Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Vor Eintritt in unsere Tagesordnung gebe ich IhnenFolgendes bekannt: Die Fraktion Die Linke hat mitge-teilt, dass im Beirat der Bundesnetzagentur die Kolle-gin Johanna Voß zukünftig von der Kollegin EvaBulling-Schröter und die Kollegin Dorothee Menznervom Kollegen Ralph Lenkert vertreten wird. Sind Siedamit einverstanden? – Es sieht ganz danach aus. Dannkönnen wir so verfahren.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten– Drucksache 17/5168 –
ZP 2 Beratung des Antrags der BundesregierungBeteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatzvon NATO-AWACS im Rahmen der Interna-Redetionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
auf Grundlage der Resolution 1386 undfolgender Resolutionen, zuletzt Resolution1943 vom 13. Oktober 2010 des Sicher-heitsrates der Vereinten Nationen– Drucksache 17/5190 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und HumanitäAusschuss für wirtschaftliche ZusammenarbeiEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
zung den 24. März 2011.01 UhrZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Konkrete Anforderungen insbesondere desBundesumweltministeriums für die Sicher-heitsüberprüfung deutscher Atomkraftwerke
ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine be-schleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken– Drucksache 17/5179 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten JürgenTrittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes – Abschalten der acht unsichers-ten Atomkraftwerke– Drucksache 17/5180 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschusstextRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDEnergiewende jetzt– Drucksache 17/5182 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undNIS 90/DIE GRÜNEN Hermesbürgschaften für Atomtechnolo-re Hilfet undBÜNDKeinegien– Drucksache 17/5183 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 8 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 33a) Beratung des Antrags der Abgeordneten DorisBarnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDStärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –Finanzierung langfristig sichern– Drucksache 17/5185 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten IngeHöger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKESchutz vor militärischem Fluglärm– Drucksache 17/5206 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGenehmigung für Waffenexporte bei Unzuver-lässigkeit konsequent aussetzen– Drucksache 17/5204 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangGehrcke, Paul Schäfer , Jan van Aken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKELibyen-Krieg sofort beenden– Drucksache 17/5173 –ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. AntonHofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENTransparenter Stresstest für die Leistungsfä-higkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21– Drucksachen 17/5041, 17/5236 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Stefan KaufmannZP 12 – Beratung der Beschlussempfehlung und des
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Ein-satz von NATO-AWACS im Rahmen derInternationalen Sicherheitsunterstützungs-
der NATO auf Grundlage der Resolution1386 und folgender Resolutionen,zuletzt Resolution 1943 vom 13. Ok-tober 2010 des Sicherheitsrates der Verein-ten Nationen– Drucksachen 17/5190, 17/5251 –Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderDr. Rolf MützenichDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeKerstin Müller
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/5252 –Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian KindlerZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDTierheime entlasten – Einheitliche Regelungenschaffen– Drucksachen 17/4851, 17/5198 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierHeinz PaulaDr. Christel Happach-KasanAlexander SüßmairUndine Kurth
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 15, 20, 23, 26 und 33 gwerden abgesetzt. Der bisher bei Tagesordnungs-punkt 24 zur Beratung vorgesehene Antrag soll ohneDebatte überwiesen werden.Ich möchte Sie noch auf folgende geplante Änderun-gen des Ablaufs aufmerksam machen: Der Tagesord-nungspunkt 28 wird schon heute im Anschluss an die
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Beratungen ohne Aussprache aufgerufen. Ebenso soll derTagesordnungspunkt 30 auf den heutigen Nachmittagvorgezogen und nach dem Tagesordnungspunkt 6 behan-delt werden. Dadurch rücken der Tagesordnungspunkt 7und die übrigen Punkte der Koalitionsfraktionen jeweilseinen Platz nach hinten. Die Tagesordnungspunkte 8 und32 werden getauscht. Der Tagesordnungspunkt 5 ver-schiebt sich auf morgen und wird nach dem Tagesord-nungspunkt 29 beraten. – Das haben Sie alle jetzt sichersofort neu sortiert. Falls Zweifel oder Unsicherheiten zu-rückbleiben sollten, stehen Ihnen sowohl die Parlamen-tarischen Geschäftsführer wie auch das Präsidium fürAuskünfte gern zur Verfügung.Ich mache schließlich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzliste aufmerk-sam:Der am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgendeGesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kulturund Medien zur Mitberatung überwie-sen werden:Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke, Volker Beck , weiteren Abge-ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Verbesserung des Schutzes personen-bezogener Daten der Beschäftigten in der Pri-vatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen– Drucksache 17/4853 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Kultur und MedienDarf ich für alle diese vorgesehenen Änderungen IhrEinverständnis feststellen? – Das ist offensichtlich derFall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 24./25. März 2011in BrüsselHierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak-tion der SPD, der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundigeinvernehmlich. Dann können wir so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bevor wir im Rahmen dieserDebatte über das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirt-schafts- und Währungsunion beraten, das der heute be-ginnende Europäische Rat beschließen wird, möchte ichzunächst unseren Blick noch einmal auf die dramati-schen Ereignisse in Japan und die Umbrüche im arabi-schen Raum lenken. Seit einigen Wochen erleben wir inzahlreichen Staaten der arabischen Welt tiefgreifendeUmwälzungen. Sie gründen in der Sehnsucht der Men-schen nach Freiheit, nach politischer Selbstbestimmung.Sie werden das Gesicht dieser Region verändern. Damitwerden sie auch das Gesicht der Welt verändern.Die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo odervor der Universität in Sanaa demonstrieren, fordern Frei-heit, sie fordern Demokratie, sie fordern soziale Gerech-tigkeit, und sie fordern bessere Lebensbedingungen. Siewenden sich gegen Willkürherrschaft, Unterdrückungund Korruption. Sie nehmen den Übergang zu einerneuen Ordnung in ihre eigenen Hände. Dafür gebührt ih-nen unser aller Respekt.
Diese Umwälzungen sind eine historische Chance fürdie Menschen in der arabischen Welt, aber genauso auchfür uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb hat sich derEuropäische Rat am Freitag vor 14 Tagen mit diesemThema beschäftigt. Die Kommission hat Vorschläge füreine neue Partnerschaft mit dieser Region vorgelegt.Allerdings spüren wir gleichzeitig, wie fragil die Ent-wicklungen sind und wie ungewiss ihr Ausgang ist. Wirsehen das in Bahrain, in Jemen, in Syrien, in Algerien,und wir sehen das natürlich noch viel gravierender in Li-byen. Dort hat Gaddafi seinem eigenen Volk den Kriegerklärt. Die in der vergangenen Woche im Sicherheitsratder Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1973dient deshalb dem Ziel, diesem Krieg Gaddafis gegensein eigenes Volk Einhalt zu gebieten.Die Bundesregierung hat sich, wie Sie wissen, bei derAbstimmung über diese Resolution enthalten. Sie hatsich enthalten, weil sie Bedenken hinsichtlich der militä-rischen Umsetzung der Resolution hat. Deutschland ent-sendet deshalb auch keine Soldaten der Bundeswehr.Aber auch wenn das so ist, so gilt gleichzeitig: DieBundesregierung unterstützt die Ziele, die mit dieser Re-solution verabschiedet wurden, uneingeschränkt. Sie hatsich für diese Ziele von Anfang an eingesetzt. Deshalbhoffen wir auf einen schnellen und vor allem nachhalti-gen Erfolg, um diese Ziele zu erreichen.
Meine Damen und Herren, wir treten vor allen Din-gen für stärkere wirtschaftliche Sanktionen ein. Ich spre-che über dieses Thema, weil ich mich auf dem Rat inAbstimmung mit allen Ministern – insbesondere natür-lich mit dem Außenministerium – noch einmal für einumfassendes Ölembargo und weitreichende Handelsein-schränkungen gegenüber Libyen einsetzen werde. Ichhoffe, dass wir an diesem Punkt in der EuropäischenUnion endlich auch eine gemeinschaftliche Haltung er-
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reichen. Dies sollte möglich sein. Kein Ölexport mehraus Libyen in ein europäisches Land, meine Damen undHerren.
Darüber hinaus ist es uns wichtig, humanitäre Hilfefür Flüchtlinge aus Libyen zu leisten. Dazu gehört auch,dass wir den Mitgliedstaaten, die außergewöhnlich starkdurch Migrationsströme belastet werden, solidarisch zurSeite stehen. Wir kennen die Entwicklung der Zukunftnoch nicht. Ich will aber ganz deutlich sagen: Bürger-kriegsflüchtlinge, wie wir sie eventuell aus Libyen zu er-warten haben, sind Flüchtlinge, die unserer Solidaritätbedürfen. Flüchtlinge zum Beispiel aus Tunesien, wo dieFreiheit sich schon Bahn gebrochen hat, sind etwas an-deres. Ich glaube, wir müssen hier deutlich unterschei-den.
Meine Damen und Herren, auch weil Deutschlandsich militärisch nicht an der Umsetzung der Resolution1973 beteiligt, werden wir unsere NATO-Verbündetenbeim Einsatz von AWACS-Flugzeugen über Afghanistanentlasten. Da ich an der morgigen zweiten und drittenLesung zum AWACS-Mandat wegen des zeitgleich statt-findenden EU-Rates nicht teilnehmen kann, erlaube ichmir, die Gelegenheit dieser Regierungserklärung zu nut-zen, meine Haltung zu diesem Mandat vor diesem Hausdeutlich zu machen; denn darauf haben Sie einen An-spruch.Wir werden über den Beschluss der Bundesregierungdebattieren und abstimmen, bis zu 300 deutsche Solda-ten für NATO-AWACS-Flüge zur Überwachung des af-ghanischen Luftraums einzusetzen. Der Einsatz ist zeit-lich befristet bis zum 31. Januar 2012. Die NATO-AWACS-Flugzeuge leisten einen wichtigen Beitrag fürdie Sicherheit ziviler und militärischer Flugbewegungenim afghanischen Luftraum. Das AWACS-Mandat dientdem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in Afgha-nistan sowie dem Schutz der afghanischen Bevölkerung.Es folgt dem Gebot der Bündnissolidarität. Ich darf des-halb bereits heute um Ihre Zustimmung bitten.
Meine Damen und Herren, mindestens genauso sehrbewegen uns die dramatischen Ereignisse in Japan. Siesind ein Einschnitt für die ganze Welt, ohne jeden Zwei-fel. Auch in Deutschland und in Europa konnten wirnach den Ereignissen in Japan nicht einfach zur Tages-ordnung übergehen. Über die dazu notwendigen bisheri-gen Entscheidungen der Bundesregierung haben wir amvergangenen Donnerstag nach meiner Regierungserklä-rung debattiert. Das ist heute nicht zu wiederholen.Ich weise aber darauf hin, dass die Sicherheit der Kern-energie auch Thema beim Rat der Staats- und Regierungs-chefs sein wird. Deutschland hat dieses Thema angemel-det; denn die Sicherheit der Kernkraftwerke innerhalb derEuropäischen Union geht alle Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union gleichermaßen an. Deshalb gehört diesauf die Agenda unserer Beratungen. Ich werde die vonKommissar Oettinger vorgeschlagene Durchführung vonfreiwilligen Sicherheitsüberprüfungen, sogenannte Stress-tests, für alle europäischen Kernkraftwerke unterstützen.Ich werde darüber hinaus intensiv dafür werben, dassauch unsere Nachbarländer außerhalb der EuropäischenUnion solche Stresstests durchführen. Frankreich undDeutschland werden zudem gemeinsam eine Initiativeder G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerkeneinbringen. Die zuständigen Minister werden dazu inKürze zu einer Konferenz zusammenkommen.Das eigentlich zentrale Thema des morgigen Rateswerden aber die Beratung und Verabschiedung eines Ge-samtpakets zur Stärkung der Wirtschafts- und Wäh-rungsunion sein. Für mich ist dabei ganz wichtig: DerEuro und die Wirtschafts- und Währungsunion sindKernbereiche der europäischen Einigung. Sie sind un-verzichtbar aus wirtschaftlichen wie aus politischenGründen. Deutschland profitiert vom Euro. Deutschlandprofitiert vom Euro wie kaum ein anderes Land in derEuropäischen Union. Wir profitieren von der Preisstabi-lität. Wir profitieren davon, dass wir beim Reisen keinelästigen Umtauschgebühren mehr bezahlen müssen.Unsere Wirtschaftsunternehmen, die vielfach stark ex-portorientiert sind, profitieren von anderen Euro-Län-dern, die wichtige Absatzmärkte für deutsche Waren sind.Die nominalen Warenexporte Deutschlands in die Euro-Zone haben sich zwischen 1999 und 2009 um 48 Prozenterhöht. Durch entfallende Umtauschkosten werden in derEuro-Zone rund 20 bis 25 Milliarden Euro jährlich einge-spart. Dieses Geld kann an anderer Stelle investiert wer-den.Kurz gesagt: Der Euro sorgt für Arbeitsplätze, ersorgt für Wirtschaftswachstum, er sorgt für Steuerein-nahmen in Deutschland. Er ist eine stets stabile Währungim Innen- wie im Außenwert, und zwar – das haben wirerlebt – auch in Krisenzeiten. Wir haben eine stabile Ge-meinschaftswährung, weil wir eine unabhängige Euro-päische Zentralbank haben, die strikt dem Ziel der Si-cherung der Preisstabilität verpflichtet ist. So steht es inden Verträgen.
Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel härter uns dieinternationale Finanz- und Bankenkrise 2008 getroffenhätte, wenn wir nicht die gemeinsame Währung gehabthätten.
Meine Damen und Herren, der Euro hat nicht nur einenwirtschaftlichen Wert. Er ist weit mehr als eine verlässli-che Währung. Er ist ökonomischer und politischer Aus-druck unserer engen Verflechtung und Verbundenheit inder Europäischen Union. Wir Mitglieder der Wirtschafts-und Währungsunion bilden eine Verantwortungsgemein-schaft. Jeder Einzelne von uns ist zu Eigenverantwortungund Solidarität verpflichtet. An diesen Grundsätzen habeich, hat die ganze Bundesregierung im letzten Jahr ihrHandeln ausgerichtet, als es um die Krisenbewältigungauch innerhalb von Europa ging. An diesen Grundsätzenorientiere ich mich jetzt und orientiert sich auch das Ge-samtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungs-union, das der Europäische Rat verabschieden wird.
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Mit diesem Gesamtpaket ziehen wir die Lehren ausder Schuldenkrise. Es ist ganz wichtig, noch einmal Fol-gendes festzuhalten:Erstens. Alles, was wir jetzt tun, ist Umgang mit denFehlern, die in der Vergangenheit aufgetreten sind – vonder Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktsunter Rot-Grün bis hin zu Ergebnissen innerhalb derBanken- und Schuldenkrise. Es ist noch nicht die Umset-zung der Lehren, die wir aus der Krise gezogen haben.Zweitens. Wir bauen uns damit ein Rahmenwerk da-für, dass die in der Vergangenheit aufgetretenen Fehlernicht wieder passieren können.
Ich verstehe natürlich, dass viele fragen – diese Dis-kussionen führen wir auch hier im Parlament –: Was isteure Sicherheit, dass die Fehler, die in der Vergangenheitaufgetreten sind und für die man angeblich auch dasrichtige Rahmenwerk hatte, in der Zukunft nicht wiederpassieren?Deshalb kann ich nur an uns alle appellieren: Das eineist das, was wir jetzt beschließen. Das andere ist die Be-reitschaft, es dann auch wirklich einzuhalten und nichthier und dort irgendwelche politischen Begründungendafür zu finden, dass es jetzt gerade die Umstände nichterlauben. Das muss eine gemeinschaftliche Verpflich-tung dieses Hohen Hauses sein, meine Damen und Her-ren.
Seit Beginn der Schuldenkrise im Euro-Raum habenwir immer wieder gefordert, dass neben allem notwendi-gen Krisenmanagement auch über den Tag hinaus ge-dacht werden muss. Vor allem müssen wir eine neue Sta-bilitätskultur und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeitins Zentrum unserer Bemühungen stellen; denn nur einehöhere Wettbewerbsfähigkeit kann auf Dauer für dasWachstum sorgen, das notwendig ist, um eine Perspek-tive zum Abbau der Schulden zu schaffen.Das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- undWährungsunion verfolgt deshalb drei Ziele: erstens mehrStabilität und Solidität, zweitens die Stärkung der Wett-bewerbsfähigkeit und drittens ein ausgewogenes Ver-hältnis von Eigenverantwortung und Solidarität. Damitwerden wir – davon bin ich überzeugt – die wirtschaftli-che und politische Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- undWährungsunion stärken und erhöhen sowie nachhaltiggestalten.Zum ersten Ziel: Wir sorgen für mehr Stabilität undSolidität. Dafür werden strengere Vorgaben eingeführtund deren Einhaltung strikt überwacht. Das bezeichnenwir als die Überarbeitung und Verschärfung des Stabili-täts- und Wachstumspakts. Wir verschärfen ihn in derTat. Künftig riskieren Euro-Mitgliedstaaten auch dannschon Sanktionen, wenn sie nicht die notwendigenSchritte in Richtung eines ausgeglichenen Haushalts un-ternehmen. Damit soll frühzeitig einem übermäßigenDefizit entgegengesteuert werden.Wir haben erreicht, dass Haushaltssünder bei Verlet-zung der Maastricht-Defizitgrenze von 3 Prozent desBruttoinlandsprodukts künftig früher und schneller be-straft werden. Das ist die Stärkung des präventiven Armsdes Stabilitätspakts.Außerdem wird ein neues Erfüllungskriterium in Zu-kunft viel stärker berücksichtigt. Bis jetzt war schonklar, dass es keine Verschuldung von mehr als 60 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts geben darf. Dieses Krite-rium ist aber nie Gegenstand von Sanktionen gewesen.Künftig müssen diejenigen mit Sanktionen rechnen, diediesen Schuldenstand überschreiten. Davon ist im Übri-gen auch Deutschland betroffen; denn unsere Gesamt-verschuldung liegt über 60 Prozent des Bruttoinlands-produkts. Der Abbau der Schulden muss nach den neuenRegeln um ein Zwanzigstel, also 5 Prozent, des Brutto-inlandsprodukts erfolgen. Dieser Aufgabe müssen auchwir in der Bundesrepublik Deutschland uns stellen.Dass wir diese Regelungen so streng gefasst habenund dass kein einzelner Mitgliedstaat mehr dagegen op-poniert, ist ein großer Fortschritt; denn von exorbitantenSchuldenständen einiger Mitgliedstaaten gehen großeGefahren aus, und zwar nicht nur für das Land, sondern,wie wir erlebt haben, für die Stabilität des Euros insge-samt.Des Weiteren – auch das ist neu – arbeiten wir an ei-nem neuen Überwachungsverfahren, mit dem wir dieEntstehung schwerwiegender wirtschaftlicher Ungleich-gewichte in Europa künftig vermeiden und notfalls ge-gensteuern können. Die Fragen in diesem Bereich wer-den sehr stark diskutiert, weil Ungleichgewichtenatürlich auf verschiedenen Ursachen beruhen können.Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben gegenübervielen europäischen Ländern Exportüberschüsse. Wenndies auf erhöhter Wettbewerbsfähigkeit beruht, darfdies natürlich nicht zum Gegenstand von Klagen wer-den – damit es da zu keiner Fehleinschätzung kommt –,sondern muss begrüßt werden.
Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Länder, diesehr große Importüberschüsse haben; wir sprechen hiervom asymmetrischen Ansatz. Hier muss aufgepasst wer-den, ob sich nicht etwas andeutet, was langfristig odermittelfristig zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Er-füllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts führt. Dasheißt: Wir minimieren weitere Risiken, die die Finanz-stabilität Europas als Ganzes gefährden könnten. Auchhier gilt: Künftig sind Sanktionen möglich, wenn einMitgliedstaat die Empfehlungen missachtet.Wir haben klargestellt, dass Handlungsbedarf vor al-lem bei den Ländern mit Wettbewerbsschwächen be-steht; denn Konvergenz in der Europäischen Union, ins-besondere in der Euro-Zone, darf natürlich nichtAnnäherung an die Schwächeren sein, sondern muss im-mer an den Stärkeren unter uns ausgerichtet sein, damitEuropa als Ganzes wettbewerbsfähig bleibt.
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Schließlich werden die ordentliche Haushaltsführungdurch mehr Solidität und Verlässlichkeit der Statistikenin Zukunft verpflichtend vorgeschrieben, damit die Er-gebnisse, die wir haben, wirklich vergleichbar sind.Auch das ist ein wichtiger Faktor. Wenn wir einmal andie griechischen Zahlen, die Eurostat gemeldet wurden,und an die Berichtigung der Zahlen zu den Defizitendenken, so wissen wir, wovon wir sprechen.Es ist ein großer Erfolg, dass jetzt alle Mitgliedstaatenzu größeren Anstrengungen bereit sind. Die Richtliniensind von der Kommission vorgelegt; sie werden im Eu-ropäischen Parlament und im Rat beraten und werdennatürlich auch hier im Deutschen Bundestag Gegenstandvon Beratungen sein.Zweitens. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Da-für verpflichten wir uns zu Strukturreformen und zur en-geren Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken. Fürdie dauerhafte Stabilisierung des Euros sind die Reform-anstrengungen in den einzelnen Euro-Mitgliedstaatenvon entscheidender Bedeutung. Alle Euro-Staaten – ichbeziehe Deutschland ausdrücklich mit ein – müssen mehrtun, um wettbewerbsfähiger zu werden. Ich möchte andieser Stelle dem Ratspräsidenten Herman Van Rompuyausdrücklich danken, dass er gemeinsam mit dem Kom-missionspräsidenten José Manuel Barroso die Verhand-lungen über den Pakt für den Euro geführt hat.Es ist gelungen, auch etliche Nicht-Euro-Staaten fürunseren Pakt zu gewinnen. Polen und Dänemark habenihre Unterstützung bereits öffentlich bekannt gegeben;ich halte das für ein gutes Zeichen. Mir war die Öffnungdieses Paktes für alle besonders wichtig; denn das Zielmuss sein, dass möglichst viele Länder der EuropäischenUnion der gemeinsamen Währung, dem Euro, beitreten.Je mehr Mitgliedstaaten sich dem Pakt anschließen,umso größer sind natürlich die gemeinschaftlichen Im-pulse für den Binnenmarkt.Bei diesem Pakt geht es ausschließlich um nationaleZuständigkeiten. Deshalb werden die Verpflichtungenim Rahmen dieses Paktes natürlich ausführlich hier imDeutschen Bundestag debattiert. Das Europäische Parla-ment wird informiert; das ist klar; denn es ist eine Insti-tution der Europäischen Union. Wir arbeiten und koordi-nieren uns aber in einem Bereich, der nationaleZuständigkeiten umfasst. Das heißt also, der Pakt setztauf die direkte Verantwortlichkeit der Staats- und Regie-rungschefs, die sich in Zukunft persönlich zu Strukturre-formen verpflichten und für die nationale Umsetzungsorgen müssen. Es versteht sich von selbst, dass dies derUnterstützung des jeweiligen Parlaments, in diesem Falldes Deutschen Bundestags und seiner Mehrheit, bedarf.Das heißt, das wird Gegenstand intensiver Diskussionenunter uns sein.Wir machen damit die Erhöhung der Wettbewerbsfä-higkeit zur Chefsache. Wir orientieren uns nicht an denSchwächsten, sondern an den Besten, und zwar nicht nurinnerhalb Europas. Die ausdrückliche Verpflichtung istvielmehr, sich auch an unseren strategischen Partnern,das heißt, an den Besten der Welt zu orientieren. MeineDamen und Herren, wir könnten natürlich Stabilität desEuros und Solidarität im Euro-Raum erreichen undgleichzeitig den Abstand zur Weltspitze immer größerwerden lassen. Das ist nicht unser Ziel. Wohlstand fürdie Menschen, Arbeitsplätze für die Menschen inDeutschland werden nur erreichbar sein, wenn wir inEuropa an der Spitze der Welt dabei sind; das ist diesimple, aber unabdingbare Wahrheit.
Der Pakt nennt objektive Indikatoren. Die Kommis-sion wird die Überwachung dieses Paktes vornehmen.Wir müssen eines sehen: Deutschland ist beileibe nichtüberall und in allen Bereichen schon bei den Besten da-bei. Auch wir müssen uns anstrengen. Deshalb haben wirein Aktionsprogramm dem Parlament vorgelegt, das un-ter anderem die Ankündigung enthält, dass Deutschlandschon früher die vorgegebenen Neuverschuldungsgren-zen erreichen wird. Zudem wird der Bund in diesem undim nächsten Jahr weniger neue Schulden machen, als esdie Schuldenregel des Grundgesetzes vorsieht.Wir wollen die regulierten Bereiche der Wirtschaft,zum Beispiel im Busfernlinienverkehr, öffnen.
– Passen Sie auf. Schauen Sie: Die Wahrheit ist immerkonkret.
– Ich hatte nicht die Absicht, gleich die gesamte deut-sche Handwerksordnung abzuschaffen. Wenn Sie daswollen, kann das Herr Steinbrück gleich mitteilen.
Das wäre etwas weitergehend, aber wir halten das nichtfür gegeben. Wir machen das, was wir sagen: Schritt fürSchritt.
Dann schauen Sie sich einmal an, wie das aussieht.
– Herr Trittin, Sie wissen genau – eigentlich ist es bedau-erlich –, wie Wettbewerbsverzerrungen zum Beispiel da-von abhängen, ob ein Land seinen Eisenbahnverkehr fürden internationalen Wettbewerb öffnet.
Wir können darüber sehr viel reden: Mal sind es dieEisenbahnen, mal sind es die Busse, dann ist es der ge-meinsame europäische Flugraum. Genau um dieseDinge geht es bei der Frage, ob sich Europa seinenWachstumsfragen widmet oder nicht.Aber, meine Damen und Herren, ich werde lieber aufweitere Beispiele verzichten, weil es große Teile diesesHauses nicht interessiert.
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Die Koalitionsfraktionen werden dann natürlich gern in-formiert.
– Sie können ganz unbeteiligt und erfreut, wie kleinteiligdas im Konkreten wird, über diese Dinge hinwegsehen.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich kümmere mich lieberum die wachsende Wettbewerbsfähigkeit Europas, alsdass ich dauernd Rettungsprogramme für andere Ländermachen muss. Wir setzen darauf, dass Europa insgesamtbesser wird.
Sie können sich dann ja um andere Dinge kümmern.Ich komme nun zum dritten Ziel. Wir sorgen für einausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung undSolidarität. Dafür schaffen wir neben der heute bestehen-den Fazilität, der EFSF, einen dauerhaften Stabilitätsme-chanismus.Wir haben bereits früh im letzten Jahr gefordert, dassder Mechanismus einer verlässlichen rechtlichen Grund-lage bedarf. Nachdem der Bundestag die notwendigeVertragsänderung unterstützt hat, kann ich morgen beimEuropäischen Rat dem einstimmigen Beschluss zur ver-einfachten Änderung von Art. 136 AEUV zustimmen.Anschließend muss dies natürlich national ratifiziertwerden: bei uns mit Zustimmung des Bundestages unddes Bundesrates.Die neue Vertragsbestimmung stellt auf unser Drän-gen hin klar, dass der Mechanismus nur dann aktiviertwird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität desEuros als Ganzes zu wahren. Es handelt sich also umeine sogenannte Ultima-Ratio-Klausel. Sie schafft diegerade für Deutschland unabdingbare Rechtssicherheitfür den neuen Mechanismus und erfüllt damit den Geistder Verträge.Gegen große Widerstände hat Deutschland außerdemdurchgesetzt, dass auch die folgenden wichtigen Krite-rien bei der Konstruktion des dauerhaften europäischenStabilitätsmechanismus eingehalten werden:Erstens. Kredite des Mechanismus können nur alsletztes Mittel vergeben werden, nachdem die Kommis-sion und der IWF in Verbindung mit der EZB die Schul-dentragfähigkeit des Antragstellers untersucht haben.Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es darf sich nur um Li-quiditätsprobleme handeln.Zweitens. Die Vergabe wird durch einstimmigen Be-schluss entschieden. Das heißt, jeder Mitgliedstaat hatsein Stimmrecht in jedem einzelnen Fall. Voraussetzungist immer, dass sich das entsprechende Euro-Mitglied zuharten Eigenanstrengungen im Rahmen der Programm-auflagen verpflichtet.
Meine Damen und Herren, wenn ich in den Februardes vergangenen Jahres zurückblicke – damals habenwir uns viel über die Frage gestritten, wann Griechen-land Unterstützung bekommen kann –, sage ich: Wir ha-ben die Prinzipien jetzt richtig vereinbart.Für uns war von Anfang an klar – das hat sich be-währt und ist im Zuge der Beratungen jetzt die gemein-same Meinung aller –: Solidarität gibt es nur bei entspre-chender Eigenanstrengung des einzelnen Landes, weildie Euro-Zone nur dann harmonisch zusammenhaltenkann, wenn sich alle Länder auf ein gemeinsames Ni-veau verständigen.Dazu bedarf es vieler Reformen in den einzelnen Län-dern. Das war nicht unumstritten, genauso wenig wie dieFrage, ob der IWF daran beteiligt wird, und vieles an-dere mehr. Heute nimmt das jeder als gegeben hin. Ichsage Ihnen: Es war richtig, dafür gekämpft zu haben,weil diese Prinzipien innerhalb der Euro-Zone allgemeingelten müssen.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus wird mit ei-ner effektiven Darlehenskapazität von 500 MilliardenEuro ausgestattet. Sie wissen, dass wir diese Ausstattungim Rahmen eines AAA-Ratings wollen. Der Europäi-sche Stabilitätsmechanismus bildet damit ein tragfähigesRettungsnetz für den äußersten Notfall. Er setzt sich zu-sammen aus Kapital und Garantien. Die Summe des Ka-pitals wird 80 Milliarden Euro betragen. In den Beratun-gen werde ich noch einmal darauf drängen, dass derAufbau dieses Kapitalstocks über fünf Jahre verteiltwird, also in mehreren Zeitschritten abläuft, beginnendab 2013.
– Nun brauchen Sie nicht gleich wieder dazwischenzu-schreien. Wir halten das so für richtig.Ich bedanke mich bei den Finanzministern dafür, dasssie das, was im Zusammenhang mit diesem Mechanis-mus zu klären war, weitestgehend geklärt haben, sodasswir im Europäischen Rat nur noch ganz wenige Fragenzu besprechen haben. Das ist sehr gut.
Die Haftung Deutschlands ist nach oben begrenzt.Die Finanzierung des Mechanismus wird von den teil-nehmenden Mitgliedstaaten anteilig gewährleistet, wo-bei es im Grundsatz bei dem schon bisher verwendetenEZB-Kapitalanteilschlüssel bleibt. Er wird lediglichtemporär geringfügig angepasst, um eine überproportio-nale Belastung einiger Mitgliedstaaten zu verhindern.Ich sage ganz klar: Mit der christlich-liberalen Koalitionwird es keine Vergemeinschaftung von Schulden geben.Die wird es nicht geben.
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Aus genau diesem Grund lehnen wir auch die Einfüh-rung von Euro-Bonds ab. Denn dies wäre die Verge-meinschaftung von Schulden und der Einstieg in eine ge-samtschuldnerische Haftung.
Wer solche Forderungen stellt, handelt nicht im Interesseder deutschen Steuerzahler. Davon bin ich zutiefst über-zeugt. Es geht aber nicht nur um die deutschen Steuer-zahler. Ich bin dem Präsidenten der Europäischen Zen-tralbank, Jean-Claude Trichet, sehr dankbar, der amMontag in Brüssel noch einmal bekräftigt hat, dass mitEuro-Bonds die Anreize für eine solide Haushaltspolitikleiden. Genau das darf nicht passieren. Das heißt, dass esnicht nur im Interesse des deutschen Steuerzahlers – wasschon wichtig ist –, sondern auch im Interesse Europasist, dass wir dies nicht machen.
Es wird also weder regelmäßige noch dauerhafteTransferleistungen geben. Zur dauerhaften Bewältigungder Herausforderung ist vielmehr ein konsequenter Kon-solidierungs- und Reformweg unerlässlich. Dafür setzenwir uns ein. Wie schwierig das ist, haben wir am gestrigenTag erlebt. Die portugiesische Regierung hatte uns aufdem Treffen der Euro-Gruppe ein umfassendes Reform-programm für die Jahre 2011, 2012 und 2013 vorgelegt.Dieses Programm hat die Zustimmung der EuropäischenKommission und der Europäischen Zentralbank gefun-den. Wir haben dem portugiesischen PremierministerSócrates dafür – das will ich auch heute noch einmaltun– bei dem Treffen der Euro-Gruppe unsere Hochach-tung ausgesprochen.
– Das ist schon geschehen. Da brauchen Sie sich garnicht so aufzuregen. Das ist alles schon passiert. Ichhoffe sowieso, dass wir nicht in so eine Lage kommen.
– Mein Gott, wie kleinkariert sind Sie? Also wirklich,Mannomann!
Hier geht es um die Frage, ob die Finanzstabilität desEuro als Ganzes erhalten werden kann, und darum, dassein Premierminister – dabei ist es mir egal, ob er zu einersozialdemokratischen, einer christdemokratischen odersonst einer Partei gehört – Verantwortung gezeigt hat.Dafür war ich dankbar. Es ist bedauerlich, dass es nichtgelungen ist, dafür eine parlamentarische Mehrheit zubekommen.
Beklagen Sie sich bitte nicht darüber, dass wir uns dannhier noch einmal mit den Folgen dieser Sache auseinan-dersetzen müssen. Ich sage nur, dass es ein richtiger undmutiger Schritt war und dass es auch zeigt, wie viel poli-tischen Mutes es bedarf, wenn die Dinge in der Vergan-genheit nicht richtig gelaufen sind.Wir machen uns – um zum permanenten Stabilitäts-mechanismus zurückzukommen – stark – das wird Teildes Mechanismus sein – für die Beteiligung privaterGläubiger. Dies ist ein immer wieder diskutierter Faktor.Ich glaube, es ist absolut richtig, zu sagen: Ab 2013muss im Falle der nicht gegebenen Solvenz eines Staatesdie Beteiligung privater Gläubiger verpflichtend sein.Das haben wir gegen viele Widerstände durchgesetzt.
Ich sage ausdrücklich: Das, was von einer Seite diesesHauses immer als Isolierung oder Alleinstehen Deutsch-lands betrachtet wurde, ist notwendig gewesen, damitwir zu einer vernünftigen Ordnung kommen; denn Siesehen an den Märkten ganz deutlich, dass die Beteili-gung privater Gläubiger eine notwendige Voraussetzungist, um manche Probleme zu bewältigen. Auf jeden Fallhaben wir in der Zukunft dieses Instrumentarium zurVerfügung. Das wird ein immanenter Bestandteil diesesneuen Mechanismus sein.Für mich gilt weiterhin der Grundsatz, den ich aucham 15. Dezember in diesem Haus genannt habe: Nie-mand in Europa wird allein gelassen. Niemand wird fal-len gelassen; denn Europa gelingt nur gemeinsam.
Aber dies bedarf natürlich gemeinsamer Anstrengungen,also eines vernünftigen Verhältnisses von Eigenanstren-gung und Solidarität.
Ich kann Ihnen sagen – so weit sind wir in den Ge-sprächen mit Irland noch nicht –, dass zum BeispielGriechenland beim Treffen der Chefs der Euro-Zone am11. März überzeugend die Fortsetzung der Strukturrefor-men dargelegt sowie ein 50 Milliarden Euro umfassen-des Privatisierungsprogramm angekündigt hat.Dass die übrigen Euro-Mitgliedstaaten bereit sind, so-lidarisch zu handeln, haben wir mit unserem Beschlusszum derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirm am11. März 2011 deutlich gemacht. Im Falle Griechenlandssind wir zu einer bestimmten Zinssenkung bereit.Wir werden auch sicherstellen, dass das im Mai 2010beschlossene Volumen des Euro-Rettungsschirms von440 Milliarden Euro im Notfall effektiv zur Verfügunggestellt werden kann. Dies wird allgemein erwartet.Auch hier zeigen wir konkrete Solidarität und Verant-wortung.Ich bin überzeugt: Mit dieser Gesamtstrategie zurStärkung der Wirtschafts- und Währungsunion wird dasJahr 2011 für den Euro und für die Europäische Unionzum Jahr des Vertrauens.
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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– Sie möchten also nicht, dass dieses Jahr zum Jahr desVertrauens wird. Es ist interessant, dies festzuhalten. Wirwollen das. Ich glaube, das ist sehr wichtig und richtig.
Ich würde an Ihrer Stelle, auch wenn es schwerfällt, indiesen europäischen Angelegenheiten einmal die Kraftaufbringen, ein kleines bisschen über den Tellerrand zugucken. Dies würde Europa wirklich guttun.
Sie erheben sich hier über die portugiesische Oppositionund sind nicht einmal bei Sachen, bei denen Sie garnichts zu entscheiden haben, bereit, eine ernsthafte De-batte zu führen. Das ist schon beachtlich, muss ich sa-gen.
Es geht um die dauerhafte Stabilität des Euro. Wirmachen den Euro und Europa zukunftsfähig. Wir brin-gen Eigenverantwortung und Solidarität in ein ausgewo-genes Verhältnis. Wir füllen somit – das ist das Eigentli-che, das jetzt passiert – eine Lücke in der Konstruktionder Wirtschafts- und Währungsunion, die in ihrem gan-zen Ausmaß erst im letzten Jahr offenbar geworden ist.Damit stärken wir die politische und die wirtschaftlicheGlaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion;denn nur ein stabiles und wettbewerbsstarkes Europa hatGewicht in der Welt.Die Stärkung der Europäischen Union und ihrer ge-meinsamen Währung ist eine zentrale Aufgabe unsererZeit. Die Bundesregierung setzt alles daran, diese zen-trale Aufgabe so zu lösen, dass die Europäische Unioninsgesamt und damit alle Bürgerinnen und Bürger derEuropäischen Union eine gute Zukunft haben. Für die-sen Weg bitte ich den Deutschen Bundestag um Unter-stützung, weil er aus meiner Sicht ein notwendiger Wegist.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie müssen nicht ganz so an-gefressen reagieren, wenn es zu einem gewissen Rumo-ren – und nicht nur zu einem Stillhalten – auf einigenOppositionsbänken kommt, wenn Sie Einlassungen wie„Jahr des Vertrauens“ von sich geben. Ein Teil diesesParlaments empfindet das als eine Wortblase und darfdies auch zum Ausdruck bringen.
Das betrifft auch die Begrifflichkeit „Herbst der Ent-scheidungen“. Nicht alle Parlamentarier müssen stillhal-ten, wenn Sie solche Begriffe in Ihre Rede einspannen.Die Europäische Union, um nicht zu sagen: ganz Eu-ropa, befindet sich unbenommen der dramatischen underschütternden Ereignisse um uns herum an einemScheideweg. Ob Deutschland in und mit Europa amEnde dieses Jahrzehnts noch eine führende Wohlstands-region in der Welt ist, ob Europa und Deutschland nochzu den führenden, einflussreichen, sich dynamisch ent-wickelnden Regionen gehören und ob Europa seine Zivi-lisation behalten bzw. behaupten kann, gegebenenfallssogar zum Vorbild für die Bürger aufstrebender Ländermachen kann, all das entscheidet sich maßgeblich beider Bewältigung der Krise, die uns seit Mitte 2007 in derKlammer hält und inzwischen ganze Nationalstaaten inden Schraubstock genommen hat. Schreitet die europäi-sche Einigung voran, oder zerfällt sie mit der Folge einerRenationalisierung, und zwar nicht nur einer Renationa-lisierung von Währungen? Auf dieser Flughöhe müssenwir, denke ich, die Debatte führen und nicht in den Nie-derungen kleinlicher nationaler Egoismen.
Es geht um die Frage, welche Bedeutung und welchenEinfluss Europa zukünftig in einer sich rasant verändern-den Welt hat. Ich will zu Beginn konzedieren, Frau Bun-deskanzlerin, dass das heute und morgen im Europäi-schen Rat zur Abstimmung anstehende Paket keinekleinkarierte oder von oppositionellen Reflexen geprägteKritik verdient. Dieses Paket ist notwendig. Es ist aberin mancherlei Hinsicht, wie ich glaube, nicht hinrei-chend – ich komme darauf zurück –, und es wird aller-dings sehr spät versendet. Es hat sehr lange gedauert, bisin Teilen Ihrer Regierung, Ihrer Koalition die Einsichtnachvollzogen wurde, dass aus einem Stolpern von Fallzu Fall ein umfassender Ansatz gefunden werden muss.
Diese Erkenntnis ist offenbar um die Jahreswende ge-reift; denn in seiner Antwort auf Ihre Regierungserklä-rung vom 15. Dezember 2010 hat Ihnen Frank-WalterSteinmeier völlig zu Recht vorgehalten, dass die Zeit desDurchmogelns vorbei ist.Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf der Wegstreckeseit Ausbruch der Griechenland-Krise erstaunlich viele– zu viele – Volten und Pirouetten gedreht. Ihr Satz ebenin der Regierungserklärung: „Wir machen, was wir sa-gen“ klingt vor dem Hintergrund der Volten, die dieseRegierung geschlagen hat, sehr nach Kabarett.
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Peer Steinbrück
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Diese Volten hätte man sportlich nennen können,wenn sie denn nicht Glaubwürdigkeit gekostet hättenund wenn sie nicht die Märkte maßgeblich irritiert undeine Reihe, wenn nicht sogar viele, europäische Partner-länder verstört hätten.Es hieß zunächst: Es gibt keine Haushaltsmittel fürGriechenland. – Ich kann mich erinnern, wie Sie auf derWelle gesurft sind, auf der Sie als eiserne Kanzlerin stili-siert worden sind. Anschließend wurde diese Positionder Bundesregierung natürlich geräumt. Dann wurde derlaufende Rettungsschirm – die Abkürzung ist EFSF – ineinem dramatischen Umfeld im Mai 2010 verabschiedet,aber die Bundesregierung hinterlegte, dass er nicht inAnspruch genommen werden müsse, der Ernstfall stehenicht bevor. Das war alles andere als ein klares Signal andie Märkte.Dann beruhigten Sie die innenpolitischen Gemüterund auch die innerparteilichen Heißsporne mit der An-sage, dass dieser Rettungsschirm gar nicht in Anspruchgenommen werden müsse und bis 2013 zeitlich limitiertsei. Ich habe folgendes Zitat von Ihnen in Erinnerung,das lautet: Ich sage ganz klar, dass es eine Verlängerungdes Hilfsfonds nicht geben wird.
Wenn Sie sagen: „Es ist etwas ganz klar“, dann gehenbei mir inzwischen die Warnblinkanlagen an.
Dann traten Sie völlig berechtigt für automatisierteSanktionsmechanismen ein und gaben diese auf einemdenkwürdigen Spaziergang entlang der französischenKanalküste in Deauville auf. So wurde in einer ArtOrwell’scher Sprachverdrehung aus einem automatisier-ten Sanktionsmechanismus ein quasi-automatischer.
Diese Wortschöpfung täuscht darüber hinweg, dass einsanktionsbewehrtes Defizitverfahren jetzt nur noch mög-lich ist, wenn es vorher eine politische Entscheidunggibt. Es läuft ein Automatismus ab, der durch eine quali-fizierte Mehrheit allerdings wieder ausgehebelt werdenkann.
Dann traten Sie vehement für eine Gläubigerhaftungein, wie auch eben in Ihrer Regierungserklärung. Ich zi-tiere aus einem Zeitungsartikel, in dem es heißt, sie, dieBundeskanzlerin, werde kein Schlaraffenland für Bankenerlauben, in dem das Risiko zu 100 Prozent beim Steuer-zahler abgegeben wird. Herr Schäuble sagte – ebenfallsbemerkenswert –: Es kann nicht sein, dass Chancen vonden Investoren und Krisen von den Steuerzahlern getra-gen werden. – Hört, hört! Gut gebrüllt! Aber was sinddie Fakten?Eine Gläubigerhaftung soll es im Rahmen des perma-nenten Rettungsschirmes ab 2013 geben – richtig, abernur im Insolvenzfall, nicht bereits bei Liquiditätsproble-men. Das ist ein eminenter Unterschied. Dass ein solcherFall der Zahlungsunfähigkeit eintreten kann, bezweifelndie europäischen Finanzminister im Übrigen selber. Siereden in einem Kommuniqué von dem unerwartetenFall, dass ein Land zahlungsunfähig wird. Aber wennder Insolvenzfall quasi ausgeschlossen wird, dann gibtes ergo doch auch keine Gläubigerhaftung. Oder gibt esda eine spezifische christdemokratische Logik?
Nicht genug der Volten! Sie wollten lange Zeit – wieich behaupte: aus guten Gründen – keine Wirtschaftsre-gierung der 17 Euro-Länder haben. Dann sind Sie wieZieten aus dem Busch mit der Befürwortung einer Wirt-schaftsregierung der 17 Euro-Staaten gekommen. Es istin diesem Parlament inzwischen übrigens eine ganzmerkwürdige Konstellation festzustellen: Die Markt-wirtschaftler, die das Prinzip hochhalten, dass Haftungund Risiko zusammenfallen und Anleger haften müssen,wenn ein Land seine Schulden nicht mehr bedienenkann, sitzen eher auf den Bänken der Sozialdemokratieund, wie ich vermute, auch der Grünen,
während Vertreter einer Art des Neosozialismus, der fak-tisch bedeutet, dass Kreditausfälle zulasten der Steuer-zahler sozialisiert werden, eher in dem anderen Spek-trum des Hohen Hauses zu finden sind.
Die beiden Rettungsschirme, der laufende und derpermanente, sollten nicht aufgestockt werden
– Herr Kauder, ich danke Ihnen für die Ermunterung; siewird mich beflügeln –,
jedenfalls nicht unter deutscher Beteiligung; so hieß es.Sie haben heute dargestellt, dass es selbstverständlichunter deutscher Beteiligung zu einer Ausweitung unsererBürgschaftsposition und zu Kapitaleinlagen kommt. Alldies wird heute oder morgen beschlossen. Vor dem Hin-tergrund dieser Volten erinnere ich daran, was Sie ebengesagt haben: Wir, die Regierung, machen, was wir sa-gen. – Tatsächlich?
Sie, Frau Merkel, haben sich zusammen mit Vertre-tern der Koalitionsfraktionen durch Tabuisierungen undIdeologisierungen, bezogen auf Transferunion, Haf-tungsgemeinschaft, Euro-Anleihen und Fiskalunion, ein-gemauert. Im Übrigen: Das, was jetzt beschlossen wird,ist eine reine Umetikettierung dessen, was sich eigent-
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Peer Steinbrück
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lich hinter diesen Begriffen verbirgt. Denn wir habenlängst eine Transferunion,
gar nicht einmal bezogen auf das, was seit den Römi-schen Verträgen 1957 verabredet worden ist, noch nichteinmal bezogen auf den Kohäsionsfonds und die Struk-turfonds. Vielmehr haben wir es mit Blick auf die Kri-senbewältigung längst mit einem Transfer von Liquiditätund Bonität von solventen europäischen Ländern zu not-leidenden Ländern zu tun. Es ist ein Faktum.
Sie haben sich durch die Tabuisierung und Ideologi-sierung dieser Begriffe eingemauert: im Hinblick aufVorschläge, die zu einer adäquaten Problemlösung bei-tragen könnten, und auch im Hinblick auf andere euro-päische Partnerländer. Ihre Politik, Frau Merkel, hätteschneller sein müssen, als es die Märkte erwarteten. Siehätten schneller, als es die Märkte erwarteten, Lösungenfinden und umsetzen müssen. Das hätte die Märkte beru-higt. Ihre diversen Volten sind nicht mehr mit der Me-thode „Versuch, Irrtum und Erkenntnisgewinn“ zu recht-fertigen. Sie haben versäumt, den Märkten ein klaresSignal zu geben. Die Märkte wussten angesichts derRückzieher, der Volten, der Widersprüche dieser Koali-tionsregierung nie genau, woran sie mit ihr waren.
Insofern ist die Krise in der Euro-Zone auch eine Füh-rungs- und Glaubwürdigkeitskrise.
Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange eine Füh-rungsrolle verweigert und nationale Befindlichkeiten inden Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen gestellt. In dieserFührungskrise ist übrigens die Europäische Zentralbanksozusagen als Ausputzer für eine nicht handlungsfähigePolitik in die Situation gedrängt worden, Staatsanleihenaufzukaufen, was wir heute beklagen.
Erstens. Die deutsche Unentschlossenheit über langeZeit trug zu einer langen europäischen Entschlusslosig-keit bei und lud damit die Märkte zu Testläufen gegeneinzelne Mitgliedstaaten ein. Das Abwarten, das allen-falls begrenzt und mit erheblichen Kollateralschäden denVorteil hätte bringen können, dass die deutsche Stabili-tätskultur vielleicht auf andere Länder hätte übertragenwerden können, hat auf der anderen Seite die Kostendieser Rettungsaktion gesteigert.
Zum Zweiten haben das Gewicht Deutschlands unddie Anerkennung unseres Wirkens für Europa, wennman so will: unsere politische Bonität als Deutsche,spürbar abgenommen. Jeder, der das Ohr auf der Schieneder europäischen Magistralen hat, weiß, wovon ich rede.Das war vor Ausbruch der Griechenland-Krise in unse-rer gemeinsamen Regierungszeit anders.
Zum Dritten haben Sie gegenüber dem Publikum undden Bürgern nicht fest und überzeugend kommuniziert.Sie hätten erklären müssen, dass Deutschland Europabraucht und dass es unserem Land immer nur so gut ge-hen kann, wie es den anderen Ländern um uns herum gutgeht.
Sie hätten deutlicher und klarer erklären müssen, dassund warum es in einem originären deutschen Interesseliegt, einen Beitrag zur Förderung der Stabilität derEuro-Zone und zur weiteren Integration Europas zu leis-ten. Es war von vornherein klar, dass dieser Beitrag et-was kosten würde und wir auf kleinliche nationale egois-tische Vorteile zu verzichten hätten.
Es war von vornherein klar, Frau Merkel, dass die Auf-stockung der beiden Rettungsschirme auf ihren Nenn-wert etwas kosten würde,
und Herr Schäuble hat es von Anfang an gewusst.Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange den Ein-druck vermittelt, dass Solidaritätsleistungen für Europaund die Übernahme von Risiken auch auf deutscheSchultern eine Art Gnadenakt sei, der uns in Europa ab-gerungen werden müsste. Wenn wir für den Aufbau Ostbisher ungefähr 100 Prozent einer Jahreswirtschaftsleis-tung vor der Wiedervereinigung aufgebracht und trans-feriert haben, dann ist uns Europa nicht 10 Prozent wert?Das, Frau Bundeskanzlerin, hätten Sie kommunizierenmüssen, statt den Sprachverklemmungen und Tabuisie-rungen zu folgen, die – nicht aktiv von Ihnen betrieben;das konzediere ich gerne – indirekt auch Raum für anti-europäische Ressentiments gegeben haben.
Das im Europäischen Rat jetzt anstehende Paket istrichtig. Es ist notwendig. Es ist aber nicht hinreichend,weil einige auf die Ursachen der Krise zielende Punktenicht aufgegriffen werden.Ihr Paket für Wettbewerbsfähigkeit, Frau Merkel, istebenfalls prinzipiell richtig, vermittelte aber lange denEindruck, dass es auch eine innenpolitische und inner-parteiliche Funktion hatte, indem das Gelände planiertwerden sollte, auf dem der bereits absehbare Rückzugvon den unhaltbaren Bedingungen zu den beiden Ret-
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tungsschirmen letztlich ohne Meuterei in den eigenenReihen gelingen sollte.Solche Manöver kosten Glaubwürdigkeit, eines derwichtigsten politischen Pfunde, auch im Verhältnis zu eu-ropäischen Partnern. Dieses Pfund entgleitet Ihnen zuse-hends: in der Personalie des Herrn zu Guttenberg, weilSie bürgerliche Tugenden hintangestellt haben; im Falleder Kernenergie, weil Ihr Verständnis von einer Brücken-technologie und von einem Ausstieg mit Augenmaß of-fensichtlich mit einem Deal über eine Laufzeitverlänge-rung von Kernkraftwerken bis möglichweise 2050 undeiner Kürzung von Haushaltsmitteln für alternative Ener-gieversorgungsstrategien kollidiert; und auch im Fall desUN-Mandats für eine Flugverbotszone über Libyen, weilSie als Oppositionsführerin seinerzeit die Regierung vonGerhard Schröder und Joschka Fischer massiv für eineIsolierung im Bündnissystem kritisiert haben, in die Siesich nun aber selbst durch das deutsche Abstimmungs-verhalten im UN-Sicherheitsrat gebracht haben.
Wenn ich auf eine Detailkritik an dem Paket ver-zichte, so bedeutet das nicht, dass dies bereits hinrei-chend ist. Ich möchte dazu fünf oder sechs einzelnePunkte anführen.Erstens. Wer bezahlt die Schulden überschuldeterStaaten, die Gläubiger oder die Steuerzahler? Ich halteeine Gläubigerhaftung bereits im Illiquiditätsfall, nichterst im Insolvenzfall für dringend erforderlich.
Zweitens. Was passiert mit Staaten, die unter ihrerSchuldenlast und unter ihrem Kapitaldienst zu erstickendrohen? Das Szenario einer Umschuldung wird eintre-ten. Dies sage ich Ihnen glasklar voraus, und zwar nicht,weil ich besonders originell bin, sondern weil die über-wiegende Anzahl der Experten, die man dazu hörenkann, eine solche Umschuldung sogar als Voraussetzungfür die Stabilisierung in der Euro-Zone ansieht. Ich erin-nere in diesem Zusammenhang an den Vorschlag desBundesbankpräsidenten, der zusammen mit Mitarbeiternder Bundesbank gefragt hat, warum es im Fall von Not-krediten aus den Rettungsschirmen nicht automatischeine Laufzeitverlängerung der Anleihen des in Bedräng-nis geratenen Landes um drei Jahre geben sollte.Uns stehen hinsichtlich der Umschuldungsmöglich-keiten verschiedene Instrumente zur Verfügung: Lauf-zeitverlängerung, Zinserlass bis hin zu einem klassi-schen Haircut. All dies müsste in meinen Augenvorbereitet werden. Wir sind darin durchaus trainiert,weil wir dies bereits im Pariser Club und im LondonerClub geübt haben. Wir haben weltweit viele Erfahrungenmachen können, dass dies gelungen ist.Drittens. Die Heranziehung des Bankensektors zurMitfinanzierung der Folgekosten der maßgeblich vonihm ausgelösten Finanzkrise ist nicht nur eine finanzielleoder haushalterische Frage. Ich bitte, auch den legitima-torischen Aspekt nicht zu unterschätzen. Die Bürgerstellen die Frage: Wer zahlt? Wir als Politiker müssen ih-nen sagen: Ihr zahlt im Fall der deutschen Abschirmung,im Fall der Griechenland-Hilfe, im Fall des aktuellenSchirmes und im Fall der Staatsanleihen der EZB. Da-durch kann das Vertrauen in unsere Wirtschafts- und Ge-sellschaftsordnung erschüttert werden. Deshalb sollteder fehlende Konsens im Kreis der G-20-Staaten, in derEU der 27 Staaten und in der Euro-Zone der 17 Staatenüber die Einführung einer Umsatzsteuer auf alle Finanz-geschäfte – vulgo: einer Finanzmarkttransaktionsteuer –
nicht zum Vorwand dafür genommen werden, nichts zutun, sondern man sollte mit den sechs, sieben oder achtLändern in Europa anfangen, die dazu erklärtermaßenbereit sind. Dies ist insbesondere auch der französischeStaatspräsident.
Viertens. Die Bankenkrise in Europa ist nicht über-wunden. Durch harte Stresstests wird dies belegt werden.Deshalb brauchen wir ein europäisches Bankeninsolvenz-recht, um insbesondere mit Blick auf grenzüberschrei-tende Bankinstitute zu dem zu kommen, was in Deutsch-land richtigerweise verabschiedet worden ist, nämlicheinem Restrukturierungsgesetz.
Übrigens, die Vorarbeiten zu diesem Restrukturierungs-gesetz sind maßgeblich von der damaligen Justizministe-rin, meiner Kollegin Frau Zypries, und mir erarbeitetworden – damit es da nicht zu einer Auseinandersetzungum das Copyright kommt.
Ich sage voraus, dass wir in Europa über ein solchesgeordnetes Insolvenzrecht oder eine solche Bankenab-wicklung hinaus auch eine europäische Fazilität zur Re-strukturierung und Rekapitalisierung von Banken brau-chen. Das ist ein heißes Thema, wie ich weiß, aber ichsage ganz deutlich: Ohne eine Restrukturierung oder Re-kapitalisierung von labilen Banken wird es keine umfas-sende Lösung in Europa geben.Fünftens. Ein weiterer Punkt ist, dass Europa, insbe-sondere die Euro-Zone, natürlich von internen Ungleich-gewichten geprägt ist. Die Deutschen werden inzwi-schen als die Chinesen Europas bezeichnet. UnsereHandelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse spie-geln sich in den entsprechenden Defiziten anderer Län-der wider. Weil ein Sabbatical, eine Art Ruhepause fürdeutsche Exportaktivitäten, nicht infrage kommt, stehennur zwei Strategien zur Auswahl, nämlich einerseits, dieWettbewerbsfähigkeit von Defizitländern zu stärken,und andererseits, die Inlandsnachfrage in Deutschlandebenfalls zu stärken.
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Peer Steinbrück
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Bei beiden Strategien läuft es auf sehr handfeste Fragenhinaus.In Europa wird sich die Frage stellen, ob wir die euro-päischen Mittel, die zur Verfügung stehen, zunehmendfür die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Län-der einsetzen, ob wir nach wie vor 40 Prozent, 45 Pro-zent der Mittel in die Förderung des landwirtschaftlichenSektors stecken oder ob wir dieses Geld nicht viel besserin die Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung undin Bildung investieren, also in all das, wodurch die Wett-bewerbsfähigkeit dieser Länder gefördert werdenkönnte.
