir bereits am 30. No-
vember 2010 einen Entschließungsantrag zu diesem
Thema eingebracht.

Die Erfahrungen mit dem Instrument der Sanktionen
im Sozialgesetzbuch II zeigen, dass diese in der Regel
stark überschätzt werden. Die bessere Alternative zu
Sanktionen ist die intensive Betreuung und Unterstüt-
zung von langzeitarbeitslosen Menschen durch deren
Fallmanager.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist wohl wahr!)


Eines wissen wir genau: Die große Mehrheit der Ar-
beitsuchenden will arbeiten und wäre froh, wenn ein
passender Arbeitsplatz zur Verfügung stünde.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Unser Anliegen muss deshalb sein, so viel Unterstützung
zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wie irgend
möglich zu leisten. Leider geht die schwarz-gelbe Bun-
desregierung den genau entgegengesetzten Weg. Sie
kürzt ausgerechnet bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik
massiv. Im Vergleich der Jahre 2010 und 2011 wurde der
Mittelansatz von 6,6 Milliarden Euro auf 5,3 Milliarden
Euro eingedampft. Das bedeutet durchschnittliche Bud-
getkürzungen um 21 Prozent gegenüber 2010.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: In der Krise!)


Einige Jobcenter wie zum Beispiel das in meinem Wahl-
kreis sind noch härter betroffen und müssen mit bis zu
30 Prozent weniger auskommen. Das, meine Damen und
Herren, ist der falsche Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Fördern kostet erst einmal Geld. Doch es rechnet sich
mittel- und langfristig auf jeden Fall. Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Linken, sprechen in Ihrem Antrag
die jugendlichen Arbeitslosengeld-II-Bezieher unter
25 Jahren an. Nach einer aktuellen Bertelsmann-Studie
haben 58 400 Jugendliche im Jahr 2009 die Schule ohne
Abschluss verlassen. Das entspricht einer Abbrecher-
quote von 7 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist
viel zu hoch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wissen: Ein fehlender Schulabschluss oder eine
abgebrochene Berufsausbildung stellen besonders
schwere Vermittlungshemmnisse dar. Deshalb muss es
unser Ziel sein, Jugendliche auf ihrem Weg ins Berufsle-
ben mit aller Kraft zu unterstützen und zu begleiten.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Was hat das mit Sanktionen zu tun?)


Wir von der SPD haben hierfür 2008 einen Rechtsan-
spruch auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses
geschaffen und den Ausbildungsbonus auf den Weg ge-
bracht. Bis zum September 2010 haben mehr als 40 000
Altbewerberinnen und Altbewerber durch den Ausbil-
dungsbonus eine echte Berufseinstiegschance erhalten.
Das, meine Damen und Herren, ist eine gute Investition
in die Zukunft.


(Beifall bei der SPD)


Es ist unfassbar, dass ausgerechnet dieses wichtige
Förderinstrument von Ministerin von der Leyen nicht
verlängert wurde.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das kann man doch so nicht sagen! – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wieso, es ist doch verlängert worden! – Gegenruf der Abg. Anette Kramme [SPD]: Es ist verlängert worden nur für Insolvenzfälle! – Weitere Zurufe)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns steht ganz
klar das Fördern im Vordergrund. Sanktionen dürfen nie-
mals Schikane oder Demütigung, sondern lediglich ein
letztes Druckmittel sein.

Wir müssen uns die Sanktionsmöglichkeiten sehr ge-
nau anschauen. Gänzlich auf sie zu verzichten, halte ich
für falsch; denn wir brauchen auch ein Instrument zur
Durchsetzung von Zielvereinbarungen bei der Eingliede-
rung und zum Schutz vor Missbrauch.

Wie sieht es nun in der Sozialhilfe aus? Sie ist das un-
terste Auffangnetz für besonders hilfebedürftige Men-
schen. Deshalb müssen wir hierbei ganz besonders da-
rauf achten, dass das Existenzminimum abgesichert ist
und nicht unterschritten wird.

Es gibt zwei „Sanktionsparagrafen“ in der Sozialhilfe,
die §§ 26 und 39 SGB XII. In § 39 heißt es:

Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Ver-
pflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit oder die
Teilnahme an einer erforderlichen Vorbereitung ab,
vermindert sich der maßgebende Regelsatz in einer
ersten Stufe um bis zu 25 vom Hundert, bei wieder-
holter Ablehnung in weiteren Stufen um jeweils bis
zu 25 vom Hundert. Die Leistungsberechtigten sind
vorher entsprechend zu belehren.

Ich habe im Sozialamt meines Wahlkreises nachge-
fragt, wann und wie oft diese Möglichkeit der Leistungs-
kürzung eingesetzt wird. Die Antwort lautete: nie.





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

Nach der Reform der Grundsicherung 2005 unter
Rot-Grün sind alle Leistungsempfänger, die mehr als
drei Stunden täglich arbeiten können, aus der Sozialhilfe
herausgenommen und in Hartz IV überführt worden.
Das bedeutet, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen,
überhaupt nicht erwerbstätig sein können. Deshalb ist es
richtig, diesen Paragrafen infrage zu stellen. Wenn er
keine Bedeutung mehr hat, sollten wir ihn streichen.

Anders verhält es sich mit § 26, in dem es heißt:

Die Leistung soll bis auf das zum Lebensunterhalt
Unerlässliche eingeschränkt werden

1. bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendung
des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermö-
gen vermindert haben in der Absicht, die Vorausset-
zungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leis-
tung herbeizuführen,

2. bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung
ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen.

So weit wie möglich ist zu verhüten, dass die unter-
haltsberechtigten Angehörigen oder andere mit ih-
nen in Haushaltsgemeinschaft lebende Leistungsbe-
rechtigte durch die Einschränkung der Leistung
mitbetroffen werden.

Dieser Paragraf kommt zumindest in meinem Wahl-
kreis so gut wie nie zur Anwendung. Die wenigen Fälle
betreffen Rückforderungen von zu viel ausbezahlter So-
zialhilfe. Es werde in jedem Einzelfall sehr genau ge-
prüft – das erfuhr ich von dem Sozialamt in meinem
Wahlkreis –, ob eine Rückzahlung überhaupt möglich sei
und inwieweit Angehörige möglicherweise unter einer
Leistungskürzung zu leiden hätten. Wenn eine Rückzah-
lung unzumutbar sei, werde darauf verzichtet.

Auch wenn Leistungsmissbrauch nur selten vor-
kommt, halte ich es für richtig, diese Sanktionsmöglich-
keit zum Schutz der Solidargemeinschaft aufrechtzuer-
halten.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr gut! Das ist richtig!)


Menschen, die Sozialleistungen widerrechtlich in An-
spruch nehmen, müssen mit Konsequenzen rechnen. Das
gilt für die Sozialhilfe und gleichermaßen für Hartz IV.
In § 1 des Sozialgesetzbuches XII steht als erster Satz,
und zwar nicht erst seit dem Urteilsspruch der Bundes-
verfassungsrichter vom letzten Jahr:

Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsbe-
rechtigten die Führung eines Lebens zu ermögli-
chen, das der Würde des Menschen entspricht.

Diesen Leitsatz müssen wir natürlich insbesondere im
Hinblick auf Leistungskürzungen sehr genau im Auge ha-
ben. Das Gesetz sieht deshalb vor, dass Leistungen nicht
beliebig, sondern nur bis auf das Unerlässliche gekürzt
werden dürfen. Das bedeutet, das materielle Existenzmi-
nimum darf nicht angetastet werden. Einschränkungen
sind nur im Bereich des soziokulturellen Existenzmini-
mums möglich. Dies steht aus meiner Sicht nicht im Wi-
derspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 9. Februar 2010. Die Bundesrichter räumen einen
gewissen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein. Sie
sagen sehr deutlich, dass der Gestaltungsspielraum bei
den Leistungen zur Sicherung der physischen Existenz
sehr eng begrenzt ist und er nur etwas größer ist, wenn es
um Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben geht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit bei diesem so wichti-
gen Thema.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709933700

Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Als Nächs-

ter spricht für die FDP-Fraktion Kollege Pascal Kober. –
Bitte schön, Kollege Kober.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1709933800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Sozialstaat hat zwei Seiten. Auf der einen Seite gibt es
diejenigen, die auf die Leistungen des Sozialstaates an-
gewiesen sind, und auf der anderen Seite gibt es diejeni-
gen, die mit ihrer Hände oder ihrer Köpfe Arbeit das
erwirtschaften, was der Sozialstaat als Leistung denjeni-
gen zur Verfügung stellt, die auf Leistung angewiesen
sind. Beiden Seiten muss die Politik gerecht werden.
Deshalb ist das Sozialgesetzbuch II – das sind die soge-
nannten Hartz-IV-Gesetze – geprägt vom Prinzip des
Förderns auf der einen und des Forderns auf der anderen
Seite.

Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Menschen
schulden sie sich gegenseitig. Beide Seiten sind sich So-
lidarität schuldig. Deshalb geht kein Weg daran vorbei,
dass die einen Steuern zahlen, durch die die Sozialleis-
tungen finanziert werden, und zugleich die anderen das
ihnen Mögliche tun, um aus ihrer Notsituation herauszu-
kommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Bereich des Förderns hat diese Regierung schon
einiges unternommen, um gerade bei diesem Aspekt zu
Verbesserungen zu kommen. Mit der Jobcenterreform
haben wir sichergestellt, dass die Betreuung der Men-
schen weiterhin vernünftig und kompetent aus einer
Hand erfolgt. Zudem haben wir den Schlüssel für die
Betreuung durch die Jobcenter im Rahmen des SGB II
auf 1: 75 für die unter 25-Jährigen und auf 1: 150 für die
über 25-Jährigen gesenkt. Damit möchten wir sicherstel-
len, dass die Mitarbeiter der Jobcenter gezielt auf die
spezifischen Probleme der Arbeitsuchenden eingehen
und sie besser bei der Arbeitsaufnahme unterstützen
können.

Wir werden in den kommenden Wochen mit der Re-
form der arbeitsmarktpolitischen Instrumente sicherstel-
len, dass diese Instrumente in Zukunft gezielter und wir-
kungsvoller zum Wohle der Arbeitsuchenden eingesetzt
werden können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Doch zum Aspekt des Förderns gehört auch der
Grundsatz des Forderns.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Aus diesem Grund werden Eingliederungsvereinbarun-
gen abgeschlossen. Darin enthalten sind genau die Maß-
nahmen, die nach Ansicht des Jobcenters hilfreich für die
Arbeitsaufnahme sind. Ich finde, es ist nicht verwerflich,
wenn wir im Rahmen der Eingliederungsvereinbarungen
den Menschen gegenüber Erwartungen formulieren, wie
zum Beispiel Terminen im Jobcenter nachzukommen,
eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen zu schreiben
oder notwendige Fortbildungen zu besuchen. Natürlich
wäre es uns am liebsten, wenn keine Sanktionen ausge-
sprochen werden müssten, weil wir keine Probleme bei
der Aktivierung hätten und die Menschen immer sehr ein-
fach einen Job finden würden. Es stellt sich aber die
Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wenn je-
mand diese Hilfe bewusst oder vielleicht auch unbewusst
nicht in Anspruch nimmt, aber dennoch die Unterstüt-
zung der Solidargemeinschaft erwartet.

Der Antrag der Linken schlägt vor, in diesem Fall
komplett darauf zu verzichten, Sanktionen auszuspre-
chen. Doch was wäre die Folge eines solchen Verzichts?
Er würde sicherlich nicht mehr Menschen in Arbeit brin-
gen. Aussagen von Mitarbeitern der Jobcenter verdeutli-
chen uns, dass für viele Menschen, gerade für junge
Menschen, solch eine Sanktion unter Umständen ein
hilfreicher Schuss vor den Bug sein kann.

Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung zwi-
schen denjenigen, die sich bemühen – egal ob die Bemü-
hungen erfolgreich oder erfolglos sind –, und denjeni-
gen, die keinerlei Anstrengungen unternehmen. Dies
halte ich für ungerecht, und es trägt auch nicht zur Moti-
vation der Arbeitsuchenden bei.

Zudem müssen wir die Frage stellen, welche Akzep-
tanz die Grundsicherung für Arbeitsuchende bei den Er-
werbstätigen, also denjenigen, die die Grundsicherung
durch ihre Arbeit finanzieren, hätte, wenn es keine Not-
wendigkeit zur Eigeninitiative gäbe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
zeichnen gerne ein Bild, das zeigen soll, dass so gut wie
jeder Bezieher von Arbeitslosengeld II von Sanktionen
betroffen wäre. Aber tatsächlich betrifft das nur einen
ganz geringen Teil der Arbeitsuchenden. Laut einer Stu-
die des IAB betrug die Quote der tatsächlich mit Sank-
tionen belegten Personen im Jahr 2010 nur 3,7 Prozent.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wo ist dann das Problem? – Katja Kipping [DIE LINKE]: Ein Damoklesschwert!)


Das zeigt, wie hoch die Motivation der Arbeitsuchenden
ist. Das zeigt auch, wie hoch die Kompetenz der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ist, wenn
es um die Unterstützung der Arbeitsuchenden geht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich kann Ihnen versichern, dass es den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern in den Jobcentern sicherlich nicht
leichtfällt, in Einzelfällen Sanktionen auszusprechen.
Wir sollten nicht so tun, als würden die Jobcenter Sank-
tionen aus Jux und Tollerei verhängen. Das ist mit Si-
cherheit nicht der Fall und wird den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in den Jobcentern nicht gerecht.

Was werden wir machen? Wir werden mit Sicherheit
auf die Ausbildung und die Stärkung der Kompetenz der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern set-
zen, gerade in der nahen Zukunft. Aber es wäre auch
schon heute ungerecht, es diesen Personen gegenüber so
darzustellen, als würden sie Sanktionen aus Jux und Tol-
lerei aussprechen.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das macht doch niemand! Die haben Einsparvorgaben!)


Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Soli-
darität durch die Gesellschaft, aber dafür kann die Ge-
sellschaft auch eine Gegenleistung erwarten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709933900

Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Als Nächster

käme, wenn er die Rede nicht zu Protokoll gegeben
hätte, der Kollege Markus Kurth von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Rede ist damit zu Protokoll
genommen.


(Heiterkeit – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Arbeitsverweigerung! Sanktionen!)


Jetzt ist – er steht schon da – der Kollege Paul
Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU aufgerufen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Pascal Kober [FDP]: Ein sehr guter Mann!)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709934000

Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident Edi

Oswald, ich darf Ihnen an dieser Stelle – trotz vorge-
rückter Stunde – zu Ihrem noch heute aufgenommenen
und souverän ausgeübten Amt recht herzlich gratulieren
und wünsche Ihnen viel Vergnügen an dem Amt.


(Beifall)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709934100

Die Ovationen werden zu jeder Zeit entgegengenom-

men. Vielen Dank.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709934200

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin

Kipping hat vorhin in ihrer Rede hier ausgeführt, die Er-
werbsarbeit gerechter zu verteilen sei Aufgabe staatli-
chen Handelns. Von zehn Arbeitslosen bekommt nur ei-
ner den Job, sagte sie. Das traurige Beispiel der
Schwangeren, die sich um jeden Job bemühen muss,
rührt einen direkt zu Tränen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Keinen Zynismus!)


Frau Kollegin Kipping, Sie wissen genauso gut wie ich,
dass die Vermittlung nur in zumutbare Beschäftigungs-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

verhältnisse erfolgt. Das heißt, eine Hochschwangere
wird kaum in eine körperlich anspruchsvolle Tätigkeit
vermittelt werden können.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber in alle zumutbaren! Auch in Großküchen!)


Der Staat weist Arbeit nicht zu; der Staat bietet Arbeit
an. Wenn aber die Arbeit aus Gründen, die die Allge-
meinheit nicht tolerieren kann, nicht angenommen wird,
dann gebietet es die Sachwalterstellung der Behörden für
die kargen öffentlichen Mittel, dass man sie effizient ein-
setzt. Das steht ausdrücklich im Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts vom 9. Februar 2010.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind nicht diejenigen, die Arbeit verteilen. Sie ha-
ben gerade das Recht auf Arbeit angesprochen. Liebe
Frau Kollegin Kipping, aus Sozialromantik heraus wer-
den Sie wahrscheinlich die DDR im Auge gehabt haben.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist eine Unterstellung!)


In der DDR hat es ein Recht auf Arbeit gegeben; es hat
aber auch eine Pflicht zur Arbeit gegeben. Sagen Sie mir
doch einmal, wie sich ein Bürger in der DDR hätte sank-
tionslos durch das System mogeln können, wenn es eine
für ihn zumutbare Tätigkeit gab.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: In dieser Frage verteidige ich die DDR in keiner Weise!)


– Darüber freue ich mich. – Frau Kollegin Kipping, wir
leben im Hier und Heute. Im Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts wurde ausgeführt – ich darf mit Erlaubnis
des geschätzten Herrn Präsidenten zitieren –:

Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungs-
anspruch auf Gewährleistung eines menschenwür-
digen Existenzminimums erstreckt sich nur auf
diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines
menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich
sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum
durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die
sowohl die physische Existenz des Menschen, also
Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung,
Hygiene und Gesundheit …, als auch die Sicherung
der Möglichkeit … zu einem Mindestmaß an Teil-
habe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi-
schen Leben umfasst …


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha!)


Die Verfassung gebietet also nicht die Gewährung be-
darfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistun-
gen, so das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 2010.
Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz greift nur dann, wenn andere
Mittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nicht zur Verfügung stehen. Wenn
einem Menschen diese Mittel fehlen, weil er sie weder
aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermö-
gen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist
der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der
Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatli-
chen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die Menschen-
würde zu schützen. Zunächst ist also vorrangig, dass das
Erwerbseinkommen bzw. der Lebensunterhalt mit eige-
nen Mitteln gesichert wird. Erst dann können wir staatli-
che Mittel, Mittel, die wir anderen Bürgern durch Steu-
ern von ihrem Erwerbseinkommen weggenommen
haben, an die Bedürftigen ausreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Frau Kipping, zu Ihrer wohlgefälligen Aufklä-
rung: Unser Sozialstaatsprinzip ist keine Kuh, die im
Himmel frisst, aber auf Erden Milch geben kann. Das
heißt, wir müssen das, was wir verteilen, irgendjeman-
dem vorher abnehmen. Wir müssen es erwirtschaften.
Wir können nur das ausgeben, was wir eingenommen
haben. Deshalb ist Sozialpolitik auch immer Wirt-
schaftspolitik. Wir haben vorhin – da waren Sie leider,
sicherlich wegen wichtiger Termine, verhindert – eine
wunderbare Debatte zum Arbeitnehmerüberlassungsge-
setz geführt. In dieser Debatte hat Ihre Kollegin
Krellmann ausgeführt: Die Linkspartei ist gegen einen
Mindestlohn in der Leiharbeit. – Das möchte ich in die-
ser Debatte wiederholen, weil es eine ungeheuerliche
Aussage ist.


(Widerspruch von der LINKEN)


Ich nehme das zur Kenntnis. Jetzt steht es zweimal im
Protokoll des Bundestages. Nehmen Sie das heute
Abend mit nach Hause. Freuen Sie sich: Die Linkspartei
war heute gegen Mindestlohn.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nicht mal das haben Sie verstanden!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709934300

Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen

Birkwald das Wort.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709934400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte nur ganz

kurz klarstellen, dass Sie vorhin wohl leider nicht richtig
zugehört haben, Herr Kollege. Wir haben gesagt, dass
wir für Equal Pay in der Leiharbeit eintreten, weil für
uns das Prinzip gelten muss: Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit. Nur deshalb haben wir gesagt, dass in der Leihar-
beit ein Mindestlohn nicht die Lösung ist. Wir wollen,
dass Arbeit gleich bezahlt wird.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709934500

Vielen Dank. – Herr Kollege Lehrieder, Sie stehen be-

reits. Das heißt, Sie wollen antworten?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709934600

Wenn ich darf, Herr Präsident, sehr gerne. – Lieber

Kollege Birkwald, es gibt zwei Komponenten – das wis-
sen Sie so gut wie ich, auch aus unserer Diskussion im
Ausschuss –: die Verleihzeit und die verleihfreie Zeit.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


(Pascal Kober [FDP]: Aha!)


Wir wollen – anders als Ihre Partei – die Arbeitnehmer
auch in der Nichtverleihzeit durch einen Mindestlohn in
der Leiharbeit schützen. Das haben wir gegen Ihren er-
klärten Willen getan. Diejenigen, die die Arbeitnehmer
richtig schützen, sitzen auf dieser Seite des Hauses und
nicht auf Ihrer.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der SPD und der LINKEN: Oh!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709934700

Ich sehe keine weiteren Wünsche nach einer Kurzin-

tervention. Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5174 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Das ist also
der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d
sowie Zusatzpunkt 10 auf:

13 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Die arabische Welt – Region im Aufbruch,
Partner im Wandel

– Drucksache 17/5193 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine neue Politik gegenüber den Ländern
Nordafrikas und des Nahen Ostens

– Drucksache 17/5192 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser,
Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Reformprozesse in Nordafrika und Nahost
umfassend fördern

– Drucksachen 17/4849, 17/5146 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen)

Günter Gloser
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller (Köln)


d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern – Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren

– Drucksachen 17/4671, 17/5147 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Günter Gloser
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller (Köln)


ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Libyen-Krieg sofort beenden

– Drucksache 17/5173 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Kollege Dr. Rainer Stinner für die Fraktion der FDP. –
Bitte schön, Kollege Dr. Stinner.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1709934800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Herr Präsident, auch ich freue mich, dass ich
heute, an Ihrem ersten Arbeitstag, unter Ihnen reden
darf.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht unter, sondern vor ihm! – Heiterkeit)


Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erfolg und freue mich
auf vergnügliche gemeinsame Stunden hier im Deut-
schen Bundestag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann zunächst
feststellen, dass wir uns im Deutschen Bundestag von
ganz links bis ganz rechts zur Überraschung vieler in der
Öffentlichkeit völlig einig sind. Wir sind uns einig, dass
sich deutsche Soldaten nicht am militärischen Einsatz im
Libanon beteiligen sollen.


(Günter Gloser [SPD]: In Libyen!)


– Entschuldigung, in Libyen. Aber was den Libanon be-
trifft, sind wir uns hoffentlich auch einig.


(Günter Gloser [SPD]: Das ist ein anderes Kapitel!)


Diese Einigkeit geht in der Öffentlichkeit weitestge-
hend unter, weil sie von dem Streit darüber, wie wir zu
dieser Entscheidung gekommen sind, überlagert wird.
Diese Einigkeit wird auch von einigen Mitgliedern die-
ses Hauses durchbrochen. Frau Wieczorek-Zeul zum
Beispiel hat sich anders geäußert. Da befindet sie sich in





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

guter Gesellschaft mit Peter Scholl-Latour. Die beiden,
das Traumpaar deutscher Außen- und Sicherheitspolitik,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


sind in dieser Frage nämlich derselben Meinung.


(Günter Gloser [SPD]: Da könnte man aber auch andere Beispiele nennen!)


Man kann über den Weg zu dieser Entscheidungsfin-
dung sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein. Die
Bundesregierung hat sich entschlossen, sich im UN-Si-
cherheitsrat zu enthalten, weil sie nicht möchte, dass sich
Deutschland militärisch beteiligt. Die Grünen sind ande-
rer Meinung; das kann man so sagen. Ich glaube aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn
die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat Ja gesagt und
sich anschließend genauso verhalten hätte, wie Sie es ja
wollen – wenn sie also entschieden hätte, dass sich
Deutschland nicht militärisch beteiligt –, würden wir
eine ähnliche Diskussion über die deutsche Beteiligung
führen. Das kommt auf dasselbe heraus.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das stimmt nicht! – Zuruf von der FDP: Selbst Herr Ströbele hätte Ja gesagt!)


Meine Damen und Herren, es wird vielfach verges-
sen, dass die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates
aus mehreren Teilen besteht und dass in nur einem Teil
von militärischen Maßnahmen die Rede ist, nämlich in
den Absätzen 4, 5 und 6. Darüber hinaus sind in dieser
Resolution weitere Maßnahmen beschrieben, an denen
sich die Bundesregierung natürlich außerordentlich
gerne beteiligt, zum Beispiel an Boykotten, Sanktionen
etc.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und an Waffenlieferungen!)


Leider erleben wir in diesen Tagen, dass sich in ande-
ren Ländern ähnliche Szenen abzuspielen beginnen, wie
wir sie auch in Libyen beobachten können. In meiner
letzten Rede habe ich auf die Situation in Bahrain hinge-
wiesen. Heute erleben wir dramatische Zustände in Sy-
rien. Ich möchte all diejenigen in diesem Hause und
draußen im Lande, die der Meinung sind, man solle
diese Situation mal eben mit Militär bereinigen, fragen:
Sind Sie der Meinung, dass der Einsatz militärischer
Mittel auch in Syrien richtig wäre, wenn sich die Ent-
wicklung dort, was wir nicht hoffen, fortsetzen sollte?
Ich glaube, wenn wir das zu Ende denken, kommen wir
zu der Überzeugung, dass dieses Vorgehen insgesamt
sehr fragwürdig ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Allerdings stehen wir vor dem Hauptproblem, dass
die arabische Welt, um die es primär geht, nach wie vor
ein völlig konfuses Bild abgibt; das muss ich so deutlich
sagen. Der Widerspruch besteht darin, dass Katar auf der
einen Seite angekündigt hat, sich an der Aktion in Li-
byen zu beteiligen – das ist bis heute nicht geschehen –,
andererseits aber bereit ist, Truppen in sein Nachbar-
und Bruderland Bahrain zu schicken, um dort den Wi-
derstand und die Freiheitsbewegungen niederzuhalten
und eventuell niederzuknüppeln. Die arabische Welt
muss sich fragen lassen, auf welchem Weg sie eigentlich
ist.

Ich befürchte nach wie vor, dass, nachdem die Kam-
pagne seit sechs Tagen läuft, zunehmend der Eindruck
erweckt wird, es handele sich ein weiteres Mal um eine
reine Aktion westlicher Staaten, die „natürlich“ nur ihre
Ölinteressen vertreten und deshalb dort aktiv werden.
Ich fordere die arabische Welt daher von hier aus auf, ih-
ren Beitrag zur Friedens- und Freiheitsbewegung in die-
sen Ländern zu leisten.

Es liegen zur heutigen Debatte Anträge von allen
Fraktionen vor. Ich möchte kurz auf diese Anträge ein-
gehen. Ich bin doch sehr erstaunt, dass heute, am
24. März dieses Jahres, sowohl von der Linkspartei als
auch von der SPD Anträge vorliegen, die ich nur mit
dem Wort „antiquarisch“ bezeichnen kann. Wir stehen
heute, am 24. März 2011, unter dem Eindruck von Li-
byen. Da kann doch die Linke nicht einen Antrag vom
8. Februar 2011 einbringen, in dem der Rücktritt von
Mubarak gefordert wird.


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist aber echt peinlich! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie haben doch verhindert, dass der Antrag vorher drankommt!)


Glauben Sie wirklich, dass wir Sie dabei ernst neh-
men? Wir haben unseren Antrag an die aktuelle Situa-
tion angepasst und ihn gestern eingebracht. Die Grünen
haben das genauso getan. Doch auch die SPD ist nicht
viel besser dran als die Linkspartei: Ihr Antrag ist vom
22. Februar 2011. Es steht viel Richtiges und Gutes da-
rin; das will ich gar nicht bestreiten. Aber auch Sie sind
in Ihrem Antrag nicht auf die Situation in Libyen einge-
gangen.

Wir werden die Anträge ablehnen, weil wir einen um-
fassenden und, wie ich finde, abgewogenen Antrag vor-
gelegt haben, der mit der zugegebenermaßen schwieri-
gen Positionierung Deutschlands – das will ich gar nicht
bestreiten – sauber und ehrlich umgeht. Ich glaube, dass
es richtig ist, diesen Antrag heute im Deutschen Bundes-
tag zu verabschieden. Auf diese Weise können wir ge-
meinsam einen Beitrag leisten, um die schwierige Situa-
tion in der arabischen Welt einer Besserung zuzuführen.
Ich habe die Hoffnung, dass es in einigen Ländern bald
aufwärts geht – das kann Tunesien oder Ägypten sein –
und dass der Diktator Gaddafi bald abdankt und seine
Untaten nicht weiter treiben kann. Ich hoffe, dass nicht
noch weitere Länder mit kriegerischen Auseinanderset-
zungen überzogen werden. Das ist unsere Hoffnung. Un-
ser Beitrag, den wir leisten können, umfasst Entwick-
lungshilfe und Zusammenarbeit. Das wollen wir gerne
tun. Wir wollen das Mögliche beitragen, damit sich die
Situation in dieser Region verbessert und sie pazifiziert
wird. Wir wollen einen Beitrag zur Stabilisierung der





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

Region leisten. Das ist Aufgabe Deutschlands und Euro-
pas. Dieser Aufgabe wollen wir gerne nachkommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709934900

Vielen Dank, Kollege Dr. Rainer Stinner. – Jetzt unser

Kollege Günter Gloser für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten.


(Beifall bei der SPD)



Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1709935000

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich natürlich

auch, dass ich vor einem schwäbischen Präsidenten ste-
hen darf.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709935100

Bayerisch-schwäbisch!


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1709935200

Bayerisch-schwäbisch. – Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Wir reden heute zu später Stunde über die Lage
im Norden Afrikas und im Nahen Osten. Nach zunächst
hoffnungsvollen Entwicklungen in Tunesien und in
Ägypten bedrücken uns gegenwärtig der blutige Bürger-
krieg, aber auch das menschenverachtende Vorgehen
Gaddafis und seiner Anhänger gegen die Freiheitsbewe-
gung in Libyen umso mehr. Auch wenn es zu später
Stunde ist: Ich finde es gut, dass wir darüber debattieren.
Lieber Herr Kollege Stinner, auch wenn es spät ist, hätte
ich mir gewünscht, dass Sie in der Lage gewesen wären,
in Ihren Aussagen etwas zu differenzieren.


(Beifall bei der SPD)


Nicht nur die Lage in Libyen bedrückt uns. Auch das
Verhalten der Bundesregierung in der Weltgemeinschaft
zur Libyen-Frage ist deprimierend und lässt leider nicht
den Rückschluss zu, es sei vom Ende her gedacht, so wie
es der Bundesaußenminister heute in einem Zeitungsbei-
trag zu suggerieren versucht hat. Ich will jetzt gar nicht
so sehr auf die neutrale Position im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen abheben. Ich gebe Ihnen völlig
Recht: Es ist das Recht jedes Abgeordneten und jeder
Abgeordneten, eine eigene Position zu finden. Es han-
delt sich hierbei um eine schwierige Frage. Aber wo
bleibt gegenwärtig eigentlich die politische Initiative der
Bundesregierung zur Deeskalation der Situation? Man
kann doch wirklich niemandem mehr erklären, weshalb
sich die Bundesmarine bei Vorliegen eines Mandates der
Vereinten Nationen nicht an der Unterbindung von Waf-
fenlieferungen an Gaddafi im Mittelmeer beteiligen soll.
Dabei wurde das doch seit Wochen von Außenminister
Westerwelle gefordert: Embargos, Embargos, Embargos.
Jetzt aber hält man sich zurück. Ich verstehe das nicht.
Das hat alles nichts damit zu tun, dass man vom Ende
her denkt. Wer das tut, der muss dringend die Waffenzu-
fuhr in diesem Konflikt unterbinden. Man kann auch
nicht einfach sagen: Es gibt aber noch eine andere
Grenze, die zum afrikanischen Kontinent. – So viel Geo-
grafiekenntnisse haben wir auch noch. Aber das eine
schließt das andere nicht aus.