Hinsichtlich der Hebung der Nachfrage in Deutsch-land geht es ganz konkret um die Lohn- und Gehaltsent-wicklung. Ich füge hinzu: Mit Blick auf die Massenkauf-kraft geht es auch um die Frage, ob die Kaufkraft inDeutschland durch die Einführung gesetzlicher Mindest-löhne nicht deutlich erhöht werden könnte.
Mit dem Wegfall der ideologischen Systemkonkur-renz 1989/1990 nach der Implosion der Sowjetunion undihrer Satrapen ist die Geschichte keineswegs zu Ende.Stattdessen haben wir es heute im globalen Maßstab miteiner ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenzzu tun. Europa muss in dieser Konkurrenz mehr sein alseine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Währungsunion,nicht zuletzt deshalb, um die Kluft seiner Bürger gegen-über europäischen Institutionen zu überwinden. Die Bür-ger sind nicht müde an Europa, aber sie sind müde an derOrganisation Europas. Um diese Kluft zu überwinden,muss Europa aus dem Zustand vornehmlich intergouver-nementaler Beschlüsse herausgeführt werden. Es bedarfeiner Parlamentarisierung europäischer Entscheidungs-prozesse mit Blick sowohl auf das Europäische Parla-ment als auch auf die nationalen Parlamente.
In diesem Sinn hat die Bundesregierung ihre Informa-tionspflicht auf der Basis des Bundesverfassungsge-richtsurteils mehrfach sträflich verletzt.
Die Art des Umgangs mit dem Pakt für Wettbewerbsfä-higkeit gegenüber dem Parlament ist vor diesem Hinter-grund inakzeptabel.
Wir haben es mit einem immer weiter wachsenden Kom-petenzzuwachs der Europäischen Kommission und auchdes Europäischen Rates zu tun. Es gibt aber keinen De-mokratie- und Legitimationszuwachs. Das wird die Eu-ropamüdigkeit eher fördern als abbauen.Es geht allerdings um mehr als das. In dieser ökono-misch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz müssen wireine neue Geschichte über Europa erzählen. Europa istnicht nur Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion,sondern es ist über eine Friedens- und Wohlstandsregionhinaus eine Region, in der Rechtssicherheit, Sozialstaat-lichkeit, Freizügigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit,aber keine Korruption herrschen.
Deshalb war übrigens die Reaktion auf die ungarischeMediengesetzgebung in der Debatte in diesem Hauseseinerzeit unterirdisch.
Wenn wir insbesondere einer jüngeren Generationund einer Wahlbevölkerung insgesamt Europa als histo-risch einmalige Errungenschaft vermitteln wollen, stattEuropa nur als bürokratische Konstruktion – das Subsi-diaritätsprinzip bei Glühbirnen lässt grüßen – und als ei-nen reinen Männerklub mit Dame erscheinen zu lassen,dann werden wir die Attraktivität dieses Kontinents neuerklären und in eine faszinierende Geschichte fassenmüssen. Genau darum geht es heute und morgen im Eu-ropäischen Rat bei der Bewältigung der Krise und denanstehenden Beschlüssen.Vielen Dank für das Zuhören.
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn die Staats- und Regierungschefs in dieser Wochezusammenkommen, dann geht es im Kern um die Stabi-lität des Euro. Dies ist gleichzeitig eine zentrale Voraus-setzung für die Stabilität Europas. In so schwierigen Fra-gen war Arroganz noch nie ein guter Ratgeber, HerrSteinbrück.
Dass Sie Ihre eigenen Verantwortlichkeiten ausblenden,ist ebenfalls bemerkenswert.Deutschland ist von seiner Geschichte geprägt. DieBürgerinnen und Bürger haben eine hohe Sensibilität,
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Birgit Homburger
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wenn es um ihre Währung geht. Deshalb geht es darum,diese Währung zu sichern. Wir brauchen eine harteWährung. Das ist seinerzeit bei der Umstellung auf denEuro versprochen worden. Wir haben damals mit demStabilitäts- und Wachstumspakt dafür gesorgt. Dass wirheute in einer so schwierigen Lage sind, HerrSteinbrück, hat auch und vor allem damit zu tun, dassder Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa im Jahr2004 aufgeweicht wurde, und zwar deshalb, weil einerot-grüne Regierung innenpolitische Probleme hatte, diesie zulasten des Euro und damit auf dem Rücken Euro-pas ausgetragen hat.
Während Herr Schröder und Herr Fischer, die damalszuständig waren, längst als hochbezahlte Lobbyisten un-terwegs sind, dürfen wir heute die Scherben in Europazusammenkehren. Das ist die Wahrheit, Herr Steinbrück.
Wir wollen, dass sich die Bürger auf unsere Währungverlassen können. Deshalb ist es unser Ziel, den Euro zustabilisieren, ihn auf ein solides Fundament zu stellenund einen Krisenmechanismus für den Notfall einzufüh-ren.
Diesem Ziel sind wir in den letzten zwölf Monaten nä-hergekommen. Wir müssen aber jeden einzelnen Schrittbis zum Schluss begleiten. Ich sage ganz deutlich: EineZustimmung kann es nur zu einem Gesamtpaket geben,weil es das Ziel sein muss, die Ursachen einer Krise zubekämpfen – dazu gehört auch eine Verschärfung desStabilitäts- und Wachstumspakts –, und es nicht genügt,die Symptome zu retuschieren. Das ist das Ziel, das wirverfolgen, und dies rechtfertigt eine entsprechend inten-sive Behandlung auf europäischer Ebene.
Es besteht ein Unterschied zwischen einer Transfer-union, wie Sie es verstehen, Herr Steinbrück, und einerHaftungsunion. Sie wollten von Anfang an bedingungs-lose Hilfe für Griechenland und werfen uns jetzt vor,dass wir Griechenland nicht schnell genug geholfen hät-ten. Sie haben schon zu einem Zeitpunkt, als Griechen-land noch gar keine Hilfen wollte, davon gesprochen,Griechenland das Geld hinterherzutragen. So werden Sienie eine Stabilitätskultur erreichen.
Sie setzen sich für Euro-Bonds ein. Deutschland müsstedamit für die Schulden anderer Länder geradestehen. Siewollen nichts anderes als eine Vollkaskohaftung für Eu-ropas Schulden. Eine solche Vollkaskohaftung machenwir nicht mit.
Es sind nicht diejenigen die besseren Europäer, dieglauben, mit Euro-Bonds und einer EU-Steuer eineschnelle Lösung zu haben. Stabilität wird es nur danngeben, wenn jeder einzelne Mitgliedstaat sich darüberim Klaren ist, dass er seiner stabilitätspolitischen Verant-wortung gerecht werden muss. Sie, Herr Steinbrück, sa-gen jetzt, wir hätten zu lange gezögert. Wer hat dennaber dem Rettungsschirm in diesem Hause im letztenMai, kurz vor den NRW-Wahlen, nicht zugestimmt? Eswar Ihre Fraktion, die sich verweigert hat.
Sie sprachen von kleinkarierten nationalen Egoismen.Das finde ich schon bemerkenswert. Es geht an dieserStelle auch um die Stabilität Deutschlands und um dasGeld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Wenn wir klare Regeln einfordern, dann geht es nichtum kleinkarierte nationale Egoismen, sondern dann istdas eine schlichte Notwendigkeit. Das sind wir den Bür-gerinnen und Bürgern Deutschlands schuldig.
Die No-bail-out-Klausel ist eine Grundfeste Europas.
Es soll eben keine Schuldenüberwälzung auf andereStaaten der Euro-Zone zugelassen werden, und es sollkeine Euro-Bonds oder gemeinsam finanzierte oder ga-rantierte Schuldenrückkaufprogramme geben. Wir wol-len eine Stabilitätsgemeinschaft. In der Tat ist Europaeine Schicksalsgemeinschaft. Es ist aber nicht nur eineSchicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Verantwor-tungsgemeinschaft. Für diese Verantwortungsgemein-schaft setzen wir uns ein.
Es geht nicht darum, dass wir jetzt neue Geschichtenüber Europa erzählen. Wir müssen in einer ganz konkre-ten Situation entscheiden, wie es weitergeht und wie wirsicherstellen, dass solche Situationen in Zukunft mög-lichst vermieden werden. Jeder Einzelstaat muss seinerstabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden.Deshalb wollen wir die Verschärfung des Stabilitätspakts– das hat die Bundeskanzlerin eben noch einmal ausge-führt –, ein Frühwarnsystem sowie nach Möglichkeit au-tomatisierte Sanktionen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist zustärken, und zwar auch durch eine bessere Koordinie-rung der Wirtschaftspolitik. Das alles sind integrale Be-standteile eines Pakets, und ein Teil ist ohne den anderenTeil nicht denkbar; das ist ein umfassender Ansatz. DieBundeskanzlerin hat heute hier gesagt, dass sie den Sta-bilitäts- und Wachstumspakt nicht aufweichen will unddass es eine gemeinsame Verpflichtung ist, dafür zu sor-gen, dass er auch wirklich eingehalten wird. Dabei hatsie die volle Unterstützung dieses Hauses, jedenfalls derKoalitionsfraktionen in diesem Haus.
Wir haben in den letzten Monaten doch einiges in Eu-ropa erreicht, auch was das Umdenken bei anderen an-
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geht. Das haben wir deshalb erreicht, weil wir auch imDeutschen Bundestag eine so klare Haltung eingenom-men haben, weil wir in Anträgen immer wieder die rotenLinien aufgezeigt haben; das war notwendig. Dadurchhatte die Bundeskanzlerin eine starke Verhandlungsposi-tion in Brüssel. Diese Verhandlungsposition hat sie – daswill ich festhalten – klug genutzt.
Es gibt drei Kernpunkte, für die sie ihre starke Ver-handlungsposition genutzt hat. Erstens, das Ultima-Ra-tio-Prinzip für den Einsatz der Stabilisierungsmechanis-men. Hilfen werden nur dann gewährt, wenn die Euro-Zone als Ganzes in Gefahr ist. Ich halte dies nach wievor für richtig. Wer wie die Opposition leichtfertig Gel-der in Europa verteilt, schafft keine Anreize für eine so-lide Finanzpolitik. Staaten müssen zuerst eigene An-strengungen unternehmen, um die Verschuldung zustoppen. Wir sind froh, dass auch in Zukunft der IWFstark vertreten sein wird und mit im Boot sitzt. Das istein wichtiger Punkt.
Zweitens, das Einstimmigkeitsprinzip. Das Einstim-migkeitsprinzip bei allen Maßnahmen des ESM ist eineLebensversicherung für den deutschen Steuerzahler.
Niemand kann gegen unser Votum über den Einsatz derGelder der deutschen Steuerzahler bestimmen. Auch dasist ein Erfolg für Deutschland.
Drittens. Wir wollen – auch das ist entsprechend ver-handelt worden – eine Umschuldung, also ein Insolvenz-recht für Staaten. Es ist wichtig, dass es eine Beteiligungprivater Gläubiger an Hilfsmaßnahmen geben wird. Dasdarf nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleiben.Vielmehr muss das, was die Staats- und Regierungschefsder Euro-Gruppe bei ihrem letzten Treffen entschiedenhaben, immer gelten und umgesetzt werden.
Es gibt also drei glasklare Botschaften von der letztenSitzung der Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe: Ultima-Ratio-Prinzip, Einstimmigkeitsprinzipund Gläubigerbeteiligung. Das sind die Kernpunkte.Diese sind einzuhalten. Für uns ist auch wichtig, dass aufdem bevorstehenden Gipfel klargestellt wird, Frau Bun-deskanzlerin, dass das, was die Staats- und Regierungs-chefs in aller Eindeutigkeit festgehalten haben, gilt unddass das, was teilweise in dem Papier des Ecofin-Ratsnicht ganz so deutlich formuliert ist, hinter dem zurück-steht, was die Staats- und Regierungschefs zugesagt ha-ben. Das heißt, diese drei Punkte sind für uns nicht ver-handelbar und müssen durchgesetzt werden.
Wir haben natürlich noch ein Problem mit der Finan-zierung des europäischen Stabilitätsmechanismus. Hiergeht es um Einlagen oder Bürgschaften. Wir sind uns inder Koalition einig, dass das Ergebnis des Ecofin-Ratesnicht das Ergebnis des Gipfels der Staats- und Regie-rungschefs sein darf. Wer Solidarität will – wir sind be-reit, uns solidarisch zu verhalten –, der darf nicht diejeni-gen überfordern, die Solidarität leisten sollen. Darübermuss noch einmal geredet werden; denn deutsche Bürg-schaften haben ein Triple-A. Deshalb ist über die Barein-lagen nachzuverhandeln. Das hat die deutsche Regie-rung in Europa schon angemeldet. Wir gehen davon aus,dass es hier zu einer Veränderung kommt. Frau Bundes-kanzlerin, Sie haben auch an dieser Stelle die volle Rü-ckendeckung der Koalition für die Verhandlungen.
Sie haben über die schwierige Situation in Portugalgesprochen und haben deutlich gemacht, dass die vonden Staats- und Regierungschefs befürworteten Maßnah-men nicht die Zustimmung des Parlaments gefunden ha-ben. Das ist eine schwierige Situation, die in den nächs-ten Tagen sicherlich eine Rolle spielen wird, auch inEuropa.Wenn Portugal nicht sparen will, dann können unddürfen wir nicht mit Geld des Steuerzahlers helfen. DieHilfe ist nur bei einem klaren Sparkonzept möglich. DerRettungsschirm ist kein Rettungsnetz und erst rechtkeine Rettungshängematte.
In Lissabon wurden die Rechte der nationalen Parla-mente gestärkt, und das ist gut so. Das zeigt sich in die-sem Verfahren. Wir wollen, dass die Ratifizierung desVertrages und die Umsetzung der anderen Punkte gleich-zeitig erfolgen. Es gibt viele Staaten in Europa, die einInteresse an einer schnellen Ratifizierung der Vertrags-änderung haben. Deutschland hat ein ebenso großes In-teresse daran, dass die Mechanismen, die hinter dieserRatifizierung stehen, verbindlich vereinbart werden.Deshalb darf im weiteren Ablauf die Vertragsänderungnur zusammen mit der Umsetzung und Verschärfung desStabilitäts- und Wachstumspaktes erfolgen. Wir brau-chen klare Verhältnisse. Eine Ratifizierung gibt es nurim Rahmen des Gesamtpakets.
Ich will zum Schluss etwas festhalten,
was auf europäischer Ebene keine Rolle spielt, aber hierim Hause klar sein muss. Bei der Ratifizierung legen wirgrößten Wert darauf, dass dieses Parlament nicht nur ein-gebunden wird, sondern dass unsere Rechte bei der Um-setzung der Maßnahmen gewahrt bleiben.
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11264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Birgit Homburger
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Das heißt: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht desParlaments. Deshalb werden wir in jedem Einzelfall, vondem der Haushalt betroffen ist, dafür sorgen, dass derDeutsche Bundestag seine Zustimmung geben muss. Die-ser Parlamentsvorbehalt ist nicht verhandelbar. Das isteine ganz klare Linie, die diese Koalition vereinbart hat.Wir werden die Rechte des Parlaments durchsetzen. Ichlade die Opposition in diesem Hause ein, daran teilzuha-ben.
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen sagen:Ich finde es unverfroren und arrogant, dass Sie eine Re-gierungserklärung abgeben, ich Ihnen die ganze Zeit zu-höre und Sie, wenn die Opposition erwidert, aufstehen,herumlaufen und nicht zuhören. Das ist nicht anständig;das ist arrogant und falsch, wenn ich das einmal deutlichsagen darf.
Wir hatten zunächst eine Bankenkrise, dann eineKrise des Euro, und jetzt haben wir eine Staatsschulden-krise, übrigens auch in unserem Land; denn Bund, Län-der und Gemeinden haben im letzten Jahr neue Schuldenim Umfang von 300 Milliarden Euro gemacht. Davonsind 232 Milliarden Euro auf die Bankenkrise zurückzu-führen. Ich habe eine Frage: Wer bezahlt jetzt dieseSchulden? Bei uns sind das ganz eindeutig die Bürgerin-nen und Bürger, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerund sogar die Hartz-IV-Empfangenden. Es gilt nicht dasVerursacherprinzip; sonst würden nämlich die Bankendie Schulden bezahlen müssen. Genau das haben Sie im-mer abgelehnt.
– Es ist richtig: Das haben wir schon einmal gesagt.Aber geändert haben Sie es nicht, weil Sie die Bankenimmer schonen; denn es regiert die Bankenlobby, es re-gieren nicht Sie selbst. Das ist nämlich das Problem, mitdem wir es in Deutschland zu tun haben.
Dasselbe gilt übrigens für Zahlungen auf europäi-scher Ebene. Die Privatbanken verdienen glänzend. Ichmuss Ihnen, Herr Kauder, zwei Beispiele nennen, damitSie die in Baden-Württemberg verbreiten. Erstes Bei-spiel: Die Europäische Zentralbank gibt keine Kredite anStaaten, auch nicht in Ausnahmesituationen, obwohl dasjetzt dringend notwendig wäre. Was macht die Europäi-sche Zentralbank? Sie gibt zum Beispiel der DeutschenBank einen Kredit über 1 Milliarde Euro und verlangt da-für 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank zurgriechischen und zur irischen Regierung und sagt: Wirhaben gehört, ihr braucht Geld. – Dann antworten die Re-gierungen: Das ist schön; wir hätten gerne 1 MilliardeEuro. – Dann erwidert die Deutsche Bank: Wir leiheneuch das Geld, wenn ihr uns 13 Prozent – im Falle Grie-chenlands – oder 10 Prozent – im Falle Irlands – Zinsenzahlt. – Mit einer Überweisung verdient die DeutscheBank ein Schweinegeld, ohne irgendetwas hergestelltoder irgendeinen Wert geschaffen zu haben.
Ich nenne Ihnen jetzt das zweite Beispiel. Sie müssenauch das zweite Beispiel verbreiten, Herr Kauder.
Sie haben zusammen mit der SPD die Hypo Real Estateverstaatlicht. Es ist schon selten, dass die CDU etwasverstaatlichen will und die Linke Kritik dazu äußert. Daslag einfach daran, dass wir gesagt haben: Wenn wir ver-staatlichen, dann verstaatlichen wir nach dem schwedi-schen Modell und übernehmen alle privaten Großban-ken. – Sie aber wollten nur die höchstverschuldete Bankübernehmen. Dadurch haben die Bürgerinnen und Bürgervon Ihnen die gesamten Schulden der Hypo Real Estatebekommen. Insgesamt sind auch von unseren Bürgerin-nen und Bürgern dadurch an die Deutsche Bank jetztschon 20 Milliarden Euro gezahlt worden. Deshalb kanndie riesige Dividenden an ihre Großaktionäre sowie Boniüber Boni an alle ihre Ackermänner auszahlen. Das istdie Wahrheit. Genau das ist das Problem. Hier brauchenwir endlich Gerechtigkeit.
Jetzt komme ich zu Griechenland, Irland, Portugalund Spanien und sage Ihnen: Was Sie dort machen, FrauBundeskanzlerin, ist eine Politik von Versailles. Ich hattegehofft, wir hätten aus der Geschichte endlich gelernt.Deutschland hat zu Recht den Ersten Weltkrieg verloren.Aber die Sieger konnten in Versailles nicht aufhören, zusiegen, und haben ganz enge und demütigende Bedin-gungen für Deutschland festgelegt. Das war nicht dereinzige, aber ein Grund dafür, dass dann die NSDAP mitihrem entsetzlichen Nationalismus, Rassismus und Anti-semitismus solchen Erfolg in Deutschland hatte.
Ich dachte, wir hätten daraus gelernt. Aber was machenwir? Wir machen gegenüber Griechenland, Irland, Por-tugal und Spanien wieder eine Politik von Versailles. Sieverlangen dort Lohnsenkungen, Rentensenkungen, Sen-kungen der Sozialleistungen, Rücknahme von Investitio-nen, und – die Frau Bundeskanzlerin hat es heute stolzgesagt – Griechenland soll öffentliches Eigentum imWert von 50 Milliarden Euro verkaufen. Sollen die auch
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Dr. Gregor Gysi
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noch die Akropolis verkaufen, oder was stellen Sie sicheigentlich vor? Ich finde das indiskutabel.
Dass der portugiesische Ministerpräsident zurückge-treten ist, liegt doch nur daran, dass die Opposition jetztmehrheitlich entschieden hat, diesen Kurs von Versaillesnicht mitzumachen, und das ist völlig richtig.
– Ja, ich weiß, dass die Konservativen und die Linkendas auch entschieden haben. Wenn die Konservativen inder Opposition sind, haben sie ab und zu auch einmal ei-nen vernünftigen Gedanken; selten, aber immerhin, eskommt vor.
Das nächste Problem besteht darin, dass Sie hier dieFinanzmärkte nicht reguliert haben. Was haben Sie ge-macht, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben weder die Spe-kulation noch Leerverkäufe noch Hedgefonds nochZweckgesellschaften eingeschränkt. Es gibt auch keineFinanztransaktionsteuer. Herr Steinbrück, ich habe gerngehört, dass Sie für die Finanztransaktionsteuer sind. Siemüssen nur zwei Dinge erklären, erstens, warum Sie sieals Bundesfinanzminister nicht eingeführt haben, und,zweitens, weshalb Sie bei einer namentlichen Abstim-mung dagegen gestimmt haben. Wenn Sie das noch er-klären, dann sind wir hier einen Schritt weiter.
Der Internationale Währungsfonds befürchtet jetztübrigens eine neue und noch schlimmere Krise, undzwar deshalb, weil nichts reguliert worden ist. Wir wol-len nicht vergessen: Sie haben einen Fonds für dienächste Krise eingeführt. Da sollen die Banken jedesJahr 1 Milliarde Euro einzahlen. Da Sie den Banken sel-ber innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Ver-fügung gestellt haben, machen Sie damit eine sehr lang-fristige Politik. Dann haben wir das Geld von denBanken, wenn ich das Ganze richtig verstehe, schon in480 Jahren zurück.Aber abgesehen davon: Jede Bundesregierung achtetimmer auf den Export und nicht auf die Binnenwirt-schaft. Deshalb die Reallohnsenkung, die Rentensen-kung, die Sozialleistungssenkung! Sie wollen, dass alleProdukte so billig wie möglich ins Ausland verkauftwerden können. Deshalb nehmen wir da auch Platz zweiein. Ich sage Ihnen: Diese Einseitigkeit muss endlichüberwunden werden. Wir brauchen eine Stärkung derBinnenwirtschaft. Deshalb betone ich erneut: Die ein-zige Mittelstandspartei ist die Linke.
– Ich wusste, dass Sie sich freuen. Deshalb wiederholeich es. Ich will Ihnen auch die Gründe nennen, FrauHomburger, damit Sie es verstehen. Passen Sie auf!Wir sind die Einzigen, die Lohnsteigerungen wollen,die Rentensteigerungen wollen und die Steigerungen derSozialleistungen wollen. Davon lebt der Gastwirt, davonleben die kleinen und mittleren Unternehmen, die in derBinnenwirtschaft agieren. Für die tun Sie gar nichts. Dasist die Wahrheit.
Wir wollen ein soziales Europa der Völker, und Siewollen ein Hartz-IV-Europa.
Der Reallohnabbau in den letzten zehn Jahren betrug inDeutschland 4,5 Prozent, auch unter Mitregierung derSPD. Erklären Sie doch einmal, weshalb keine andereIndustriegesellschaft einen Reallohnabbau hatte, nurDeutschland. In Norwegen gab es sogar ein Plus von25 Prozent. Was Sie auf dieser Strecke angerichtet ha-ben, ist nicht vertretbar.
Dasselbe gilt für Renten und Sozialleistungen.Sie wollen statt eines sozialen Europas ein Agenda-2010-Europa. Da spielt auch gar keine Rolle, ob Union,SPD, FDP oder Grüne handeln; da sind Sie sich ja einig.Was bedeutet ein Agenda-2010-Europa? Das bedeutet:prekäre Beschäftigung, Befristung, Leiharbeit, Aufsto-ckung, das gesamte Paket im Niedriglohnsektor. Das al-les ist durch die Agenda 2010 in Deutschland massen-haft eingeführt worden.Lassen Sie mich nur zu drei Dingen etwas sagen. Be-fristete Beschäftigung bedeutet immer, den Leuten keinePerspektive zu geben – weil sie nicht wissen, ob sie wie-der einen Vertrag bekommen. Sie können sich überhauptnicht darauf einstellen. Das schwächt auch die Gewerk-schaften; denn jemand, der einen befristeten Vertrag hat,geht doch nicht zu einer Kundgebung gegen die Leitungseines eigenen Unternehmens, weil er Angst hat, keinenneuen Vertrag zu bekommen. Das ist ja auch Ihr Ziel.Deshalb soll die befristete Beschäftigung ausgebaut wer-den.
Leiharbeit ist für mich eine moderne Form der Skla-verei. Wir könnten wenigstens die französische Rege-lung einführen, wonach ein Leiharbeiter von Anfang angenauso viel Geld plus 10 Prozent bekommt. Dann wirddas eine reine Ausnahme. Aber hier arbeiten die Leihar-beiter für einen Zweidrittellohn oder einen halben Lohn.
Sie wollen die gleiche Bezahlung nach neun Monateneinführen, wenn die Leiharbeiter schon längst wiederentlassen sind. Liebe FDP, das könnt ihr nun wirklichvergessen. Das ist eine Veralberung der Leute.
Nun zu den Aufstockerinnen und Aufstockern. Auf-stockerinnen und Aufstocker verdienen, obwohl sie Voll-zeit arbeiten, so wenig, dass sie ergänzend Hartz IV be-antragen müssen. Wir betreiben diesbezüglich eineSubventionierung von jährlich 10 Milliarden Euro. DieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler Deutschlands zahlen
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11266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Gregor Gysi
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an die Aufstockerinnen und Aufstocker 10 MilliardenEuro. Die Frau Bundeskanzlerin sagt immer, sie sei stolzdarauf, dass der Staat an dieser Stelle eingreift. Ich sage,das ist ein Grund, sich zu schämen. Jemand, der einenVollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen Lohn haben,mit dem er in Würde leben kann, und darf nicht zum So-zialamt geschickt werden.
– Sie müssen das ändern. Dann brauchen Sie sich dasnicht mehr zu anzuhören.
In Deutschland sind 22 Prozent aller Beschäftigungs-verhältnisse prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das istmehr als ein Fünftel. Das ist die Realität, mit der wir eszu tun haben.Mit dem Agenda-Europa würde auch die Rente ab 67eingeführt. Die ganze Zeit reden Sie vier – SPD, Grüne,Union und FDP – davon, der demografische Faktor seientscheidend, die Leute würden immer älter. Das ist völ-lig falsch. Entscheidend ist die Produktivität. Ein Bauerkonnte früher nur acht Menschen versorgen; heute ver-sorgt er über 80 Menschen. Die Produktivitätssteigerungist das Entscheidende.
Deshalb müssen wir an eine Kürzung der Lebensarbeits-zeit und auch der Wochenarbeitszeit denken, aber nichtan eine Verlängerung.
Herr Müntefering hat immer gesagt, man müsse auchberücksichtigen, wie die Älteren beschäftigt sind. Ich sagees Ihnen: Von den 63- bis 64-Jährigen haben 8,4 Prozentder Männer und 3,7 Prozent der Frauen einen Vollzeitjob.Das ist die Realität. Und da sagt auch die SPD diesen Leu-ten, dass sie zwei Jahre länger arbeiten sollen. Ich findedas indiskutabel.
Ein Agenda-Europa bedeutet ferner, dass die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend die Kostenfür ihre Gesundheit alleine tragen müssen. Jetzt habenSie, Union und FDP, doch ernsthaft den Arbeitgeberan-teil eingefroren und gesagt: Alle zusätzlichen Kostenmüssen die Versicherten, das heißt die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, alleine tragen. Das ist extrem un-sozial.Wir brauchen ein Europa frei von Atomenergie undeine staatliche Energiepreisregulierung. An dieser Stellerufen Sie immer, das sei Planwirtschaft. Was Planwirt-schaft angeht, haben Sie aber von Tuten und Blasenkeine Ahnung.
– Das stimmt. – Wir hatten Jahrzehnte der staatlichenEnergiepreisregulierung in der Bundesrepublik Deutsch-land, und dort gab es keine Planwirtschaft. Wenn Sienach dem Markt rufen würden, hätte ich nichts dagegen.Wir haben hier aber nur vier Konzerne – das ist alles –,die sich feudal Deutschland aufgeteilt haben. EntgegenIhrer Annahme sind sie in der Lage, einmal mittwochszu telefonieren und zu verabreden, wie sie uns über-nächste Woche abzocken. Das muss endlich ein Ende ha-ben.
Wir brauchen ein Europa des Friedens, frei von Krie-gen. Nicht zu fassen ist, dass eine Bundesregierung ausSPD und Grünen und dann aus Union und SPD Waffen-exporte an das feudale Saudi-Arabien genehmigt, dasnicht nur Menschenrechte – insbesondere von Frauen –verletzt, sondern aus dem sämtliche Zahlungen an dieTerrororganisation al-Qaida fließen. Von 2005 bis 2009waren dies 471 Millionen Euro. Damit wurden Panzerund Munitionsfabriken möglich. Jetzt marschiert Saudi-Arabien in Bahrain ein und schießt mit deutschen Waf-fen auf friedliche Demonstranten.
Herr Kollege!
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Die Regierung
von Union und SPD hat ferner von 2006 bis 2009 Waffen-
exporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro gelie-
fert. Gestern hat Herr Kauder gesagt, dass das ein Fehler
war. Das würde ich auch gern von der SPD hören. Das
war ein gravierender Fehler. Man weiß nämlich nie, auf
wen Diktatoren schießen.
Ich sage Ihnen zum Schluss: Der Kriegsbeschluss der
UNO ist falsch. Der Außenminister bekommt jetzt mit,
wie schwer es in Deutschland ist, nicht an einem Krieg
teilzunehmen. Ich füge hinzu: Was SPD und Grüne ma-
chen, ist reine Eierei. Sagen Sie doch einmal klipp und
klar, ob Sie dafür oder dagegen sind. Sagen Sie nicht
nur, die Regierung hätte sich klarer äußern müssen.
Ich bin froh, einer Fraktion anzugehören, die klar
Nein zu Krieg als politischem Mittel sagt, wie übrigens
auch Willy Brandt.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder fürdie CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Der Europäische Rat heute und morgen wird eine ganzbedeutende Entscheidung für Europa treffen. Er wirdnämlich einen Regelungsmechanismus beschließen, vondem wir einige Teile dann noch in nationales Recht um-setzen müssen. Er wird einen Regelungsmechanismusbeschließen, der verhindern soll, dass die Probleme, diejetzt entstanden sind, in Zukunft wieder entstehen. Derentscheidende Punkt ist, dass wir jetzt aus dem lernen,was in der Vergangenheit nicht richtig funktioniert hat.
Dafür ist natürlich, Herr Steinbrück, um gleich auf ei-nen von Ihnen angesprochenen Punkt zu kommen, inEuropa eine Einigung zu erzielen. Hier gibt es nicht dasDiktat des einen, der sagt: „So muss es gemacht werden“und dem alle anderen folgen müssen. Die Bundesregie-rung hat vielmehr eine führende Rolle dabei gespielt,dass man sich auf das geeinigt hat, was jetzt im Rat vor-liegt. Dieses Ergebnis geht ausschließlich auf die klugeVerhandlungsstrategie der Bundesregierung und derBundeskanzlerin zurück, auf keinen anderen. Das istFührung in der Europäischen Union.
Richtig ist, Herr Steinbrück, dass auch in Zeiten, indenen SPD-Bundeskanzler für Europapolitik Verantwor-tung hatten, geführt wurde. Mit dem Ergebnis der Füh-rung, die damals ausgeübt wurde, schlagen wir uns aberheute herum. Sie haben den Stabilitätspakt aufgeweicht.Das war ein Ergebnis Ihrer Führung. Damit müssen wirjetzt zurechtkommen.
Da kann ich nur sagen: Führung ist nicht immer nur gut.Es muss sich auch um richtige Führung handeln.Neben all den Mechanismen, die die Bundeskanzlerindargestellt hat und auf die die Kollegin Homburger nocheinmal eingegangen ist, ist noch etwas anderes entschei-dend: Ein zentraler Punkt ist auch der Pakt für Wettbe-werbsfähigkeit. Das ist nicht nur deshalb so, weil dieserdazu beitragen soll, dass zentrale Wirtschaftsparameterangeglichen werden, sondern auch, weil dieser Pakt fürWettbewerbsfähigkeit, Frau Bundeskanzlerin – daswürde ich mir auch wünschen –, eine dauerhafte ständigeKontrolle der Entwicklungen in den einzelnen Staaten inEuropa ermöglicht. Daran hat es doch bisher gefehlt. Eshat in den letzten Jahren doch kaum jemand richtig zurKenntnis genommen, was in Griechenland abgelaufenist. Deswegen führt dieser Pakt für mehr Wettbewerbsfä-higkeit auch dazu, dass genauer und intensiver hinge-schaut wird, welche Entwicklungen in Europa ablaufen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gip-fel in Europa, auf dem ein neuer Regelungsmechanismusbeschlossen wird, wird auch eine Zeit der intensivenDiskussion über interne Angelegenheiten Europas zu ei-nem zwar nicht endgültigen, aber einem gewissen Ab-schluss bringen. Dies halte ich für notwendig. Wir brau-chen nämlich ein starkes Europa für Wohlstand undZukunft in Europa selber. Aber angesichts dessen, wasauf der ganzen Welt los ist, brauchen wir auch ein star-kes Europa als Partner bei den großen Herausforderun-gen in der Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen.Hier nenne ich als Beispiel, das durch die Gescheh-nisse in Japan eine neue Dimension bekommt, die Roh-stoffpolitik. Wir müssen uns in Europa mit China überdie Rohstoffpolitik auseinandersetzen. Wir müssen unsin Europa mit Fragen der Energiesicherheit auseinander-setzen und uns damit beschäftigen, mit welchen Ener-gieformen wir in die Zukunft gehen. Es ist geradezu ab-surd, wenn wir in Europa sagen, dass die Sicherheit vonKernkraft vorangetrieben werden muss, wir Ausstiegs-szenarien haben – das ist alles in Ordnung – und Chinauns heute bescheinigt, dass dort so wie bisher weiterge-macht wird. Da muss sich Europa um eine Lösung fürdie ganze Welt bemühen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Eu-ropa muss sich auch darum kümmern, dass Menschen-rechte in der Welt nicht nur eine Ausnahme sind undnicht nur Europa ein Hort der Menschenrechte ist, son-dern sie in der ganzen Welt geachtet werden.An dieser Stelle muss ich sagen: Ja, es war richtig,dass im Weltsicherheitsrat jetzt eine Entscheidung fürLibyen getroffen wurde. Es war aber genauso richtig,dass die Bundesrepublik Deutschland sich aufgrund ver-schiedener Fragen, die heute noch offen sind, im Sicher-heitsrat der Stimme enthalten hat. Sie hat nicht Nein ge-sagt, sondern nur erklärt: Wir können an diesem Mandatnicht teilnehmen.Aber unsere Solidarität und Unterstützung dort, wowir sie leisten können, wird morgen mit dem Beschlusszum AWACS-Einsatz dokumentiert. Wir brauchen unsvon niemandem vorhalten zu lassen, dass wir im Bünd-nis kein stabiler Partner seien.
Im Übrigen rate ich dazu – darum würde ich auch bit-ten, Frau Bundeskanzlerin –, dass man in Europa da-rüber spricht und dass wir uns auch ein Bild davon ver-schaffen, wie die Entwicklung nun in den einzelnenStaaten verläuft. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wirsorgen jetzt für einen Stopp. – Wir müssen auch dafürSorge tragen, wie es weitergeht.Ich sehe mit einiger Sorge die Diskussionen um dieVerfassungsänderungen in Ägypten. Bis zum heutigenTag ist nicht sichergestellt, dass auch für koptischeChristen in Ägypten Religionsfreiheit gilt. Auch dortmüssen wir genauer hinschauen. Wir dürfen nicht ein-fach schweigen, sondern müssen dafür sorgen, dass dies
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11268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Volker Kauder
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erreicht werden kann, meine sehr verehrten Damen undHerren.
Ägypten und Tunesien sind etwas aus dem Blickwin-kel verschwunden. Ich habe manchen Umsturz, manchesogenannte Volksbewegung erlebt, beispielsweise imIran, ohne dass ich behaupten könnte, dass die Verhält-nisse für die Menschen vor Ort durch diese Bewegungbesser geworden sind, als sie vorher waren. Deswegenkommt es auch darauf an, solche Entwicklungen zu be-gleiten. Ich würde herzlich darum bitten, dass dies auchein Thema in Europa bleibt.Herr Steinbrück, natürlich haben Sie mit Ihrer Aus-sage recht, dass es nicht nur darum geht, in dem Fall, indem tatsächlich Insolvenz eingetreten ist, zu helfen. DieEuro-Gruppe hat sich im November 2010 mit genau demvon Ihnen angesprochenen Thema befasst und dabeiauch ein Ergebnis erzielen können. Wegen der Bedenkender Europäischen Zentralbank hat man gesagt: Im Fallevon Problemen, die auf eine Insolvenz hinauslaufenkönnten, muss mit den Gläubigern gesprochen werden,dass sie das internationale Regelwerk einhalten.Mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht zu machen. Ichbin aber schon sehr froh, wenn das System der Haftungauch von Privaten eintritt und die Solvenzregelungen,die wir jetzt in dem europäischen Gesamtpaket beschlie-ßen, dann auch zum Gesetz gemacht werden können.Im Übrigen sage ich auf die Frage, wer eigentlich fürsolche Dinge bezahlt, nur Folgendes: Es kommt dochdarauf an, zu differenzieren – jetzt in der konkreten aktu-ellen Situation und für die Zukunft. Herr Steinbrück, Siehaben als Bundesfinanzminister, unterstützt von uns,doch genau diesen Weg beschritten. Sie haben doch dieHypo Real Estate mit Steuergeldern finanziert, um sie zuretten. Sie haben dabei nicht gefragt, wo private Gläubi-ger sind. Auch Sie haben das gemacht. Die Frage istdoch: Was geschieht in der Zukunft? Herr Steinbrück,ich wäre angesichts der Verantwortung, die Sie für diekatastrophale Situation der WestLB tragen, etwas leiser.
Ich glaube, dass wir mit dem neuen System auf einemguten Weg sind. Im Übrigen haben wir hier im Deut-schen Bundestag beschlossen, dass wir eine Finanztrans-aktionsteuer, eine Beteiligung privater Märkte, wollen.Sie wissen als Fachmann doch genauso gut wie jeder an-dere, dass eine Transaktionsteuer auf nationaler Ebenevölliger Unsinn ist und auf europäischer Ebene geradenoch machbar ist.
– Ja, wissen Sie, man kann natürlich etwas wollen, aberes muss dann auch zu einem Ergebnis führen. – Ich habemit den verantwortlichen Leuten in Singapur gespro-chen. Sie haben gesagt: Führen Sie doch eine nationaleTransaktionsteuer ein, führen Sie doch eine europäischeTransaktionsteuer ein; dann bauen wir hier drei weitereTürme, damit wir noch mehr in Singapur abwickeln kön-nen. – Das Ganze treibt die Finanzaktivitäten aus Europaund aus unserem Land heraus. Deswegen sollte man andiesem Rednerpult als Fachmann, der Sie sind, nicht sounverantwortlich daherreden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ban-kenabgabe, die diese Koalition durchsetzt, hat zu man-cher Diskussion geführt; aber sie ist richtig. Sie sorgt da-für, dass diejenigen, die sich an entsprechenden Risikenbeteiligen, die Haftung dafür übernehmen müssen.Herr Gysi, jetzt nur ein Satz zu Ihnen.
Wissen Sie, ich halte es schon für einen großen Unsinn,das Staatsbankensystem der DDR als Modell fürDeutschland zu betrachten.
Nur darüber haben Sie geredet. Sie haben davon gespro-chen, dass die Europäische Zentralbank der DeutschenBank einen Kredit gibt und dafür 1 Prozent Zinsen ver-langt. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das war eine Maß-nahme in der Krise, weil nur so einigermaßen günstigKredite an die mittelständische Wirtschaft ausgereichtwerden konnten, wodurch Arbeitsplätze erhalten wordensind; das war entscheidend. Aber das haben Sie, HerrGysi, noch nie kapiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüßees auch wegen der deutschen Haushaltssituation außer-ordentlich, dass die Bundeskanzlerin bei den Verhand-lungen darauf drängen wird, die Einlage der notwendi-gen Barmittel über einen längeren Zeitraum zu verteilen,sodass wir es besser mit unseren Haushaltszielen in Ein-klang bringen können.Ein letzter Hinweis: Ja, wir nehmen die BeurteilungEuropas in der Öffentlichkeit sehr bewusst wahr. Inso-fern liegt in diesen Regelungen, die wir auf den Wegbringen, die große Chance, den Menschen zu erklären,dass es sich hier nicht um rein finanztechnische Maßnah-men handelt, sondern es schlicht und ergreifend darumgeht, die Zukunftsfähigkeit Europas zu erhalten. Wirwissen: Deutschland ist unser Vaterland, aber Europa istunsere Zukunft. Ohne Europa werden wir nie stark ge-nug sein, um in der Welt im Wettbewerb bestehen zukönnen. Deshalb ist die Maßnahme, die wir auf den Wegbringen, im Interesse Deutschlands, aber auch im Inte-resse ganz Europas.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11269
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Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Frau Bundeskanzlerin, 68 Prozent bzw. 71 Prozentder Bevölkerung – so eine andere Umfrage – halten IhrAtommoratorium für ein bloßes Wahlkampfmanöver.
Das taten sie schon, bevor Herr Brüderle diese Wahrheitauch noch ausdrücklich beim Bundesverband der Deut-schen Industrie protokollieren ließ.
Was heißt das? Die Glaubwürdigkeit der deutschenBundeskanzlerin ist in einer zentralen Frage beschädigt.Dafür gibt es jenseits dieses Themas einen Grund. Siemachen nicht viel richtig, aber selbst wenn Sie mal et-was richtig machen, machen Sie es
verkehrt.
Es ist richtig – ich erläutere das gern für Sie, FrauHomburger –, skeptisch gegenüber einer deutschen Be-teiligung an der Militäroperation in Libyen zu sein. Eswar falsch, sich deswegen im Sicherheitsrat zu enthalten.
Es ist richtig, dass wir dort dringend ein Waffenembargobrauchen. Es ist aber falsch, sich anders als selbst dieTürkei nicht an der Durchsetzung dieses Waffenembar-gos zu beteiligen.
Es ist richtig, dass wir ein konsequentes Ölembargo fürLibyen brauchen, aber es ist peinlich, liebe Kolleginnenund Kollegen, dass sich genau dazu der Europäische Ratnicht wird durchringen können. Das kennzeichnet diesePolitik.
Dann stellt sich die Frage, wie handlungsfähig wirsind.
Mit dem Satz: „Selbst da, wo Sie mal etwas Richtigesmachen, machen Sie es verkehrt“, ist Ihre Haltung ei-gentlich noch freundlich beschrieben. Sie dementierenhäufig das, was Sie richtig machen. Sie reden national,geben bei der Bild die „Eiserne Lady“, und am Ende se-hen Sie sich gezwungen, europäisch zu handeln. Dasführt Sie in die verblüffende Situation, dass Sie hier per-manent Niederlagen als Siege verkaufen müssen.Liebe Frau Homburger, wenn Sie sagen, die Opposi-tion sei so scharf auf die Euro-Bonds,
muss ich Sie darauf hinweisen: Es war der Christdemo-krat Jean-Claude Juncker, der den Vorschlag gemachthat.
Es ist die Berichterstatterin des Europäischen Parla-ments, Frau Goulard von den französischen Liberalen,die genau dies fordert.
Also hören Sie auf, das bei anderen abzuladen, meineDamen und Herren.
Eine der Wahrheiten ist, dass Sie heute Bedenkennachkommen, die wir bei der Einrichtung des Stabilitäts-mechanismus in der ursprünglichen Form einer Luxem-burger Zweckgesellschaft kritisiert haben. Heute legenSie zwar kein vergemeinschaftetes Modell vor, aber we-nigstens schaffen Sie eine völkerrechtliche Grundlagefür diesen Stabilitätsmechanismus. Das ist nicht befrie-digend, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Aber nach wie vor täuschen Sie die deutsche Öffent-lichkeit über die Ursachen dieser Finanzkrise. Sie hatdrei Ursachen: Auf der einen Seite ist das die überbor-dende staatliche wie private Verschuldung, auf der ande-ren Seite sind es Leistungsbilanzungleichgewichte, undes ist die Schwäche europäischer Banken. Das lässt sicheben nicht auf das wahnwitzige Modell Griechenlandsmit seiner Staatsverschuldung reduzieren. Sie wissensehr genau, dass Irland und Spanien nach denMaastricht-Kriterien lange Zeit Musterknaben waren,von denen sich Deutschland zwar hätte eine Scheibe ab-schneiden können, die aber das Problem massiver priva-ter Überschuldung hatten.
Wir brauchen den Stabilitätspakt. Er ist notwendig,aber er ist nicht hinreichend. Das dämmert Ihnen; Sie ha-
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11270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Jürgen Trittin
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ben das an dieser Stelle zugegeben. Es kann eben nichtdauerhaft gut gehen, dass die einen nur exportieren unddie anderen nur importieren, meine Damen und Herren.Wenn wir uns aber in dieser schwierigen Situation be-finden und wenn eine der Ursachen dafür die Schwächedes europäischen Bankensektors ist, dann gehört es auchdazu, dass Sie als deutsche Bundeskanzlerin den Mut ha-ben, zu sagen, dass zur Rettung von Finanzmärkten – soschwer das allen fällt; ich glaube, das geht allen Kolle-ginnen und Kollegen hier im Hause so – auch gehört,Banken retten zu müssen. Nur muss man dann den Muthaben, Frau Bundeskanzlerin, diese bittere Wahrheitauszusprechen.
Aber Sie vermeiden das, weil Sie wissen, dass Ihnendann Ihr Koalitionsladen um die Ohren fliegt. Die FDPhat lautstark verkündet, wenn es zu einer Aufstockungdes Rettungsfonds käme, dann würde sie die Koalitionbeenden. Das ist eine interessante Aussage. Der Ret-tungsfonds ist aufgestockt worden – das ist beschlossen –,und was macht Herr Westerwelle? Er enthält sich wahr-scheinlich jeden Kommentars.
Sie sagen: Der Rettungsfonds, der Europäische Stabi-litätsmechanismus, darf in Zukunft sogar Anleihen vonStaaten kaufen. Der EFSF darf das schon jetzt.
Aber es ist eigentlich egal, ob die Europäische Zentral-bank, der ESM oder der EFSF das macht. Sie behaupten,es gäbe keine Haftungsgemeinschaft. Natürlich gibt esdie. Wenn die Anleihen ausfallen, ist Deutschland mit ei-nem guten Viertel daran beteiligt. Wegen zusätzlicherRisikovorsorge hat die Bundesbank sogar weniger Ge-winn überwiesen. Beim ESM sind wir mit 22 MilliardenEuro größter Geldgeber. Die Garantien kommen nochhinzu.
Wofür sind die Garantien denn gut, liebe FrauHomburger, wenn nicht, um schwächelnden EU-Staatenunter die Arme zu greifen? Das, was hier beschlossenwird, ist nichts anderes als eine Haftungsgemeinschaft.Ich sage Ihnen: Es ist auch gut so, dass das eine Haf-tungsgemeinschaft ist.
Sie haben in einem Antrag geschrieben, dass derDeutsche Bundestag erwartet, dass gemeinsam finan-zierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme aus-geschlossen werden. Meine Damen und Herren, was istdenn mit den irischen Anleihen im Wert von 77 Milliar-den Euro, die bei der EZB liegen? Wenn die ausfallen,sind wir in Deutschland mit dabei.
Deutschland steht schon lange für die Schulden andererLänder ein. Hören Sie auf, diese einfache Tatsache ge-genüber der Bevölkerung vertuschen zu wollen.
Das hilft nämlich nicht weiter. Am Ende kommt so et-was immer heraus.
Zu der Frage einer einfachen Verlängerung haben Sie,Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regierungserklärungvom 27. Oktober 2010 gesagt – ich zitiere –:Eine einfache Verlängerung [des derzeitigen Ret-tungsschirms] … wird es mit Deutschland nicht ge-ben.
Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, beidem … private Gläubiger beteiligt werden.
Was ist der Fall? Wir haben eine Überführung. Der ESMist die Fortschreibung des EFSF.
Die Gläubigerbeteiligung wird nur unter äußerst engenund restriktiven Bedingungen und keinesfalls automa-tisch möglich sein. Das ist Ihr Kurs.Ich kann das fortsetzen. Jahrelang waren Sie gegeneine europäische Wirtschaftsregierung. Jetzt machen Sieeine 180-Grad-Wendung. Damit der Deutsche Bundes-tag das nicht merkt, haben Sie es am Bundestag vorbeigemacht. Das hat Ihnen den zutreffenden Hinweis desBundestagspräsidenten eingebracht, es mache sich einegewisse „Wurstigkeit“ im Umgang mit Gesetzen in die-sem Hause durch die Bundesregierung breit.
In der Sache ist der Schwenk in Richtung Wirtschafts-regierung richtig.
Aber welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Sie wol-len bei den anderen etwas ändern, aber nicht bei sichselbst. Leistungsbilanzungleichgewichte haben aberzwei Seiten und nicht nur eine Seite. Über die Frage derStärkung der Binnennachfrage muss man nicht nur imZusammenhang mit dem Mindestlohn reden. Frau Bun-deskanzlerin, Sie sagen zu Recht, dass es keine dauer-hafte Abkopplung der Lohnentwicklung von der Produk-tivität geben kann, und sind deswegen gegen dieautomatischen Lohnindizes in anderen europäischenStaaten. Das gilt aber auch umgekehrt. Es kann auchkeine dauerhafte Entkopplung der Lohnentwicklung vonder Produktivität in der Form geben, dass die Reallohn-quote permanent sinkt, was in Deutschland der Fall ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11271
Jürgen Trittin
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Das ist ein Defizit, das wir in Deutschland endlich undschnell beheben müssen.
Ich komme auf die berühmten Euro-Bonds zurück,die die Europäische Union auflegt, also zu den Kredit-garantien. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit stärkenwollen, wenn wir beispielsweise mehr in den Ausbau derNetze oder den Bereich Ausbildung investieren wollen,dann müssen wir nicht nur den Haushalt umbauen. Da-rauf hat der Kollege Steinbrück zu Recht hingewiesen.Wenn man, wie jetzt vorgeschlagen, auf Projekt-Bondszurückgreift, was ist das anderes als eine andere Formeuropäischer Verschuldung?
Ich sage: Es ist richtig, diesen Weg zu gehen. Hören Sieauf, zu sagen, Sie seien gegen Euro-Bonds. Sie habendem Kind nur einen anderen Namen gegeben. Das ist dieWahrheit.
Fahren wir fort. Frau Merkel, Sie haben heute hier ge-sagt: „Es wird … weder regelmäßige noch dauerhafteTransferleistungen geben.“ Das legt die Frage nahe, obes unregelmäßige oder gelegentliche Transferleistungengibt. Ich möchte Ihnen eines in aller Deutlichkeit sagen:Dieses Europa ist, seit es es gibt, eine Transferunion.Kohäsionsfonds, Gemeinsame Agrarpolitik – all diessind Transfers.
Diese Transfers sind zum politischen und ökonomischenVorteil auch und gerade Deutschlands.
Herr Kollege.
Deswegen kann man es nicht weiterhin für Führung
halten, in Deutschland nationale Reden zu halten und am
Ende vom gemeinsamen Europa dazu gezwungen zu
werden, vernünftig zu sein.
Das verschärft die Europafeindlichkeit und die Europa-
müdigkeit. Führung, liebe Frau Bundeskanzlerin, besteht
darin, in Europa die Richtung anzugeben. Doch da
herrscht bei Ihnen ein erklecklicher Mangel.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Link das
Wort.
Herr Kollege Trittin hat gerade in der Debatte gesagt,
dass der EFSF bereits jetzt Anleihen aufkaufen dürfe. Er
hat offengelassen, an welchem Markt, aber die Aussage
war klar. Ich möchte das ganz eindeutig richtigstellen:
Der EFSF darf keine Anleihen aufkaufen. Wir müssen
bei diesem wichtigen Thema schon bei der Wahrheit
bleiben, Kollege Trittin.
Er hat des Weiteren dargestellt, dass wir ohnehin
schon jetzt eine Transferunion hätten. Richtig: Wir ha-
ben Struktur- und Kohäsionsfonds. Auch die FDP steht
zu Struktur- und Kohäsionsfonds. Wir können uns jetzt
zwar gern über die Bedeutung des Wortes „Transfer-
union“ unterhalten. Aber die entscheidende Botschaft
dieser Debatte ist, dass es durch den ESM keine Haf-
tungsgemeinschaft und auch keine Ausweitung der
Transfers gegenüber dem gibt, was bereits jetzt in den
Verträgen zur Struktur- und Kohäsionspolitik steht. Das,
lieber Kollege Trittin, was wir jetzt bei der Unterstüt-
zung für die weniger entwickelten Regionen solidarisch
machen, ist etwas völlig anderes als das, was der ESM
bezüglich einer Nothilfe in einzelnen Fällen macht. Eine
Transferunion werden Sie hier auch mit noch so vielen
rhetorischen Tricks nicht herbeireden können, eine Haf-
tungsunion schon gar nicht; denn diese ist durch die Ver-
handlungslinie der Bundesregierung erfolgreich verhin-
dert worden.
Zur Erwiderung, bitte, Herr Kollege Trittin.
Lieber Herr Kollege, zum Ersten: Ich wiederholegerne mein Beispiel, das ich gerade genannt habe. Beider Europäischen Zentralbank liegen 77 Milliarden EuroStaatsanleihen aus Irland.
Wenn diese 77 Milliarden Euro fällig werden, haften wirdafür. Welchen Grund gibt es, hier öffentlich zu bestrei-ten, dass es eine Haftungsgemeinschaft gibt? Das ist völ-lig absurd.
Jetzt kommen wir zum Zweiten: Dabei geht es ummehr als Technik.
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Jürgen Trittin
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– Ich habe ein Faktum festgestellt. Ich weiß, dass Ihnendas wehtut.
– Lieber Kollege Fricke, es gibt diese Staatsschulden.Sie sind von der EZB aufgekauft worden. Wir haften,wenn sie fällig werden. Das ist eine Haftungsgemein-schaft. Um dieses simple Faktum kommen Sie nicht he-rum.
Über die FDP muss ich mich zunehmend wundern.Sie hatten einen Außenminister, an den sich viele sozu-sagen als Benchmark erinnern, nämlich Hans-DietrichGenscher. Er hat in der Frage der Notwendigkeit einesgemeinsamen Europas, in der Frage der Behebung vonWettbewerbsschwächen und in der Frage, ob man diesesEuropa öffnen soll, gerade nach Osteuropa, immer wie-der für dieses gemeinsame Europa gestritten.
Eine der Voraussetzungen dieses gemeinsamen Europaswar, dass wir gemeinschaftlich darangegangen sind,auch und gerade die Wettbewerbsfähigkeit von Beitritts-ländern, von schwachen Ländern anzuheben. Die ge-samte Erweiterungspolitik ist von Anfang an und perma-nent davon geprägt, dass es Transfers aus wirtschaftlichstärkeren Regionen in schwächere Regionen gibt.
Das hält, übrigens auch in dem Krisenmechanismus, bisheute an, indem wir Liquidität von starken Ländern inschwächere Länder transferieren.
Dies geschieht übrigens mit Ihrer Zustimmung.Ich frage Sie: Welchen Grund gibt es, dass Sie dieseErrungenschaft Europas, die die Weiterentwicklung Eu-ropas so befördert hat – dies war übrigens auch wirt-schaftlich zu unserem Nutzen –, permanent in öffentli-chen Veranstaltungen denunzieren? Transfer ist keinGrund zur Denunzierung, Transfer ist eine Grundlagedieses gemeinsamen Europas. Wer das in Abrede stellt,versündigt sich am gemeinsamen Gedanken Europas.
Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu
Ihnen, Herr Kollege Steinbrück. Ich hätte mich gern mit
noch mehr Rednern der Opposition auseinandergesetzt.
Es hat wahrscheinlich einen tieferen Sinn, dass hier von
allen Fraktionen die Fraktionsvorsitzenden gesprochen
haben und nur die SPD-Fraktion davon abgesehen hat;
aber das ist eine andere Geschichte.
Zum Inhalt Ihrer Rede: Das, was Sie gemacht haben,
bringt uns überhaupt nicht weiter. Es war rückwärtsge-
wandt und zu großen Teilen besserwisserisch. Genau das
brauchen wir in Europa und in den europapolitischen
Debatten nicht.
Ein Zweites. Es bedarf einer bestimmten Chuzpe, um
nicht zu sagen: einer bestimmten Dreistigkeit, sich hier
hinzustellen und solch eine Rede zu halten, wenn man
weiß, dass man selbst – ich denke an das Jahr 2003 – einen
aktiven Beitrag zu den heutigen Problemen geleistet hat,
nämlich die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstums-
paktes. Vieles von dem, was wir heute reparieren müs-
sen, ist diesem Umstand geschuldet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hendricks?
Jetzt noch nicht,
auch wenn es mich freut, dass meine Rede offensichtlichschon zu einem frühen Zeitpunkt dazu führt, dass derBlutdruck der Oppositionsfraktionen steigt.Noch ein Letztes zu Ihrer Rede. Sie werfen der Bun-desregierung vor, dass die Märkte schneller reagiert hät-ten. Ich kann dazu nur sagen: Es gibt in der Politik denAnspruch, dass man nicht alles in vorauseilendem Ge-horsam macht. Die Ratingagenturen weltweit, alles in al-lem drei Stück, haben meiner Ansicht nach schon etwaszu viel zu sagen; aber offensichtlich sehen Sie das an-ders.Man muss wissen: Wenn Entscheidungen in Europagetroffen werden, dann werden diese anders getroffenals hier bei uns im Bundestag oder in den Parlamentenanderer Mitgliedstaaten. In Europa sind Kompromissegefragt. Genau diese waren auch in diesem Fall erforder-lich. Ich bin der Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11273
Gunther Krichbaum
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Merkel und vor allem unserem Bundesfinanzministerund seinem gesamten Haus sehr dankbar, dass sich jetztin dem sogenannten Europäischen Stabilisierungsme-chanismus, kurz ESM, die wesentlichen deutschen Posi-tionen wiederfinden. Dazu sage ich nachher noch mehr.
Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen wichtig – beiso manchem Kommentar, den man liest oder hört, wirddas deutlich –, dass wir darauf hinweisen, warum wir dasalles überhaupt machen. Es war sicherlich von großemNutzen, dass wir heute in der Regierungserklärung vonFrau Bundeskanzlerin Merkel nochmals gehört haben,was der konkrete Nutzen auch für uns, für die Menschenin Deutschland ist. Sicher ist: Die Maßnahmen sind imInteresse von Europa. Aber sicher ist auch: Sie sind imInteresse Deutschlands.Wir vergessen oft und allzu sehr, warum wir die ge-meinsame Währung, warum wir den Euro seinerzeit ausder Taufe gehoben haben. Zwei Drittel aller Exporte derBundesrepublik Deutschland gehen in Länder der Euro-päischen Union und sichern damit Arbeitsplätze undWohlstand in Deutschland.Wie sah es denn früher aus? Auf- und Abwertungenund Währungsaufkäufe bestimmten das Bild, mit allendamit verbundenen Belastungen für die deutsche Wirt-schaft. In der Vergangenheit war es so, dass sogenannteFremdwährungsrisiken abgesichert werden mussten, da-mit die deutsche Wirtschaft mehr Planbarkeit hatte. Diesekosteten Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbe-trag. Jahr für Jahr kam es durch den Euro in der deutschenWirtschaft und im Mittelstand zu größeren Einsparungen,als sie dieses Haus mit jeder Unternehmensteuerreformhätte erzielen können. Es ist wichtig, das alles zu erwäh-nen und in Erinnerung zu rufen. Hinzu kommt: Der Eurowar in seiner Vergangenheit stabiler, als es die D-Mark jewar; auch dies gerät allzu häufig in Vergessenheit. Mit an-deren Worten: Hätten wir ihn nicht, müssten wir ihn heutegeradezu erfinden.Jetzt zurück zu den Maßnahmen. Wir wollen mehrStabilität, und wir wollen mehr Vertrauen. Ich glaube,dies gelingt auch. Der bevorstehende Europäische Ratwird sich natürlich schwerpunktmäßig mit dem soge-nannten ESM auseinandersetzen. Aber dies ist eigentlicherst der dritte Schritt in einer logischen Kette.Der erste Schritt ist die Schärfung und Stärkung desStabilitäts- und Wachstumspakts, beispielsweise da-durch, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte in Zukunftauch in Brüssel vorlegen – Stichwort: Europäisches Se-mester –, nicht weil sich Brüssel zum Oberaufseher ma-chen möchte, sondern weil man dann frühzeitig aufSchieflagen hinweisen kann. Denn viele Probleme, überdie wir uns heute beklagen, hätten wir nicht bekommen,hätten wir nur früher gehandelt. Es ist wichtig, dass wirdiese Maßnahme jetzt treffen und damit auch zu mehrStabilität und zu mehr Planbarkeit kommen.Der zweite Schritt ist der Pakt für den Euro, der unszu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen wird. Um einesaufzuzeigen, Herr Kollege Steinbrück: Der Erfolg, dendie Bundesrepublik Deutschland hat, ist nicht zeitgleichder Misserfolg der anderen Länder, vor allem der Part-nerländer in Europa. So war Ihre Rede an diesem Punktallerdings zu verstehen. Genau das wäre aber nicht derFall.
Die anderen Länder profitieren geradezu davon, dass wirin Deutschland eine wettbewerbsstarke Position haben.Das geht nicht auf Kosten der anderen.
Es sind keine kommunizierenden Röhren.
Der dritte Schritt ist der Europäische Stabilisierungsme-chanismus. Er ist die Ultima Ratio und greift nur dann,wenn sich ein Land selbst nicht mehr helfen kann. Dann istes dazu verpflichtet, ehrgeizige, beherzte Reformpro-gramme vorzulegen. Dann folgt eine Schuldentragfähig-keitsanalyse – auch dies wurde heute Morgen schon ange-sprochen – von Europäischer Kommission, IWF und EZB.Nur dann, wenn der Euro als Ganzes in Gefahr ist – ichwiederhole: nur dann; hier gibt es kein Oder –, wird unter-stützend gehandelt.Ein Letztes – weil es hieß, dass die Beteiligung derprivaten Gläubiger nicht ausreichend sei –: Sehr verehr-ter Herr Kollege Steinbrück, Sie stehen im politischenLeben und wissen, was in Verhandlungen realistisch istund was nicht. Fakt und Realität ist, dass in diesen Ver-handlungen nicht mehr drin war. Trotzdem findet sichdie Handschrift Deutschlands auch hier wieder.Um dies zu verdeutlichen, möchte ich aus einem Pa-pier zitieren. Darin heißt es:Wird bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse festge-stellt, dass eine Rückführung der öffentlichen Ver-schuldung mithilfe eines makroökonomischen An-passungsprogramms auf eine nachhaltige Grundlagenicht realistisch ist, wird das Empfängerland ver-pflichtet, aktiv in Verhandlungen nach Treu undGlauben mit seinen Gläubigern einzutreten, umdiese unmittelbar in die Wiederherstellung derSchuldentragfähigkeit einzubinden. Die Gewährungvon Finanzhilfen steht unter dem Vorbehalt, dass derMitgliedstaat diesbezüglich ein plausibles Sanie-rungskonzept vorlegt und sich zu einer angemesse-nen und verhältnismäßigen Beteiligung des Privat-sektors verpflichtet.So weit das Zitat. Hier wurde nicht umsonst eine Be-teiligung der privaten Gläubiger vorgesehen, geradeauch auf Druck der Bundesrepublik Deutschland. Dennunsere Position, die Position der Bundesregierung, ist,dass wir diejenigen, die an den entsprechenden Papierenverdienen, in die Haftung einbinden wollen.Ein Allerletztes: Ich glaube, dass gerade die Europäi-sche Union hiermit ihre Hausaufgaben gemacht hat.Wenn ich an andere Stellen dieser Welt schaue, bei-spielsweise in die USA, in denen die Verschuldung
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11274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Gunther Krichbaum
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14 Billionen Dollar beträgt, dann fürchte ich, wir werdenuns in Zukunft mit anderen Ecken dieser Welt noch nä-her beschäftigen müssen.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gin Barbara Hendricks.
Herr Kollege Krichbaum, ich möchte auf den Beginn
Ihrer Ausführungen zurückkommen. Begonnen haben
Sie damit, Sie wollten sozusagen Ihren Blick in die Zu-
kunft richten. Als Nächstes haben Sie gesagt, Sie müss-
ten aber etwas zur Änderung des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts unter Rot-Grün im Jahre 2003/2004 sagen.
Nehmen Sie und vielleicht auch das ganze Haus, ins-
besondere die Kollegin Fraktionsvorsitzende der FDP,
die das immer fälschlich behauptet, doch bitte zur
Kenntnis: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist in der
Tat unter anderem auf Initiative von Deutschland im
Jahre 2003/2004 geändert worden. Der so geänderte Sta-
bilitäts- und Wachstumspakt ist durch die Bundeskanzle-
rin, Frau Merkel, zusammen mit dem damaligen Bun-
desfinanzminister, Herrn Steinbrück, im November des
Jahres 2005 gegenüber dem Währungskommissar
Almunia ausdrücklich bestätigt worden.
Diese Bundesregierung hat auch keinerlei Initiativen
unternommen, wesentliche Änderungen rückwirkend so-
zusagen wieder abzuwickeln. Keinerlei Versuch ist un-
ternommen worden.
Wenn man das Bundesfinanzministerium fragt, wa-
rum nicht, dann wird das Bundesfinanzministerium ant-
worten: Ja, weil die allermeisten dieser Maßnahmen
sinnvoll sind und waren.
Wenn ich das Haus abschließend noch darauf auf-
merksam machen darf, dass die so hochgelobte Schul-
denbremse, die wir mit breiter Mehrheit dieses Hauses
und mit Zustimmung des Bundesrates in die Verfassung
geschrieben haben, genau diesem so geänderten Mecha-
nismus des Stabilitäts- und Wachstumspakts nachgebil-
det worden ist, dann frage ich Sie: Sind Sie angesichts
dessen endlich einmal in der Lage, diese unzutreffenden
Behauptungen sein zu lassen, oder wollen Sie in Zukunft
auch die Schuldenbremse nicht mehr haben? Sie ent-
spricht genau demselben Mechanismus. Haben Sie das
einfach noch nicht verstanden, oder was ist los?
Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Kollegin Hendricks, die Bundeskanzlerin hat
heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genau diesen
Blick zurück nicht gemacht. Sie hätte hier sehr wohl an-
fügen können, warum wir diesen Reparaturbetrieb über-
haupt haben aufmachen müssen. Sie hat darauf verzich-
tet,
im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Steinbrück.
Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer hier
diese Baustelle aufmacht, der muss sich dann auch anhö-
ren, warum wir diesen Schlamassel heute überhaupt zu
beseitigen haben.
Was war nämlich der Grund?
– Jetzt hören Sie auch einmal zu. – Der Grund war, dass
Deutschland damals zusammen mit Frankreich in einer
verhängnisvollen Entente cordiale – um vielleicht einen
belegten Begriff zu benutzen –
genau für die Aufweichung des Stabilitätspaktes gesorgt
hat, was dann nachher als Sündenfall und Blaupause da-
für diente, dass andere, auch kleinere Länder hinterher
kamen und genau diese Tarife aufgeweicht wurden, für
die sich damals Helmut Kohl und auch Theo Waigel
nicht ohne Grund eingesetzt hatten, sodass wir genau
diese scharfen Mechanismen bekommen haben.
Es ist Ihnen unter der damaligen Regierung nichts an-
deres eingefallen, als genau diese harten Kriterien aufzu-
weichen.
Dadurch wurde Vertrauen vergeudet. Da wurde Ver-
trauen verspielt. Deswegen haben wir heute viel von
dem Schlamassel zu beseitigen, den Sie damals ange-
richtet haben.
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11275
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wer den Euro stabilisieren will, der muss zum Stabili-täts- und Wachstumspakt und zu einer soliden Stabili-tätskultur zurückkehren. Wenn wir die Ereignisse in Por-tugal betrachten, dann fällt schon auf, dass dieser Staatim Moment Schwierigkeiten hat, die Vorgaben des be-stehenden Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten.Also, offenbar ist der Druck von außen manchmal not-wendig und auch heilsam. Aber es führt an der Eigenver-antwortung der Mitgliedstaaten kein Weg vorbei.Das gilt auch für das zweite Ziel, das wir mit unserenMaßnahmen hier verfolgen, nämlich, die Wettbewerbs-fähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Wir müssen er-reichen, dass sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeitder einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone wieder ei-nander annähert. Dazu ist sicherlich eine Koordinationerforderlich. Vor allem braucht man dafür aber eigeneAnstrengungen und den Mut zu eigenen Reformen.Der Kern der Vereinbarungen wird der EuropäischeStabilisierungsmechanismus sein. Ich bleibe dabei, dassFinanzhilfen nur dann Sinn machen, wenn zugleich einRegime zur Umstrukturierung von insolventen Bankenund Staaten besteht. Wir müssen Umschuldungen er-möglichen. Dabei müssen wir die Beteiligung der Gläu-biger durchsetzen. Deshalb bleibe ich dabei, dass derSchuldenankauf auf dem Primärmarkt aus meiner Sichtproblematisch zu bewerten ist. Wir dürfen nicht dahinkommen, dass aus nationalen Schulden vergemeinschaf-tete Schulden werden.Meine Damen und Herren von der SPD, das, was Siein Ihrem Antrag heute fordern, nämlich dass man eineGemeinschafts- und Verbundhaftung einrichtet, genaudas wollen wir nicht. Das dürfen wir nicht, und deswe-gen lehnen wir das entschieden ab.
Finanzhilfen müssen teures Geld bleiben; denn werHilfe bekommt, muss einen Anreiz haben, dass er vondieser Hilfe auch wieder wegkommt. Herr Bundes-finanzminister, deswegen bitte ich Sie, dass Sie sich da-für einsetzen, dass die Zinsen für Kredite im Rahmendes Europäischen Stabilisierungsmechanismus höher alsdie Zinsen für Kredite des Internationalen Währungs-fonds sind. Diese IWF-Kredite sind vorrangig vor deneuropäischen Krediten, und deswegen müssen die euro-päischen Kredite teurer sein.Ich halte es für unabdingbar, dass die Kreditvergabenunter den Mitgliedstaaten der Euro-Zone im Einverneh-men beschlossen werden. Ich frage aber schon, wieso beider Vergabe von Krediten auch Staaten mitstimmen sol-len, die zur Finanzierung dieser Kredite nichts mehr bei-tragen, weil sie sich selbst schon unter dem Rettungs-schirm befinden. Ich bitte, darauf zu achten, dass hierkein Hebel entsteht, wodurch ein Mitgliedstaat, derselbst schon Hilfe erhält, eine bessere Vereinbarung undverbesserte Kreditkonditionen durchsetzen kann, weilseine Zustimmung zur Kreditvergabe an einen drittenStaat gefragt ist. Auch hier bitte ich, dass wir uns dieDinge noch einmal genau überlegen.Ich bin schon überrascht darüber, was ich heute ausden Reihen der SPD zur Mitwirkung des EuropäischenParlaments hören musste. Wir vereinbaren eine Hilfezwischen den Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Deswegenmuss die Kontrolle dieser Hilfen in den Händen der Par-lamente der Mitgliedstaaten liegen. Wer zahlt, schafft an.
Ich sehe überhaupt keine Grundlage für das Angebotder Europäischen Kommission, hierzu jetzt eine Verord-nung zu erlassen.
Wer eine Vergemeinschaftung in der Form will, dass dasEuropäische Parlament beteiligt wird, der muss zurKenntnis nehmen, dass eine Veränderung im vereinfach-ten Vertragsänderungsverfahren überhaupt nicht mehrmöglich ist. Sie müssen sich also schon entscheiden, wasSie wollen.Ich habe diesem sogenannten Term Sheet, das uns indieser Woche vorgelegt worden ist und auf dessenGrundlage die weiteren Verhandlungen jetzt stattfindensollen, zwei Punkte entnommen, durch die Fragen aufge-worfen werden, und ich bitte, hier nachzusteuern:Hinsichtlich der Instrumente des Europäischen Stabi-lisierungsmechanismus ist angedacht, dass die Finanz-minister ermächtigt werden, die Regeln autonom zu ver-ändern. Die Frage, ob das eine Kompetenzübertragungdarstellt, darf man stellen. Ich bitte darum, dass wirkeine Bereiche schaffen, die der parlamentarischen Kon-trolle entzogen werden.
Gleiches gilt für die Möglichkeit, eine Übergangsre-gelung für die Gläubigerbeteiligung bei diesen soge-nannten Collective Action Clauses zu schaffen. EineÜbergangsregelung bis Ende 2011 würde bedeuten, dasswir nicht absehen können, was nach der Beschlussfas-sung über diesen Europäischen Stabilisierungsmechanis-mus noch folgt. Deswegen glaube ich, dass es notwendigist, darauf hinzuweisen: Grundlage für alle diese Verän-derungen soll ein neuer Art. 136 im Vertrag über die Ar-beitsweise der Europäischen Union sein, der seinerseitsaber so unbestimmt ist, dass konkretisiert werden muss,welche Folgen das zeitigen kann. Diese Grundlage kannnur dadurch bestimmbar werden, dass wir völlig unzwei-deutig regeln, nach welchen Verfahrensweisen Finanz-hilfen gewährt werden sollen. Deswegen dürfen wir hierkeine Hintertüren offenlassen.
Ich setze mich dafür ein, dass wir dies auch bei derUmsetzung in nationales Recht beachten, um Lösungenzu finden, die auf dem Boden des Grundgesetzes reali-sierbar sind. Dazu gehört die Beteiligung des Bundesta-ges. Nach meiner Auffassung muss der Bundestag nicht
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Thomas Silberhorn
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nur bei der Errichtung dieses Stabilisierungsmechanis-mus, sondern bei jeder Aktivierung von Finanzhilfen imEinzelfall beteiligt werden, und zwar in Form der vorhe-rigen Zustimmung,
die konstitutiv für die Gewährung der Hilfe sein soll.Wir sollten es so regeln wie beim Integrationsverantwor-tungsgesetz: Nur wenn der Bundestag zustimmt, darfauch die Bundesregierung zustimmen. Andernfalls musssie mit Nein stimmen. Das ist meine Position.
Wir sollten auch überlegen, ob wir die Ermächtigungfür den Europäischen Stabilisierungsmechanismus kon-ditionieren. Die Bundesregierung hat sich gegen Auf-käufe auf dem Sekundärmarkt ausgesprochen. LassenSie uns deshalb gesetzlich regeln, welche Instrumenteder Finanzhilfe wir zulassen wollen. Wir dürfen nicht amEnde zu einer Vergemeinschaftung von nationalenSchulden kommen. Diesen Rubikon dürfen wir nichtüberschreiten.In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierungviel Erfolg bei ihren Verhandlungen.
Das Wort hat nun Kollege Norbert Barthle für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich will zunächst auf einen weiterenAspekt eingehen, der mir in der Rede von HerrnSteinbrück aufgefallen ist. Herr Steinbrück hat aufgrundder Tatsache, dass die Verhandlungsergebnisse auf euro-päischer Ebene nicht immer hundertprozentig mit denVerhandlungspositionen kongruent waren, die Glaub-würdigkeit der Bundeskanzlerin infrage gestellt.Ich halte das für sehr bemerkenswert, HerrSteinbrück, zum einen vor dem Hintergrund, dass Sie,soweit ich mich erinnere, früher ganz gut zusammenge-arbeitet haben, und zum anderen, weil Sie dadurch einenAnspruch erheben, an dem Sie sich selbst messen lassenmüssen. Wenn das der Maßstab für Glaubwürdigkeit ist,dann frage ich Sie, ob bei all Ihren Verhandlungen dasErgebnis genau der Position entsprochen hat, mit der Siein die Verhandlungen hineingegangen sind. Wenn Siediesen Anspruch an sich selbst erheben, frage ich Sie,wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit aussieht.
Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Ich will zunächstauf die europäische Idee zurückkommen. Ich glaube,man kann mit Fug und Recht sagen, dass CDU und CSUdie Europaparteien in Deutschland sind. Denn die euro-päische Idee wurde von Anfang an von uns getragen.Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unterKonrad Adenauer die Annäherung an Frankreich vollzo-gen. Diese Annäherung war letztendlich Motor undGrundlage der Europäischen Gemeinschaft und ihrerWeiterentwicklung.Es war ein weiterer Kanzler der Union, nämlichHelmut Kohl, der die europäische Währung verwirklichthat. Diese Währung hat der Europäischen Union einenungeheuren Integrationsschub verliehen. Das zeigenauch der im Anschluss erfolgte Beitritt einiger Staatenund die Beitrittswünsche weiterer Länder, die sich allevon der gemeinsamen Währung positive Wirkungen er-warten.Die Einführung einer gemeinsamen Währung wareine historische Zäsur. Damals gab es viele, die darangezweifelt haben, ob es möglich ist, eigenständige Na-tionalstaaten unter einer gemeinsamen Währung zusam-menzufassen. Die Väter der Europäischen Währungs-union haben dieses System aber so angelegt, dass esgelingen soll und unumkehrbar ist.Der Blick zurück zeigt uns, dass wir in Deutschlandvon der Einführung der gemeinsamen Währung ammeisten profitiert haben. Denn wo stünden wir heuteauch im Hinblick auf die jüngste Finanz- und Wirt-schaftskrise, wenn wir keine starke gemeinsame Wäh-rung hätten?
Allein ein Blick auf den Kurs des Schweizer Frankenlässt erahnen, was mit der D-Mark passiert wäre, gäbe esdiese Währung nicht. Deshalb ist die Stabilität des Euronicht nur im europäischen Interesse, sondern insbeson-dere auch im nationalen deutschen Interesse.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es im euro-päischen Raum in den vergangenen Jahren Tendenzengab, die zu einer Aufweichung des europäischen Stabili-täts- und Wachstumspaktes geführt haben. Mein Vorred-ner ist bereits darauf eingegangen. Ich will das nichtwiederholen.Ich will aber auch bemerken, dass wir ein Stück weitGefangene unseres eigenen Erfolgs sind. Denn die Au-ßenstehenden, die internationalen Finanzmärkte, neh-men den Euro-Raum inzwischen als eine Einheit wahr.Das heißt, wenn ein Mitgliedsland schwächelt, sind auchalle anderen betroffen. Deshalb ist es notwendig, dasswir einen Mechanismus einführen, um gegen einzelneschwächelnde Mitgliedstaaten, von denen eine Anste-ckungsgefahr für andere ausgeht, gewappnet zu sein.Bei den Maßnahmen, die wir jetzt ins Auge fassen,geht es um die Verhinderung von Ansteckungen. Wir ha-ben zunächst in einer schnellen Nothilfeaktion den Grie-chenland-Rettungsschirm und die EFSF aufgebaut, umschnelle Hilfe leisten zu können, ohne dabei die Eigen-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11277
Norbert Barthle
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verantwortung der betroffenen Partnerländer beiseitezu-schieben. Es ist wichtig, auch künftig Hilfe zu leisten –aber nur unter streng kontrollierten Auflagen.Es ist ein großer Erfolg der deutschen Verhandlungs-führung, wichtige Punkte in diesem Regelwerk durchge-setzt zu haben. Ich danke ganz besonders Bundeskanzle-rin Angela Merkel und Bundesfinanzminister WolfgangSchäuble, die klug verhandelt haben, indem immer wie-der sehr weitgehende Forderungen eingebracht wurden.Deshalb können wir jetzt davon ausgehen, dass sichviele unserer Grundkonstanten im Verhandlungsergebnisabbilden werden. Auch das ist nicht nur im Interesse Eu-ropas, sondern das ist auch im Interesse der deutschenBürgerinnen und Bürger.Wer dies ausblendet, Herr Kollege Trittin, der zün-delt an dem Haus, in dem wir gemeinsam wohnen.Alle, die hier Skepsis verbreiten, handeln aus meinerSicht unverantwortlich. Das Zusammenstehen der Mit-gliedsländer in der Europäischen Währungsunion ist inunserem fundamentalen Interesse. Der Chefvolkswirtder Deutschen Bank, Thomas Mayer, hat vor wenigenTagen gesagt – ich erlaube mir, ihn zu zitieren –:… glaube ich nicht, dass Europa sich auch nur denVersuch einer Alternative zur bestehenden Wäh-rungsunion leisten sollte.Das zeigt deutlich, dass wir keine ernsthaften Alternati-ven haben.Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Punkte desEuropäischen Stabilitätsmechanismus zusammenfassen.Erstens. Es geht um die Verschärfung des Stabilitäts-und Wachstumspaktes in ganz wesentlichen Punkten.Neben einer besseren Haushaltskontrolle – dem soge-nannten Europäischen Semester – wird es härtere undschnellere Strafen für Schuldensünder geben. Das be-trifft sowohl die Neuverschuldung als auch die Schul-denstandsquote in Relation zum BIP. Davon sind auchwir betroffen; das wissen wir. Unsere Schuldenstands-quote liegt bei annähernd 80 Prozent des BIP, und dieseRegelungen werden uns zwingen, die Verschuldung ab-zubauen. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen wer-den. Auch das ist nicht nur im europäischen, sondernauch im nationalen deutschen Interesse.Zweite Kernbotschaft: Es entsteht ein Pakt für denEuro. Dieser Pakt für den Euro ist so ausgestaltet, dasssich die Mitgliedsländer verpflichten, ihre Wirtschafts-politik besser zu koordinieren, ihre Wettbewerbsfähig-keit zu stärken und gemeinsame Ziele zu vereinbaren,die innerhalb von zwölf Monaten realisiert werden sol-len. Damit wird es langfristig gelingen, Krisenszenarien,wie wir sie beispielsweise in Irland erlebt haben, zu ver-meiden. Das Ganze wird durch ein ständiges Monitoring– die Europäer nennen das Scoreboard – unterstützt, umFehlentwicklungen frühzeitig erkennen und beseitigenzu können. Auch das ist sowohl im europäischen alsauch im nationalen deutschen Interesse.Die dritte Kernbotschaft ist die Einrichtung eines Ret-tungsmechanismus mit einem Kapitalstock, über dessenAusgestaltung meine Vorredner schon hinlänglich be-richtet haben. Ich will an dieser Stelle betonen, dass esnoch einige offene Fragen zur Ausgestaltung dieses Ka-pitalstocks gibt. Insbesondere stellt sich die Frage, wiedie Einzahlung der deutschen Bareinlage von 22 Milliar-den Euro in den Jahren ab 2013 gestaltet werden soll.Selbstverständlich geht es auch um die Rechte des deut-schen Parlaments bei der Ausgestaltung und dem Einsatzdes Krisenmechanismus. Auch diesbezüglich werdenwir den Gesetzgebungsprozess konstruktiv und kritischbegleiten, denn wir alle sind daran interessiert, dieRechte des deutschen Parlaments zu wahren.
Deshalb fordere ich Sie alle auf, an der Ausgestaltungdes ESM und an der Gesetzgebung konstruktiv teilzu-nehmen.Der Bundesfinanzminister hat in diesen Tagen einschönes Zitat verwendet, das ich aufgreifen möchte: „Eskann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bö-sen Nachbarn nicht gefällt.“ Wir haben keine bösenNachbarn in Europa; wir sind von guten Nachbarn um-geben. Wir sollten alles dafür tun, dass dies so bleibt,dass nicht aus guten Nachbarn böse werden, weil sie in-solvent werden. Lassen Sie uns dies also so ausgestalten,dass wir auch künftig in Frieden und umgeben von gutenNachbarn leben können.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache17/5187. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthal-tung der Linken abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/5188. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/5189. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen derGrünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 a bis e sowie dieZusatzpunkte 4 bis 7 auf:
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAuf dem Weg zu einem nachhaltigen, effizien-ten, bezahlbaren und sicheren Energiesystem– Drucksache 17/5181 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelHöhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAtomzeitalter beenden – Energiewende jetzt– Drucksache 17/5202 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschussc) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenUlrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerlängerung von Restlaufzeiten von Atom-kraftwerken – Auswirkungen auf die Entwick-lung des Wettbewerbs auf dem Strommarktund auf den Ausbau der erneuerbaren Ener-gien– Drucksachen 17/832, 17/3089 –d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, IngridNestle, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ener-giewirtschaftsgesetzes– Drucksache 17/3182 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/5148 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Breile) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Hubertus Heil , UlrichKelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDie Energieversorgung in kommunaler Hand– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEEnergienetze in die öffentliche Hand – Kom-munalisierung der Energieversorgung er-leichtern – Transparenz und demokratischeKontrolle stärken– Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus BreilZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine be-schleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken– Drucksache 17/5179 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten JürgenTrittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes – Abschalten der acht unsichers-ten Atomkraftwerke– Drucksache 17/5180 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDEnergiewende jetzt– Drucksache 17/5182 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Hermesbürgschaften für Atomtechnolo-gien– Drucksache 17/5183 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen RolfHempelmann für die SPD-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11279
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich bedauere sehr, dass die Bundes-
kanzlerin, die schon in der Debatte zu ihrer Regierungs-
erklärung weitgehend durch Abwesenheit geglänzt hat,
auch nun in der Debatte über das wichtige Thema der zu-
künftigen Energieversorgung nicht anwesend ist. Das
verstärkt die Bedenken, dass das, was zurzeit passiert,
nämlich die zeitweilige Rücknahme der Laufzeitverlän-
gerung, mehr ist als nur ein Wahlkampftrick.
Am 28. Oktober 2010 hat die Bundesregierung die
Verlängerung der Laufzeiten der 17 deutschen Atom-
kraftwerke beschlossen. Das ist noch kein halbes Jahr
her, 21 Wochen genau. Nun gibt es ein sogenanntes Mo-
ratorium. Die sieben ältesten Kernkraftwerke werden
vom Netz genommen. Innerhalb von drei Monaten sol-
len sie auf ihre Sicherheit überprüft werden. Fachleute
sagen, dass das, wenn es seriös gemacht werden soll,
mindestens ein Jahr dauert, eher länger. Was nach diesen
drei Monaten passiert, weiß kein Mensch. Wenn man
aber diejenigen, die in der Koalition Verantwortung tra-
gen, fragt – die Medien tun das jeden Tag –, dann stellt
man fest, dass die Antworten ständig unterschiedlich
ausfallen.
Die einen sagen: Nichts wird mehr so sein wie zuvor.
Mit Sicherheit werden nicht mehr alle Atomkraftwerke
an das Netz gehen. – Herr Brüderle sagt vor dem BDI:
Das muss man nicht so ernst nehmen; das ist letztlich
dem Wahlkampf und den Landtagswahlen geschuldet.
Was vor einem halben Jahr gegen die Interessen der
Wettbewerber, der großen Vier, gegen den Rat der Wett-
bewerbsbehörden – Bundeskartellamt und Monopol-
kommission – und im Eildurchmarsch durch das Parla-
ment, wie selbst der Präsident des Bundestages Norbert
Lammert von der Union beklagt hat, und vorbei am Bun-
desrat durchgesetzt wurde, war wahrlich kein Meister-
stück. Das ist der Kernbestandteil des sogenannten Ener-
giekonzepts dieser Bundesregierung. Ich denke, man
kann sich darauf verständigen – das Ablegen eines einfa-
chen Geständnisses wäre eigentlich das Beste, was Sie
von der Koalition hier machen könnten –, dass dieses so-
genannte Energiekonzept gescheitert ist.
Sie haben es durchgezogen – ich habe es gesagt –,
und jetzt auf einmal, beispielsweise gestern im Wirt-
schaftsausschuss, heißt es von den Vertretern der Koali-
t
Lassen Sie uns gemeinsam an einemKonzept arbeiten. Lassen Sie uns einvernehmlich dieEnergiezukunft gestalten. Lassen Sie uns das miteinan-der tun. – Ich höre das gerne. Ich nehme das ernst, undich nehme das auf. Aber ich sage Ihnen: Ich hätte mir ge-wünscht, dass das schon vor einem halben Jahr Ihr An-gebot gewesen wäre.
Damals haben Sie vorbei am Parlament und vorbei andenen, die schon vor Jahren Verantwortung übernom-men haben, lediglich mit den vier KernkraftbetreibernIhren Willen durchgesetzt.Trotzdem wollen wir dieses Angebot aufgreifen. Da-rüber hinaus wollen wir Ihnen ein Angebot machen.Wenn Sie sich die Anträge anschauen, die heute vorlie-gen – die von der SPD und die anderen –, dann stellenSie fest, dass in diesen Anträgen im Einzelnen beschrie-ben wird, wie die Energiezukunft in Deutschland bei ei-nem beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft und beieinem beschleunigten Einstieg in die erneuerbaren Ener-gien aussehen kann.Die erste Voraussetzung ist, dass Sie es wirklich ernstmeinen, dass nicht das gilt, was Brüderle sagt. Geltenmuss das Wort derjenigen, die sagen, dass das alles ernstgemeint sei. Lassen Sie die sieben Kraftwerke, die jetztvom Netz gehen, dauerhaft vom Netz. Lassen Sie auchKrümmel als achtes Kraftwerk dauerhaft vom Netz. Üb-rigens: Wer sagt, damit sei die Energieversorgung gefähr-det, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der Sektor-untersuchung des Bundeskartellamts deutlich gewordenist, dass über 25 Prozent der deutschen Kraftwerkskapa-zität aus unterschiedlichen Gründen ständig vom Netzsind. Es sind nicht immer 100 Prozent am Netz. Das hatnicht nur etwas mit Wartungen zu tun, sondern das hatauch etwas damit zu tun, dass Kraftwerke gelegentlich,wie man sagt, „nicht im Geld“ sind. Wir sollten jetzt dafürsorgen, dass diejenigen Kraftwerke, die Atomkraftwerkeersetzen können, tatsächlich ans Netz gehen und am Netzbleiben.Die zweite Voraussetzung ist, dass Sie endlich daskerntechnische Regelwerk rechtsverbindlich einführenund dafür sorgen, dass hohe Sicherheitsstandards inDeutschland Realität werden.Drittens – auch das beinhaltet einer unserer Anträge –:Verzichten Sie auf Hermesbürgschaften, auf die Kredit-versicherung von Atomprojekten im Ausland, zum Bei-spiel in Brasilien.
Wenn Sie sich dieses Projekt anschauen, dann sehen Sie,dass es in einem erdbebengefährdeten Gebiet realisiertwerden soll. Dort gab es schon in der Vergangenheit Vor-fälle. Dort sind beispielsweise schon Maschinenhäuserder Kraftwerksgeneration, die zunächst gebaut wurde,abgesackt. Das sollte Warnung genug sein, gerade nachden Ereignissen in Japan.In einem unserer Anträge beschreiben wir im Einzel-nen, wie der Systemumbau in Richtung von erneuerba-ren Energien gelingen kann, sodass Energie bezahlbarbleibt, sodass sie sauber und sicher ist. Wir beschreibenin einem zweiten Antrag, wer die Träger dieses Umbaussein können. Das sind nicht die Großen, jedenfalls nichtin erster Linie, sondern das sind eher mittelständischeUnternehmen und in starkem Maße auch die kommuna-len Stadtwerke. Schauen Sie sich diese Anträge an, neh-men Sie sie ernst – ich hätte das der Kanzlerin gerne per-
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Rolf Hempelmann
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sönlich gesagt –, und laden Sie die Fraktionen desDeutschen Bundestags zu konkreten Gesprächen ein.Verlagern Sie die Diskussion nicht in Kommissionen.Wir brauchen keine Ethikkommission. Wir haben bewie-sen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen,
dass wir mit diesem Thema verantwortungsbewusst um-gehen. Das muss uns nicht von außen gesagt werden. ImÜbrigen gibt es Stimmen von außen schon lange. Wirhaben sie schon lange ernst genommen.Also: Ein Herr Töpfer, den wir sehr schätzen, wird inder geplanten Kommission im Grunde genommen ver-heizt. Wir hätten ihn gerne in unsere Diskussionen ein-bezogen. Vielleicht kann man das noch tun. Das wirdkeine Harmonieveranstaltung. Wir werden miteinanderringen müssen, zum Beispiel um die Frage, wie wir esmit dem Ersatz oder der Modernisierung von Kohle- undGaskraftwerken halten. Das ist nicht einfach. Wenn SieHerrn Töpfer dann als Mediator einsetzen wollen, gerne– herzlich willkommen! –, aber bitte nicht in einer Kom-mission, angesiedelt –
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
– außerhalb des Parlaments.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich glaube, wir alle stehen nach wie vor unter demEindruck der Ereignisse, die in Japan stattfinden.
Diese Ereignisse haben deutlich gemacht, welche Folgenein Erdbeben und ein Tsunami auch in einer Hightechna-tion wie Japan haben können und wie verwundbar wiralle sind.
Die Toten und das Leid der Menschen berühren uns allenach wie vor. Deshalb müssen wir alles tun, um den Ja-panern zu helfen. Unsere Gedanken, unser Mitgefühlsind bei ihnen. Was wir tun können, um ihnen in dieserschwierigen Situation beizustehen, versuchen wir, zutun.Für mich ist durchaus beeindruckend, wie ruhig undbesonnen die Japaner in dieser schwierigen Situation,die für sie mit Sicherheit die größte Herausforderung seitdem Zweiten Weltkrieg darstellt, umgehen. Da machtmich, das will ich eingangs sagen, schon etwas betroffen– um nicht zu sagen, dass man sich fast etwas schämt –,was sich hier in Deutschland abspielt. Zum Teil findetwirklich eine unerträgliche Selbstbespiegelung in denMedien und in den Diskussionen statt.
Man hat manchmal fast den Eindruck, dass das Leid, dieToten, die Verletzten und die Ereignisse dort insgesamtzur Randnotiz werden, wenn wir uns mit unseren innen-politischen Spielereien hier selbst zu bespiegeln versu-chen.
Japan wird mit Sicherheit auch für uns eine Zäsur be-deuten. Deshalb ist es richtig, innezuhalten, nachzuden-ken und nicht einfach zu sagen: Weiter so! Das sagen wirnicht; ich glaube, das sagt niemand;
sonst wären wir schlecht beraten. Deshalb machen wirein Moratorium. „Moratorium“ heißt aber nicht, dassschon am Anfang klar ist, was am Ende herauskommt,
sondern „Moratorium“ heißt, nachzudenken über das,was wir bisher getan haben,
zu prüfen, wie wir im Bereich der Kernkraft maximaleSicherheit – eine 100-prozentige Sicherheit hat es nie ge-geben und wird es auch nie geben –
erreichen können. Es gilt, das zu bewerten und erst dannzu entscheiden. Es gilt, sich klarzumachen, was wir tunwollen. Das heißt, Aktionismus, Schnellschüsse helfenuns hier nicht weiter.Bei all der Betroffenheit und all den Diskussionen,die wir hier haben, sage ich aber auch: Eine sachlicheErörterung der Themen ist notwendig. Deshalb greifeich gern das auf, was der Kollege Hempelmann hier an-gesprochen hat. Bei einer sachlichen Erörterung zeigtsich: Die Herausforderungen, die Fragen, die Probleme,die wir im Energiebereich haben, sind heute nicht viel
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Dr. Joachim Pfeiffer
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anders, als sie vor sechs oder vor zwölf Monaten waren.Auch in drei Monaten werden die Herausforderungendieselben sein.Wir sind uns alle einig, dass wir einen beschleunigtenÜbergang zu den erneuerbaren Energien wollen.
Genau deshalb haben wir das Energiekonzept verab-schiedet.
Nicht eine Streckung, sondern eine Beschleunigung desÜbergangs zu den erneuerbaren Energien war und ist dasZiel unseres Energiekonzepts.
Man muss einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen,etwa bei den Klimazielen. Wir haben das Ziel, nach demKioto-Protokoll bis 2012 in Deutschland 21 Prozent desCO2-Ausstoßes einzusparen. Das haben wir erreicht, dashaben wir im Moment sogar übererfüllt. Wir wollen inDeutschland bis 2020 40 Prozent des CO2-Ausstoßeseinsparen. Fakt ist aber, dass die Kernenergie inDeutschland im letzten Jahr rund 150 Millionen Tonnenan CO2-Ausstoß eingespart hat, sprich: Diese Mengewurde nicht emittiert. Wir emittieren im Moment unge-fähr 800 Millionen Tonnen CO2. Das heißt, wir redenimmerhin über rund 20 Prozent. Unsere Klimaziele wä-ren bei allen Anstrengungen, die wir bisher unternom-men haben, ohne die Kernenergie nicht erreichbar.
Das kann einem jetzt gefallen oder nicht; aber AdamRiese lässt sich nicht umgehen. Das sind die Fakten, mitdenen wir es zu tun haben.Welche Folgen hätte ein noch schnellerer Ausstiegaus der Kernenergie? Wir haben das Ziel, bis zum Jahr2020 den Anteil der Erneuerbaren an der Stromversor-gung von heute 17 Prozent auf mehr als 35 Prozent zuverdoppeln. Vielleicht schaffen wir sogar ein paar Pro-zent mehr. Was machen wir aber mit dem Rest? Bei allerEnergieeffizienz und bei allen Fortschritten, die wir er-reichen wollen, um eine Verdoppelung des Anteils dererneuerbaren Energien von 1990 bis 2020 zu erreichen,wird es sicher nicht gelingen, die Ziele, die wir uns bis-her gesetzt haben, mit einem Ausstieg aus der Kernener-gie und einem gleichzeitigen Ausstieg bzw. mit einergleichzeitigen Nichtinvestition, beispielsweise im Koh-lebereich, zu erreichen.Kohle ist der größte CO2-Emittent. Die heimischeBraunkohle trägt heute zu 25 Prozent zur Stromversor-gung in Deutschland bei. Die Steinkohle trägt heuteebenfalls zu fast 25 Prozent zur Stromversorgung bei.Das heißt, fast 50 Prozent des deutschen Stromver-brauchs werden heute durch Kohle erbracht. Deshalbbleibt auch bei noch so großen Anstrengungen eine Lü-cke von rund 60 Prozent des Energiebedarfs, die wir imJahr 2020 mit anderen Energieformen schließen müssen.Ich frage Sie: Wie sollen wir das machen? Einen Einstiegin die CCS-Technologie, um den CO2-Ausstoß durchKohlekraftwerke zu verhindern, wollen viele nicht. DenAusstieg aus der Kernenergie wollen wir alle. Wir wol-len ihn jetzt sogar noch beschleunigen. Es gibt also aller-hand Fragen, die wir zu beantworten haben.Zur Versorgungssicherheit. Über 70 Prozent derStromversorgung werden heute durch die heimische Pro-duktion gedeckt. Erneuerbare und Braunkohle habe ichangesprochen. Es gibt außerdem in geringem Umfangheimische Gasproduktion sowie Kernenergie. Bei einemAusstieg aus Kernenergie und Kohle wird diese Versor-gungssicherheit so nicht mehr gewährleistet sein.Im Übrigen sind wir nicht allein auf dieser Welt.Wenn wir Deutschen vorpreschen, werden uns die Fran-zosen, die Schweizer, die Tschechen, die Schweden, dieFinnen, die Belgier und die Holländer nicht automatischfolgen. Bei der Beratung des vorherigen Tagesordnungs-punktes haben wir die europäische Währung und die da-mit verbundenen Notwendigkeiten behandelt. Diese sindbei der Energieversorgung mindestens in dem Maße eineeuropäische Herausforderung, wie dies im Bereich derWährung der Fall ist.Unsere Bürger sind bereit – zumindest im Lichte deraktuellen Ereignisse –, bei einem schnelleren Umbaumehr für die Energieversorgung zu bezahlen. Dass dasmehr kostet, wird sicherlich niemand bestreiten; schließ-lich müsste der Netzausbau, der den Notwendigkeitensowieso hinterherhinkt, noch schneller vonstatten gehen.Nicht nur Planungsverfahren müssten beschleunigt wer-den, sondern es müssten auch hohe zweistellige Milliar-denbeträge investiert werden. Das Problem der Speiche-rung, das technologisch noch nicht abschließend gelöstist, ist ebenfalls mit hohen Kosten und vielem anderenverbunden.Wir wollen uns diesen Herausforderungen stellen.Dabei dürfen wir aber nicht vergessen – das will ich ab-schließend ins Zentrum der Überlegungen rücken –, dasses vor allem um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeitdes Industriestandortes Deutschland geht. In der Wirt-schafts- und Finanzkrise haben wir gesehen, wie wichtigder Industriestandort Deutschland ist. Heute spielen derProduktions-, der Forschungs- und der Industriestandorteine herausragende Rolle. Wir müssen die Wertschöp-fungstiefe erhalten. Deshalb brauchen wir wettbewerbs-fähige Strompreise und nicht nur wettbewerbsfähigeEnergiepreise. Wenn es Ausschläge beim Öl- und beimGaspreis mit internationalen Auswirkungen gibt – Nord-afrika, Mittlerer Osten –, trifft das alle in gleichemMaße. Es trifft uns vielleicht sogar etwas weniger als an-dere auf der Welt, weil wir beim Thema Energieeffizienzgrößere Fortschritte gemacht haben. Außerdem zählenwir zu den drei Nationen in der Welt, denen es am bestengelungen ist, das Energiewachstum vom Wirtschafts-wachstum zu entkoppeln.Wir gehören schon heute zu denjenigen, die denhöchsten Strompreis in Europa haben. Der Strompreis istheute neben den Arbeitskosten und der Höhe der Steuerneiner der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Wettbe-werb ist hier kein Selbstzweck, sondern entscheidet über
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Dr. Joachim Pfeiffer
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die Schaffung und die Erhaltung von Arbeitsplätzen.Unser zentrales Bemühen muss sein, die Wettbewerbsfä-higkeit des Industriestandortes Deutschland durch ver-trägliche, wettbewerbsfähige Strompreise zu erhalten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen. Das soll-
ten wir bei der Fortschreibung des verabschiedeten Ener-
gieprogramms und bei weiteren Maßnahmen nicht ver-
gessen. Ohne die Erhaltung des Industriestandortes
werden wir Deutschland nämlich nicht so weiterentwi-
ckeln können, wie wir alle hier es wollen. Das sollten
wir bedenken.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Wir sind gut beraten, darauf zu achten, Herr Trittin,
dass der Kernschmelze, die in Japan droht, nicht die
Hirnschmelze in Deutschland folgt.
Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
Ja, Herr Trittin, ich weiß, dass Sie mich gerne hören;deshalb rede ich zum zweiten Mal. Aber ich versprecheIhnen, heute und morgen nicht wieder zu reden, zumin-dest nicht hier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächstzur Katastrophe von Fukushima. Wie schlimm das ist,wissen wir alle. Der Super-GAU ist noch nicht abgewen-det. Ich habe in einer Stellungnahme von Pflugbeil gele-sen, dass der Unfall jetzt schon den Grad von Tscherno-byl erreicht hat. Das Ganze ist also eine beispielloseKatastrophe.Was hat die Regierung gemacht? Sie hat ein Morato-rium von drei Monaten beschlossen. Sie hat die Lauf-zeitverlängerung ausgesetzt, will prüfen und sagt, da-nach werde man weitersehen. Nun lese ich heute in derSüddeutschen Zeitung, Herr Brüderle, Folgendes
– es tut mir leid; das muss ich Ihnen vorlesen; das istdoch wirklich ein starkes Stück –:
Was es denn mit den Meldungen von dem Morato-rium auf sich habe, will BDI-Präsident Hans-PeterKeitel wissen.– Sie, Herr Brüderle, saßen da ja mit lauter Industriebos-sen zusammen. –Ausweislich des Protokolls der Sitzung gibtBrüderle darauf eine folgenschwere Antwort: „DerMinister bestätigte dies“,– also das Moratorium –steht darin, „und wies erläuternd darauf hin, dassangesichts der bevorstehenden LandtagswahlenDruck auf der Politik laste und die Entscheidungendaher nicht immer rational seien.“
Im Übrigen sei er, Brüderle, ein Befürworter derKernenergie, auch mit Rücksicht auf Branchen, diebesonders viel Energie verbrauchen. „Es könne da-her keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz ge-fährde“, befindet Brüderle laut Protokoll.
Wissen Sie, Herr Brüderle: Wenn man sich mit so rei-chen Knöppen einlässt, dann sollte man bedenken – dashaben Sie wohl vergessen –, dass das deutsche Knöppesind und deshalb ein Protokoll geführt wurde.
Herr Brüderle, ich rate Ihnen, das nicht zu bestreiten.Ich will aber auf etwas anderes hinweisen: Auch dieKanzlerin spricht immer von Restrisiko. Restrisiko be-deutet, dass wir, wenn wir je so etwas erleben wie das,was jetzt in Japan geschehen ist, in diesem Land wahr-scheinlich gar nicht mehr leben könnten. Niemand hatdas Recht, auch nur bei kleinstem Restrisiko die Bevöl-kerung dieses Landes einer solchen Gefahr auszusetzen.Sie nicht und auch nicht die Bundeskanzlerin. Niemand.
Wenn Sie, Herr Brüderle, nun wegen der Landtags-wahlen die Laufzeitverlängerung aussetzen, aber danachIhre Politik im Kern weiterverfolgen wollen, kann ichIhnen nur sagen, dass das ein verantwortungsloses Spielmit den Bürgerinnen und Bürgern ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11283
Dr. Gregor Gysi
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Jetzt komme ich auf den Ursprungsfehler. Wir müs-sen uns in unserer Gesellschaft über ein paar Fragen ver-ständigen. Zunächst einmal: Mit wem muss eigentlicheine Einigung erzielt werden, wenn eine bestimmte Poli-tik durchgesetzt werden soll? Ich habe das schon einmalgesagt und wiederhole es: SPD und Grüne haben mitdem Ausstieg begonnen – das ist ein Verdienst –; aberdie Bedingungen hierfür haben sie mit der Atomlobbyausgehandelt. Warum hatten Sie nicht die Kraft, ihr ein-mal zu sagen, dass der Bundestag der Gesetzgeber istund nicht die Atomlobby? Aber weil Sie alles nur mit ihrausgehandelt haben, war der Kompromiss so unzurei-chend.
Ich habe damals gefragt, wie Sie eigentlich daraufkommen, zu glauben, dass Sie in 30 Jahren noch regie-ren, um das Ganze zu kontrollieren. Da haben Sie mirgesagt: Auch eine nachfolgende Regierung kann vondiesem Beschluss nicht abweichen. Aber sie konnte ab-weichen, wie Frau Merkel ja nun bewiesen hat.
Union und FDP begingen den schweren Fehler, die-sen Kompromiss, so unzulänglich er war, nun auch nochaufzukündigen. Damit haben Sie eine völlig überflüssigegesellschaftspolitische Auseinandersetzung provoziert.Worum ging es? Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Esging darum, dass die vier Atomkonzerne einen zusätzli-chen Profit in Höhe von 120 Milliarden Euro erzielenwollten. Das haben Sie ihnen zugebilligt.Jetzt kommt der Höhepunkt. Dann sagt Frau Merkelzu den Bossen, sie wolle aber auch für den Bund etwashaben, und zwar 2,3 Milliarden Euro. Darauf erwidertdie Atomlobby, das sei zu viel. Letztendlich einigen siesich auf 1,5 Milliarden Euro.
Der Punkt ist doch, dass Sie den Bundestag ausschal-ten.
Herr Kauder, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einenselbstständigen Gedanken gegenüber der Bundeskanzle-rin
und sagten, Sie wollten mehr als 1,5 Milliarden Euro ha-ben. Dann würde Ihnen die Bundeskanzlerin sagen, dassdas gar nicht geht, weil sie ja etwas anderes vereinbarthat. Der Bundestag wird von Ihnen zu einem Abnick-organ gemacht. So etwas geht nicht. Das gefährdet auchdie Demokratie.
Herr Kauder, bei der Bankenlobby ist es dasselbe ge-wesen. Die Bankenlobby hat doch entschieden, wie wirdie Krise angeblich lösen. Es entscheidet nicht FrauMerkel, was Herr Ackermann macht, sondern HerrAckermann entscheidet, was Frau Merkel macht. Selbstwenn sie ihm ein Essen ausgibt, entscheidet nicht etwasie, sondern er, welche 18 weiteren Personen eingeladenwerden. Das ist eine Verkehrung der demokratischenVerhältnisse in diesem Land.
Übrigens war es bei der Gesundheitsreform mit derPharmaindustrie und den privaten Krankenversicherun-gen nicht anders. Die haben ebenfalls entschieden, washier passiert.
Bei Hartz IV war es genauso. Sie haben an den illegalenKungelrunden doch teilgenommen.
Herr Beck, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz,hat dort etwas Verfassungswidriges vereinbart, immerunter Ausschluss der Linken. Es stört Sie, wenn wir vonIhren Nebendeals erfahren. All das gefährdet die Demo-kratie. Das müssen Sie sich überlegen.
Ich will Ihnen auch sagen, warum die Demokratie ge-fährdet wird: weil nichtzuständige Einrichtungen dieEntscheidungen treffen. Die Kungelrunde von HerrnBeck ist nicht zuständig. Angerufen war der Vermitt-lungsausschuss. Er hatte noch gar nicht getagt. Ichmöchte gerne, dass der Bundestag, der Bundesrat undder Vermittlungsausschuss wieder die Entscheidungsgre-mien werden. Entscheidungen dürfen nicht in den illega-len Kungelrunden getroffen werden, an denen Sie sichbeteiligen.
Wir sind uns einig – zumindest in der Opposition –,dass die acht ältesten und pannenreifen AKW sofort undfür immer vom Netz genommen werden müssen.
Die Streitfrage ist: Was wird mit den weiteren neunAKW? Ich sage Ihnen: Was Sie hier bieten, ist willkür-lich. Die SPD schreibt, bis 2020 sollten sie abgeschaltetwerden. Ursprünglich war von einer Laufzeit bis 2023die Rede. Jetzt sagen Sie: bis 2020.
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11284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Gregor Gysi
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Die Grünen sagen: bis 2017. Ich halte das alles für will-kürlich.Wir schlagen etwas ganz anderes vor: dass wir unsmit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern, mit Umweltverbänden und mit kommunalenEnergieerzeugern beraten und dass die Abschaltung un-verzüglich, ohne schuldhaftes Verzögern, das heißt soschnell wie möglich, erfolgt,
und zwar auf der Grundlage der Berechnungen vonFachleuten und nicht basierend auf den willkürlichenGedanken, die Sie hier in den Raum bringen.
Zu Baden-Württemberg kann ich Ihnen auch noch et-was sagen. Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 müs-sen dauerhaft abgeschaltet bleiben. Auch Philippsburg 2und Neckarwestheim 2 werden unverzüglich und unum-kehrbar abgeschaltet und können nicht am Netz bleiben.Da die EnBW mehrheitlich dem Land gehört, ist es garkein Problem, das umzusetzen, egal welche Regierung inBaden-Württemberg gebildet wird.
– Ja, warten wir das ab.
Das ist aber nur das eine, was wir fordern.Wir fordern darüber hinaus, den Verzicht auf Atom-energie und Atomwaffen in das Grundgesetz aufzuneh-men. Das ist dringend erforderlich. Es gibt das schöneBeispiel Österreich. Dort steht das in der Verfassung.Folgt man diesem Beispiel, gibt es auch keine Debattemehr.
– Herr Kauder, haben Sie doch einmal den Mut und tra-gen Sie zur Zweidrittelmehrheit bei. Dann nehmen wirdas ins Grundgesetz auf. Danach wird sich im Bundestagnie wieder eine Zweidrittelmehrheit finden, die es än-dert. Dann wären wir endlich endgültig ausgestiegen.Genau das brauchen wir.
Übrigens liegen in Rheinland-Pfalz noch 20 Atom-bomben der USA. Die müssten abgezogen werden. DerKalte Krieg ist seit über 20 Jahren vorbei. Wir brauchenkeine Atomwaffen in Deutschland.
Des Weiteren brauchen wir ein Exportverbot für dieTechnik, die für die energetische und militärische Nut-zung der Atomkraft eingesetzt wird. Es geht wirklichnicht an, dass wir weiterhin damit Profit machen und da-ran verdienen, dass wir diese Technik weltweit verkau-fen.Mit dem, was Sie hier zu den Hermesbürgschaften ge-sagt haben, haben Sie recht: Die Bundesregierung kannden Bau von Atomkraftwerken nicht auch noch finan-ziell begleiten. Hier muss ein Umdenken stattfinden.
Wir brauchen ein Sofortprogramm hinsichtlich der er-neuerbaren Energien, gerade in Bayern und in Baden-Württemberg, wo der Anteil der Atomenergie so großist. Dort muss jetzt wirklich einmal etwas passieren.Im Übrigen führt die Verlängerung der Laufzeiten beider Atomenergie zu verstopften Netzen. Dadurch wirddie Entwicklung der erneuerbaren Energien gebremst.Ich sage das, weil Sie immer so tun, als ob dabei das Ge-genteil herauskommen würde. Auch hier müssen wiralso umdenken.Ich füge hinzu, dass wir Stromnetze in öffentlicherHand brauchen. Ich weiß, dass Sie sich darüber immeraufregen; Sie wollen alles privatisieren. Wenn dieStromnetze nicht in öffentlicher Hand sind, dann ist diePolitik auch nicht zuständig. Wenn die Politik nicht zu-ständig ist, dann ist auch die Demokratie nicht zuständig.Wenn alles privatisiert ist, dann ist es eben bei bestimm-ten Fragen egal, ob man FDP oder Linke wählt, weil dasParlament gar nicht mehr darüber zu entscheiden hat.
Wir brauchen auch bei der Energieversorgung eineDezentralisierung und Kommunalisierung,
weil kleinere Einheiten einfach übersichtlicher sind. Siemöchten, dass ein Bürgermeister nichts mehr zu ent-scheiden hat.
– Ja, natürlich! Wenn Sie alles privatisiert haben, hat derBürgermeister nichts mehr zu entscheiden, weder hin-sichtlich der Energiepreise noch hinsichtlich der Wasser-preise oder der Mieten. Ich möchte, dass die Politik fürdie öffentliche Daseinsvorsorge zuständig bleibt, damitdie Wahl zwischen uns beiden für die Leute Sinn macht.
Das ist die Frage, die dahintersteckt.
– Herr Kauder, quatschen Sie doch nicht immer von derDDR. Sie wissen doch gar nicht, wie es dort war.
– Ja, ich weiß es; ich habe dort gelebt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11285
Dr. Gregor Gysi
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Aber ich gebe Ihnen nicht auch noch ein Essen aus, umIhnen den Osten zu erklären; das geht mir zu weit.Herr Kauder, wir brauchen noch etwas – ich sage dasauch der FDP, die das grundsätzlich ablehnt –: Wir brau-chen natürlich einen Preisstopp und eine staatliche Preis-regulierung. Das gab es in der Bundesrepublik jahrzehn-telang. Was war denn daran so schlimm? Seitdem dieEnergieversorgung privatisiert ist, gehen die Preise nachoben. Die Konzerne telefonieren miteinander und be-sprechen das. Es gibt doch in diesem Bereich überhauptkeinen Markt. Wir haben vier Konzerne, die sich dieBundesrepublik Deutschland feudal aufgeteilt haben.Also brauchen wir auch hier einen anderen Weg.Wieder geht es um die Frage der Zuständigkeit derPolitik und der Demokratie. Sie begreifen eine einfacheTatsache nicht: Der Bundestag wird demokratisch ge-wählt; die Atomlobby wird nicht gewählt, die Chefs derPharmaindustrie werden nicht gewählt, die Chefs derBanken werden auch nicht gewählt.