Ich denke, die Welt schüttelt teilweise den Kopf über
Deutschland, genauer gesagt über den Außenminister
und die Kanzlerin. Denn der Außenminister hat vor we-
nigen Wochen – da hat er auch die Unterstützung dieses
Hauses gefunden – noch gesagt: Wir wollen den ersten
Schritt gehen. – Das ist auch passiert.

Aber was ist dann eigentlich passiert? Nichts ist pas-
siert. Er hat nur gesagt: Ich bin beeindruckt und entsetzt
aufgrund der schrecklichen Bilder aus Tripolis und ganz
Libyen. Jetzt müssen wir kluge Antworten finden.
Gaddafi muss weg. – Wo bleiben die klugen Antworten?
Wie soll er weggehen? Nicht einmal in dem Mandat der
Vereinten Nationen ist ein Regimewechsel vorgesehen.
Ich sage es noch einmal: Das ist ein sehr starker Schlin-
gerkurs. Eine Sinuskurve ist dagegen geradlinig.

Einige Worte auch zu Syrien. Die Nachrichten, die
uns heute von dort erreichen, sind erschütternd. Es ist
von zahlreichen Toten die Rede; die Angaben schwan-
ken zwischen 37 und 100. Das ist sehr betrüblich. Ich
kann nur auch von dieser Stelle aus die Verurteilung
noch einmal wiederholen und an das syrische Regime
appellieren, sich mit den legitimen Forderungen der Be-
völkerung nach demokratischen Reformen, der Wahrung
der Menschenrechte und Meinungsfreiheit in angemes-
sener Weise auseinanderzusetzen und die Anwendung
roher Waffengewalt sofort einzustellen. Die syrische
Führung sollte sich an den positiven und nicht an den ne-
gativen Beispielen der jüngsten Zeit dafür, wie man ei-
nen Umbruch organisieren und was man zulassen kann,
orientieren.

Es gibt aber auch positive Entwicklungen in der Re-
gion. So ist das Referendum in Ägypten ein Hoffnungs-
zeichen für Demokratie. Natürlich gibt es hier auch noch
viele Gefahren. Eine Gefahr besteht darin, dass alte Eli-
ten noch immer so fest im Sattel sitzen, dass sie am Ende
auch im neuen System die Oberhand behalten. Dadurch
würden die friedlichen Revolutionäre vom Tahrir-Platz
um die Früchte ihres mutigen Einsatzes betrogen. Das
darf nicht passieren. Deshalb müssen wir auf einen
Wahltermin in angemessener Frist, auf die sofortige
Freilassung aller politischen Gefangenen und auf die in-
ternational überprüfbare Einhaltung der Menschenrechte
drängen.

Nach Jahrzehnten des Ausnahmezustandes sind das
keine kleinen Schritte; es sind gewaltige Änderungen,
die noch dazu von den Militärs angestoßen werden müs-
sen, die ja jetzt die Macht haben. Ohne den anhaltenden
Druck der ägyptischen Öffentlichkeit und ohne den ent-
scheidenden Einsatz der internationalen Partner Ägyp-
tens wird das nicht funktionieren.

In Tunesien wurde die Freiheit gewonnen und der
Diktator gestürzt. Das Land steht aber vor ähnlichen
Problemen, wie uns eine Delegation der Schwesterpartei
der SPD in diesen Tagen bei ihrem Besuch erläutert hat:
Eine junge Bevölkerung, die im Gegensatz zur Bevölke-
rung in manchem Nachbarland mehrheitlich sogar her-
vorragend ausgebildet ist, sucht nicht nur nach Freiheit





Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)

und Würde, sondern auch nach einer beruflichen und so-
zialen Perspektive.

Freiheitsdividende heißt für diese Menschen, dass sie
an einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung teilha-
ben können. Dafür müssen die richtigen Reformen einge-
leitet werden. Dafür muss aber auch die Europäische
Union die richtigen Schritte tun. Die Festung Europa – in
Anführungszeichen – muss für Waren – auch für Agrar-
erzeugnisse – und in begrenztem Ausmaß auch für Ar-
beitskräfte geöffnet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine wirkliche Mobilitätspartnerschaft mit Ländern wie
Tunesien ist auch in unserem Interesse; denn ich denke,
wenn Fachkräfte aus Tunesien für einige Jahre in
Deutschland arbeiten und danach bei der Existenzgrün-
dung im eigenen Land unterstützt werden, dann kommt
das auch der deutschen Wirtschaft zugute.

Ich will in diesem Zusammenhang Algerien und Ma-
rokko aber nicht vergessen. Angesichts der wirtschaftli-
chen Entwicklung hat Algerien schon länger die Chance
gehabt, die Erlöse aus dem Öl- und Gasgeschäft endlich
für die wirtschaftliche Entwicklung und für die politi-
sche und soziale Teilhabe einzusetzen. Dies wäre im In-
teresse der vielen jungen Menschen, aber auch der Zu-
kunft des Landes.

Positiv ist zu vermerken, dass König Mohammed VI.
weitere Reformen in Marokko angekündigt hat, dem
Parlament und der Regierung mehr Rechte zukommen
lassen möchte und dem Menschenrechtsrat Unabhängig-
keit garantiert. Dabei darf es aber nicht bleiben. Der Ab-
bau der sozialen Ungleichheiten im Lande muss drin-
gend forciert werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschlie-
ßend einige Sätze zu den vorliegenden Anträgen:

In fast allen Reden und Antragstexten ist zu verneh-
men, dass sich Europa eine historische Chance bietet,
Demokratie und Freiheit in der arabischen Welt zu unter-
stützen. Fast nie wird aber der notwendige Schluss da-
raus gezogen, dass unsere Reaktion auf diese Chance
nicht kleinteilig und leisetreterisch sein darf, sondern
dass sie klar und deutlich sein muss.

Mit einer Fortschreibung der bisher schon betriebe-
nen europäischen Nachbarschaftspolitik unter den strik-
ten Vorgaben durch den bisherigen Finanzrahmen allein
werden wir der Situation der Region jedenfalls nicht ge-
recht. Insofern sind auch die insgesamt guten Vorschläge
der Europäischen Kommission und die Beschlüsse des
Europäischen Rates zur Mittelmeerpolitik nicht ausrei-
chend.

Denn es geht nicht nur um ein bisschen mehr Kondi-
tionierung von Hilfeleistungen. Es muss um einen wirk-
lichen Pakt für Demokratie und Entwicklung im Mittel-
meerraum gehen. Das große Wort Marshallplan habe ich
selbst in diesem Zusammenhang benutzt. Auch wenn
historische Vergleiche gelegentlich hinken, stehe ich zu
diesem Wort; denn es zeigt die Dimension dieser Auf-
gabe.
Wir dürfen jetzt den alten Fehler nicht wiederholen,
Demokratie nur im Norden Afrikas zu fördern und in an-
deren arabischen Ländern nur auf Sicherheit und ver-
meintliche Stabilität durch die gegenwärtigen Regierun-
gen zu setzen. Wir werden hier neue Konzepte brauchen,
und wir werden sie – das sage ich in aller Klarheit –
nicht im Rahmen der bisherigen Haushaltsansätze um-
setzen können.

Im Antrag der Koalition zur heutigen Debatte heißt es
auf der fünften Seite:

Der Bundestag begrüßt ausdrücklich die führende
Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen
Wochen gespielt hat.

Ich schlage Ihnen vor, den Text der Regierungsfraktio-
nen folgendermaßen zu ändern: Der Deutsche Bundestag
hätte es begrüßt, wenn die Bundesregierung eine füh-
rende Rolle gespielt hätte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709935300

Vielen Dank, Kollege Günter Gloser für die Fraktion

der Sozialdemokraten.

Der Nächste auf meiner Rednerliste ist unser Kollege
Joachim Hörster für die Fraktion der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1709935400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin

mit der Erwartung in diese Debatte gegangen, dass es
uns um die Frage geht, wie wir mithelfen und mitsteuern
können, dass die Umwälzungen, die sich in dem einen
oder anderen arabischen Land andeuten, befördert wer-
den und in die richtige Richtung laufen. Das Verjagen
des Autokraten ist das eine; das Installieren einer demo-
kratischen Ordnung ist das andere.

Noch kann man nicht erkennen, dass in einem einzi-
gen der Staaten, in denen gegenwärtig Auflehnung ge-
gen die Regierungen und die Machthaber stattfindet,
Positionen bezogen würden, die mit unseren demokrati-
schen Grundsätzen übereinstimmen. Deswegen ist es,
glaube ich, wichtig, dass wir uns von vornherein darüber
im Klaren sind, dass wir nicht global von einer arabi-
schen Welt oder von Nordafrika sprechen können, Kol-
lege Gloser, weil die Staaten Nordafrikas weder in der
Vergangenheit in der Lage waren noch in der Zukunft in
der Lage zu sein scheinen, die Arabische Maghreb-
Union tatsächlich mit Leben zu füllen und sich wechsel-
seitig zu stützen. Die Staaten Nordafrikas könnten ganz
alleine über alle Mittel verfügen, um ihr Land aufzu-
bauen, ihrer Jugend eine Ausbildung zu gewähren und
Arbeitsplätze für sie mitzufinanzieren. Wir müssen da-
rauf achten, dass auch in der arabischen Welt eine Per-
spektive in den Ländern selbst entsteht, die dieses wol-
len.





Joachim Hörster


(A) (C)



(D)(B)

Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Deutschen
Bundestag, Herr Kollege Gloser. Ich war damals Vorsit-
zender der deutsch-arabischen Parlamentariergruppe;
Sie waren Vorsitzender der deutsch-maghrebinischen
Parlamentariergruppe, und der Kollege Ernst Hinsken
war Vorsitzender der deutsch-ägyptischen Parlamen-
tariergruppe. Die „Tage der Arabischen Welt“ fanden
vom 1. bis 3. Dezember 2004 statt und waren eine ein-
malige Angelegenheit. So etwas hat es weder davor noch
danach in vergleichbarer Weise gegeben. Wir hatten über
180 Gäste aus 18 arabischen Ländern, die wir zum Teil
selbst ausgesucht haben. Die Hierarchien standen nicht
im Vordergrund. Amru Mussa war unter den Rednern.
Der frühere Bundeskanzler Schröder hat teilgenommen,
und Bundestagspräsident Thierse hat die Veranstaltung
mit eröffnet. Wir haben damals als Bundestag insgesamt
versucht, losgelöst von unseren politischen Positionen
einen einheitlichen Einfluss auf die arabischen Länder
auszuüben und deutlich zu machen, wie man vorgehen
könnte.

Vielleicht wäre die jetzige Situation geeignet, dass
wir als Deutscher Bundestag an die neuen Kräfte in den
betreffenden Ländern herantreten und mit ihnen darüber
diskutieren, was sie vorhaben und welche Ziele sie ver-
folgen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jede neue Verfassung, die jetzt entsteht, muss auch ein-
mal daraufhin geprüft werden, ob damit auch das, was
wir unter Demokratie verstehen, zustande kommt. Wir
Europäer neigen dazu, immer gleich Schuldbekenntnisse
abzugeben, wenn es darum geht, wie wir mit unseren
Nachbarn umgehen.

Der Barcelona-Prozess aus dem Jahre 1995 war aller-
dings ein genialer Vorgang. Im Barcelona-Prozess waren
drei Körbe vorgesehen: eine Kooperation im Bereich der
Sicherheit, eine Kooperation im Bereich des Handels
und der Ausbau der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesell-
schaft ist genau der Bereich, in dem die politischen Par-
teien und die Nichtregierungsorganisationen auftreten
und in dem die Wissenschaft und die Medien frei agieren
können. In einer ganzen Reihe von Ländern ist auch Po-
sitives geschehen. Die Entwicklung in Tunesien wäre
ohne den Barcelona-Prozess nicht vorstellbar gewesen;
denn der Barcelona-Prozess hat dazu geführt, dass die
Analphabetenrate in Tunesien außerordentlich gering ist,
dass der Mittelstand größer ist als in jedem anderen ara-
bischen Land und dass eine sehr starke Vernetzung mit
Europa – auch in Form persönlicher Kontakte – vorhan-
den war.

Auch wenn man es jetzt Mittelmeerunion oder wie
auch immer nennt, sollte man dieses Modell nicht ein-
fach zu den Akten legen, weil es uns ermöglicht hat, mit
unseren Nachbarn in der arabischen Welt in organisierter
Weise zu kooperieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dass der Palästina-Konflikt die Sache am Ende zum
Erliegen gebracht hat, ist sehr bedauerlich. Ich will aber
– weil Sie, Herr Kollege Gloser, eben Syrien angespro-
chen haben – auch daran erinnern, dass Syrien das erste
arabische Land war, das auf den Besitz von Massenver-
nichtungswaffen verzichtet hat, um an dem Barcelona-
Prozess teilnehmen zu können. Es gibt also verschiedene
Optionen.

Der Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin
haben recht, wenn sie sagen, dass die arabischen Länder
– die Bevölkerungen in den arabischen Ländern – selbst
definieren müssen, was sie wollen. Das wird nicht von
heute auf morgen gehen; das braucht Zeit.

Eine der Klagen, die zum Beispiel gegen den Reform-
prozess und die Verfassungsänderungen in Ägypten vor-
gebracht werden, ist die, dass es nur zwei Organisatio-
nen gibt, die in der Lage sind, innerhalb so kurzer
Fristen Parteistrukturen aufzubauen und sich Wahlen zu
stellen. Die eine ist die frühere Regierungspartei, die an-
dere sind die Muslimbrüder. Alle anderen aus dem bür-
gerlichen, zivilen Bereich haben keine echten Chancen.
Das sind Dinge, über die wir nachdenken müssen.

Das Anstreben der Demokratie und freier Wahlen ist
richtig. Wir sollten diese Bestrebungen überall unterstüt-
zen. Aber wir sollten bei der Unterstützung von freien
Wahlen darauf achten, dass Gruppierungen gewählt wer-
den, die auch bereit sind, wieder von der Macht zu las-
sen, falls die Mehrheiten einmal anders ausfallen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn diese Selbstverständlichkeit implementiert werden
kann, dann haben wir den Wechsel erreicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709935500

Vielen Dank, Kollege Joachim Hörster.

Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
gin Sevim Dağdelen.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sprechen Sie mal über Mubarak! Was gibt’s Neues über Mubarak?)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709935600

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Auf die Frage, ob die deutschen Waf-
fenlieferungen an Libyen, also an Ihren Gaddafi, nicht
falsch gewesen wären, besaß der Vorsitzende der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, gestern im
deutschen Fernsehen die Dreistigkeit, zu antworten:

Ja, es ist immer ein Fehler, in solche Systeme Waf-
fen zu liefern.

Hier im Deutschen Bundestag findet man in Ihrem An-
trag kein Wort dazu. Deshalb nehmen wir der Koalition
ihre plötzliche Unterstützung für die Demokratiebewe-
gungen in der arabischen Welt nicht ab.


(Beifall bei der LINKEN)






Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Während wir hier debattieren, werden Menschen in
der arabischen Welt ermordet. Die Diktatoren benutzen
deutsche Waffen, die unter Ihrer Regierung und unter
Schwarz-Rot, aber auch schon unter Rot-Grün geliefert
wurden. Nun versuchen Sie, die Öffentlichkeit massiv zu
täuschen und die Wirklichkeit zu verbiegen. Doch ge-
nauso wie bei Ihrem Atommoratorium: Dieses Tricksen,
Tarnen und Täuschen wird nicht aufgehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie liefern weiter Waffen in Länder, wo Parteien ver-
boten sind, wo von Opposition, Koalitions-, Versamm-
lungs- und Meinungsfreiheit keine Rede sein kann, wo
Tausende Menschen ohne Anklage in Haft sind und ge-
foltert werden, wo Frauenrechte mit Füßen getreten wer-
den, wo Demonstrationen mit tödlicher Gewalt aufgelöst
werden, und all das mit Ihrer Hilfe und Unterstützung.
Wozu all die Waffen dienen, die allein 2009 an Bahrain,
Katar, Oman, Saudi-Arabien, die Emirate und den Irak,
aber auch an Syrien, Marokko, Libyen, Kuwait, Jorda-
nien, Algerien und Tunesien im Wert von fast 1 Mil-
liarde Euro geliefert wurden, war stets klar: zur Kon-
trolle und Unterdrückung der Bevölkerung.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


– Da lachen Sie! Ich finde das ganz schön zynisch. – Mit
diesen Waffen, deutschem Tränengas, deutschen Wasser-
werfern und Ihrer Ausbildungs- und Ausstattungshilfe
für Polizei und Militär dieser Regime werden nun die
Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern blu-
tig niedergeschlagen. Solange Sie das tun, sind Sie voll-
kommen unglaubwürdig.


(Beifall bei der LINKEN)


In den Anträgen der Koalition wie der SPD findet
sich konsequenterweise kein einziges Wort dazu. Man
muss deshalb schlussfolgern: Es geht Ihnen um ein Wei-
ter-so. Sie wollen die Demokratie in den arabischen Län-
dern nicht fördern. Sie wollen hingegen die Diktaturen
dort weiterhin stützen. Erst als Ben Ali und Mubarak fie-
len, stoppten Sie Ihre Rüstungsexporte. Die Parteien Ben
Alis und Mubaraks hatten bis zuletzt Platz an der Seite
der SPD in der Sozialistischen Internationalen. Ange-
sichts dieses fortgesetzten Desasters sagt die Linke: Be-
enden Sie endlich Ihre Unterstützung von Diktatoren!
Sie dürfen sich nicht weiter zum Erfüllungsgehilfen der
deutschen Rüstungslobby machen. Der Bundestag muss
endlich die Außenpolitik wieder selbst in die Hand neh-
men.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Noch ein Wort an die Grünen. In Ihrem Antrag wird
die Bombardierung Libyens regelrecht begrüßt. Sie fei-
ern sogar die Zusage der Teilnahme der beiden monar-
chistischen Diktaturen Katar und Vereinigte Arabische
Emirate an den Luftangriffen auf Libyen. Das ist einfach
skandalös.


(Beifall bei der LINKEN)


Man findet im Forderungsteil Ihres Antrages kein einzi-
ges Wort zu Saudi-Arabien. Man möchte fast meinen:
Grüne haben einen Stillhaltepakt mit den Monarchodik-
taturen in der arabischen Welt.


(Beifall bei der LINKEN – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren immer schon für Monarchie!)


Ist es Ihnen mit Jugoslawien, mit Ihrer indirekten Betei-
ligung am Krieg gegen den Irak, mit dem nunmehr neun
Jahre dauernden Afghanistan-Krieg nicht genug? Wie
viele Tote muss es noch geben? Sagen Sie endlich ein-
mal Nein zu einem Krieg, nur ein einziges Mal, bitte
schön!


(Beifall bei der LINKEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie machen sich einfach lächerlich!)


Leider hat die Linke auch hier ein Alleinstellungs-
merkmal. Sie ist die einzige Partei im Deutschen Bun-
destag, die für eine friedliche Außenpolitik streitet. Sie
ist die einzige Partei, die keine Waffen an Diktatoren lie-
fern will. Sie ist die einzige Partei, für die Krieg kein
Mittel der Politik ist, sondern die gravierendste Men-
schenrechtsverletzung.

Ich sage es noch einmal: Wenn Sie die Demokratiebe-
wegungen in der arabischen Welt unterstützen wollen,
dann bedarf es einer radikalen Wende. Eine Wende kön-
nen Sie erreichen, wenn Deutschland autoritären Regi-
men keine Waffen mehr liefert, mit denen diese Regime
ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger ermorden.


(Beifall bei der LINKEN)


Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, mit dem wir
uns mit den Menschen in der arabischen Welt solidari-
sieren und die Unterstützung der autoritären Regime be-
enden wollen.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709935700

Als Nächste hat unsere Kollegin Kerstin Müller für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709935800

Die Grünen sollen die einzige monarchistische Partei

Deutschlands sein? Das hat uns noch niemand vorge-
worfen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann das leider nicht ernst nehmen, Frau Dağdelen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind seit drei Monaten Zeugen von Veränderungen in der
arabischen Welt, die so niemand vorhergesehen hat und
mit denen so kaum jemand gerechnet hat. Es ist sehr be-
dauerlich, dass die Europäer nicht gemeinsam und multi-
lateral auf diese großen Herausforderungen reagieren,
sondern dass bei ihnen leider nationale Alleingänge das
Bild bestimmen.

Damit meine ich nicht nur Libyen; wir haben auch an-
dere Fehler der EU und der Außenbeauftragten erlebt.
Wenn das so bleibt, dann wird das – davon bin ich über-
zeugt – langfristig verheerende Konsequenzen haben.





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Daher ist es zunächst einmal absolut erforderlich, dass
Europa zu einer gemeinsamen Politik gegenüber den
Ländern der arabischen Welt findet. Sonst wird unser
politischer Einfluss in der Zukunft gegen null gehen, und
die Menschen werden sich von Europa abwenden, weil
sie sich im Stich gelassen fühlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die erste Konsequenz muss sein, dass wir mit der
Politik der doppelten Standards in der deutschen und eu-
ropäischen Außenpolitik Schluss machen. Das heißt,
dass wir Bilanz ziehen und klar sagen, dass es falsch
war, auf Stabilität durch Despoten zu setzen, anstatt De-
mokratie und Menschenrechte zu fördern. Das war ein
Irrweg. Das heißt auch – das sage ich sehr deutlich –,
dass Rüstungsexporte in solche Länder künftig unter-
bleiben müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Europa darf – auch das muss auf den Prüfstand –
keine Budgethilfe mehr leisten, ohne sie an die Umset-
zung von demokratischen und rechtsstaatlichen Refor-
men zu knüpfen. Wir brauchen darüber in Europa und
auch in der Kommission endlich eine Debatte.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Da ist Deutschland Vorbild!)


Ich teile die Ansicht von Herrn Gloser, dass wir un-
sere Märkte für Produkte aus der Region öffnen müssen.
Das ist absolut wichtig; denn die jungen Menschen sind
nicht nur für politische Rechte auf die Straße gegangen,
sondern auch für ökonomische Perspektiven, aus sozial-
ökonomischen Gründen. Deshalb ist es absolut wichtig,
wie sich Europa in dieser Hinsicht verhalten wird.

Schließlich muss die Mittelmeerunion endlich be-
erdigt werden. Herr Hörster, Sie sprachen von der Mit-
telmeerunion und dem Barcelona-Prozess. Wir stimmen
dem zu, was im Koalitionsantrag steht. Es muss darum
gehen, die von Sarkozy initiierte Mittelmeerunion zu be-
erdigen und die europäische Nachbarschaftspolitik zu
überarbeiten und auszuweiten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fand die Vorschläge des Außenministers gar nicht
so schlecht. Ich habe nur die Befürchtung, dass nach
dem diplomatischen Desaster in der Libyen-Frage un-
sere Durchschlagskraft in Europa nicht mehr sehr groß
sein wird. Warum sollten Frankreich oder andere Süd-
länder unseren Vorschlägen folgen, nachdem wir einen
nationalen Alleingang gemacht haben? Ich glaube, das
Vorgehen Deutschlands hat Europa in dieser extrem
wichtigen Frage gespalten und unsere Glaubwürdigkeit
bei der UNO beschädigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Darunter werden wir noch lange leiden; davon bin ich
überzeugt. Man kann bezüglich der Motive und des
Vorgehens von Sarkozy Zweifel haben, aber er ist jetzt
erst einmal gestärkt. Wir wurden leider auch noch von
Gaddafi gelobt; das ist einfach eine Katastrophe.
Natürlich hat man eine schwierige Abwägung zu tref-
fen. Außer bei der Fraktion Die Linke sind in allen Frak-
tionen Abwägungen vorgenommen worden.


(Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


– Sie haben gerade gesagt, dass Sie keine schwierigen
Abwägungen treffen, weil Sie sowieso wissen, wie Sie
abstimmen werden. – In den anderen Fraktionen ist das
anders gewesen. Die meisten treffen ihre Entscheidung
nach schwierigen Abwägungen. Es besteht ein Eskala-
tionsrisiko, und es gibt keine chirurgischen Eingriffe.
Natürlich ist auch die Durchsetzung der Flugverbotszone
eine militärische Intervention, und es ist bitter: Wenn das
Militär eingreift, dann hat die Politik bereits versagt.
Jahrelang hat die Politik, auch Frankreich, Gaddafi ho-
fiert, Libyen aufgerüstet und sich einen Terroristen he-
rangezogen. Dennoch kommen viele in meiner Fraktion
bei dieser Abwägung zu dem Schluss: Ohne den Be-
schluss des Sicherheitsrates und das schnelle Eingreifen
wären Tausende in Bengasi und Misurata schon tot. Des-
halb ist der Sicherheitsratsbeschluss, die Resolution
1973, konsequent und richtig. Er war notwendig und
richtig, und er ist ein Ausdruck der Responsibility to
protect, zu der sich die gesamte internationale Gemein-
schaft verpflichtet hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal etwas zu Katar oder zu Saudi-Arabien!)


Selbst wenn bei dieser Abwägung die Risiken über-
wiegen, hätte man im Sicherheitsrat mit Ja stimmen und
erklären können, dass man nicht bereit ist, alle Maßnah-
men mitzutragen. Ich finde es nicht einsichtig, dass man
jetzt zur eigenen politischen Entlastung AWACS-Flug-
zeuge im Luftraum von Afghanistan zur Verfügung
stellt. Das ist ein schlechter Deal. Herr Stinner, Sie ha-
ben gesagt, man wolle sich an allen anderen Maßnahmen
der Resoultion beteiligen. Warum beteiligt man sich zum
Beispiel nicht an der Durchsetzung des Waffenembar-
gos?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Günter Gloser [SPD])


Ich finde schwer verständlich, warum wir hier nicht die
Anfrage der Bundesregierung bekommen, ob wir uns an
der maritimen Absicherung des Waffenembargos beteili-
gen, und dass wir stattdessen morgen im Eilverfahren
über Afghanistan reden, obwohl es keine Eilbedürftig-
keit in dieser Sache gibt.

Ich glaube, im Ergebnis war das eine schwerwiegende
Fehlentscheidung der deutschen Diplomatie, an der wir
leider noch lange zu knabbern haben werden und die
auch Auswirkungen auf unser Standing in der arabischen
Welt haben wird.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709935900

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege

Thomas Silberhorn für die Fraktion CDU/CSU das Wort.
Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1709936000

Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Edi,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


zu dieser späten Stunde vor nahezu leeren Zuschauerrän-
gen zu reden,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Aber vollem Saal! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Aber wir sind bei dir!)


zählt nicht gerade zu meinen liebsten Vergnügungen,
aber erstmals unter deiner Präsidentschaft vortragen zu
dürfen, beflügelt mich.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709936100

Wir warten die Rede mal ab.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1709936200

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Tune-

sien und Ägypten steht nun Libyen im Zentrum eines
epochalen Wandels, der sich derzeit im Nahen Osten und
in Nordafrika vollzieht. Die Sehnsucht der überwiegend
jungen Bevölkerungen nach Freiheit, nach politischer
Teilhabe ist unwiderruflich geweckt. Die Veränderun-
gen, deren Zeugen wir derzeit sind, können das Tor zu
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenrech-
ten und individueller Freiheit öffnen.

Der Wandel wird sich aber nicht automatisch und
nicht linear vollziehen, also nicht so, dass ohne großes
Zutun ein Regime nach dem anderen geradezu wie von
selbst fallen würde. Die Reformbewegungen werden
vielmehr Rückschläge zu verkraften haben, und sie wer-
den harte Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Doch
die Chancen stehen gut, dass das Streben nach einer
neuen und besseren Zukunft letztlich die Beharrungs-
kräfte der alten Ordnungen überwindet.

Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist,
dass die Reformbewegung in Tunesien deutlich auf Dis-
tanz zum Vorgängerregime ging und rasch nach Ägypten
übergeschwappt ist. Viel wird jetzt davon abhängen, ob
freie und faire Wahlen in diesen Ländern gelingen. Wenn
dort ein friedlicher Übergang zu Demokratie und Frei-
heit stattfindet, dann wird das der Reformbewegung in
der gesamten Region Dynamik verleihen; das wird sich
auch auf andere Staaten ausweiten. Tunesien und Ägyp-
ten können damit zu Schrittmachern in ihrer Region wer-
den. Deswegen wird nicht umsonst die Entwicklung ge-
rade in diesen Staaten im übrigen Nahen Osten mit
besonderer Aufmerksamkeit verfolgt.

Es ist bemerkenswert, welche weitreichenden Verän-
derungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben. Man
kann diese Entwicklung auch als eine schrittweise Eska-
lation lesen. Während in Tunesien der Umsturz noch
weitgehend friedlich verlaufen ist und es in Ägypten nur
kurze Zeit zu gewaltsamen Übergriffen kam, mobilisiert
in Libyen das Regime Gaddafi jetzt alle Kräfte und führt
nachgerade einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung.
Die größte Gefahr für den arabischen Aufstand ist, dass
Machthaber die Augen vor der Realität verschließen,
nicht erkennen, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und mit ro-
her Gewalt um sich schlagen. Deshalb ist es notwendig,
dass die internationale Gemeinschaft unzweideutig zum
Ausdruck bringt, dass sie das nicht toleriert und dass Re-
gime, die gegen die eigene Bevölkerung Gewalt anwen-
den, ihre Legitimation verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal was zu Saudi-Arabien!)


Welchen Beitrag können wir für das Gelingen der
Neuordnung in Nordafrika und im Nahen Osten leisten?
Militärische Mittel dürfen nur bei schwersten Menschen-
rechtsverletzungen oder Völkermord in Betracht kom-
men. Wo sie eingesetzt werden, muss die Gefahr einer
Eskalation eingedämmt werden. Wer sich militärisch en-
gagiert, muss sich klar darüber sein, was das politische
Ziel ist und wie der Einsatz beendet werden soll. Deswe-
gen war es mit Blick auf Libyen richtig, dass Deutsch-
land die politischen Ziele der UN-Resolution 1973 un-
terstützt, aber sich nicht an Militäraktionen beteiligt.

Wir haben bei Sanktionen eine internationale Füh-
rungsrolle gespielt. Die Vereinten Nationen und die Eu-
ropäische Union gehen gezielt gegen Personen und Insti-
tutionen vor. Es entfaltet Wirkung, den Zugang zu
Finanzquellen abzuschneiden und zu verhindern, dass
international platzierte gewaltige Vermögen von den je-
weiligen Machthabern dazu genutzt werden, Angriffe
gegen die eigene Bevölkerung zu finanzieren.

Die Europäische Union hat gestern die vierte Sank-
tionsrunde gegen das Gaddafi-Regime verhängt. Insbe-
sondere ist zu begrüßen, dass darin Sanktionen gegen
fünf Tochtergesellschaften der nationalen Ölgesellschaft
Libyens enthalten sind. Das bedeutet faktisch ein Öl-
embargo, für das sich die Bundesregierung in der Euro-
päischen Union mit Nachdruck eingesetzt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeutung
für den Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten sind
die Unterstützung beim Übergang zur Demokratie, die
Mobilisierung reformorientierter Kräfte in Staat und Ge-
sellschaft sowie die Hilfe bei der wirtschaftlichen Ent-
wicklung. Die wirtschaftlichen Faktoren, nämlich die
Lebensmittelpreise, haben eine zentrale Rolle bei diesen
Umbrüchen gespielt. Deswegen ist die Neuordnung der
Region auch und gerade eine ökonomische Frage. Nur
dann, wenn es den Reformkräften gelingt, für bessere





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

Lebensverhältnisse zu sorgen, wird der Übergang zur
Demokratie dauerhaft über den notwendigen Rückhalt in
der Bevölkerung verfügen.