Es macht einen Unterschied, dass die Bevölkerung denBundestag wählen darf, aber nicht den Vorstand derDeutschen Bank. Insofern ist es eine Katastrophe, dassder Vorstand der Deutschen Bank mehr zu sagen hat alsdie Bundesregierung. Genau das müssen wir überwin-den.
Schließlich sage ich Ihnen: Am Samstag werdengroße Demonstrationen stattfinden. Ich bitte Sie – auchSie, Herr Brüderle –, sie ernst zu nehmen. Die Bürgerin-nen und Bürger werden dort ganz entschieden rufen:„Atomkraft? Nein, danke!“ Nehmen Sie sie ernst! Veral-bern Sie sie nicht mit einem Moratorium, das überhauptnicht ernst gemeint war.
Das Wort hat nun Bundesminister Rainer Brüderle.
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,Sie kritisieren, dass ein Zusammenhang zwischen unse-rer Politik und dem Wahlkampf besteht. Sie haben nurüber Atomkraftwerke in Baden-Württemberg gespro-chen; das nur nebenbei gesagt.
Sie haben aus einem Protokoll zitiert, zu dem der BDIinzwischen erklärt hat, dass meine Ausführungen falschwiedergegeben worden sind.
Was ich kenne, ist meine Haltung und die Haltung derBundesregierung: Wir wollen in das Zeitalter der erneu-erbaren Energien einsteigen. Wir machen verantwor-tungsvolle Politik und halten Kurs. Es ist absurd, unsWahlkampfmanöver vorzuwerfen.
Einige von Ihnen stellen sich hin und fordern hier densofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Das ist verant-wortungslos. Sie wissen ganz genau, dass das unsereNetze überhaupt nicht aushalten können. Das, was Siefordern, ist überhaupt nicht machbar.
Herr Trittin und Herr Gabriel, Sie haben sieben JahreZeit gehabt, die Kernkraftwerke sofort abzuschalten; Siehaben es nicht getan. Sie sollten etwas mehr die Seriosi-tät, Ruhe und Besonnenheit übernehmen, die die Japanerim Umgang mit der Atomkatastrophe und den beidenNaturkatastrophen gezeigt haben.
Japan geht mit diesem Schicksalsschlag gelassen undbesonnen um. Teile der Opposition meinen, in Deutsch-land Hysterie verbreiten zu müssen.
Das ist der Lage in Japan völlig unangemessen, und dasist der Lage in Deutschland völlig unangemessen.
Da wird versucht, aus jeder angeblichen Neuigkeiteine Sensation zu kreieren. Wir sollten uns auch in derpolitischen Debatte mit etwas mehr Ruhe und Sachlich-keit des Themas annehmen. Ja, was in Japan passiert ist,war ein Einschnitt:
für Europa, für Deutschland und für die Welt.
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11286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Bundesminister Rainer Brüderle
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Wir überprüfen bei allen Kernkraftwerken in Deutsch-land die Sicherheit erneut umfassend. Die sieben ältestenKernkraftwerke in Deutschland werden zunächst abge-schaltet.
Die Prüfung ist hart, fair und ergebnisoffen. Eine Vor-festlegung gibt es nicht. Aber eines ist klar: Sicherheitgeht vor. Eine ähnliche Überprüfung führen die Verei-nigten Staaten, China und Russland durch.
Sie können doch nicht behaupten, dass die Landtags-wahlen im Süden der Republik das Verhalten dieser Län-der, die genauso vorgehen, beeinflussen würden.
Die Zeit während des Moratoriums wird genutzt, damitdie neue Lage nach den japanischen Vorfällen seriösüberprüft werden kann.Zentral für den Umstieg in das Zeitalter der regenera-tiven Energien, den wir wollen, ist der Netzausbau. Wirmüssen die Netze schneller ausbauen. Schon heute feh-len in Deutschland 3 600 Kilometer Stromleitungen –Tendenz steigend.
– Wir stellen ein Konzept für den Netzausbau auf, umdiesen zu beschleunigen.
Ich habe eine Netzplattform geschaffen, auf der wir auchmit NGOs einen Dialog führen, damit wir schneller zueiner Akzeptanz kommen.
Aber Teile der Opposition sind gegen alles: gegen Kern-kraft, gegen Kohlekraftwerke und gegen Leitungen.
Das ist unverantwortliche Politik.
Eine Deindustrialisierung, die gegen Arbeitsplätze undWohlstand in Deutschland gerichtet ist, können Sie mitSchwarz-Gelb nicht machen. Deshalb sollten Sie mit Be-sonnenheit und Vernunft an diese Themen herangehen.
Wir bringen Schwung in den Netzausbau. Ich stellemir vor, dass wir als Resultat dieser nationalen Aufgabeein Konzept auf den Weg bringen, um diesen Ausbau er-heblich zu beschleunigen. Ich lade Sie ein, mitzuma-chen. Sie können nicht hier im Bundestag Ja zum Netz-ausbau sagen, aber vor Ort bei den Blockierern dabeisein. Wenn konkrete Maßnahmen bei Pumpspeicher-kraftwerken und Netzen anstehen, machen Sie genau dasGegenteil dessen, was Sie fordern.
Rot-rot-grüne Energiepolitik ist eine Nullnummer. Sieblockieren beim Umbau des Kraftwerkparks.
Sie sollten konsequent mithelfen, dass wir schneller indas Zeitalter der regenerativen Energien kommen.
Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr Minister Brüderle, da kommen Sienicht mehr heraus.
Sie haben beim BDI in Anwesenheit von RWE und Eondie Wahrheit zu Protokoll gegeben. Das jetzt als Fehlerim Protokoll ausgeben zu wollen, macht Sie noch we-sentlich unglaubwürdiger, als Sie es vorher schon waren.
Ihr angebliches Atommoratorium ist reine Wahl-kampftaktik. Das haben Sie beim BDI klar zugegeben.Dabei brauchen wir heute doch keine Wahlkampftaktik,um auf diese Herausforderungen des Atomunfalls in Ja-pan zu reagieren. Er ist es, der zur DeindustrialisierungJapans beiträgt. Es sind nicht die erneuerbaren Energien,sondern es ist die Atomenergie, die eine Deindustriali-sierung befördert. Das können Sie in Japan genau sehen.
Nach dieser nuklearen Katastrophe in Japan sind zweientscheidende Handlungen zwingend erforderlich: Zumeinen müssen wir jetzt dem japanischen Volk in seinergroßen Not nach Erdbeben, Tsunami und Atomunfallalle Hilfen geben, die uns möglich sind. Dabei sehe ichauch große Defizite dieser Regierung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11287
Hans-Josef Fell
(C)
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Zum anderen braucht unser Planet endlich einen völligneuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Erde:ohne Atomenergie und wegen des Klimaschutzes auchohne fossile Energien.
Diesen neuen Entwurf für die Energieversorgung die-ser Welt gibt es bereits. Die renommierten kalifornischenUniversitäten Stanford und Davis, die mit ihren Aus-gründungen im Silicon Valley die dritte industrielle Re-volution der Welt ermöglicht haben, haben jetzt einenPlan für die vierte industrielle Revolution der Welt ge-schaffen. Sie sagen: Der gesamte Weltenergiebedarfkann danach bis 2030 zu 100 Prozent mit erneuerbarenEnergien gedeckt werden. Das ist technologisch mög-lich, industriell machbar und hat ökonomisch große Vor-teile.
Doch statt nun auf die Beschleunigung des Ausbausder erneuerbaren Energien zu setzen, was Frau Merkelund Sie, Herr Brüderle, in der letzten Woche noch voll-mundig erklärten, wurde in dieser Woche die Verkün-dung von neuen Maßnahmen abgesagt. Offensichtlichhaben sich die Hardliner durchgesetzt. Offensichtlich ha-ben Sie, Herr Brüderle, Herr Kauder und Herr Fuchs, dieVerabschiedung eines Beschleunigungskonzeptes in Sa-chen erneuerbare Energien verhindert.Es ist wie immer bei Ihrem Regierungshandeln: Eineleere Versprechung reiht sich an die andere. Statt Mil-liarden in den Ausbau des Bereichs der erneuerbarenEnergien zu stecken, wurden die Mittel für erneuerbareEnergien im Haushalt 2011 gekürzt, und die Mittel fürdie Effizienzsteigerung wurden gleich mit gekürzt. Daswiderspricht Ihren Worten doch völlig.
Immer noch halten die Kanzlerin und Sie am uraltenkerntechnischen Regelwerk fest, ebenso am Atommana-ger Hennenhöfer als Leiter der Atomaufsicht. Allesspricht dafür, dass Sie nach der Wahl am kommendenSonntag wieder einen Pro-Atom-Kurs fahren werden.Frau Merkel will sich heute auf dem EU-Gipfel für ei-nen Stresstest der europäischen Atomkraftwerke einset-zen. Da muss sie Herrn Oettinger aber sagen, dass dasnicht nach dem alten Euratom-Regelwerk geschehenkann. Dieses Regelwerk ist zur Analyse der Gefahrenvon Atomkraftwerken, die in Japan aufgetreten sind, un-tauglich. Wir brauchen eine Veränderung der Euratom-Regeln. Am besten wäre eine Abschaffung der Unter-stützungsmodalitäten. Stattdessen brauchen wir einenneuen EU-Vertrag für erneuerbare Energien, Eurenew.Das wäre die richtige Antwort. Das müsste Frau Merkeljetzt in Brüssel auf den Weg bringen.
Wir Grünen haben längst gezeigt, wie eine Beschleu-nigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien gelingenkann. Das ist nachzulesen im Energiekonzept der Grü-nen und in den Vorlagen, die wir heute einbringen. Wirmachen konkrete Vorschläge, wie dieses Land spätestenszum Ende der nächsten Wahlperiode vollständig aus derAtomenergie aussteigen kann. Mit dem unter Rot-Grüngeschaffenen erfolgreichen Erneuerbare-Energien-Ge-setz haben wir bewiesen, dass wir eine solche Politik ge-gen alle Widerstände aus den Reihen von Union, FDPund Atomwirtschaft machtpolitisch durchsetzen können.Wir müssen den Ausbau der Windkraft, der Solarener-gie, der Wasserkraft, der Bioenergie und der Erdwärmebeschleunigen. Wir müssen den Kommunen mehr Ener-giehoheit geben. Wir müssen die Energieeinsparpoten-ziale heben und Bürgerakzeptanz für den notwendigenNetz- und Speicherausbau schaffen. Herr Brüderle, dieHauptengstellen liegen übrigens im 110-kV-Netz. Dortfinden die Abschaltungen statt. Für den Ausbau diesesNetzes kann man Erdkabel nutzen. Doch die DeutscheEnergie-Agentur und Sie, Herr Brüderle, sprechen fastnur vom Ausbau der großen 380-kV-Leitungen. NeueKohlekraftwerke sind – das ist eine Mahnung an die an-dere Seite des Hauses, an SPD und Linke – für die Um-setzung unseres Energiekonzepts nicht notwendig. Wirmüssen auch an den Klimaschutz denken.
Herr Brüderle, Sie wollen nur die großen Leitungenbauen, um den Windstrom von Nord nach Süd zu brin-gen. Fordern Sie lieber endlich Herrn Mappus in Baden-Württemberg und Herrn Seehofer in Bayern auf, die Ge-nehmigungsblockaden in Sachen Windenergie abzu-schaffen.
Windstrom kann man mit neuen Windrädern auch in diesüdlichen Bundesländer bringen.Sie haben in der Vergangenheit bewiesen, dass Sieden Blick nicht nach vorne richten. Ich will Ihnen AlbertEinstein in Erinnerung rufen, der gesagt hat, dass manmit den Denkweisen, die ein Problem verursacht haben,das Problem nicht lösen kann. Das werden die Wählerin-nen und Wähler am kommenden Sonntag erkennen. Siesind mit Sicherheit in der Lage, die Konsequenzen zuziehen. Die Konsequenz ist: Die Atomparteien müssenabgewählt werden.
Das Wort hat nun Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion.
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11288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Gysi, von Ihnen
etwas über Demokratie zu lernen, fällt mir wahrlich
schwer. Solange Sie nicht in der Lage sind, überhaupt
anzuerkennen, was Ihre Vorgängerpartei, die SED, in der
DDR-Zeit angestellt hat – ich nenne den Mauerbau; die
Mauertoten leugnen Sie nach wie vor, was unsäglich
ist –, brauchen wir in Sachen Demokratie keine Beleh-
rung von Ihnen.
Des Weiteren darf ich Ihnen sagen: Es wäre interes-
sant, wenn Sie sich einmal mit Österreichern unterhalten
würden. Wir haben das vor kurzem getan. Wir haben uns
mit dem österreichischen Wirtschaftsminister unterhal-
ten und uns mit ihm auch über die Energieversorgung in
Österreich auseinandergesetzt. Was macht man dort? Die
Österreicher haben – da gebe ich Ihnen völlig recht –
jede Menge Pumpspeicherkraftwerke; das ist auch gut
so. Wir wären schon froh, wenn die Grünen in Deutsch-
land Pumpspeicherkraftwerke nicht verhindern würden.
Was aber machen die Österreicher nächtens? Sie kaufen
nächtens billigen Kernkraftstrom aus Temelin ein, pum-
pen damit das Wasser wieder nach oben und verkaufen
ihn tagsüber als Ökostrom nach Bayern. Das ist ein Re-
cycling, das mir nicht gefällt und das ich hier und auch
woanders nicht haben möchte. Das sollten Sie zur
Kenntnis nehmen. So funktioniert das nicht.
Lassen Sie mich nun zu Japan kommen. Ich bin in
meinem beruflichen Leben sehr häufig in Japan gewe-
sen. Ich kann nur sagen: Mir tut das, was dort passiert
ist, alles unglaublich leid, und ich empfinde ein tiefes
Mitgefühl für die Menschen dort. Mich stört aber in vie-
lerlei Hinsicht, wie wir mit der Situation in Japan umge-
hen.
400 000 Menschen sind obdachlos. Wahrscheinlich sind
mehr als 20 000 Tote zu beklagen. Niemand weiß genau,
wie viele es tatsächlich sind. Und wir diskutieren hier
über Probleme, die die Japaner momentan überhaupt
nicht wahrnehmen. Wenn Sie sich anschauen, welche
Diskussionen in Japan geführt werden, dann stellen Sie
fest, dass es dabei um ganz andere Probleme geht. Dort
geht es eben um 400 000 Menschen, die keine Häuser
mehr haben und die verzweifelt nach ein paar Habselig-
keiten suchen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Als ich kurz nach dem
verheerenden Tsunami die Worte Ihres Vorsitzenden
Gabriel gehört habe, habe ich gedacht: Hut ab! Das ist
staatstragend und vernünftig. Das ist genau das, was man
in dieser Situation sagen kann und machen muss. Aber
was anschließend passiert ist, nämlich dass es nur vier
Stunden gedauert hat, bis Sie angefangen haben, eine
Diskussion zu beginnen, die überhaupt nichts mit diesem
Unfall zu tun hat, ist schäbig.
Das ist alles andere als der Situation angemessen. Die
Sache für Wahlkampfzwecke auszunutzen, ist zynisch
und für mich auch abstoßend.
Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Nein. – Wir haben gesagt: Wir müssen ein Morato-
rium machen. Wir setzen die sieben ältesten Kernkraft-
werke in Stillstand, um sie besser überprüfen zu können.
Wir wollen in dieser Phase des Moratoriums aus dem,
was in Japan passiert ist, lernen und zuallererst einmal
feststellen, ob wir daraus Konsequenzen für unsere
Kraftwerke ziehen müssen. Das ist wichtig.
Herr Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Auch nicht. – Wir müssen als Allererstes die Fragestellen: Was sind die technischen Konsequenzen, die wirfür unsere Kernkraftwerke ziehen müssen?
Ein Tsunami – das wird wahrscheinlich selbst die Grü-nen-Fraktion zugeben, wobei Sie im Verdrängen großar-tig sind – ist in Deutschland relativ unwahrscheinlich.
Dennoch haben wir mit Sicherheit Lehren daraus zu zie-hen.
Das werden wir mit der IAEO machen. Wir werden diesdann konsequent in unseren Kernkraftwerken umsetzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11289
(C)
(B)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner?
Auch nicht.
Also generell keine Zwischenfragen? – Gut.
Ich möchte gerecht sein und niemandem eine Zwi-schenfrage gestatten.Die Strompreise – das hat der Kollege Pfeiffer geradevöllig zu Recht gesagt – sollten wir allerdings im Blickbehalten. Was ist denn von Anfang an passiert? DiePreise sind schon gestiegen.
Wenn Sie sich den Spotmarkt in Leipzig für das zweiteQuartal dieses Jahres anschauen, dann werden Sie fest-stellen, dass der Preis für Großhandelsstrom um unge-fähr 10 Prozent gestiegen ist.
Schon in dieser Woche – diese Zahl ist interessant –mussten pro Tag circa 800 bis 1 000 Megawatt Stromimportiert werden. Ich frage Sie: Von wo wird dieserStrom importiert? Der Strom ist überwiegend aus Osteu-ropa gekommen, und zwar im Wesentlichen von Kern-kraftwerken.
Wenn der Strom nicht aus Osteuropa war, dann kam erzumindest von Kohlekraftwerken.Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wirden Strom nicht zur Verfügung stellen, dann kommt ervon irgendwo anders her. Es ist völlig richtig, was HerrFell eben gesagt hat: Der Strom kommt aus der Steck-dose.
Aber er muss vorher auch dort hineingegeben werden.Das ist das große Problem. Sie müssen sich über einesim Klaren sein: Nur mit Wind, nur mit Solar werden wirdieses Problem nicht lösen können.
Mit einem weiteren Punkt muss aufgeräumt werden,nämlich damit, dass es die rot-grüne Koalition war, diedie erneuerbaren Energien so weit vorangebracht haben.
Ich habe einmal die Zahlen herausgesucht. Als Sie 1998an die Regierung kamen, betrug der Anteil der erneuer-baren Energien 4,7 Prozent.
Als Sie zu Recht abgewählt wurden, lag dieser Anteil bei10,2 Prozent. Es gab in sieben Jahren also eine Steige-rung um 5,5 Prozentpunkte. Heute haben wir einen An-teil von 17 Prozent.
Seit die Bundeskanzlerin Merkel an der Regierung ist,haben wir eine Steigerung um 6,8 Prozentpunkte in fünfJahren.
Es ist schon fast beschämend, Herr Fell, wenn Sie be-haupten, es würde nicht in erneuerbare Energien inves-tiert. Im letzten Jahr sind rund 11,3 Milliarden Euro inerneuerbare Energien investiert worden.
Es hat noch nie eine so intensive Phase von Investitionenin erneuerbare Energien gegeben wie jetzt. Auch dassollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Last, but not least muss auch etwas über CO2 gesagtwerden. Wir alle hier kämpfen dafür, dass der Klima-schutz Wirklichkeit wird. Das ist schwierig genug, weilnicht alle Länder so intensiv Klimaschutz betreiben wiewir. Sie wissen aber auch, dass die acht Kernkraftwerke,die jetzt nicht am Netz sind, uns circa 30 Prozent Koh-lendioxidausstoß ersparen. Das sind 48 Millionen Ton-nen.
Diese 48 Millionen Tonnen können wir auf kurze Fristnur kompensieren, wenn es uns gelingt, aus Nachbarlän-dern Strom zu importieren, und zwar dann Strom ausKernkraftwerken; denn ausschließlich Strom aus erneu-erbaren Energien bekommen wir aus den Nachbarlän-dern nicht.
Ansonsten werden wir die Klimabilanz Deutschlandsverschlechtern. Denn alle fossilen Kraftwerke, egal ob
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Dr. Michael Fuchs
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Kohle-, Braunkohle- oder Gaskraftwerke, stoßen CO2aus. Da können Sie sich nicht herausreden.
Auch das wird ein Problem werden.
Das sehen wir ja schon beim Emissionshandel. DiePreise für Zertifikate sind ebenfalls schon kräftig gestie-gen, und zwar von 15 Euro auf 16,50 Euro. Das könnenSie am Spotmarkt beobachten. Sie sollten sich das anse-hen.
Für uns geht es um eines: Wir wollen verantwortungs-voll Energiepolitik betreiben, und zwar so, dass erstensdie Energieerzeugung sicher ist – darüber lassen wirnicht mit uns reden –, dass zweitens die Energie zuver-lässig vorhanden ist
und dass sie drittens auch noch kostengünstig ist, sodassdie Verbraucherinnen und Verbraucher sie bezahlen kön-nen und die Unternehmen nicht aus Deutschland abwan-dern müssen.
Das Wort zu Kurzinterventionen erteile ich der Kolle-
gin Kotting-Uhl und danach der Kollegin Menzner.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Fuchs, Ihre Rede
gibt eigentlich Anlass, jetzt eine zehnminütige Kurzin-
tervention zu machen,
aber das würde der Gesamtdebatte wahrscheinlich nicht
weiterhelfen. Ich möchte Sie vielmehr auf einen Punkt
ansprechen, den Sie genannt haben. Sie haben die Ver-
gleichbarkeit zwischen dem, was in Fukushima passiert
ist, und dem, was hier passieren könnte, in Abrede ge-
stellt und das damit begründet, dass hier keine Tsunamis
zu erwarten seien.
Ich möchte Ihnen dazu einige Fragen stellen. Erste
Frage: Stellen Sie Japans Sicherheitsphilosophie, die un-
serer ähnlich ist – es geht um ein hochindustrialisiertes
Land, um ein Hochtechnologieland –, in Abrede? Mei-
nes Wissens hat Japan eine ähnliche Sicherheitsphiloso-
phie. Sprechen Sie das Japan ab?
Die zweite Frage: Stellen Sie in Abrede, dass auch bei
uns Kühlsysteme ausfallen können? Wenn Sie dies in
Abrede stellen und wenn Sie sagen, es gebe keine Ver-
gleichbarkeit, dann muss ich noch einmal auf das hin-
weisen – es ist relevant –, was Herr Brüderle sagte. Ich
möchte dies noch einmal zitieren, weil es sehr deutlich
ist:
… dass angesichts der bevorstehenden Landtags-
wahlen Druck auf der Politik laste und die Ent-
scheidungen daher nicht immer rational seien.
Das passt auch zum baden-württembergischen Minister-
präsidenten, zu Herrn Mappus – ich bin Baden-
Württembergerin –, der die Entscheidungen, die gefällt
wurden, in den Kontext eines emotionalen Ausnahmezu-
standes der Bürgerinnen und Bürger stellte.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie als Drittes:
Wem stellen Sie als Wirtschaftspolitiker – ich glaube,
Sie haben eine ähnliche Denke wie der Wirtschafts-
minister; auch Ihre Argumentation war ähnlich – die Ra-
tionalität in Abrede: der Bundeskanzlerin oder den Bür-
gerinnen und Bürgern?
Ich bitte Sie, diese drei Fragen zu beantworten.
Kollegin Menzner, bitte.
Herr Kollege Fuchs, ich möchte mich auf ganz we-nige Aspekte Ihrer Rede beschränken.
Sie haben versucht, zu suggerieren, dass das, was im-mer als vernachlässigbares Restrisiko bezeichnet wurde,für Deutschland nicht gelten würde. Aber Sie haben mitkeinem Satz darauf Bezug genommen, dass dieses ver-meintlich so kleine Restrisiko in Japan, in einem Land,das sehr hohe Sicherheitsstandards hat – es handelt sichum eine Sicherheitsphilosophie, die immer als Vorbilddargestellt wurde –, Realität geworden ist. Im Gegensatzzu allen bisherigen Katastrophen können die Folgen die-ser Katastrophe auch durch den Einsatz von noch so vielGeld und Personal nicht in einem überschaubaren Zeit-raum bewältigt werden. Man kann alles Geld der Weltinvestieren und alle Technik der Welt einsetzen, die Fol-gen werden Generationen von Japanerinnen und Japa-nern zu tragen haben.Dr. Pflugbeil hat in einer Stellungnahme sehr deutlichzum Ausdruck gebracht, dass der Umfang der Freiset-zung von Radioaktivität und die Strahlenwerte in Japanin weiten Teilen schon heute dem entsprechen, was wirin Tschernobyl erleben mussten. An dem Diskussionspa-pier der Reaktor-Sicherheitskommission wird deutlich,dass selbst die Reaktor-Sicherheitskommission auch indeutschen Kraftwerken erheblichen Nachrüstbedarfsieht. Von daher kann es nicht, wie Sie suggeriert haben,nach drei Monaten so weitergehen wie vorher.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11291
Dorothee Menzner
(C)
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Abschließend möchte ich deutlich machen, dass wirnach meiner Überzeugung zu einer schnellen Entschei-dung kommen müssen.
Diesen Hinweis habe ich bei Ihnen vermisst. Block 1 desKraftwerks Fukushima 1 sollte diesen Monat vom Netzgehen. Jeder Tag und jeder Monat kann entscheidendsein.Nicht zuletzt möchte ich Sie und die Öffentlichkeitdarauf hinweisen – Sie als Wirtschaftspolitiker müsstendas eigentlich wissen –:
Die Risiken, die mit Atomkraftwerken verbunden sind,sind nicht versicherbar, sprich: Jeder Häuslebesitzer,jede Bürgerin und jeder Bürger trägt dieses Risiko selbst,und sie können sich dagegen nirgendwo versichern. Dasmacht deutlich, wie dieses Risiko und dieses Wagniseingeschätzt werden.Ich danke.
Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Zuallererst möchte ichganz kurz das Thema Tsunami ansprechen, Frau Kolle-gin. Was in Japan geschehen ist, konnte man sich auchdort bisher nicht vorstellen. Nebenbei: Es hat in der His-torie Japans nie ein Erdbeben dieser Größenordnung ge-geben.
Dies war also das allergrößte Erdbeben, das es dort je-mals gegeben hat. Die Kernkraftwerke haben dieses Erd-beben übrigens völlig unbeschädigt überstanden. Zer-stört wurden sie bzw. die Kühlzuflüsse
durch den anschließenden Megatsunami, der in dieserGrößenordnung nicht antizipiert wurde.
Man kann darüber nachdenken, ob es richtig oderfalsch war, nicht von der Möglichkeit eines solchen Tsu-namis auszugehen. Bis dato war er nicht denkbar. Man-che Orte – dieses Drama konnten Sie alle beobachten –wurden von dem Tsunami zu fast 90 Prozent zerstört.Kein Mensch, auch niemand in den kleineren Orten ander Küste in der Nähe von Sendai, hat damit gerechnet.
Ein solches Ereignis haben die Japaner bei der Beur-teilung dieser Problematik – das gestehe ich zu – nichtbedacht. Das ist auch der Grund, warum wir gesagt ha-ben – dazu stehe ich –: Es ist notwendig, dass wir Even-tualitäten, die sich aus den Ereignissen in Japan ergeben,überprüfen.
Es ist auch logisch und notwendig, dass man die Kern-kraftwerke, die am ältesten sind, in Stillstand versetzt,um parallel dazu diese Überprüfung durchzuführen. Nur,wir wissen nicht schon vorher, was anschließend heraus-kommt.
Sie wissen ja schon, was bei der Überprüfung heraus-kommt, bevor Sie überhaupt angefangen haben, nachzu-denken.
Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung.
– Wenn Sie mich genauso ausreden lassen würden, wieich die beiden Kolleginnen habe ausreden lassen, dannwäre das höflich; aber das kann ich von Ihnen nicht er-warten.Ich gehe einmal davon aus, dass wir in dieser Phase injedem Einzelfall ernsthafteste Prüfungen durchführenwerden. Das ist auch notwendig.Kühlsysteme. Es kann durchaus sein, dass wir auf-grund der Erfahrungen, die wir in Japan gewonnen ha-ben, zu dem Ergebnis kommen, dass die Kühlsystemenicht ausreichend redundant aufgebaut sind. Das ist einerelevante Prüfung, die wir jetzt machen müssen. Dazustehe ich. Dies gilt jedoch nicht nur für die alten acht,sondern auch für die neuen neun Kernkraftwerke. Siegehören genauso überprüft.Sie behaupten, das Restrisiko werde nicht berücksich-tigt. Wir tun das doch gerade.
Wir sind doch gerade dabei, uns mit diesem Restrisikosehr intensiv zu beschäftigen; denn wir versuchen, diePrüfungen durchzuführen. Wer macht es denn? DieseBundesregierung hat sofort reagiert. Die Kanzlerin hatzwei Tage nach dem Vorfall gesagt, wir müssen dasRestrisiko überprüfen, müssen überprüfen, ob wir alleVorsichtsmaßnahmen getroffen haben und ob es Erfah-rungen oder Lehren gibt, die wir aus Japan mitnehmen
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11292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Michael Fuchs
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(B)
müssen. – Das tun wir jetzt. Ich halte das für richtig. DasVerhalten der Bundesregierung ist klug.
Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Herr Fuchs, zu Ihrer Rede möchte ich jenseits der
Frage, wie man das Restrisiko genau bewertet, noch ei-
nes anmerken: Angesichts der halsbrecherischen Wende,
die Ihre Regierung hingelegt hat, und angesichts der
Vorgänge in Japan, die uns alle betroffen machen, finde
ich es unverschämt, dass jemand, der sein ganzes politi-
sches Leben dem Lobbyismus für Atomkraft gewidmet
hat, von hier vorne moralische Beurteilungen gegenüber
anderen ausspricht, was das Thema Wahlkampf angeht.
Ich möchte zu Ihnen sprechen, Kolleginnen und Kol-
legen von der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak-
tion, um um Zustimmung für unsere Gesetzentwürfe zu
werben; denn es ist für Sie die Möglichkeit, Ihren eige-
nen Widersprüchen zu entrinnen. Sie ertrinken nämlich
in Ihren Widersprüchen.
Herr Brüderle, Sie können es zwar auf einen Proto-
kollfehler schieben, aber ein Wirtschaftsminister mit ei-
ner minimalen Restachtung hätte die Gelegenheit ergrif-
fen, hier klarzustellen, was er denn dort tatsächlich
gesagt hat.
Was haben Sie denn tatsächlich gesagt, wenn es ein Pro-
tokollfehler war? Wer soll Ihnen denn Ihre neue Nach-
denklichkeit überhaupt abnehmen, wenn Sie, statt die
Chance zu ergreifen, hier klarzustellen, was Sie tatsäch-
lich gesagt haben, nur sagen, es war ein Protokollfehler,
obwohl wir wissen, dass das, was dort steht, genau Ih-
rem Sprachgebrauch der letzten Wochen entspricht?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fuchs?
Herr Fuchs, angesichts Ihres Mutes verweise ich Sieauf die Kurzintervention, die Sie nachher tätigen kön-nen.
Ein anderer Widerspruch ist folgender: Die gleicheTruppe von Ministerpräsidenten, die bei der Laufzeiten-verlängerung unabhängig davon, ob die Zustimmung desBundesrates eingeholt werden muss oder nicht, auf ihrereigenen Unzuständigkeit bestanden hat, sitzt jetzt mitder Kanzlerin bei Atomgipfeln zusammen und verkündetöffentlich, dass sie von der Laufzeitenverlängerung jetztwieder herunter will.
Sie hoffen doch inständig darauf, dass unsere Klagein Karlsruhe Erfolg hat, weil es der einzige Weg ist, aufdem Sie die Nichtigkeit Ihres Beschlusses hergestellt be-kommen und nicht den Schadenersatzforderungen derAtomkonzerne ausgeliefert sein werden.
Deswegen sage ich Ihnen auch: Die erste Amtshand-lung einer SPD-geführten Landesregierung in Baden-Württemberg wird es sein, sich dieser Klage gegen dieLaufzeitenverlängerung beim Bundesverfassungsgerichtanzuschließen.
Der dritte Widerspruch, der Ihr ganzes Manöver alsdurchsichtig und wahltaktisch entlarvt, betrifft die hand-werkliche Umsetzung. Am Dienstag letzter Woche,15. März 2011, verkündete der Ministerpräsident desLandes Baden-Württemberg im Landtag – ich zitierewörtlich –:Kernkraftwerke, die nicht den erforderlichen Si-cherheitsanforderungen genügen, werden abge-schaltet – nicht in sieben Jahren, nicht in 15 Jahren,nicht in 20 Jahren, sondern sofort.An einer späteren Stelle in seiner Rede heißt es:Neckarwestheim I wird abgeschaltet – dauerhaft –und stillgelegt.
Am Tag darauf verkündet sein oberster Angestellterin Sachen Atomstrom – das ist übrigens nicht die für dieAtomaufsicht zuständige Frau Gönner, sondern das istder Vorstandsvorsitzende der jetzt landeseigenen EnBW,Herr Villis – in seiner Pressemitteilung vom 16. Märzum 21.30 Uhr:Der Block 1 des Kernkraftwerks Neckarwestheim… und der Block 1 des Kernkraftwerks Philipps-
Netz genommen. Zuvor hatte der Betreiber, die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11293
Peter Friedrich
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EnBW …, entsprechende Anordnungen des Minis-teriums … erhalten.Diese Anordnungen sehen die vorübergehende Ein-stellung des Betriebs der Anlagen für drei Monatevor. Die Anordnungen wurden mit Verweis auf dieaktuellen Vorkommnisse in japanischen Kernkraft-werken ausgesprochen. Die EnBW hatte bereits amDienstag … erklärt, GKN I vorübergehend freiwil-lig abfahren zu wollen. Am gleichen Tag hatte dasMinisterium für Umwelt, Naturschutz und VerkehrBaden-Württemberg mitgeteilt, dass eine Sonder-prüfung seiner Aufsichtsbeamten an den Standortenin Philippsburg und Neckarwestheim keine sicher-heitstechnischen Defizite ergeben habe. Der Be-triebszustand der Anlagen ist nach dem Abfahrenvergleichbar mit dem während einer Revision.Das sagt die EnBW Baden-Württemberg AG. Ihr Mora-torium bietet so viel Rechtssicherheit wie das Ruhenlas-sen eines Doktortitels.
Sie wollten in Baden-Württemberg mit AtomkraftKasse machen. Deswegen haben Sie die EnBW gekauft.Jetzt tritt das Gegenteil ein: Sie wird zu einem Sanie-rungsfall. Sie hatten und haben keinen Plan B dafür, wieSie den Energiewechsel dauerhaft erreichen wollen undwerden. Wir haben ein Konzept dafür vorgelegt, wie wirbis 2020 aus der Atomkraft aussteigen können. Wir ha-ben heute Gesetzentwürfe dafür vorgelegt, wie wir denEnergiewechsel schaffen werden. Deswegen werden wirin Baden-Württemberg nach der Wahl das Handwerk,den Mittelstand und die Industrie an den Tisch bitten undmit einer SPD-geführten Landesregierung ein sicheresKonzept für den Energiewechsel in Baden-Württembergauf den Weg bringen.
– Herr von Stetten, an Ihrer Stelle würde ich mir lieberGedanken darüber machen, mit welchem Restpöstle SieHerrn Mappus versorgen, wenn er ab Montag auf Ar-beitsplatzsuche ist, anstatt hier Zwischenrufe zu machen.
Damit der Energiewechsel tatsächlich sicher voran-kommt und hier nicht zurückgerudert werden kann, wer-den wir in Baden-Württemberg gemeinsam mit der In-dustrie, dem Handwerk und dem Mittelstand einenEnergiewechsel mit Konzept vereinbaren. Dafür brau-chen wir einen gesetzlichen Rahmen, den wir mit unse-ren Anträgen bieten. Stimmen Sie ihnen zu, damit derWechsel tatsächlich stattfinden kann und hier nicht nurweiter heiße Luft abgesondert wird.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Michael Fuchs.
Herr Kollege Friedrich, erstens empfinde ich es als
eine Unverschämtheit, dass Sie mir vorwerfen, ich sei
mein ganzes Leben lang ein Kernkraftlobbyist gewesen.
Ich habe ein Unternehmen aufgebaut und 23 Jahre lang
geleitet und viele Arbeitsplätze in Deutschland geschaf-
fen. Ich weiß nicht, ob Sie das nachweisen können.
Zweitens. Ich habe festgestellt, dass Sie bei EURO-
SOLAR aktiv sind. Das ist wohl kein Lobbyistenverein?
Das ist der größte Lobbyistenverein für die unwirtschaft-
lichste erneuerbare Energie, die wir in Deutschland ha-
ben.
Kollege Friedrich, bitte.
Herr Fuchs, ich habe nicht behauptet, dass Sie bei al-len Ihren Wortmeldungen und Zitaten in den letzten Jah-ren und auch bei Ihrer Rede hier eben als bezahlter Lob-byist tätig waren.
Ich habe aber völlig zu Recht behauptet: Durch all IhreEinlassungen und Ihr permanentes Störfeuer gegen er-neuerbare Energien in der Großen Koalition und jetztwieder wird eindeutig belegt, dass Sie politisch nur imInteresse der Atomindustrie und für niemanden sonst ar-beiten.
Mit dem, was Sie hier erzählen, machen Sie dieGlaubwürdigkeit Ihrer eigenen politischen Wende zu-nichte.Ich bin übrigens nicht nur Mitglied bei EUROSO-LAR, sondern ich besitze sogar Aktien des Bürgerunter-nehmens solarcomplex AG – für 2 000 Euro.
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11294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Peter Friedrich
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– Kollegin Homburger auch. – Wir setzen uns also fürdie richtige Sache ein und sorgen dafür, dass die Ener-giewende vor Ort vorankommt und dass sich die Betrei-ber der Anlagen zur Erzeugung von erneuerbaren Ener-gien gegen die Atomkonzerne in der Fläche durchsetzenkönnen. Ich sage Ihnen: Für diese Sache kämpfe ich sehrgerne.Gerade im Andenken an den verstorbenen HermannScheer – es ist noch nicht so lange her; ich weiß, dass Sieauch ihn in diesem Plenum hier immer als Lobbyistenbeschimpft haben –
sage ich Ihnen: Ohne Hermann Scheer und ohne denMut der Parlamentarier von Rot-Grün wären wir bei denErneuerbaren bis heute dort stehen geblieben, wo Sienoch immer hinwollen.
Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich halte es allmählich für nahezu unerträglich,
wie diese Debatte mit persönlichen, diffamierenden Vor-
würfen geführt wird.
Das ist dem Ernst der Situation nicht angemessen.
Die Bundesregierung hat auf das entsetzliche Un-
glück in Japan schnell und angemessen reagiert. Die sie
tragenden Parteien haben das unterstützt, indem sie das
Moratorium in Gang gesetzt haben.
– Das haben alle getan, die der Mehrheit angehören. Wir
haben das Moratorium einstimmig ausgesprochen. Da-
ran gibt es nichts zu diskutieren.
Was bedeutet denn ein Moratorium? Das heißt nichts
anderes, als dass man die Zeit nutzt, um die Maßstäbe zu
überprüfen, nach denen wir bisher gehandelt haben. Es
ist genau richtig, das jetzt zu tun.
Der bekannte englische Ökonom John Maynard
Keynes hat einmal gesagt: „Wenn sich die Fakten än-
dern, ändere ich meine Meinung“. Genau darum geht es
jetzt. Wir müssen überprüfen, ob sich bei den Kernkraft-
werken in Deutschland die Fakten geändert haben.
Wenn das der Fall sein sollte, dann muss entsprechend
gehandelt werden. Das warten wir in Ruhe ab. Nach ei-
nem Vierteljahr werden die Ergebnisse vorgelegt. Dann
können wir darüber reden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Koczy?
Ja, bitte schön.
Danke. – Herr Dr. Solms, Sie haben das Wort Morato-
rium gebraucht. Ich frage Sie, warum dieses Moratorium
sozusagen nur bis zum nationalen Tellerrand reicht. An-
gesichts der Tatsache, dass wir mit deutschem Geld eine
Hermesbürgschaft für ein Atomkraftwerk in Brasilien
mit veralteter Technologie aus den 70er-Jahren gewäh-
ren, von dem bekannt ist, dass es auf labilem Untergrund
steht und dass eine unabhängige Kontrolle nicht gewährt
ist, in dem Wissen, dass Brasilien das Zusatzprotokoll
zum Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat,
frage ich Sie: Warum stehen Sie weiterhin dazu, die Her-
mesbürgschaft für Angra 3 nicht zurückzuziehen in An-
betracht dessen, dass sich die Lage auch national verän-
dert hat? Warum sind Sie nicht bereit, das Moratorium
auch international durchzusetzen und die Grundsatzzu-
sage für die Hermesbürgschaft für Angra 3 zurückzuzie-
hen?
Ich möchte in den vier Minuten meiner Redezeit dieDebatte nicht auf andere Themen lenken. Auch dieseFragen müssen geprüft werden.
Jetzt geht es in Deutschland um die Sicherheitskriterienfür die deutschen Kernkraftwerke. Diese werden über-prüft, und danach wird gehandelt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11295
Dr. Hermann Otto Solms
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Im Übrigen dreht sich der ganze Streit nur um dieFrage, wie wir aus der Kernenergie herauskommen.
Denn alle Parteien fordern übereinstimmend, dass dieKernkraftwerke auf Dauer abgeschaltet werden. Wir alledefinieren die Kernenergie als Brückentechnologie. Ichwill versuchen, die Emotionen ein bisschen zu dämpfen.Der Streit dreht sich doch nur darum, wie schnell undunter welchen Voraussetzungen dies geschehen kannund durch welche Energieformen die Kernenergie er-setzt werden kann. Nur darum geht der Streit. Es gehtnicht um die Frage „Kernenergie – Ja oder Nein?“. DieseEntscheidung ist vor 30 oder 40 Jahren gefallen. Diekönnen Sie heute nicht mehr revidieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage?
Ich würde jetzt gerne im Zusammenhang sprechen.
Ich habe nur noch anderthalb Minuten Redezeit.
Jetzt geht es darum, welche Voraussetzungen erfüllt
sein müssen. Neben der Sicherheit – es ist klar, dass sie
Vorrang hat – geht es um Wirtschaftlichkeit, Versor-
gungssicherheit und Klimaschutz. Darüber sollten wir
uns einig sein. Alle drei Rahmenbedingungen müssen
erfüllt sein.
Wir können nicht die Kernkraftwerke abschalten und
sie durch den Import von Kernenergie ersetzen. Das ist
ausgeschlossen. Darüber sollten wir uns einig sein.
Wir können auf Dauer die Kernenergie nicht durch neue
Kohlekraftwerke ersetzen. Das geht aus Klimaschutz-
gründen nicht. Auch dazu müssen Sie sich bekennen.
Wenn wir also in das Zeitalter regenerativer Energien
eintreten wollen, dann müssen wir die regenerativen
Energien so schnell wie möglich marktfähig machen.
Dazu gehört selbstverständlich auch der Ausbau der
Hochspannungsnetze, Herr Fell, die Sie ein bisschen dif-
famiert haben, indem Sie sagten, das müsse durch die
Verlegung von Erdkabeln erfolgen. Das wird nicht mög-
lich sein.
Jetzt geht es darum, wie wir den Prozess beschleuni-
gen können. Wir stehen nicht im Gegensatz zu Ihnen,
wenn wir die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängern;
vielmehr geht es uns darum, den Weg zur verstärkten
Nutzung regenerativer Energien so verantwortungsvoll,
vorsorgend und schnell wie möglich einzuschlagen.
Der Herr Kollege Brüderle hat mit den Eckpunkten
eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes einen sehr
guten Vorschlag gemacht. Es lohnt sich, gemeinsam da-
rüber zu reden. Diesbezüglich können wir nämlich
Handlungsbereitschaft zeigen. Wir haben doch schon oft
erlebt, dass große Infrastrukturinvestitionen in Deutsch-
land eine Planungs- und Genehmigungszeit von zehn bis
20 Jahren in Anspruch nehmen.
Wenn daran nichts geändert wird, werden wir noch auf
lange Zeit Kernenergie brauchen.
Da brauchen wir eine Handlungsinitiative, und auf diese
sollten wir uns konzentrieren, statt diesen Grundsatz-
streit auf Dauer weiterzuführen.
Im Übrigen, Herr Fell, möchte ich in Erinnerung ru-
fen, dass die erste Initiative zur Einspeiseförderung 1990
von Wirtschaftsminister Helmut Haussmann kam,
und zwar mit dem Stromeinspeisungsgesetz, das zum
1. Januar 1991 in Kraft getreten ist.
Das haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
fortgesetzt – keine Frage. Aber das Gesetz von Helmut
Haussmann war die Initialzündung, und darauf haben
wir das Copyright.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Frank Schwabe.
Herr Dr. Solms, ich gestehe Ihnen durchaus zu, dassAngra 3 ein sehr komplexes Thema ist. Ich würde vonder Bundesregierung gerne einmal wissen, was es dem-nächst sonst noch an Bürgschaften für den Bau vonKernkraftwerken in anderen Ländern der Welt gebensoll.
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Frank Schwabe
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Sie haben gerade deutlich gemacht, dass Sie auch ausder Nutzung der Atomenergie heraus wollen. Ich nehmean, Sie sind ebenso wie die Koalition – zumindest gibtsie das vor – gegen den Neubau von Atomkraftwerken.Ich frage Sie: Ist es vor diesem Hintergrund vernünftigund konsequent, in Deutschland aus der Nutzung derKernenergie heraus zu wollen und den Neubau vonKernkraftwerken auszuschließen, gleichzeitig aber denNeubau von Atomkraftwerken in gefährdeten Gebietenin anderen Ländern durch Exportbürgschaften zu unter-stützen?
Herr Kollege Solms, bitte.
Selbstverständlich müssen diese Maßnahmen nach
den gleichen Sicherheitskriterien, wie sie für Anlagen
hier in Deutschland gelten, überprüft werden. Das alles
steht unter dem gleichen Vorbehalt. Andererseits dürfen
wir uns aber auch nicht als Vormund anderer Länder auf-
spielen. Diese haben natürlich immer ihre nationale Ent-
scheidungshoheit, die wir nicht infrage stellen dürfen.
Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden momentan über die Glaubwürdigkeit der Kanzle-
rin, über die Glaubwürdigkeit der Energiepolitik der Ko-
alition und über Ihre eigene Glaubwürdigkeit, Herr
Brüderle. Sie haben gesagt, das Zitat, das heute in der
Presse steht, sei nicht von Ihnen. Gleichzeitig wollen Sie
uns nicht mitteilen, was Sie gesagt haben. Das, Herr
Brüderle, ist nicht glaubwürdig. Wir wissen alle, dass
Sie ein Freund der Atomwirtschaft sind und die Wirt-
schaft beruhigen wollen.
Alle anderen haben Sie offenbar richtig verstanden.
Die Protokollanten haben es richtig verstanden und die
Wirtschaft auch. Wenn etwa Herr Villis von EnBW sagt,
nach drei Monaten werde ein neues Spiel gespielt, dann
hat er Ihre Aussage absolut richtig verstanden. Stehen
Sie endlich zu dem, was Sie wirklich meinen, und versu-
chen Sie nicht, die Leute mit unglaubwürdigen Ausreden
zu vergackeiern.
Herr Fuchs, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir
würden Angst und Panik verbreiten.
Und was machen Sie? – Das einzige Argument, das Sie
noch haben, ist der Preis.
Sie präsentieren hier falsche Zahlen und behaupten, der
Preis sei gestiegen. Weil ich wusste, dass Sie das sagen
würde, habe ich eine Liste der Spotmarktpreise der ver-
gangenen Monate mitgebracht.
Anfang März, also lange vor der furchtbaren Kata-
strophe in Fukushima, waren die Preise auf dem Spot-
markt höher als jetzt. Hören Sie endlich auf, den Men-
schen Angst zu machen. Sie schüren Panik mit
Preisargumenten, die nicht stimmen.
Warum sind Sie in der Defensive? Noch vor einem
halben Jahr hat Angela Merkel von einer Revolution in
der Energieversorgung gesprochen und behauptet, das
Energiekonzept sei wirklich ein Jahrhundertwerk und
umfasse viel mehr als die Laufzeitenverlängerung. – Wir
erinnern uns! Solche Worte gehen nicht verloren. Sie ha-
ben gesagt, es gehe Ihnen mit Ihrem Energiekonzept
nicht nur um die Laufzeitenverlängerung. In dieser Wo-
che habe ich gefragt, was aus allen anderen 60 Maßnah-
men, die Sie sofort umsetzen wollten, geworden ist. Die
Antwort darauf ist verheerend. Ressortabstimmung? Im
Sommer wird es irgendwelche parlamentarischen Ver-
fahren geben. Sie haben nichts Konkretes gemacht, au-
ßer der Laufzeitenverlängerung. Das ist Ihr Energiekon-
zept.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Skudelny?
Ja.
Frau Höhn, ist Ihnen die Studie des Öko-Instituts imAuftrag des WWF bekannt, wonach die Stromgeste-hungskosten nach dem jetzigen Moratorium um 10 Centpro Kilowattstunde steigen sollen? Diese Studie wurdeim Hinblick auf einen schnelleren Ausstieg aus derKernenergie durchgeführt. Das Öko-Institut ist nicht ver-dächtig, ein Lobbyverein zu sein.
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Ich habe mir diese Studie sehr genau angeschaut. Wir
hatten gerade ein Gespräch mit Felix Matthes darüber.
– Stehen bleiben! Sonst wird die Zeit für die Beantwor-
tung Ihrer Frage nicht auf meine Redezeit angerechnet.
Wie gesagt, wir haben uns die Studie genau ange-
schaut. Felix Matthes geht weiter. Er sagt: Wenn man
sehr schnell aussteigt, noch in diesem Jahr zehn Atom-
kraftwerke vom Netz nimmt und dann in den nächsten
Jahren die anderen, dann würde der Preis um 10 Prozent
steigen. – Ich sage Ihnen: Die großen Energiekonzerne
haben – weil sie das Monopol innehaben – gerade nach
der Laufzeitenverlängerung die Preise nur in einem Jahr
um 7,5 Prozent erhöht – Sie dagegen haben behauptet,
dass die Preise sinken werden –, obwohl die Kosten ge-
sunken sind. Das ist Ihre Politik: Laufzeitenverlänge-
rung und höhere Preise! Das ist das Ergebnis der Politik
von Schwarz-Gelb.
– Genau.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Danke schön. – Nun zur Sicherheit. Sie behaupten,
dass es nur Ihnen um Sicherheit geht. Herr Brüderle hat
gerade gesagt: Sicherheit geht vor. – Angela Merkel hat
gesagt: Sicherheit steht über allem; im Zweifel für Si-
cherheit, darauf können sich die Menschen verlassen. –
Ich will deutlich machen, was Angela Merkel selbst, als
sie von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin war, in
punkto Sicherheit gemacht hat. Wer war damals für die
Sicherheit der Atomkraftwerke zuständig? Das war der
Abteilungsleiter Hennenhöfer. Was hat Herr Hennenhöfer
in der Zeit, als Angela Merkel Umweltministerin war,
gemacht? Ich stelle nur einen Punkt von den vielen Ver-
werfungen, für die er verantwortlich ist, und der Lob-
byarbeit, die er für die Atomkraft geleistet hat, heraus.
Er hat damals gegen den massiven Widerstand der grü-
nen Umweltministerin in Sachsen-Anhalt die Verstür-
zung von Atommüllfässern in Morsleben umgesetzt.
Alle erinnern sich sicherlich noch an die Bilder, wie der
Bagger die Atommüllfässer einfach hinunterkippt. Alles
ohne jegliche Sorgfalt! Das hat Herr Hennenhöfer durch-
gesetzt. Die Lagerung von Atommüll der Kraftwerksbe-
treiber in Morsleben war nicht rechtens. Die Sicherheit
von Herrn Hennenhöfer und dieser Kanzlerin ist nichts
anderes als Unsicherheit. Nun muss der Staat für Mors-
leben über 2 Milliarden Euro aufbringen, um die Unsi-
cherheit von Herrn Hennenhöfer zu revidieren. Das ist
die Sicherheit dieser Kanzlerin!
Den grün sprechenden Röttgen sehe ich überhaupt
nicht. Er taucht in der Debatte nicht auf. Grün sprechen,
schwarz-gelb handeln! Er hat den Atomsicherheitsexper-
ten Renneberg abgesetzt und Herrn Hennenhöfer wieder
eingestellt. Das ist Ihre Politik. Am Ende soll dann die
Reaktor-Sicherheitskommission die Standards festlegen.
– Herr Pfeiffer, wer ist denn in der Reaktor-Sicherheits-
kommission und in den Arbeitsgruppen vertreten? Dort
finden wir die Vertreter von Areva, EnBW, Eon und an-
deren Kraftwerksbetreiber. Die Betreiber sollen über die
Sicherheit ihrer eigenen Kraftwerke bestimmen. So sieht
das Sicherheitskonzept dieser schwarz-gelben Regierung
aus. Das machen wir nicht mit; denn das ist keine Si-
cherheit für die Bevölkerung.
Am Ende will ich noch etwas zu dem Vorwurf sagen,
Grüne seien immer gegen den Netzausbau.
Das ist der letzte Vorwurf, der Ihnen noch geblieben ist.
Schauen wir uns einmal die Daten der Bundesnetzagen-
tur an! Ich verweise auf den Monitoringbericht 2010. Es
gibt 24 Projekte im vordringlichen Bedarf, wir haben
zehn Projekte, bei denen es Probleme gibt, und wir ha-
ben drei Projekte, gegen die es Bürgerproteste gibt. Pro-
teste gegen die Konzepte dieser drei Projekte, gegen die
es Bürgerproteste gibt, kommen nicht nur von den Grü-
nen, sondern auch von allen anderen Parteien. Deshalb
sage ich: Lasst uns doch gemeinsam überlegen, wer
wirklich den Netzausbau verhindert. Das sind nämlich
die Betreiber, die nicht wollen, dass die erneuerbaren
Energien stärker ins Netz einspeisen. Das ist der Punkt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Ende. – Deshalb schlagen wirGrüne einen Fahrplan vor: Wir wollen in der nächstenLegislaturperiode raus aus der Nutzung der Atomkraft.Wir wollen den Ausstieg endgültig machen, wir wollenIhnen von CDU und FDP jede Möglichkeit nehmen, denAusstieg wieder zurückzunehmen. Wir wollen das mitEnergieeffizienz und mit den erneuerbaren Energien er-reichen.Wir haben einen Antrag vorgelegt – der ist hier mehr-fach erwähnt worden –, der die Hermesbürgschaften für
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11298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Bärbel Höhn
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Angra 3 in Brasilien betrifft. Heute können Sie durch IhrStimmverhalten deutlich machen: Es gibt keine Milliar-den mehr aus Deutschland für den Bau eines Atomkraft-werks in einem Erdbebengebiet. – Das stellen wir zurAbstimmung. Ich hoffe, Sie stimmen dem zu.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Franz Obermeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wie die
Debatte jetzt geführt wird, hat im Prinzip mit der Über-
schrift relativ wenig zu tun. Es geht um die zukünftige
Energieversorgung in Deutschland.
Vor dem Hintergrund der Wahl am kommenden Sonntag
in Baden-Württemberg möchte man keine Chance unge-
nutzt lassen, um den amtierenden Ministerpräsidenten in
Misskredit zu bringen.
Deswegen sprach auch der Generalsekretär der SPD von
Baden-Württemberg hier, wenn auch relativ fachunkun-
dig. Aber das spielt keine Rolle.
Es geht um die Frage: Wie erfüllen wir die klassi-
schen Vorgaben des Energiekonzepts der Bundesregie-
rung so, dass sie mit den ökonomischen Belangen unse-
res Landes, also mit unseren ureigensten Interessen, in
Einklang gebracht werden können? Heute früh gab es
schon eine Veranstaltung mit Stephan Kohler von der
dena. Er hat uns dringend nahegelegt, dass wir uns dem
Effizienzkriterium, das auch im Energiekonzept der
Bundesregierung eine ganz zentrale Rolle spielt, ver-
stärkt zuwenden.
Das ist eine Anregung, die wir wirklich ernst nehmen
sollen. Wir sollen natürlich auch die Frage der Poten-
ziale der erneuerbaren Energien intelligent diskutieren.
Es nutzt nämlich nichts, wenn man blindlings die Wind-
energie ausbaut, aber nicht dafür sorgt, dass das Produkt
Strom von dort weggeleitet wird. Die Schau, die Sie hier
abziehen, soll nur überdecken, dass Sie einen falschen
Schritt in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ge-
macht haben. Sie haben nämlich nichts dafür getan, dass
die Netze in Deutschland so ausgebaut werden, dass der
Strom möglichst rasch zu den Verbrauchern gelangt.
Wir stehen – damit wende ich mich dem Energiekon-
zept der Bundesregierung zu – auch vor der technologi-
schen Herausforderung, wie wir die notwendige Ener-
giespeicherkapazität schaffen, um die erneuerbaren
Energien auch dann verfügbar zu haben, wenn wir den
Strom tatsächlich brauchen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer
Grünenkollegin, die ich, weil sie so weit weg sitzt, nicht
erkenne?
Das ist Frau Nestle.
Richtig, wunderbar.
Mit Vergnügen, Frau Nestle.
– Der hat Sie nur in Umrissen gesehen.
Danke, Herr Obermeier. – Sie sprachen gerade davon,
dass wir Grünen noch nie etwas für den Ausbau der
Stromnetze getan hätten. Abgesehen von der Tatsache,
dass wir als einzige Fraktion ein umfassendes Konzept
für den Ausbau der Stromnetze vorgelegt haben, frage
ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass es im Moment zu über
90 Prozent an den Verteilnetzen liegt, wenn erneuerbare
Energien nicht abtransportiert werden können, dass wir
seit vielen Jahren dafür kämpfen, diese Verteilnetze
schnell, bürgerfreundlich und unterirdisch zu bauen, und
zwar zu fast keinen Mehrkosten, und dass insbesondere
die Union seit Jahren dagegen kämpft, diese bürger-
freundliche Lösung umzusetzen, mit der wir schon
längst die Netze hätten, die wir brauchen, und dann fast
nichts mehr abgeregelt würde?
Frau Nestle, vielleicht sollten wir uns im Wirtschafts-ausschuss einmal darüber unterhalten, wo denn dieWiderstände gegen eine unterirdische Verlegung von110-kV-Leitungen tatsächlich liegen. Aus meinem Wahl-kreis ist mir kein einziger Fall bekannt, bei dem die un-
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terirdische Verlegung einer 110-kV-Leitung gescheitertwäre.Aber Tatsache ist, Frau Nestle, dass wir in Deutsch-land bei den Höchstspannungsübertragungsnetzen seitJahren die allergrößten Probleme haben. Ich erinnere Siean den Fall in Schleswig-Holstein, in dem über zehnJahre Prozesse hinsichtlich der Genehmigung und desBaus einer Höchstspannungsübertragungsleitung geführtwurden und nach zehn Jahren der Antragsteller aufgege-ben hat. Das sind unsere Probleme.In all den Jahren, in denen wir die Problematik schonkennen – die dena hat zweifelsfrei festgestellt, dass wir3 600 Kilometer neue Höchstspannungsübertragungslei-tungen brauchen –, sind in Deutschland ganze 19 Kilo-meter verlegt worden. Das sind unsere Probleme.Was die 110-kV-Leitungen betrifft, sollten Sie mireinmal sagen, wo denn Schwierigkeiten bestehen. Kon-kret gefragt: Wo gibt es Anträge, die nicht genehmigtwurden? Dann gehen wir der Geschichte gern nach.Ich war bei der Frage: Wie schaffen wir den Übergangunter Beachtung des Kriteriums der Versorgungssicher-heit? Kolleginnen und Kollegen, da müssen wir schonzusammenstehen. Wenn es um Genehmigungen geht– sei es für 110-kV-Leitungen, sei es für Höchstspan-nungsleitungen –, verlange ich von den Kolleginnen undKollegen dieses Hauses, dass sie die Anträge dann auchvor Ort begleiten mit dem Ziel, dass die Leitungen mög-lichst umweltverträglich geplant und gebaut werden, so-dass wir nicht den Vorwurf bekommen, dass wir im fer-nen Berlin die Gesetze machen, vor Ort aber mit denDemonstranten gegen die Leitungen auf die Straße ge-hen.
Das geht nicht, Kolleginnen und Kollegen. Sie wissenganz genau, warum ich das eindeutig in eine Richtungsage.
Jetzt will ich noch ein Wort zu den scharfen Aus-einandersetzungen über die Kernenergie und über dieLaufzeitverlängerung im Energiekonzept der Bundesre-gierung sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Op-position, bitte tun Sie nicht so, als wären die Verhält-nisse, die in Japan zu der extremen Situation geführthaben, eins zu eins auf Mitteleuropa und auf Deutsch-land übertragbar!
Dem ist nicht so,
es sei denn, Sie würden erklären, dass Sie bei uns mit ei-nem Tsunami und einer Welle von 13 Meter Höhe rech-nen. Nach meinem Sicherheitsbedürfnis und meiner Ein-schätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit gehe ich nichtdavon aus, dass die Kernkraftwerke in Deutschland voneinem Tsunami bedroht sind.
Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage der Kol-
legin Menzner?
Der Frau Kollegin Menzner? Bitte schön.
Herr Kollege Obermeier, Sie betonten eben, dass aus
Ihrer Sicht die Verhältnisse von Japan nicht eins zu eins
auf Deutschland zu übertragen sind. Das mag ja richtig
sein, aber die Japaner sehen sich mit einer Situation kon-
frontiert, mit der sie nicht gerechnet haben. Stellen Sie in
Abrede, dass auch in Deutschland uns heute vielleicht
noch sehr unwahrscheinlich anmutende Ereignisse ein-
treten könnten, die eine ähnliche Situation provozieren
könnten? Ich denke zum Beispiel an einen Flugzeugab-
sturz – verschiedene AKW sind in Einfluggebieten –,
einen länger andauernden Stromausfall – das ist sicher
auch nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich –,
der dann möglicherweise Auslöser für ähnliche Pro-
bleme ist.
Liebe Kollegin Menzner, genau mit diesen Themenmöchte ich mich in den restlichen drei Minuten befas-sen.
– Bitte, Sie dürfen sich setzen.Eine Eins-zu-eins-Übertragung der Verhältnisse vonJapan auf Deutschland ist mit Sicherheit nicht zulässig.Dennoch sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht,das kerntechnische Regelwerk unter dem Eindruck des-sen, was in Japan passiert ist, zu überdenken, zu ergän-zen und die Dinge einzuarbeiten, die wir aus der Erfah-rung von Japan heraus noch nicht eingearbeitet haben.Dabei rede ich ganz konkret von folgenden Fragen:Wie sind unsere Kernkraftwerke gegen Erdbeben gesi-chert? Wie sieht es mit der Notstromversorgung aus?Noch konkreter: Wie ist die Notwasserversorgung indem speziellen Fall in unseren Kernkraftwerken berech-net?Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen heute nichtsagen, welches Ergebnis diese Untersuchung zeitigenwird. Man wird sich auch über die Frage unterhaltenmüssen, mit welchen Erdbebenwerten auf der Richter-skala wir in Kontinentaleuropa und mit welchem ent-sprechenden Sicherheitszuschlag wir zu rechnen haben.
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Franz Obermeier
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Diese Fragen werden wir in den nächsten drei Mona-ten ganz explizit und in aller Ruhe und Sachlichkeit erör-tern. Dann wird es ein Ergebnis geben, und dann wirdentschieden, welche kerntechnischen Anlagen den Si-cherheitsanforderungen entsprechen und welche nicht.Deswegen ist das Philosophieren über die Frage, was eindreimonatiges Moratorium bedeutet, für meine Begriffevöllig fehl am Platz.Es ist klug, in diesem Zusammenhang nicht panikhaftund hysterisch zu agieren, sondern die Dinge sachlichund richtig zu analysieren und dann vernünftig zu ent-scheiden.
Frau Höhn, mit den Worten „panikhaft“ und „hyste-risch“ habe ich auch Sie gemeint. Das ist mir eingefal-len, als Sie gesprochen haben. Ich will Ihnen sagen:Wenn man in drei Monaten nicht fertig wird, lässt sichdas Moratorium ohne Weiteres verlängern. Es könnte jasein, dass wir aus irgendwelchen Gründen in drei Mona-ten die notwendigen Erkenntnisse aus Japan nicht prä-sent haben.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir im Detailrelativ wenig wissen über die Ursachen dafür, was ge-rade in Japan passiert ist. Es müsste uns aber schon inte-ressieren, was konkret die Ursache war. Vor allemmüsste uns der sicherheitstechnische Unterschied zwi-schen den jetzt kaputten Anlagen in Japan und unserenAnlagen interessieren. Das möchte ich auch in Form ei-ner Synopse dargestellt haben. Das Moratorium lässtsich also verlängern.Frau Höhn, wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass das,was jetzt schon läuft und auf uns zukommt, eine Preis-steigerung für den Stromverbraucher zur Folge hat?Wollen Sie das bestreiten? Nein. Das dürfen Sie nichtbestreiten.Eines ist doch klar: Wenn das Angebot verknapptwird, dann steigt der Preis für die Nachfrager. Das isteine Regel, die auch Sie kennen sollten.
Wir legen den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Kern-kraftwerke, weil wir die Ängste unserer Bürgerschafternst nehmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Kelber für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Plauderrunden deutscher Wirtschaftsver-bände werden immer mehr zum deutschen WikiLeaksder Energiepolitik. Im Spätherbst plauderte dort einRWE-Vorstand aus, dass es einen Geheimvertrag zwi-schen der Bundesregierung und den Atomkonzernengibt, der erst mit deutlicher Verspätung der Öffentlich-keit präsentiert wurde.
Jetzt lernen wir, was es, wie der Bundeswirtschafts-minister am 14. März dort ehrlich sagte, mit dem soge-nannten Moratorium auf sich hat. Natürlich ist das Pro-tokoll nicht fehlerhaft. Ich glaube, die Mehrheit derBevölkerung ist der festen Überzeugung, dass diesesProtokoll der Wahrheit entspricht.So schön es ist, dass die Wahrheit immer ans Lichtkommt, Herr Pfeiffer, so groß ist das Misstrauen, dasdurch solche Meldungen, durch solches Verhalten in derBevölkerung gegenüber der Politik entsteht. Der Deut-sche Bundestag könnte aber heute wieder Vertrauen zu-rückgewinnen und der klaren Mehrheitsposition derdeutschen Bevölkerung, die ja zu drei Vierteln will, dassdie Atomkraftwerke zügig abgeschaltet werden, zumDurchbruch verhelfen. Um das zu ermöglichen, legenwir heute den Entwurf eines Abschaltgesetzes zur Ab-stimmung vor. Um das zu ermöglichen, legen wir einProgramm für eine Energiewende vor. Darüber könnenSie heute abstimmen, ganz konkret und ohne jeglicheAusflüchte.
In dem Abschaltgesetz geht es um die Rücknahme derLaufzeitverlängerung und die sofortige und dauerhafteAbschaltung der ältesten sieben Atommeiler und desPannenreaktors in Krümmel. Zur Ehrlichkeit gehörtauch dazu, zu sagen, was bei der Anhörung zur Laufzeit-verlängerung zur Sprache kam. Ich schaue gerade HerrnKauch, den Sprecher der FDP, der ja nach mir redet, undFrau Dött von der CDU/CSU an, die ja beide dabei wa-ren. Bei dieser Anhörung war klar, dass Sie ohne jegli-che Sicherheitsüberprüfung die Laufzeitverlängerungvon acht Jahren für die ältesten Atomkraftwerke durch-setzen werden. In dieser Anhörung, die Sie ja zeitlich be-grenzt haben, indem Sie die Debatte mit geschäftsord-nungswidrigen Tricks beendet haben, war auch klar, dassdie Notstromversorgung in Forsmark und in Krümmelnicht durch einen Tsunami, sondern durch andere Vor-kommnisse außer Kraft gesetzt wurde. Dort war klar,dass laut einem von der Gesellschaft für Anlagen- undReaktorsicherheit vorgelegten Gutachten verschiedenedeutsche Atomkraftwerke nicht mehr auf die modernstenSicherheitsstandards hochzurüsten sind. In der Sachver-ständigenanhörung war auch klar, dass bei vielen Kraft-werken eine Redundanz der Notstromversorgung nichtgegeben ist, kein Schutz vor terroristischen Angriffenbesteht, Notfallwarten fehlen und bei allen älteren Reak-toren die Abklingbecken, die jetzt in Japan ein großes
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11301
Ulrich Kelber
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Problem darstellen, außerhalb des Sicherheitsbereichsdieser Kraftwerke liegen.Zwischen Bundesminister Röttgen, der am Anfangnicht da war, dann eine kurze Stippvisite unternommenhat, wieder gegangen ist und jetzt wieder hereingekom-men ist, um seine Sachen zu packen,
und der Sicherheit in Atommeilern verhält es sich ja wiebei Und täglich grüßt das Murmeltier. Jetzt hat er an diePresse ein Papier gegeben, in dem den Betreibern vonAtomkraftwerken stahlharte Auflagen gemacht werden.Im Spätherbst gab es schon einmal ein Papier, das dieKosten für Nachrüstungen der bestehenden Atomkraft-werke auf 50 Milliarden Euro beziffert hat.Was ist herausgekommen? 500 Millionen Euro zahltdie Industrie pro Reaktor, für den Rest sollen die Steuer-zahlerinnen und Steuerzahler im Notfall aufkommen.Herausgekommen ist auch, dass es keine Liste mitden erforderlichen Nachrüstungen gibt und dass teil-weise bis zu zehn Jahre, also über die Restlaufzeit hi-naus, notwendige Nachrüstungen aufgeschoben werdenkönnen.Herausgekommen ist auch eine Verwässerung derVorschriften im Atomgesetz, die Wegnahme des Klage-rechts für Anwohner und der Stopp des aktualisiertenüber Tausend Seiten umfassenden Sicherheitskonzepts,des sogenannten kerntechnischen Regelwerks, indem esvom Minister und dem Atomlobbyisten, der vom Minis-ter als oberster Atomaufseher eingestellt wurde, außerKraft gesetzt wurde.Einen solchen Unterschied zwischen Reden und Han-deln nennt man, mit Verlaub, Frau Präsidentin, politischeHochstapelei.
In einem zweiten Antrag haben wir in 40 Punktenaufgelistet, was jetzt getan werden muss, um die Ener-giewende wieder einzuleiten. Es geht um Netzausbau,um Energiesparen, um die Ermöglichung von Investitio-nen durch Stadtwerke bis hin zur Gebäudedämmung.Wir erinnern uns: Sie haben in den letzten 16 Mona-ten nicht nur die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlän-gert, Sie haben auch die Markteinführung von Minikraft-werken gestoppt, Fernwärme höher besteuert, dasMarktanreizprogramm für Erneuerbare zusammengestri-chen, die Mittel für das Gebäudedämmungsprogramm,das Sie, Herr Obermeier, gerade als eine wichtige Maß-nahme bezeichnet haben, auf die Sie sich konzentrierenwollen, um 60 Prozent gekürzt und waren auch völliguntätig beim Netzausbau. So sieht die Realität der letz-ten 16 Monate aus.
Deutschland braucht keine Regierung, die Geheim-verträge in Kungelrunden abschließt, Moratorien ausruftund Kommissionen einberuft, nur um über Landtags-wahlen hinwegzukommen. Deutschland braucht keineRegierung, die erneuerbare Energien und Energieeffi-zienz blockiert. Deutschland braucht ein selbstbewusstesParlament, das seine Aufgabe wahrnimmt. Das heißt:Zustimmung zum Abschaltgesetz und Rückkehr zurEnergiewende.Vielen Dank.
Der Kollege Kauch hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich willmich gar nicht mit den Halbwahrheiten und Unwahrhei-ten beschäftigen, die Herr Kelber hier verbreitet hat, weilich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger es inzwi-schen leid sind, dass die Abgeordneten sich in den De-batten der letzten zwei Wochen hier nur wechselseitigvorwerfen, was sie denn versäumt, gemacht oder ver-meintlich nicht gemacht haben. Wir sollten uns jetzt da-rum kümmern, wie wir mit der Situation umgehen, vorder wir stehen.Klar ist für diese Koalition: Wir wollen den Weg indas Zeitalter der Erneuerbaren gehen. Die Kernkraft warund ist nur Brückentechnologie.Diese Debatte können wir aber nicht führen, ohne ei-nen Blick auf den Klimaschutz und die Versorgungssi-cherheit zu richten. Es kann nicht sein, dass wir dieseDebatte führen, ohne auch nur einen Moment darübernachzudenken, welche Auswirkungen die Anträge, diedie Opposition hier vorlegt, für den Klimaschutz haben.Im letzten Jahr haben Sie gesagt, Klimaschutz habe Prio-rität. Jetzt ist Klimaschutz für Sie völlig egal. Das istnicht redlich, meine Damen und Herren.
Das Hochfahren der Kohle- und Gaskraftwerke ver-schärft die Problematik, unsere Klimaschutzziele zu er-reichen.Dennoch gilt: Fukushima hat die Lage geändert. Si-cherheit muss neu gedacht werden. Gleiche Risikenmüssen anders bewertet werden als zuvor.Deswegen ist es die gemeinsame Aufgabe aller, dienicht den Bürgerinnen und Bürger vorspielen, mankönne morgen die Kraftwerke abschalten, die Sicher-heitsreserven unserer Kraftwerke zu erhöhen, schärfereSicherheitsanforderungen nach dem Moratorium zu ver-
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Michael Kauch
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abschieden und deutlich zu machen, dass die Kraft-werke, die nicht nachgerüstet werden können oder beidenen das wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, abgeschaltetwerden. Dies prüfen wir während des Moratoriums. Dasist glaubwürdige Politik, meine Damen und Herren.
Wenn wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Reak-toren – ob es nun diese sind oder andere, die momentanweiterlaufen – nicht den Sicherheitsanforderungen, diewir neu definieren werden, entspricht, dann müssen wiruns heute darauf vorbereiten, wie wir schneller in dasZeitalter der erneuerbaren Energien kommen und wiewir gegebenenfalls ein befristetes Hochfahren von fossi-len Kraftwerken an anderer Stelle ausgleichen können.
Ganz klar ist, dass wir bei den erneuerbaren Energiennicht allein ein Mengenproblem haben. Selbst wenn wirso große Anreize setzten, dass die Kapazitäten von er-neuerbaren Energien hochgefahren würden, kämen siemomentan bei diesem Netz nicht zum Verbraucher undwären in diesem Netz nicht stabil anbindbar.Deshalb müssen wir den Engpass für die erneuerba-ren Energien beseitigen, indem wir Netze ausbauen undSpeicher fördern. Das ist das Gebot der Stunde.
Meine Damen und Herren, beim Netzausbau geht esauch um die Planungszeiten. Es kann doch nicht sein,dass es bei Stromtrassen teilweise Genehmigungszeitenvon acht Jahren gibt. Ich will gar nicht darüber diskutie-ren, wie viel davon auf Protest zurückgeht, wie viel aufzu wenige Beamte in den Ländern und wie viel auf denrechtlichen Rahmen, den der Bund ändern kann. Einesist aber klar: Genehmigungszeiten von acht Jahren gehennicht. An dieser Stelle müssen Bund und Länder zusam-menarbeiten. Genau diese Frage werden wir im nächstenMonat mit den Ministerpräsidenten der Bundesländerbesprechen müssen.
Achten Sie bitte auf die Zeit, Kollege Kauch.
Meine Damen und Herren, Folgendes ist ebenfalls
klar – ich sage das auch sehr deutlich in Richtung der
Bundesregierung; auch der Bundesfinanzminister muss
erkennen, dass wir eine veränderte Lage haben –: Wenn
wir mehr Gas im Stromsektor brauchen, müssen wir bei
der Gebäudesanierung vorankommen, damit weniger
Gas für Heizzwecke verbraucht wird.
Das bedeutet, dass wir das Gebäudesanierungspro-
gramm in einem größeren Umfang finanzieren müssen,
als es bisher vorgesehen ist. Auch für den Bundeshaus-
halt ist das Moratorium nicht ohne Auswirkungen,
meine Damen und Herren.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Heil das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Herr Brüderle und Herr Kauch, die Glaubwürdig-keit ist nur theoretisch sehr einfach wiederherzustellen,wenn man sie einmal verloren hat. Es geht um das alteMotto: Man muss sagen, was man tut, und tun, was mansagt. Wenn man Glaubwürdigkeit verspielt hat – das ha-ben Sie –, ist das zu beachten, was Ihnen die frühere Bi-schöfin Margot Käßmann geraten hat. Sie hat in Bezugauf Ihren Zickzackkurs in der Atompolitik gesagt, eswürde ihr persönlich – ich glaube, auch vielen Bürgerin-nen und Bürgern in diesem Land – Respekt abnötigenund zu mehr Glaubwürdigkeit führen, wenn Sie wenigs-tens einmal den Mut hätten, zu sagen, dass Sie im Herbstletzten Jahres falsche Entscheidungen getroffen haben,die jetzt zu korrigieren sind. Diesen Mut haben Sie nicht.Sie eiern herum.
– Können Sie das bitte wiederholen?
– „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“,hat einmal ein deutscher Politiker gesagt.Herr Brüderle, meine Damen und Herren von der Ko-alition, ich sage in aller Deutlichkeit, dass das, was dieSüddeutsche Zeitung heute berichtet hat, der Wahrheitentspricht: Sie, Herr Brüderle, haben an dem Tag, andem Frau Merkel das Moratorium verkündet hat, dasGanze in internen Runden gegenüber der deutschenWirtschaft als irrationales Wahlkampfmanöver bezeich-net. Sie können hier nicht so tun, als sei das ein Proto-kollfehler; das glaubt Ihnen kein Mensch.Die Debatte heute hat gezeigt – im Unterschied zuden Demutsschauspielereien der letzten Woche, die Siean den Tag gelegt haben –, dass Sie schon jetzt versu-chen – die Rede von Herrn Obermeier war ein Beleg da-für –, die Ereignisse in Japan zu relativieren. Sie beach-ten nicht, dass es nicht nur die Vorfälle in Japan gab,sondern auch die Vorfälle in Tschernobyl, 1979 aufThree Mile Island bei Harrisburg, später in Forsmark2007. Die Vorfälle ereigneten sich also auch in hochin-dustrialisierten Hightechländern wie Schweden.
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Hubertus Heil
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Meine Damen und Herren, Tatsache ist: Sie schaffenes nicht, den Menschen in Deutschland ein X für ein Uvorzumachen. Sie können noch so sehr versuchen, sichherauszureden: Sie waren es, die die Restlaufzeiten auchalter, unsicherer Schrottreaktoren um acht Jahre verlän-gern wollten. Sie sollten einmal die Traute haben, hierim Deutschen Bundestag zu bekennen: Ja, wir haben unsgeirrt. Dann kann man hier weiterreden.
Ich will eines zur Legendenbildung bei der CDU/CSU sagen. Sie haben im Herbst letzten Jahres das außerKraft gesetzt, was die Bundesminister Jürgen Trittin undSigmar Gabriel auf den Weg gebracht haben: die Überar-beitung des kerntechnischen Regelwerks. Unser Ziel wares, nicht nur den geordneten Ausstieg zu organisieren,sondern auch die Sicherheitsanforderungen für die nochim Netz befindlichen Reaktoren auf den Stand von Wis-senschaft und Technik der Jetztzeit zu bringen und sienicht auf dem Stand der 60er- und frühen 70er-Jahre zubelassen.
Es waren Bundesminister Röttgen und sein Abteilungs-leiter, die dafür gesorgt haben, dass dieser Weg ausge-setzt wurde. Sie könnten das kerntechnische Regelwerksofort wieder in Kraft setzen, wenn Sie denn wollten.
Herr Brüderle, ich will mich mit den wirtschaftlichenAuswirkungen Ihrer komplett gescheiterten Energiepoli-tik beschäftigen. Für uns alle müsste eigentlich das Zielsein, eine sichere, saubere, tragfähige und bezahlbareEnergieversorgung für unser Land, für den Industrie-standort Deutschland, zu sichern. Das, was Sie imHerbst mit der Laufzeitverlängerung, der Verlängerungder Restlaufzeiten alter, abgeschriebener Atommeiler,gemacht haben, hat nicht erst nach der Katastrophe in Ja-pan zu Folgendem geführt: zu Investitionsstillstand undAttentismus. Es ist Tatsache, dass Sie den Großkonfliktwieder aufgerissen haben, der die Republik 30 oder40 Jahre lang gespalten hat und den Rot-Grün befriedethat. Das hat dazu geführt, dass keiner mehr so richtigwusste, wo es langgeht.Die EVU, denen zuliebe Sie das gemacht haben,wussten zwar, dass ihr Oligopol verfestigt wird, habenaber kurzfristig den Fehler gemacht, die Dollarzeichenin den Augen wichtiger zu nehmen als die langfristigeEntwicklung. Aber auch diese Unternehmen mussten da-mit rechnen, dass es Klagen vonseiten des Bundesratesund der Fraktionen dieses Hauses geben würde, mit demErgebnis, dass keiner genau weiß, was läuft. Keinerweiß, wie 2013 die Bundestagswahlen ausgehen.
Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
gen Otto?
Wenn ich meinen Gedanken noch beenden darf, sehr
wohl, Herr Otto.
Das wird Ihnen nicht gelingen. Herr Otto wird gleich
Ihre Redezeit verlängern, die demnächst abläuft.
Dann dringend Herr Otto, bitte schön.
Ich verlängere gern Ihre Redezeit, Herr Kollege Heil.Helfen Sie mir bei Ihrer Argumentation, die lautet,die Ereignisse in Japan hätten erwiesen, dass das Ener-giekonzept dieser Bundesregierung falsch sei und dasswir allein Fehler gemacht hätten. Das ist das Mantra Ih-rer Rede.Erklären Sie mir bitte Folgendes: Wenn wir die Lauf-zeitverlängerung nicht beschlossen hätten, wären danndie sieben Meiler, die wir jetzt abgeschaltet haben, imRahmen des Konzepts, das Sie vorher verabschiedet hat-ten, vom Netz, ja oder nein?Erklären Sie mir bitte vor diesem Hintergrund: Washat die Katastrophe in Japan, die wir sehr ernst nehmen,mit der Laufzeitverlängerung, die wir im Herbst be-schlossen haben, zu tun? Entweder erkennen wir, dassalle Kernkraftwerke unsicher sind. Dann müssen sie un-abhängig vom Zeitpunkt, zu dem sie errichtet wordensind, vom Netz genommen werden. Wenn aber die Mei-ler sicher sind und die Sicherheitsüberprüfung tatsäch-lich keine neuen Erkenntnisse liefert, frage ich Sie: Woist der Zusammenhang zwischen Japan und der Verlän-gerung der Laufzeiten?
– Das ist eine konkrete Frage, die auch beantwortet wird.Damit kein Missverständnis aufkommt, Herr KollegeHeil, sage ich: Japan gibt uns Anlass zum Nachdenken.
Aber das hat doch nichts mit der Laufzeitverlängerungzu tun, verdammt noch einmal.
Wenn unsere Kernkraftwerke aufgrund neuer Er-kenntnisse unsicher sind, sind sie abzuschalten. Das hatnichts mit der Frage des Energiekonzeptes zu tun.
Diese Logik erschließt sich mir nicht. Vielleicht könnenSie mir dabei etwas nachhelfen.
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11304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Geschätzter Kollege Otto, ich bedanke mich ganzherzlich für diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegen-heit gibt, Aufklärung in Ihren Reihen zu leisten und miteinigen Mythen aufzuräumen, die bewusst verbreitetwerden.Erstens. Die Laufzeitverlängerung ist natürlich eineRisikoverlängerung erster Güte; das ist gar keine Frage.Sie haben die Laufzeiten der alten Reaktoren, die Sie inIhrem Moratorium nun für drei Monate vom Netz neh-men wollen, um sage und schreibe acht Jahre pro Reak-tor verlängert. Sie haben also Druckwasserreaktoren deralten Baulinien aus den 70er-Jahren verlängert.Gleichzeitig hat Ihr Bundesumweltminister, der ei-gentlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist,
auf Druck der Atomlobbyisten im Zusammenhang mitder Laufzeitverlängerung das kerntechnische Regel-werk, das die Standards für die Sicherheit von Atom-kraftwerken und für ihren Betrieb festlegt, abgelehnt unddamit die Regelung der Betriebsgenehmigung vomTisch gewischt.Sie haben nichts für die Sicherheit getan, sondern daswaren Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel. Sie haben siemit diesem Atomkonsens vom Tisch gewischt. Deshalbmüssen Sie sich Folgendes zurechnen lassen: Wir hättendie sieben Altmeiler und das Kraftwerk Krümmel vomNetz genommen. Heute sehen Sie, dass das richtig undnotwendig ist.Herr Staatssekretär, Sie müssen die Frage beantwor-ten, ob Sie das eigentlich dauerhaft oder nur für drei Mo-nate machen wollen. Das könnten Sie der deutschen Öf-fentlichkeit sagen.
Herr Otto, Sie müssen zweitens zur Kenntnis nehmen:Wir haben mit dem Energiekonsens den geordneten Aus-stieg aus der Atomkraft organisiert, und wir haben dieRegeln für den Betrieb von Kernkraftwerken verschärft.Sie haben die Regeln vom Tisch genommen, dieschon für Probebetrieb, Aufsicht und Genehmigung gal-ten. Sie haben gleichzeitig – Sie müssen begründen, wa-rum Sie das getan haben – die Restlaufzeiten für alte, ab-geschriebene Atommeiler verlängert.Sie können sich dabei noch so sehr herausreden, aberdie deutsche Öffentlichkeit wird Ihnen diesen Eiertanznicht abnehmen. Deshalb biete ich Ihnen Folgendes an– wir kennen uns aus anderer Zusammenarbeit, HerrOtto, und schätzen uns durchaus –: Für dieses Land istein Energiekonsens notwendig, der über mehrere Legis-laturperioden und Regierungswechsel halten sollte. Dasbieten wir Ihnen mit den heutigen Anträgen unter zweiPrämissen an.Erstens. Wir müssen zum geordneten Ausstieg ausder Atomkraft auf klarer Rechtsgrundlage und nicht mitwindiger §-19-Begründung
zurückfinden. Deshalb: zurück zum rot-grünen Atom-konsens!Mit Blick auf den Atomkonsens müssen wir sagen,wo wir hinwollen, nicht nur, wo wir herausmüssen. Da-bei geht es um Energieeffizienz, Energiesparen, moderneEnergieproduktion und erneuerbare Energien.Herr Otto, die Vertreter Ihrer Fraktion und Sie alsStaatssekretär versuchen immer, die Grünen und andereso ein bisschen in die Ecke zu stellen – Herr Brüderle hatdas auch mit der SPD versucht, ohne dass er dafür einenNachweis erbringen konnte –, indem Sie sagen, sie seiengegen Pumpspeicherkraftwerke und Netzausbau. HerrBrüderle, ich empfehle Ihnen: Reden Sie einmal mit demLandtagskandidaten der FDP aus dem Hotzenwald inBaden-Württemberg, der auch gegen dieses Pumpspei-cherkraftwerk ist. Reden Sie mit CDU- und FDP-Kom-munalpolitikern, die gegen den Netzausbau sind. So bil-lig will ich es mir gar nicht machen. Aber ich versteheeines nicht: Warum können Sie nicht begreifen, dass dieAkzeptanz des Projektes, das wir gemeinsam wollen – esgeht um den Ausbau von Hochspannungsleitungen undVerteilernetzen –, steigen würde, wenn die Menschen dieSicherheit hätten, dass das zum geordneten Ausstieg ausder Atomkraft führt? Dann hätten auch die Befürworterdes Ausbaus bessere Argumente. Dass Sie diesen Zu-sammenhang nicht erkennen, halte ich für kurzsichtig.
Herr Otto, ich gebe Ihnen noch ein Argument mit aufden Weg – Sie sind wie ich Wirtschaftspolitiker; in ein-zelnen Bereichen sind wir unterschiedlicher Auffassung –:Wie Sie diese Planungsunsicherheit hinsichtlich der not-wendigen Investitionen in moderne Kraftwerkstechnikund erneuerbare Energien herbeiführen konnten, daswerden Sie sich anrechnen lassen müssen. Ich sage esnoch einmal: Kehren Sie zurück auf den Weg der Ver-nunft! Nichts Halbgares und keine Volten schlagen vorLandtagswahlen! Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeitund einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft. Wirbrauchen ein neues Energiekonzept, das Investitionen inmoderne Kraftwerkstechnik und erneuerbare Energienvorsieht. Das wäre Wirtschaftspolitik aus einem Guss.Das wäre etwas anderes als der Dilettantismus und dieKlientelpolitik, die Sie hier an den Tag gelegt haben,Herr Otto. Sie können sich wieder setzen.
– Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11305
Hubertus Heil
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An dieser Stelle geht es um die Sache, lieber Herr Kol-lege. Das, was passiert ist, ist viel zu ernst, als dass Siedas hier einfach so abtun könnten. 68 Prozent der Men-schen in Deutschland würden keinen Pfifferling daraufsetzen, dass Sie es mit diesem ominösen Moratoriumernst meinen.Wegen der Rechtsgrundlage sollten Sie einmal in dasGrundgesetz für die Bundesrepublik Deutschlandschauen. Den Artikel „Par ordre du mutti“,
per Anweisung der Bundeskanzlerin, finden Sie dortnicht. Die Energieversorgungsunternehmen bereiten dieKlagen schon vor, die sie nach der Landtagswahl gegendas einbringen werden, was Sie jetzt rechtswidrig ma-chen. Deshalb sage ich: Schaffen Sie eine klare Rechts-grundlage für den geordneten Ausstieg. Wir legen heuteden Entwurf eines Ausstiegsgesetzes vor. Helfen Sie mit,damit wir in Deutschland die modernste Energieversor-gung bekommen, mit erneuerbaren Energien, mit effi-zienten Kraftwerken und mit Energiesparen.
Herr Kollege Heil.
Sauber, sicher und bezahlbar – dafür stehen wir.
Chaos ist Ihre Sache.
Herzlichen Dank.
Die Kollegin Marie-Luise Dött hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im
Lichte der schlimmen Ereignisse in Japan führen wir
eine sehr intensive Diskussion über die Zukunft der
Energieversorgung in Deutschland; das ist richtig. Die
Ereignisse in Japan lassen ein Weiter-so nicht zu.
Aber was passiert jetzt in Deutschland? Wir erleben
eine hemmungslose Instrumentalisierung der Ereignisse
in Japan durch die Opposition für die Durchsetzung ihrer
ideologiegetriebenen Energiepolitik.
Wir erleben eine bewusste Verunsicherung der Bürger
unseres Landes, um alte Feindbilder und überholte Poli-
tikkonzepte von Rot-Grün zu neuem Leben zu erwe-
cken.
Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist
nicht akzeptabel.
Es besteht keine Gefahr für die Bürger in unserem Land.
Unsere Kernkraftwerke sind sicher.
Ihre Methode – gute Kernkraftwerke unter Rot-Grün,
schlechte unter Schwarz-Gelb; gute Castortransporte un-
ter Rot-Grün, schlechte unter Schwarz-Gelb – ist billig
und erzeugt bei den Bürgern nur Kopfschütteln.
Kommen Sie den Bürgern jetzt doch nicht mit dem
Spruch, dass Sie alles schon immer gewusst haben. Sie
haben in Ihrer Regierungszeit kein Kraftwerk wegen Si-
cherheitsbedenken abgeschaltet.
Wären die Kraftwerke nicht sicher gewesen, wären Sie
verpflichtet gewesen, die Anlagen abzuschalten.
Sie haben es nicht getan. Sie haben das Gegenteil ge-
macht: Sie haben Ihren Ausstiegsbeschluss damals da-
durch erkauft, dass Sie auf zusätzliche Investitionen in
die Sicherheit der Kraftwerke schriftlich verzichtet ha-
ben.
Sie haben geredet, aber nicht gehandelt. So sieht rot-
grüne Sicherheitskultur aus.
Frau Dött, möchten Sie Herrn Kelber die Gelegenheit
zu einer Zwischenfrage geben?
Nein, vielen Dank. – Sosehr uns alle die Bilder ausJapan bewegen: Kehren Sie zu einer sachlichen Diskus-sion zurück! Das, was in Japan passiert ist, kann undwird für uns nicht folgenlos bleiben.
Wir müssen – hören Sie zu! – neu bewerten und mit er-gänzenden Maßnahmen prüfen. Genau das tun wir jetzt.Wir werden die Sicherheitsannahmen zu Erdbebengefah-ren, zu den Auswirkungen von Hochwasserereignissen,
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11306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Marie-Luise Dött
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zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels, zu ter-roristischen Angriffen, zu Cyberattacken und zu mögli-chen Gefahren von Flugzeugabstürzen genau prüfen.Wir werden insbesondere auch die Wirkungen einesmöglichen Zusammentreffens verschiedener Scha-densereignisse prüfen. Und wir werden die technischeSituation in den Kraftwerken genau analysieren – zumBeispiel wie die Strom- und Notstromversorgung sowiedie externe Infrastruktur ausgelegt sind – und prüfen,wie robust sie bei Schadensereignissen sind. Gründlich-keit in der Analyse und Konsequenz im Handeln – dasist jetzt gefordert. Auf beides können sich die Bürgerverlassen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste Pri-orität.Genau weil das so ist, haben wir sofort gehandelt. Wirhaben aus Vorsorgegründen die älteren Kraftwerke vomNetz genommen.
Sie werden nicht wieder ans Netz gehen, bis wir genauwissen, ob sie neuen, noch strengeren Sicherheitskrite-rien gerecht werden.
Wenn Kraftwerke diese neuen, noch strengeren Kriteriennicht erfüllen, müssen sie nachgerüstet werden, oder siegehen nicht wieder ans Netz.
Das gilt natürlich auch für die Kraftwerke, die nach 1980ans Netz gegangen sind. Auch diese Kraftwerke werdennach den gleichen Kriterien geprüft.
So sieht verantwortlicher Umgang mit Kernenergie aus.
Die in Deutschland in den nächsten drei Monatenstattfindenden Sicherheitsüberprüfungen aller deutschenKraftwerke sind ein wichtiger Schritt. Aber die Sicher-heit der Kernkraft ist gerade auch eine europäische Auf-gabe. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen inBrüssel reichen nicht aus. Die Teilnahme aller Staatenund die Prüfung nach einheitlichen, strengen Kriteriensind erforderlich. Die Bundeskanzlerin wird diesesThema mit Nachdruck in Brüssel verfolgen. Sie hat auchdabei unsere volle Unterstützung.Die ergebnisoffene Sicherheitsüberprüfung aller deut-schen Kernkraftwerke kann dazu führen, dass wir unserEnergiekonzept nachjustieren müssen.
An dem zentralen Ansatz unseres Konzepts, den Über-gang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien mög-lichst schnell zu vollziehen, wird nicht gerüttelt. ImGegenteil: Wir werden diesen Übergang weiter be-schleunigen.
Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netzeund Speicherkapazitäten beschleunigen. Wir werden ge-rade auch bei der Erhöhung der Energieeffizienz fürschnelle Fortschritte sorgen. Dafür werden wir in dennächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen undsehr konkrete Vorhaben auf den Weg bringen. Ein Bei-spiel dafür ist das bereits vorgelegte Eckpunktepapier fürein Netzausbaubeschleunigungsgesetz.Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen– „Atomzeitalter beenden – Energiewende jetzt“ –, gehtmit manchen Vorschlägen durchaus in die richtige Rich-tung. Aber Sie laufen nicht nur mit dem Titel des An-trags den Ereignissen hinterher;
die Energiewende läuft bereits, und wir werden sie inden nächsten Monaten noch beschleunigen.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie laufen mitIhrem schnell zusammengezimmerten Gesetzentwurfzur Stilllegung von Atomkraftwerken den Grünen ge-nauso hilflos hinterher wie den Linken beim Mindest-lohn.Meine Damen und Herren von der Opposition, wennSie es mit der Energiewende ernst meinen, dann wird esendlich Zeit, dass Sie sich daran beteiligen. Hören Sieauf, in Berlin lauthals die Energiewende zu fordern undsich dann vor Ort bei jedem Streit in die Büsche zuschlagen
und jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau nachdem Mund zu reden. Es wird Zeit, dass Sie für die not-wendigen Stromtrassen werben, statt vor Ort Bürgerini-tiativen dagegen zu initiieren.
Stellen Sie sich nicht scheinheilig hinter Forderungennach Erdverkabelung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11307
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Reden Sie mit den Menschen über die Kosten und redenSie mit ihnen über die Auswirkungen hinsichtlich Bo-denversiegelung und Landschaftsbild. Wo sind denn daIhr ökologisches Gewissen, Frau Höhn, und Ihr umwelt-politischer Sachverstand?
Sagen Sie den Bürgern endlich ehrlich, dass Sonne undWind den Strom nicht umsonst liefern, dass erneuerbareEnergien zwar richtig, aber noch teuer sind.
Reden Sie nicht vormittags über die Notwendigkeit derSpeicherung der erneuerbaren Energien, wenn Sie amNachmittag zur Demonstration gegen neue Pumpspei-cherkraftwerke gehen.
Frau Dött.
Führen Sie mit uns und den Bürgern endlich eine ehr-
liche Diskussion darüber, wie der Wirtschaftsstandort
Deutschland mit einem verlässlichen, bezahlbaren und
klimaverträglichen Energiemix gesichert und gestärkt
wird.
Ich komme zu meinem letzten Satz. Treten Sie end-
lich für einen gesellschaftlichen Konsens des Anpackens
ein und organisieren Sie nicht ständig den des Still-
stands.
Zu einer Kurzintervention der Kollege Kelber.
Frau Kollegin Dött, Sie müssen mit sich selber aus-
machen, ob Sie es in Ordnung finden, als letzte Rednerin
in einer Debatte auf kein einziges Argument Ihrer Vor-
rednerinnen und Vorredner einzugehen, sondern stoisch
eine Rede abzulesen, die Beschimpfungen der anderen
enthält. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Aber eines ist nicht in Ordnung – das kann jeder, der
uns zuhört oder das Protokoll liest, selbst überprüfen –:
Der Vertrag des Jahres 2000, der zum Atomkonsens ge-
führt hat, ist öffentlich nachzulesen. Er ist auch nicht ge-
heim ausgehandelt worden. Er war von vornherein von-
seiten der Regierung öffentlich gemacht worden; auch
das ist ein Unterschied zu Ihnen. Sie haben daraus zitiert
und behaupten, dass der Satz, man wolle die Sicherheits-
philosophie für Atomkraftwerke beibehalten, belegt,
dass Rot-Grün auf zusätzliche Sicherheitsauflagen ver-
zichtet hatte. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich nicht den
nächsten Absatz gelesen haben. Vielleicht haben Sie ein-
fach nur etwas abgelesen, das Ihnen andere aufgeschrie-
ben haben.
Im nächsten Absatz wird die Pflicht zu periodischen
Sicherheitsüberprüfungen von Atomkraftwerken erst-
mals in Deutschland eingeführt; dies findet sich dann
auch im entsprechenden Gesetz. Das ist das, was Sie
jetzt tun. Bei diesen periodischen Sicherheitsüberprüfun-
gen – es sollen übrigens nicht in drei Monaten
17 Atomkraftwerke überprüft werden, sondern man soll
sich ein bis zwei Jahre in allen Details um ein einziges
kümmern – werden alle Sicherheitsaspekte betrachtet.
Dann wird das anhand des seit 1973, seit dem Kalkar-
Urteil, verfassungsrechtlich festgelegten Prinzips
„Nachrüstung nach dem Stand von Wissenschaft und
Technik“ nachvollzogen. Haben Sie diesen Absatz gele-
sen? Hören Sie jetzt endlich auf, die Unwahrheit – eine
bewusste Unwahrheit kann man mit vier Buchstaben
auch anders bezeichnen – zu wiederholen!
Frau Dött zur Reaktion.
Dann habe ich noch eine Kurzintervention des Kollegen
Lenkert.
Herr Kelber, vielen Dank, dass Sie besonders daraufhingewiesen haben, dass es wichtig ist, sich diese Ab-schnitte sehr genau anzuschauen.
Sie haben angesprochen, dass ich als letzte Rednerinverschiedene Punkte thematisiert habe. Es hat mir be-sonders viel Freude gemacht, als letzte Rednerin nocheinmal zusammenfassen, um welche Debatte es hierüberhaupt geht
und mit welcher Thematik wir uns hier beschäftigen.Zurzeit ist es so, Herr Kelber, dass wir aufgrund derschrecklichen Ereignisse in Japan, des Erdbebens unddes Tsunami, neue Erkenntnisse haben und einigeswahrscheinlich neu beurteilen müssen. Dies wollen wir
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11308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Marie-Luise Dött
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auf unsere Sicherheitsvorstellungen hinsichtlich unsererKraftwerke anwenden.
Danach wollen wir entscheiden, was gemacht werdenmuss, damit wir weiterhin sagen können: Unsere Kraft-werke sind sicher.Wenn es aufgrund irgendwelcher Nachrüstungen, vondenen wir jetzt noch nichts wissen, so wäre, dass sichdas Ganze nicht rechnet und die Kraftwerke vom Netzgehen müssten, dann würde dies in der Konsequenz be-deuten, dass wir andere Voraussetzungen unserem Ener-giekonzept zugrunde legen müssten, wenn es darumgeht, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu errei-chen. Diese anderen Voraussetzungen müssten dann be-wertet werden. Man müsste sich, da KernkraftwerkeCO2-frei sind, beispielsweise fragen: Wie können wirunsere Klimaziele erreichen? Können wir Kernkraft-werke einfach ersetzen? Dazu habe ich von Ihnen nursehr wenig gehört.Sie wollen auch aus der Nutzung der Kohle ausstei-gen. Wir brauchen aber eine grundlastfähige Energie, umin Deutschland Versorgungssicherheit zu gewährleisten.All die Fragen, die damit verbunden sind, werden wirnach dem Moratorium, nachdem wir die Überprüfungdurchgeführt haben, beantworten und dann sehr schnellhandeln. Denn die Ereignisse in Japan und die schreckli-chen Bilder haben uns vor Augen geführt, dass wir sehrschnell – so schnell es möglich ist – aussteigen sollten.Das werden wir verwirklichen.
Herr Lenkert, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Dött, ich habe ein
paar Fragen zu Ihrer Rede. Sie machten indirekt darauf
aufmerksam, dass erneuerbare Energie viel mehr Geld
kostet. Sie sprachen ohnehin nur von Kosten. Wir haben
gestern im Umweltausschuss – Sie waren anwesend –
über den Leitfaden für erneuerbare Energien diskutiert.
Darin wurde die Feststellung getroffen, dass bei Investi-
tionen von 800 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050 im
Vergleich zur jetzigen Energiepolitik ein zusätzlicher
Gewinn von 660 Milliarden Euro zu erwarten ist. Da
stellt sich mir die Frage: Warum gehen wir hier nicht
schneller vor? Dies entspricht in zehn Jahren übrigens
Investitionen von etwa 200 Milliarden Euro. Das war Ih-
nen die Bankenrettung in nur zwei Jahren wert. Für eine
sichere Zukunft wäre das angebracht.
Meine zweite Frage betrifft ebenfalls das Thema
Preise. Herr Kurth von der Bundesnetzagentur stellte
fest, dass die Strompreise in diesem Jahr um 0,5 bis
1 Cent pro Kilowattstunde hätten gesenkt werden kön-
nen, weil die Spotpreise an der Leipziger Strombörse um
über 2 Cent gesunken sind. Die EEG-Umlage stieg um
1,5 Cent. Es kam aber flächendeckend zu Preiserhöhun-
gen, und zwar mit der Begründung: EEG-Umlage. Sind
nicht auch Sie der Meinung, dass wir an dieser Stelle
eine staatliche Preisaufsicht benötigen, um die Gewinn-
macherei im Schatten der erneuerbaren Energien mit der
Behauptung, erneuerbare Energien seien an allem
schuld, zu begrenzen?
Als Letztes zu Ihrer Aussage, dass der Klimaschutz
von der Opposition nicht ernst genommen würde. Ges-
tern lagen im Umweltausschuss drei Anträge der Opposi-
tion vor, die darauf zielten, verbindliche Klimaschutz-
ziele für die Bundesrepublik und die EU festzuschreiben.
Alle drei haben FDP und CDU/CSU abgelehnt.
Frau Dött.
Herr Lenkert, ich habe gesagt, dass die erneuerbaren
Energien noch teuer sind. Sie wissen selbst: Wenn man
investiert, kostet das eine ganze Menge. Es gibt Investi-
tionszyklen. Investitionen bringen erst dann etwas, wenn
sie abgeschrieben sind. Bei erneuerbaren Energien brau-
chen wir ein ganz anderes Netz, um die Energie zum
Bürger, vor allen Dingen aber zum Mittelstand und zur
Industrie zu liefern. Von daher habe ich gesagt: noch.
Wir werden das machen. Wir müssen aber die Preise im
Auge behalten.
Wie Sie wissen, werden zurzeit Umfragen durchge-
führt, in denen die Bürger gefragt werden: Wie viel mehr
wären Sie zu zahlen bereit, wenn wir aus der Kernkraft
aussteigen würden? Im Schnitt würden die Bürger im
Jahr etwa 15 Euro mehr für Strom zahlen. Es geht aber
nicht nur um den Endverbraucher, um den Bürger, son-
dern es geht auch um die Frage: Behalten wir unsere In-
dustrie in Deutschland? Wenn man kein ausgewogenes
Energiekonzept hat, stellt sich auch die Frage: Behalte
ich die Arbeitsplätze in Deutschland oder nicht?
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/5181, 17/5202, 17/5179, 17/5180und 17/5182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Siein der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einver-standen. Dann ist das so beschlossen.Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Abstim-mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Energiewirtschaftsgeset-zes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
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Drucksache 17/5148, den Gesetzentwurf auf Drucksache17/3182 abzulehnen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, bitte ich um ihr Handzeichen. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-wurf in zweiter Beratung bei Zustimmung von Bünd-nis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Dagegenhaben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Fraktion derSPD hat sich enthalten. Eine dritte Beratung entfälltdementsprechend.Tagesordnungspunkt 4 c. Wir setzen die Abstimmungüber die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürWirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5148fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages derFraktion der SPD auf Drucksache 17/3649 mit dem Titel„Die Energieversorgung in kommunaler Hand“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU undFDP. Dagegen hat die SPD gestimmt. Linke undBündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/3671 mit dem Ti-tel „Energienetze in die öffentliche Hand – Kommunali-sierung der Energieversorgung erleichtern – Transparenzund demokratische Kontrolle stärken“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Die übri-gen Fraktionen haben dafür gestimmt.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/5183 mit dem Titel „Keine Hermesbürg-schaften für Atomtechnologien“. Wer stimmt für denAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerAntrag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionenabgelehnt. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie33 h bis k und 24 sowie Zusatzpunkt 8 a und b auf:33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung der Vorschriften über den Wertersatz beiWiderruf von Fernabsatzverträgen und überverbundene Verträge– Drucksache 17/5097 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologieb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 4. Februar 2010 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Franzö-sischen Republik über den Güterstand derWahl-Zugewinngemeinschaft– Drucksache 17/5126 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzeszur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen– Drucksachen 17/5127, 17/5201 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 9. April 2010 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem Com-monwealth der Bahamas über die Unterstüt-zung in Steuer- und Steuerstrafsachen durchInformationsaustausch– Drucksache 17/5128 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und dem FürstentumMonaco über die Unterstützung in Steuer- undSteuerstrafsachen durch Informationsaus-tausch– Drucksache 17/5129 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschussf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung der Kaimaninseln über die Un-terstützung in Steuer- und Steuerstrafsachendurch Informationsaustausch– Drucksache 17/5130 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschussh) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, ReinhardGrindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten HartfridWolff , Gisela Piltz, ManuelHöferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPzu der Mitteilung der Kommission an das Eu-ropäische Parlament und den Rat Auf demWeg zu einer verstärkten europäischen Kata-strophenabwehr: die Rolle von Katastrophen-
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schutz und humanitärer Hilfe 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzesüber die Zusammenarbeit von Bundesre-gierung und Deutschem Bundestag inAngelegenheiten der EuropäischenUnionKatastrophenabwehr in Europa effektiv ge-stalten– Drucksache 17/5194 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussSportausschussVerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unioni) Beratung des Antrags der Abgeordneten JuttaKrellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEArbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten– Drucksache 17/5177 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionj) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENAlternativen zur öffentlichen Ausschreibungfür Leistungen der Integrationsfachdienste er-möglichen– Drucksache 17/5205 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussk) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleiches Rentenrecht in Ost und West– Drucksache 17/5207 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussJuratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung vonEuropäischen Betriebsräten umsetzen– Drucksache 17/5184 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten DorisBarnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDStärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –Finanzierung langfristig sichern– Drucksache 17/5185 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten IngeHöger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKESchutz vor militärischem Fluglärm– Drucksache 17/5206 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-einfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionellwird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 34 a bis q.Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 34 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 20. August 2009 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland undder Schweizerischen Eidgenossenschaft überdie Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppelbür-ger– Drucksache 17/4810 –Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 17/5068 –
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Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers
Fritz Rudolf KörperElke HoffPaul Schäfer
Agnes MalczakDer Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/5068, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4810anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf zustim-men? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist angenommen. Enthalten hat sich die FraktionDie Linke. Die übrigen Fraktionen haben dafür ge-stimmt.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem zustimmen möchte,den bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in drit-ter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wiezuvor angenommen.Tagesordnungspunkt 34 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu der Vereinbarung vom16. April 2009 über die Änderungen des Über-einkommens vom 5. September 1998 zwischender Regierung der Bundesrepublik Deutsch-land, der Regierung des Königreichs Däne-mark und der Regierung der Republik Polenüber das Multinationale Korps Nordost– Drucksache 17/4809 –Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 17/5084 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers
Lars KlingbeilElke HoffPaul Schäfer
Omid NouripourDer Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/5084, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4809anzunehmen. Hier gibt es nur zwei Lesungen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Frak-tion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen ha-ben zugestimmt.Tagesordnungspunkt 34 c:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Beschleunigung der Zahlung von Entschä-digungsleistungen bei der Anrechnung desLastenausgleichs und zur Änderung des Auf-bauhilfefondsgesetzes
– Drucksache 17/4807 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/5086 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbePetra Hinz
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/5087 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeRoland ClausAlexander BondeDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5086, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4807 inder Ausschussfassung anzunehmen. Wer diesem Gesetz-entwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Hand-zeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Das ist inzweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daherbitte auf? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damitist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 34 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 1. Juli 2010 zwischender Bundesrepublik Deutschland und den Ver-einigten Arabischen Emiraten zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung und der Steuer-verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vomEinkommen– Drucksache 17/4806 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/5186 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeDr. Birgit ReinemundDr. Thomas GambkeDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5186, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4806 an-zunehmen. Wer möchte für den Gesetzentwurfstimmen? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der
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Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Frak-tionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daherbitte auf? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichenStimmverhältnis wie vorher angenommen.Tagesordnungspunkt 34 e:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Durchführung der Verordnung
Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehenderAus- und Durchführungsbestimmungen aufdem Gebiet des internationalen Unterhaltsver-fahrensrechts– Drucksache 17/4887 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/5240 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid HönlingerDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5240, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4887 inder Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte demGesetzentwurf zustimmen? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Erheben mögen sich bitte die-jenigen, die zustimmen wollen. – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritterBeratung einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 34 f:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Straßenverkehrs-gesetzes und anderer Gesetze– Drucksache 17/4144 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/5169 –Berichterstattung:Abgeordnete Kirsten LühmannDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/5169, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/4144 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istin zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dafür ist, erhebe sich bitte. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 34 g:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die vorläufige Durchführung unmittelbargeltender Vorschriften der Europäischen Unionüber die Zulassung oder Genehmigung des In-verkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln– Drucksache 17/4985 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 17/5199 –Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigGustav HerzogDr. Christel Happach-KasanAlexander SüßmairFriedrich OstendorffDer Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/5199, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 17/4985 anzunehmen.Wer möchte dafür stimmen? – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungbei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmungder übrigen Fraktionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, mögesich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichenStimmverhältnis wie vorher angenommen.Tagesordnungspunkt 34 h:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudemVorschlag für einen Beschluss des Rates überden Abschluss des Übereinkommens über dieinternationale Geltendmachung der Unter-haltsansprüche von Kindern und anderen Fa-milienangehörigen durch die Europäische Ge-meinschaftKOM(2009) 373 endg.; Ratsdok. 12265/09– Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute Granold
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Dr. Eva HöglStephan ThomaeRaju SharmaIngrid HönlingerDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5241, in Kenntnis derUnterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktio-nen und Die Linke, dagegen hat die SPD-Fraktion ge-stimmt, enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 34 i:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudemBericht der Kommission an den Rat, das Eu-ropäische Parlament, den Europäischen Wirt-schafts- und Sozialausschuss und den Aus-schuss der RegionenAnwendung der Richtlinie 2004/48/EG des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates vom29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechtedes geistigen Eigentums
KOM(2010) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11– Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242 –Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingBurkhard LischkaStephan ThomaeRaju SharmaIngrid HönlingerDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/5242, in Kenntnis derUnterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen unddie SPD-Fraktion gestimmt, dagegen hat Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, Die Linke hat sich enthalten.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 34 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 234 zu Petitionen– Drucksache 17/5059 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Diese Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 34 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 235 zu Petitionen– Drucksache 17/5060 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 34 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 236 zu Petitionen– Drucksache 17/5061 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-stimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD.Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grü-nen haben sich enthalten.Tagesordnungspunkt 34 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 237 zu Petitionen– Drucksache 17/5062 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 34 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 238 zu Petitionen– Drucksache 17/5063 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage-gen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, die übri-gen Fraktionen dafür.Tagesordnungspunkt 34 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 239 zu Petitionen– Drucksache 17/5064 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls angenom-men. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt, dieübrigen Fraktionen waren dafür.Tagesordnungspunkt 34 p:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 240 zu Petitionen– Drucksache 17/5065 –
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11314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Ge-genstimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen.Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.Tagesordnungspunkt 34 q:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 241 zu Petitionen– Drucksache 17/5066 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die FraktionenSPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegengestimmt.Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 28 a und bauf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Einführung eines Bundesfreiwilligendiens-tes– Drucksache 17/4803 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/5249 –Berichterstattung:Abgeordnete Markus GrübelDr. Peter TauberSönke RixFlorian BernschneiderHeidrun DittrichKai Gehringb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten DorotheeBär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Miriam Gruß, FlorianBernschneider, Heinz Golombeck, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPFür eine Stärkung der Jugendfreiwilligen-dienste – Bürgerschaftliches Engagementder jungen Generation anerkennen und för-dern– zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf,Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDStärkung der Jugendfreiwilligendienste –Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen,Rechtssicherheit schaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix,Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPDChancen nutzen – Jugendfreiwilligendienstestärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch,Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEJugendfreiwilligendienste weiter ausbauenstatt Bundesfreiwilligendienst einführen– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENAufbauoffensive für Freiwilligendienste jetztauf den Weg bringen – Quantität, Qualitätund Attraktivität steigern– Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, 17/4845,17/3436, 17/5249 –Berichterstattung:Abgeordnete Markus GrübelDr. Peter TauberSönke RixFlorian BernschneiderHeidrun DittrichKai GehringZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute ist ein denkwürdiger Tag. Wir fassen heuteBeschlüsse von historischer Tragweite. Nach über 50 Jah-ren beschließen wir das Ende der Pflichtdienste inDeutschland. Den liebgewordenen Zivi und den liebge-wordenen Grundwehrdienstleistenden gibt es ab 1. Julinicht mehr. Die Einberufung zum Wehrdienst und damitdie Einberufung zum Zivildienst werden wir heute aus-setzen.In wenigen Tagen, am 11. April, begehen wir mit ei-nem Festakt 50 Jahre Zivildienst. Im April 1961 habendie ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer ihrenErsatzdienst angetreten. Bis heute haben über 2,5 Mil-lionen junge Männer diesen Dienst geleistet, zuletzt jähr-lich 90 000. Der Festakt wird eine Art Beerdigung, aberes wird eine fröhliche Beerdigung. Wir trauern zwar umden Zivildienst, aber wir freuen uns auf die neuen Frei-willigendienste und den Bundesfreiwilligendienst.Gerade auch wegen der großen Bedeutung, die der Zi-vildienst erlangt hat, stellt uns seine Aussetzung vor einegroße Herausforderung. Herausforderungen sind immerauch Chancen. Eine solche haben wir mit dem neuen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11315
Markus Grübel
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Bundesfreiwilligendienst ergriffen. Mit diesem Dienstist in kurzer Zeit etwas Großes und Gutes geschaffenworden; das ist das Fazit der Sachverständigenanhörung.