Die Bundesregierung leistet auf vielfältige Weise
Hilfe. Insbesondere die Transformationspartnerschaft,
die Tunesien und Ägypten angeboten worden ist, ist ein
wichtiger Ansatz, der Vorbild sein kann für andere Staa-
ten in der Region. Diese Maßnahmen stehen allen Part-
nern in der Europäischen Union offen. Ich denke,
Deutschland hat damit angemessen und schnell auf die
Erfordernisse vor Ort reagiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für die Entwicklung der Region ist die Hilfe beim
Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen
natürlich ebenso wichtig. Ich will darauf hinweisen, dass
sowohl die politischen Stiftungen als auch die kirchli-
chen Hilfswerke dabei eine unverzichtbare Rolle spie-
len. Sie sind bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten
vor Ort unterwegs und haben Kontakte geknüpft auch zu
Kräften, die jetzt diese Reformbewegungen mittragen.
Das zeigt, dass sich das Engagement gerade unserer
politischen Stiftungen langfristig auszahlt.

Bei aller Unterstützung, die von außen geleistet wer-
den kann: Im Kern muss die Kraft für den Wandel von
Innen kommen. Die Bevölkerungen der arabischen Staa-
ten müssen ihren eigenen Weg finden. Wir können im
Rahmen unserer Möglichkeiten dort helfen, wo wir um
Unterstützung gebeten werden. Wir leisten, was möglich
ist, damit sich die Chance auf Demokratie und Freiheit
entfaltet, damit der Wandel in der arabischen Welt ge-
lingt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Ich möchte jetzt nicht erleben, wie es ist, wenn Sie mal nicht beflügelt sind!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709936300

Das ist der Beifall für den letzten Redner gewesen.

Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/5193 mit dem Titel „Die arabische Welt – Region im
Aufbruch, Partner im Wandel“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –
Der Antrag ist angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5192
mit dem Titel „Für eine neue Politik gegenüber den Län-
dern Nordafrikas und des Nahen Ostens“. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimment-
haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Reformpro-
zesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5146, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/4849 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebe-
wegungen in den arabischen Ländern – Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren“: Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5147, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/4671 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5173 mit dem Titel „Libyen-Krieg
sofort beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abge-
lehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Wissenschaftliche Redlichkeit und die Quali-
tätssicherung bei Promotionen stärken

– Drucksache 17/5195 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Monika Grütters, Dr. Reinhard Brandl, René Röspel,
Dr. Martin Neumann,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Petra Sitte, Krista Sager.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5195 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt
Absatzförderungsfonds der deutschen Land-
und Ernährungswirtschaft und der Anstalt
Absatzförderungsfonds der deutschen Forst-
und Holzwirtschaft

– Drucksache 17/4558 –

1) Anlage 6





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/5167 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –


(Günter Gloser [SPD]: Schade!)


Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Folgende Kolle-
ginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Marlene Mortler, Dr. Wilhelm Priesmeier,
Dr. Christel Happach-Kasan,


(Beifall bei der FDP)


Dr. Kirsten Tackmann,


(Beifall bei der LINKEN)


Friedrich Ostendorff.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/4558 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Vereinfachung des Austauschs von Informa-
tionen und Erkenntnissen zwischen den Straf-
verfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/5096 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Armin
Schuster, Dr. Eva Högl, Gisela Piltz,


(Beifall bei der FDP)


1) Anlage 7
Frank Tempel,


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Konstantin von Notz.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1709936400

Der europäische Einigungsprozess hat unter anderem

zu einem Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrol-
len unter den Schengen-Partnern geführt. Bürgerinnen
und Bürger können sich heute weitgehend unbeschränkt
innerhalb der EU bewegen; Waren und Dienstleistungen
sind nahezu grenzenlos unterwegs. Diese positive Ent-
wicklung hat Europa insgesamt gestärkt. Allerdings nut-
zen diese Freiheiten auch die Straftäter, die nicht an den
Grenzen haltmachen. Die neuen, illegalen Möglichkei-
ten für Kriminelle, europäisch vernetzt vorzugehen, dür-
fen wir bei allen Fortschritten auf keinen Fall unter-
schätzen. Daher zählt es zu den elementaren Aufgaben
der Europäischen Union, ihren Bürgern die Freiheit, die
Sicherheit und das Recht zu gewährleisten.

Vor diesem Hintergrund müssen wir wirksame Instru-
mente zur gemeinsamen Gefahrenabwehr und Strafver-
folgung schaffen und weiterentwickeln. Unsere Aufgabe
ist es, den europäischen Polizei- und Strafverfolgungs-
behörden auch nach Wegfall der Grenzkontrollen eine
effektive und effiziente Aufgabenerledigung zu ermögli-
chen.

Hierfür ist der erleichterte Informationsaustausch
zwischen den Behörden in Europa eine entscheidende
Ausgleichsmaßnahme für eine wirksame Strafverfolgung
und Gefahrenabwehr. Es gilt: Nur wer hinreichend in-
formiert ist, kann die richtigen Maßnahmen ergreifen.
Und hinreichend informiert heißt beim heutigen Täter-
verhalten, oft auch über Grenzen hinweg, also euro-
päisch informiert zu sein.

Genau das ist das Ziel des vorgelegten Gesetzentwur-
fes: Anlass für das Vorhaben ist der Rahmenbeschluss
2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Europäischen Union. Diese sogenannte schwedische
Initiative soll nunmehr in innerstaatliches Recht umge-
setzt werden.

Hierdurch sind Änderungen im Bundeskriminalamt-
gesetz, im Bundespolizeigesetz, im Gesetz über die inter-
nationale Rechtshilfe, in der Strafprozessordnung, im
Zollfahndungsdienstgesetz und im Zollverwaltungsge-
setz, in der Abgabenordnung, im Gesetz zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit und schließlich im SGB X notwendig.

Für den Austausch von Informationen zwischen den
Mitgliedstaaten dürfen künftig keine strengeren Rege-
lungen gelten als innerhalb eines Mitgliedstaates. Die-
ser Gleichbehandlungsgrundsatz ist der zentrale Aspekt
des Vorhabens und orientiert sich an den rechtlichen
Möglichkeiten des Informationsgeberlandes. Eine Da-
tenübermittlung von Berlin nach Malmö soll also künftig
unter den grundsätzlich gleichen gesetzlichen Voraus-
setzungen erfolgen können wie von Berlin nach Lörrach.
Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz schafft eine völlig

Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

neue Qualität bei der innereuropäischen Zusammenar-
beit.

Weiterhin darf künftig die Beantwortung von Ersu-
chen aus dem europäischen Ausland nur noch bei Vor-
liegen konkreter Ausnahmetatbestände verweigert wer-
den. Danach ist beispielsweise eine Übermittlung von
personenbezogenen Daten unzulässig, wenn hierdurch
wesentliche deutsche Sicherheitsinteressen des Bundes
oder der Länder gefährdet würden.

Schließlich gilt es, bei dem gesamten Vorhaben noch
einen weiteren Aspekt zu beachten: den Datenschutz.
Immerhin geht es hier um den grenzüberschreitenden
Austausch von personenbezogenen Daten. Aus diesem
Grund muss der Datenschutz durchgängig Beachtung
finden. Dies ist ein zentrales Anliegen der Bundesregie-
rung. Es wird auf gar keinen Fall so sein, dass unsere
hohen innerstaatlichen Datenschutzstandards im Zuge
einer Übermittlung an einen anderen europäischen Mit-
gliedstaat gesenkt werden.

Der vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt diese Vorgabe
umfassend. Insbesondere unterliegen die Daten nach
der Übermittlung einer besonderen Zweckbindung. Der
Gesetzentwurf macht klar, dass die Daten nur für die
Zwecke, für die sie übermittelt wurden, genutzt werden
dürfen. Von dieser strengen Zweckbindung darf nur ab-
gewichen werden, wenn es um die Abwehr einer gegen-
wärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Si-
cherheit geht. Diese enge Ausnahmeregelung ist
angemessen.

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird
Deutschland seinen europäischen Verpflichtungen aus
dem Rahmenbeschluss nachkommen. Darüber hinaus
wird der Informationsaustausch zwischen den Strafver-
folgungsbehörden in Europa erheblich erleichtert. Letz-
teres ist ausdrücklich im Interesse Deutschlands. Daher
ist diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1709936500

Kriminalität ist kein nationales Problem und macht

vor Ländergrenzen nicht halt. Menschenhandel, Terro-
rismus oder Korruption sind internationale und damit
länderübergreifende Straftaten, denen auch nur länder-
übergreifend effektiv begegnet werden kann.

Ein flexibler und zuverlässiger Austausch von straf-
verfolgungsrelevanten Informationen zwischen den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union, Art. 87 Abs. 1,
Abs. 2 a AEUV, ist aus diesem Grund ein wichtiger Bau-
stein bei der wirksamen Bekämpfung der internationalen
Kriminalität. Der Vertrag von Lissabon stärkt in dieser
Beziehung bereits die Rolle von Eurojust und Europol,
Art. 85 und Art. 88 AEUV, die die Mitgliedstaaten in ih-
rer Zusammenarbeit bei Ermittlungen, Strafverfolgun-
gen und der Prävention und Bekämpfung von Kriminali-
tät und Terrorismus unterstützen. Das ist ein wichtiger
Schritt auf dem Wege der Verbesserung der polizeilichen
und justiziellen Zusammenarbeit in der EU.

Darüber hinaus hat die Europäische Union mit dem
im Dezember 2009 verabschiedeten Stockholmer Pro-
gramm eine ganzheitliche Strategie vorgelegt, die die
Zu Protokoll
Prioritäten der EU für den Raum der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts für den Fünfjahreszeitraum von
2010 bis 2014 festlegt. Damit bildet sie den Rahmen für
zahlreiche politische Maßnahmen der Union auf Gebie-
ten wie der Justiz, der öffentlichen Sicherheit, der Ein-
wanderung und des Asyls. Hierbei ist es wichtig, die
richtige Balance zwischen sicherheitspolitischen Inte-
ressen und Freiheitsrechten zu wahren. Wir Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine Ausge-
wogenheit von Freiheit uns Sicherheit.

Mit dem Rahmenbeschluss 2006/960/JI aus dem
Jahre 2006 formulierte der Rat ein zentrales Ziel der
Europäischen Union. Es besteht darin, ihren Bürgerin-
nen und Bürgern ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten.
Nur durch eine engere Zusammenarbeit der Strafverfol-
gungsbehörden der Mitgliedstaaten beim Austausch von
Informationen und Erkenntnissen über Straftaten und
kriminelle Aktivitäten kann eine effektive länderüber-
greifende Prävention und Strafverfolgung und damit ein
möglichst hoher Schutz für die Bürgerinnen und Bürger
in Europa gewährleistet werden. Jedem Mitgliedstaat
wurde die Möglichkeit eingeräumt, die für die Strafver-
folgungsbehörden relevanten Daten anzufordern und
auf deren Ersuchen hin zu erhalten. Das ist ein wichtiger
Schritt hin zu einer wirksamen Bekämpfung von Krimi-
nalität, den wir als SPD ausdrücklich unterstützen.

Zwei große Fortschritte beinhaltet der Rahmenbe-
schluss gegenüber den bisherigen Rechtshilfebestim-
mungen, auf die ich hinweisen möchte: Zum einen
schreibt er den sogenannten Gleichbehandlungsgrund-
satz bzw. Grundsatz der Verfügbarkeit personenbezoge-
ner Informationen fest, der besagt, dass Informationen
den Strafverfolgungsbehörden aus anderen Ländern in
der gleichen Art und Weise zugänglich gemacht werden
müssen wie den inländischen Behörden. Zum anderen
enthält der Rahmenbeschluss Regelungen zu Beantwor-
tungsfristen. So soll auf Ersuchen aus EU-Staaten in Eil-
fällen innerhalb von acht Stunden, in normalen Fällen
innerhalb von zwei Wochen geantwortet werden. Bislang
wurde der Informationsaustausch zwischen den Mit-
gliedstaaten durch rechtliche Hindernisse und kompli-
zierte Verwaltungsstrukturen beeinträchtigt. Eine mehr-
monatige Wartezeit, wie sie bisher nicht selten die Regel
war, wäre nunmehr ausgeschlossen. Mit dem Gleichbe-
handlungsgrundsatz und der Fristenregelung beschrei-
ten die europäischen Staaten einen neuen und richtigen
Weg.

Leider hat es Deutschland bisher versäumt, den Rah-
menbeschluss trotz Ablauf der Umsetzungsfrist in natio-
nales Recht umzusetzen. Wir begrüßen daher, dass die
Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf vorgelegt
hat, um die notwendige Umsetzung in deutsches Recht
zu vollziehen. Mit dem Entwurf des Gesetzes über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union schlägt die
Bundesregierung Änderungen bei einer Reihe von Ge-
setzen vor, darunter das Gesetz über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen, das Bundeskriminalamtge-
setz und das Bundespolizeigesetz.



gegebene Reden

Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Die SPD unterstützt ausdrücklich den Rahmenbe-
schluss zur Erleichterung des Informationsaustausches
zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied-
staaten und damit auch die Umsetzung durch das ge-
plante Gesetz. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass
nur verfügbare Daten übermittelt werden sollen, also die
Daten, die bei der ersuchten Behörde vorhanden sind
und die ohne Ergreifen von Zwangsmaßnahmen erhoben
worden sind. Eine Übermittlung von Daten, die erst
durch Zwangsmaßnahmen erhoben werden müssten,
wird nicht gestattet.

Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme vom
11. Februar 2011, dass der Begriff der „durch Zwangs-
maßnahmen erlangten Erkenntnisse und Informationen“
legal definiert wird. Der Polizei wäre sonst der Datenab-
gleich als ein wichtiges Instrument im grenzüberschrei-
tenden Austausch von Informationen genommen. Die
SPD hält genau wie die Bundesregierung eine Legalde-
finition des Begriffes für nicht notwendig. Da ohnehin
nur Daten ausgetauscht werden können, die bereits vor-
handen sind und aufgrund einschlägiger nationaler Vor-
schriften abgeglichen werden, spielt die Frage keine
Rolle, ob die Daten durch Zwangsmaßnahmen erlangt
werden können, da diese ohnehin einem Verwertungsver-
bot unterlägen.

Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
spielt bei der Weitergabe von Informationen der Daten-
schutz eine besonders große Rolle. Ein modernes euro-
päisches Netzwerk zum Informationsaustausch bedarf
auch eines gewissenhaften einheitlichen Schutzes der zu
übertragenden Daten. Der Grundsatz der Verfügbarkeit
zielt darauf ab, die vorhandenen nationalstaatlichen
und gemeinschaftlichen europäischen Informationssys-
teme miteinander zu vernetzen, sodass die Daten für die
verschiedenen Sicherheitsbehörden abgerufen, gespei-
chert und übermittelt werden können, auch wenn sie nur
durch das Einverständnis des jeweiligen Mitgliedstaates
eingeholt werden dürfen. Eine wirksame Strafverfolgung
über Ländergrenzen hinweg zum Schutz kollektiver Si-
cherheitsinteressen darf den Individualschutz der Unions-
bürgerinnen und Unionsbürger nicht beeinträchtigen.
Es ist notwendig, jedem Missbrauch vorzubeugen und
den Grundrechteschutz, wie in Art. 16 AEUV sowie in
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
und der Europäischen Menschenrechtskonvention fest-
gelegt, vollständig zu achten.

Meine Fraktion und ich begrüßen den Schritt der eu-
ropäischen Staaten hin zu einer gegenseitigen Akzeptanz
von rechtlichen Strukturen und Entscheidungen sowie zu
einem umfassenden Informationsaustausch im Bereich
der Strafverfolgung. Der Umsetzung des Rahmenbe-
schlusses von 2006 gestehen wir dabei eine besondere
Rolle zu. Nach der Umsetzung in nationales Recht ist es
wichtig, den Austausch von Strafverfolgungsdaten zwi-
schen den Mitgliedstaaten der EU zu überwachen und
die Funktionalität und Wirksamkeit der Austauschnetz-
werke kontinuierlich zu überprüfen. Wir unterstützen
eine intensive und weitgehende Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten untereinander und auf europäischer
Ebene – nicht nur im Bereich der Strafverfolgung, son-
Zu Protokoll
dern auch darüber hinaus. Deshalb können wir dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zustimmen.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1709936600

In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des

Rechts ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
von herausragender Bedeutung. Es ist daher notwendig,
innerhalb Europas die Zusammenarbeit der Sicherheits-
behörden zu verbessern.

Dabei darf aber keiner der drei Aspekte – Freiheit,
Sicherheit und Recht – ins Hintertreffen geraten. Eine
Zusammenarbeit, die sich nur an der Sicherheit orien-
tiert, dabei aber die Freiheit über Gebühr einschränkt
und dem Recht durch mangelnde rechtsstaatliche Siche-
rungen nicht ausreichend Rechnung trägt, genügte den
Anforderungen an eine vernünftige Politik in der dritten
Säule nicht.

Der unter der schwedischen Ratspräsidentschaft ent-
wickelte Rahmenbeschluss folgt dem Gedanken eines
einheitlichen EU-weiten Raums der Freiheit, der Sicher-
heit und des Rechts. Dabei ist es grundsätzlich nachvoll-
ziehbar, dass in diesem kein Unterschied gemacht wer-
den soll zwischen dem Datenaustausch der zuständigen
innerstaatlichen Behörden und den zuständigen Behör-
den anderer EU-Mitgliedstaaten. Dennoch muss natür-
lich berücksichtigt werden, dass ein einheitlicher Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht bedeu-
tet und auch nicht bedeuten darf, dass Strafverfolgung
nicht mehr in nationaler Hoheit steht. Es ist daher rich-
tig, dass eine nationale Behörde nicht über die Regeln,
die für die innerstaatliche Datenübermittlung gelten, hi-
naus verpflichtet ist, Behörden anderer Mitgliedstaaten
Daten zur Verfügung zu stellen. Damit wird gewährleis-
tet, dass die deutschen Behörden unseren Standard wah-
ren können, wenn Ersuchen bearbeitet werden.

Richtig und wichtig ist auch die Zweckbindung der
übermittelten Daten. Die strikte Zweckbindung und das
ausdrückliche Verbot, übermittelte Daten zu Beweiszwe-
cken im Strafverfahren zu verwenden, sofern keine dies-
bezügliche ausdrückliche Zustimmung vorliegt, ist eine
zentrale rechtsstaatliche Absicherung.

Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger
Rechtsprechung deutlich gemacht, dass in der Übermitt-
lung von Daten ein eigener Grundrechtseingriff zu sehen
ist, der dem Eingriff bei der Erhebung gleichzustellen
ist. Da es sich bei den hier infrage stehenden Daten um
sensible Daten handelt, muss ein hohes Niveau an Da-
tenschutz sowie an Rechtsschutz gewährleistet sein. Zu-
dem muss stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.
Daher hat die FDP-Fraktion immer angemahnt, dass
derartige Daten nur dann übermittelt werden dürfen,
wenn die Schwere der Straftat, die in Rede steht, die Da-
tenübermittlung verhältnismäßig macht. Insofern ist es
gut, dass die Datenübermittlung verweigert werden
kann, wenn die Straftat im Empfängerland mit einer
Freiheitsstrafe von einem Jahr oder weniger bedroht ist.

Wenngleich mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf
im Wesentlichen nur Anpassungen nationaler Rechts-
vorschriften, die sich auf den Rahmenbeschluss bezie-



gegebene Reden

Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

hen, vorgenommen werden, dürfen wir nicht die Augen
davor verschließen, dass, wie die Bundesregierung in ih-
rer Begründung schreibt, „neue Maßstäbe“ bei der Da-
tenübermittlung gesetzt werden. Diese Maßstäbe dürfen
aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion aber nicht nur
die Interessen der Strafverfolgungsbehörden sein, son-
dern müssen ebenso die Grundrechte, insbesondere den
Datenschutz und den Rechtsschutz, umfassen. Die
Schnelligkeit und Leichtigkeit der Datenübermittlung
muss durch strikte rechtsstaatliche Sicherungen flan-
kiert sein.

Die Liberalen erkennen ausdrücklich die Bedeutung
der europäischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung
von Kriminalität und Terrorismus an. Ebenso steht aber
die Achtung der Grundrechte für uns an vorderster
Stelle. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die
Gratwanderung deutlich, die bei der Abwägung von
Freiheit und Sicherheit stets gegeben ist. Aus Sicht der
FDP-Fraktion ist dies den federführenden Bundesminis-
terien der Justiz und des Innern gelungen. Die FDP-
Fraktion wird weiterhin sorgsam darauf achten, dass in
der EU bei allen Beschlüssen alle Aspekte der dritten
Säule gleichermaßen berücksichtigt werden.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709936700

Unbestritten gibt es die Notwendigkeit für einen bes-

seren Austausch von Erkenntnissen zwischen den Straf-
behörden der Mitgliedstaaten in der Europäischen
Union. Bei vielen Straftaten ist die grenzüberschreitende
Kriminalität zur Normalität geworden. Eine grenzüber-
greifende Ermittlungszusammenarbeit ist eher noch die
Ausnahme.

Bisher lief der zwischenstaatliche Datenaustausch
von Ermittlungsbehörden weitgehend über das Mittel
des Rechtshilfeersuchens. Lange Wartezeiten und aus-
bleibende Reaktionen auf Anfragen waren die Regel.
Das war ein äußerst unbefriedigender Zustand.

In den letzten Jahren hat sich in der EU der Ansatz
der „weitgehend diskriminierungsfreien Verfügbarkeit
von Daten“ durchgesetzt. Ermittelnde Behörden eines
Mitgliedstaates sollen grundsätzlich und zeitnah auf die
vorhandenen Ermittlungsdaten des anderen Mitglied-
staates zugreifen können. Für den Informationsaus-
tausch mit dem EU-Ausland dürfen keine strengeren
Regelungen als für den Austausch von Strafverfolgungs-
daten im Inland bestehen. Bis zum 26. August 2011 müs-
sen die EU-Beschlüsse zum Datenabgleich, resultierend
aus dem „Ratsbeschluss zur Vertiefung der grenzüber-
schreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Be-
kämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreiten-
den Kriminalität“, umgesetzt sein.

So weit, so gut. Der Prozess zur Schaffung der techni-
schen und rechtlichen Voraussetzungen zum Austausch
von Strafverfolgungsdaten findet allerdings vor dem
Hintergrund eines nicht vorhandenen europäischen Da-
tenschutzrechtes, eines national völlig unterschiedlichen
Datenschutzniveaus und teilweise unzureichender
Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards statt.
Zu Protokoll
In der Europäischen Union existiert kein verbindli-
cher, einklagbarer Datenschutzstandard. Es existieren
jeweils bereichsspezifische Datenschutzbestimmungen
mit eher zweifelhaften Datenschutzniveaus, zum Beispiel
zu Europol, Schengen oder zum Prümer Ratsbeschluss.
Es gibt aber keine Anwendbarkeit des Strafrechtes auf
die Datenschutzrichtlinien und -vorschriften. Der einzig
geltende Rechtsakt ist das völlig veraltete völkerrechtli-
che „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der
automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“
der Mitglieder des Europarates von 1981.

Der Mangel bei den Rechtsstaats- und Menschen-
rechtsstandards in einigen EU-Ländern zeigte sich bei-
spielsweise beim sogenannten „Krieg gegen den Ter-
ror“. Die vom BND-Untersuchungsausschuss benannten
Fälle bewiesen, dass grundlegende Rechtsstaats- und
Menschenrechtsstandards massiv verletzt wurden und
bei neuerlichen Terroranschlägen auch künftig wieder
verletzt werden dürften. So gab es in den Mitgliedstaaten
Polen, Litauen und Rumänien sogenannte Black Sites,
also inoffizielle Gefängnisse der CIA, in denen unter
Folterbedingungen inhaftierte Verdächtige bei ihren
Vernehmungen mit Informationen aus unter anderem in
Deutschland geführten strafrechtlichen Ermittlungsver-
fahren konfrontiert wurden.

Die Umsetzung des Ratsbeschlusses durch den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung wird von der Linken
strikt abgelehnt. Der Ratsbeschluss zielt darauf, keinen
Unterschied mehr zwischen innerstaatlichen und euro-
päischen Strafverfolgungsbehörden zu machen, wenn es
darum geht, bei den Strafverfolgungsbehörden vorhan-
dene oder verfügbare Informationen zur Verfügung zu
stellen. Damit geht der Rechtsakt grundsätzlich über Re-
gelungen zum Austausch von Informationen und Er-
kenntnissen zwischen Strafverfolgungsbehörden hinaus,
die auf Art. 39 des Schengener Durchführungsüberein-
kommens, SDÜ, beruhen. Art. 39 SDÜ verpflichtet die
Mitgliedstaaten zwar zu gegenseitiger Hilfe im Interesse
der vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung von
strafbaren Handlungen, überlässt es jedoch dem natio-
nalen Recht, die Art der Zusammenarbeit auszugestal-
ten.

Nach dem Ratsbeschluss hingegen gibt es für die an-
gefragten Mitgliedstaaten lediglich ein Rückweisungs-
recht bei Informationen und Erkenntnissen, die durch
Zwangsmaßnahmen erlangt wurden, und wenn dies mit
dem nationalen Recht nicht vereinbar ist. Für eine der-
art weitgehende grenzüberschreitende Verfügbarkeit
strafrechtlicher Ermittlungsdaten fehlt es indes, wie ge-
sagt, an der Grundvoraussetzung eines unabhängig von
einer Einzelfallprüfung vollzogenen Informationsaus-
tausches: ein angemessener rechtstaatlicher, insbeson-
dere datenschutzrechtlicher, Standard innerhalb der EU.

Es fehlen insbesondere klare Regelungen im Hinblick
auf den Zweck der Datenabfrage, den von der Datenver-
arbeitung betroffenen bzw. auszuschließenden Perso-
nenkreis, die Begrenzung der Übermittlung von DNA-
Daten auf bestimmte Deliktbereiche, die Speicherfristen
der Daten im anfordernden Land sowie ein Weitergabe-
verbot an dritte Dienststellen und Drittstaaten.



gegebene Reden

Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)

Die unscharfe Trennung von Polizei, Geheimdiensten
und Militär in verschiedenen Mitgliedstaaten lässt er-
warten, dass übermittelte Daten nach Belieben in deren
nationale Datenbanken eingespeist und nicht im Sinne
der deutschen Rechtsprechung verwendet werden. Wei-
terhin ist völlig unklar, wie die Einhaltung von daten-
schutzrechtlichen Fragen auf der europäischen und na-
tionalen Ebene parlamentarisch überprüft werden kann.

Man muss es klar sagen: Der Austausch von Ermitt-
lungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten ohne ausrei-
chende Rechtsgrundlage wird den Wert der so erlangten
Ermittlungsergebnisse vor Gericht reduzieren. Verurtei-
lungen, zumindest vor deutschen Gerichten, werden un-
wahrscheinlich, wenn der Wert von Beweisen zweifelhaft
ist.

Der Bundesregierung muss man ins Stammbuch
schreiben, dass sie mit großem Fleiß die Umsetzung von
Beschlüssen der EU ins deutsche Recht betreibt, mit de-
nen man die Befugnisse europäischer Sicherheitsbehör-
den massiv ausweitet. Zu vermuten ist gar, dass man über
den Umweg europäischer Verordnungen den hohen, vom
Bundesverfassungsgericht vorgegebenen, Datenschutz-
standard aushebeln möchte. Sie rührt aber keinen Fin-
ger, wenn es um die Ausgestaltung eines europäischen
Datenschutzes geht, der die Bürgerinnen und Bürger vor
staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre schützen soll.
Die Linke fordert eindringlich den Einsatz der Bundes-
regierung auf europäischer Ebene für die Sicherung in-
dividueller Rechte, Rechtsstaatlichkeit und datenschutz-
rechtlicher Standards nicht unter den vom
Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Niveaus!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir befinden uns im Jahr 2011, 15 Monate nach In-
krafttreten des Vertrages von Lissabon, nach dem nun
endlich das Europäische Parlament bei der europa-
rechtlichen Regelung des Datenschutzes und des Aus-
tauschs personenbezogener Daten auch im Bereich des
Polizei- und Strafrechts entscheidend mitbestimmen
kann. Das ist wichtig und im Hinblick auf die anste-
hende Gesamtreform des EU-Datenschutzrahmens und
die datenschutzrechtlichen Herausforderungen eines
Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den
es rechtlich und politisch zu gestalten gilt, auch notwen-
dig.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dient der
Umsetzung eines eher beunruhigenden Relikts aus alten
Zeiten, in denen EU-Recht noch hinter verschlossenen
Türen ohne effektive parlamentarische Kontrolle durch
das Europäische Parlament gemacht werden konnte,
wenn sich nur die Vertreterinnen und Vertreter der Regie-
rungen und der jeweiligen Innenministerien der Mit-
gliedstaaten einig waren. Das Gesetz soll der Umsetzung
eines EU-Rahmenbeschlusses über die Vereinfachung
des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen
zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied-
Zu Protokoll
staaten der Europäischen Union, der sogenannten
schwedischen Initiative aus dem Jahr 2006, dienen.
Dass man die Umsetzungsfrist, die im Dezember 2008
auslief, seelenruhig und deutlich hat verstreichen las-
sen, kann ich angesichts der schwerwiegenden daten-
schutzrechtlichen Kritik, die am Konzept des Rahmenbe-
schlusses in den letzten Jahren immer wieder geübt
wurde, verstehen. Warum Deutschland ausgerechnet
jetzt den Rahmenbeschluss umsetzen soll, wo ein Bericht
der Kommission über dessen Umsetzung und die Reform
des EU-Datenschutzrahmens kurz bevorstehen, er-
schließt sich mir aber nicht. Die Erkenntnisse aus dem
Bericht der Kommission und aus den Fachdebatten zur
Reform des EU-Datenschutzrahmens sollten auf jeden
Fall gebührende Berücksichtigung finden.

Der Rahmenbeschluss und sein Umsetzungsgesetz
bezwecken den möglichst ungehinderten und beschleu-
nigten Datenaustausch zwischen den Polizei- und Straf-
verfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Der Da-
tenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmte
Gefahrensituationen oder Verdachtstaten beschränkt.
Der Kreis der Behörden, die untereinander – offenbar
kreuz und quer – Daten austauschen sollen, ist sehr
groß: Jede Behörde, die befugt ist, Straftaten oder krimi-
nelle Aktivitäten aufzudecken, zu verhüten, aufzuklären
und Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, kann Daten an
deutsche Behörden übermitteln oder Daten von deut-
schen Behörden anfragen. Es reicht, dass der betref-
fende Mitgliedstaat die Polizei-, Strafverfolgungs-,
Steuer-, Ausländer-, Gesundheits- oder sonstige Be-
hörde gegenüber dem Rat der EU als zuständig benannt
hat. Die Möglichkeiten, die Übermittlung von Informa-
tionen auf Anfrage einer EU-ausländischen Behörde zu
verweigern, sind sehr eng. Die Übermittlung von Daten
von Stuttgart nach Györ oder Barcelona soll praktisch
so behandelt werden wie die Übermittlung von Daten
von Stuttgart nach Wiesbaden. Die Fristen für die Über-
mittlung sind zudem äußerst kurz. Zwischen acht Stun-
den und zwei Wochen hätte eine deutsche Behörde Zeit,
die Daten auf der Grundlage eines holzschnittartigen
Formblatts zu übermitteln. Auch spontane Übermittlun-
gen zwischen den als zuständig benannten Behörden
verschiedener EU-Mitgliedstaaten zwischen Litauen
und Portugal soll es geben, wenn konkrete Gründe für
die Annahme bestehen, dass die Informationen für die
Prävention oder Verfolgung schwerer Straftaten nützlich
sein könnten.

Es verwundert unter diesen Voraussetzungen nicht,
dass sowohl Vertreter von Regierungen und Sicherheits-
behörden als auch Datenschützer davon ausgehen, dass
die Umsetzung der schwedischen Initiative zu einem
deutlichen Anstieg und zur Beschleunigung des Informa-
tionsaustausches in der EU führen wird.