Wir ermöglichen damit freiwilliges Engagement in einersehr großen Breite in Deutschland: im sozialen Bereich,in den Bereichen Ökologie, Kultur und Sport, Integra-tion und im Zivil- und Katastrophenschutz. Wir ermögli-chen es, dass sich künftig Menschen jeden Alters imBundesfreiwilligendienst engagieren können. Den jun-gen Männern wird künftig der Wehrersatzdienst nichtmehr abverlangt, aber sie dürfen sich freiwillig engagie-ren. Das tut ihnen gut und der Gesellschaft.Die Opposition trägt jetzt aus meiner Sicht etwaskleinkariert und wenig konstruktiv Kritik vor. Ihre Kritikist deshalb nicht konstruktiv, weil Sie keine Lösungs-wege aufzeigen. Es gibt zum Beispiel ein Nebeneinandervon Bundesfreiwilligendienst und Jugendfreiwilligen-diensten. Wir sind uns einig, dass wir beide langfristigzusammenführen wollen. Ein einheitlicher Dienst stößtheute aber an verfassungsrechtliche Grenzen. Es ist nichtmöglich, den Ländern einfach 350 Millionen Euro zuüberweisen, indem wir ihnen zum Beispiel die Einnah-men durch einen Umsatzsteuerpunkt abtreten, weil dieLänder dann beim Einsatz dieser Gelder völlig frei sind.Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Forschung,Polizei, Schuldenabbau – es gibt viele sinnvolle Aufga-ben, für die die Länder das Geld einsetzen könnten; nurein Bruchteil würde bei den Freiwilligendiensten an-kommen. Eine Verfassungsänderung in diesem einenPunkt ist wenig realistisch.Die Lösung ist die Schaffung eines Bundesfreiwilli-gendienstes bei gleichzeitigem Ausbau und besserer För-derung der bestehenden Jugendfreiwilligendienste. DieStärke der Freiwilligendienste war schon immer ihreVielfalt. So bunt wie unsere Gesellschaft sind auch dieFreiwilligendienste.Festzuhalten bleibt auch, dass wir noch nie so vielGeld für die Freiwilligendienste in Deutschland zur Ver-fügung gestellt haben. Auch die bestehenden Freiwilli-gendienste profitieren von dieser Regelung. Bisher ha-ben wir den Ländern eine Förderung von 72 Euro proMonat für ein Freiwilliges Soziales Jahr gezahlt; künftigsind es 200 Euro pro Monat. Zusätzlich gibt es – auchdas ist neu – 50 Euro bei besonderem pädagogischen Be-treuungsbedarf.
Das Koppelungsmodell verhindert, dass sich der Bun-desfreiwilligendienst zulasten der bestehenden Diensteetabliert. Insgesamt werden vom Bund künftig 350 Mil-lionen Euro eingesetzt. Die Länder bezahlen 12 Mil-lionen Euro; den Löwenanteil davon tragen Baden-Württemberg und Bayern. 8 Millionen Euro kommenaus dem Europäischen Sozialfonds.Zum Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftli-che Aufgaben möchte ich anmerken, dass künftig nurnoch ein Teil der heutigen Mitarbeiter für den neuenBundesfreiwilligendienst benötigt wird und in dennächsten Monaten und Jahren Veränderungen möglichund auch nötig sind. So wollen wir die administrativenAufgaben im Zusammenhang mit der Familienpflegezeitvom BAZ erledigen lassen und nach außen vergebeneAufgaben auf das BAZ zurückübertragen.Positiv ist in der Anhörung die vorgesehene Regelungfür die älteren Freiwilligen aufgenommen worden. Über27-Jährige müssen mindestens 20 Stunden pro Wocheleisten. Wir grenzen den Bundesfreiwilligendienst damitklar von anderen Ehrenämtern ab und verhindern, dassdas Ehrenamt in der Breite verstaatlicht wird.Wir wollen beim Kindergeld noch eine Veränderungvornehmen. Ich denke, wir sind uns einig, dass auch derBundesfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechti-gung führen sollte. Die Kindergeldfrage soll in einemSteuergesetz, zum Beispiel im Steuervereinfachungsge-setz, geregelt werden. Der Betrag von 550 Euro plus50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbe-darf müsste möglicherweise noch etwas reduziert wer-den; aber dafür erhielten die kindergeldberechtigtenFreiwilligen weiter Kindergeld.Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel, 35 000 Ju-gendfreiwillige und 35 000 Bundesfreiwilligendienst-leistende pro Jahr zu gewinnen, erreichen können, wennauch vielleicht nicht gleich zum 1. Juli. Aber auch bisherwar der Dienstantritt beim Jugendfreiwilligendienst inder Regel nicht der 1. Juli, sondern der 1. September.Wir haben in letzter Zeit zudem eine hohe Bereit-schaft bei Zivildienstleistenden erlebt, den Zivildienstfreiwillig zu verlängern. Auch diesbezüglich hat die Op-position seinerzeit viel Kritik vorgetragen. Diese Rege-lung hat sich aber bestens bewährt. Sie werden sehen,dass auch der Bundesfreiwilligendienst angenommenund funktionieren wird. Es spricht einiges dafür, dasssich die Menschen in unserem Land für einen Bundes-freiwilligendienst entscheiden werden.Richtig ist aber auch, dass wir den Zivildienst nichtvollkommen ersetzen können. Das ist auch nicht dieAufgabe des Bundesfreiwilligendienstes. Einige Stellenwerden künftig nicht mehr zu besetzen sein, zum Bei-spiel die als Pförtner in einer Einrichtung. Es ist fürjunge Menschen schlechterdings keine Herausforderung,einen solchen Dienst zu leisten. Dagegen werden wahr-scheinlich Stellen in Pflegeeinrichtungen stark nachge-fragt werden.Der Bundesfreiwilligendienst wird uns den Abschiedvom liebgewonnenen Zivildienst erleichtern. Mit demneuen Bundesfreiwilligendienst haben wir in kurzer Zeitetwas Großes und Gutes geschaffen. Dank möchte ichder Ministerin und dem Ministerium sagen. Dank auchIhnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sowie den Ver-bänden für die eigentlich recht konstruktive Diskussiondes Entwurfes.
Die Kritik der Opposition werden wir ertragen. Ich binsicher: Die Praxis wird die Kritik widerlegen.
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11316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Markus Grübel
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Herzlichen Dank.
Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Weil der Dank meines Vorredners nicht nur an die Kolle-gen der Regierungsfraktion, sondern auch an die anderenKollegen so schön war, möchte ich auch Ihnen vonSchwarz-Gelb danken, dass Sie den Mut haben, dieWehrpflicht auszusetzen, und damit, wie Sie gesagt ha-ben, ein liebgewonnenes Kind – Sie haben das sicherlichmehr liebgewonnen als wir – gegen ein neues Modell,auf das ich gleich in meiner Rede eingehen werden, ein-tauschen. Dafür gebührt Ihnen Dank, aus welchen Grün-den auch immer Sie das getan haben. Dieser Mut ist aufjeden Fall einen Dank wert.
Wir reden heute zum x-ten Mal – schon das ist etwasTolles; darüber kann man froh sein – über das ThemaFreiwilligendienste. Es ist schön, dass wir den Wegfalldes Zivildienstes zum Anlass nehmen, bei den Jugend-freiwilligendiensten etwas zu verbessern; das finde ichin Ordnung. Aber nun komme ich auf den Gesetzentwurfzu sprechen, der heute verabschiedet wird.Nach relativ kurzer Zeit der Diskussion – es war einziemlich sportliches Tempo – soll nun zum 1. Juli diesesJahres der Bundesfreiwilligendienst umgesetzt werden.Sie haben gesagt, angesichts der Anhörung und der Ge-spräche mit den Vertretern der Fachverbände und denFachexperten sei alles quasi im Lot und in Ordnung. Dasliegt in der Natur der Sache. Ich habe auch andere, kriti-sche Stimmen gehört, insbesondere bei der Anhörung.Kritisiert wurde unter anderem die staatliche Steuerungeines Freiwilligendienstes. Kritisiert wurde auch dieDoppelstruktur. Kritisiert wurde die Regelung im Bun-desfreiwilligendienstgesetz betreffend das Kindergeld.Sicherlich ist es positiv, dass die Freiwilligendienste füralle Generationen offen stehen sollen. Nichtsdestotrotzwurde kritisch darauf hingewiesen, dass Jung und Altunterschiedliche Ansprechpartner in den Seminaren undunterschiedliche Seminarformen brauchen. Es wurdeauch die Aufrechterhaltung des – so heißt es noch –Bundesamtes für den Zivildienst kritisiert. Gefordertwurde eine Organisation für Freiwilligendienste auf derBasis der Zivilgesellschaft. Es wurden des Weiteren einewissenschaftliche Begleitung und einheitliche Struktu-ren gefordert. Es war zwar die Rede von mittelfristigenund langfristigen Übergängen. Aber eine einheitlicheStruktur wurde von der überwiegenden Anzahl der Ex-perten gefordert, genauso wie eine Regelung der Kinder-geldfrage.Unsere Kritik deckt sich mit diesen Kritikpunkten.Wir hatten von Ihnen ein Gesamtkonzept erwartet. Eskann nicht nur darum gehen, die Lücke, die durch denWegfall des Zivildienstes entsteht, mit dem Bundesfrei-willigendienst zu schließen. Im Rahmen eines Gesamt-konzeptes hätten die Fragen beantwortet werden müs-sen: Wie können wir das bürgerschaftliche Engagementinsgesamt stärken, um den Wegfall des Zivildienstes auf-zufangen? Wie können wir einige Tätigkeiten von Zivil-dienstleistenden in sozialversicherungspflichtige Jobsüberführen? Diese Debatte hat nicht stattgefunden. Esgibt zwar die Ankündigung, die Mittel für den Bereichdes FSJ aufzustocken. Aber es sind noch keine entspre-chenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffenworden. Es hat auch noch keine intensiven Gesprächemit Verbänden und Kommunen darüber gegeben, wieman die Rahmenbedingungen und die Anerkennung beiFSJ und FÖJ verbessern kann. Das alles fehlt. Das istleider enttäuschend.
Natürlich besteht die Gefahr einer Doppelstruktur. Esgibt unterschiedliche Ansätze. Vonseiten der Regierungund der schwarz-gelben Koalition wird immer wiederbetont, ein junger Freiwilliger solle gar nicht merken,welchen Dienst er leistet. Das ist ein richtiger Ansatz.Ich finde das auch gut. Sie haben dankenswerterweisedie Kritik von Verbänden und Opposition aufgegriffen.Das war am Anfang nicht so. Sie haben in diesem Be-reich etwas verändert. Aber es gibt noch Unterschiedeund eine unterschiedliche Förderung durch den Bund. Esgibt auch Unterschiede bei der Ausgestaltung der Kin-dergeldregelung, genauso wie bei der pädagogischen Be-gleitung und der Anerkennung der Plätze.Auch das ist noch ein Wunsch, den wir gehabt hätten.Sie, Herr Grübel, sagen zwar, der Markt werde entschei-den, welche Plätze attraktiv sind – der Posten des Pfört-ners im Seniorenheim ist sicher nicht so attraktiv wie derdesjenigen, der mit Kindergartenkindern einen Platz ge-stalten kann –; aber es wäre die Aufgabe bei solch einemGesetz gewesen, diese Dinge zu überprüfen. Wir könnennicht darauf warten, dass der Markt das regelt. Ich hättemir gewünscht, dass wir alle Zivildienstplätze überprü-fen, bevor sie Bundesfreiwilligenplätze werden.
Wir haben dankend zur Kenntnis genommen, dass Sieerkannt haben, dass beim Kindergeld eine Regelung ge-troffen werden muss, aber wir beschließen das Gesetzjetzt. Da reicht die Ankündigung nicht aus, dass die un-terschiedliche Regelung des Kindergeldes im Jugend-freiwilligendienst und im Bundesfreiwilligendienst ir-gendwann durch die Steuergesetzgebung erfolgt. Wirwürden das gerne jetzt klären; denn der Bundesfreiwilli-gendienst wird zum 1. Juli umgesetzt. Deshalb hättenwir jetzt gerne Antworten und nicht nur eine Ankündi-gung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11317
Sönke Rix
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Ich möchte gerne auf die Widersprüche, die es gab,eingehen. In der Anhörung wurde erwähnt, dass die Frei-willigendienste quasi auf Pflichtstrukturen stoßen. Dasliegt zum einen an der automatischen Anerkennung derPlätze, die ich gerade kritisiert habe, aber auch daran,dass wir die Verwaltung, die dem Zivildienst zugrundelag, nutzen. Wir hätten Einsparungen vornehmen kön-nen. In Richtung FDP will ich sagen – Graf Strachwitzhat das sehr gut auf den Punkt gebracht –: Es ist nichtunbedingt im Sinne von jungen Menschen, ein staatli-ches Dienstverhältnis einzugehen, wenn man sich füreine besondere Form von bürgerschaftlichem Engage-ment entscheidet. Ich hätte mir gewünscht, dass Siediese Kritik annehmen.
Wir brauchen eine dauerhafte finanzielle und rechtli-che Voraussetzung, um FSJ und FÖJ zu stärken, undnicht nur eine Ankündigung der Mittelerhöhung. Wirbrauchen ein Jugendfreiwilligenstatusgesetz. Wir brau-chen keine unterschiedlichen Rechtsformen für unter-schiedliche Freiwilligendienste. Wir brauchen noch indieser Legislaturperiode eine Überprüfung des Gesetzes;denn ich gehe davon aus, dass Sie es heute mit Mehrheitbeschließen werden. Wir brauchen ein ganzheitlichesKonzept zur Stärkung der Freiwilligendienste und desbürgerlichen Engagements, das gemeinsam mit den Län-dern abgestimmt werden muss. Dann vermeiden wirDoppelstrukturen.Herzlichen Dank.
Für die FDP hat Miriam Gruß das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede da-
mit beginnen, den Jungen Liberalen im Namen der FDP-
Fraktion zu danken, die vor 20 Jahren den wegweisen-
den Beschluss getroffen haben, die Wehrpflicht auszu-
setzen.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen dieser Koali-
tion, die dieses jetzt im Europäischen Jahr der Freiwilli-
gentätigkeit umsetzen und damit die Konsequenzen ge-
zogen haben. Wir legen hiermit eine beachtliche Reform
vor, die die Freiwilligentätigkeit auf ganz neue Beine
stellt, Bewährtes übernimmt, aber auch Neues schafft.
Ich glaube, dass die Freiwilligentätigkeit in Deutschland
im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit einen
ganz starken Impuls von dieser Koalition bekommt.
Die Daten und Fakten sind schon oft genannt worden.
Ich will aber noch einmal betonen, dass ich es für richtig
und wichtig erachte, dass die Freiwilligentätigkeit für
Mann und Frau geöffnet wird, dass sich alle Altersgrup-
pen einbringen können und dass wir eine breite Varianz
an Möglichkeiten, sich einzubringen, haben, so etwa in
den Bereichen Sport, Bildung und, was uns als FDP-
Fraktion besonders wichtig war, im Bereich Integration;
denn auch hier gibt es viele Bemühungen vor Ort. Die
sollen anerkannt werden. Durch die neuen Strukturen
sollen dafür Möglichkeiten eröffnet werden.
Der Wille ist ungebrochen da. Über ein Drittel aller
Deutschen engagieren sich bereits jetzt ehrenamtlich.
Von denjenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ abgeschlossen
haben, könnten sich über 70 Prozent vorstellen, sich wei-
terhin zu engagieren, und nahezu 100 Prozent würden es
weiterempfehlen. Das heißt, die Deutschen wollen sich
freiwillig engagieren, und sie tun es auch. Deswegen
wird mir nicht angst und bange bei der Frage, ob wir die
35 000 Plätze besetzen können. Junge Menschen wollen
sich engagieren. Sie sehen dadurch die Chance, neue
Einblicke zu gewinnen, ihren Horizont zu erweitern,
sich, je nachdem, wie viel Zeit sie einbringen wollen, ein
Jahr oder länger, auch Themenfeldern zu öffnen, die sie
aus der Schule vielleicht so nicht kannten, sich vielleicht
im Hinblick auf den zukünftigen Berufsweg zu orientie-
ren. Wir haben damit die Chance für die Gesellschaft,
dass Freiwilligkeit das Miteinander fördert und alle Ge-
nerationen zusammenführt.
Ich bin der Meinung: Es ist eine sehr gute Reform. Ich
möchte mich dafür noch einmal ganz herzlich bedanken.
Im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit ist das
ein tolles Signal dieser Koalition.
Vielen Dank.
Harald Koch hat das Wort für die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Werte Gäste! Wie Herr Grübel vorhin sagte, wirdder Bundesfreiwilligendienst eine kurze Halbwertszeithaben. In der Anhörung bemängelten mehrere Sachver-ständige die Doppelstrukturen zwischen existierendenJugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilli-gendienst und meinten, mittelfristig sei eine einheitlicheStruktur durch Zusammenführung der Dienste nötig. DerBundesfreiwilligendienst, so wie er geplant ist, wirdschnell wieder Geschichte sein.Kurzfristig können nun aber gemeinwohlorientierteEinrichtungen wegen einer Bevorteilung des staatlich or-ganisierten Bundesfreiwilligendienstes in Existenznötegeraten. Bei ihnen wird die Nachfrage nach Jugendfrei-willigendienstplätzen zurückgehen. Für die Linke ist in-
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11318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Harald Koch
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des klar: Es darf keine Freiwilligendienste erster undzweiter Klasse geben.
Zudem ist erstaunlich, dass die FDP als vermeintlichePartei des Bürokratieabbaus diesen Doppelstrukturenund diesem Bürokratiemonster – so muss man es ja be-zeichnen – mucksmäuschenstill zustimmt.
Die Anhörung hat gangbare Alternativen aufgezeigt.
Es wäre etwas anderes möglich gewesen.Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koali-tion, hätten Sie auf die Linke gehört,
hätten Sie diese Probleme von vornherein verhindernkönnen. Die Wehrpflicht gehört nicht nur ausgesetzt,sondern ganz abgeschafft.
Dann braucht man auch keinen Platzhalter für einen Zi-vildienst zu schaffen, der – das ist sicher – nicht mehrzurückkommt.Die durch die Aussetzung der Wehrpflicht und damitdes Zivildienstes entstehenden Lücken im sozialen Be-reich müssen ohne Zweifel geschlossen werden. Aberwir bezweifeln, dass der Weg, den Sie einschlagen, derrichtige ist. Vielmehr müssen neue, sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden – für qualifi-zierte Beschäftigte und mit tariflichem Lohn oder we-nigstens Mindestlohn.
Jugendfreiwilligendienste haben nur flankierenden Cha-rakter. Grundsätzlich dürfen junge wie alte Menschennicht Lückenbüßer in einem von Ihnen, liebe Kollegin-nen und Kollegen der Koalition, zu verantwortendenSystem des stetigen Sozialabbaus sein.Die Linke will lieber die rechtlichen Grundlagenschaffen, um bestehende Jugendfreiwilligendienste wei-ter ausbauen zu können, anstatt einen Bundesfreiwilli-gendienst einzuführen; denn Jugendfreiwilligendiensteals Bildungs- und Lernorte zwischen Schule und Berufhaben eine wichtige individuelle und gesellschaftlicheFunktion. Es wird immer in Abrede gestellt, dass wir dasanerkennen. Auch deshalb haben wir unseren Antrag ge-stellt. Die Dienste unterstützen bei der Suche nach per-sönlicher, gesellschaftlicher und beruflicher Orientie-rung. Sie verschaffen vielfältige Kompetenzen. Siesensibilisieren für Probleme und ermutigen zur Partizi-pation an der Gesellschaft. So gesehen sind Jugendfrei-willigendienste bereits Lernorte für Demokratie und So-lidarität. Das – nicht irgendwelche halbgaren Para-lellstrukturen – muss gestärkt werden.
Wir fordern in unserem Antrag eindeutige Mindest-standards für die Durchführung von Jugendfreiwilligen-diensten. Diese Dienste müssen klar von Zwangsdiens-ten wie dem Zivildienst, von sozialversicherungs-pflichtiger Beschäftigung sowie von Ausbildung abge-grenzt werden. Sie sollten nur Menschen bis 27 Jahrenoffenstehen, auch um die Abgrenzung zu den Freiwilli-gendiensten aller Generationen zu festigen.Wer es mit einem Lern- und Bildungsdienst ernstmeint, muss auch Mindeststandards in der inhaltlichenAusgestaltung schaffen. Ich spreche nicht von Festle-gungen zu der Zahl von Seminartagen, sondern von In-halten, die in diesem Bundesfreiwilligendienst konkretvermittelt werden sollen. Dies fehlt im Gesetzentwurfvöllig. Das ist wieder einmal typisch: das eine sagen, dasandere tun.Typisch ist auch, von der Attraktivität des Bundesfrei-willigendienstes zu reden und dann nur eine Obergrenzefür Aufwandsentschädigungen einzuziehen. Die Linkefordert, dass eine angemessene Aufwandsentschädigunggezahlt wird.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene freie Verhandelbar-keit geht im Zweifel immer zulasten der jungen Men-schen. Das zeigt die praktische Erfahrung. Wir brauchendaher dringend eine Untergrenze für das Taschengeld.Alle jungen Leute müssen sich einen solchen Freiwilli-gendienst auch leisten können.Der Linken ist weiterhin wichtig, dass Jugendfreiwil-ligendienste ausschließlich und dauerhaft arbeitsmarkt-neutral sind. Junge Menschen dürfen auch nur in ge-meinwohlorientierten Bereichen eingesetzt werden. Derbisherige Zivildienst hat die dauerhafte Arbeitsmarkneu-tralität nicht gewährleisten können. Die dort Tätigenwurden immer seltener für zusätzliche Arbeiten einge-setzt. Deshalb will die Linke, dass die Arbeitsmarktneu-tralität regelmäßig, effizient und streng bei Trägern undEinsatzstellen geprüft wird. Wir stellen uns klar gegenjegliche Verdrängung betrieblicher Ausbildungsplätzesowie sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsver-hältnisse.
Es müssen ferner bei jedem Träger Mitbestimmungs-strukturen für die Jugendlichen geschaffen werden. Esgeht um echte Mitbestimmung und nicht nur um dieWahl von Vertretern. Auch die inhaltliche Ausrichtungmuss mitbestimmt werden können.Es ist aus linker Sicht dringend nötig, die Jugendfrei-willigendienste für jugendliche Migrantinnen und Mi-granten, für Menschen mit Behinderungen sowie für so-zial Benachteiligte zu öffnen. Das halten wir für sehrwichtig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11319
Harald Koch
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Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,der Bundesfreiwilligendienst ist unnötig. Er ist derzeitIhr einziges Aushängeschild im Bereich der Jugendpoli-tik.
Auf zentrale Fragen von jungen Menschen wie auf Fra-gen der Jugendarbeitslosigkeit finden Sie keine Antwor-ten. Stattdessen werden auch die Jugendfreiwilligen-dienste seit Jahren durch permanente Mittelkürzungenim Bundeshaushalt bei den Jugendverbänden geschwächt.Das ist wirklich erbärmlich. Der Bundesfreiwilligen-dienst wird gesicherte Zukunftschancen für junge Men-schen nicht ersetzen.Kurzum: Schaffen Sie die Wehrpflicht ab!
Schaffen Sie reguläre, qualifizierte Arbeitsplätze im so-zialen Bereich!
Schaffen Sie noch bessere Jugendfreiwilligendienste alssoziales Plus! Nehmen Sie sich der Jugendpolitik als Zu-kunftspolitik ernsthaft an!Danke schön.
Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Regierung hat uns Grüne ganz klar an ihrer Seite,wenn es darum geht, bürgerschaftliches Engagement undeine Kultur für Freiwilligkeit zu stärken. Sie müssen esaber auch tatsächlich tun. Der Bundesfreiwilligendienstist das unausgegorene Ergebnis einer beispiellosen Hau-ruckaktion.
Hatten Kanzlerin Merkel und die Herren Seehoferund Guttenberg die Wehrpflicht vor einem Jahr nochzum konservativen Marken- und Identitätskern erklärt,haben sie diesen mittlerweile über Bord geworfen. Dasist gut, und das war auch mehr als überfällig. Für denAusstieg aus der Wehrpflicht haben wir Grüne 30 Jahrelang geworben; das steht quasi in unserer grünen Ge-burtsurkunde.
Bis zum Jahr 2005 haben wir bei der SPD leider auf Gra-nit gebissen. Das kann man auch so deutlich sagen. Weilwir Grünen die Wehrpflicht für so überflüssig halten, tra-gen wir die Aussetzung als historischen Schritt mit.Schlecht an Ihrem Vorgehen ist allerdings die dilet-tantische und sprunghafte Umsetzung. Sie hätten einmalüberlegen müssen, welche Konsequenzen auf uns zu-kommen, wenn Wehrpflicht und Zivildienst fallen. DieBundesregierung handelt an dieser Stelle leichtfertig,weil die Folgewirkungen nicht genug durchdacht wor-den sind.Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßerfür den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgs-modell sein. Wer den Zivildienst beendet, muss die Pfle-gemisere und den Fachkräftemangel im Sozialbereichdringend bekämpfen. Das hat Minister Rösler ganz klarvernachlässigt.
Wer aus den Pflichtdiensten aussteigt, muss für150 000 junge Männer zusätzlich einen Ausbildungs-und Studienplatz bereitstellen; sonst droht eine Genera-tion Warteschleife. Ministerin Schavan hat das langeübersehen und dann ausgesessen.Wer Freiwilligendienste ausbauen will, der muss ersteinmal den ersten Schritt tun, nämlich ein Freiwilligen-dienstestatusgesetz machen und sich um eine weitereStärkung der Zivilgesellschaft kümmern. Mit dem jetztvorgelegten Gesetzentwurf tut Frau Schröder das glatteGegenteil.
– Das sage ich Ihnen jetzt gerne.Der erste zentrale Kritikpunkt ist, dass der Bundes-freiwilligendienst zu ineffizienten Doppelstrukturen undeiner Ungleichbehandlung der bestehenden Freiwilligen-dienste führt.
Die Grundkonstruktion ist einfach falsch: Auf der einenSeite haben wir die zivilgesellschaftlichen Freiwilligen-dienste vor Ort und auf der anderen Seite einen Bundes-staatsdienst. Auch Sie haben ja in Ihrer Rede hier einge-räumt, dass man langfristig eine Lösung aus einem Gussbenötigt und dass eine Zusammenführung notwendig ist.
Das zeigt doch, dass auch Sie mit dieser Konstruktionnicht gut leben können. Es ist ein Kardinalfehler, dassSchwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiterKlasse schaffen will.
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11320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Kai Gehring
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Sie sprechen immer von gleich guten Bedingungenfür alle Freiwilligen und Dienststellen. Das kommt abernur in Ihren Sonntagsreden vor, nicht aber in Ihrem Ge-setz. Damit wird eine Chance vertan; denn es ist über-haupt nicht akzeptabel, dass der Bundesdienst höher ge-fördert wird als das bewährte Freiwillige Soziale Jahrund das Freiwillige Ökologische Jahr.Es wird sich auch in Form geringerer Nachfrage nachdem Bundesdienst rächen, dass die Eltern von Bundes-dienstleistenden künftig den Kindergeldanspruch verlie-ren. Hier sparen Sie nicht nur an der falschen Stelle. Mitder Gewährung von Kindergeld hätten Sie wirklich mitder oft beschworenen Anerkennungskultur Ernst machenkönnen. Das tun Sie nicht. Sie setzen vielmehr Fehlan-reize, die Freiwillige, Träger und Dienststellen ausbadenmüssen.
Ein gelungener Systemwechsel vom Pflichtdienst zuFreiwilligendiensten hätte ein Gesamtkonzept ge-braucht. Dieses aufzustellen, hat Ministerin Schröderversäumt. Sie hätte eine breite gesellschaftliche Debatteunter Einbeziehung aller Beteiligten initiieren müssen.Dazu hätte sie sich auch mehrere Monate Zeit lassenkönnen. Aber der selbst verursachte Zeitdruck innerhalbder Koalition hat dazu geführt, dass die zivilgesellschaft-lichen Akteure überrumpelt wurden, dass der vor uns lie-gende Gesetzentwurf unausgereift und ein fraktionsüber-greifender Konsens verhindert worden ist.Wir befürchten Nachteile für die Erfolgsmodelle FSJund FÖJ. Sie bekommen künftig Konkurrenz durch die-sen Bundesdienst. Langfristig drohen die zivilgesell-schaftlichen Freiwilligendienste verdrängt zu werden.Diese Sorge muss man ernst nehmen. Das Bundesminis-terium hat zwar mit den Trägern ein Kopplungsmodellverabredet, das die Zahl der Bundesplätze an die FSJ-und FÖJ-Plätze bindet. Sie verweigern aber, dies auch inIhr Gesetz hineinzuschreiben. Wenn dieses informelleKopplungsmodell nicht mehr gilt, stellt sich schon dieFrage: Was passiert eigentlich mit den bewährten Ju-gendfreiwilligendiensten? Da ist Skepsis angebracht.
Ihr Bundesdienst tritt das Träger- und Subsidiaritäts-prinzip mit Füßen. Freiwilligendienste sollten von derZivilgesellschaft, von den Trägern, von den kleinen Ein-richtungen, von Verbänden und Vereinen organisiertwerden, weil es sich eben um eine besondere Form desbürgerschaftlichen Engagements handelt.
Sie schaffen aber einen Bundesdienst, der sogar ein öf-fentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet. Dasgeht nicht nur am Ziel vorbei, sondern auch an der Le-bensrealität der jungen Generation.
Sie haben völlig recht: Auch ältere Menschen brau-chen passgenaue Engagementmöglichkeiten. Dazu istder Bundesdienst jedoch aus unserer Sicht der falscheWeg. Es gab einen erfolgreichen Freiwilligendienst allerGenerationen. Hier hätte man ein Nachfolgeprogrammauf den Weg bringen können. Aber wenn Sie jetzt die20-Stunden-Regel für ältere Freiwillige festschreiben,stellt sich schon die Frage: Welche Auswirkungen hatdas auf die Arbeitsmarktneutralität?
Diese Arbeitsmarktneutralität, die schon beim Zivil-dienst nicht eingehalten wurde – sonst wäre die Aufre-gung gar nicht so groß –, wird hier jetzt womöglich erstrecht nicht eingehalten. Deshalb muss man sich das im-mer wieder anschauen.Ein ganz zentraler Kritikpunkt lautet: Statt Bürokra-tieabbau betreibt Schwarz-Gelb nichts anderes als Be-standsschutz für das Bundesamt für den Zivildienst. Da-bei hat das BAZ mit dem Ausstieg aus dem Zivildienstseine Kernaufgabe schlichtweg verloren.Es ist ein Treppenwitz, dass die Koalition nicht ein-mal mehr schlankere Strukturen anpeilt, obwohl dieMinisterin das auch immer wieder angekündigt hat, son-dern dem BAZ jetzt reihenweise Aufgaben zuweist undzuschaufelt. Das ist das Gegenteil von Bürokratieabbau.Mich würde es gar nicht wundern, wenn CDU und FDPin zwei Jahren nach noch mehr Personal für das Bundes-amt rufen.
Alles in allem sind wir der Überzeugung, dass dieBundesregierung die Chance verspielt, mit der Zivilge-sellschaft eine nachhaltige Ausbauoffensive für Freiwil-ligendienste auf den Weg zu bringen. Wir Grüne streitenweiter dafür, Quantität, Qualität und Attraktivität derFreiwilligendienste zu stärken und insgesamt bessereRahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagementzu fördern. Anstatt eine neue Bundesbürokratie aufzu-bauen, sollten wir die Mittel tatsächlich auf die Förde-rung von Freiwilligkeit konzentrieren. Weil Sie das nichttun, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Tu was für dein Land, tu was für dich – wer das von jun-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11321
Dr. Peter Tauber
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gen Menschen fordert, der muss in der Tat die richtigenRahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun wirmit dem Bundesfreiwilligendienst und mit der Stärkungder Jugendfreiwilligendienste. Unser Antrag liegt Ihnenvor.Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag gemein-sam vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zustärken. Was haben wir getan? Wir haben zunächst ein-mal die Deckelung der Platzförderung aufgehoben. JederPlatz im Jugendfreiwilligendienst wird künftig geför-dert. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwarschon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischenwerden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligen-dienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Le-gislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung einge-führt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarfbesser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereicheüber das Freiwillige Soziale Jahr und das FreiwilligeÖkologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausge-baut. Künftig können Jugendliche sich auch in der Poli-tik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der In-tegration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihrenIdeen einbringen. Das ist eine gute Sache.Für diesen Bereich stellen wir insgesamt 350 Millio-nen Euro zur Verfügung. Ich glaube, man kann mit Fugund Recht behaupten: Das ist die große gesellschafts-politische Entscheidung, das große gesellschaftspoliti-sche Projekt dieser Legislaturperiode. Ich danke derMinisterin, dass sie nicht mit dem Geld aus dem Zivil-dienst einen Beitrag zum Sparpaket geleistet hat, sodasswir das heute auf den Weg bringen können.
Es ist aber natürlich schwierig – damit wende ichmich an den Kollegen Gehring und auch an den Kolle-gen Rix –, wenn man einen solchen fundamentalenWechsel vornimmt. Da bleiben Fragen offen. Auchheute sind sie noch offen. Der Kollege Grübel hat dasKindergeld angesprochen. Man kann auch die Umsatz-steuerbefreiung nennen. Wir haben dort Hausaufgabenzu erledigen. Natürlich müssen wir hier nicht nach untennivellieren, sondern wir müssen das Ganze evaluieren,um am Ende besser zu werden.In meiner letzten Rede habe ich Sie eingeladen, dabeimitzumachen. Beim Kollegen Rix habe ich den Ein-druck, dass er sich ein bisschen auf uns zubewegt undden Weg mitgeht.
Beim Kollegen Gehring habe ich den Eindruck, dass eram Ende ein wenig in die Sprachmuster zurückfällt, diewir am Anfang der Debatte hatten.Das finde ich sehr schade; denn man kann konstatie-ren, dass wir jetzt zwei Säulen haben, die entgegen IhrerUnkenrufe gleichberechtigt nebeneinanderstehen.
– Doch, das stimmt. Behaupten Sie nicht das Falsche,Herr Gehring. Sie können es nachlesen. Wir haben da-rüber diskutiert. Sie behaupten es einfach nur. Den Ge-genbeweis sind Sie hier vorne eben schuldig geblieben.
Diese beiden Säulen haben wir, weil die Länder sichin der Kompetenzfrage nicht bewegen und der Bund sichauch nicht aus der Verantwortung, die er übernommenhat, zurückziehen will. Es ist auch gut, dass wir hier mitzwei Säulen ein Angebot für junge Menschen machen,die sich freiwillig engagieren wollen. Es bleibt dabei:Wir wollen das Ganze so organisieren, dass es keinenUnterschied für die Jugendlichen in den Freiwilligen-diensten und im BFD gibt, egal in welcher dieser beidenSäulen sie sich bewegen. Die Hausaufgaben, die wirnach wie vor zu erledigen haben, habe ich angesprochen.Dabei bleibt es auch; das ist keine Frage.Es gibt aber noch einige andere Dinge zu tun: Stich-wort „Anerkennungskultur“.
Natürlich müssen wir uns noch intensiv Gedanken da-rüber machen, was nicht nur wir als Politik, sondern auchdie Träger, die Einrichtungen, die Kommunen sowie dieLänder dazu beitragen können, damit es sich für jungeMenschen – neben der Erfahrung, die sie sammeln –lohnt, einen solchen Dienst zu tun. Ich glaube allerdings,dass wir dabei nicht nur über einen konkreten Nutzen re-den müssen, sondern es auch um die Frage der Wert-schätzung geht.
– Frau Präsidentin, ich glaube, der Kollege möchte eineFrage stellen.
Möchten Sie denn die Frage zulassen und damit Ihre
Redezeit unendlich verlängern?
Ich würde die Frage zulassen.
Bitte schön, Herr Gehring.
Ich rede nicht „unendlich“. Keine Sorge!
Bitte schön, Herr Kollege.
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11322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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(B)
Ich höre in den Debatten des letzten Dreivierteljahres
– eigentlich seit vielen Jahren –, dass man etwas für die
Anerkennungskultur tun muss. Ich würde gerne wissen
– vielleicht können Sie ein bisschen für die Regierung
sprechen; Frau Schröder ist zumindest anwesend –:
Gibt es in der Kultusministerkonferenz, in der Jugend-
ministerkonferenz oder in den ganzen Bund-Länder-Ver-
einbarungen konkrete Verabredungen zur Verbesserung
der Anerkennungskultur? Wie ist denn da der Fahrplan?
Die Bundesebene ist da doch ganz klar in der Initiatoren-
rolle.
Lieber Kollege, herzlichen Dank für die Frage. Sie
wissen – ich hoffe, dass Sie es wissen –, dass die Minis-
terin bei dieser Frage bereits initiativ ist: Es gibt einen
Gesprächskreis in ihrem Hause, in dem genau diese
Frage mit den Ländern und Kommunen erörtert wird.
Sie wissen auch, dass es unheimlich schwierig ist, von-
seiten des Bundes in gewisse Kompetenzen einzugrei-
fen. Ich nenne das Beispiel einer Anerkennung in Form
zusätzlicher Wartesemester: Das können wir in diesem
Hause, selbst wenn wir es wollten, nicht regeln; dazu
brauchen wir in der Tat die Kultusministerkonferenz und
die Länder.
Man kann andere Dinge hinzunehmen: die Frage, ob
Freiwillige das, was sie in ihrem Freiwilligendienst leis-
ten, bei einer möglichen Berufsqualifizierung anerkannt
bekommen. Auch das können wir nicht in jedem Fall in
diesem Haus regeln. Wir brauchen ein Miteinander. Wir
beginnen jetzt;
es geht, wie gesagt, um einen Prozess. Es wäre schön,
wenn Sie da mitgehen würden.
Herzlichen Dank, Sie dürfen sich gerne wieder setzen. –
Frau Präsidentin, keine Sorge, ich werde nicht ohne
Ende weiterreden.
Ich glaube, dass man das Ganze schön mit einem Zitat
von Konrad Adenauer zusammenfassen kann. Er hat ein-
mal gesagt, dass jeder einzelne Bürger das Gefühl und
das Bewusstsein haben muss, dass er selbst Mitträger
des Staates ist. Er müsse erkennen und wissen, dass es
ein gemeinsames Interesse gibt, das beachtet werden
muss, und dass das in seinem eigenen, ureigensten Inte-
resse geschieht.
Was heißt das? Wenn man das ernst nimmt, dann
muss man jungen Menschen in dieser Gesellschaft die
Chance geben, Verantwortung zu übernehmen. Genau
das wollen wir mit den Jugendfreiwilligendiensten und
dem Bundesfreiwilligendienst erreichen. Denn wir kön-
nen nicht von der jungen Generation erwarten, dass sie
irgendwann Verantwortung für Deutschland übernimmt,
wenn sie vorher keine Gelegenheit hatte, sich selbst und
ihre Fähigkeiten zu erproben. Deswegen bleibt es rich-
tig, dass wir diesen Weg gehen.
Wir brauchen auch künftig den Thorsten, der bei der
Caritas alte Menschen pflegt. Wir brauchen die Lisa-
Marie, die in einer Jugendwohngruppe der Diakonie mit
sozial benachteiligten jungen Menschen arbeitet, die
Melanie in der Schutzstation Wattenmeer, die Vogelzäh-
lungen vornimmt und Wattexkursionen durchführt, den
Giovanni im Sportverein,
die Heike bei der Hausaufgabenbetreuung des Förder-
vereins der örtlichen Schule, den Murat im kommuna-
len Integrationsprojekt, die Sabine bei der Aktion Süh-
nezeichen Friedensdienste, die ein Jahr in Israel
verbringt – 800 junge Menschen aus Deutschland ma-
chen das gerade –, auch den Lars, der freiwillig Wehr-
dienst leistet und sagt:
„Bevor ich in den Hörsaal gehe, trete ich auf dem Ap-
pellplatz an und gehe über die Hindernisbahn.“ All das
gehört zusammen. Wir müssen jungen Menschen die
Chance geben, Verantwortung für unser Land zu über-
nehmen. Wenn das freiwillig geschieht, ist das eine wun-
derbare Sache.
Ich habe Sie schon letztes Mal eingeladen, mitzuma-
chen. Sie haben jederzeit die Chance dazu; die Türen
stehen offen. Vielleicht nutzen Sie sie das nächste Mal.
Darüber würde ich mich sehr freuen.
Herzlichen Dank.
Rolf Schwanitz hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Drei Feststellungen sind mir heute bei der ab-schließenden Beratung des Gesetzentwurfes wichtig.Erste Feststellung. Der Gesetzentwurf ist keine Errun-genschaft, schon gar keine alternativlose Errungen-schaft, sondern das Ergebnis einer Notoperation; Sie zie-hen das im Schnellverfahren durch das Parlament.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11323
Rolf Schwanitz
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Der Anlass für diese Notoperation ist natürlich die über-stürzte Aussetzung der Wehrpflicht, die Sie vorgenom-men haben. Genauso, wie Sie die Strukturen im Bundes-wehrbereich überstürzt auf die neue Situation einstellen,tun Sie das angesichts des Wegfalls des Zivildienstesauch bei der sozialen Infrastruktur.Sie sind übrigens an dieser Stelle realistisch. Dasmerke ich, wenn ich in den Text des Gesetzes schaue.Denn der Gesetzentwurf besagt, es gehe um die Mini-mierung der negativen Effekte. Also bitte schön: BackenSie kleine Brötchen. Das ist nicht die soziale Errungen-schaft, sondern der Versuch der Nothilfe aufgrund einesDilemmas, das Sie selbst geschaffen haben, meine Da-men und Herren.
Zweite Feststellung. Anstatt auf wirkliche Reformenzu setzen und den Freiwilligendienst sowie die bewähr-ten Strukturen zu stärken, sind Sie auf ein altes Staats-denken zurückgefallen und haben nun einen neuen, zu-sätzlichen staatlichen Freiwilligendienst etabliert – mitallen Nachteilen und Folgen, die hier schon diskutiertworden sind.Wir haben Ihnen frühzeitig gesagt: Nehmen Sie dasfreiwerdende Geld – das ist für einen Haushälter nichtselbstverständlich – und weisen Sie große Teile davondem Freiwilligendienst an.
Denn wir wissen: Dort ist die Nachfrage faktisch dreimalso groß wie das bisherige Angebot.Sie, Frau Ministerin, haben bei dieser Ausgangssitua-tion diese Option nach meiner Überzeugung niemalsernsthaft erwogen.
Sie haben zwei Gegenargumente gebracht, zu denen ichetwas sagen möchte.Das erste Gegenargument hieß, es gebe ein Gebot derinstitutionellen Vorsorge. Das heißt, für den plötzlichenFall, dass die Wehrpflicht wieder aktiviert wird, müsseman die staatlichen Strukturen vorhalten. – Ich bin ge-spannt, ob im Herbst, wenn das Standortkonzept für dieBundeswehr im Deutschen Bundestag diskutiert wird,die Kasernen in Zellophan gepackt und vorgehalten wer-den, meine Damen und Herren.
Eigentlich dürfte man solche schlichten Argumente von-seiten der Bundesregierung gar nicht mehr zulassen.Das zweite Argument, das Sie gebracht haben, war, esfehle beim Freiwilligendienst die Finanzierungskompe-tenz des Bundes. Deswegen dürfe man nicht über dasheutige Maß hinausgehen und finanziell fördern. Mitt-lerweile ist diese These mindestens zweifach widerlegtworden. Das geschah zum einen durch die heutige Lageselbst. Die Länder geben ausweislich ihrer eigenen Zah-len rund 20 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilli-gendienste aus.
Übrigens stammt der größte Teil davon aus ESF-Mittelnund nicht einmal aus originären Landesmitteln.
Schon 2011, also in diesem Jahr, stehen diesen20 Millionen Euro 50 Millionen Euro an Förderung durchden Bund gegenüber.
Es gibt sogar vier Länder, die dafür noch nicht einmal ei-gene Landesmittel zur Verfügung stellen.
Also tun Sie doch nicht so, als sei das ein verfassungs-widriger Zustand, meine Damen und Herren.
Völlig absurd wird diese Frage beim Blick auf dasnächste Jahr 2012. Dann werden Sie – das kritisieren wirnicht – 100 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilli-gendienste ausgeben. Das ist das Fünffache der Länder-mittel – ich rechne die ESF-Mittel hinzu – oder dasZehnfache der Ländermittel ohne die ESF-Mittel.
Also hören Sie auf mit solch künstlichen Argumenten, esgebe keine Finanzierungskompetenz des Bundes. Es gibtkeine Legimitation für Doppelstrukturen. Das ist die Si-tuation.
Dritte Feststellung. Sie haben nicht nur im Zusam-menhang mit dem Wegfall des Zivildienstes die Situa-tion schlecht vorbereitet, sondern Sie haben auch in Ih-rem eigenen Haus die Hausaufgaben nicht gemacht.
Damit meine ich natürlich das Bundesamt für den Zivil-dienst. Sie haben erst einmal auf den windigen Vor-schlag von Frau von der Leyen gesetzt, dass dort das Bil-dungspaket für Familien mit Kinderzuschlag verwaltetwerden sollte. Ich weiß gar nicht, wie Beamte aus Kölnden Musikunterricht im Erzgebirge hätten kontrollierensollen.
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11324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Rolf Schwanitz
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Ich bin froh, dass der Bundesrat diesen Unsinn verhin-dert hat, meine Damen und Herren.
Nachdem sich diese Situation jetzt erledigt hat, sagenSie: Wir ziehen von Trägern, von Fachleuten, von Ex-perten vor allen Dingen als Regiefunktion Programm-steuerungselemente zurück in das Amt. Mit dieser Tätig-keit sollen 120 Beamte in Lohn und Brot kommen.Dabei wird auch Expertise verloren gehen.
Auch darüber müssen wir zu gegebener Zeit noch einmalreden.Am schlimmsten allerdings finde ich, dass rund30 Prozent der Beschäftigten des Bundesamtes, alsoetwa 200 Planstellen, bis zum heutigen Zeitpunkt nochnicht wissen, mit welcher Aufgabe sie künftig ausgestat-tet werden sollen.
Ich bedanke mich bei allen Fraktionen, dass gesternder Haushaltsausschuss Folgendes gesagt hat: Hier mussein Personalkonzept auf den Tisch, das muss im Parla-ment beraten werden. – Denn diese Unsicherheit ist ge-genüber den Beschäftigten und gegenüber dem Steuer-zahler völlig unzumutbar.
Sie starten jetzt eine Öffentlichkeitskampagne. In denAusschreibungsunterlagen zu dieser Öffentlichkeitskam-pagne habe ich einen schönen Satz gefunden, den ich zi-tieren möchte. Dort heißt es:Die Kampagne– es geht um den Bundesfreiwilligendienst –soll darüber hinaus deutlich machen, dass dasBMFSFJ kompetent, verantwortlich und erfolgver-sprechend auf die Aussetzung der Wehrpflicht rea-giert hat, und die positive Rolle von Bundesfamili-enministerin Schröder kommunizieren.
Echte Reformpolitik hätte diese Schminke nicht nötiggehabt.
Mehr Mut zu echter Reformpolitik und weniger Engage-ment für die Fassade, das hätte dem Freiwilligendienstgutgetan und auch Ihnen persönlich.Herzlichen Dank.
Florian Bernschneider hat jetzt das Wort für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich finde es interessant, mit welcher Doppelzün-gigkeit die Opposition hier argumentiert. Auf der einenSeite regen Sie sich darüber auf, wie groß der staatlicheEinfluss auf den Bundesfreiwilligendienst ist, und beto-nen, wie schlimm es ist, dass der Staat jetzt auf die Zivil-gesellschaft Einfluss nimmt. Auf der anderen Seite ha-ben Sie jede Menge Forderungen, was wir noch allesgesetzlich regeln müssen, damit die Zivilgesellschaft dasja nicht selbst regelt.
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Zivilgesellschaft weiß vielbesser, wie der Unterricht pädagogisch zu gestalten ist.Das können wir in einem Gesetz gar nicht so gut regeln.
Seit August 2010 debattieren wir hier im Parlamentüber die Pläne der Koalition aus Union und FDP zurAussetzung der Wehrpflicht und damit auch über dieAussetzung des Zivildienstes. Schon im Juni 2010 hatdie Ministerin im Ausschuss angekündigt, eine Erhe-bung durchzuführen, welche Folgen die Aussetzung derWehrpflicht für den Zivildienst hat.
Ich glaube, dass Sie sich jetzt schon ein halbes Jahr langdarüber ärgern, dass es nun Union und FDP sind, die die-sen wichtigen Schritt unternehmen. Das kann ich zwargut verstehen, aber heute, ein halbes Jahr später, kannmir niemand erzählen, dass diese Lesung für ihn überra-schend kommt. Sie können nicht sagen, dass die Bera-tungen im Schweinsgalopp stattgefunden hätten.
Union und FDP haben das vergangene halbe Jahr ge-nutzt, um offene Fragen gemeinsam zu klären. Es gingdabei um offene Fragen, die wir uns gestellt haben, undum offene Fragen, die Sie gestellt haben. Zum Beispielging es um die Frage, wie wir verhindern können, dassder Bundesfreiwilligendienst – das wurde auch heute oftangesprochen – die Existenz der bestehenden Freiwilli-gendienste FSJ und FÖJ gefährdet. Wir legen Ihnenheute eine Antwort auf diese Frage vor: Das Kopplungs-modell und die Stärkung der Jugendfreiwilligendienstesorgen dafür. Beide Säulen sind nur dann stark, wennbeide Bereiche miteinander und nicht gegeneinander ar-beiten.Wir haben das vergangene halbe Jahr auch genutzt,um die Sonntagsreden, die wir im Zusammenhang mitden Jugendfreiwilligendiensten alle – das sage ich ganzoffen – viel zu oft gehalten haben, endlich in konkretePunkte zu überführen. In Ihren Anträgen heißt es ganzabstrakt: Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste neuenZielgruppen eröffnen. Wir machen Ihnen jetzt endlicheinen konkreten Vorschlag, wie das aussehen kann:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11325
Florian Bernschneider
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50 Euro mehr zusätzliche Bildungsförderung für Ju-gendliche mit besonderem pädagogischen Förderbedarf.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage zulas-
sen?
Nein. – Wir haben das vergangene halbe Jahr aber
auch genutzt, um ein paar Realitäten anzuerkennen, zum
Beispiel, dass für FSJ und FÖJ die Länder zuständig sind
und der Bund nur einen relativ geringen Spielraum hat.
Diesen Spielraum nutzen wir jetzt. Statt mit 72 Euro
werden FSJ-Plätze künftig mit 200 Euro monatlich ge-
fördert.
SPD und Grüne gehen auf diese Realitäten in ihren
Reden selten ein. Sie haben die Realität aber längst er-
kannt. Das sieht man, wenn man ihre Anträge liest. SPD
und Grüne fordern in keinem Satz, die Pauschalen bzw.
die Bildungsförderung, die wir bei FSJ und FÖJ vorse-
hen, auf über 200 Euro anzuheben. Anscheinend ist Ih-
nen also bewusst, dass der Bund viel mehr gar nicht ma-
chen kann. Die Linken hingegen fordern mehr als
200 Euro. Das habe ich in Ihrem Antrag gelesen. Aller-
dings müssen auch Sie anerkennen, dass wir dafür nicht
zuständig sind.
Das ist wie immer: Wenn linke Politik auf die Realität
trifft, funktioniert das nicht richtig.
Das sieht man in den Ländern, in denen Sie mitregieren.
Schauen Sie einmal in die Länder – ich sage das, weil
das erwähnt wurde –, in denen die Linke die Verantwor-
tung für die Freiwilligendienste trägt. Schauen Sie ein-
mal, was die Linke in diesen Ländern für die Freiwilli-
gendienste tut, nämlich relativ wenig.
Es passiert selten – auch das muss man einmal fest-
halten –, dass die Forderungen der Opposition hinter de-
nen der Regierung zurückbleiben. Die SPD fordert
30 000 Freiwilligendienstplätze. Die Grünen fordern
eine Verdoppelung der Freiwilligendienstplätze. Wir le-
gen Ihnen heute ein Konzept vor, mit dem eine Ver-
dreifachung der Freiwilligendienstplätze in Deutschland
möglich ist. Das geht natürlich nur, weil wir mit der
zweiten Säule, nämlich dem Bundesfreiwilligendienst,
eine Möglichkeit geschaffen haben, die Fördermöglich-
keiten des Bundes voll auszureizen.
Deswegen lasse ich mir von Ihnen nicht länger erzäh-
len, wir hätten kein Gesamtkonzept vorgelegt. Wie ist
denn Ihr Gesamtkonzept? Ein Blick in den Antrag der
Grünen gibt darüber gut Auskunft. Darin steht: Wir wol-
len uns jetzt mit Bund, Ländern und Trägern zusammen-
setzen und am Kaffeetisch darüber beraten, wie dieses
Gesamtkonzept aussehen soll.
– Sehr geehrter Herr Kollege, das alles ist schön und
richtig. Aber das ist doch genau das, was Sie hier for-
dern. Sie fordern jetzt runde Tische, um zu klären, wie es
weitergehen soll.
Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Am 1. Juli set-
zen wir die Wehrpflicht aus. Ich finde es toll, dass die
Grünen zustimmen, und ich finde das sehr vernünftig.
Aber es ist doch nicht vernünftig, sich jetzt zwei, drei
Jahre lang an runde Tische zurückzuziehen
und mit den Ländern darüber zu streiten, wer für die
Freiwilligendienste überhaupt zuständig ist.
Möchten Sie denn eine Frage der Kollegin Malczak
zulassen?
Nein.
Ihre Begründung, warum Sie den Bundesfreiwilligen-dienst, die Doppelstrukturen so strikt ablehnen, ist allerEhren wert. Ich finde es vernünftig, dass Sie sagen, Siehätten das lieber in einer Säule. Auch wir hätten das lie-ber in einer Säule. Ich versuche Ihnen gerade zu erklä-ren, dass das wegen der Zuständigkeiten von Bund undLändern nur schwer möglich ist. Aber was ich so absurdfinde, ist, dass Sie diese Doppelstruktur nach wie vor alseines Ihrer Hauptargumente dafür verkaufen, warum Siedem Bundesfreiwilligendienst nicht zustimmen können.Was hatten wir denn bis jetzt? Es gab den Zivildienstund die Freiwilligendienste.
Waren das keine Doppelstrukturen, die da über Jahrehinweg bestanden haben?
War es nicht ungerecht, dass ein Freiwilliger weniger be-kommen hat als ein Zivildienstleistender, obwohl sie diegleichen Aufgaben hatten?
Sie haben die Ungerechtigkeit mit der 14-c-Regelungnoch einmal gesteigert, indem sogar innerhalb der Frei-
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11326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Florian Bernschneider
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willigendienste junge Frauen Nachteile gegenüber jun-gen Männern hatten.
Ich gebe zu: Auch uns gelingt es mit diesem Modellnicht, das in eine Struktur zu packen. Aber das ist nichtsNeues; das habe ich Ihnen gerade gesagt. Die Doppel-strukturen gab es schon in der Vergangenheit. Aber wirbeseitigen wenigstens die Ungerechtigkeiten. Sie konn-ten in der Vergangenheit sehr wohl ruhig damit schlafen,beides zu haben, nämlich Ungerechtigkeiten und Dop-pelstrukturen. Deswegen: Nehmen Sie das nicht längerals vorgeschobenes Argument!
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem An-trag der Linken sagen. Ich habe heute Frau Dittrich alsausgewiesene Expertin der Linken für bürgerschaftlichesEngagement vermisst. Aber auch der andere Redner hatdeutlich gemacht, dass bei den Linken einiges durchei-nandergeht, wenn es um bürgerschaftliches Engagementgeht. Das merkt man allein daran, dass das Thema Min-destlohn beim bürgerschaftlichen Engagement immereine herausragende Rolle bei Ihnen spielt.
Bei Ihnen geht auch jetzt wieder etwas durcheinander.
In der Nr. 1 g Ihres Antrags führen Sie aus, dass der Be-zug des Kindergeldes um die Zeit des Jugendfreiwilli-gendienstes verlängert werden soll. Das ist Ihre Forde-rung.
Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.
Ja.
Diese Forderung ist völlig unnötig; denn das ist schon
lange der Fall. Aber ich weiß, was Sie damit meinen,
und es ist lieb gemeint. Darauf sind viele Kollegen ein-
gegangen. Es geht darum, das Kindergeld im Bundes-
freiwilligendienst einzuführen. Das sollte Ihnen erst ein-
mal bewusst sein.
Herr Kollege.
Das müssen wir noch schaffen; das ist wichtig.
Die FDP-Fraktion fordert die Bundesregierung auf,
hier noch ein besseres Konzept nachzuliefern. Dazu fin-
den zurzeit schon Gespräche statt.
Herr Kollege.
Ich bin zuversichtlich, dass das funktioniert, Frau Prä-
sidentin, und komme jetzt zum Ende.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-
legin Malczak.