Wir Grüne wollen ein starkes Europa, einen starken
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aber
Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit und Recht auf
der anderen Seite müssen in einem ausgewogenen Ver-
hältnis stehen. Eine „Securitization“ Europas unter
Preisgabe der Grundrechtserrungenschaften Deutsch-
lands wollen wir nicht. Nach Lissabon wollen und müs-
sen wir auch das EU-Grundrecht auf Datenschutz in



gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

Art. 8 der nunmehr verbindlichen EU-Grundrechtecharta
in die Waagschale werfen.

Der alte Rahmenbeschluss über den Informations-
austausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehör-
den, den wir hier umsetzen sollen, basiert auf der Fik-
tion, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staaten
in etwa vergleichbar sind. Träfe das zu, könnte man Da-
ten zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in-
nerhalb der EU tatsächlich weitgehend unbedenklich
austauschen. Dass aber ein EU-weit vergleichbares Da-
tenschutzniveau im Sicherheitsbereich bedauerlicher-
weise noch längst nicht Wirklichkeit ist, sondern pure
Fiktion, bestreitet meines Wissens niemand. Wer es be-
streitet, der sollte den datenschutzrechtlich völlig unzu-
reichenden EU-Rahmenbeschluss zum Datenschutz aus
dem Jahr 2008 an den Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichts für die Erhebung und Verarbeitung von
personenbezogenen Daten durch Polizei- und Strafver-
folgungsbehörden messen. Er oder sie wird feststellen
müssen, dass nichts von diesen verfassungsrechtlichen
Vorgaben sich als EU-rechtliche Pflicht in dem Rahmen-
beschluss wiederfindet. Die Mitgliedstaaten konnten
sich 2008 aus gutem Grund gar nicht auf die Normie-
rung datenschutzrechtlicher Standards für die Datenver-
arbeitung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
auf nationaler Ebene einigen. Der Rahmenbeschluss be-
schränkt sich deshalb auf den Datenaustausch zwischen
den betreffenden Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Das
kann schon deshalb keinen ausreichenden Datenschutz
garantieren, weil die übermittelten Daten im Empfän-
gerland mit den dort erhobenen Daten zusammengeführt
werden. Auch die Rechte der Betroffenen werden durch
den Rahmenbeschluss Datenschutz nicht ausreichend
gewährleistet. Von einem vergleichbaren datenschutz-
rechtlichen Schutzniveau in der EU oder gar einer euro-
parechtlich abgesicherten Harmonisierung des Daten-
schutzes im Bereich des Polizei- und Strafrechts kann
daher nicht die Rede sein.

Unter dieser Voraussetzung können wir nicht einfach
ein Gesetz verabschieden, das den praktisch ungehin-
derten und beschleunigten Datenaustausch mit einer
Unzahl von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in
der ganzen EU ermöglicht.

So weit zu dem an sich schon beunruhigenden Kon-
zept des Rahmenbeschlusses zum Informationsaus-
tausch und seines Umsetzungsgesetzes. Lassen Sie mich
weitere konkrete Gründe nennen, warum wir diesen Ge-
setzentwurf einer gründlichen Prüfung unterziehen soll-
ten.

Erstens fehlt es dem Gesetz an vielen Stellen an der
verfassungsrechtlich gebotenen Normenklarheit. Es be-
nennt nicht die Behörden der EU-Mitgliedstaaten, in die
Daten übermittelt werden dürfen, sondern verweist
Rechtsanwenderinnen und -anwender sowie Richterin-
nen und Richter zu diesem Zweck auf eine Liste, die ir-
gendwo beim Generalsekretariat des Rates liegen muss.
Das Umsetzungsgesetz benennt auch die Straftaten
nicht, in deren Zusammenhang Daten spontan in andere
Mitgliedstaaten übermittelt werden können, sondern
verweist diesbezüglich auf den Rahmenbeschluss zum
EU-Haftbefehl. Darüber hinaus begnügt sich das vorge-
schlagene Umsetzungsgesetz mit einem vagen Verweis
auf Art. 6 des EU-Vertrages, um zu beschreiben, wann
die Übermittlung aus grundrechtlichen Erwägungen he-
raus unterbleiben muss.

Zweitens nützt das Umsetzungsgesetz die Umset-
zungsspielräume nicht, die der EU-Rahmenbeschluss
den Mitgliedstaaten gewährt. So fehlt es zum Beispiel an
der Normierung einschränkender Modalitäten für Spon-
tanübermittlungen. Es fehlt außerdem an begrenzenden
Regelungen über die Weitergabe der Daten an Drittstaa-
ten außerhalb der EU. Als letztes Beispiel für die feh-
lende Nutzung des Umsetzungsspielraums zugunsten der
Grundrechte möchte ich anführen, dass das Umset-
zungsgesetz keine inhaltlichen Anforderungen an die Er-
suchen um Datenübermittlung an Drittstaaten enthält
und dadurch der Übermittlung von nichterforderlichen
Überschussinformationen Tür und Tor öffnet.

Drittens möchte ich darauf hinweisen, dass auch die-
ses Umsetzungsgesetz offenbar wieder zur Ausweitung
bundesdeutscher exekutiver Handlungsspielräume
durch die Hintertür genützt werden soll. Wie schon zahl-
reiche Umsetzungsgesetzentwürfe der Bundesregierung
zuvor enthält auch dieses Gesetz Rechtsverschärfungen,
die mit der EU-Vorlage, dem Rahmenbeschluss, gar
nichts zu tun haben. So soll zum Beispiel durch Änderun-
gen im Bundespolizeigesetz und im BKA-Gesetz das Da-
tenschutzniveau für die Datenübermittlung in Nicht-EU-
Staaten abgesenkt werden. Künftig können die „schutz-
würdigen Interessen der betroffenen Personen … auch
dadurch gewahrt werden, dass der Empfängerstaat oder
die empfangende zwischen- oder überstaatliche Stelle
im Einzelfall einen angemessenen Schutz der übermittel-
ten Daten garantiert“. Einzelfallregelungen entsprechen
nicht unseren rechtsstaatlichen und grundrechtlichen
Schutzstandards. Das lassen wir uns nicht so einfach un-
terjubeln, und das sollten auch Sie, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, nicht tun!

Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam und
in aller Ruhe, bestenfalls unter Hinzuziehung externen
Sachverstands, über diesen komplexen Gesetzentwurf
beraten und anschließend besonnen über das weitere
Vorgehen entscheiden. Lassen Sie uns den vielfältigen
Entwicklungen im Sicherheitsrecht Europas Rechnung
tragen, die sich seit dem Erlass des Rahmenbeschlusses
2006 vollzogen haben. Lassen Sie uns gemeinsam ein
klares Ja zu Europa formulieren, gleichzeitig aber un-
missverständlich klarmachen, dass es mit uns keinen
Ausverkauf von Datenschutzstandards über die europäi-
sche Hintertür geben wird.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709936800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-

fes auf Drucksache 17/5096 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Urheberrechtsgesetzes

– Drucksache 17/5053 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ich lese die Na-
men der Kolleginnen und Kollegen vor, damit die Frak-
tionen wieder Beifall geben können: Ansgar Heveling,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


René Röspel,


(Beifall bei der SPD)


Stephan Thomae,


(Beifall bei der FDP)


Dr. Petra Sitte,


(Beifall bei der LINKEN)


Krista Sager.1) Sollten die Kolleginnen und Kollegen
nicht da sein, bitte ich, Ihnen mitzuteilen, dass sie hier
mit Beifall bedacht worden sind.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5053 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatz-
punkt 11 auf:

21 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Rainer Arnold, Sören Bartol, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur
Volksabstimmung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Stuttgart 21, Neubaustrecke Wendlin-
gen–Ulm und das Sparpaket der Bundesre-
gierung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Birgitt Bender,

1) Anlage 8
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und die
Neubaustrecke Wendlingen–Ulm

– Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893,
17/5172 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann

ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton
Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Transparenter Stresstest für die Leistungsfä-
higkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21

– Drucksachen 17/5041, 17/5236 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Stefan
Kaufmann, Ulrich Lange, Ute Kumpf, Werner
Simmling,


(Beifall bei der FDP)


Sabine Leidig, Winfried Hermann.


Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1709936900

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

hat empfohlen, die Anträge von SPD, Linken und Bünd-
nis 90/Die Grünen, die im Wesentlichen einen Baustopp
zum Ziel haben, abzulehnen. Der Ausschuss hat weiter-
hin empfohlen, den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
zu einem „Transparenten Stresstest für die Leistungsfä-
higkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21“ ebenfalls abzu-
lehnen. Alle zur Debatte stehenden Anträge sind meiner
Ansicht nach mit dem Schlichterspruch des Schlichters
Dr. Heiner Geißler obsolet geworden, was ich im Einzel-
nen gerne erläutern möchte.

Zunächst zum Antrag der SPD. Nach dem Schlichter-
spruch hätte die SPD die Chance gehabt, ihren Zick-
zackkurs beim Thema Stuttgart 21 zu beenden. Diese
Chance hat sie offensichtlich aus wahltaktischen Grün-
den nicht genutzt. Der Schlichterspruch zu Stuttgart 21
betont, dass eine Volksabstimmung verfassungswidrig
wäre und daher nicht in Betracht kommt. Mit etwas Er-
staunen nehme ich zur Kenntnis, das dies offenbar auch
von SPD-Parteichef Siegmar Gabriel so gesehen wird.
Oder wie ist die Aussage zum Volksentscheid vom
10. März dieses Jahres in der “Südwestpresse“: „viel-
leicht braucht man das jetzt gar nicht mehr“ zu interpre-
tieren? Leider wurde Herr Gabriel noch am selben Tag
vom SPD-Spitzenkandidaten und Möchtegern-Minister-
präsidenten Dr. Nils Schmid zurückgepfiffen. Herr
Schmid hält weiter an seiner merkwürdigen Konstruk-

Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

tion eines verfassungswidrigen Volksentscheids fest. Ich
kann nur dringend abraten, einen solchen Volksent-
scheid zu initiieren. Die Äußerungen des Präsidenten
des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle sind
eindeutig. Ich zitiere ihn aus der „Süddeutschen Zei-
tung“ vom 16. Oktober 2010:

Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernst-
haftes Problem für die Verwirklichung von Infra-
strukturprojekten dar. Irgendwann muss hier ein
Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn
die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden
haben.

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Einen Volks-
entscheid wird es nicht geben. Der SPD rate ich davon
ab, ihren parteiinternen Streit in dieser Sache auf dem
Rücken der Baden-Württemberger auszutragen.

Zum Antrag der Linken möchte ich zwei Punkte beto-
nen. Erstens hat die Schlichtung deutlich gemacht, dass
das Projekt Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke ein ei-
genwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG ist.
Zweitens haben unabhängige Wirtschaftsprüfungsge-
sellschaften im Laufe der Schlichtung zudem bestätigt,
dass das Projekt ausreichend finanziert ist. Auch für die
Neubaustrecke, also das im Bundesverkehrswegeplan
enthaltene Teilprojekt, wurde die Wirtschaftlichkeit
nochmals bestätigt. Ihr Antrag ist daher folgerichtig ab-
zulehnen.

Eine dem Wahlkampf in Baden-Württemberg geschul-
dete totale Realitätsverweigerung erleben wir derzeit
bei den Grünen. Sie haben die Faktenschlichtung gefor-
dert, Sie haben die Person des Schlichters vorgeschla-
gen und Sie haben dem Verfahren zugestimmt. Da Ihnen
das Ergebnis nicht passt, vermitteln Sie nun den Ein-
druck, als hätte es den Schlichterspruch nie gegeben.
Darüber hinaus wollen Sie nun am Stresstest beteiligt
werden; dem dient der jüngste der Anträge. Diese Betei-
ligung ist im Schlichterspruch aber nicht vorgesehen.
Wie Sie wissen, wird die Bahn beginnend im April einen
Stresstest durchführen und die Ergebnisse durch das
schweizerische Sachverständigenbüro SMA überprüfen
lassen. So wurde es im Rahmen der Schlichtung verein-
bart. Der Stresstest soll im Juni abgeschlossen sein.
Dies ist ein ebenso transparentes wie öffentliches Ver-
fahren – so wie von Ihnen gefordert. Die Bahn wird den
Stresstest eben nicht hinter verschlossenen Türen durch-
führen. Die Öffentlichkeit wird über die Schritte des
Stresstests informiert, und die Bahn wird die Arbeit in ei-
nem Dialogforum zur Diskussion stellen.

Da Sie sich aber ungern an Vereinbarungen halten,
sind Sie sechs Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg
noch einen Schritt weitergegangen und haben die Er-
gebnisse eines eigenen Stresstests präsentiert, bei dem
Stuttgart 21 – man glaubt es kaum – durchfällt. Bedau-
erlicherweise haben Sie niemanden, etwa von der Bahn
oder den Projektbefürwortern, an Ihrem eigenen kleinen
Stresstest beteiligt. Sie stellen nur immerzu Forderungen
an die anderen. Wohlgemerkt, die Bahn selbst benötigt
über ein halbes Jahr für das komplizierte Verfahren. Das
Vorhaben ist deshalb so zeitaufwändig, weil zunächst
alle für Stuttgart 21 geplanten Bahnanlagen – wie
Zu Protokoll
Gleise, Weichen, Signale und Bahnsteige inklusive der
Eisenbahnstrecken rund um Stuttgart – erfasst werden
müssen. Die Ergebnisse aus 100 simulierten Betriebsta-
gen bilden dann die Grundlage, um die Leistungskapazi-
tät beurteilen zu können. In den „Stuttgarter Nachrich-
ten“ am Montag war zu lesen, dass Sie selbst
einräumen, dass nur die Bahn über die technischen
Möglichkeiten für eine Computersimulation verfügt;
dennoch sei Ihre stark vereinfachte Berechnung aussa-
gekräftig.

Das ist doch hanebüchen! Ich sage Ihnen, für was Ihr
Aktionismus aussagekräftig ist: Es handelt sich um ei-
nen weiteren unredlichen, aber durchschaubaren Ver-
such, die Stuttgarter vor der Landtagswahl zu verunsi-
chern und gegen die Zukunft aufzuwiegeln. Auf diese
billige Wahlkampfmasche werden die Bürgerinnen und
Bürger hoffentlich nicht hereinfallen. Seriös sind Ihre
Berechnungen einmal mehr nicht.

Zu Ihrem Antrag, der die Forderung nach einem so-
fortigen Baustopp enthält, möchte ich noch Folgendes
anmerken: Mit der Schlichtung wurden die von Ihnen
geforderten offenen Gespräche mit allen Beteiligten ge-
führt. Der Bau wurde hierfür weitgehend unterbrochen.
Bis ins kleinste Detail wurden die in Ihrem Antrag gefor-
derten unterschiedlichen Aspekte des Gesamtprojekts
offengelegt und intensiv diskutiert. Im Ergebnis sprach
sich der Schlichter Dr. Heiner Geißler klar für eine
Fortführung des Projekts und eine Weiterentwicklung zu
Stuttgart 21 Plus aus. Nehmen Sie diese Tatsache bitte
endlich zur Kenntnis.

Lassen Sie mich nochmals kurz die Chancen des Pro-
jekts für meine Heimatstadt Stuttgart und das Land Ba-
den-Württemberg skizzieren: Mit Stuttgart 21 und der
Neubaustrecke Wendlingen–Ulm stärken wir nicht nur
den Fernverkehr, sondern insbesondere auch den Regio-
nalverkehr in der Region Stuttgart und darüber hinaus.
Mit dem Fildertunnel wird die Region südlich von Stutt-
gart inklusive des Flughafens durch schnellere Verbin-
dungen viel besser ans Nahverkehrsschienennetz ange-
schlossen. Mit der Neubaustrecke nach Ulm wird die
gesamte Region Oberschwaben optimal an die Landes-
hauptstadt Stuttgart angeschlossen. Mehrere durchgän-
gige Regionalexpresslinien werden künftig neben U- und
S-Bahn eine dritte Netzspinne bilden. All dies wird in der
vom Autoverkehr sehr stark belasteten Region Stuttgart
entscheidend dazu beitragen, den Personenverkehr von
der Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Neubau-
strecke nach Ulm und der weitere Ausbau nach Augs-
burg bringen eine Entlastung der A 8, eine der am
stärksten frequentierten Autobahnen in Deutschland.
Dies sahen selbst die Grünen bis zum Jahr 2009 so. Eine
überzeugende Alternative zur Neubaustrecke haben sie
auch in der Schlichtung nicht vorgebracht. Die Variante
durchs dichtbesiedelte Neckartal wirft beispielsweise
die Frage nach der prinzipiellen Planfeststellungsfähig-
keit auf. Unabhängig davon werden die Bewohner des
Neckartals die zusätzlichen Belastungen nicht wider-
standslos hinnehmen. Die geplante Neubaustrecke
Wendlingen–Ulm verläuft dagegen weitgehend durch
weniger dichtbesiedeltes Gebiet. Weil sie parallel zur
Autobahn gebaut wird, kann eine Zerschneidung der



gegebene Reden

Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

Landschaft verhindert werden. Auch der Bau der Neu-
baustrecke hat im Übrigen schon begonnen. Lassen Sie
uns diese Strecke zügig vorantreiben.

Zum Schluss möchte ich noch auf die städtebaulichen
Vorteile für Stuttgart selbst eingehen. Ich halte es für
richtig, dass die freiwerdenden Flächen dauerhaft dem
Versuch von Grundstücksspekulationen entzogen wer-
den. Eine umfassende Bürgerbeteiligung zur Gestaltung
hat bereits begonnen. Es wird ein neues lebendiges
Wohnquartier und eine Erweiterung des Schlossgartens
um mindestens 20 Hektar geben. An den Nahverkehr
wird das Quartier bestens angeschlossen. Schon heute
sind die Vorarbeiten für neue U-Bahnlinien sichtbar.

Insgesamt überwiegen also die verkehrlichen und die
städtebaulichen Vorteile des Projekts deutlich. Die
Schlichtung hat erfreulicherweise auch dazu beigetra-
gen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger so-
wohl in Baden-Württemberg als auch in der Region
Stuttgart das Projekt inzwischen befürwortet, wie die re-
präsentativen Umfragen zeigen.

Ich darf Sie daher bitten, den Beschlussempfehlungen
des Ausschusses zu folgen und alle vier heute zur Dis-
kussion stehenden Anträge abzulehnen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1709937000

Stuttgart 21 ist nicht nur für die baden-württembergi-

sche Landeshauptstadt, sondern für ganz Deutschland
ein Leuchtturmprojekt. Es ist richtig, und es ist wichtig.
Genauso richtig ist aber auch, dass im Vorfeld viel zu
wenig auf die Bevölkerung eingegangen, die Bevölke-
rung bei diesem Großprojekt nicht mitgenommen wurde.

Es ist das herausragende Verdienst von Heiner
Geißler, dass es zu einer Befriedung, ja zu einer Versöh-
nung innerhalb der zerstrittenen Bevölkerung kam und
eine Lösung gefunden wurde, obwohl kaum jemand eine
Lösungsmöglichkeit sah. Insbesondere die Grünen hat-
ten nicht damit gerechnet, dass es zu einer Lösung kam,
und nur sehr wenige Grüne, wie der Tübinger Bürger-
meister Boris Palmer, waren Demokraten genug, um das
Schlichtungsergebnis zu akzeptieren.

Die Grünen hatten auf eine weitere Eskalation im Zu-
sammenhang mit Stuttgart 21 gehofft, um weiter in der
Gunst der Wähler zu steigen. Anschließend machte sich
starke Enttäuschung breit, nicht weil die Bedeutung und
die Richtigkeit von Stuttgart 21 bestätigt wurden, son-
dern weil es keine spektakulären Demos mehr gab, auf
denen man sich als Aktivist gegen jeglichen Ausbau dar-
stellen konnte. Deshalb werden jetzt Scheinanträge ge-
stellt, um das Thema am Kochen zu halten. Meine Da-
men und Herren von den Grünen, Sie schüren innerhalb
der Stuttgarter Bevölkerung bewusst Ressentiments, um
die Spaltung in der Gesellschaft voranzutreiben, eine
Spaltung, die die Schlichtung zum Glück beendet hat.
Sie haben die von Ihnen geforderte Schlichtung durch
Heiner Geißler erhalten. Akzeptieren Sie endlich das Er-
gebnis, beenden Sie Ihre Hetzkampagnen!

In der öffentlichen Wirkung wurden immer nur die
Grünen als Gegner von Stuttgart 21 wahrgenommen.
Nur die Grünen haben davon profitiert; die SPD ist in
Zu Protokoll
der Bedeutungslosigkeit versunken. Lange Zeit hat die
baden-württembergische SPD das Großprojekt mitge-
tragen. Als man sah, wie die Medien sich gegen das Pro-
jekt wandten, suchte man mit Händen und Füßen einen
Grund, ebenfalls gegen den neuen Bahnhof sein zu dür-
fen. Man forderte eine Volksabstimmung, wohl wissend,
dass das Land Baden-Württemberg gar nicht zuständig
ist, wohl wissend, dass die Mehrheit der Baden-
Württemberger für Stuttgart 21 ist. Hauptsache war,
dass man endlich einen Grund gefunden hatte, zumin-
dest für einen sofortigen Baustopp sein zu können. Sie
haben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag sagen, dass große
Verkehrsinfrastrukturprojekte von der Unterstützung
unserer Gesellschaft leben. Deshalb fand die Schlich-
tung statt, bei der alle Argumente pro und kontra darge-
legt wurden. Geben Sie der DB AG doch die Zeit, den in
der Schlichtung beschlossenen Stresstest durchzuführen
und die Leistungsfähigkeit des kommenden Tiefbahnho-
fes zu beweisen!

Wie nicht anders zu erwarten, wollten auch die Lin-
ken auf den Protestzug aufspringen. Der heute disku-
tierte Antrag zeigt, dass die Linken nicht bis zum Rand
ihres Tellers blicken können, geschweige denn darüber
hinaus. Es ist richtig, dass jeder Euro nur einmal ausge-
geben werden kann; aber es gibt in unserem Lande Zu-
kunftsprojekte, die notwendig für unsere Gesellschaft,
für unsere Wirtschaft, für unsere Arbeitnehmer und Ar-
beitgeber sind. Dazu gehört der Aufbau einer funktio-
nierenden Infrastruktur. Wir müssen unsere Wirtschaft
am Laufen halten, wenn wir die sozialen Leistungen wie
Hartz IV bezahlen wollen; denn jede Wohltat, die verteilt
werden kann, muss erst verdient werden. Sie als Nach-
folger der DDR-Diktatur wissen leider nicht, was
Vorsorge für die Zukunft bedeutet. Sie haben es inner-
halb weniger Jahrzehnte geschafft, die Wirtschaft in
Ostdeutschland zugrunde zu richten, die Verkehrsin-
frastruktur verrotten zu lassen. Dass Sie sich jetzt gegen
den Bau zukunftsorientierter Maßnahmen wie Stutt-
gart 21 und den Neubau der Strecke Wendlingen–Ulm
wenden, wundert eigentlich nicht wirklich.

Die Schlichtung hat den verkehrlichen Nutzen von
Stuttgart 21 bestätigt. Die dadurch bedingte höhere
Leistungsfähigkeit hat mehrere offensichtliche positive
Effekte:

Erstens Regionalverkehr: Der neue Durchgangs-
bahnhof wird in alle Richtungen verbunden. So ist kein
Zug mehr gezwungen, zu wenden, und kann direkt Kurs
auf seinen nächsten Haltebahnhof nehmen. Dadurch
wird die Reisezeit verkürzt.

Zweitens Fernverkehr: Stuttgart ist mit den Städten
Ulm, Augsburg und München über eine uralte Strecke
verbunden, auf der teilweise nur 70 Stundenkilometer
gefahren werden dürfen. Durch den Neubau der Strecke
Wendlingen–Ulm wird künftig eine Hochgeschwindig-
keitstrasse geschaffen, mit der Folge, dass die Fahrzeit
von Stuttgart nach Ulm von 54 auf 28 Minuten nahezu
halbiert wird.

Drittens. Die Fahrzeit bis München wird von derzeit
über zweieinviertel Stunden – 139 Minuten – auf etwas
mehr als eineinhalb Stunden – 102 Minuten – reduziert.



gegebene Reden

Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Viertens Güterverkehr: Durch die Neubaustrecke
kommt es zu einer Entlastung der bestehenden Strecke,
sodass dort zusätzliche Kapazitäten entstehen.

Für die anwohnenden Schwaben wirkt sich der Aus-
bau auch direkt positiv aus. So kommt es zu einer deutli-
chen Verbesserung der Flughafenanbindung mit deutli-
cher Verkürzung der Reisezeiten aus den südlichen
Landesteilen:

Von Tübingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr-
zeit von 64 auf 35 Minuten – 29 Minuten Zeitgewinn.
Von Reutlingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr-
zeit von 75 auf 25 Minuten – 50 Minuten Zeitgewinn.
Von Nürtingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr-
zeit von 68 auf 11 Minuten – 57 Minuten Zeitgewinn. Von
Horb zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 66
Minuten auf 33 Minuten – 33 Minuten Zeitgewinn.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposi-
tion, geben Sie Ihre Haltung als Dauerblockierer auf,
steigen Sie ein in den Zug der Zukunft, und unterstützen
Sie den Ausbau von Stuttgart 21 und der Strecke Wend-
lingen–Ulm! Die kommenden Generationen werden es
Ihnen danken.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1709937100

Die heute zur Debatte stehenden Anträge sind in ei-

ner Phase entstanden, als die Stimmung in Stuttgart ge-
gen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hochkochte, als ein
Teil der Bürgerschaft in Stuttgart sich aufgewühlt gegen
die Pläne von Stadt, Bahn und Land stellte und rebel-
lierte, als die Politiker als „Lügenpack“, „Mafiosi“ und
„Kannibalen“ diffamiert wurden, als die politische Welt
vereinfacht wurde in „Ihr da oben“ und „Wir da unten“.

Die Gegner des Projektes Stuttgart 21 redeten über
die gewählten Vertreter in den Parlamenten im Bund, im
Land und in der Kommune, als seien wir alle Rosstäu-
scher und Berufsversager, die nichts Richtiges zustande
bringen. Politiker und Experten wurden in einen Sack
gesteckt, und es wurde kräftig draufgeschlagen. Stutt-
gart 21 wurde bundesweit zum Bürgerprotest schlecht-
hin.

Angesichts dieser Entwicklung forderte die SPD im
Land wie im Bund einen Volksentscheid über Stuttgart 21
und die Zustimmung zum Projekt, da dieser aufgewühlte
Volkszorn nur auf diese Weise befriedet werden kann. Ein
ungewöhnlicher Vorschlag, da das Projekt in den ver-
gangenen Jahren alle parlamentarischen Hürden ge-
nommen hatte; denn Stuttgart 21 wurde bereits über
zehn Jahre hinweg in den parlamentarischen Gremien
von Stadt, Land und Bund debattiert. Rund 60 Alternati-
ven wurden beleuchtet und wieder verworfen, ehe am
Ende Stuttgart 21 als beste Variante übrig geblieben ist.

Die Eskalation im Sommer 2010 ist den politisch Ver-
antwortlichen der Stadt Stuttgart und der schwarz-gel-
ben Landesregierung zuzuschreiben – allen voran Ober-
bürgermeister Schuster und Ministerpräsident Mappus.
Aber auch die Bahn trägt Mitschuld daran, dass sich der
Protest gegen Stuttgart 21 aufschaukeln konnte. Sie sind
für den Kommunikations-GAU verantwortlich. Sie ha-
ben sich lange auf die Zuschauertribünen zurückgezo-
Zu Protokoll
gen und den Kritikern das Feld überlassen, nach dem
Muster: Wir haben ja die Beschlüsse, und das wird sich
schon alles beruhigen.

Mit einigen Aufklärungsveranstaltungen und Ausstel-
lungen, so dachte man, seien die Stuttgarter Bürgerin-
nen und Bürger genug informiert. Diese Einschätzung
war falsch. Es stellt sich aber auch die Frage, warum
sich dieser massive Protest erst im Sommer 2010, als die
Pläne längst beschlossen und bekannt waren, formierte?
Kam der Protest angesichts der anstehenden Landtags-
wahlen im März 2011 vielleicht einigen gerade recht?

Der Vorschlag eines Volksentscheides wurde im Land-
tag Baden-Württemberg mit den Stimmen von CDU, FDP
und Grünen abgelehnt. Stattdessen wurde die Schlich-
tung von Ministerpräsident Mappus als Lösungsweg prä-
sentiert, als Notbremse nach dem indiskutablen und ver-
heerenden Einsatz der Polizei am „schwarzen
Donnerstag“.

Die Schlichtung vor laufender Kamera trug zwar zur
Entgiftung der aufgeheizten Stimmung bei, aber nicht
zur Befriedung. Das Positive an dieser Form der Her-
stellung von Öffentlichkeit war: Ein Mythos wurde ent-
zaubert. Es geht bei Stuttgart 21 nicht um Leben oder
Tod. Es geht um ein Infrastrukturprojekt, und es geht um
unterschiedliche Auffassungen, wie wir in Stuttgart und
Baden-Württemberg Stadtentwicklung und Mobilität
nachhaltig gestalten. Es geht darum, wie wir zukünftig
mehr Verkehr von der Straße auf ein modernes europäi-
sches Schienenverbundnetz bringen, wie wir die Ver-
kehrsträger besser miteinander vernetzen und wie wir
neugewonnene Fläche in Stuttgart zu einem hoffentlich
nachhaltigen Innenstadtquartier entwickeln. Wir, das
sind Stuttgart und Baden-Württemberg als leistungs-
stärkste Wirtschaftsregion Europas.

Bei der Schlichtung sind Details und Expertenwissen
zu einer höchstkomplexen Planung auf den Tisch gekom-
men, das öffentliche Interesse war riesengroß – Phoenix
verzeichnete einen Zuschauerrekord.

Heiner Geißler hat in seinem Schlichterspruch vom
30. November 2010 eine Reihe von Kritikpunkten der
Gegner aufgenommen, die bei der weiteren Planung und
Durchführung des Projekts Stuttgart 21 berücksichtigt
werden sollen. Schwachstellen wurden identifiziert, die
beseitigt werden sollen. Das Projekt Stuttgart 21 soll
baulich attraktiver, umweltfreundlicher, behinderten-
freundlicher und sicherer gemacht werden. Im Klartext
heißt das, aus Stuttgart 21 wird Stuttgart 21 plus.

Zum zentralen Ergebnis der Stuttgart-21-Schlichtung
gehört der verordnete Stresstest. Die SPD unterstützt
den Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss die
Deutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahn-
hofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau be-
findliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzen-
stunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann.

Beim Schlichterspruch und Stresstest dürfen Bahn,
Land und Stadt keine politischen Spielchen treiben.
Transparenz hat höchste Priorität.



gegebene Reden

Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)

Die Deutsche Bahn AG muss den Stresstest öffentlich
gestalten und im Dialog mit den Kritikern bleiben. Die
Bahn darf nicht den Eindruck erwecken, hinter ver-
schlossenen Türen zu agieren.

Die Proteste halten trotz der Schlichtung an, zwar
weniger vehement, aber sie finden statt, montags und
samstags mit nachlassender Beteiligung. Daher halten
wir es nach wie vor für unumgänglich, unseren vorge-
schlagen Weg einer Volksabstimmung zu gehen.

Wir alle sind gut beraten, neue Wege der Beteiligung
zu gehen und dafür die rechtlichen Grundlagen zu schaf-
fen. Wir müssen Antworten auf die Frage geben, wie wir
künftig Bürgerbeteiligung bei Großprojekten gestalten.

Wir beschleunigen die Zustimmung zu Projekten
nicht, indem wir weniger Beteiligung möglich machen.
Zustimmung zu Großprojekten kann gewonnen werden,
wenn frühzeitig, umfassend und nachvollziehbar infor-
miert wird, Beteiligungsformen neu entwikkelt und die
Vorschläge aus der Bürgerschaft aufgenommen werden.

Der Ausbau der Rheintalbahn und das Konzept „Ba-
den 21“ der Bürgerinitiativen im Rheintal können hier
Vorbild sein.

Auch wir in den Parlamenten müssen unsere Haus-
aufgaben machen. Lassen wir bei den großen Verkehrs-
projekten das populistische Süppchenkochen! Das Säen
von Misstrauen – so wie jüngst durch das Schnellgut-
achten der Grünen zum Stresstest – und das Surfen auf
der Skandalisierungswelle führen in die Irre und zerstö-
ren das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie.

Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf den
Weiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstim-
mung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojekte
brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem
27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid auf
den Weg gebracht werden kann.

Wir, die SPD, stehen zu S 21 und auch zu S 21 plus.
Wir stehen als SPD aber auch dafür, dass ein derartig
wichtiges Projekt nicht über zehn Jahre hinweg unter
Polizeischutz gebaut wird. Der Schlichterspruch
braucht die demokratische Legitimation, und das geht
nur über einen Volksentscheid.


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1709937200

Eine im Sommer 2010 ziemlich angespannte Situa-

tion um das Projekt Stuttgart 21 wurde in einem modell-
haften Schlichtungsverfahren zu einem für alle Beteilig-
ten annehmbaren Ergebnis geführt. Allen voran gilt
unser Dank der hervorragenden Arbeit des Schlichters
Dr. Geißler. Alle am Schlichtungsverfahren beteiligten
Gruppen haben am 30. November 2010 den Schlichter-
spruch, der auch die Durchführung eines Stresstests for-
dert, akzeptiert. Während der Schlichtung wurde verein-
bart, dass die DB AG den Stresstest unter Begutachtung
der Firma SMA durchführt. Auch damit haben sich alle
Beteiligten einverstanden erklärt. Die DB AG hat be-
reits frühzeitig mitgeteilt, dass der Stresstest nicht hinter
verschlossenen Türen stattfinden wird, wie die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag behauptet. Viel-
Zu Protokoll
mehr werden die Zwischenergebnisse sowie die weitere
Realisierung des Projektes durch ein von der Landesre-
gierung geschaffenes Dialogforum begleitet. Unter Lei-
tung des Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Zen-
trums für Luft- und Raumfahrt (DLR), Professor
Dr. Johann-Dietrich Wörner, wird der partnerschaftli-
che Dialog mit den Projektgegnern fortgesetzt. Mit dem
Forum wird eine Plattform geschaffen, die über den
Austausch hinaus Anregungen und Vorschläge bei der
weiteren Realisierung des Projekts erarbeitet und ein-
bringt. So kann in verschiedenen Dialoggruppen, bei-
spielsweise zur Baubegleitung oder zur Parkgestaltung,
die Umsetzung von Stuttgart 21 aktiv begleitet werden.
Wir sind somit auf einem guten und richtigem Weg.

Gleichwohl dürfen wir uns nicht zurücklehnen, son-
dern müssen die bei Stuttgart 21 aufgezeigten Defizite
im Planungsverfahren aktiv angehen. Wir brauchen bei
künftigen Großprojekten eine verbesserte Transparenz,
kürzere Planungsverfahren sowie zu einem früheren
Zeitpunkt mehr Bürgerbeteiligung. Wir als FDP-Bun-
destagsfraktion haben bereits in einem Positionspapier
„Beteiligung und Erneuerung – 16 Punkte zur Bürger-
beteiligung und Planungsbeschleunigung bei privaten
und öffentlichen Investitionen“ Wege aufgezeigt, wie das
Planungsrecht bürgerfreundlicher gestaltet werden kann,
ohne dabei auf die nötige Infrastruktur zu verzichten.
Denn wir brauchen auch in Zukunft staatliche Infra-
strukturprojekte und große private Investitionsvorhaben
in Deutschland. Forschung und Entwicklung befördern
neue Technologien. Neue Technologien schaffen neue
Industrien, eine schnellere und bessere Bahn mit neuen
Schienenwegen und Bahnhöfen, klimafreundliche Ener-
gie nicht ohne neue Anlagen zur Energiegewinnung und
neue Leitungsnetze.

Wir müssen Bürokratie abbauen und Verfahren ver-
einfachen, um staatliche und private Investitionen zu be-
schleunigen und um zusätzliche Wachstumsimpulse zu
setzen. Zugleich müssen wir weiterhin hohe Umwelt-
schutzstandards gewährleisten sowie mehr Transparenz
der Verfahren und mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen,
um die Akzeptanz für Großprojekte zu verbessern. In
diesem Sinne setzt die FDP-Bundestagsfraktion sich für
einen Paradigmenwechsel ein. Wir wollen einerseits die
Verfahren und Prozesse beschleunigen und andererseits
die Bürger stärker einbeziehen.

Information und Beteiligung ist kein Recht, das der
Staat seinen Bürgern gewährt, sondern das Grundprin-
zip einer freien und liberalen Bürgergesellschaft. Bür-
gerbeteiligung und Planungsbeschleunigung widerspre-
chen sich dabei in einem Rechtsstaat nicht, sondern sie
ergänzen sich. Denn eine frühzeitige Bürgerbeteiligung
bedeutet auch stärkere Akzeptanz, reduziert damit die
Zahl der Klagen und beschleunigt am Ende das Verfah-
ren. Dabei sind eine stärkere Nutzung neuer Medien,
beispielsweise E-Governance, anzustreben und die Öff-
nung des Planungsrechts für Mediationsverfahren sowie
eine stärkere Rolle von Bürgerentscheiden bei der Be-
stimmung der Eckpunkte des Planungsverfahrens her-
vorzuheben. Wir werden dem Deutschen Bundestag in
Kürze die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen.



gegebene Reden

(A) (C)



(D)(B)


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709937300

Zum notwendigen Ausstieg aus dem unterirdischen

Projekt Stuttgart 21 will ich nichts mehr sagen. Es ist
entlarvt, und die Gegenargumente sind publik – dank
der starken Protestbewegung.

Am vergangenen Samstag konnten alle, die es woll-
ten, sehen und hören: Der Widerstand gegen Stutt-
gart 21 wird wieder stärker. Die Irritationen, die es im
Zusammenhang mit dem unverantwortlichen, einseiti-
gen und anmaßenden Schlichterspruch von Heiner
Geißler gab, spielen kaum mehr eine Rolle. Es waren
wieder 50 000, die gegen dieses Projekt, das für die
Stadt und den Schienenverkehr zerstörerisch wirkt, auf
die Straße gingen.

Der Regisseur Volker Lösch hat dort in 600 Sekunden
60 Lügen vorgetragen, die zur Begründung von S 21 an-
geführt werden, und sie widerlegt. Und wie schon bei
vorhergehenden Kundgebungen skandierten die Leute:
„Lügenpack! Lügenpack!“ Das ist es, worüber ich re-
den will.

Selbstverständlich verwende ich nicht den Begriff
„Lügenpack“; aber sowohl die Bundeskanzlerin Frau
Merkel als auch der Verkehrsminister Herr Ramsauer
und der Ministerpräsident Herr Mappus verspielen in
eklatanter Weise politische Glaubwürdigkeit und fügen
damit der demokratischen Kultur Schaden zu. Das
dürfte das Parlament nicht geschehen lassen.

Zunächst zur Kanzlerin, die vor einigen Monaten ve-
hement für das Projekt und gegen ein Bürgerbegehren
gesprochen hat, weil ansonsten die Vertrauenswürdig-
keit Deutschlands bei Investoren und Wirtschaftspart-
nern leide. Dieselbe Frau Merkel hat gerade offenbart,
dass solche Schwarzmalerei mitnichten der Wahrheit
entspricht. Bis vor kurzem hat sie behauptet, dass Atom-
kraftwerke weiterlaufen müssen, weil sonst unsere Ener-
gieversorgung gefährdet sei. Nach dem Super-GAU von
Fukushima und vor den Landtagswahlen wurden jetzt
sieben alte Atomkraftwerke abgeschaltet. Es ist kein
Licht ausgegangen. Aber einigen ging ein Licht auf: Tat-
sächlich ist ein kompletter Ausstieg aus der Atomenergie
möglich. Aber das wurde bestritten, um den Energiekon-
zernen die Extraprofite von 1 Million Euro täglich aus
jedem abgeschriebenen AKW zu sichern.

Übrigens hängt auch die Deutsche Bahn AG in der
Atomseilschaft; sie ist an einem AKW beteiligt und fährt
erheblich mit Atomstrom. Wenn es die Bundeskanzlerin
ernst meinen würde mit ihrer neuen Atomkraftskepsis,
dann müsste sie dem einen Riegel vorschieben; immer-
hin handelt es sich hier um ein Unternehmen, das sich zu
100 Prozent in Bundeseigentum befindet. Die DB AG
muss sich komplett von der Atomenergie verabschieden
und auf regenerative Energien umsteigen! Zudem muss
der Chef von RWE, Jürgen Großmann, den der Ver-
kehrsminister im Aufsichtsrat der DB AG platziert hat,
ausgetauscht werden.

Zweitens zu Bundesverkehrsminister Ramsauer: Er
verweist immer wieder auf die europäischen Güter-
ströme und die großen Verkehrsachsen in Europa. Aller-
dings wissen wir inzwischen alle, dass die S-21-Neubau-
Zu Protokoll
strecke Wendlingen–Ulm mit 35 Promille steiler sein
wird als die Geislinger Steige und dass dort wohl gar
keine Güterzüge fahren werden. Im Rheintal dagegen
oder um Fulda herum müsste dringend ausgebaut wer-
den, damit mehr Güterverkehr auf der Schiene rollen
kann – aber da fehlen die Investitionsmittel. Das heißt:
Die sündhaft teure Neubaustrecke nutzt dem Schienen-
güterverkehr rein gar nichts; im Gegenteil: Sie behin-
dert die Verlagerung von der Straße auf die Schiene.

Aber warum hält Herr Ramsauer daran fest? Er for-
ciert PPP-Projekte, bei denen Autobahnen mit Geldern
privater „Investoren“ finanziert und realisiert werden,
denen dann die Mauteinnahmen zufließen. Aktuell treibt
der Bundesverkehrsminister den sechsspurigen Ausbau
der Autobahn Augsburg–Ulm auf diese Weise voran,
nachdem der Abschnitt München–Augsburg bereits
durch PPP ausgebaut wurde. Als Nächstes wäre in die-
ser Logik der Autobahnausbau Ulm–Stuttgart dran.

Die „Schwäbische Zeitung“ schreibt am 3. Januar
2011:

Privatautobahn: Der Albaufstieg wird teuer. Nach
dem erfolgreichen Pilotprojekt München–Augs-
burg steht nun die Strecke nach Ulm auf dem Pro-
gramm.

Und weiter heißt es zu den PPP-Autobahnprojekten:

Sicher ist: Ohne reichlich Lastwagen rechnet sich
die Sache nicht. Die Investoren reagieren höchst
hellhörig auf jeden Versuch, mehr Güter mit der
Bahn zu transportieren.

Es scheint, dass der Verkehrsminister lügt, wenn er
sagt, dass er die Schiene stärken will. In Wahrheit ist er
„ein Mann der Straße“, wie ihn die „Financial Times
Deutschland“ bei Amtsantritt vorstellte.

Schließlich noch ein Wort zum baden-württembergi-
schen Ministerpräsidenten: Herr Mappus kaufte mit viel
Steuergeld den Atomstromenergiekonzern EnBW. Dabei
spielt ein Mappus-Freund, der Investmentbanker Dirk
Notheis, eine wichtige Rolle. Derselbe Herr Notheis ist
eng mit dem Projekt der Bahnprivatisierung verbunden.
Dazu schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 14. Dezem-
ber 2010:

Mit einem Staatsauftrag, der Notheis besonders am
Herzen lag, war er … 2008 gescheitert: Unter dem
Code-Namen „Oktoberfest“ wollte der Badener ...
die Deutsche Bahn an die Börse bringen.

Eine äußerst unglaubwürdige Zickzackpolitik: Mappus
lässt Baden-Württemberg einen Energieriesen kaufen,
der sich besonders für Atomstrom engagiert. Der Ver-
mittler des Geschäfts ist ein engagierter Bahnprivatisie-
rer. Eine Woche vor der Wahl nimmt man einen Atom-
meiler vom Netz, der auch noch Atomstrom an die Bahn
lieferte. Und was würden Mappus und Merkel nach der
Wahl machen, wenn sie diese ohne allzu große Blessuren
überstehen sollten? Die Mehrheit der Bevölkerung weiß
darauf eine Antwort: Das Ganze ist lediglich ein Manö-
ver – dann gingen die Atomkraftwerke wieder ans Netz.



gegebene Reden

Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)

Übrigens: Am meisten Beifall erhielt Volker Lösch
auf Lüge 59. Sie lautet: Mappus und Merkel behaupten,
der 27. März sei „die Volksabstimmung über S 21“.
Wahr ist, dass der Kampf – unabhängig vom Ausgang
der Wahl – weitergehen wird!

So wie der Laufzeitverlängerungsdeal nicht der Ener-
giesicherheit diente, sondern den Stromkonzernen, die
mit jedem Tag, an dem ein abgeschriebenes AKW wei-
terläuft, 1 Million Euro machen, so dient Stuttgart 21
nicht einem besseren Bahnverkehr, sondern den Tunnel-
bohr-, Beton- und Immobilienkonzernen.

So wie die Bevölkerung bei der Atomkraft getäuscht
worden ist, wird sie bei S 21 belogen. So wie AKW dem
Ausbau erneuerbarer, dezentraler Energien entgegen-
stehen, steht S 21 dem Ausbau einer besseren Bahn im
Weg.

Es ist höchste Zeit für eine andere Politik: Atomkraft-
werke abschalten – jetzt und für immer! Und: Stuttgart 21
abblasen und stattdessen bahnsinnige Alternativen bauen!


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709937400

In der heutigen Debatte zum Umbau des Stuttgarter

Hauptbahnhofs reden wir zunächst über drei Opposi-
tionsanträge vom September 2010, die sich alle, wenn
auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, für einen so-
fortigen Baustopp des Projektes Stuttgart 21 und für
mehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen
und Bürger einsetzen. Darüber hinaus diskutieren wir
einen aktuellen Antrag meiner Fraktion für einen trans-
parenten Stresstest zur Leistungsfähigkeit des unterirdi-
schen Bahnprojektes Stuttgart 21.

Anlass für die Anträge vom September letzten Jahres
waren die monatelangen Proteste und Großkundgebun-
gen der Gegner des Projektes, die seit dem Abriss des
Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs täglich zu
Tausenden kreativ und friedlich gegen Stuttgart 21 de-
monstrierten. Sie stammen also aus der Zeit vor dem
Versuch der baden-württembergischen Landesregierung
am 30. September 2010, mit einem unverhältnismäßig
harten Polizeieinsatz das Projekt gewaltsam durchzuset-
zen, was zur Eskalation der Situation führte. Hunderte
Menschen, die in Stuttgart im Park friedlich gegen die
Baumfällarbeiten der Deutschen Bahn AG demonstrier-
ten, wurden verletzt. Die politische Verantwortung dafür
tragen Ministerpräsident Mappus und Innenminister
Rech, nicht der Polizeipräsident; der trägt seine eigene
Verantwortung als Polizeichef.

Erst dieser Eklat, der in eine bundesweite Diskussion
über die unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeit
bei Großprojekten und die Durchsetzung solcher Pro-
jekte gegen massiven Widerstand aus breiten Schichten
der Bevölkerung mündete, führte dazu, dass Gegner und
Befürworter des Projektes sich an einer Art rundem
Tisch unter Leitung von Heiner Geißler zur sogenannten
Faktenschlichtung trafen. Das führte zur Versachli-
chung der Diskussion und dazu, dass endlich deutlich
mehr – allerdings noch längst nicht alle – Fakten auf
den Tisch kamen, als sie den Parlamenten in Stadt, Land
und auf Bundesebene zuvor je zugänglich gemacht wor-
Zu Protokoll
den waren. Doch ein entscheidender Akteur saß nicht
mit am Tisch. Der Bund bzw. das Bundesverkehrsminis-
terium hielt sich fein raus. Warum eigentlich?

Die Frage stellt sich vor allem, weil der Bund der
Hauptzahler für den Umbau des Bahnknotens Stutt-
gart 21 und für die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm ist.
Dies war ein großer Mangel des Verfahrens; denn so
fanden seine Interessen keinen Eingang in das Schlich-
tungsergebnis. Die Konsequenzen für den Bundeshaus-
halt insbesondere bei der Neubaustrecke Wendlin-
gen–Ulm, die bereits heute eine Deckungslücke von 865
Millionen Euro aufweist, wurden nicht berücksichtigt,
obwohl Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke des Bundes
gar nicht funktioniert, sondern ohne Schienenanschluss
im Nichts stehen würde.

Dabei ist das Schlichtungsergebnis für Stuttgart 21
vernichtend gewesen, und der Bund als Eigentümer der
DB AG und verantwortliche Instanz für den Aus- und
Neubau des bundeseigenen Schienennetzes hätte davon
höchst alarmiert sein müssen, insbesondere was die
Wirtschaftlichkeit des Projektes betrifft. Denn der zen-
trale Satz im Schlichterspruch von Heiner Geißler lau-
tete: „Ich kann den Bau des Tiefbahnhofs nur befürwor-
ten, wenn entscheidende Verbesserungen vorgenommen
werden.“

Mit anderen Worten, Stuttgart 21 in seiner alten Form
ist tot. Es weist eklatante Mängel im Betriebskonzept
auf, und der geplante unterirdische Engpass könnte nur
durch erhebliche, teure Nachbesserungen beseitigt wer-
den. Damit sind neue Planfeststellungsverfahren nötig,
die einen erheblichen Zeitverzug und massive Kosten-
steigerungen bedeuten.

Dies bestätigt unser Misstrauen und die Forderung
unseres Antrages vom September 2010. Ein Baustopp ist
so lange zwingend erforderlich, bis die Wirtschaftlich-
keit und Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 überprüft
wurde. Erst danach kann eine Entscheidung über das
Projekt endgültig gefällt werden.

Doch wie sieht nun diese Überprüfung von Stuttgart 21
nach der Faktenschlichtung in Stuttgart aus? Heiner
Geißler hatte in seinem Schlichterspruch sehr deutlich
gemacht, dass der unterirdische Tunnelbahnhof nur als
Stuttgart 21 plus funktioniert. Deshalb forderte er unter
anderem die Erweiterung des Bahnhofs von ursprüng-
lich acht geplanten Gleisen auf zehn Gleise sowie zahl-
reiche zusätzliche Baumaßnahmen an den Zulaufstre-
cken, und er forderte, dass die DB AG im Rahmen einer
Belastungssimulation eines sogenannten Stresstestes
den Nachweis erbringen müsse, dass Stuttgart 21 über-
haupt in der Lage ist, in Spitzenbelastungszeiten die be-
haupteten 30 Prozent mehr an Kapazität gegenüber dem
bestehenden Kopfbahnhof zu erbringen.

Trotzdem behaupteten DB AG sowie das Land und
seine Partner schon unmittelbar nach der Schlichtung,
die von Geißler geforderten Nachbesserungen seien gar
nicht notwendig. Der Stresstest werde ergeben, dass man
so verfahren könne, wie ursprünglich geplant.

Das ist ja an sich schon bezeichnend, weil damit
quasi das Ergebnis schon vorher feststeht und man den



gegebene Reden





Winfried Hermann


(A) (C)



(D)(B)

vielgelobten Schlichter Heiner Geißler Lügen straft, be-
vor der Stresstest überhaupt vollzogen wurde. Verwun-
derlich ist es jedoch nicht, wenn man weiß, dass die DB
AG den Stresstest hinter verschlossen Türen durchführt
und weder unabhängige Experten noch Kritiker des Ak-
tionsbündnisses daran beteiligt werden sollen. Bei Stutt-
gart 21 soll genauso verfahren werden wie in den Jahren
zuvor. Die DB AG präsentiert Ergebnisse, die auf Zah-
len, Daten und Fakten basieren, die nur der DB AG zu-
gänglich sind und die der Eigentümer Bund und im Falle
von Stuttgart 21 auch die übrigen Projektpartner dann
so glauben müssen. Die angebotene Einsicht im Nachhi-
nein ist keine echte Kontrolle, weil man nicht weiß, was
an Daten eingegeben wurde. Die öffentliche Kontrolle
unterbleibt, obwohl maßgeblich die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler für die Risiken und die damit verbun-
denen Kostensteigerungen aufkommen müssen. Stattdes-
sen werden die Bürgerinnen und Bürger erneut damit
abgespeist, dass das Projekt durch parlamentarische
Beschlüsse legitimiert sei, obwohl diese auf der Grund-
lage fragwürdiger Informationen bzw. besser gesagt
Nichtinformationen zustande gekommen sind.

Das ist für uns in höchstem Maße unglaubwürdig,
und darauf wollten wir uns verlassen. Schließlich muss-
ten wir in den letzten Jahren seit Gründung der DB-Ak-
tiengesellschaft schon viele schlechte Erfahrungen mit
der Informationspolitik des DB-Konzerns sammeln.
Deshalb hat die grüne Landtagsfraktion in den letzten
Wochen eine eigene Studie zur Leistungsfähigkeit von
Stuttgart 21 in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist dra-
matischer als befürchtet. Stuttgart 21 erbringt nur dann
die Leistung, die der unsanierte Kopfbahnhof bereits
heute erbringen kann, wenn alle von Heiner Geißler auf-
gestellten Nachbesserungen vorgenommen werden, also
das sogenannte Stuttgart 21 plus vollständig umgesetzt
wird.

DB AG und das Land wollen also gegen allen gesun-
den Menschenverstand Milliarden sinnlos verschleu-
dern für ein Projekt, das nichts anderes kann als der alte
Bahnhof, nur damit dieser unter der Erde verschwindet.
Und der Bund schaut tatenlos zu.

Und was sind die Konsequenzen? Es werden auf
Jahrzehnte große Teile der Haushaltsmittel für den
Schienenausbau für ein sinnloses Doppelprojekt ver-
schwendet. Sie, liebe Regierungskoalitionäre, nehmen
damit wider besseres Wissen in Kauf, dass der Ausbau
von Projekten mit immenser verkehrlicher und volks-
wirtschaftlicher Bedeutung wie zum Beispiel der Ausbau
der Hafenhinterlandstrecken von den Nordseehäfen in
Richtung Südeuropa deshalb aufgeschoben werden
muss. Für die Folgen nämlich, dass die Güter dort nicht
rechtzeitig auf die klimafreundliche Schiene verlagert
werden können und ab 2017 vor dem dann hervorragend
ausgebauten Gotthardtunnel in der Schweiz im Stau ste-
cken bleiben, sind Sie voll verantwortlich. Ebenso sind
Sie voll verantwortlich, wenn der erst vor wenigen Ta-
gen hier im Hause versprochene anwohnerfreundliche
Ausbau der Rheintalbahn sich noch um Jahrzehnte ver-
zögert, weil die Mittel sinnlos vergraben werden.
Das ist skandalös und verantwortungslos. Und des-
halb kann ich Ihnen nur zurufen: Kommen Sie endlich
zur Vernunft, und stoppen Sie dieses unsägliche Projekt!
Investieren wir in einen zukunftsfähigen Schienenver-
kehr in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709937500

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5172. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/2933 mit dem Titel „Kein Wei-
terbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/2914 mit dem Titel „Stuttgart 21, Neubaustrecke
Wendlingen–Ulm und das Sparpaket der Bundesregie-
rung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/2893 mit dem Titel „Sofortiger Baustopp für
Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.

Zusatzpunkt 11. Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Transparenter
Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts
Stuttgart 21“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5236, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5041 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Markus
Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusver-
kehr

– Drucksache 17/5057 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Reden der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Vogel,
Ulrich Lange, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, Patrick
Döring,


(Beifall bei der FDP)


Thomas Lutze, Dr. Anton Hofreiter.


Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1709937600

Die auf der EU-Ebene beschlossene Verordnung zu

den Fahrgastrechten im Kraftomnibusverkehr regelt alle
nationalen und grenzüberschreitenden Linienverkehrs-
dienste im Langstreckenverkehr bei einer Entfernung ab
250 Kilometer. Sie tritt im Frühjahr 2013 in Kraft, und
die Nationalstaaten haben die Möglichkeit, eine Schon-
frist von vier Jahren mit einer einmaligen Verlängerung,
also insgesamt acht Jahren, zu beschließen.

Folgende wesentliche Regelungen wurden im Ver-
mittlungsausschuss auf europäischer Ebene vereinbart:

Verzögert sich die Abfahrt um mehr als 90 Minuten,
haben die Fahrgäste bei Fahrten mit planmäßiger
Dauer von über drei Stunden Anspruch auf Imbisse und
Erfrischungen. Im Fall einer Unterbrechung der Fahrt,
eines Unfalles oder bei Verspätungen, die eine Über-
nachtung erfordern, muss der Anbieter zusätzlich die
Hotelkosten für maximal zwei Übernachtungen von bis
zu 80 Euro pro Nacht aufkommen.

Wünscht ein Fahrgast, nach einer Reiseantrittsver-
spätung von 120 Minuten von der Reise zurückzutreten,
hat er das Recht auf die volle Fahrpreiserstattung.

Die Verordnung sieht zudem eine Entschädigung in
Höhe von 50 Prozent des Fahrpreises zusätzlich zur Er-
stattung des regulären Fahrpreises vor, wenn ein Anbie-
ter nach einer Verspätung von zwei Stunden eine Fahrt
annulliert und diese auch nicht auf geänderter Strecken-
führung oder mit anderen Transportmitteln durchführen
kann.

Der Anbieter ist nur bei Naturkatastrophen oder ex-
tremen Wetterbedingungen, die eine sichere Weiterreise
unmöglich machen, hiervon befreit.

Für verlorene oder beschädigte Gepäckstücke sollen
Busunternehmen zukünftig mit bis zu 1 200 Euro haften,
es sei denn, die nationale Gesetzgebung sieht höhere
Entschädigungsleistungen vor. Des Weiteren ist eine
Haftungssumme von bis zu 220 000 Euro für Todesfälle
und Verletzungen von Fahrgästen vorgesehen.

Insgesamt wurde eine ausgewogene Lösung im Euro-
päischen Parlament erzielt, die sowohl die Rechte der
Busreisenden schützt und dennoch die Existenz der zu-
meist kleinen und mittleren Busunternehmen sichert.

Der Geltungsbereich der Verordnung umfasst zwar
nur die Touren mit einer Gesamtlänge ab 250 Kilometer,
aber auch Passagiere, die nicht die gesamte Strecke mit-
fahren, genießen den Schutz der Verordnung und haben
somit ein Recht auf Schadenersatz.

Dies gilt auch bei Annullierungen von Reisen, Über-
buchungen oder Verspätungen. Hier muss der Veranstal-
ter zwingend eine andere Lösung zur Fortsetzung der
Reise anbieten oder den Fahrgast auf andere Weise ent-
schädigen.

Eigentlich muss man den Fernbusverkehr nicht für
die Fahrgäste attraktiv machen, denn er ist es bereits.
Die Fahrgäste haben keinerlei Gepäcktransfersorgen,
und sie kommen für deutlich weniger Geld von A nach B
als mit anderen Verkehrsmitteln.

Die Fahrgastrechteverordnung ist unter Mitwirkung
aller Beteiligten rechtmäßig zustande gekommen. Bei
dem Vermittlungsverfahren auf EU-Ebene wurden be-
reits circa 50 Änderungen zum Entwurf des Rates mitge-
teilt und teilweise übernommen. Unter anderem wurde
der Geltungsbereich von 500 auf 250 Kilometer abge-
senkt, und statt der zunächst vorgesehenen drei grundle-
genden Fahrgastrechte sind nun zwölf aufgeführt.

Die Grünen hatten während des gesamten – seit 2005
währenden – Prozesses die Gelegenheit, sich einzubrin-
gen und ihre Argumente vorzubringen.

Die Verordnung sieht nicht ohne Grund davon ab,
alle Fahrgastrechte auf alle Streckenlängen auszuwei-
ten. Von „Rechtlosigkeit“ der Buspassagiere kann keine
Rede sein. Bestimmte Basisrechte – auf Information bzw.
auf Hilfeleistung nach Unfällen – gelten auch unabhän-
gig von der Streckenlänge.

Würden die von den Grünen gemachten Vorschläge
so verwirklicht, hätte dies zur Folge, dass der Fernbus-
verkehr so teuer wäre, dass kaum ein Fahrgast ihn be-
zahlen könnte bzw. wollte, und das wäre dann erst recht
kein verantwortungsvolles Handeln im Interesse der
Verbraucher.

Im Übrigen arbeiten die Unternehmen bereits jetzt
sehr gut mit der im Antrag erwähnten Schlichtungsstelle
für den öffentlichen Personenverkehr e. V. (söp) zusam-
men. Aus deren Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die
Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist.
Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen hier nur vier
den Busverkehr. Dies ist nicht Ausfluss fehlender Fahr-
gastrechte, sondern eher die Folge großer Fahrgastnähe.
Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes
Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, so-
dass diese ihn weiterempfehlen und wiederkommen.

Außerdem dürfte die von den Grünen darüber hinaus
geforderte verpflichtende Beteiligung an einer Schlich-
tungsstelle zwar unter gewissen Voraussetzungen recht-
lich möglich sein. Doch muss dazu deutlich gesagt wer-
den, dass bereits heute, unabhängig vom Verkehrsmittel,
der Zugang zur Schlichtungsstelle gewährleistet ist. Au-
ßerdem wird durch einen Schlichterspruch nicht das
Recht ausgeschlossen werden, auch ein rechtsbindendes
Urteil vor einem staatlichen Gericht erstreiten zu dür-
fen.

Ich bin der Meinung, dass es jetzt erst einmal gilt, die
Regelungen in der Praxis zu beobachten, um dann bei
Bedarf weitere Maßnahmen zu ergreifen.

Ich wünsche den Ausschussmitgliedern intensive und
konstruktive Diskussionen.

(A) (C)



(D)(B)


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1709937700

Der Schutz der Verbraucher ist ein wichtiges Recht in

Deutschland. Auch der Fahrgast muss geschützt werden,
egal ob er mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Bus un-
terwegs ist. Mit ihrem Antrag auf Fahrgastrechte im
Busverkehr suggerieren die Grünen unter dem Deck-
mantel des Verbraucherschutzes, dass Buspassagiere,
die weniger als 250 km reisen, in Deutschland nahezu
rechtlos seien. Dies ist aber nicht der Fall. Auch diese
Busfahrgäste haben viele Rechte, beispielsweise das
Verbot der Diskriminierung von Fahrgästen aufgrund
ihrer Nationalität; das Verbot der Diskriminierung von
Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mo-
bilität sowie finanzielle Entschädigungen bei Verlust
oder Beschädigung ihrer Mobilitätshilfen infolge eines
Unfalls; Mindestvorschriften für die Information aller
Fahrgäste vor und während der Fahrt sowie allgemeine
Unterrichtung über ihre Rechte an den Busbahnhöfen
und über das Internet; Einrichtung eines Verfahrens für
die Bearbeitung von Fahrgastbeschwerden; die Benen-
nung unabhängiger nationaler Stellen in allen Mitglied-
staaten mit dem Auftrag, die Verordnung durchzusetzen
und Verstöße gegebenenfalls zu ahnden.

Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf
die vorhergehende Anfrage der Grünen auf den beste-
henden Rechtsschutz für die Buspassagiere hingewie-
sen. Sowohl im Busreiseverkehr als auch im Linienver-
kehr liegen die Rechte der Fahrgäste und die Haftung
der Unternehmen an der europäischen Spitze.