Sehr geehrter Herr Kollege Bernschneider, Sie selbst
haben angekündigt, jetzt würden noch im Nachhinein
Gespräche stattfinden, also doch auch bei Ihnen runde
Tische. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, das zu ma-
chen, bevor das Gesetz heute hier verabschiedet wird.
Der Kollege Gehring hat vorhin klargemacht: Uns geht
es nicht um runde Tische, sondern es gibt bestimmte
Gremien wie den Bundesrat, die Kultusministerkonfe-
renz und die Jugendministerkonferenz.
Ich möchte Ihnen nur eine kurze Frage stellen: Mei-
nen Sie nicht, dass Sie die Zeit im Zusammenhang mit
der Verkürzung des Wehrdienstes und des Zivildienstes
auf sechs Monate, die jetzt wieder hinfällig ist, vielleicht
besser dafür hätten verwenden sollen, die entscheiden-
den Gremien vorher einzubinden? So müssten Sie nicht
schon heute ankündigen, dass die Gespräche im Nachhi-
nein folgen und dass dann Nachbesserungen kommen.
Herr Bernschneider, bitte.
Frau Kollegin, darauf möchte ich gerne antworten.Sie wissen: Manchmal ist es eben so, dass erst der eineeinen kleinen Schritt gehen muss, um dann gemeinsameinen großen Schritt zu gehen. So war das bei der FDPund der Union. Sie wissen, dass sich die FDP von An-fang an gewünscht hat, die Wehrpflicht auszusetzen. Wirkonnten dann die Union im Laufe der Verhandlungen da-von überzeugen, dass es tatsächlich sinnvoll ist, daraufzu verzichten.Ich finde das gar nicht schlimm. Sie sollten sich eherfragen, warum Sie es in Ihrer Regierungszeit niemals ge-schafft haben, die SPD zu überzeugen. Von daher,glaube ich, ist dies kein Grund, die FDP anzugreifen. Ichfinde, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Liberalen ha-ben es geschafft, den Koalitionspartner davon zu über-zeugen, die Wehrpflicht auszusetzen. Davon könnten Siesich eine große Scheibe abschneiden.
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(C)
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Norbert Geis hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Natürlich ist die Einführung des Bundesfreiwil-
ligendienstes eine Reaktion auf die Aussetzung der
Wehrpflicht und damit verbunden des Zivildienstes. Was
ist daran falsch? Die Aussetzung der Wehrpflicht und
damit verbunden die Aussetzung des Zivildienstes mar-
kieren einen der größten Veränderungsprozesse der letz-
ten 20 Jahre. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Bun-
deswehr, sondern vor allem auch auf die soziale Struktur
unserer Gesellschaft.
Der Staatsbürger in Uniform war, wie das Gelöbnis es
sagt – Hunderttausende von Jugendlichen haben dieses
Gelöbnis abgelegt –, bereit, seinem Land zu dienen und
das Recht und die Freiheit seines Volkes tapfer zu vertei-
digen. Das sind die Worte in dem Gelöbnis. Dem Zivil-
dienst lag eine ähnliche Aufgabe zugrunde. Der Zivil-
dienst hat den Jugendlichen wohl zum ersten Mal in
seinem Leben mit der Not und der Bedürftigkeit in unse-
rer Gesellschaft konfrontiert. Der Jugendliche hat da sei-
nen Beitrag geleistet. Das dürfen wir heute nicht verges-
sen. Der Zivildienst und die Wehrpflicht haben 50 Jahre
lang in unserer Gesellschaft segensreich gewirkt und ha-
ben mit einen großen Anteil daran, dass sich die Jugend-
lichen am Ende in einer ganz großen Zahl mit unserer
freiheitlichen Gesellschaftsordnung, mit unserem Rechts-
staat identifiziert haben. Das war eine große Leistung.
Den Gedanken, dass man eine gewisse Zeit seines Le-
bens dem Gemeinwesen widmet, greift der Bundesfrei-
willigendienst auf; diesen haben zuvor auch schon die
Jugendfreiwilligendienste aufgegriffen. Ich halte es für
ausgezeichnet, dass wir die Linie, die in unserer Gesell-
schaft entstanden ist, durch den Bundesfreiwilligen-
dienst fortsetzen.
Die Abschaffung des Zivildienstes – das ist heute
schon gesagt worden – reißt natürlich eine Lücke in un-
sere Gesellschaft. Gerade weil wir eine älter werdende
Gesellschaft sind und gerade weil viele Menschen in ho-
hem Alter pflegebedürftig sind, große Bedürftigkeit ha-
ben, war es gut und richtig – das haben uns alle Verbände
gesagt –, dass wir Zivildienstleistende hatten. Diese Zi-
vildienstleistenden haben zusammen mit den Verbänden,
den großen Verbänden wie Caritas, Diakonie, Arbeiter-
wohlfahrt und anderen Wohlfahrtsverbänden, aber auch
zusammen mit kleineren Gruppierungen einen großen
Dienst an der Gesellschaft erbracht. Diesen Dienst soll
nun der Bundesfreiwilligendienst fortsetzen. Was ist da-
ran falsch?
Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Einfüh-
rung des Bundesfreiwilligendienstes. Das bestätigen die
Zusage und die Anerkennung der großen Verbände, die
ich eben genannt habe. Sie alle freuen sich und sind
dankbar, dass der Bund einen solchen neuen Dienst er-
richtet. Wir sollten den Bundesfreiwilligendienst so se-
hen, wie er gesehen werden muss.
Er ist eine Chance, und zwar nicht nur für Jugendliche,
sondern auch für Erwachsene – auch für Rentner –, die
bereit sind, einen Teil ihres Lebens der Gesellschaft zu
opfern. Das ist, glaube ich, eine gute Seite innerhalb un-
serer Gesellschaft; das wird auch nicht geringer.
Herr Geis, würden Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Dittrich von der Linken zulassen?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Geis, Sie können sich sicherlich an die Sachver-
ständigenanhörung zum Bundesfreiwilligendienst erin-
nern. Sie haben gerade gesagt: Der Zivildienst, der jetzt
wegfallen wird, wird eine große Lücke reißen. Können
Sie uns im Parlament vielleicht erklären, wie das Fehlen
des Zivildienstes, der arbeitsmarktneutral gewesen sein
soll, eine große Lücke reißen wird? Wie ist dieser Wider-
spruch zu erklären? Wie kann es sein, dass auch der
Bundesfreiwilligendienst arbeitsmarktneutral sein wird?
Könnten Sie das bitte einmal erklären? Dann wären wir
hier im Parlament – auch die jungen Menschen auf der
Zuschauertribüne – vielleicht etwas weiter.
Ich glaube nicht, dass der Bundesfreiwilligendiensteine Konkurrenz zum Ehrenamt darstellt. Ich glaubeauch nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine Kon-kurrenz zu den Jugendfreiwilligendiensten oder den Be-schäftigten darstellt.
– Er ist ganz anders strukturiert.
Für die Beschäftigten ist es der Beruf, dem diese Men-schen nachgehen. Der Bundesfreiwilligendienst sieht
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11328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Norbert Geis
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eine Dauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr vor, unddie Entlohnung ist niedrig. Wir wissen, dass Kleidungund Wohnraum gestellt und auch ein Taschengeld gezahltwerden kann. Das alles kann für den Beschäftigten imGesamtrahmen der sozialen Fürsorge in unserem Landaber kein Ersatz sein. – Sie dürfen sich wieder setzen.
Nein, das können Sie nicht.
Ja, das ist nicht möglich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube
fest, dass der Sozialstaat ohne die Freiwilligendienste
und ohne die vielen bürgerschaftlichen Engagements
– dazu zähle ich auch die Caritas, natürlich auch die Dia-
konie und die Arbeiterwohlfahrt – nicht aufrechterhalten
werden kann. Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür,
dass er aufrechterhalten werden kann, ist, dass wir Frei-
willige finden, die bereit sind, in diesen Organisationen
tätig zu sein.
Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb die Frei-
willigen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft
spielen können. Durch die Freiwilligen entsteht eine
neue Bindungskraft innerhalb der Gesellschaft. Dadurch,
dass die Menschen aufeinander zugehen, sich gegensei-
tig und den Bedürftigen helfen, entsteht Bindung inner-
halb der Gesellschaft.
Dass es Freiwilligendienste gibt – ob kleinere Organi-
sationen, größere Gruppierungen oder große wie den Ca-
ritasverband –, beweist, dass es innerhalb der Gesell-
schaft eine Kraft gibt, die nicht dem Staat zugeordnet
werden kann, die aber auch nicht dem durch Konkurrenz
und Wettbewerb gekennzeichneten Markt zugeordnet
werden kann, sondern einen selbstständigen Raum aus-
füllt. Das ist das, was vorhin genannt worden ist. Es geht
darum, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu über-
nehmen. Das ist das Potenzial, das wir im Freiwilligen-
dienst sehen. Er ist eine Art Partizipation an der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit, an dem Leben der
Gesellschaft. Zwischen Staat und Markt entsteht eine
dritte Säule: die Säule der freiwilligen Betätigung der
Menschen, der Freiwilligkeit und des bürgerschaftlichen
Engagements.
Ich halte dies für sehr wichtig. Ich bin der Bundesre-
gierung und der Frau Ministerin außerordentlich dank-
bar, dass wir den Ansatz, für den Zivildienst nun den
Bundesfreiwilligendienst einzuführen, gefunden haben.
Danke schön.
Der Kollege Klaus Riegert hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Aus Sicht des Unterausschusses Bürgerschaftliches En-gagement bin ich froh, dass die ganze Debatte von dergemeinsamen Sorge und dem Willen getragen war, einenKonsens zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage-ments zu erzielen. Dafür möchte ich herzlich danken.
In der Tat stehen wir vor einer historischen Zäsur. Wirgehen nämlich vom Zivildienst, von einem Zwang, hinzur Freiwilligkeit. Ich glaube, dies ist ein entscheidenderPunkt, an dem wir ansetzen müssen. Die Demokratielebt bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selbstnicht schaffen kann. Deshalb müssen wir auf Freiheit,Beteiligung und Teilhabe achten und uns Gedanken ma-chen, wie wir junge Menschen motivieren, sich einzu-bringen und im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes,der nicht wie der Zivildienst Zwang ist, sondern freiwil-lig, Dienst für die Gesellschaft zu tun.Dabei müssen wir individuelle Aspekte wie die so-ziale Situation oder die Flexibilität des Engagements ge-nerationsübergreifend beachten, damit das Angebot beiBerufseinsteigern, Menschen in Übergängen, Schülern,Studenten, Vorruheständlern und benachteiligten Men-schen ankommt. Für den Dienst als Bildungsinstrumentbraucht man im Hinblick auf die Freiwilligkeit beson-dere Motivation. Forscher würden sagen: Motivation istentweder intrinsisch oder extrinsisch. – Jetzt sehe ich inein paar verdutzte Gesichter. Da man in Debatten auchetwas lernen soll,
habe ich die entsprechende Wikipedia-Definition mitge-bracht.
Der Begriff intrinsische Motivation bezeichnet dasBestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun
Bei der extrinsischen Motivation steht dagegen derWunsch im Vordergrund, bestimmte Leistungen zu
vermeiden möchte. Die neuere Motivationsfor-schung unterscheidet zwischen zwei intrinsischenund drei extrinsischen Quellen der Motivation.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11329
Klaus Riegert
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So weit Wikipedia. – Diese Vielfalt, auf den kurzenNenner gebracht, sollten wir zulassen, und wir solltenneben dem neuen Bundesfreiwilligendienst auch die bis-herigen Dienste würdigen. Deshalb, glaube ich, ist andieser Stelle ein herzlicher Dank an die engagierten jun-gen Menschen, Männer und Frauen, im FSJ, im FÖJ, inden Auslandsdiensten und in „weltwärts“ angebracht.
Dazu müssen wir Angebote machen; das wurde jaschon hinreichend diskutiert. Wir müssen auch neue Ein-satzfelder generieren und dafür werben und hier eineneue Kultur der Freiwilligkeit – wie es die Frau Bundes-ministerin genannt hat – herstellen. Die Rahmenbedin-gungen dafür sind sehr wichtig. Das haben wir ja jetztdie ganze Zeit diskutiert. Ich glaube, außer dem, was wirhier diskutieren, geht es auch darum, dass wir jungeLeute für diesen Dienst begeistern. Wir müssen ein posi-tives Klima schaffen, damit die jungen Leute, Frauenund Männer, sich freiwillig für den Dienst bewerben.
Herr Kollege, Herr Koch würde Ihnen gern eine Zwi-
schenfrage stellen.
Ja, gerne.
Bitte schön.
Werter Herr Kollege, eigentlich wollte ich die Frage
schon den Vorrednern aus Ihrer Fraktion stellen. Sie ha-
ben sich jetzt auch auf die freiwillig Dienstleistenden,
FSJ und FÖJ, berufen und haben gesagt, diese würden
diesen Dienst angeblich begrüßen. Es gibt einen Rat der
Sprecherinnen und Sprecher der Schleswig-Holsteiner
FSJler und FÖJler, der über 1 000 der freiwillig Dienen-
den vertritt und ein Papier erarbeitet hat. Dieses ist im
März unter dem Titel – ich halte es einmal hoch – „Was
für einen Freiwilligendienst wollen wir haben?“ verab-
schiedet worden. Ich zitiere einmal daraus und möchte
dann kurz Ihre Position dazu hören.
Der Bundesfreiwilligendienst ist die unnötige Ein-
richtung einer Doppelstruktur, die für Verwirrung
der jungen Menschen sorgt, die sich engagieren
wollen.
Ich will nur sagen: Berufen Sie sich also bitte nicht
auf die freiwillig Dienstleistenden in den Freiwilligen-
diensten.
Lieber Herr Kollege, da haben wir – wie die Debattegezeigt hat – ein rechtliches Problem. Da waren wir jaunterschiedlicher Meinung. Auch der Kollege Schwanitzhat da die Verfassungslage einmal kurz übergangen.
Im Bereich des Zivildienstes geht es nicht um eine Ab-schaffung, sondern um eine Aussetzung. Auch bei Aus-setzung des Wehrdienstes wollen wir für die Zukunft dienotwendigen Rechtsgrundlagen behalten, um auf eineSicherheitslage vorbereitet zu sein, die eine Wiederein-richtung des Wehrdienstes, was wir uns alle nicht wün-schen – wir gehen auch nicht davon aus, dass das derFall sein wird –, nötig macht. Aufgrund der Verfassungs-lage war es zwingend notwendig, den Gesetzentwurf sozu gestalten, wie er vorliegt.Wenn Sie noch ein bisschen gewartet hätten, dannhätten Sie gemerkt, dass ich in meinem Schlusswort ver-suchen wollte, die Brücke in die Zukunft zu schlagen.
Wenn man ein neues Instrument wie den Bundesfrei-willigendienst schafft und aus Zwang Freiwilligkeitmacht – darüber habe ich ja schon gesprochen –, dannmuss man die Instrumente natürlich auch ausprobieren.Es ist die Frage, ob man sich zuerst an den runden Tischsetzen sollte oder anschließend, wenn man dann auf-grund eines Gesetzes weiß, worüber man spricht. DerKollege Rix hat es sehr vernünftig formuliert, indem ergesagt hat, dass man evaluieren muss. Das heißt, manmuss sich natürlich anschauen: Wie funktioniert das Ge-setz? Wie kann man es weiterentwickeln, um es dann ineine gute Zukunft zu führen?Wenn irgendwann einmal der Tag kommt, an dem dasaufgrund der Verfassungslage zulässig ist, dann kannman die Freiwilligendienste auch vereinen.
Momentan haben wir aber eine andere Gesetzeslage.Deswegen haben wir das so beschlossen.
– Wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie eineZwischenfrage stellen, sonst geht das von meiner Zeitab.
Ich nehme den Faden wieder auf und knüpfe an meineRede an.Wir müssen diesen Bundesfreiwilligendienst positivbegleiten, wir müssen junge Menschen für diesen Dienstbegeistern, und wir müssen die Einsatzstellen auffor-dern, den Dienst so auszugestalten, dass er attraktiv wirdund sich junge Menschen dadurch anerkannt fühlen.
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11330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Klaus Riegert
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Ich glaube – der Kollege Markus Grübel hat das jaschon gesagt –, dass wir heute einen historischen Tag ha-ben. Nach 50 Jahren Zivildienst haben wir heute nämlichdie Stunde null des Bundesfreiwilligendienstes. Es freutmich, dass ich als letzter Redner sozusagen den Segenfür dieses Gesetz geben darf.
Ob es eine Mehrheit gibt, müssen Sie jetzt bestimmen.Ich wünsche mir 50 gute Jahre für den Bundesfreiwilli-gendienst.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurEinführung eines Bundesfreiwilligendienstes.Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/5249, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 17/4803 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist derGesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, mögesich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in der Schlussabstimmung mitdem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenom-men.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/5255. Wer stimmt dafür? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantragist bei Zustimmung durch die SPD-Fraktion und dieFraktion Die Linke, bei Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen und bei Ablehnung durch die Koalitionsfraktio-nen abgelehnt.Tagesordnungspunkt 28 b. Wir setzen die Abstim-mungen über die Beschlussempfehlung fort. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionenvon CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4692 mitdem Titel „Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligen-dienste – Bürgerschaftliches Engagement der jungen Ge-neration anerkennen und fördern“. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist derAntrag bei Zustimmung durch die Koalitions- und Ab-lehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/2117 mit dem Titel „Stärkung der Ju-gendfreiwilligendienste – Platzangebot ausbauen, Quali-tät erhöhen, Rechtssicherheit schaffen“. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men. Dafür haben CDU/CSU und FDP gestimmt. DieFraktion Die Linke hat sich enthalten. Dagegen ge-stimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen.Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unterBuchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ableh-nung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache17/3429 mit dem Titel „Chancen nutzen – Jugendfrei-willigendienste stärken“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Dafür haben gestimmt CDU/CSU und FDP. Dagegen ha-ben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. DieFraktion Die Linke hat sich enthalten.Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 17/4845 mit dem Titel „Ju-gendfreiwilligendienste weiter ausbauen stattBundesfreiwilligendienst einführen“. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/DieGrünen. Dagegen gestimmt hat die Linke. Enthalten hatsich die SPD-Fraktion.Schließlich und letztlich empfiehlt der Ausschuss un-ter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 17/3436 mit dem Titel „Aufbauoffen-sive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen –Quantität, Qualität und Attraktivität steigern“. Werstimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-tionen, Gegenstimmen der SPD und Grünen und Enthal-tung der Fraktion Die Linke.Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 6:Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelSchlecht, Jutta Krellmann, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBeschäftigte am Aufschwung beteiligen –Staatlich begünstigtes Lohndumping aufgeben– Drucksache 17/4877 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHierfür ist eine Dreiviertelstunde Debattevorgesehen. – Dazu sehe und höre ich keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeMichael Schlecht für die Fraktion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11331
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir haben in Deutschland ein zentrales Pro-blem, über das im Regelfall sehr wenig geredet wird:
Wir haben in Deutschland seit dem Jahr 2000 eineLohnsenkung zu verzeichnen. Der durchschnittliche Be-schäftigte verdient heute preisbereinigt ungefähr 3 bis4 Prozent weniger als im Jahr 2000, und dies in einemLand, in dem wir eine ganz beständige Steigerung derProduktivität haben, wo also eine deutlich stärkere Be-teiligung an der Entwicklung der Ökonomie möglichwäre. Das ist ein grandioser Skandal.
Wenn man dann noch berücksichtigt, dass jüngst derWirtschaftsaufschwung zu dramatischen Steigerungender Unternehmensgewinne geführt hat und die Bundes-regierung mit Bundeskanzlerin Merkel und MinisterBrüderle beständig den Aufschwung bejubelt, dannmuss man sagen: Sie bejubeln einen Aufschwung derProfite; es ist aber kein Aufschwung, der bei der breitenMasse der Bevölkerung ankommt. Bei der breiten Masseder Bevölkerung herrschen nach wie vor Stagnation,Lohndumping und Sozialdumping vor.In der jüngsten Zeit erleben wir, dass die Regierungden Beschäftigten im Aufschwung sogar noch zuruft:Eure Löhne können ruhig ein bisschen erhöht werden. –Das ist heuchlerisch und zynisch; denn dass es diese Ent-wicklung überhaupt gegeben hat, hängt damit zusam-men, dass durch die Veränderungen am Arbeitsmarktund die Agenda 2010 die Durchsetzungsmöglichkeitenund Kampfbedingungen für die Gewerkschaften drama-tisch verschlechtert worden sind.
Zu den Punkten, die zuallererst zu nennen sind, ge-hört die Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen,Leiharbeit und Minijobs. Es ist doch völlig klar, dass esin einem Tarifbereich, in dem ein großer Teil der Be-schäftigten nur befristet oder in Leiharbeit tätig ist, fürdie Gewerkschaften außerordentlich schwierig ist, Tarif-runden durchzuführen und Druck auf die Arbeitgeberauszuüben.Ich habe es selbst erlebt. In den 80er-Jahren waren dieVerhältnisse noch anders. Damals herrschte noch eineandere Ordnung am Arbeitsmarkt, und es war sehr wohlmöglich, in Tarif- und Streikauseinandersetzungen nach-haltig Druck auszuüben und den Beschäftigten einenhalbwegs angemessenen Anteil am wirtschaftlichenFortschritt zu sichern.Diese Bedingungen sind durch politisches Wollen ge-rade in den letzten zehn Jahren, begonnen mit derAgenda 2010 durch Rot-Grün und massiv unterstütztund fortgesetzt durch Schwarz-Gelb, unterhöhlt worden.Deshalb haben wir die miserable Lohnentwicklung zuverzeichnen, von der ich eben bereits gesprochen habe.Hinzu kommt, dass in dieser Entwicklung mit denHartz-IV-Gesetzen Sanktionsmöglichkeiten gegenüberErwerbslosen eingeführt worden sind. Diese Sanktions-möglichkeiten bedeuten, dass einem Erwerbslosen zuge-mutet werden kann, für 2,50 Euro pro Stunde Klos zuputzen oder für 3,80 Euro pro Stunde den Hof zu kehren,und zwar vollkommen unabhängig davon, was der Be-troffene oder die Betroffene in der Vergangenheit anQualifikationen und beruflicher Erfahrung erworben hat.Erstens ist das zynisch und eine sozialpolitische Kata-strophe. Zweitens hat es aber auch ganz verheerendeAuswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten von Ge-werkschaften, weil sich mittlerweile im Kreise der nochBeschäftigten natürlich herumgesprochen hat, was ei-nem droht, wenn man Arbeitslosengeld II bezieht. Dieshat eine ungeheuer disziplinierende Wirkung. Nicht nurweil es unsozial ist, sondern auch wegen dieser diszipli-nierenden Wirkung gehört Hartz IV abgeschafft. Das istvöllig klar.
Um wieder bessere Lohnentwicklungen durchsetzbarzu machen, wollen wir die gesamte Agenda 2010 rück-abwickeln.
Solange man das nicht macht, wird Deutschland weiter-hin ein Land des Lohndumpings und des Sozialdum-pings sein und wird es weiterhin eine schlechte Entwick-lung der Löhne geben.Eine Notmaßnahme, die unmittelbar ansteht, ist dieEinführung eines gesetzlichen Mindestlohnes mit derPerspektive von 10 Euro. Das ist das Mindeste. Aber wirbrauchen vor allen Dingen wieder eine Ordnung am Ar-beitsmarkt. Dazu gehören weitere Etappen wie die Be-schränkung von Befristungsmöglichkeiten; Befristungendürfen nur in äußersten Notfällen zulässig sein.Wir brauchen außerdem eine Entwicklung, die demUnwesen der Leiharbeit begegnet. Im Musterländle Ba-den-Württemberg, wo ich herkomme, ist bei den Be-schäftigten vom Wirtschaftsaufschwung nichts zu spü-ren, ganz im Gegenteil. 80 Prozent der neu geschaffenenArbeitsplätze sind Arbeitsplätze in der Leiharbeitsbran-che, die alle deutlich schlechter bezahlt sind als dieStammbelegschaft. Deswegen brauchen wir mindestensdie Einführung von Equal Pay. Obendrauf wollen wirabsichern, dass in diesem Bereich zusätzliche Prämiengezahlt werden.
Die einzige Partei, die konsequent für diese Liniesteht – die überhaupt erst wegen der Politik der vierHartz-IV-Parteien entstanden ist –, ist die Linke.Danke schön.
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11332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! WerterHerr Kollege Schlecht, Sie begannen Ihren Vortrag mitdem Hinweis, es gebe ein Problem in diesem Land. NachIhrem Vortrag stimme ich Ihnen zu, und ich nenne dasProblem beim Namen: Es sind die Linken.
Allein mit dem Ruf nach immer mehr Wohltaten, dieangeblich nichts kosten, ist diesem Land sicherlich nichtgedient. Entscheidend ist, was man daraus macht. Den-ken Sie nur an das Märchen Tischlein deck dich der Ge-brüder Grimm: Auf Zuruf wird aufgetafelt, ohne dass je-mand zahlt.An genau dieses Märchen erinnert mich Ihr Antrag.Es handelt sich dabei – vom gesetzlichen Mindestlohnbis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen – umein Wünsch-dir-Was der Sozialpolitik. Es gibt nur eineinziges Problem: Im wahren Leben deckt sich keinTisch von selbst, und irgendjemand zahlt immer die Ze-che.
In Ihrem Falle wären das übrigens die Langzeitarbeitslo-sen, die Geringqualifizierten sowie die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, die mit ihrem Einkommen dieWohltaten finanzieren sollen, die Sie ausschütten wol-len.Ich will nur auf einige Punkte aus Ihrem Antrag ein-gehen, zunächst auf Ihre Forderung nach einem gesetzli-chen Mindestlohn von 10 Euro.
Das hört sich zunächst einmal verlockend an. Die bittereWahrheit ist aber: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zuniedrig ist, hilft niemandem.
Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu hoch ist, kostet Ar-beitsplätze, denn die Firmen, die keine höheren Gehälterzahlen können, müssen Mitarbeiter entlassen. Das sinddie Gesetze der Ökonomie, über die auch die Linkensich nicht hinwegsetzen können.
Ein einheitlicher Mindestlohn nimmt übrigens auchkeine Rücksicht auf Branchen oder Regionen. In Grenz-gebieten geht der Kunde ins Ausland, wenn es inDeutschland zu teuer ist, zum Beispiel nach Polen. Dortgibt es tatsächlich einen Mindestlohn, aber dieser beträgt1,85 Euro.Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet vor allem denSchwächsten. Als Erste entlassen werden nämlich dieMenschen ohne Schulausbildung und die Menschenohne Ausbildung. Das schadet im Ergebnis auch demBeitragszahler; denn die Finanzierung von Arbeitslosig-keit ist immer sehr viel teurer als staatliche Zuzahlungenzum Lohn.Alle diese Effekte sind durch Studien belegt. Selbstdie SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu demErgebnis: „Ein genereller Mindestlohn – ohne jede Dif-ferenzierung – scheint nicht sinnvoll.“ Man höre! Wirwissen um diese Probleme, und deshalb lehnen wir einengesetzlichen Mindestlohn ab. Wir wollen, dass jeder eineChance auf Arbeit hat, insbesondere die Schwächeren.Wir wollen, dass Familien ein Mindesteinkommen ha-ben. Das geht übrigens nicht mit einem einheitlichen ge-setzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro; denn dieLeistungen, die eine Familie schon heute im Rahmen desTransfereinkommens, zum Beispiel in Form von Ar-beitslosengeld II oder Sozialhilfe, erhält, sind höher alsdieser Mindestlohn.
Es geht aber mit einer Kombination aus fairen Löhnenund ergänzenden staatlichen Leistungen. Wir wollen üb-rigens auch, dass die Menschen, die arbeiten, mehr ha-ben als die Menschen, die nicht arbeiten. Das ist ein be-rechtigtes Interesse.
Wir wollen Mindestlöhne, aber tarifliche Branchenmin-destlöhne, damit die Tarifparteien ihre Souveränität er-halten und unterschiedliche Branchenbedingungen be-rücksichtigt werden. So viel zum ersten Beispiel ausIhrem Antrag.Das zweite Beispiel aus Ihrem Antrag, meine Damenund Herren von der Linken. Sie fordern, dass Arbeitslosenur die Arbeit annehmen müssen, bei der eine Entloh-nung wie zuvor stattfindet. Das klingt auf den erstenBlick charmant. Das wird zum Beispiel die zwischen-zeitlich arbeitslosen Bankmanager der Hypo Real Estateerfreuen. Bei einem Jahreseinkommen in Höhe von circa200 000 Euro aufwärts werden diese auf dem normalenArbeitsmarkt kaum jemanden finden, der sie beschäfti-gen könnte. In diesem Fall lässt sich sagen: Willkommenin der Arbeitslosigkeit, finanziert von Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern, vergoldet mit einer Abfindungund abgesegnet von Ihnen, meine Damen und Herrenvon der Linken!
Beispiel drei. Sie fordern ein bedingungsloses Grund-einkommen anstelle des Arbeitslosengeldes II.
Egal wie man sich verhält: Der Steuerzahler zückt dasPortemonnaie. Ich frage Sie: Wer ist denn der Steuerzah-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11333
Gitta Connemann
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ler in Deutschland? Das sind die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die jeden Tag zur Arbeit gehen und mitzum Teil kleinen Einkommen diesen Staat finanzieren.Das sind nicht nur die großen Bosse, sondern auch dieVerkäuferin, der Maurer oder der Arbeiter am Band. Ge-nau um deren Steuerzahlungen geht es: Deren Steuergel-der schütten Sie aus. Ich wünschte mir, dass Sie damitvorsichtiger umgingen.
Summa summarum kostet Ihr Wunschzettel zig Mil-liarden Euro. Das ist so unseriös,
dass Ihnen inzwischen alle Ihre Finanzpolitiker von derStange gehen, zum Beispiel Ihr ehemaliger GenosseRonald Weckesser.
Er wurde gefragt, was er denn von diesen Ihren Forde-rungen halte. Er stellte fest:Es werden Dinge versprochen, die nicht einmaldann eingehalten werden könnten, wenn wir dieWahl gewännen. … Das weiß jeder.Aber die Parteikonzeption laute, Forderungen müsstennicht realisierbar sein, sondern nur andere in Zugzwangbringen. Kurzum: Sie verfolgen ausschließlich eineTischleindeckdich-Politik der leeren Versprechen.Das erleben übrigens besonders schmerzlich die Men-schen, die in Ländern leben, in denen die Linken mitre-gieren, zum Beispiel in Berlin,
insbesondere die Familien, die Kinder und die Jugend-lichen, auf deren Rücken gespart wurde. Die Liste derGrausamkeiten von Rot-Rot ist lang. Ich möchte nur ei-nige wenige nennen: Kürzung der Sozialhilfe- und Pfle-geleistungen um fast 50 Millionen Euro, Kürzung desBlindengeldes, Kürzungen der Leistungen für Senioren-arbeit, Selbsthilfegruppen und Ehrenamt um mehr als50 Prozent. Das wurde im sogenannten LIGA-Vertragausgestaltet. Dafür wurden im letzten Jahr die Gaspreisezum wiederholten Mal erhöht. Nicht erhöht wurden überviele Jahre die Bezüge der Beschäftigten im öffentlichenDienst. Erst im letzten Jahr hat es eine Erhöhung gege-ben. Aber der Rückstand zu den anderen Ländern ist er-heblich.Das zeigt einmal mehr: Dort, wo Sie regieren, tun Siein keiner Weise das, was Sie einfordern. Sie dreschenPhrasen; aber Sie lassen keine Taten folgen. Die Arbeit-nehmer, von denen ich gesprochen habe, können überden Titel Ihres Antrags „Beschäftigte am Aufschwungbeteiligen“ nur lachen, meine Damen und Herren vonder Linken.
Mein Fazit ist: Dort, wo die Linken regieren, geht esden Menschen schlechter.
Ihre Politikmodelle helfen niemandem. Deshalb werdenwir Ihren Antrag ablehnen.
Der Kollege Josip Juratovic hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken, ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie in IhremAllerweltsantrag kurz vor den Landtagswahlen in Ba-den-Württemberg und Rheinland-Pfalz alle Forderungenplatzieren, die Sie in Ihren alten Anträgen gefunden ha-ben. Die Überschrift von Ihrem Antrag ist gut gewählt;aber der Inhalt ist sehr mager.
Ein Beispiel für Ihre realitätsfernen Forderungen ist,dass in der Zukunft wir Politiker die Mindestlohnhöhefestlegen sollen. Ich sage Ihnen: Das kann nicht funktio-nieren.
Wir brauchen stattdessen einen flächendeckenden An-fangsmindestlohn von 8,50 Euro,
der bereits gesellschaftlich mit den Gewerkschaften ab-gestimmt ist. Dann brauchen wir eine Mindestlohnkom-mission,
in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Wissenschaftleranalysieren, wie sich Produktivität, Lohnzuwächse,Wachstum und Inflation entwickeln, und danach dieHöhe des Mindestlohns festlegen.
Ein zweites Beispiel für Ihre Allerweltsforderungenist der Antistreikparagraf. Das ist wirklich nicht das Pro-blem, das den Gewerkschaften aktuell unter den Nägelnbrennt. Wir brauchen keine populistischen Allerwelts-forderungen, sondern realitätsbezogene Lösungen, undzwar für alle Menschen in unserem Land.
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11334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Josip Juratovic
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Ich habe den Eindruck, dass die Realität in der Weltdraußen hier im Parlament – sowohl von links als auchvon rechts – verdrängt wird.
Union und FDP sehen nicht die massiven Verwerfungenim Niedriglohnsektor, und die Linke verkämpft sich füralte Klamotten wie den Antistreikparagrafen. Die tat-sächlichen Probleme der arbeitenden Menschen und deranständigen Unternehmer werden viel zu wenig wahrge-nommen.Leiharbeit ist nur ein Beispiel dafür, dass sich dieFunktionsweise unserer Wirtschaft in den vergangenenJahren dramatisch verändert hat. Leiharbeit ist heute Teilder Mischkalkulation in den Betrieben. Billige Leihar-beiter werden in der betriebswirtschaftlichen Logik inden Unternehmensprofit von vornherein einkalkuliert.Das zeigt, dass Leiharbeit nicht mehr, wie sie gedachtwar, nur Auftragsspitzen abdeckt. Das ist ein klarerMissbrauch von Leiharbeit.
Es wird noch schlimmer: Leiharbeit wird in den Bilan-zen nicht wie Personalkosten behandelt, sondern alsSonderaufwendung, genau wie der Einkauf von Schrau-ben und Toilettenpapier. Das ist menschenunwürdig.
Lassen Sie mich auf die gesellschaftlichen Auswir-kungen von Leiharbeit eingehen.Erstens. Leiharbeit schafft Kinderarmut. FrauConnemann, wenn Sie hier von Kinderarmut sprechen,dann sollten Sie zuerst die Niedriglöhne der Eltern alsUrsache von Kinderarmut bekämpfen.
Zweitens. Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wennwir Niedriglöhne staatlich subventionieren. Rund 92 000Leiharbeiter erhalten so wenig Lohn, dass sie ihr Ein-kommen durch Sozialhilfe aufstocken müssen. Das kos-tet den Steuerzahler 700 Millionen Euro im Jahr.Drittens. Die Leiharbeit von heute schafft die Armuts-rentner von morgen. Leiharbeiter brauchen über 70 Bei-tragsjahre, um eine Rente in der Höhe der Grundsiche-rung zu erhalten. Kein Leiharbeiter kann sich eineRiester-Rente leisten.Viertens. Leiharbeiter werden gesellschaftlich stigma-tisiert. Sie erhalten keine Kredite. Eine Familiengrün-dung können sie sich finanziell nicht leisten. Kollegin-nen und Kollegen, in was für einem Land leben wir,wenn eine Familiengründung inzwischen zum Luxus ge-worden ist?
Fünftens. Leiharbeit schafft eine Entsolidarisierungim Betrieb. Man kann in Betrieben oft sehen, dass dierechte Autotür von einem festangestellten Mitarbeitereingebaut wird und die linke Autotür von einem Leihar-beiter, der bestenfalls 70 Prozent des Lohns des festan-gestellten bekommt. Es kann doch nicht sein, dass dieArbeiter für exakt die gleichen Handgriffe unterschied-lich entlohnt werden.
Das dient nicht gerade dem gesellschaftlichen Zusam-menhalt. Deshalb müssen wir verhindern, dass die Ar-beitnehmer gegeneinander ausgespielt werden.
Wir müssen verhindern, dass Leiharbeiter als Dank fürihre Flexibilität und ihren Lohnverzicht in einer Krise alsAllererste entlassen werden.
Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet von einemknallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, son-dern auf Produktionskostensenkung beruht. Der ersteTeil dieser Kostensenkung ist die schon angesprocheneMischkalkulation in den Unternehmen. Es wird genauausgerechnet, was wie viel kosten darf, und dann wirdDruck auf die einzelnen Unternehmensteile ausgeübt,insbesondere auch auf Zulieferer und Leiharbeiter. Dasgeht so weit, dass man bereits mit Zahlungsverzögerun-gen bei den Zulieferern von bis zu sechs Monaten kalku-liert.Der zweite Teil dieser Kostensenkung ist die Leis-tungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz. Gerade ältereArbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen voll-bringen. Daher gibt es bei den Arbeitnehmern eine stei-gende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und einesteigende Zahl psychischer Erkrankungen.Unsere Wirtschaft handelt rein wachstums- und pro-fitorientiert. Es gibt nur noch die reine Betriebswirt-schaft. Die Volkswirtschaft hat niemand mehr im Blick.Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vor-bei. Viele der Gründer unserer Nachkriegswirtschaftsind heute entsetzt darüber, was ihre Enkel aus der sozia-len Marktwirtschaft gemacht haben.In meinen zahllosen Gesprächen erfahre ich, dassviele Menschen ratlos sind, wenn sie diese einseitigeOrientierung der Wirtschaft spüren. Angesichts dessenmüssen wir gemeinsam mit Gewerkschaften, Unterneh-men, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Zi-vilgesellschaft überlegen, wie wir unsere Wirtschafts-und Arbeitswelt organisieren. Aber wir dürfen nicht nurnachdenken, sondern wir müssen auch politisch handeln.Dass die Bundeskanzlerin bei jedem Problem nach einerKommission, einem Moratorium oder nach den Sozial-partnern ruft und dann alles für alternativlos erklärt, istein Zeichen von Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeitdieser Regierung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11335
Josip Juratovic
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Kolleginnen und Kollegen, wir müssen zeigen: Wirwissen, wie die Realität draußen aussieht, und wir habendie Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein, da-raus politische Handlungen abzuleiten und die politi-schen Rahmenbedingungen entsprechend zu setzen.Meine Damen und Herren der Regierungsparteien,nicht nur reden, sondern endlich auch handeln!
Ein flächendeckender Mindestlohn und das Prinzip„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, was so viele Pro-bleme lösen würde und gesellschaftlich unumstritten ist,könnten sofort eingeführt werden.
Wir brauchen eine Kultur des Anstands in der Ar-beitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft. Kolleginnen undKollegen, ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass esviele gute Unternehmer gibt, die von der marktradikalenLogik dazu gezwungen werden, ihren Betrieb durchschlechte Löhne über Wasser zu halten. Wir müssendiese Arbeitgeber durch einen allgemeinen flächende-ckenden Mindestlohn und durch das Prinzip „GleicherLohn für gleiche Arbeit“ vor Lohndumping schützen.
Unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt darf eben nichtnur auf Profitmaximierung ausgerichtet sein, sondern siemuss auch eine Antwort auf die Frage geben können:Wie wollen wir in der Zukunft leben? Arbeit ist ein ent-scheidender Bestandteil des Lebens, weil Arbeit Sinnstiftet. Jeder Mensch will gebraucht werden. Wir brau-chen Respekt und Wertschätzung der Arbeit. Arbeitmuss sich außerdem daran messen lassen, ob sie zu mehrLebensqualität für alle Menschen beiträgt.Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeitsind Werte und Tugenden, die unsere Wirtschaft so großund erfolgreich gemacht haben. Wir alle, auch die Unter-nehmer, müssen daher zurück zu den Werten und Tugen-den.Meine Damen und Herren, am Sonntag hat man inBaden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine Chance,der Erreichung dieser Ziele näherzukommen.
Auch in unserem Musterländle ist jeder zweite Job, dernach der Krise entstanden ist, in der Leiharbeit angesie-delt.
Der wirtschaftliche Erfolg spielt sich auch hier auf demRücken der Leiharbeiter ab. Wenn Baden-Württembergwieder das Land der Pioniere werden will, brauchen wirdurch faire Arbeitsbedingungen motivierte Arbeitneh-mer.
Ein erster Schritt ist die Verabschiedung des von derSPD geforderten Tariftreuegesetzes. Öffentliche Aufträgesollten nur an gute Arbeitgeber vergeben werden. Ichdenke, der Staat sollte als Auftraggeber mit gutem Bei-spiel vorangehen.
Die Menschen in Baden-Württemberg brauchen nach57 Jahren endlich wieder verantwortungsvolle und reali-tätsnahe Politik mit Empathie und Vernunft.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb spricht für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit den Anträgen der Linken ist es so: Die Überschriftenwechseln; der Inhalt ist immer der gleiche. Auch das,was heute vorliegt, enthält wieder viel Bekanntes, HerrKollege Schlecht. Das einzig Neue – das will ich immer-hin festhalten – scheint Ihr Vorschlag zu § 146 SGB IIIzu sein, den Sie irgendwo aus der Schublade gezogenhaben. Allerdings ist mir der aktuelle Hintergrund nichtganz schlüssig.
– In den 80er-Jahren war die Neutralitätspflicht der Bun-desanstalt für Arbeit noch ein Problem. – Ich kann michaber nicht daran erinnern, dass die Bundesagentur fürArbeit in den letzten Tarifauseinandersetzungen sich fürdie eine oder andere Richtung eingesetzt hat, was dazuhätte animieren können, Ihren Antrag entsprechend zugestalten. Vielleicht wollen Sie nur ein bisschen variie-ren; das wäre lobenswert. Sie sollten mehr nachdenken.Dann fällt Ihnen vielleicht noch etwas Besseres ein.
Da aufgrund der ständigen Wiederholungen eigent-lich alles schon besprochen worden ist, will ich gezieltein paar Aspekte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie macheneinen Denkfehler, Herr Kollege Schlecht. Sie gehen da-
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Dr. Heinrich L. Kolb
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von aus, der durchschnittliche Beschäftigte verdiene seitdem Jahr 2000 weniger. Den durchschnittlichen Beschäf-tigten gibt es aber nicht, sondern es gibt Beschäftigte mitjeweils individuellem Entgelt. Ich bezweifle Ihre These,dass es in den vergangenen zehn Jahren bei dem einzel-nen Arbeitnehmer tatsächlich zu Lohnkürzungen ge-kommen ist.Es ist Folgendes passiert – das führt zu dem Ergebnis,das Sie angesprochen haben –:Wenn man in einer Volkswirtschaft einen Niedrig-lohnsektor einrichtet, so wie es Rot-Grün mit den Ar-beitsmarktreformen der Jahre 2004 und 2005 getan hat,dann muss das Durchschnittseinkommen dieser Volks-wirtschaft notwendigerweise sinken. Das ist der erste Ef-fekt.Der zweite Effekt ist: In einer Aufschwungphase, inder viele Menschen mit einer geringeren Qualifikationdie Chance bekommen, sich zusätzlich am volkswirt-schaftlichen Leistungsprozess zu beteiligen, sinken diedurchschnittlichen Löhne. In der Krise halten die Unter-nehmen diejenigen Beschäftigten, die besonders qualifi-ziert sind und die über ein hohes Einkommen verfügen,während die Geringqualifizierten, die herangezogen wer-den, um das Leistungsvermögen des Unternehmens inPhasen hoher Auslastung zu erhöhen, entlassen werden.Dies erklärt den Befund, den Sie festgestellt haben.Aus meiner Sicht wäre es jedoch falsch, daraus zuschließen, dass in den vergangenen zehn Jahren in denUnternehmen in Deutschland flächendeckend Lohndrü-ckerei stattgefunden hat. Im Gegenteil, die Chancen derArbeitnehmer haben sich durch die demografische Ent-wicklung und zusätzlich durch den wirtschaftlichen Auf-schwung verbessert; in Verhandlungen mit den Arbeitge-bern haben sie eine bessere Position als zuvor. Dies wirdsich in den nächsten Jahren noch deutlicher zeigen.Außerdem stellen Sie immer wieder fest, die Zeitar-beit und die befristete Beschäftigung seien der Standardbei der Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse. Auch damuss man sagen – zu diesem Ergebnis können auch Sie,Herr Kollege Schlecht, durch Nachdenken kommen –,dass es ganz normal ist, dass die Unternehmen nach derschwersten Finanz- und Wirtschaftskrise in der Ge-schichte der Bundesrepublik an den Aufbau neuer Be-schäftigung zunächst vorsichtig herangehen, auch wasdie Nutzung solcher Instrumente angeht.Wir wissen aus dem letzten Konjunkturzyklus, dassflexible Beschäftigungsverhältnisse sehr schnell in dau-erhafte Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere inVollzeitstellen umgewandelt worden sind. Man kann si-cherlich zu Recht erwarten, dass das auch jetzt wiederpassieren wird. Die Unternehmer sind gut beraten, wennsie qualifizierte Arbeitnehmer an das eigene Unterneh-men binden, weil der Arbeitsmarkt in Deutschland inzwei bis drei Jahren gerade in Bezug auf solche Arbeit-nehmer leergefegt sein wird.Das waren die Anmerkungen, die ich machen wollte;mehr war heute nicht drin. Kollege Kober wird sicher-lich noch wichtige Beiträge leisten. Zum Thema Zeitar-beit will ich in der Debatte, die in circa zwei Stunden indiesem Hause zu führen sein wird, gerne mehr sagen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht
das Wort.
Herr Kolb, da Sie mich in Ihrer Rede angesprochenhatten, möchte ich Ihnen noch einmal sagen: An den em-pirischen Daten kommen Sie nicht vorbei. Entspre-chende Daten gibt es ja nicht nur von Eurostat undAMECO, sondern auch von der Internationalen Arbeits-organisation und anderen. Daraus ergibt sich völlig ein-deutig, dass die Realeinkommen in Deutschland in denletzten zehn Jahren preisbereinigt im Durchschnitt – ichhabe gar nicht vom durchschnittlichen Beschäftigten ge-sprochen –
um 3 bis 4 Prozent gesunken sind.Das Skandalöse ist – das regt zumindest mich auf, Sieanscheinend nicht –, dass eine solche Entwicklung nur inDeutschland zu verzeichnen ist. In allen anderen Län-dern sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahrenmehr oder minder deutlich angestiegen. Nach uns kom-men gleich Belgien und Österreich mit plus 6 Prozent,Frankreich mit plus 10 Prozent, die Niederlande mit plus15 Prozent. Nur Deutschland liegt bei einer Größenord-nung von minus 3 bis minus 4 Prozent, obwohl es docheines der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa ist.Das ist der eigentliche Skandal. Daran kommen Sie nichtvorbei.Hinter dieser Durchschnittsbildung verbergen sich na-türlich Bereiche, in denen es noch dramatisch schlechterläuft. Das liegt daran, dass von Rot-Grün im letzten Jahr-zehnt – Schröder war immer stolz darauf – sehr erfolgreichein Hunger- und Niedriglohnsektor ausgebaut worden ist.Infolgedessen gibt es Beschäftigte, deren derzeitige Ein-kommen gegenüber den Einkommen von vor zehn Jahrenum 10, 20 oder 30 Prozent gesunken sind. Es gibt sicher-lich auch einige Wirtschaftsbranchen, in denen es für Ein-zelne günstiger gelaufen ist, sodass deren Einkommen ge-stiegen sind.Das Problem der Lohnsenkung ist nicht nur ein Pro-blem im Dienstleistungsbereich; Lohnsenkungsprozessegibt es vielmehr längst auch in Bereichen, in denen qua-lifizierte Beschäftigte arbeiten. In der derzeit laufendenTarifrunde für Journalisten in der Zeitungsbranche wirdvon den Verlegern gefordert, die Gehälter für neu einzu-stellende Journalisten um sage und schreibe 25 Prozentabzusenken. Der Background dafür, dass mit Verve sol-che frechen Forderungen aufgestellt werden, ist, dassauch in Zeitungsredaktionen mittlerweile in zunehmen-dem Maße eine Prekarisierung von Arbeitsverhältnisseneingetreten ist,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11337
Michael Schlecht
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dass immer mehr auf Leiharbeiter zurückgegriffen wird,dass immer mehr befristet eingestellt wird und dass inimmer stärkerem Maße Freie eingesetzt werden. Das istwirklich ein Skandal.
Herr Kollege, Sie hatten nicht das Wort zu einer zwei-
ten Rede, sondern nur zu einer Kurzintervention.
Möchten Sie erwidern, Herr Kolb?
Nein, Herr Kollege Schlecht, das kann man nicht sa-
gen. Ich stehe mitten im Leben. Ich glaube, dass ich eine
sehr gute und auch nahe Anschauung dessen habe, was
in den Betrieben tatsächlich passiert.
Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, und das, was
Sie soeben ergänzend vorgetragen haben, ändert daran
nichts. Bei einer Durchschnittsbetrachtung – es ist
gleichgültig, ob man den durchschnittlich Beschäftigten
oder das Durchschnittseinkommen zugrunde legt – zeigt
sich: Die Einführung eines Niedriglohnsektors führt im-
mer dazu, dass die Durchschnittswerte sinken.
Es ist nicht die FDP gewesen, die den Niedriglohn-
sektor erfunden und gesetzlich verankert hat; vielmehr
haben dafür seinerzeit die Kollegen von SPD und Grü-
nen gesorgt.
– Nein.
Ich kann Ihnen sagen, warum der Effekt in Deutsch-
land besonders stark ist. Deutschland hatte im Gegensatz
zu vielen anderen Ländern in Europa keinen Niedrig-
lohnsektor, mit dem Ergebnis, dass wir 2004/2005 unter
der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder mehr als 5 Mil-
lionen Arbeitslose hatten. Da es sich dabei überwiegend
um geringqualifizierte Beschäftigte handelte, hatte
Gerhard Schröder damals folgende Idee: Wenn wir diese
Menschen in Arbeit bringen wollen, müssen wir Arbeits-
verhältnisse schaffen, bei denen der Lohn, der dort zu
Buche steht, auch mit einer geringeren Wertschöpfung
erarbeitet werden kann. Bezogen auf das zurückliegende
Jahrzehnt ist dieser Effekt in Deutschland deswegen be-
sonders ausgeprägt.
Man kann das alles also erklären. Ich habe es Ihnen
bewusst erläutert, damit Sie bei Ihrem nächsten Antrag
vielleicht von neuen Erkenntnissen und Analysen ausge-
hen.
Sie haben gesagt, die Beschäftigten seien am Auf-
schwung zu beteiligen. Ich möchte feststellen: Uns geht
es in der Tat darum, die Menschen am Aufschwung zu
beteiligen. Wir haben die Menschen am Aufschwung be-
teiligt: die große Zahl derjenigen, die neue Beschäfti-
gungsverhältnisse gefunden haben und die aus der Kurz-
arbeit in ein normales Beschäftigungsverhältnis zurück-
gekehrt sind.
Wir haben selbst vorgeschlagen – Sie haben den Wirt-
schaftsminister zitiert –, dass die Tarifpartner Spiel-
räume nutzen sollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, son-
dern die der Tarifpartner, die vorhandenen Spielräume
zu nutzen. Das werden sie verantwortungsvoll tun. Ich
bin ein großer Anhänger und Verfechter des Prinzips der
Tarifautonomie. Die Politik sollte sich in die Tariffin-
dung meines Erachtens nicht einmischen, sondern sie
sollte den Tarifpartnern als denjenigen, die sich vor Ort
auskennen, das Geschäft überlassen. Damit sind wir in
der Vergangenheit gut gefahren und werden es auch in
Zukunft tun.
Frau Präsidentin, danke dafür, dass Sie mich durch
Klopfen auf das Ende meiner Redezeit hingewiesen ha-
ben.
Ich habe jetzt einen rhythmischen Hinweis gegeben.Das geht offensichtlich auch.Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmekefür Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Der Antrag der Linken behandeltviele richtige und wichtige Themen, die wir hier im Bun-destag bereits häufig debattiert haben. Es ist bekannt,dass wir viele der genannten Forderungen unterstützenund dazu schon zahlreiche Anträge gestellt haben.Insgesamt sieht dieser Antrag aber schon ein bisschennach Wahlkampfhilfe für die Linke in Baden-Württem-berg aus.
Mir soll es aber recht sein. Ich rede gerne zu diesen The-men; denn sie sind mir ein Anliegen.Wichtig sind mir diese Themen auch – Herr Kolb, Siesprechen es immer wieder an –, weil wir Grünen sehrwohl wissen, dass die Politik unter Rot-Grün zu Fehlent-wicklungen beigetragen hat, die korrigiert werden müs-sen. Entscheidend ist, dass wir die Augen nicht ver-schließen. Schon lange wollen und fordern wir an ver-schiedenen Stellen Korrekturen.
Die Arbeitswelt wird zunehmend atypisch: PrekäreBeschäftigung nimmt zu. Viele Menschen erleben tag-täglich eine Arbeitswelt, die aufreibender und unsichererwird, und viel zu viele Menschen arbeiten und können
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Beate Müller-Gemmeke
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dennoch nicht von ihren Löhnen leben. Die Koalitionignoriert diese Realität.Ich habe ebenfalls das Zitat von Minister Brüderle ge-lesen: „Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftigeLohnerhöhungen möglich.“ Als ich das las, dachte ich– es kommt selten vor –: Recht hat er. Wenn sich die Bun-desregierung für Lohnerhöhungen, ausgehandelt durchdie Tarifparteien, ausspricht, muss sie aber auch selberihre Möglichkeit nutzen und Verantwortung überneh-men. Konkret bedeutet das, dass sie für entsprechendepolitische Rahmenbedingungen sorgen muss, damit pre-kär Beschäftigte, die eben nicht von tariflichen Lohner-höhungen profitieren, endlich Löhne erhalten, von denensie auch leben können.
Die Bundesregierung und insbesondere die FDP ste-hen aber bei allen notwendigen Maßnahmen auf derBremse. Das geht zulasten der Beschäftigten und derÄrmsten in unserer Gesellschaft.
Wir unterstützen zwar nicht alle, aber etliche Forde-rungen in diesem Antrag, und zwar ohne Wenn undAber.
Wir brauchen eine Regulierung in der Leiharbeit, Ände-rungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz, Erleichterun-gen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifver-trägen und ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften.Wir brauchen insbesondere – das steht nicht im Antragder Linken – eine Reform bei den Minijobs. Davon wür-den vor allem Frauen profitieren.
Wir fordern auch eine Grundsicherung, die gesellschaft-liche, kulturelle und politische Teilhabe ermöglicht.Dazu gehört auch unser Antrag, in dem wir ein Sank-tionsmoratorium fordern.Der zentrale und wichtigste Punkt ist aber ein gesetz-licher Mindestlohn. Ich wünsche mir noch immer, dasswir, die Opposition, dabei an einem Strang ziehen. Dasentscheidende Thema ist momentan nicht die Höhe desMindestlohns; entscheidend ist, dass überhaupt ein Min-destlohn eingeführt wird.
– Herr Kolb, wir haben da immer eine sehr klare Mei-nung.Ich kann in Richtung der Koalitionsfraktionen nur sa-gen: Stellen Sie sich endlich ernsthaft dem Thema Min-destlohn; denn alle Menschen haben das Recht, für ihreArbeit gerecht und fair entlohnt zu werden.
Wir begründen höhere Löhne aus der Perspektive derBeschäftigten. Sie müssen diese Begründung aber nichtteilen; Mindestlöhne und die konsequente Regulierungder Leiharbeit könnten auch mit Ihrer wirtschaftspoliti-schen Programmatik begründet werden, auch mit derwettbewerbspolitischen Tradition der FDP; denn Dum-pinglöhne führen zu einer Wettbewerbsverzerrung zulas-ten der tariftreuen Betriebe, die vom Markt verdrängtwerden, wenn sie faire Löhne zahlen.Sie haben sich auch den Subventionsabbau auf dieFahnen geschrieben. Mit Mindestlöhnen und allgemein-verbindlich erklärten Tariflöhnen über dem Niveau desArbeitslosengeldes II wäre endlich Schluss mit der staat-lichen Subventionierung beispielsweise bei der Leihar-beit.
Vor allem könnten Sie auch bei der Haushaltskonsolidie-rung punkten, weil höhere Löhne auch zu höheren Ein-nahmen führen, die Sozialversicherungen stabilisierenund die Sozialleistungen mindern. Alles zusammenwürde Ihrer Programmatik voll und ganz entsprechen.
Programmatik hin oder her: Schlussendlich geht esum Gerechtigkeit. Die Politik darf sich nicht einer alter-nativen Zwangsläufigkeit eines freien Marktes unterord-nen. Die Gesellschaft und die Menschen sind nicht aus-schließlich Teil der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft istTeil der Gesellschaft. Daraus ergeben sich Konsequen-zen für die Politik. In diesem Sinne möchte ich mit ei-nem Zitat von Margot Käßmann enden:Die Schwächsten sind der Maßstab für die Gerech-tigkeit.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! DieFraktion Die Linke legt heute wieder ein Sammelsuriumder bekannten Vorschläge vor, um damit Wahlkampf zubetreiben; das ist offensichtlich, aber das wird Ihnen
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Max Straubinger
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nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass die Programm-punkte, die im Antrag vorgestellt werden, zum einen beiden Bürgerinnen und Bürgern nicht verfangen und dasszum anderen ihre Umsetzung für den hiesigen Arbeits-markt und die Menschen in Deutschland sehr schlechtwäre.Es werden immer die falschen Vergleiche gezogen.Herr Schlecht, Sie haben hier einen sehr langfristigenVergleich der Situation im Jahr 2002 mit der jetzigen Si-tuation angestellt. Sie entwerfen das Bild einer Gesell-schaft des Jammerns; das trifft in keiner Weise zu. Siesollten sich mehr in der Realität bewegen. Es ist festzu-stellen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern seit langem nicht mehr so gut gegangen ist wie un-ter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU.