Wir stehen der europarechtlichen Regelung von
Fahrgastrechten auch im grenzüberschreitenden Bus-
fernlinienverkehr positiv gegenüber. Dieser kann jedoch
nicht eins zu eins auf den Nah- und Regionalverkehr
übertragen werden. Denn während nach Kommissions-
angaben im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr
jährlich europaweit 72,8 Millionen Busfahrgäste beför-
dert werden, waren es 2008 allein im ÖPNV in Deutsch-
land 5,4 Milliarden Busfahrgäste. Dies stellt für die
praktischen, wirtschaftlichen und verwaltungsbezoge-
nen Folgen europaweit verbindlicher individueller
Fahrgastrechte eine völlig andere Dimension dar.

Der Antrag der Grünen ist nicht fachdienlich. Er wird
zu keinen besseren Busverbindungen führen, sondern im
Gegenteil, er würde, wenn er denn durchkäme, zu weni-
ger Wettbewerb und damit zu weniger Verbindungen bei
wesentlich höheren Fahrpreisen führen. Dies wollen wir
nicht. Dies ist mit uns nicht zu machen!

Verspätungen – egal ob in der Bahn, im Flieger, im ei-
genen Auto oder mit dem Bus – sind immer unangenehm.
Aber wir müssen natürlich im Falle einer Verspätung
fragen: Wer hat die Zeitverzögerung verursacht, wer ist
schuld? Wenn ein Stau aufgrund eines Unfalls entsteht,
wenn der Busfahrer bei plötzlich auftauchendem Nebel
oder Blitzeis seine Geschwindigkeit halbieren muss,
kann da der Busunternehmer mit allen Folgekosten in
Regress genommen werden?

Im Gegensatz zu den Bahnen fahren die Busse auf öf-
fentlichen Straßen und nicht auf Sondertrassen. Verspä-
tungen im Busverkehr gehen in der Regel auf Straßen-
und Witterungsverhältnisse zurück. Der Busfernverkehr
Zu Protokoll
ist also in besonderer Weise von Straßenzustand, Ver-
kehrsfluss und Witterung abhängig. Daher ist eine über-
mäßige Haftung für Verspätungsschäden äußerst pro-
blematisch, weil die Verspätungen in der Regel auf
Umständen beruhen, die vom Busunternehmer nicht be-
einflussbar sind.

Die Vorstellung der Grünen vom Busverkehr gehen
an der Realität vorbei. So soll die diskriminierungsfreie
Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten
und mobilitätseingeschränkten Personen zwingend vor-
geschrieben werden. Aber nicht jeder Bus hat eine Hub-
einrichtung, um einem Schwerstbehinderten den Ein-
stieg zu ermöglichen. Das haben nur wenige Busse.
Wollen Sie alle anderen vom Wettbewerb ausschließen?

Die besten Rechte auf dem Papier nützen nichts,
wenn sie praxisfern sind. Ein Kardinalfehler bei Ihnen
von den Grünen ist, dass Sie bei Ihren Überlegungen
nicht die Unternehmer mit ins Boot nehmen. Wie bei
Stuttgart 21 der Fehler gemacht wurde, die Bevölkerung
nicht in die Planungen einzubeziehen, ignorieren Sie die
berechtigten Belange der mittelständigen Busunterneh-
mer und stellen Ihre Forderungen realitätsfremd vom
fernen Schreibtisch aus.

Zu Ihrer Forderung, eine verpflichtende Beteiligung
von Busfernreiseunternehmen an der Schlichtungsstelle
für den öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, vorzuse-
hen, möchte ich Ihnen sagen, dass die Busunternehmen
schon lange sehr gut mit der SÖP zusammenarbeiten. Es
muss nicht alles juristisch vorgeschrieben werden. Ha-
ben Sie etwas Vertrauen in unsere soziale Marktwirt-
schaft. Auch im Busverkehr werden sich langfristig die
kundenfreundlichen Busunternehmen durchsetzen.

Aus dem söp-Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die
Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist.
Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen 1 509 die
Bahn, 98 den Flugverkehr und 4 den Busverkehr. Dies
ist nicht ein Anzeichen für fehlende Fahrgastrechte, son-
dern für große Fahrgastnähe und Kundenzufriedenheit.
Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes
Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, so-
dass diese wiederkommen und ihn weiterempfehlen.

Fahrgastrechte auch im Buslinienverkehr sind wich-
tig. Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Über-
triebene Forderungen führen nur zu weniger Wettbe-
werb, geringerem Angebot und hohen Fahrpreisen. Das
ist nicht im Sinne der Verbraucher und der Fahrgäste.
Treten Sie ein in einen konstruktiven Dialog mit den be-
troffenen Unternehmen, um einen für alle Seiten akzep-
tablen Kompromiss zu finden.


Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1709937800

Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten

sind gesetzlich verankerte Rechte für Verbraucherinnen
und Verbraucher, die wirksam durchgesetzt werden, sehr
wichtig. Wir wollen, dass Kundinnen und Kunden
grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe mit Anbietern von
Dienstleistungen und Produkten am Markt teilnehmen
und agieren können.



gegebene Reden

Ulrike Gottschalck


(A) (C)



(D)(B)

Im Bereich der Fahrgastrechte hat die sozialdemo-
kratische Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries,
in der Großen Koalition das Fahrgastrechtegesetz
durchgesetzt. Es trat am 29. Juli 2009 in Kraft.

Mit diesem Gesetz wurden die deutschen eisenbahn-
rechtlichen Vorschriften an die Verordnung (EG)

Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflich-
ten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr angepasst. Mit
diesem Gesetz wurden die Rechte der Fahrgäste maß-
geblich verbessert und gegenüber den europäischen
Vorgaben erheblich erweitert. Bahnkundinnen und
Bahnkunden erhalten ab einer Verspätung von 60 Minu-
ten einen Anspruch auf Erstattung von 25 Prozent des
Fahrpreises. Bei einer Verspätung ab 120 Minuten er-
halten sie dank dieses Gesetzes einen Anspruch auf Er-
stattung von 50 Prozent des Fahrpreises.

Ein sehr wichtiger weiterer Schwerpunkt dieses Ge-
setzes ist die Möglichkeit für den Fahrgast, eine Schlich-
tungsstelle anzurufen, wenn es zu Streitfällen mit einem
Eisenbahnunternehmen kommt.

Mit dem Gesetz von Brigitte Zypries ist die soge-
nannte Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personen-
verkehr e. V., abgekürzt söp, gegründet worden. Diese
Schlichtungsstelle hat mittlerweile sehr erfolgreiche Ar-
beit geleistet und sich eine parteiübergreifende Anerken-
nung erworben, parteiübergreifend sowohl im poltischen
Spektrum als auch bei Fahrgästen und Verkehrsunter-
nehmen. Die söp kann immerhin eine Schlichtungsquote
von 91 Prozent aufweisen. Und das heißt, dass bei
91 Prozent der Fälle, die von der söp bearbeitet worden
sind, beide Streitparteien den Schlichterspruch der söp
angenommen haben. Oftmals konnte durch einen solchen
Schlichterspruch sogar das Vertrauensverhältnis zwi-
schen Fahrgast und Verkehrsunternehmen wiederherge-
stellt werden.

Aus vielen Informationsquellen weiß ich, dass dieses
System gut gelingt. Die Passagiere kommen an die Ent-
schädigungen, die ihnen zustehen, ohne vorher zeit-,
nerven- und kostenaufwendig vor deutschen Gerichten
zu klagen, was bei einem Streitwert zwischen 50 und
100 Euro und darunter oftmals nicht wirklich ernsthaft
in Betracht gezogen wird. Unter dem Dach dieser
Schlichtungsstelle beteiligen sich heute mehr als
120 Verkehrsunternehmen im Sektor Bahn, Bus, Schiff,
ÖPNV und teilweise auch im Flugbereich freiwillig am
Schlichtungsverfahren.

Dieser Ansatz der verkehrsträgerübergreifenden
Schlichtung schafft Kundenfreundlichkeit, Stärkung der
Verbraucherrechte und gleiche Augenhöhe von Kunden
und Dienstleistern, die in vielen anderen Bereichen nicht
vorhanden ist. Deshalb setzen wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten uns für eine möglichst breite Be-
teiligung der Verkehrsunternehmen am Schlichtungsver-
fahren unter dem Dach der söp ein.

Wir unterstützen den vorliegenden Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen, „Stärkung der Fahrgastrechte im
Fernbusverkehr“, auch in dem Punkt, die verpflichtende
Beteiligung von Busfernreiseunternehmen an der
Zu Protokoll
Schlichtungsstelle söp vorzusehen, wenngleich wir wis-
sen, dass eine verpflichtende Beteiligung bei einem
Schlichtungsverfahren einen Widerspruch in sich selbst
darstellt. Wir hoffen jedoch, durch solch eine pointierte
Formulierung einen Prozess voranzutreiben, um mehr
Verkehrsunternehmen dazu zu bringen, sich der söp an-
zuschließen.

Denn es ist uns doch allen klar, dass ohne die freiwil-
lige Mitarbeit der Verkehrsunternehmen eine Schlich-
tung nicht möglich sein kann. Es liegt auch in der Natur
eines Schlichterspruchs, dass er nur erfolgreich ist,
wenn sich beide Streitparteien daran freiwillig gebun-
den fühlen. Außerdem kommt die Schlichtung immer erst
dann zum Einsatz, wenn der oder die Reisende von dem
betroffenen Verkehrsunternehmen keine befriedigende
Antwort erhalten hat. Die Befürchtung mancher Ver-
kehrsunternehmen, vom Staat in ein Schlichtungsver-
fahren gezwungen zu werden, entbehrt einer realen
Grundlage. Vielmehr gibt es gute Gründe auch für Ver-
kehrsunternehmen, sich freiwillig einem verkehrsüber-
greifenden Schlichtungsverfahren anzuschließen.

Brigitte Zypries hat mit dem von ihr durchgesetzten
Fahrgastrechtegesetz für den Bereich Bahn auch die
Rechte von behinderten Personen und Personen mit ein-
geschränkter Mobilität sehr gestärkt. Das Gesetz
schreibt vor, dass Bahnhöfe, Bahnsteige, Fahrzeuge und
sonstige Einrichtungen für Personen mit eingeschränk-
ter Mobilität zugänglich sein müssen. Wir begrüßen den
Vorstoß der Grünen, mit ihrem vorliegenden Antrag zu
fordern, diese Rechte auch auf den Bereich Bus auszu-
dehnen.

Gerade angesichts der Aktivitäten der Bundesregie-
rung, mit dem seit Januar vorliegenden Referentenent-
wurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle das
Fernverkehrsmonopol der Bahn aufzugeben und ab
2012 einen Fernbusverkehr in Deutschland zulassen zu
wollen, kommt der Stärkung der Fahrgastrechte im Bus-
bereich eine besondere Bedeutung zu.

Der Entwurf zur Personenbeförderungsgesetz-No-
velle der Bundesregierung wird mehr Fahrgäste von der
Schiene auf den Bus umleiten. Die Möglichkeit, Sozial-
und Qualitätsstandards vorzugeben, wird durch den Ge-
setzentwurf ausgehebelt. Eine nichtregulierte Freigabe
des Fernlinienbusverkehrs ohne Mautpflicht und Fahr-
gastrechte ermöglicht den Fernlinienbussen niedrige
Preise, die dem Schienenverkehr Fahrgastverluste und
Streckenstilllegungen bescheren werden. Will man wirk-
lich gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Fernbus
und Fernzug, muss man auch für beide Verkehrsmittel
gleiche Fahrgastrechte vorschreiben.

Schließlich beinhaltet der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt. Ohne
eine Durchsetzung der Verbraucherrechte im Busfern-
verkehr ab dem ersten Kilometer, wie es die Grünen in
dem vorliegenden Antrag fordern, würden nach der ak-
tuell vereinbarten EU-Verordnung über die Fahrgast-
rechte im Omnibusverkehr die Fahrgastrechte erst nach
der Überschreitung einer Reisedistanz von 250 Kilome-
tern gelten. Das heißt, dass für Busse von Aachen nach
Trier, von Luxemburg nach Saarbrücken oder von Berlin



gegebene Reden

Ulrike Gottschalck


(A) (C)



(D)(B)

nach Stettin keinerlei Entschädigungsregeln gelten wür-
den, würden wir die kürzlich verabschiedete EU-Verord-
nung eins zu eins in Deutschland umsetzen. Das können
wir nicht akzeptieren.

Es ist uns bewusst, dass die Forderungen von Bünd-
nis 90/Die Grünen in ihrem vorliegenden Antrag über
den gegenwärtigen Status quo der vorhandenen Fahr-
gastrechte hinausgehen, auch über den Status quo der
Fahrgastrechte, die wir für den Bahnbereich durch das
Fahrgastrechtegesetz von Brigitte Zypries erreicht ha-
ben. Die Grünen fordern Entschädigungsansprüche be-
reits ab 30 Minuten Verspätung und nicht erst ab 60 Mi-
nuten, wie es das Fahrgastrechtegesetz vorsieht. Eine
Forderung des vorliegenden Antrags lautet ebenfalls,
ein verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau
für Fahrgäste zu erreichen. Sollen beide Forderungen,
Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätung
für Busreisende und verkehrsträgerübergreifendes
Schutzniveau für alle Fahrgäste, gleichzeitig umgesetzt
werden, müssten auch die Fahrgastrechte für Bahnkun-
den entsprechend weiter ausgebaut werden.

Wir setzen uns für umfassende Rechte für Fahrgäste
ein; deshalb können wir auch den vorliegenden Antrag
unterstützen. Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang
aber auch, dass wir nicht an jeder einzelnen Forderung
des vorliegenden Antrags mit aller Macht festhalten
werden. Wir können die Stoßrichtung des vorliegenden
Antrags unterstützen; allerdings werden nicht alle For-
derungen dieses Antrags von uns als unabdingbar be-
trachtet. Über die eine oder andere Forderung werden
wir sicherlich noch einmal vertieft diskutieren.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten set-
zen uns für die Stärkung der Rechte der Fahrgäste ein,
haben in Regierungsverantwortung zur Stärkung der
Fahrgäste einiges erreicht und freuen uns, wenn wir, wie
der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
zeigt, in diesem Bereich einen Bündnispartner gefunden
haben.


Heinz Paula (SPD):
Rede ID: ID1709937900

Ich gehe davon aus, dass wir alle eine Stärkung der

Fahrgastrechte im Fernbusverkehr wollen.

Am 15. Februar dieses Jahres hat das EU-Parlament
die Verordnung über Fahrgastrechte im Busverkehr an-
genommen. Nach Stärkung der Fahrgast- und Passa-
gierrechte im Luft-, Eisenbahn- und Schiffsverkehr re-
gelt diese Verordnung erstmalig Fahrgastrechte auch für
den Busverkehr. Dies ist lobenswert!

Allerdings gehen diese Rechte nicht weit genug. Dass
Fahrgastrechte erst ab 250 Kilometer gelten sollen, ist
nicht hinnehmbar. Dass Menschen mit Behinderungen
keine verbindliche Assistenz zusteht, ist beschämend.
Extreme Wetterbedingungen und damit auch höhere Ge-
walt sind nicht genauer definiert und hinterlassen damit
einige Schlupflöcher.

Daher begrüßen wir den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen. Besonders begrüßen wir Verbraucherpolitiker,
dass sie die Fahrgastrechte im Busfernverkehr auf na-
tionaler Ebene stärken wollen.
Zu Protokoll
Wenngleich wir einer Änderung des Personenbeför-
derungsgesetzes aus bekannten Gründen nicht zustim-
men wollen, wird es wohl, sobald die Gesetzesänderung
durch ist, auf deutschen Straßen zu wesentlich mehr
Busfernverkehr kommen. Da müssen wir vorsorgen!

Verbraucherrechte ab dem ersten Kilometer durch-
setzen zu wollen, ist sinnvoll, sofern es sich dabei um
Fernverkehr handelt. Entschädigungsansprüche bei
Verspätungen zu fordern, um ein verkehrsübergreifend
gleiches Schutzniveau zu erreichen, ist ebenfalls sinn-
voll. Allerdings sollte hier genau überlegt werden, ob
man dann nicht auch die Fahrgastrechte verkehrsüber-
greifend anpasst. Das heißt im Klartext: Entschädigung
ab 60 Minuten Verspätung. So ist es auch bei der Bahn
geregelt. Diese Position haben wir bereits in der vergan-
genen Wahlperiode vertreten, und dabei bleiben wir!

Die Forderung, Schadenersatzansprüche auf den tat-
sächlich entstandenen Folgeschaden zu gewährleisten,
betrachten wir eher mit Skepsis. Soll ein Busunterneh-
men wirklich für ein Musicalticket in Hamburg aufkom-
men, wenn der Bus aus Berlin sich verspätet hat?

Das Recht auf Nutzung anderer Verkehrsmittel ohne
zusätzliche Kosten dürfte selbstverständlich sein. Dies
unterstützen wir natürlich.

Ebenso selbstverständlich muss eine diskriminie-
rungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, Seh- und
Mobilitätseingeschränkten sein. Darüber diskutieren
wir nicht.

Eine Beteiligung der Reise- und Fernbusunterneh-
men an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per-
sonenverkehr e. V. fordern wir genauso wie Bündnis 90/
Die Grünen. An dieser Stelle sei eine kurze Aufforderung
an die Fluggesellschaften erlaubt, sich ebenfalls an die-
ser Möglichkeit einer außergerichtlichen Schlichtung zu
beteiligen. Auch das fordern wir seit langem mit Nach-
druck.

Bereits in dem Antrag „Reisende besser schützen“
haben wir Informations- und Vermittlungszentren an al-
len Verkehrsknotenpunkten als kritisch und nicht durch-
führbar angesehen. Wenn Sie das Gleiche nun auch in
Ihrem Antrag zu Fahrgastrechten im Omnibusfernver-
kehr fordern, halten wir das wiederum für nicht durch-
führbar. Gegen eine Evaluierung und Erfassung mit Ver-
spätung oder nicht beförderter Personen im Busverkehr
haben wir nichts einzuwenden. Diese Forderung dürfte
aber so lange vernachlässigbar sein, bis das Personen-
beförderungsgesetz geändert ist. Es ist seit Jahren ein
Grundanliegen der SPD-Fraktion, die Rechte der Ver-
braucher zu stärken; viele Initiativen wurden bereits er-
griffen.

Das Anliegen des Antrages ist richtig. Ich halte eine
Zustimmung aller Fraktionen für wünschenswert.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1709938000

Nach langen und zähen Verhandlungen einigten sich

das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten vor
wenigen Monaten auf die Einführung weitreichender
und europaweit einheitlicher Fahrgastrechte im Busver-



gegebene Reden

Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

kehr. Ebenso wie im Luft- und Eisenbahnverkehr gelten
ab dem Frühjahr 2013 auch für Fahrgäste im nationalen
sowie internationalen Buslinienfernverkehr gleiche Haf-
tungsregeln und Entschädigungsansprüche. Darüber
hinaus werden mit der neuen Verordnung, die in allen
Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht darstellt,
Mindestvorschriften für die Information aller Fahrgäste
vor und während der Reise verankert. Menschen mit Be-
hinderung oder eingeschränkter Mobilität soll zusätzli-
che Unterstützung zukommen. Das sind Ansätze, die ich
sehr begrüße.

Mit der neuen Verordnung wird das europäische Re-
gelwerk schließlich für die Nutzer aller Verkehrsarten
vervollständigt. Doch wie bei so manchem, was aus
Brüssel kommen, steckt auch hier der Teufel im Detail.
Lassen Sie mich nur auf zwei kleine, jedoch nicht minder
wichtige Punkte eingehen:

Der erste Punkt ist das Subsidiaritätsprinzip. Bei grenz-
überschreitenden Linienverkehren scheint es durchaus
sinnvoll, ja sogar wünschenswert, europaweit einheit-
liche Mindeststandards bei den Fahrgastrechten festzu-
legen. Doch im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr
werden in Europa jährlich nur 72,8 Millionen Fahrgäste
befördert. Im deutschen ÖPNV waren es im Jahr 2008
hingegen über 5,3 Milliarden Fahrgäste, die den Bus
wählten. Um die Größenordnung noch einmal zu verdeut-
lichen: Der gesamte grenzüberschreitende Buslinienfern-
verkehr in der Europäischen Gemeinschaft entspricht
gerade einmal 1,4 Prozent des deutschen Buslinienver-
kehrs im ÖPNV. Vor diesem Hintergrund erschließt es
sich mir nicht, warum inländische Busverkehre und ins-
besondere der öffentliche Personennahverkehr aus Brüs-
sel reglementiert werden sollen.

Ferner sei angemerkt, dass die Organisation und Fi-
nanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in
Deutschland gemäß Regionalisierungsgesetz immer
noch den Ländern obliegt. Und natürlich steht es den
nach Landesrecht zuständigen Aufgabenträgern frei, bei
der Umsetzung der Nahverkehrspläne auch über den in
der Verordnung gefundenen Kanon grundlegender Fahr-
gastrechte hinauszugehen.

Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion können kom-
munale Verkehre immer noch am besten dort geregelt
werden, wo sie auch stattfinden, nämlich vor Ort.

Der zweite Punkt, der von der FDP-Bundestagsfrak-
tion stets wachsam und kritisch begleitet wird, ist die
Frage der Verhältnismäßigkeit. Im Rahmen der Novel-
lierung des Personenbeförderungsgesetzes ist die christ-
lich-liberale Koalition gerade dabei, den deutschen
Buslinienfernverkehr zu liberalisieren. Mit diesem ord-
nungspolitisch längst überfälligen Schritt bietet sich die
Chance, Angebot und Qualität des Fernverkehrs in
Deutschland spürbar zu verbessern. Bei der angestreb-
ten Marktöffnung gibt es jedoch zahlreiche Punkte, die
beachtet werden müssen. Insbesondere dürfen wir den
vielen kleinen und mittelständischen Busunternehmern
durch die Auferlegung von Pflichten keine Kosten auf-
bürden, die für die Unternehmen nicht zu überwindende
Marktzutrittsschranken darstellen. Dessen ungeachtet
muss, um auch das mit aller Deutlichkeit zu sagen, der
Zu Protokoll
Staat natürlich regulierend eingreifen, sollte nach der
Liberalisierung ein Marktversagen beobachtet werden.
Aber bitte nicht vorher!

Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst die
Praxis der Verordnung zu beobachten und zu analysie-
ren, ehe wir, wie in dem uns vorliegenden Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, über zusätz-
liche Maßnahmen diskutieren, die weit über die Forde-
rungen der Europäischen Union hinausgehen.


Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709938100

Fahrgäste im Fernbusverkehr genießen weit weniger

Rechte als die Nutzerinnen und Nutzer anderer Ver-
kehrsträger. Auch die jüngsten Festlegungen auf euro-
päischer Ebene bleiben weit hinter dem Notwendigen
zurück. Der rechtliche Schutz für Reisende im Fernbus-
verkehr ist, verglichen mit den übrigen Verkehrsträgern,
der schlechteste. Besonders bei Verspätungen sind die
Regelungen völlig unzureichend.

Mit der Klausel von den „extremen Wetterbedingun-
gen“ hat überdies dieselbe schwammige Formulierung
ihren Weg ins Regelwerk gefunden, die schon im Bereich
des Flugverkehrs fast ausschließlich zum Nachteil der
Kundinnen und Kunden ausgelegt wird. In einem sol-
chen Fall gelten die Fahrgastrechte nicht.

Schätzungen zufolge werden 60 Prozent der Ver-
kehrsnachfrage auf Fernbuslinien aus dem schienenge-
bundenen Verkehr abgezogen. Deshalb ist es gerade im
Hinblick auf die Liberalisierung des Fernbusverkehrs
dringend geboten, auch die Anbieter von Busreisen
rechtlich in die Pflicht zu nehmen. Wettbewerbsvorteile
für den Reiseverkehr auf der Straße dürfen nicht über
die fehlenden Rechte der Fahrgäste gewonnen werden.
Der Fernbusreiseverkehr muss beim Schutz der Fahr-
gäste mindestens mit dem Bahnsektor gleichziehen.

Dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wie
beispielsweise Rollstuhlfahrer, weiterhin von der Nut-
zung von Fernbuslinien ausgeschlossen werden können,
weil eine Beförderungspflicht und eine zwingende ent-
sprechende technische Ausstattung der Fahrzeuge nicht
vorgesehen ist, ist schlicht eine Unverschämtheit. Die
Bundesregierung ist hier in der Pflicht, Art. 9 der UN-
Behindertenrechtskonvention Geltung zu verschaffen
und diskriminierende Barrieren auch im Busfernlinien-
verkehr abzuschaffen.

Der vorliegende Antrag der Grünen greift einige wei-
tere wichtige Punkte zur Verbesserung der Rechtssitua-
tion von Fahrgästen im Fernlinienbusverkehr auf, von
denen die Linke einige unterstützen kann.

Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.


Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709938200

Die Vorteile des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmit-

teln sind unbestritten. Vom Effizienzvorteil des öffent-
lichen Verkehrs profitieren Verbraucher und Umwelt
gleichermaßen. Weniger Energieverbrauch bedeutet we-
niger Mobilitätskosten, weniger Emissionen und weni-
ger Umweltfolgekosten. Und nicht zu vergessen: Öffent-
liche Verkehrsmittel bieten Mobilität für alle, also auch



gegebene Reden





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

für Kinder, Ältere, mobilitätseingeschränkte Personen
und sozial Schwache.

Umso wichtiger ist es, den öffentlichen Verkehr at-
traktiver zu gestalten. Menschen steigen gern auf die öf-
fentlichen Verkehrsmittel um, wenn das Angebot stimmt.
Überall dort, wo ein Angebot neu geschaffen oder nen-
nenswert verbessert wurde, schnellen die Fahrgastzah-
len in die Höhe. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik muss
deshalb der Kunde stehen.

Das bedeutet: Wir brauchen hohe Pünktlichkeitsquo-
ten und einen Taktfahrplan, der schnellstmögliche Ver-
bindungen sicherstellt. Aber auch das Angebot an Bera-
tung und der Service müssen stimmen. Reisen muss für
Eltern mit Kindern, Rollstuhlfahrer, geheingeschränkte
Personen und Reisende mit Gepäck komfortabel sein.
Deshalb ist eine durchgehend barrierefreie Bahninfra-
struktur nicht nur für mobilitätseingeschränkte Perso-
nen wichtig.

Zudem brauchen wir verbindliche, leicht verständli-
che Fahrgastrechte. Denn Fahrgastrechte sind das A
und O für die Verbraucher. Gestärkte Fahrgastrechte be-
deutet, auf Verspätungen rechtzeitig aufmerksam zu ma-
chen, entstandene Schäden in vollem Umfang zu erset-
zen, Ausweichmöglichkeiten frei zur Verfügung zu
stellen sowie verbraucherfreundliche und barrierefreie
Informationspflichten zu Reiseverbindungen, Fahrplä-
nen, voraussichtlichen Störungen und Verspätungen
vorzuschreiben. Fahrgäste dürfen nicht länger mit Mini-
malstandards abgespeist werden.

Doch genau das ist in Deutschland der Fall. Die eu-
ropäischen Regelungen segmentieren nach Transport-
mitteln. Die im Februar erlassene Verordnung über
Fahrgastrechte im Busverkehr sollte Buspassagieren
mehr Rechte bei Verspätungen, Annullierungen oder
ähnlichen Ärgernissen zukommen lassen und die Stan-
dards denen im Bahnverkehr anpassen. Doch die Ver-
ordnung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Im Vergleich zu
den anderen Verkehrsträgern fallen die Rechte für Bus-
reisende am schlechtesten aus.

Ein wirksamer Schutz der Passagiere im europäi-
schen Busverkehr wird vor allem dadurch verhindert,
dass nennenswerte Fahrgastrechte erst bei einer Entfer-
nung von über 250 Kilometern Anwendung finden. Da-
mit gelten für den größten Teil aller Busfahrten in Eu-
ropa effektiv keine umfassenden Fahrgastrechte.
Beschämend ist auch, dass die Rechte der Menschen mit
eingeschränkter Mobilität bescheiden sind: Verbindli-
che Ansprüche auf Unterstützung im Busverkehr wird es
nicht geben.

Schließlich wurde den Busunternehmen ein weiteres
Schlupfloch eröffnet: Im Falle „extremer Wetterbedin-
gungen“ – die nicht genau bestimmt sind – werden die
Fahrgastrechte ausgesetzt. Schon bei der Umsetzung
der Fluggastrechte-Verordnung hat sich gezeigt, dass
diese Klausel eindeutig auf Kosten der Reisenden geht.
Das würde auch die Schaffung unabhängiger Schlich-
tungsstellen, die dringend geboten ist, nicht ausmerzen
können.
Hinzu kommt, dass durch die Ungleichbehandlung
der verschiedenen Verkehrsträger bestehende Wettbe-
werbsverzerrungen weiter verschärft werden. So zahlen
Eisenbahnen – im Gegensatz zu Bussen – nicht nur auf
jedem Streckenkilometer eine Maut in Form von Tras-
senpreisen; vielmehr gelten für die Bahn auch deutlich
stärkere Fahrgastrechte. Gerade vor dem Hintergrund
der in Deutschland anstehenden Liberalisierung des
Buslinienverkehrs ist eine solche künstliche Verzerrung
zwischen zwei konkurrierenden Verkehrsmitteln nicht
akzeptabel.

Eine unserer wichtigsten Forderungen ist daher, die
Verbraucherrechte im Busfernverkehr schon ab dem ers-
ten Kilometer durchzusetzen und Entschädigungsan-
sprüche ab 30 Minuten Verspätung vorzusehen, um ein
verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau für
Fahrgäste zu erreichen.

Von entscheidender Bedeutung ist aber, die diskrimi-
nierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, sehein-
geschränkten und mobilitätseingeschränkten Personen
zwingend vorzuschreiben. Die Bundesregierung verfügt
nach eigener Auskunft weder über aktuelle Informatio-
nen zur Barrierefreiheit von Fernbuslinien, noch beab-
sichtigt sie, die Genehmigung des innerstaatlichen Bus-
fernlinienverkehrs an den Einsatz barrierefreier Busse
zu binden. Dieses Handeln widerspricht ganz klar Art. 9
und 20 der UN-Behindertenrechtskonvention. Zudem
verschärft es noch die Zugangsbedingungen für die öf-
fentlichen Nah- und Fernlinienbusse insofern, als auch
zukünftig in neue Barrieren investiert werden kann.

Wir brauchen verkehrsübergreifende Regelungen, die
das Verbraucherschutzniveau für Kunden des öffentli-
chen Verkehrs bestimmen und gleichzeitig Unternehmen
Planungssicherheit in Bezug auf mögliche Ansprüche
von Kunden geben. Dies muss einerseits auf europäi-
scher Ebene vorangetrieben werden; andererseits sind
verbraucherfreundlichere Strukturen im nationalen Rah-
men durchzusetzen. Die Grünen werden deshalb einen
verkehrsträgerübergreifenden Antrag aufsetzen, in dem,
im Sinne der Verbraucherfreundlichkeit und Barriere-
freiheit, Informationspflichten zu Reiseverbindung,
Fahrplänen, Fahrtverlauf, voraussichtlichen Störungen
und Verspätungen sowie der barrierefreie Zugang zu al-
len Verkehrsträgern festgeschrieben werden.

Auch die Einrichtung einer unabhängigen, verkehrs-
übergreifenden Schlichtungsstelle, wie sie CDU, CSU
und FDP in ihrem Koalitionsvertrag verankert haben,
aber bis heute nicht angegangen sind, ist für die Stär-
kung der Verbraucherrechte im öffentlichen Verkehr un-
abdingbar. Denn Rechte müssen auch durchgesetzt wer-
den können. Sowohl für Unternehmen als auch für die
Reisenden hat sich dieses Verfahren der außergerichtli-
chen Streitbeilegung bei Bahnreisen bewährt. Umso
wichtiger ist es, dieses Angebot für alle Verkehrskunden
bereitzustellen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709938300

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5057 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei
massiv beschränken

– Drucksache 17/5055 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Günter
Baumann, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz,


(Beifall bei der FDP)


Ulla Jelpke,


(Beifall bei der LINKEN)


Wolfgang Wieland.


Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1709938400

Ich möchte, bevor ich mich zu dem beschämenden

Antrag der Linkspartei äußere, unseren Bundespolizis-
tinnen und Bundespolizisten meinen Dank für Ihr großes
Engagement zum Schutz der Bevölkerung aussprechen.

Ich nenne diesen Antrag beschämend; denn Sie, Mit-
glieder der Linken, unterstellen den Beamtinnen und Be-
amten, nicht nur den Tod von Menschen in Kauf zu neh-
men, sondern dies auch noch leichtfertig, expansiv und
unverhältnismäßig zu tun. Diesen Grundgedanken Ihres
Antrags weise ich entschieden zurück.

Die Zahl der im Einsatz verletzten Landes- und Bun-
despolizisten steigt von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2010 wur-
den so viele Bundespolizisten wie noch nie angegriffen,
seit solche Attacken im Jahr 2000 erstmals statistisch
erfasst wurden. 2010 kam es zu über 2 000 Attacken ge-
gen Bundespolizisten. Im Vergleich zu 2009 bedeutet
dies einen Anstieg von 33 Prozent.

Ich nenne hier nur einige Ereignisse: 1. Mai 2008,
Berlin: 103 verletzte Polizisten; 1. Mai 2009, Berlin: 479
verletzte Polizisten; 19. Februar 2011, Dresden: 82 ver-
letzte Polizisten. Hier sprach die Gewerkschaft der Poli-
zei von einer „Explosion der Gewalt durch linksextremis-
tische Straftäter“ gegen die Polizei. Die Beamten wurden
unter anderem mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Fla-
schen beworfen.

Sicherlich demonstriert eine Vielzahl der Menschen
friedlich. Wie jedoch die eben genannten Zahlen zeigen,
ist die Gewaltbereitschaft einiger Demonstranten ex-
trem gestiegen.

Die Anwendung von Pfefferspray ist im Gesetz über
den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Ge-
walt durch Vollzugsbeamte des Bundes, UZwG, geregelt.
Bei der Anwendung von Zwangsmitteln – dies sind nach
Gesetz Hieb- und Schusswaffen, Reizstoffe und Explo-
sivmittel – sind alle in Deutschland Polizeidienst ver-
richtenden Beamtinnen und Beamten streng an den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser
Grundsatz ist kein Novum, denn das UZwG trat im Jahr
1961 in Kraft. Sie fordern in Ihrem Antrag etwas, was
seit 50 Jahren Bestand hat. Deshalb ist der Antrag nich-
tig. Außerdem – das möchte ich hier noch einmal
betonen – steht es jedem, der den Einsatz eines Zwangs-
mittels gegen sich vermeiden möchte, frei, den Anweisun-
gen der Polizei Folge zu leisten.

Es liegt doch in der Natur der Sache, dass Zwangs-
mittel eine Art von Wirkung entfalten müssen, da an-
sonsten der Vollzug der polizeilichen Anordnung gegen
den Widerstand nicht erfolgen könnte. Bei Einsatz der
Pfeffersprays besteht die Wirkung aus einer zeitlich be-
grenzten Reizung der Schleimhäute. Somit schließt der
Einsatz eines solchen Zwangsmittels die Lücke zwischen
einfacher körperlicher Gewalt und dem Einsatz von
Schusswaffen. Vor Einführung des Pfeffersprays bei den
Polizeien der Länder und der Bundespolizei wurden Stu-
dien zur Wirkung und zu eventuellen Gefahren von Pfef-
ferspray durchgeführt.

Es ist kein Todesfall in Deutschland bekannt, bei dem
als Ursache der vorherige Gebrauch von Pfefferspray
nachgewiesen wurde. Auch die in Ihrem Antrag auftau-
chende amerikanische Bürgerrechtsbewegung ACLU
hat entgegen dem Bekunden der Linkspartei eben nicht
festgestellt, dass 26 Personen nach dem Einsatz von
Pfefferspray gestorben sind; vielmehr hat sie festge-
stellt, dass das Pfefferspray nicht die primäre Ursache
der der American Civil Liberties Union bekannten To-
desfälle in Kalifornien zu sein scheint.

Außerdem möchte ich anmerken, dass ich es für sehr
bedenklich halte, wenn man sich für die Begründung des
Antrags auf ein „Gutachten“ stützt, das ein Mitglied der
eigenen Partei verfasst hat.

Es ist immer möglich, dass es bei der Anwendung von
Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt bei dem Betroffe-
nen zu – möglichst vorübergehenden – Beeinträchtigun-
gen kommt. Aber auch hier ist festzuhalten und noch-
mals zu verdeutlichen, dass Pfefferspray nur dann
eingesetzt wird, wenn mildere Zwangsmaßnahmen zur
Durchsetzung der polizeilichen Verfügung keinen Erfolg
haben. Und auch in diesem Fall wird der Einsatz grund-
sätzlich vorher angekündigt, um den Personen die Mög-
lichkeit zu geben, dieses Ereignis durch ihre eigene Ent-
scheidung noch abzuwenden.

Für die polizeiliche Aufgabenstellung ist der Einsatz
von Pfefferspray grundsätzlich völkerrechtlich zulässig.
Pfefferspray ist für den Polizeieinsatz ein geeignetes
Mittel. Technische Weiterentwicklungen machen heutzu-
tage gezieltes Sprühen möglich; somit kann die Gefähr-
dung unbeteiligter Dritter ausgeschlossen werden.
Folglich zielt auch die Gefährdung von unbeteiligten
Dritten bei Demonstrationen als Begründung des An-
trags für ein Verbot von Pfefferspray ins Leere.

Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte kurz resümieren: Pfefferspray ist ein zu-
gelassener Reizstoff, es ist völkerrechtlich zulässig und
wird nur eingesetzt, wenn es erforderlich ist und eine ge-
eignete sowie angemessene Maßnahme ist. Deshalb
bleibt hier nur eine Entscheidung zu treffen: Der Antrag
der Linken ist eindeutig abzulehnen.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1709938500

Die Fraktion Die Linke spricht in ihrem Antrag eine

Problematik an, die in der Tat bei den geschilderten Er-
eignissen in Stuttgart im September des vergangenen
Jahres zutage getreten ist.

Wir alle haben wohl noch die erschreckenden Bilder
vor Augen, wie gegen überwiegend friedliche Demons-
trantinnen und Demonstranten mit unnötiger Härte vor-
gegangen wurde, wobei auch Pfefferspray zum Einsatz
kam. So gibt es Videos, in denen Beamte zu beobachten
sind, die ungezielt bzw. wahllos Pfefferspray einsetzen,
um Demonstrantinnen und Demonstranten zum Verlas-
sen des Ortes zu veranlassen. Hierbei hätte auch einfa-
che körperliche Gewalt, wie zum Beispiel das Wegtra-
gen, als milderes Mittel gereicht.

Das baden-württembergische Polizeigesetz schreibt in
§ 52 Abs. 1 vor, dass das angewandte Mittel unmittelba-
ren Zwangs – und als solches ist der Einsatz von Pfeffer-
spray zu bewerten – nach Art und Maß dem Verhalten,
dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen
sein muss. Wenn, wie in Stuttgart geschehen, auch eine
große Anzahl älterer Leute, junger Familien und Kinder
friedlich an einer solchen Versammlung teilnimmt, dann
ist es offenkundig, dass der Einsatz von Pfefferspray ge-
gen diese Personen nicht verhältnismäßig ist.

Deshalb beantragte die SPD-Fraktion im Landtag
von Baden-Württemberg den Untersuchungsausschuss
„Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30. September
2010 im Stuttgarter Schlossgarten“, der die politische
Verantwortung für den harten Polizeieinsatz offenlegen
sollte. Diese Verantwortung trägt nach Ansicht der
SPD-Fraktion der Ministerpräsident Mappus, der bei
einer Vorbesprechung die Entscheidung an sich zog und
den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray
billigte – so das Ergebnis des Untersuchungsausschus-
ses.

Aus meiner polizeilichen Arbeit kenne ich den Einsatz
von Pfefferspray sehr wohl, allerdings immer nach dem
Grundsatz, einfache körperliche Gewalt dem Einsatz
schwerwiegenderer Hilfsmittel vorzuziehen. Vordring-
lich dient er im Rahmen des unmittelbaren Zwangs dazu,
Gefahren abzuwehren und den Schusswaffengebrauch
zu vermeiden. Diese Einsatzweise findet im Wesentli-
chen im Einzeldienst Anwendung und soll einen Störer
vorübergehend angriffsunfähig machen. Hierbei ist
selbstverständlich zu beachten, nicht auf die Augen des
Betroffenen zu zielen.

Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem
Antrag, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen
zu verbieten, die sich in Ansammlungen wie einer De-
monstration oder bei einem Fußballspiel befinden. Das
halte ich für übertrieben und nicht zielführend. Schließ-
Zu Protokoll
lich erlaubt auch das Gesetz über den unmittelbaren
Zwang, UZwG Bund, in § 10 Abs. 2 den Schusswaffenge-
brauch gegen eine Menschenmenge. Der Einsatz von
Schusswaffen ist ein viel schärferes Mittel als der Ein-
satz von Pfefferspray und mit deutlich größerer Gefahr
für Leib und Leben verbunden. Deshalb muss es möglich
bleiben, unterhalb des Schusswaffengebrauchs über ein
polizeiliches Einsatzmittel zu verfügen.

Die Forderung nach einer massiven Einschränkung
geht zu weit. Bedingte Einschränkungen halte ich für
ausreichend. Diese sind aber in den Polizeigesetzen der
Länder bereits enthalten. Auf § 52 Abs. 1 Polizeigesetz
Baden-Württemberg wurde bereits hingewiesen.

Ferner ist im UZwG des Bundes und der Länder der
Einsatz von Zwangsmitteln detailliert geregelt und un-
terliegt stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,
der über allen polizeilichen Handlungen „schwebt“.
Verstöße gegen diese Bestimmungen bei Einsätzen der
Polizei sind natürlich zu verfolgen und müssen gegebe-
nenfalls strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Ein Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem
hier vorgelegten Inhalt ist deshalb nicht erforderlich.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1709938600

Es ist schon erstaunlich, dass die Fraktion Die Linke

in ihrem Antrag so tut, als lebten wir in einem Polizei-
staat, in dem Polizisten wahllos und willkürlich den Tod
von Menschen hinnehmen, um sich das Leben leichtzu-
machen. Das finde ich schon ein starkes Stück!

Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland, seien
sie von der Bundespolizei oder von den Polizeien der
Länder, die sich im Prinzip jedes Wochenende bei Groß-
veranstaltungen für die Gewährleistung der Sicherheit in
Gefahr begeben und die bei Demonstrationen oft genug
verletzt werden, sind doch nicht die, die sich vor allem
mit Rechtsbruch hervortun; im Gegenteil.

Aber auf einen Antrag der Linksfraktion, in dem klar-
gestellt und auch eingefordert wird, dass vom Versamm-
lungsrecht Gewalt nicht umfasst ist, können wir wahr-
scheinlich lange warten. Da wird mit zweierlei Maß
gemessen; im Grunde wird hier überhaupt ganz maßlos
argumentiert: Wenn Steine auf Polizisten geworfen wer-
den, machen Sie die Augen zu und behaupten hinterher
noch, dass die armen Demonstranten bestimmt von der
bösen Polizei provoziert wurden. Wenn aber Polizistin-
nen und Polizisten gegen Randalierer vorgehen, dann
soll ihnen nach Meinung der Linken am besten nur noch
erlaubt sein, Rechtsbruch mit Streicheleinheiten zu be-
kämpfen. Das kann aber nicht funktionieren. Das ist mit
unserem Rechtsstaat auch nicht vereinbar.

Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland sind
an Recht und Gesetz gebunden, und Sie müssten eigent-
lich ganz genau wissen, wie eng und strikt das Regelwerk
ist, innerhalb dessen Einsätze der Polizei stattfinden. Im-
merhin regiert die Linkspartei ja bedauerlicherweise in
einigen Bundesländern und hat dort die Verantwortung
für die Polizei. Da frage ich mich: Darf die Polizei in
Berlin zum Beispiel bei Naziaufmärschen oder bei den
1.-Mai-Steinewerfern solche Teilnehmer von Demonstra-



gegebene Reden

Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

tionen, die das Recht brechen, nur durch exzessives Ku-
scheln dazu bewegen, sich an Recht und Gesetz zu hal-
ten? Nein, natürlich nicht. Die Polizei muss die
Möglichkeit haben, unseren Rechtsstaat zu schützen.

Ich erinnere daran, dass die Linke im Grunde möchte,
dass der Polizei vollkommen die Hände gebunden sind:
Wasserwerfer finden Sie schlecht, Wegtragen finden Sie
schlimm, Schlagstöcke dürfen nicht eingesetzt werden,
Schutzkleidung von Polizisten finden Sie provokant usw.
usf. Am Ende müssen Sie sich fragen, ob Sie überhaupt
wollen, dass es in einem Rechtsstaat eine Polizei gibt.

Es ist selbstverständlich richtig, dass innerhalb eines
klaren Regelwerks die Polizei notfalls auch mit unmittel-
barem Zwang reagieren kann. Dabei muss die Durchset-
zung des staatlichen Gewaltmonopols in unserem
Rechtsstaat natürlich immer an den Regeln der Verhält-
nismäßigkeit orientiert sein. Zudem muss jede Maß-
nahme – und das ist ja auch der Fall – nachprüfbar sein.

Die Linke will hier den Eindruck erwecken, dass ge-
nau diese Richtschnur fehlt. Dabei kann man über dieses
Thema ja durchaus ernsthaft und in Ruhe diskutieren.
Auch der Landtag in Baden-Württemberg befasst sich in
seinem Untersuchungsausschuss mit dem Einsatz von
Pfefferspray.

Natürlich muss jedes Einsatzmittel der Polizei immer
wieder auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft werden.
Natürlich müssen auch neue Erkenntnisse in diese Be-
wertung einbezogen werden, vor allem wenn diese sich
auf gesundheitliche Gefahren beziehen.

Aber zu einer ernsthaften Befassung gehört auch,
dass man festhält, dass Pfefferspray nicht generell Men-
schen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Ver-
letzung bringt. In aller Regel ist es vielmehr so, dass es
sich um ein Mittel handelt, das gerade ohne dauerhafte
Schädigung der Durchsetzung unmittelbaren Zwangs
dient. Das heißt nicht, dass man es nicht immer wieder
hinterfragen muss; auch das gehört selbstverständlich
in unserem Rechtsstaat dazu.

Eine ernsthafte Debatte darüber würde ich gerne füh-
ren. Aber auf dem Niveau, auf das die Linke sich hier be-
gibt, ist das nicht möglich.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709938700

Die Fraktion Die Linke will den Einsatz von Pfeffer-

spray durch die Bundespolizei massiv beschränken.
Denn Pfefferspray bzw. sein chemischer Ersatz ist eine
gefährliche, unter Umständen tödliche Waffe. Nicht von
ungefähr steht auf den Sprühgeräten, die man im Waf-
fenladen kaufen kann, eindeutig, dass sie nur gegen
Tiere eingesetzt werden dürfen. Doch eine Ausnahme
gibt es: Die Polizei darf auch Menschen mit Pfeffer-
spray besprühen.

Und da müssen wir leider feststellen, dass die Polizei
keineswegs nur in Fällen akuter Notwehr zum Pfeffer-
spray greift. Vielmehr haben wir gerade im vorigen Jahr
gesehen, dass Pfefferspray zum ganz normalen Mittel ei-
nes Polizeieinsatzes geworden ist und flächendeckend
Zu Protokoll
und massiv gegen Demonstranten, Fußballfans oder
Einzelpersonen eingesetzt wird.

Wie unverhältnismäßig diese Einsätze oftmals sind,
erwies sich zum Beispiel am 30. September vorigen Jah-
res in Stuttgart, als die Menschen, die gegen das Milliar-
dengrab Stuttgart 21 protestiert haben, massiv mit Pfef-
ferspray beschossen wurden. Noch schlimmer war es
dann beim Castortransport im November. Dort hat al-
leine die Bundespolizei fast 2 200 Sprühdosen ver-
braucht. Insgesamt waren Hunderte von Verletzten zu
beklagen. Die Fraktion Die Linke hält es für absolut un-
verantwortlich und undemokratisch, so mit Demon-
stranten umzuspringen.

Denn gerade beim Einsatz gegen größere Menschen-
mengen nehmen die Einsatzführungen und die politisch
Verantwortlichen zwangsläufig in Kauf, dass auch völlig
unbescholtene Bürger in Mitleidenschaft gezogen wer-
den. Und wir reden hier nicht nur von Verletzten. Wir
können vielmehr von Glück reden, dass es bei diesen
Einsätzen keine Toten gegeben hat.

Denn Pfefferspray ist eben nicht das handliche, nütz-
liche Allroundmittel, als das es benutzt wird. Vielmehr
ist Pfefferspray eine potenziell tödliche Waffe, der schon
Dutzende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Das
ist wissenschaftlich längst erwiesen; nur hat bislang nie-
mand die politische Schlussfolgerung daraus gezogen.
Dazu hat dieses Parlament nun durch unseren Antrag
die Gelegenheit.

Inwiefern ist Pfefferspray hochgefährlich? Man kann
generalisierend sagen: Kerngesunde Menschen können
das Reizgas mehr oder weniger wegstecken. Verletzun-
gen an den Schleimhäuten, insbesondere an den Augen,
tragen auch sie davon; aber Langzeitschäden haben sie
meist nicht zu befürchten. Doch bei gesundheitlich vor-
belasteten Menschen sieht das ganz anders aus: Wer
unter Asthma leidet, bestimmte Allergien hat, Psycho-
pharmaka nehmen muss, dauerhaft Kokain oder Amphe-
tamine konsumiert oder eine Herz-Kreislauf-Schwäche
hat, für den wird der Kontakt mit Pfefferspray extrem
gefährlich. Am schlimmsten sind dabei die möglichen
Reaktionen eines allergischen Schocks, die entstehen
können. In Stellungnahmen des US-Justizministeriums,
aber auch beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundes-
tages ist nachzulesen, dass es dieses Risiko gibt. Alleine
in den letzten zwei Jahren waren in Deutschland mindes-
tens fünf Todesopfer zu beklagen. Selbst die Bundesre-
gierung sagt:

Bei bestimmungsgemäßer Exposition von gesunden
Personen sind in der Regel keine bleibenden ge-
sundheitlichen Schäden zu erwarten.

Das hat sie auf eine Kleine Anfrage von uns geant-
wortet. Damit bestätigt sie verklausuliert, dass kranke
Personen sehr wohl gefährdet sind. Doch die tödlichen
Risiken und Nebenwirkungen bezeichnet sie zynisch als
„Einzelrisiken“. Die Linke meint allerdings: Ein Mittel,
das den Tod hervorrufen kann, darf, wenn überhaupt,
nur extrem zurückhaltend eingesetzt werden.

Niemand kann Situationen ausschließen, in denen
eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben existiert



gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

und der Einsatz von Pfefferspray gegen einen Gewalttä-
ter als akute Notwehr vertretbar erscheint. Viele Frauen
führen es mit sich, um sich gegen angreifende Männer
wehren zu können. Aber es darf einfach nicht sein, dass
solche Reizgase gegen Menschen eingesetzt werden, die
friedlich protestieren. Nehmen wir Stuttgart 21: Die
Räumung des Schlossparks ohne Pfefferspray hätte viel-
leicht ein paar Stunden länger gedauert. Aber was ist
schon die mögliche Verzögerung dieses unsinnigen Bau-
projekts gegen das Risiko, durch wahllosen Pfeffer-
sprayeinsatz schwerste Gesundheitsschäden zu verursa-
chen? Denn es kann doch keiner ausschließen, dass
unter den Demonstranten etliche Menschen mit Asthma
oder Allergiker sind. Das Gleiche gilt für den Protest ge-
gen den Castortransport. Auch der Einsatz gegen soge-
nannte Randalierer, die eventuell nur einfache Ruhestö-
rungen verursachen, muss unterbunden werden. Denn
gerade weil solche Personen häufig Drogen konsumiert
haben, ist Pfefferspray für sie unvergleichlich viel ge-
fährlicher.

Wir können mit unserem Antrag nur den Pfefferspray-
einsatz der Bundespolizei einschränken. Es ist für uns
ein Gebot der politischen Vernunft, aber auch schlicht
der Gesundheit, auf Länderebene nachzuziehen. Ge-
nauso wenig, wie man in Menschenmengen mit Schuss-
waffen hineinschießen darf, darf man sie mit Pfeffer-
spray überziehen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709938800

Seit Jahrzehnten gehören Reizstoffe wie Pfefferspray

zur gängigen Ausrüstung der Polizei. Eingeführt wurden
sie als das „mildere Mittel“. Wo früher Schlagstöcke
oder die Schusswaffe eingesetzt werden mussten, sollte
nun die Chemie die Ausübung des unmittelbaren Zwangs
auf schonendere Weise ermöglichen. Sei es bei Großein-
sätzen oder bei Festnahmen von Gewalttätigen, man
hoffte, mit CN/CS-Gas – vulgo: chemische Keule – Ver-
letzungen und Schlimmeres vermeiden zu können.

Wir mussten lernen: Auch CN/CS-Gas kann zu erheb-
lichen Verletzungen führen, von leichten Verätzungen
über ernsthafte Schäden an Augen und Schleimhäuten
bis hin zu schwersten Komplikationen bei bestimmten
Vorerkrankungen. Dabei trifft es nicht selten auch den,
der es einsetzt. Es ist also keine geeignete Waffe zum
Beispiel bei Gegenwind.

Das jetzt gebräuchliche Pfefferspray sollte alle diese
Probleme lösen. Aber dieser Wunsch ging nicht in Erfül-
lung. Denn auch bei den heute üblichen Reizstoffen
kommt es zu teils erheblichen Verletzungen, selbst wenn
sie gesunde Menschen treffen. Richtig gefährlich kann es
aber für Menschen mit Asthma oder bestimmten Aller-
gien sowie in Wechselwirkung mit Medikamenten oder
manchen Drogen werden. Dann drohen akute Atemnot
und Ersticken, Organschäden oder gar der Tod.

Das mag nicht häufig passieren; aber hier gilt: Jeder
Schwerverletzte ist einer zu viel, und Tote darf man
schon gar nicht in Kauf nehmen. Polizeiliche Mittel dür-
fen nicht schwere Verletzungen in Kauf nehmen; das ge-
bietet die Verhältnismäßigkeit. Das gilt bei der ganz
konkreten, auf eine bestimmte Person zielenden Aus-
übung von Zwang, und das gilt auch, wenn sich die Poli-
zei großen, aggressiven Gruppen gegenübersieht. Ge-
rade in diesem Fall ist nicht zu erkennen und nicht
vorher zu ermitteln, wer eine Allergie hat, wer von
Asthma betroffen ist oder wer bestimmte Krankheiten
hat. Besonders hier kommen die Risiken von Pfeffer-
spray also voll zum Tragen.

Verbieten klingt wie eine einfache Lösung. Wer das
fordert, muss schon sagen, welchen Ersatz er anbieten
kann. Durch die Menge jagende Reiterstaffeln können es
ja wohl nicht sein. Deshalb gilt: Wir brauchen aussage-
kräftige, ehrliche Studien zum Pfefferspray. Wir brau-
chen gegebenenfalls Alternativen. Pfefferspray ist offen-
bar nicht das erhoffte „mildere Allheilmittel“.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709938900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5055 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Inge Höger, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Beachtung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
bei dem Evakuierungseinsatz in Libyen

– Drucksache 17/5175 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Stopp der Überwachung des libyschen Luft-
raums durch AWACS-Luftfahrzeuge

– Drucksache 17/5176 –

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
Brand, Dr. Wolfgang Götzer, Lars Klingbeil, Dr. Rainer
Stinner,


(Beifall bei der FDP)


Inge Höger,


(Beifall bei der LINKEN)


Volker Beck.


Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1709939000

Die Evakuierung deutscher und anderer Staatsange-

höriger aus Libyen durch unsere Bundeswehr am
26. Februar 2011 war richtig und erfolgreich. Dafür
danken wir den Soldatinnen und Soldaten sehr. Die Eva-
kuierung duldete angesichts einer humanitären Notlage
keinen Aufschub, zumal Gefahr im Verzug wahr.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wur-
den insgesamt 132 Personen mit zwei Bundeswehrflug-
zeugen vom Typ C-160 Transall evakuiert, darunter
22 deutsche Staatsbürger. An Bord waren laut Auskunft

Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)

der Bundesregierung – Bundestagsdrucksache 17/5002
vom 11. März 2011 – neben der Transall-Besatzung ins-
gesamt 20 Soldaten der Bundeswehr, 8 Feldjäger und
12 Fallschirmjäger. In den Luftfahrzeugen wurden dem-
nach Pistolen P8 und P7, Gewehre G3ZF, G36 sowie
MG3 mitgeführt.

Die Transportflugzeuge starteten und landeten auf
Kreta. Mit an Bord waren seinerzeit Sicherungskräfte;
als Landezone diente der im Osten Libyens gelegene
Flughafen Nafurah. Bereits am 22. und 23. Februar
hatte die Bundeswehr nach eigenen Angaben insgesamt
130 EU-Bürger ausgeflogen, darunter 103 Deutsche.

Neben Deutschland haben auch weitere Staaten wie
zum Beispiel die USA, China, die Türkei, Frankreich,
Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande, Por-
tugal Österreich, Rumänien und Bulgarien eigene
Staatsbürger evakuiert.

Weiter geht aus der Antwort der Bundesregierung
hervor, dass die an der Evakuierung deutscher Staats-
bürger beteiligten Kräfte der Bundeswehr, die uns heute
hier im Hohen Hause beschäftigen, durch das Einsatz-
führungskommando geführt wurden und der Einsatz der
Kräfte auf Anforderung des Krisenstabes des Auswärti-
gen Amtes erfolgte.

Die Obleute der Fraktionen im Verteidigungsaus-
schuss wurden beim Rückflug am 25. Februar nach der
Trauerfeier in Regen für die in Afghanistan getöteten
Soldaten von Herrn Generalinspekteur Wieker über die
bevorstehende Evakuierung unterrichtet, der SPD-Ob-
mann telefonisch.

Nach erfolgreichem Einsatz wurden die Vorsitzenden
der Bundestagsfraktionen am 25. Februar spätabends
und am nächsten Tag von Außenminister Westerwelle te-
lefonisch unterrichtet; die Vorsitzenden, stellvertretenden
Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und Verteidi-
gungsausschusses wurden am 26. Februar schriftlich
durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr
und im Verlauf des 27. Februar durch die Staatssekre-
täre des Auswärtigen Amtes und des BMVg telefonisch
über den Verlauf der durchgeführten Evakuierungen un-
terrichtet. Darüber hinaus erhielt der genannte Perso-
nenkreis am 4. März eine schriftliche Unterrichtung.

Der Bundestag ist vor Beginn und während des Ein-
satzes in geeigneter Weise unterrichtet worden.

Die beteiligten Soldaten waren nach Auskunft des
Verteidigungsministeriums angewiesen, die Waffen nur
zur Selbstverteidigung und Nothilfe sowie erforderli-
chenfalls zur Durchsetzung der Evakuierung einzuset-
zen.

Zur rechtlichen Bewertung ist die Feststellung von
erheblicher Bedeutung, dass seitens der Bundesregie-
rung die klare Erwartung bestand, dass die mitgeführten
Waffen nicht würden eingesetzt werden müssen.

Das Parlamentsbeteiligungsgesetz findet nur bei ei-
nem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Aus-
land Anwendung. Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist
nicht anzunehmen, wenn eine Einbeziehung deutscher
Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Unterneh-
Zu Protokoll
mung nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und
den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen
nicht zu erwarten ist.

Dies war bei den in der Vorbemerkung der Bundesre-
gierung und der Antwort auf die Frage 1 dargestellten
Flügen zur Evakuierung deutscher und Staatsbürger an-
derer Länder der Fall. Aufgrund der gegebenen Bedro-
hungslage bestand zum Zeitpunkt der entsprechenden
Entscheidungen die klare Erwartung, dass die eingesetz-
ten Soldaten durch libysche Kräfte nicht bedroht sind,
ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen und mithin
nicht in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen wer-
den würden. In diesem Zusammenhang wird auf die Aus-
führungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Ur-

(BVerfGE 121, 135; AWACSEinsatz Türkei)

qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaff-
nete Auseinandersetzungen zur parlamentarischen Zu-
stimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes deut-
scher Soldaten (Bundestagsdrucksache 17/5002).

Dass der Deutsche Bundestag die Wahrung seiner
Rechte einfordert und auf deren Einhaltung pocht, ist
schlicht seine Pflicht. Daran darf es keinerlei Abstriche
geben.

Im vorliegenden Falle verweise ich auf die obige ju-
ristische Würdigung. Den Antrag der Fraktion Die
Linke lehnen wir ab.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1709939100

Am 26. Februar dieses Jahres wurden 132 Personen,

die sich in einer äußerst schwierigen humanitären Lage
befanden, mit zwei geschützten Transall-Maschinen aus
dem Raum Nafura evakuiert und außer Landes ge-
bracht.

Die Transall-Maschinen wurden von insgesamt 20 deut-
schen Soldaten begleitet, die zum Zwecke der Selbstver-
teidigung Waffen mit sich führten. Klare Erwartungshal-
tung von Beginn der Evakuierungsaktion an war, dass es
zu keinem Einsatz der mitgeführten Waffen kommen
werde.

Die Linke vertritt nun gemeinsam mit der SPD und den
Grünen die Auffassung, dass der Evakuierungseinsatz der
nachträglichen Genehmigung durch den Bundestag be-
dürfe, weil es sich um einen Einsatz bewaffneter Streit-
kräfte im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes han-
dele.

Diese Auffassung ist rechtlich unzutreffend. Dass dies
durchaus auch der Linken bewusst ist, zeigt sich an der
relativ geduldigen Zurückhaltung, mit der die Fraktion
auf den angeblich rechtswidrigen Bundeswehreinsatz
reagiert hat. Möglicherweise möchte die Linke aber
auch angesichts bevorstehender Landtagswahlen einen
humanitären Rettungseinsatz nicht als rechtswidrig ver-
urteilen.

Umso verwunderlicher ist jedoch die Kritik von den
Grünen und der SPD, sollten diese doch mittlerweile die
Voraussetzungen des Parlamentsvorbehalts kennen,
nachdem sie es waren, die im Jahr 2003 mit dem Einsatz



gegebene Reden

Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

deutscher Soldaten in AWACS-Aufklärungsflugzeugen
über der Türkei gegen die Verfassung verstoßen haben.

Die Evakuierungsflüge vom 26. Februar dieses Jah-
res jedenfalls waren verfassungsrechtlich zulässig. Die
Einholung eines vorherigen oder nachträglichen Man-
dats des Bundestages nach dem Parlamentsbeteili-
gungsgesetz war und ist nicht erforderlich. Bei der Maß-
nahme handelte es sich um keinen Einsatz bewaffneter
Streitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG, da nach der
erfolgten Lageeinschätzung der Bundesregierung aus
Ex-ante-Sicht nicht zu erwarten war, dass die Soldaten
in bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden
würden.

Im Jahr 2008 stellte das Bundesverfassungsgericht in
seinem sogenannten AWACS-II-Urteil fest, dass dies
aber das entscheidende Merkmal ist. Im Urteil heißt es
dazu, dass ein Auslandseinsatz der Bundeswehr im
Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nur dann ge-
geben ist, wenn – unabhängig von der Bewaffnung der
entsandten Soldaten – „die Einbeziehung deutscher Sol-
daten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu
erwarten ist“. Die „bloße Möglichkeit“ – diese musste
bei der Luftevakuierung aus Nafura als Vorsichtsmaß-
nahme einkalkuliert werden und führte zu der Entsen-
dung bewaffneter Soldaten – „reicht hierfür nicht aus“,
so Karlsruhe.

Sowohl das Bundesverteidigungsministerium als
auch das Auswärtige Amt gingen vor Beginn der Luft-
evakuierung davon aus, dass die entsandten deutschen
Soldaten ihre Waffen nicht einsetzen werden, denn es lag
keine konkrete Gefährdungslage vor. Weder das Win-
tershall-Lager in Nafura noch die zu evakuierenden Per-
sonen dort waren konkret bedroht. Allerdings befanden
sie sich in einer humanitären Notlage, da ihre Vorräte
zur Neige zu gehen drohten und es unmöglich war, das
Lager auf dem Landweg zu verlassen.

Im Übrigen wurde das Gaddafi-Regime über die Ak-
tion vorab informiert. Die fehlende Reaktion konnte als
konkludente Zustimmung gewertet werden.

Auch die Tatsache, dass nur zwei leicht gesicherte
Flugzeuge und lediglich 20 leichtbewaffnete Soldaten
zur Evakuierung von immerhin 132 Menschen entsandt
wurden, zeigt, dass die Bundesregierung tatsächlich nie
von einer konkreten Bedrohungslage ausgegangen ist
und auch nicht ausgehen musste, sodass kein bewaffne-
ter Einsatz im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG vorlag.

Zu dem Antrag der Linken, der sich auf den AWACS-
Einsatz mit deutscher Beteiligung im Mittelmeerraum
bezieht, ist Folgendes zu sagen:

Nachdem sich die westliche Allianz nun auf eine
Schlüsselrolle der NATO im Libyen-Einsatz geeinigt hat,
wird die Bundesregierung 300 deutsche Soldaten, die
Besatzungsmitglieder von AWACS-Aufklärungsflugzeu-
gen sind, nach Afghanistan schicken, um die NATO-
Partner im Libyen-Einsatz zu entlasten. Gleichzeitig
werden alle deutschen Soldaten vom NATO-Einsatz im
Mittelmeer abgezogen. Der Grund dafür ist, dass nicht
auszuschließen ist, dass Bilder der AWACS-Aufklä-
Zu Protokoll
rungsflugzeuge für einen operativen Einsatz verwendet
werden.

Es bestehen somit im Sinne des AWACS-II-Urteils aus
dem Jahr 2008 „greifbare tatsächliche Anhaltspunkte
für eine drohende Verstrickung“ der Soldaten, die der-
zeit im Rahmen von OAE im Mittelmeer tätig sind, „in
bewaffnete Auseinandersetzungen“, die in Umsetzung
der UN-Resolution zur Einhaltung der Flugverbotszone
geführt werden.

Nach diesem AWACS-II-Urteil ist ein Mandat des
Bundestages erforderlich, sobald solche „greifbaren
tatsächlichen Anhaltspunkte“ bestehen. Die Schiffe, die
sich im Rahmen von OAE im Mittelmeer befinden, wer-
den aus demselben Grunde nationalem Kommando un-
terstellt und abgezogen.

Der Antrag der Linken ist damit gegenstandslos.


Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1709939200

Die Frage, ob der Evakuierungseinsatz in Libyen

Ende Februar dieses Jahres unter das Parlamentsbetei-
ligungsgesetz fällt, lässt sich auf folgende Frage redu-
zieren: War zu erwarten, dass die Soldatinnen und Sol-
daten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen
werden oder nicht?

Wenn eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unter-
nehmung zu erwarten ist, dann handelt es sich nach § 2
Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes um einen
Einsatz im Sinne desselben. Dies hätte zwar nicht zur
Konsequenz gehabt, dass das Parlament im Vorhinein
dem Einsatz zustimmen muss, denn nach § 5 des Parla-
mentsbeteiligungsgesetzes ist eine nachträgliche Zu-
stimmung des Deutschen Bundestages möglich.

Unter Abs. 1 steht dort:

Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub
dulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmung
des Bundestages. Gleiches gilt für Einsätze zur Ret-
tung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen,
solange durch die öffentliche Befassung des Bun-
destages das Leben der zu rettenden Menschen ge-
fährdet würde.

Es besteht kein Zweifel, dass dieser Fall in Libyen
eingetreten war. Ich bin daher auch der Überzeugung,
dass die Bundesregierung klug und im Sinne aller ge-
handelt hat. Es war wichtig und notwendig, die Evakuie-
rung durchzuführen. Wir alle haben uns bei denen zu be-
danken, die diese Maßnahme durchgeführt haben.

Dass Absatz 2:

Der Bundestag ist vor Beginn und während des
Einsatzes in geeigneter Weise zu unterrichten.

ebenfalls erfüllt wurde, berichtete mir der außenpoliti-
sche Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Mützenich.

Der letzte Absatz in § 5 regelt jedoch, wie im Nach-
gang mit dem Parlamentsvorbehalt umzugehen ist:

Der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz ist unver-
züglich nachzuholen. Lehnt der Bundestag den An-
trag ab, ist der Einsatz zu beenden.



gegebene Reden

Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)

War die Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh-
mung in Libyen also zu erwarten, so hätte die Bundesre-
gierung zeitnah die Zustimmung des Parlaments bean-
tragen müssen.

Wenn die Bundesregierung davon ausgegangen ist,
dass eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh-
mung nicht zu erwarten war, dann benötigt dieser Ein-
satz nach § 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nicht
die Zustimmung des Bundestages. Die Frage ist also:
Konnte die Bundesregierung davon ausgehen, dass
keine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu
erwarten war?

Die mediale Berichterstattung lässt diesen Schluss
nicht wirklich zu. Es war von bis zu 1 000 Soldaten im
Einsatz zu lesen. Sechs Transall-Maschinen, drei Schiffe
und zwei Fregatten waren im Einsatz. Die Berichterstat-
tung darüber ließ den Schluss zu, dass der Einsatz als
äußerst riskant einzuschätzen war und daher auch
streng geheim durchgeführt wurde.

Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehr
überrascht als die mediale Berichterstattung, ist die Do-
kumentation des Einsatzes durch die Bundesregierung
selbst. Auf dem Internetauftritt des Bundesministeriums
der Verteidigung ist zum Einsatz – dort als Operation
Pegasus betitelt – unter anderem zu lesen:

Die Landung im völlig unüberschaubaren Krisen-
gebiet war für die Soldaten nicht ohne Risiko. Es
bestand die Gefahr, dass der libysche Diktator,
Muammar al-Gaddafi, die besetzten Ölanlagen der
Stadt bombardieren und so auch die dort tätigen
Europäer gefährden könnte. Was die Soldaten nach
der Landung in einem vom Bürgerkrieg erfassten
Land erwartet, ist unklar.

Weiter schreibt das BMVg:

Über Angst sprechen die Soldaten nicht. Sie haben
Respekt vor ihrer Aufgabe, weil sie nie genau wis-
sen, was auf sie zukommt. Die Stimmung könnte
plötzlich umschlagen, selbst Angriffe sind nicht
auszuschließen.

In einem Video auf der Seite beschreibt ein Soldat die
Gefahrenlage und die damit verbundenen Risiken. So
wurden die Soldaten darauf vorbereitet, dass in Libyen
möglicherweise Luftabwehrraketen eingesetzt werden
würden.

Dies alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass
sehr wohl das Risiko einer Einbeziehung in eine bewaff-
nete Unternehmung bestand. Die Einschätzung der Lage
durch die Soldaten im Einsatz dürfte auch dem BMVg
und dem Auswärtigen Amt und somit der Bundesregie-
rung vorgelegen haben und vorliegen. Es ist daher
meine Auffassung, dass nach dem Parlamentsbeteili-
gungsgesetz der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz
durch die Bundesregierung unverzüglich nachzuholen
ist.

Im Jahr 1997 führte die Bundeswehr einen ähnlichen
Einsatz durch. Mit der Operation Libelle wurden deut-
sche Staatsbürger aus Albanien ausgeflogen. Ob die Ge-
fahrenlage zu vergleichen ist, müssen Experten entschei-
Zu Protokoll
den; der Hintergrund des Einsatzes war jedoch
vergleichbar. Bei der Operation Libelle kam es zu einem
Schusswechsel auf dem Flugplatz, die Einbeziehung in
eine bewaffnete Unternehmung war also gegeben und
der Bundestag hat im Nachgang dem Einsatz zuge-
stimmt. Ich halte es jedoch für sehr problematisch, die
Parlamentsbeteiligung davon abhängig zu machen, ob
es wirklich zu einem Beschuss kam oder ob nur die Ge-
fahr dafür bestand.

Warum die Bundesregierung dem Antrag auf Zustim-
mung zum Einsatz nicht nachkommt und weiterhin auf
dem Standpunkt beharrt, dass es sich um einen humani-
tären Einsatz ohne Risiko einer Einbeziehung in eine be-
waffnete Unternehmung handelte, ist für mich daher un-
verständlich.

Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass ein sol-
cher nachträglicher Antrag im Deutschen Bundestag
eine breite Zustimmung finden würde. Es handelt sich
hierbei ja um einen Einsatz zur Evakuierung deutscher
und anderer europäischer Staatsbürger.

Zweitens müssen wir Politiker unseren Worten auch
Taten folgen lassen. Über alle Parteigrenzen hinweg
stellen wir immer wieder die Wichtigkeit und Besonder-
heit der Parlamentsarmee heraus. Zu Recht, denn sie
hat nicht nur ihre geschichtliche Existenzberechtigung,
sondern sie ist auch eine große Errungenschaft. Auch
wenn der Parlamentsvorbehalt oft gescholten wird, bin
ich der Überzeugung, dass die Streitkräfte der Zukunft
weiterhin vom Parlament kontrolliert werden müssen.
Nur so stellen wir sicher, dass ihr Einsatz durch demo-
kratische Willensbildung zustande kommt. Anstatt dies
mit Leben zu füllen, versteckt sich die Regierung hinter
der Auslegung und der Interpretation von Paragrafen.
Ich bin der festen Überzeugung: Im Zweifel sollte sich
die Regierung parlamentsfreundlich verhalten.

Drittens geht es mir um die Glaubwürdigkeit von
Politik. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine
breite Unterstützung in der Öffentlichkeit haben, wenn
es darum geht, deutsche Staatsbürger aus Krisengebie-
ten zu evakuieren. Wenn die Einschätzung des Auswärti-
gen Amts und des BMVg nun in diesem Fall ergeben,
dass für die Evakuierung bewaffnete Soldatinnen und
Soldaten im Einsatzgebiet vonnöten sind, dann steht ih-
nen das als verantwortliches Ressort zu. Wenn wir nun
aber auf der einen Seite stets betonen, dass in Deutsch-
land das Parlament über den Einsatz von Soldaten im
Ausland entscheidet, auf der anderen Seite aber Bilder
von bewaffneten Soldaten in Libyen auftauchen und kein
Beschluss des Bundestages vorliegt bzw. beabsichtigt
ist, haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1709939300

Die Anträge der Linken sind vollkommen überflüssig

und falsch. Wir brauchen zu diesem Thema nun wirklich
keinerlei Nachhilfe durch eine Fraktion, die sich bei
Klagen zu Bundeswehreinsätzen vor dem Bundesverfas-
sungsgericht reihenweise schallende Ohrfeigen abge-
holt hat. Nun wollen Sie Ihre absurde Rechtsauffassung,
mit der Sie in Karlsruhe ausnahmslos gescheitert sind,
gegebene Reden




Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

hier im Bundestag anbringen, aber hier werden Sie ge-
nauso scheitern.

Selbstverständlich beachtet die Bundesregierung
peinlich genau das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ein li-
beral geführtes Außenministerium ist die beste Gewähr
dafür. Wir Liberale haben nach dem rot-grünen AWACS-
Einsatz während des Irakkrieges eine Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht eingereicht und, im Gegen-
satz zu den Kollegen der Linken, vollumfänglich Recht
bekommen.

An genau diesem Urteil orientiert sich auch das Han-
deln der Bundesregierung, und zwar in beiden Fällen: In
einem Antrag fordern Sie die schon erfolgte Beendigung
der Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten an dem
AWACS-Einsatz zur Überwachung des libyschen Luft-
raums. Die Bundesregierung hat dies in exakt dem Mo-
ment getan, als die Operation begann, eine bewaffnete
Unternehmung im Sinne des Parlamentsbeteiligungsge-
setzes zu werden. Das ist eine völlig konsequente, strin-
gente und verfassungsgemäße Handlungsweise. Des-
halb ist dieser Antrag überflüssig.

Ihr anderer Antrag, der die Nachmandatierung des
Evakuierungseinsatzes in Libyen fordert, ist schlicht und
ergreifend falsch. Aus der Urteilsbegründung zum
AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt
sich völlig unstreitig, dass der Evakuierungseinsatz in
Libyen eben kein bewaffneter Einsatz im Sinne des Par-
lamentsbeteiligungsgesetzes war und deshalb auch nicht
vom Deutschen Bundestag mandatiert werden muss. Ich
empfehle Ihnen, dieses Urteil noch einmal gründlich zu
lesen. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Be-
gründung:

Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung
deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinanderset-
zungen besteht, wenn sie im Ausland Waffen mit
sich führen und ermächtigt sind, von ihnen Ge-
brauch zu machen. Denn es kann dadurch je nach
dem Verlauf des tatsächlichen Geschehens dazu
kommen, dass die Bewaffnung in die Anwendung
von Waffengewalt mündet. Solange es sich aller-
dings rechtlich nur um eine Ermächtigung zur
Selbstverteidigung handelt und der Einsatz selbst
einen nicht-militärischen Charakter hat, ist, wie der
Senat bereits festgestellt hat, die Schwelle der Zu-
stimmungsbedürftigkeit nicht schon durch diese Er-
mächtigung erreicht.

Bei der Evakuierung hat es sich ohne jeden Zweifel
um einen Einsatz mit nichtmilitärischem Charakter in
diesem Sinne gehandelt. Dass die Bundesregierung eine
zusätzliche Sicherheitskomponente mit dem Recht zur
Selbstverteidigung mitgeschickt hat, spricht dem nicht
entgegen, wie das Gericht ausdrücklich feststellt. Wir
sollten auch wirklich nicht dazu kommen, der Bundesre-
gierung Vorwürfe zu machen, wenn sie sich für noch so
unwahrscheinliche Eventualitäten vorbereitet.

Auch vor Ihrer weiteren Argumentation kann ich Sie nur
warnen: Sie sehen in der Unterrichtung der Fraktionsvor-
sitzenden durch die Bundesregierung vor dem Einsatz ei-
nen Beweis dafür, dass es sich um einen zu mandatierenden
Zu Protokoll
Einsatz handelt. Das ist natürlich völlig lächerlich. Ich
halte es für ausgesprochen angemessen, dass die Bundesre-
gierung – unabhängig von irgendeiner rechtlichen Ver-
pflichtung – das Parlament informiert, wenn sie deutsche
Staatsbürger aus einer Situation evakuiert, die alle Schlag-
zeilen des Tages bestimmt hat. Wollen Sie wirklich in einer
solchen Lage lieber nicht informiert werden? Das kann
doch nicht Ihr Ernst sein. Ich bedanke mich ganz aus-
drücklich beim Auswärtigen Amt und bei Außenminister
Westerwelle für die konstruktive und offene Informa-
tionspolitik zu dieser Operation.

Die FDP-Fraktion lehnt also beide Anträge mit sehr
guten Gründen ab und empfiehlt der Fraktion der Lin-
ken, sich einmal zu den verfassungsrechtlichen Gege-
benheiten von Bundeswehreinsätzen unterrichten zu las-
sen, aber bitte nicht durch die Rechtsvertreter, mit denen
Sie in der Vergangenheit in Karlsruhe ständig geschei-
tert sind.


Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709939400

Seit dem 19. März 2011 führt eine „Koalition der Wil-

ligen“ kriegerische Angriffe auf libysches Territorium
durch. Bei der Verabschiedung der Resolution 1973 des
UN-Sicherheitsrates, die als Legitimation für die Bom-
bardierungen dient, hat sich die deutsche Regierung
enthalten. Sie hat ebenfalls klargemacht, dass sich
Deutschland nicht an dieser Operation beteiligen wird.
Die Linke begrüßt es, dass in diesem Fall deutsche Au-
ßenpolitik etwas besonnener ist, als wir es aus anderen
Krisengebieten dieser Welt kennen.

Allerdings war die deutsche Regierung gerade im Vor-
feld der internationalen Angriffe auf Libyen keineswegs
militärisch abstinent. In der Operation Pegasus wurden
unter Beteiligung von bis zu 1 000 Bundeswehrsoldaten,
darunter schwer bewaffnete Sondereinheiten, Zivilisten
aus Libyen evakuiert. Die Marine hat mit drei Schiffen und
700 Soldaten 450 Menschen, die aus Libyen nach Tunesien
geflohen waren, nach Ägypten gebracht. Die „Tages-
schau“ spekulierte damals, dass „die Guttenberg-geschüt-
telte Bundesregierung … schöne Fernsehbilder und
Schlagzeilen von geretteten Ägyptern auf einer deutschen
Fregatte“ benötigte, denn mit ein bis zwei zivilen Flugzeu-
gen wäre der Transport in wesentlich kürzerer Zeit möglich
gewesen. Zudem waren mehr als 70 deutsche Soldaten als
Besatzungsmitglieder beteiligt an der Überwachung des
libyschen Luftraums im Vorfeld des Krieges, also bis zum
19. März, vielleicht sogar bis zum 22. März. Erst am
22. März hat die Bundesregierung ihre Beteiligung an
den entsprechenden Verbänden offiziell aufgekündigt.

Für zwei dieser Militäroperationen – für die Opera-
tion Pegasus und für die Überwachung des libyschen
Luftraums im Vorfeld des Krieges – wäre eine Mandatie-
rung des Einsatzes durch den deutschen Bundestag not-
wendig gewesen. Leider hat die Bundesregierung weder
vor dem Einsatz den Bundestag beteiligt, noch hat sie
dies im Nachhinein getan. Hierdurch wurden und werden
gesetzlich garantierte Rechte der Parlamentarierinnen
und Parlamentarier missachtet. Das Parlaments-
beteiligungsgesetz regelt ganz eindeutig, dass das Parla-
ment – und nicht die Regierung – verantwortlich ist für



gegebene Reden

Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)

die Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streit-
kräfte.

Brigadegeneral Volker Bescht machte in einem Inter-
view in der Zeitschrift „Bundeswehr Aktuell“ ausführ-
lich klar, dass keineswegs mit einem reibungslosen Ver-
lauf der Operation zu rechnen war:

Die Gefahren stellten die Flugabwehrsysteme auf
libyscher Seite dar … Es stellte sich auch die
Frage, wer den Luftraum kontrolliert … Außerdem
war offen, wie sich die libysche Marine bei unserem
Eintritt in die Hoheitsgewässer verhalten wird.

Unklar war auch, welche Kräfte die Region kontrol-
lieren, aus der evakuiert wurde. Folglich war es allein
eine Frage des Zufalls, dass die Mission tatsächlich
friedlich verlief. Es handelt sich also um eine bewaffnete
Unternehmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Parlamentsbetei-
ligungsgesetz. Selbst wenn sich die Bundesregierung
hier auf Gefahr im Verzug beruft, müsste sie dem Bun-
destag im Nachhinein unverzüglich ein Mandat vorle-
gen. Dies ist jedoch nicht geschehen und nicht beabsich-
tigt. Wir müssen also feststellen: Die Bundesregierung
setzte 1 000 Soldaten in einem Kontext ein, in dem mit
bewaffneten Auseinandersetzungen zu rechnen war, und
behauptet dennoch, dass daran das Parlament nicht zu
beteiligen sei. Dies ist für die Linke völlig inakzeptabel.

Noch kühner wird die Argumentation der Regierung
bei der Überwachung des libyschen Luftraums durch
deutsche AWACS-Besatzungsmitglieder. Einerseits gab
Staatssekretär Christian Schmidt bei der gestrigen Fra-
gestunde zu, dass auf Daten, die bei dieser NATO-Ope-
ration erhoben wurden, natürlich auch sämtliche NATO-
Mitglieder Zugriff haben. Andererseits meint Staatsekre-
tär Werner Hoyer, er könne ausschließen, dass dadurch
ein Beitrag für die „exekutiven Handlungen“ – so kann
man Bombardierung auch nennen – geleistet worden
wäre. Nach NATO-Angaben überwachten AWACS-Sys-
teme seit dem 7. März rund um die Uhr den libyschen
Luftraum. Schmidt weiß aber nur von Überwachungs-
maßnahmen ab dem 12. März. Schon längere Zeit vor
dem 19. März war absehbar, dass es zu einer internatio-
nalen Militärmission kommen würde, mit der eine Flug-
verbotszone über Libyen durchgesetzt werden sollte.
Trotzdem hatte die Bundesregierung keine Bedenken,
sich an einer Unternehmung zu beteiligen, bei der nie-
mand ausschließen kann, dass sie eben doch der Vorbe-
reitung kriegerischer Angriffe diente. In gewisser Weise
taten sowohl Staatssekretär Hoyer als auch sein Kollege
Schmidt in der gestrigen Fragestunde so, als wären sie
am 19. März völlig überrascht davon gewesen, dass Li-
byen angegriffen wurde und als hätte es erst ab diesem
Monat eine Veranlassung gegeben, die deutsche AWACS-
Besatzung abzuziehen. Es war jedoch schon Tage vorher
absehbar, dass hier eine militärische Eskalation bevor-
stand.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits am 7. Mai
2008 ein Präzedenzurteil gefällt, das sich auf einen ver-
gleichbaren Fall bezog. Damals wurde festgestellt, dass
die Bundesregierung im Jahr 2003, im Vorfeld des Irak-
krieges, ein Bundestagsmandat für den Einsatz von
AWACS-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung hätte
Zu Protokoll
vorlegen müssen. Auch damals ging es „nur“ um die
Überwachung des Luftraums des NATO-Partners Tür-
kei. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist im-
mer dann ein Bundestagsmandat nötig, wenn „greifbare
tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstri-
ckung in bewaffnete Auseinandersetzungen“, so die
Randnote 78 der Urteilsbegründung, vorliegen. Diese
Anhaltspunkte gab es während der gesamten Zeit der
Beteiligung deutscher Soldaten an der Überwachung
des libyschen Luftraums.

Alles in allem missachtet die Bundesregierung syste-
matisch die Rechte des Parlaments. Die Absicht dahin-
ter haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitions-
vertrag längst aufgezeigt: Sie planen Änderungen des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Die Folge wäre, dass
die Kontrollrechte des Parlaments weiter eingeschränkt
werden, sodass in vielen Fällen nur noch ein kleines
ausgewähltes Kontrollgremium über die Realität der je-
weiligen Militärschläge informiert wird und entscheidet.
Auf diesem Wege wird die Bundeswehr Stück für Stück
zur Regierungsarmee. Die Linke sagt zu dieser Entwick-
lung klar und entschieden Nein. Die Linke wird dafür
kämpfen, dass über deutsche Militärpolitik nicht hinter
verschlossenen Türen entschieden wird.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709939500

Es ist schon erstaunlich, dass die Bundesregierung ein

ums andere Mal Nachhilfe in Fragen der Parlamentsbe-
teiligung benötigt. Die Beteiligung des Parlaments ist
keine lästige Pflichtaufgabe, wie es die Bundesregierung
zu sehen scheint, sondern sie ist in einer Demokratie der
Ausdruck und die notwendige Folge der Gewaltentei-
lung. Dieses grundlegende rechtsstaatliche Prinzip aber
verletzt die Bundesregierung immer wieder aufs Neue.

Die Bundesregierung möchte die Evakuierungsmis-
sion Nafurah, auch bekannt als Operation Pegasus,
nicht nachträglich mandatieren. Der Bundesminister
des Auswärtigen vertritt in einem Schreiben an mich die
Auffassung, dass es sich bei der Evakuierungsmission
um einen humanitären Einsatz gehandelt habe, der nicht
mandatierungspflichtig sei. Der Einsatz sei mit der kla-
ren Erwartung verbunden gewesen, dass die Soldaten
ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen. Deswegen
müsse nicht gemäß § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteili-
gungsgesetzes der Bundestag beteiligt werden; es greife
die Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2.

Diese Rechtsauffassung ist falsch. Es war die Bun-
destagsfraktion der FDP, die im Jahr 2003 eine Organ-
klage beim Bundesverfassungsgericht einreichte, weil
sie das Parlament im Zuge des damals beschlossenen
AWACS-Einsatzes im Irak-Konflikt nicht ausreichend
einbezogen gesehen hatte. Das Bundesverfassungsge-
richt gab der FDP-Fraktion in einem wegweisenden Ur-
teil vom 7. Mai 2008 Recht. Nun will der Außenminister,
der damals einer der Kläger war, nichts mehr davon
wissen. Er missachtet die Rechte des Deutschen Bundes-
tages, die Pflichten der Bundesregierung, und er miss-
achtet auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
ein dem Parlamentsvorbehalt unterliegender Einsatz



gegebene Reden

Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

bewaffneter Streitkräfte dann vorliegt, wenn deutsche
Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmun-
gen einbezogen sind. Eine Parlamentsbeteiligung sei
entgegen der engen Auffassung, die in dem damaligen
Verfahren von der Bundesregierung vertreten wurde,
nicht erst bei tatsächlicher Anwendung von bewaffneter
Gewalt notwendig. Andererseits lässt das Gericht die
bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu be-
waffneten Auseinandersetzungen kommt, auch nicht
genügen. Es verlangt eine sogenannte qualifizierte Er-
wartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinander-
setzungen. Der Unterschied der qualifizierten Er-
wartung von der bloßen Möglichkeit bewaffneter
Auseinandersetzungen soll zum einen darin liegen, dass
es greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass
ein Einsatz nach seinem Zweck, den konkreten politi-
schen und militärischen Umständen sowie den Einsatz-
befugnissen in die Anwendung von Waffengewalt mün-
den kann. Zum anderen sollen eine besondere Nähe der
Anwendung von Waffengewalt erforderlich und die Ein-
beziehung unmittelbar zu erwarten sein. Anhaltspunkte
für die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten sieht
das Bundesverfassungsgericht gegeben, wenn diese im
Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von
ihnen Gebrauch zu machen.

Unter diese höchstrichterlichen Vorgaben muss jetzt
der tatsächliche Sachverhalt subsumiert werden. Man
sollte meinen, dass dies insbesondere für einen Juristen
wie den Bundesminister des Auswärtigen kein Problem
darstellt. Zur Sachverhaltsdarstellung empfiehlt sich ein
Blick auf die Homepage derer, die den Einsatz durchgeführt
haben: auf die Seite www.bundeswehr.de. Generalleutnant
Rainer Glatz, der Befehlshaber des Einsatzführungskom-
mandos der Bundeswehr und damit verantwortlich für den
Evakuierungseinsatz, wird dort mit folgenden Worten zi-
tiert:

Wir haben Glück gehabt, denn diese Evakuierungs-
operation war nicht unkritisch.

und weiter:

Mit ihrem Einsatz in einer durchaus unübersichtli-
chen Situation haben die Soldatinnen und Soldaten
Gefahr für Leib und Leben deutscher und ausländi-
scher Staatsbürgerinnen und -bürger abgewendet.

Am Ende des Berichts heißt es:

Der stellvertretende Kommandeur der Division
Spezielle Operationen, Brigadegeneral Volker
Bescht, war der Führer des Einsatzverbandes vor
Ort und stellte fest, dass die Sicherheitslage zu kei-
ner Zeit unterschätzt werden durfte. Obwohl beide
Flüge angemeldet waren, galt die Lage insgesamt
als kritisch.

Wenn die Bundeswehr selber angibt, sie habe Glück
gehabt und die Lage sei kritisch gewesen, wenn voll be-
waffnete Fallschirmjäger und Feldjäger im Einsatz sind
und ein Verband aus knapp 1 000 Soldatinnen und Sol-
daten aufgestellt werden muss, dann bestand nicht ein-
fach nur die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Ein-
satz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt,
Zu Protokoll
sondern dann gab es die qualifizierte Erwartung, dass
der Einsatz in die Anwendung von Waffengewalt würde
münden können. Es handelte sich bei der Operation
Pegasus demnach um einen Einsatz bewaffneter Streit-
kräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 des Parlamentsbe-
teiligungsgesetzes und eben nicht um einen Ausnahme-
tatbestand nach § 2 Abs. 2.

Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil
fest, dass angesichts der Funktion und Bedeutung des
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts seine
Reichweite nicht restriktiv bestimmt werden dürfe. Viel-
mehr sei der Parlamentsvorbehalt im Zweifel parla-
mentsfreundlich auszulegen. Insbesondere könne das
Eingreifen des Parlamentsvorbehalts nicht von den poli-
tischen und militärischen Bewertungen und Prognosen
der Bundesregierung abhängig gemacht werden. Geht
es noch deutlicher?

Angesichts dieser klaren Rechtslage ist die Weige-
rung der Bundesregierung unverständlich. Noch unver-
ständlicher wird sie, wenn man berücksichtigt, dass der
Bundesminister des Auswärtigen selber die Fraktions-
vorsitzenden des Deutschen Bundestages vor dem Ein-
satz ausdrücklich gemäß § 5 Abs. 2 des Parlamentsbe-
teiligungsgesetzes informierte. § 5 trägt die Überschrift
„Nachträgliche Zustimmung“. Wie kann der Minister
diese nachträgliche Zustimmung verweigern, wenn er
doch ausdrücklich nach dieser Vorschrift handelte?

Um eins klarzustellen: Meine Fraktion unterstützt
den Evakuierungseinsatz inhaltlich. Doch wir sorgen
uns angesichts solch rechtsstaatlicher Ignoranz um die
Rechte des Deutschen Bundestages. Das Parlamentsbe-
teiligungsgesetz formuliert in § 5 Abs. 3 Satz 1 einen Im-
perativ: „Der Antrag auf Zustimmung ist unverzüglich
nachzuholen“. Insofern meint der Antrag der Fraktion
Die Linke das Richtige; doch eigentlich ist es nicht die
Aufgabe des Parlaments, die Bundesregierung zur Ein-
haltung ihrer genuinen Pflichten aufzufordern. Nichts-
destotrotz werden wir diesem Antrag zustimmen, auch
wenn dieses Verfahren eigentlich nicht vorgesehen ist.
Denn die eigentliche Konsequenz bei einer unterbliebe-
nen Parlamentsbeteiligung ist der Weg nach Karlsruhe.
Wir behalten uns diesen erneuten Gang zum Bundesver-
fassungsgericht ausdrücklich vor. Die Bundesregierung
allerdings sollte sich diese Peinlichkeit ersparen und
dem Deutschen Bundestag ein Mandat für den Evakuie-
rungseinsatz in Nafurah vorlegen.

Den zweiten Antrag der Fraktion Die Linke werden
wir ablehnen. Wir finden es richtig, dass die Bundesre-
gierung nicht ohne ein Mandat des Bundestages operie-
ren möchte. Umso verwunderlicher ist es aber, dass die
Bundesregierung den Bundestag nicht bittet, die Umset-
zung des Waffenembargos seeseitig vor der libyschen
Küste zu unterstützen. Wenn man dem libyschen Volk
helfen will, muss man dafür sorgen, dass keine Waffen
ins Land kommen. Die deutsche Marine war vor Ort. Mit
dem Abzug der Schiffe zerschlägt die Bundesregierung
weiteres Porzellan. Und wir fragen die Bundesregie-
rung: Wo ist ihr Antrag?



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1709939600

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5175. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt.


(Iris Gleicke [SPD]: Schade eigentlich!)


Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5176.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt.

Sie werden es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind
damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 25. März 2011, 9 Uhr, ein.

Ich wünsche einen schönen Abend. Vielen herzlichen
Dank!

Die Sitzung ist geschlossen.