In den vergangenen 18 Monaten ist es noch besser ge-worden;
denn die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland – unterRot-Grün waren etwa 5 Millionen Arbeitslose zu bekla-gen – ist auf 3 Millionen gesunken; das heißt, 2 Millio-nen zuvor arbeitslose Menschen haben eine Arbeit ge-funden. Das ist letztendlich die Grundlage dafür, eineigenständiges Leben zu führen.
Das ist aber nicht im Sinne der Linken in unseremLande. Sie fordern hier, die Zumutbarkeitsregeln, dieRot-Grün richtigerweise geändert hat – ich möchte dasanerkennen –, aufzubohren, sodass es beispielsweise fürjemanden, der früher als Architekt beschäftigt war, nichtmehr zumutbar wäre, einen Job als Bauaufseher anzu-nehmen. Das wird in Ihrem Antrag begründet. Wir sehendas anders. Wichtig ist, dass jeder eine zumutbare Arbeitannimmt, weil das letztlich entscheidend dafür ist, amArbeitsprozess teilnehmen zu können.Man wundert sich schon, wenn man an Folgendesdenkt: Ihre Vergangenheit liegt in der PDS und im Sozia-lismus der DDR. Dort gab es eine disziplinierendePflicht, nämlich die Arbeitspflicht, werter Herr KollegeSchlecht,
und keine sogenannte disziplinierende Wirkung unterdem Gesichtspunkt: Wenn ich arbeite, habe ich auchmehr zum Leben. – Das ist nämlich ein gewaltiger Un-terschied. In der damaligen DDR musste man arbeiten;trotzdem hat man schlecht verdient. Auch das ist Reali-tät.
Das wollen Sie offensichtlich hiermit erreichen.
Ich bin natürlich auch über Behauptungen verwun-dert, dass es den Arbeitnehmern nicht besser gehenwürde. Die Lohnsteigerungen in den Jahren 2008, 2009und 2010 waren moderat, aber die Preissteigerungsratelag noch darunter. Somit gab es ein Einkommensplus fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist letzt-lich entscheidend.Wir sind aus dem Tal der Tränen, das Rot-Grün mitder damaligen Politik geschaffen hat und das durch mas-sive Arbeitslosigkeit in Deutschland gekennzeichnetwar, herausgekommen. Die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer sowie unsere Wirtschaftsbetriebe habenletztlich aufgrund der Regierungsverantwortung vonCDU/CSU und FDP Kraft geschöpft.
Das wird auch weiterhin so sein. Damit werden die Men-schen eine richtige Grundlage für Beschäftigung haben.
Lassen Sie uns noch einmal die Debatte von heuteVormittag zu Gemüte führen. Da hat die versammelteLinke in diesem Haus aufgrund der schrecklichen Ereig-nisse in Japan gefordert, sofort aus der Nutzung derKernkraft auszusteigen. Auch das bedeutet mehr Ar-beitslosigkeit in unserem Land, und zwar von gutbezahl-ten Kräften.
– Natürlich! Die Menschen in den Kraftwerksbetriebenwollen arbeiten und nicht mit Sozialplänen abgespeistwerden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das muss man einmal deutlich sagen.
Sie nehmen letztlich keine Rücksicht auf die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Linken wollen nureinen Beitrag zur Deindustrialisierung des Landes leis-ten.
Ihre Forderung, dass Siemens keine Kraftwerkstechnikmehr exportieren solle, stellt nur ein Arbeitsplatzpro-gramm für die französische, für die amerikanische, für
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Max Straubinger
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die chinesische, für die japanische Industrie sowie mög-licherweise für die Exporteure aus Russland dar. Auf de-ren Technik möchte ich mich nicht verlassen. Da ist esmir lieber, wenn unser Land funktionierende Sicher-heitstechnik exportiert
und wenn die entsprechenden Arbeitsplätze in unseremLand gesichert sind, meine Damen und Herren.
Um diese Frage geht es auch am Sonntag bei denLandtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg.
Wer für Arbeitsplätze ist, tut gut daran, die CDU zu un-terstützen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Schlusssequenz wird als Wahlkampfspot geson-
dert gesendet.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Kober
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Schlecht, Sie haben Ihre Rede mit derAussage begonnen, Deutschland habe ein zentrales Pro-blem. Dem möchte ich entgegenhalten: Deutschland hatvor allen Dingen einen zentralen Vorteil, eine zentraleKraft mit einer zentralen Idee: Das ist die Politik derchristlich-liberalen Koalition. So erfolgreich ist bishernoch keine Koalition in diesem Land gewesen.
In die Regierungszeit dieser Bundesregierung fiel diegeringste Arbeitslosigkeit seit 1991. Sie werden anmer-ken, das sei nicht allein die Tat dieser Regierung. Völligrichtig: Das ist die Tat vieler Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer sowie vieler innovations- und investitions-freudiger Unternehmer.
Es müsste Ihnen doch zu denken geben, dass diejenigenLänder am erfolgreichsten sind, und zwar insbesonderehinsichtlich Arbeitsplätze, Wohlstand und Kaufkraft,
in denen Schwarz-Gelb am längsten zusammen regiertund in denen seit langer Zeit eine christlich-liberale Poli-tik gemacht wird.
Das ist beispielsweise in Baden-Württemberg der Fall.Die durchschnittliche Kaufkraft in Baden-Württembergliegt 7 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Dafür gibtes einen Grund. Das fällt nicht vom Himmel.Wir müssen die Voraussetzungen für Investitionenschaffen. Wir müssen das für Investitionen notwendigeVertrauen aufbauen, und wir müssen in die Bildung in-vestieren. Deswegen ist es ein Kernanliegen dieser Bun-desregierung, die Bildungsausgaben des Bundes zu er-höhen. Sie sollen bis zum Jahr 2013 um 12 MilliardenEuro erhöht werden.
In Baden-Württemberg hatten wir schon im Jahr 2006die höchsten Bildungsausgaben eines westdeutschenFlächenlandes: 5 000 Euro pro Kind. Wir haben im Rah-men einer Bildungs- und Qualitätsoffensive weitere528 Millionen Euro investiert.
Ich kann Ihnen sagen: Das ist die richtige Politik.Diese Politik hilft den Menschen. Sie sorgt dafür, dassdie Menschen aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalterwirtschaften und auf eigenen Beinen stehen können.
Da die Schwächsten in dieser Gesellschaft angespro-chen wurden, möchte ich sagen, dass diese Bundesregie-rung dafür gesorgt hat, dass wir in Bildung und bessereTeilhabechancen von jungen Menschen investieren.
Gerade die Schwächsten der Gesellschaft profitieren da-von. Wir haben das Bildungspaket auf den Weg gebrachtund unterstützen damit die Menschen, die Sie vergessenhaben. Wir bringen 740 Millionen Euro auf, um geradedie Kinder von Langzeitarbeitslosen, von Wohngeld-empfängern und Empfängern des Kinderzuschlags zuunterstützen.
All das ist Ausweis einer verantwortungsvollen Poli-tik,
die Wohlstand und Teilhabechancen für die Menschenschafft.
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Pascal Kober
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Vielen Dank.
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Peter
Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft ge-hören in der Tat gute Löhne für gute Arbeit.
In einer sozialen Marktwirtschaft werden die Löhne des-wegen in freier Verhandlung zwischen Gewerkschaftenund Arbeitgeberverbänden festgelegt, geschützt durchdie Tarifautonomie, die in unserem Grundgesetz festge-schrieben ist. Es gibt keinen besseren Weg zu guten Löh-nen als den über die Tarifautonomie.
Wenn wir die vergangenen drei Jahre betrachten, indenen die Bundesrepublik Deutschland die schwersteWirtschaftskrise seit ihrem Bestehen durchgemacht hat,müssen wir feststellen, dass die Tarifpartner, also die Ge-werkschaften und die Arbeitgeberverbände, in hohemMaße verantwortlich gehandelt haben. Sie haben bei-spielsweise in der Krise Tarifverträge abgeschlossen, indenen die Beschäftigungssicherung an Nummer einsstand und damit Vorrang hatte, während man bei denLohnforderungen sehr bescheiden war.Auf der anderen Seite gilt: Jetzt, in Zeiten des wirt-schaftlichen Aufschwungs, muss es auch möglich sein,entsprechende Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer zu realisieren. Genau das habender Bundeswirtschaftsminister und die Bundeskanzleringesagt. Sie haben recht damit. Die Tarifautonomie hatuns geholfen, aus der Krise herauszukommen. Jetzt hilftsie, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer amAufschwung teilhaben können. Das ist richtig.
Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, die Tarifauto-nomie in Deutschland schlechtzureden. Im Gegenteil:Sie hat sich bewährt, sie ist erfolgreich, und sie wirdauch in Zukunft erfolgreich sein.
Richtig ist aber auch, dass es Bereiche gibt, in denensie nicht funktioniert.
Lohndumping passt nun einmal nicht zu sozialer Markt-wirtschaft.
Deshalb ist in solchen Fällen staatliches Handeln not-wendig.
Das ist der Grund dafür, dass CDU, CSU und FDP in derRegierung Helmut Kohl unter Federführung von NorbertBlüm das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffen ha-ben. Das ist auch der Grund dafür, dass wir in der Gro-ßen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten dasArbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeits-bedingungengesetz novelliert haben. Wir wollten Fol-gendes möglich machen: Dort, wo es notwendig ist, sol-len branchenbezogene Mindestlöhne vereinbart werdenkönnen.Jetzt schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wir habenmittlerweile in acht Branchen Mindestlöhne. Fünf dieserMindestlöhne sind unter der Regierung von CDU/CSUund FDP eingeführt worden.
Nur ein einziger Mindestlohn ist aufgrund des Gesetzesaus der Regierungszeit der CDU/CSU von Rot-Grünfestgelegt worden.
Die Schlussfolgerung lautet also: Mindestlöhne gibt esdann, wenn CDU/CSU und FDP regieren, und sie gibt espraktisch nie, wenn Rot-Grün regiert.
Genauso geht es weiter. Noch heute werden wir hierim Deutschen Bundestag das Arbeitnehmerüberlassungs-gesetz novellieren und damit ermöglichen, dass für dieZeitarbeit ein Mindestlohn, eine untere Lohngrenze,festgelegt werden kann. Heute ist also ein Tag, an demwir die Grundlage für einen weiteren Mindestlohn, näm-lich in der Zeitarbeit, schaffen.
Am vergangenen Freitag hat der Gemeinsame Tarif-ausschuss einen Mindestlohn für das Wach- und Sicher-heitsgewerbe festgelegt. Jetzt ist der Weg frei, dass auchdieser Mindestlohn durch die Bundesministerin für Ar-beit und Soziales per Rechtsverordnung festgelegt wer-den kann.Ich wiederhole: Es ist notwendig, dass der Staat dort,wo die Tariffindung nicht mehr funktioniert, hilft undLohndumping entgegenwirkt. Wir handeln, indem wirbranchenbezogene Mindestlöhne einführen.
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11342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Peter Weiß
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Diese Mindestlöhne sind zum größten Teil in Zeiten, indenen CDU/CSU und FDP regiert haben, festgelegt wor-den, bzw. sie werden jetzt neu festgelegt. Damit ist ei-gentlich klar, wer entgegen aller Verdächtigungen undaller Polemik der eigentliche Begründer von Mindest-löhnen in Deutschland ist, nämlich die christlich-liberaleKoalition.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dassdiese Debatte offensichtlich wegen der Wahlen am kom-menden Sonntag in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg beantragt worden ist.
Herr Kollege Weiß, ich muss Sie darauf aufmerksam
machen, dass Sie wegen der zu Ende gegangenen Rede-
zeit zu den Wahlen in Baden-Württemberg und Rhein-
land-Pfalz leider nichts Sachdienliches mehr vortragen
können.
Herr Präsident, es bedarf in der Tat nur noch einer
einzigen Bemerkung. Baden-Württemberg ist mit
5 Prozent Wirtschaftswachstum und der niedrigsten Ar-
beitslosigkeit das Spitzenland in Deutschland. Deswe-
gen haben tüchtige Bürgerinnen und Bürger eine tüch-
tige Regierung aus CDU und FDP verdient, die diesen
Kurs fortsetzt.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4877 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011
– Drucksache 17/4821 –Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 17/5239 –Berichterstattung:Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck
Dr. Hans-Peter BartelsElke HoffPaul Schäfer
Agnes Malczak– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/5243 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus-Peter WillschJohannes KahrsDr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Gesine LötzschAlexander BondeHierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag derKoalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD, der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibt es kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomasde Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Mit dem Wehrrechtsände-rungsgesetz, das heute abschließend beraten wird, setzenwir die Verpflichtung zum Grundwehrdienst zum 1. Julidieses Jahres aus. Zugleich führen wir einen freiwilligenWehrdienst ein. Beides sind zentrale Elemente auf demWeg zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Ich wieder-hole: Wir reden nicht nur über die Aussetzung der Wehr-pflicht, wir reden gleichzeitig über die Einführung einesneuen freiwilligen Wehrdienstes.Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leis-tungsstark, wirksam, international geachtet und imBündnis verankert sowie nachhaltig finanzierbar sind.Unser Land braucht Streitkräfte, die auf die gegenwär-tige Situation reagieren können und ausreichend vorbe-reitet und flexibel sind, sich an neue Herausforderungenanzupassen.
Das ist der Grund, warum eine Neuausrichtung der Bun-deswehr erforderlich ist.Ich habe bei meinem Amtsantritt – dieser war erst vordrei Wochen – gesagt, dass ich mir die Zeit nehme, die ichbrauche. Das heißt nicht, dass ich Entscheidungen auf dielange Bank schiebe oder schieben kann. Bis Juni diesesJahres möchte ich die grundlegenden Festlegungen überdie Zahl der Soldaten, über das Fähigkeitsprofil und überdie groben Strukturen der Bundeswehr treffen. Auch dieEntscheidung über das Ministerium und die Entschei-dung über die zivile Wehrverwaltung gehören dazu. Allediese Entscheidungen müssen in einem Zusammenhanggetroffen, in einem Zusammenhang begründet und in ei-nem Zusammenhang umgesetzt werden. Das habe ichvor.
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Die Entscheidung, die Verpflichtung zum Grund-wehrdienst auszusetzen, ist richtig, und sie ist nicht mehrinfrage zu stellen.
Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspoli-tisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militä-risch nicht mehr erforderlich.
Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auchnicht mehr gewährleistet. Es gibt keinen Weg zurück.Ich sage das nicht mit Freude. Denn die Aussetzung derWehrpflicht heute ist kein Freudenakt. Es ist eine not-wendige, aber mich nicht fröhlich stimmende Entschei-dung.Entscheidend sind heute nicht mehr hohe Zahlen vonSoldaten, sondern professionelle Streitkräfte, die unterschwierigen und anspruchsvollen Bedingungen raschund erfolgreich im Inland und im Ausland im Rahmender verfassungsrechtlichen Grundlagen zum Einsatz ge-bracht werden können.Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden,tritt an die Stelle des verpflichtenden Grundwehrdienstesein neuer freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monatenfür junge Frauen und Männer. Weder die verfassungs-rechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage derWehrpflicht werden gänzlich abgeschafft. Nicht zuletztist dies eine Rückversicherung mit Blick auf die sich inder Zukunft möglicherweise ändernden sicherheitspoliti-schen Rahmenbedingungen.Mit dem freiwilligen Wehrdienst verdeutlichen wirzugleich, dass junge Frauen und Männer Dienst in derBundeswehr im Sinne eines staatsbürgerlichen Engage-ments leisten können, ohne sich gleich länger als Soldatauf Zeit verpflichten zu müssen. Das ist ganz ohne Frageein Einschnitt. Niemand kann Ihnen heute mit Sicherheitsagen, wie viele Freiwillige am 1. Juli zu uns kommenwerden.Es gibt viele Spekulationen über die Zahlen; dabeiwird hinsichtlich der Kurzzeitfreiwilligen und Grund-wehrdienstleistenden viel durcheinandergeworfen. Ichkann das nicht im Einzelnen bewerten. Ich finde es nichtverwunderlich, dass es keine klare Auskunft über dieZahlen gibt; schließlich verabschieden wir erst heutediesen Gesetzentwurf. Ich werde keine Zahl nennen, wieviele wohl am 1. Juli den neuen freiwilligen Wehrdienstantreten werden. Ich freue mich über jede und über je-den, der kommt.
Die Frage, ob dieses Gesetz ein Erfolg wird, entschei-det sich erst im Laufe der Jahre, nicht im ersten Quartaldieses Jahres.
Ich halte es für selbstverständlich, dass gesetzgeberischeEntscheidungen – auch diese – auf ihre Praktikabilitätund gesellschaftliche Akzeptanz überprüft werden. Ichschlage Ihnen deshalb vor, dass wir schon nach dem ers-ten Jahr eine Evaluierung dieses Gesetzes und des frei-willigen Wehrdienstes durchführen. Dazu werde ich demDeutschen Bundestag gern einen Bericht vorlegen. Dannkönnen wir sehen, welche Erfahrungen wir damit ge-macht haben und wo wir im Einzelnen nachsteuern müs-sen.Meine Damen und Herren, wir setzen natürlich ver-stärkt auf Nachwuchswerbung. Wir müssen sicherstel-len, dass wir die Besten und die Fähigsten für den neuenfreiwilligen Wehrdienst gewinnen, und zwar solcheFrauen und Männer, die als Soldaten auch eine ethischeVerpflichtung empfinden; ich komme gleich darauf zu-rück.Deswegen – aber nicht nur deswegen – auch ein Wortan die jungen Frauen. Bisher haben wir um junge Frauenals länger dienende Zeitsoldaten geworben, nicht alsGrundwehrdienstleistende. Das wird sich jetzt ändern.Es ist nicht nur aus Gründen der Demografie und einesErgänzungsbedarfs, sondern es liegt auch im Sinne derStreitkräfte, dass wir mit dieser tollen Generation jungerFrauen so umgehen und um sie so werben, dass wir vielevon ihnen für die Streitkräfte gewinnen. Ich würde michfreuen, wenn Sie alle dabei mithelfen.
Der deutlich verbesserte Wehrsold für den freiwilli-gen Wehrdienst und die Verpflichtungsprämien für Sol-daten auf Zeit senden starke Signale. Ich freue mich sehrüber den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen,der vorsieht, dass man bestimmte Zahlungen wegen derlängeren Beratungsfrist des Bundesrates schon vor In-krafttreten des Gesetzes leisten kann. Das wäre für unseine gute Grundlage, um kurzfristig zu handeln.Wir streben bessere Unterbringungsstandards fürMannschaften und nach Möglichkeit heimatnahe Ver-wendungen an. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Fort-geltung der Steuerfreiheit der Geld- und Sachbezüge, derkostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungendes Arbeitsplatzschutzgesetzes, all das sind weitere Ele-mente einer attraktiven Ausgestaltung des freiwilligenWehrdienstes.
Darüber hinaus wollen wir im Rahmen der Berufsför-derung die Möglichkeiten der Teilnahme an Aus-, Wei-ter- und Fortbildungsmaßnahmen erweitern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einenSatz aus dem Entschließungsantrag der SPD vortragen,den ich mir gerne zu eigen machen möchte – ich zitie-re –:Wer freiwillig Wehrdienst leistet, muss besser ge-stellt werden als derjenige, der keinen Freiwilligen-dienst versieht.
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11344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
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Bundesminister Dr. Thomas de MaizièreDamit bin ich voll einverstanden. Ich werde Sie daranerinnern. Wenn wir mit SPD-Wissenschaftsministernüber Wartezeiten und Ähnliches reden, dann hoffe ichauf Ihre Unterstützung.
– Vielen Dank.Nur wenn wir den Dienst attraktiv ausgestalten, si-chern wir die personelle Einsatzbereitschaft der Bundes-wehr. Das alles ist notwendig und unverzichtbar. Aber– das soll im Rahmen dieser Rede mein letzter Gedankesein – neben den rein materiellen Maßnahmen zur Steige-rung der Attraktivität darf ein Aspekt nicht vernachlässigtwerden: Jeder, der sich für einen Dienst in den Streitkräf-ten entscheidet, ob als freiwillig Wehrdienstleistenderbzw. als Berufs- oder als Zeitsoldat, muss Anerkennungfür seinen freiwilligen Dienst erfahren. Wer ausschließ-lich wegen des Geldes zur Bundeswehr kommt, ist viel-leicht genau derjenige, den wir nicht haben wollen.
Ausschließlich mit finanziellen Anreizen und Ver-günstigungen werden wir den freiwilligen Wehrdienstnicht lebensfähig erhalten und der Bundeswehr nichthelfen. Ein Soldat muss sich darauf verlassen können,dass sein Dienst als das angesehen und geachtet wird,was er ist: als ein Dienst an unserer Gesellschaft, als einehrenvoller Dienst für unser Land, auf den der Soldatstolz ist und auf den unser Land stolz ist.Wenn es gelingt, dafür ein größeres Bewusstsein zuschaffen – das geht mit keiner Werbekampagne und auchnicht über Nacht, sondern nur im Rahmen eines Prozes-ses, den wir in unserer Gesellschaft anstoßen müssen –und sichtbar zu machen, was Soldaten heute und morgenfür unser Land leisten, dann können wir zuversichtlichsein, dass auch künftig der Dienst in der Bundeswehr,auch der freiwillige Wehrdienst in der Bundeswehr, zumWohle und Nutzen von uns allen ist. Ich bitte Sie auf die-sem Weg herzlich um Unterstützung.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-
gentlich ist dies ein Thema, bei dem hier im Bundestag
sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten sichtbar werden
können. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass die
bisherige Ausgestaltung der Wehrpflicht nicht mehr halt-
bar ist. Wenn fast die Hälfte eines Jahrgangs als untaug-
lich ausgemustert wird, damit das Verfassungsgebot der
Wehrgerechtigkeit nicht zu eklatant verletzt wird, dann
ist das nicht mehr haltbar und muss geändert werden.
Wenn aus einem Jahrgang von 400 000 jungen Männern
nur noch 50 000 im Jahr zu einem praktikumsartigen
Grundwehrdienst eingezogen werden, dann ist es mit der
allgemeinen Pflicht zum Dienen nicht mehr weit her.
Deshalb haben wir Sozialdemokraten bereits in der
letzten Wahlperiode den Übergang zu einem freiwilligen
Wehrdienst vorgeschlagen. Dass Sie von der Regie-
rungskoalition nun auf diese Idee eingehen, begrüßen
wir ausdrücklich. Unser Konzept orientiert sich an den
positiven Erfahrungen mit den FWDL, den 25 000 frei-
willig länger Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr.
Auch hier sehe ich einen gemeinsamen Ansatz von Re-
gierung und SPD.
Um Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition, nun aber nicht durch zu viele Gemeinsamkeiten
zu irritieren, will ich einiges zu Ihrem Umgang mit dem
Thema Wehrpflicht in den vergangenen Monaten sagen:
Dass Ihr damaliger Verteidigungsminister erst theatra-
lisch beteuern musste, mit ihm sei die Abschaffung der
Wehrpflicht nicht zu machen, um dann Monate später
genau dies in die Wege zu leiten, entbehrt nicht gerade
einer gewissen persönlichen Konsequenz. Das haben wir
bei ihm öfter erlebt; sei es drum. Aber die Verkürzung
der Grundwehrdienstzeit von neun auf sechs Monate,
wie es Ihr Kompromiss im Koalitionsvertrag vorsah, war
nun wirklich eine Veralberung Ihres eigenen sicherheits-
politischen Sachverstandes und eine Veralberung der
Bundeswehr.
W6, das nützt und nutzte niemandem: den Wehr-
pflichtigen nicht, der Truppe nicht, nicht einmal der Ko-
alition.
Herr Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Koppelin?
Aber gern.
Verehrter Herr Kollege, da Sie die Haltung der Unionangesprochen haben, möchte ich fragen: Wie war es inIhrer Partei? Sie waren schließlich in einer Koalition mitden Grünen. Ich erinnere daran, dass die Grünen, ähnlichwie die FDP, für die Aussetzung der Wehrpflicht waren.
Die Grünen konnten es nicht durchsetzen. Wir haben esin dieser Koalition durchgesetzt. Wie war da die Haltungder Sozialdemokraten? Erinnere ich mich richtig, dassIhre Verteidigungsminister gesagt haben: Mit uns ist dasnicht zu machen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11345
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Genau. Deshalb sind wir dabei geblieben.
– Ja, das hätte eine Frage an die Grünen sein können.Wir hatten kein Problem damit, dass wir als Befürworterder Wehrpflicht in der Koalition mit den Grünen bei derWehrpflicht geblieben sind. In der letzten Wahlperiodehätte es die Möglichkeit gegeben, mit der Union zu et-was Neuem zu kommen. Das ist offenbar nur unter Ih-rem Einfluss möglich gewesen.
W6 war ein Kompromiss, der eigentlich eine Win-win-Situation hätte werden sollen. Wenn man Kompro-misse eingeht, sollten eigentlich beide Seiten gewinnen.In diesem Fall haben beide verloren.Wir Sozialdemokraten werden Ihrem Wehrrechtsän-derungsgesetz heute nicht zustimmen, weil die Rahmen-bedingungen noch völlig unklar sind.
Wir kennen die Struktur der künftigen Bundeswehrnicht. Was sollen die Freiwilligen dort tun? Wir kennendas notwendige Programm zur Steigerung der Attraktivi-tät nicht. Das wird Geld kosten. Wird der Freiwilligen-dienst daran scheitern? Wir wissen nicht, wie Sie künftigfür diesen und für die anderen Freiwilligendienste wer-ben wollen. Wollen Sie das überhaupt? Von nichtskommt nichts. Schauen Sie sich einmal Ihre ersten Frei-willigenzahlen an. Das ist niederschmetternd. Der Minis-ter sprach heute von einer Evaluation, mithilfe derernach dem ersten Jahr geschaut werden soll, ob das allesüberhaupt funktioniert. Im Hinblick darauf stelle ichfest: Ihr Wehrrechtsänderungsgesetz ist ein weiteres Ex-periment mit der Wehrpflicht mit dem Ziel der Abschaf-fung. Ich bin etwas unsicher, ob das mit den Koalitions-fraktionen so vereinbart war. Wir haben das bisher ankeiner Stelle so gehört.
Ein Wehrrechtsänderungsgesetz für ein Jahr: herzlichenGlückwunsch!Was uns als Opposition heute am meisten irritiert hat,ist der völlig wurschtige Umgang der Regierung mit gel-tenden Gesetzen. Ich hoffe, wir sind uns hier im Parla-ment einig, dass die Wehrpflicht noch gilt. Etwas Neuesgilt erst dann, wenn wir hier im Deutschen Bundestagein neues Gesetz beschlossen haben; darüber reden wirgerade. Aber Ihr fabelhafter Minister a. D. hat die Re-form einfach vorgezogen – ganz ohne gesetzliche Grund-lage.Ich lese Ihnen vor, was die Kreiswehrersatzämter inden ersten Tagen dieses Jahres 160 000 wehrpflichtigenjungen Männern per Brief mitgeteilt haben:Die Bundesregierung hat beschlossen, ab dem1. Juli 2011 die Einberufung zum Grundwehrdienstauszusetzen.Und weiter:Im Vorgriff auf die geplante gesetzliche Regelungbesteht die Möglichkeit, ab dem 1. März 2011– das war schon –freiwilligen Wehrdienst zu leisten.Ich frage Sie, Herr Minister de Maizière: Wozu bera-ten wir hier eigentlich noch einen Gesetzentwurf, wenndie Regierung der Auffassung ist, es gehe auch ohne?
Wieso machen Sie als Koalitionsfraktionen sich noch dieMühe, Änderungsanträge zum Gesetzentwurf der Regie-rung einzubringen? Die Regierung bewegt sich bei ih-rem Umgang mit dem Parlament hart am Rande derRechtsstaatlichkeit.
Das erleben wir bei der Wehrpflicht und genauso bei derRücknahme der von Ihnen durchgesetzten gesetzlichenRegelungen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraft-werke. Es erfolgt einfach eine Rücknahme per Presse-konferenz.Sie sollten ernsthaft zur verfassungsmäßigen Praxiszurückkehren. Gesetze verpflichten die Exekutive. Ge-setze ernst zu nehmen, ist keine freiwillige Leistung derRegierung, sondern ihre Pflicht – auch beim Übergangzum freiwilligen Wehrdienst.
Ihre Reform des Wehrrechts findet nicht isoliert statt,sondern sie ist Teil einer weiteren Verkleinerung derBundeswehr, um Geld zu sparen. Das Prinzip, auch beimMilitär sparsam zu haushalten, gehört wohl zu den Ge-meinsamkeiten hier im Parlament.
Es waren christdemokratische und sozialdemokratischeVerteidigungsminister, die unsere Bundeswehr nach demEnde des Kalten Krieges umgebaut und ihren Umfangvon über 600 000 Soldaten bei der Vereinigung auf heute250 000 reduziert haben. Seit vielen Jahren ist die Bun-deswehr eine Armee im Einsatz. Sie hat sich bewährt,und sie bewährt sich heute – auch in schwierigen Missio-nen.Gerade in der heutigen Lage sollten wir mit beliebiganmutenden Sparvorgaben aber vorsichtig sein. Wir wis-sen nicht, was die nächsten Jahre bringen. Wer hätte vordrei Monaten mit dieser Freiheitsbewegung in der arabi-schen Welt gerechnet? Wer war 2001 auf den 11. Sep-
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Dr. Hans-Peter Bartels
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tember vorbereitet? Wie lange im Voraus wussten wir,wann der Kalte Krieg zu Ende geht? Was zeigen die ak-tuellen Katastrophen in Japan mit Blick auf unsere Fä-higkeit, schnell große Personalkörper für den Katastro-phenschutz zu mobilisieren?Ich will nicht Kassandra spielen,
aber, Herr Minister de Maizière, lassen Sie uns vorsich-tig dabei sein, Fähigkeiten allzu leichtfertig aus derHand zu geben. Es kann einen raschen politischen Wan-del geben – zum Guten und zum weniger Guten. Wirsollten deshalb nicht allzu schnell in die Lage kommen,sagen zu müssen: Die Bundeswehr kann das nicht mehr.Herr Schockenhoff hat in dieser Woche die Libyen-Poli-tik des Außenministers damit begründet. Das ist nichtgut, und das stimmt in der gegenwärtigen Lage übrigensauch nicht. Deshalb wäre es besser, wenn wir uns einigwären, dass es keine Bundeswehrreform nach Kassen-lage geben darf.Der ausgeplante Umfang von 185 000 Soldaten mussjetzt stehen. Zerschlagen Sie nicht diese Minimalstruk-tur!
Es muss struktursicher sein, dass 15 000 Soldaten frei-willige Wehrdienstleistende sind; das darf keine variableGröße sein, die in den Haushaltslöchern der Zukunft ver-schwindet.
Lassen Sie uns bitte so viel Gemeinsamkeit herstel-len, dass nicht jede neue Regierung eine neue Bundes-wehrreform anfangen muss.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Erdel für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich danke dem Bundesverteidigungsministerfür seine klaren Worte heute an uns alle; denn er hat da-mit einen ganz klaren Weg und ein ganz klares Ziel vor-gezeichnet. Er hat uns mitgeteilt, wie er sich vorstellt,diese Strukturreform anzugehen. Das heißt, er schießtnicht aus der Hüfte. So ähnlich kommen mir aber IhreVorschläge vor, Herr Kollege Bartels. Nein, es gibt einklares Konzept, einen klaren Masterplan dafür, wie dieseStrukturreform stattfinden soll.
Mit diesem Gesetzentwurf geben wir den Startschussfür die vielleicht umfassendste Strukturreform, die dieseBundeswehr bisher erlebt hat, indem wir die Wehrpflichtjetzt aussetzen. Dadurch wird uns aber auch die Mög-lichkeit eröffnet, künftig Reservisten einzuziehen und imFalle eines Falles auch eine Rekonstitution zu vollzie-hen.Erlauben Sie mir an dieser Stelle, den Millionen vonWehrpflichtigen meinen Dank auszudrücken, die in denletzten 56 Jahren Dienst für Deutschland und in der si-cherheitspolitischen Lagebeurteilung der frühen Jahr-zehnte auch einen wichtigen Dienst für die SicherheitEuropas geleistet haben.
Ich möchte mich aber auch bei den vielen Freiwilli-gen bedanken. Denn wenn wir wie heute über die Aus-setzung der Wehrpflicht diskutieren, dann erwecken wirimmer den Eindruck, als würde die Bundeswehr nur ausWehrpflichtigen bestehen. 190 000 Soldaten der Bundes-wehr sind Zeit- und Berufssoldaten. Auch das müssenwir berücksichtigen.Seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ein Prozess hinzu einer Professionalisierung ab. Die Waffensystemeund Verfahren werden komplexer und machen eine län-gere Stehzeit notwendig. Deswegen und auch vor demHintergrund einer ständigen sicherheitspolitischen Lage-beurteilung ist es notwendig, die Bundeswehr zu profes-sionalisieren, und den finalen Schritt zur Professionali-sierung gehen wir mit dem Aussetzen der Wehrpflicht.
In den vergangenen Jahrzehnten war es einfach, diesicherheitspolitische Lage Deutschlands zu beurteilen.Wir lebten in schwierigen Zeiten. Eine undurchdringbareGrenze zog sich mitten durch unser Land, und es gabzwei Blöcke.Jetzt zeigt sich, dass die Volatilität in der politischenLagebeurteilung zunimmt. Ich will nur ein Beispiel nen-nen. Die Frauen und Männer, die Ende der 40er-Jahreunser Grundgesetz verfasst haben, haben sich sicherlichnicht vorstellen können, dass wir uns im Jahr 2010 mitPiraterie beschäftigen müssen, ein Phänomen, das in denletzten zehn Jahren aufgetaucht ist und uns auch sicher-heitspolitisch beschäftigt.Wenn wir nur noch 17 Prozent eines Jahrgangs unse-rer jungen Männer als Wehrpflichtige zur Bundeswehrholen, dann kann nicht mehr von Gerechtigkeit gegen-über diesen jungen Männern gesprochen werden.
In diesem Zusammenhang wird auch immer wiederdie Gefahr beschworen, dass ein Staat im Staat entsteht.Ich sehe diese Gefahr nicht.
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Rainer Erdel
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Unsere Zeit- und Berufssoldaten sind bereits jetzt inte-graler Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie genießen ho-hes Ansehen.
Sie tragen Verantwortung in Vereinen und Kirchen undsind kommunalpolitische Mandatsträger. Auch unter unssind einige Berufssoldaten, die sich politisch engagieren.Deswegen ist dieser Vorwurf absurd und eine Unver-schämtheit gegenüber unseren Zeit- und Berufssoldaten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ichfreue mich, dass wir im Gegensatz zu der Diskussionvon vor vier Wochen heute eine sehr sachliche Diskus-sion führen. Gehen Sie diesen Weg mit! Denn im We-sentlichen sehe ich bei allen Ihren Vorschlägen ein ge-meinsames Ziel: die Bundeswehr zu reformieren. Gehenwir es an!Abschließend wünsche ich Ihnen, Herr Minister, vielTatkraft für das klare Konzept, das Sie geschildert ha-ben. Die Unterstützung der FDP-Fraktion ist Ihnen dabeisicher.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass abJuli die Wehrpflicht für die jungen Männer ausgesetztwird, ist, finde ich, durchaus ein Grund zur Freude, HerrMinister. Keine Wehrüberwachung, Gewissenserklärungund ungewollte Zäsuren der Lebensplanungen mehr: Dasist durchaus gut, vor allem für die Betroffenen oder po-tenziell Betroffenen.Die Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass Siediesen Schritt nur halbherzig und inkonsequent gehen.Spätestens seit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontationist die sicherheitspolitische Begründung für den Pflicht-dienst an der Waffe entfallen. Wenn man sagt, dass esauf absehbare Zeit keine konkrete militärische Bedro-hung gibt, wäre es konsequent gewesen, die Wehrpflichtnicht nur auszusetzen, mit der Option, dies schnell wie-der rückgängig machen zu können, sondern sie abzu-schaffen. Daran halten wir fest.
Zu dieser Zäsur hat sich die Regierung leider nichtdurchringen können, weil Sie offensichtlich von derSorge getrieben sind, ob Sie noch genug junge Leute fürdie Truppe bekommen. Daher führen Sie jetzt im Rah-men des – auch das ist interessant – Wehrpflichtgesetzeseine neue Statusgruppe ein, die sogenannten freiwilligWehrdienstleistenden.Sie suggerieren dabei, es handele sich um einen Frei-willigendienst wie andere auch. Es gibt dann aber offen-sichtlich zwei Arten von Freiwilligen: einerseits dieIdealisten, die im Freiwilligen Sozialen Jahr engagiertsind, und andererseits die freiwillig Wehrdienstleisten-den, die de facto doch berufstätig sind und für die maneinen materiellen Anreiz schaffen muss.Das führt dazu, dass diejenigen, die beispielsweiseein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, mit einemDrittel der Summe derjenigen nach Hause gehen, die denneuen Wehrdienst leisten. Es handelt sich exakt um dieDifferenz zwischen 400 Euro und 1 200 Euro. Das fin-den wir nicht nur ungerecht, sondern das finden wir in-akzeptabel. Da gehen wir nicht mit.
Andererseits nehmen Sie eine scharfe Differenzierungzwischen den Quasisoldaten und den Soldaten auf Zeitvor. Gegenüber Letzteren sind die neuen freiwilligWehrdienstleistenden nämlich benachteiligt. Diese Dis-kriminierung erklärt sich ganz einfach daraus, dass manbei den Mannschaftsdienstgraden weiter sparen will undfroh ist, Leute zu haben, die für kleines Geld arbeiten,die man aber dennoch in die Auslandseinsätze schickenkann. Denn spätestens nach zwölf Monaten – so steht esin Ihrem Gesetzentwurf – muss man eine Verpflich-tungserklärung unterschreiben, dass man bereit ist, inAuslandseinsätze zu gehen. Auch das gefällt uns ganzund gar nicht.
Es scheint im Übrigen noch gar nicht klar zu sein, wieviele Nachwuchssoldaten gebraucht werden. Der Gene-ralinspekteur hielt im letzten Sommer 7 500 für ausrei-chend, der Exminister zu Guttenberg auch. Jetzt sind wirbei 15 000. Die Zahl hängt natürlich vom Gesamtum-fang der Streitkräfte ab. Auch dieser ist nicht festgelegt,ist unklar. Das zeigt, wie konfus Ihr Herangehen ist.
Auch andere Einzelheiten des Gesetzes sind unver-daulich. Ich nenne nur zwei Beispiele. Die Meldestellenmüssen unaufgefordert die Daten aller Jungen und Mäd-chen an die Bundeswehr schicken. Das ist mit den Da-tenschutzbestimmungen nicht in Einklang zu bringen,und das ist eine nicht zu vertretende Privilegierung derBundeswehr gegenüber anderen Arbeitgebern.
Außerdem fehlt in dem Gesetzentwurf eine klare Vor-gabe, dass Minderjährige nicht angeworben werden sol-len. Die UN-Vereinbarungen zu Kinderrechten und Kin-dersoldaten sehen einen anderen Umgang vor.Auch diese beiden Punkte sind für uns maßgeblicheGründe, weshalb wir nicht zustimmen werden.
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11348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Paul Schäfer
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Sie legen einen Gesetzentwurf vor, der mit heißer Na-del gestrickt und in vielerlei Hinsicht misslungen ist.Das hat den einen Grund, dass die öffentlichen Kassenwegen Ihrer Bankenrettung klamm sind, Sie aber zu-gleich eine Effizienzsteigerung bei der Einsatzarmeewollen, die Geld kostet. Nur deshalb hat insbesondereIhr Vorgänger, Herr de Maizière, die Aussetzung derWehrpflicht vorangetrieben, und nur deshalb gibt esdiese Eile.Dabei ist ein Murksgesetz herausgekommen, undMurksgesetzen stimmen wir nicht zu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluss ein paargrundsätzliche Anmerkungen: Manche sagen, der Weg-fall der Wehrpflicht verändere das innere Gefüge derStreitkräfte und ihre Stellung in der Gesellschaft erheb-lich. An dieser These könnte etwas dran sein. Wenn diealte Klammer von Staatsbürger, Landesverteidigung undWehrform, die eigentlich schon länger nicht mehr exis-tiert, jetzt vollends aufgelöst wird, dann könnte das miteinem beträchtlichen Risiko verbunden sein.
– Das wird doch durchaus diskutiert. Davor können Siedoch nicht die Augen verschließen. Die Gefahr, dass wires irgendwann mit einer professionalisierten Kaste vonmobilen Einsatzsoldaten zu tun haben werden, für diesich die Gesellschaft nicht mehr sonderlich interessiert,ist doch gegeben. Da muss man gegensteuern. Das ist dieAufgabe.
Entscheidend dafür ist aber nicht in erster Linie dieWehrform, sondern das sind der Auftrag der Streitkräfteund der Stellenwert, den die sogenannte Innere Führungin der Praxis hat. Dieser Maßstab muss für die Bundes-wehrreform gelten, die mit diesem Gesetzentwurf aufden Weg gebracht werden soll.Herr Minister, diese Reform muss vom Kopf auf dieFüße gestellt werden. Dazu gehört an erster Stelle, zu de-finieren, wofür wir die Bundeswehr überhaupt nochbrauchen.
Dafür brauchen wir eine gründliche und kritische Be-standsaufnahme der Auslandseinsätze der vergangenen20 Jahre. Es ist ein Grundfehler, die Dinge jetzt auf dieErhöhung der Einsatzeffizienz zu verkürzen. Der Afgha-nistan-Krieg ist keine Blaupause. Er darf keine Blau-pause sein. Er ist ein abschreckendes Beispiel. Deshalbsagt die Linke: Diese Kriegseinsätze wollen wir nicht,und wir wollen auch keine Reform, die sie effektivierensoll.
Die Mehrheit der Bevölkerung will das auch nicht.Wahrscheinlich wäre es gut, wenn die Menschen zumin-dest die Möglichkeit hätten, sich direkter an solchen Ent-scheidungen der Politik zu beteiligen. Darüber sollteman nachdenken.Vollends abenteuerlich wird es – wir reden ja übereine Gesamtreform der Bundeswehr –, wenn Sie jetztauch noch über neue Aufträge für die Soldatinnen undSoldaten nachdenken. Sie sollen jetzt auch noch unserwirtschaftliches Interesse an billigen Ressourcen undRohstoffen durchsetzen. Es muss definitiv klargestelltwerden: Landesverteidigung ja, Wirtschaftskriege nein. –Basta.
Es bleibt mit Blick auf die Veränderungen der innerenVerfassung der Bundeswehr richtig, den Staatsbürger inUniform mehr in das Zentrum zu rücken. Das war in ei-nem bestimmten historischen Einschnitt schon einmalnotwendig, nämlich 1969/70, als es darum ging, denüberkommenen Traditionalismus aus der Wehrmacht zuüberwinden. Damals ging es um Modernisierung. In die-ser Hinsicht ist einiges gelungen, was wir auch klugenSoldaten verdanken. Einer davon trägt den NamenUlrich de Maizière.Jetzt geht es darum, unter veränderten Umständen denAnspruch auf größtmögliche Zivilität in den Streitkräf-ten einzulösen und das Leitbild des Staatsbürgers in Uni-form zu erneuern und mit Leben zu erfüllen. Das ist bis-lang nur bruchstückhaft umgesetzt, wenn überhaupt. Dasist eine Aufgabe, der sich der neue Verteidigungsminis-ter durchaus energisch stellen sollte.Das Gesetz, das heute verabschiedet werden soll, istein schlechter Auftakt für die Bundeswehrreform. DieMinister haben gesagt, sie wollten sich Zeit zum Nach-denken lassen. Sie sollten über eine Bundeswehr nach-denken, die bezahlbar ist, die den veränderten sicher-heitspolitischen Erfordernissen entspricht und diedeshalb nach unserer Überzeugung erheblich kleiner unddefensiv ausgerichtet sein sollte.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMinister de Maizière, ich wünsche Ihnen für die Aus-übung Ihres neuen Amtes viel Glück und Erfolg. IhrVorgänger hat Ihnen mit der Bundeswehrreform einegroße Herausforderung vermacht. Allerdings hat er Ih-nen auch das ganze Chaos vererbt, das er angerichtet hat.Wenn man sich die Reform als ein Haus vorstellt,kommt einem das Bild einer Baustelle in den Sinn, aufder nichts an Ort und Stelle ist. Die Baupläne sind nurgrobe Skizzen, und die Handwerker wissen noch nicht
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Agnes Malczak
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einmal, wie viele Quadratmeter das Gebäude schließlichhaben soll.
Herr Verteidigungsminister, Sie müssen sich heute nochnicht die volle Verantwortung für die bisherigen Fehlerzu eigen machen. Doch Sie und Ihre Kolleginnen undKollegen von der Koalition müssen sich den Vorwurf ge-fallen lassen, dass sie schon bei der Schaffung des krum-men und schiefen Rohbaus dabei waren.In der Expertenanhörung in der vergangenen Wochewurden nicht nur die zahlreichen Fehler im Wehrrechts-änderungsgesetz thematisiert. Ein ganz grundlegenderMangel dieses Reformschritts kam wiederholt zur Spra-che. Die Bundesregierung hat darauf verzichtet, vor derReform über heutige und zukünftige Aufgaben, Fähig-keiten und Grenzen der Bundeswehr zu sprechen.
Das Fundament der Baustelle Bundeswehrreform istnoch viel zu schwach. Nicht zuletzt wurde in der Anhö-rung aber auch deutlich, dass etliche Rahmenbedingun-gen für die Aussetzung der Wehrpflicht noch gar nichtgeklärt sind. Attraktivität des Dienstes, Nachwuchsge-winnung, Ausbildung und Verwendung der freiwilligWehrdienstleistenden sind Stichworte für ungelöste Pro-bleme. Wir brauchen hier schnell Antworten. Trotzdemwird mit der Verabschiedung dieses Gesetzes heute einnotwendiger und historischer Schritt vollzogen.Wir Grüne haben seit Jahren eine Bundeswehr ohneWehrpflicht gefordert, und wir hatten und haben dafürgute Gründe. Die allgemeine Wehrpflicht war sicher-heitspolitisch schon lange nicht mehr begründbar. Dererhebliche Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männerist nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Doch die Unionund auch die SPD haben viel zu lange an dieser über-kommenen Wehrform festgehalten.
Weniger als die Hälfte aller jungen Männer eines Jahr-gangs hat zuletzt Wehr- oder Zivildienst geleistet. DieWehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch ungerecht-fertigt. Sie war auch höchst ungerecht.
Wirklich bitter ist aber, dass Sie so unendlich viel Zeitund Ressourcen für nichts verplempert haben. Noch imApril 2010 haben wir Grüne im Bundestag einen Antraggestellt, in dem wir von der Bundesregierung geforderthaben, ein schlüssiges, tragfähiges sicherheitspolitischesKonzept vorzulegen, mit dem die Bundeswehr ihrenAuftrag ohne Rückgriff auf die Wehrpflicht erfüllenkann. In der namentlichen Abstimmung haben Sie, liebeKolleginnen und Kollegen von der Koalition, diesen An-trag abgelehnt. Damals dachte ich, Sie würden krampf-haft an der Wehrpflicht als Relikt des Kalten Kriegesfesthalten. Heute beschleicht mich manchmal der unguteVerdacht, dass sich Ihre Stimmen vor allem gegen dieForderung gerichtet haben, ein Konzept zu entwickeln.
Denn rund acht Monate später hat das Kabinett die Aus-setzung der Wehrpflicht beschlossen, ohne Konzept.Sie haben auch viel Zeit und viele Mittel für die sinn-lose, wirklich völlig vernunftwidrige Verkürzung desWehrdienstes auf sechs Monate verschwendet. Aus fi-nanziellen Gründen musste die Wehrpflicht dann dochweichen. Auf einmal fiel auch Ihnen ein, dass die Wehr-pflicht sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar ist.Dann musste alles ganz schnell gehen. Heute beraten wirdeshalb über ein unausgegorenes Gesetz. Das zeigenauch die zahlreichen Korrekturen der Koalitionsfraktio-nen an dem ersten Entwurf. Diese Änderungen beseiti-gen zwar einige Fehler, aber viele Kritikpunkte bleiben.Da wäre zum Beispiel die fehlende Altersgrenze fürden freiwilligen Wehrdienst. Der Entwurf schließt denDienst Minderjähriger nicht ausdrücklich aus, auchwenn bestimmte Grenzen gezogen werden. Deutschlandkämpft international aber gegen den Einsatz und die Re-krutierung von Kindersoldaten. Wir haben das Zusatz-protokoll der UN-Kinderrechtskonvention über die Be-teiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten 2004ratifiziert. Dieses Engagement ist nur glaubwürdig undkann nur glaubwürdig sein, wenn wir bei unserer eige-nen Armee konsequent sind.
Deshalb fordern wir in unserem Änderungsantrag denBundestag dazu auf, beim Kampf gegen den Einsatz vonKindersoldaten in der Bundeswehr Konsequenz zu zei-gen.
Frau Kollegin, darf der Kollege Koppelin eine Zwi-
schenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Bitte, gerne.
Danke, Frau Kollegin. – Ich habe schon sehr früh, seitich im Bundestag bin, die Freiwilligenarmee gefordert.Wäre es nicht viel besser – man kann manches kritisie-ren; das billige ich Ihnen zu –, an einem solchen Tag zu-frieden zu sein – das gilt für Ihre Partei wie für meine –,dass wir uns endlich durchgesetzt haben, dass wir dieFreiwilligenarmee bekommen und dass die Wehrpflichtausgesetzt wird? Das ist doch ein großer Erfolg, bei allenSchwierigkeiten, die es noch geben wird.Vielen Dank dafür, dass ich Sie noch etwas fragendarf. Können Sie in Richtung SPD sagen, wie es damals
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Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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in Ihrer Koalition war und warum Sie sich nicht durch-setzen konnten?
Ich weiß, dass in der Weizsäcker-Kommission disku-
tiert wurde, den Wehrdienst auf sechs Monate zu verkür-
zen. Damals fand man das aber unsinnig, sodass man es
nicht getan hat. Glauben Sie mir: Ich würde tausendmal
lieber unter Rot-Grün mit der SPD, die damals leider
noch nicht so weit war, die Aussetzung der Wehrpflicht
beschließen als heute mit Ihnen.
Wieder zurück zum Gesetz. Ein weiterer problemati-
scher Punkt ist die Erhebung personenbezogener Daten
der 17-Jährigen bei den Meldebehörden und die Spei-
cherung dieser Daten für ein Jahr. Die massenhafte Da-
tensammlung soll zum Zwecke der Werbung für den
freiwilligen Wehrdienst eingeführt werden. Dieser Ein-
griff in die informationelle Selbstbestimmung minder-
jähriger Frauen und Männer ist unverhältnismäßig. Ich
wundere mich schon sehr, dass die FDP dem zustimmt.
Sonst schreiben Sie sich den Datenschutz doch auch
groß auf Ihre Fahne.
In dem zweiten Punkt unseres Änderungsantrags – dem
können Sie zustimmen – fordern wir den Verzicht auf
diese Datensammlung.
Der Zeitdruck, die Fehler, das Chaos – auf der Bau-
stelle der Bundeswehrreform wurden die ersten Ele-
mente des neuen Hauses errichtet. Aber nicht nur das
Fundament ist rissig, auch die Wände sind bisher noch
sehr wacklig. Leidtragende dieses Pfuschs am Bau sind
am Ende die Soldatinnen und Soldaten, die zivilen Bun-
deswehrangehörigen und die betroffenen jungen Men-
schen. Herr Minister, wir werden weiterhin sehr kritisch
begleiten, wie es mit der Reform weitergeht, und wir
hoffen, dass Sie als neuer Bauherr systematischer und
gründlicher sind als Ihr Vorgänger. Es müssen dringend
Nachbesserungen zu diesem Gesetz vorgenommen wer-
den. Deshalb freue ich mich auch über die angekündigte
Evaluation. Mit der Zustimmung zu unserem Ände-
rungsantrag könnte der Bundestag heute schon zwei Pro-
bleme abräumen.
Der Abschied von der Wehrpflichtarmee war aber
längst überfällig und ist in der Sache völlig richtig. Da-
rum werden wir diesem Gesetz heute trotzdem zustim-
men.
Viele der Vorschläge, die wir Grünen seit Jahren auf den
Tisch gelegt haben, werden in der Reformdebatte disku-
tiert und begrüßt. Wir haben nicht nur die Abschaffung
der Wehrpflicht, sondern auch eine Verkleinerung der
Armee insgesamt, andere Strukturen und eine andere
Beschaffungspolitik gefordert. Aber wenn die nächsten
Reformschritte genauso stümperhaft erfolgen, können
wir das nicht noch einmal unterstützen. Eine derart man-
gelhafte Ausfertigung und Umsetzung werden wir nicht
noch ein weiteres Mal mittragen, selbst wenn dann die
Vorschläge in der Sache richtig sein mögen.
– Sie können das auch ohne uns Grüne machen. Es mag
Ihnen egal sein, ob Ihre Vorschläge vom Parlament mit-
getragen werden oder nicht.
Aber wir halten eine breite parlamentarische Unterstüt-
zung für die Reform der Parlamentsarmee für notwen-
dig.
Denn sie ist eine Voraussetzung für die so oft ange-
mahnte gesellschaftliche Unterstützung. Wir fordern die
Bundesregierung daher eindringlich dazu auf, bei den
weiteren Reformschritten eine größere Sorgfalt an den
Tag zu legen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Gädechens für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat hatdie eingeleitete Reform unserer Bundeswehr eine beson-dere Dimension, weil mit der Aussetzung der allgemei-nen Wehrpflicht nicht nur eine tiefgreifende Zäsur in un-seren Streitkräften vorgenommen wird, sondern weil wirdamit auch auf ein Element in unserer Gesellschaft ver-zichten, das deutlich gemacht hat: Dieser Staat gibt dirnicht nur etwas, sondern er verlangt auch etwas. Er ver-langte von gemusterten Männern, dass sie bereit waren,ihre Wehrpflicht abzuleisten. Das Signal in die Gesell-schaft war klar und deutlich: Man muss bereit sein, die-sem Staat zu dienen, ihn notfalls zu verteidigen, damitnicht nur die Demokratie geschützt wird, sondern auchdie Gesellschaft solidarisch und mit dem notwendigenZusammenhalt existieren kann.Nun gibt es einige Kollegen im Saal, die über ihre ei-genen Erfahrungen im bisherigen Wehr- oder Zivildienstberichten könnten. Ich denke, es waren meist wichtige
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11351
Ingo Gädechens
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Erfahrungen und erlebnisreiche Zeiten, die viele hier au-torisieren, ein fachkundiges Urteil über die bisherigeForm des Wehrdienstes abzugeben.
Bei mir persönlich ist es noch ein wenig anders. Werwie ich über Jahrzehnte als Berufssoldat in der Bundes-wehr gedient hat – als Truppenfachlehrer und Ausbilder,als Vorgesetzter und Dienststellenleiter –, hat bei jedemStellenwechsel besonders auf die neuen Wehrpflichtigengeblickt und geachtet. In den Jahrzehnten durfte ich einegroße Menge an Erfahrungen mit der Wehrpflicht sam-meln. Es war stets hochinteressant, zu sehen, wie ausden jungen Männern, aus den Grundwehrdienstleisten-den, die oftmals unterschiedliche Bildungsabschlüssehatten und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen undGegenden Deutschlands kamen, echte Kameraden wur-den. Es waren Männer, denen am Anfang manchmal einwenig Rücksichtnahme und Toleranz fehlte und dieSchwierigkeiten hatten, sich in die Kameradschaft einzu-ordnen. Dennoch wurden die meisten wichtige Leis-tungsträger, auf die man sich selbst in schwierigsten Si-tuationen verlassen konnte. Natürlich gab es hin undwieder auch andere. Trotzdem bleibt resümierend als Er-gebnis, dass der Wehrdienst für viele Männer oft einesehr wichtige Lebenserfahrung war, die ihnen geholfenhat, als Persönlichkeit zu reifen, um im weiteren Lebenerfolgreich zu sein.Die Bundeswehr im Bündnis war über Jahrzehntenicht nur Garant der äußeren Sicherheit, sondern durchdie Wehrpflicht auch so etwas wie die Schule der Na-tion. So gesehen oder, besser gesagt, nur so gesehenmüssten wir alles daransetzen, die Wehrpflicht in ihrerbisherigen Form zu erhalten. Die Welt um uns herum– wir hörten es bereits – hat sich aber dramatisch verän-dert. Die Sicherheitslage heute ist eine völlig andere alsvor 25 Jahren. Aus einer reinen Verteidigungsarmeewurde die Armee der Einheit. Der oftmals steinige Wegführte weiter bis zu einer Einsatzarmee mit schwierigs-ten Auslandseinsätzen. Dieser Weg war häufig nicht nurholprig, sondern zog sich über mehrere Reformen undReförmchen über einen längeren Zeitraum hin und hatunseren Soldatinnen und Soldaten in vielerlei Hinsichtsehr viel abverlangt.Viel Zeit hat sich die Politik bei ihren Entscheidungengenommen, besonders viel unter einem Verteidigungs-minister Scharping und leider auch unter Peter Struck.Nun beklagt die Opposition schon wieder, es gehe allesviel zu schnell. Herr Schäfer sagt, das Gesetz sei mit derheißen Nadel gestrickt; man hätte viele Dinge lieber pa-rallel beraten. Im Verteidigungsausschuss beklagte ins-besondere die SPD, man hätte sich lieber noch ein wenigmehr Zeit genommen.Diese Regierungskoalition aber handelt. Sie handeltmit Bedacht, aber schnell, weil unsere Soldatinnen undSoldaten reformgebeutelt sind.
Die Bundeswehr braucht und will auch endlich Klarheit.Sie will endlich Entscheidungen, die zu Planungssicher-heit führen, zu Sicherheit bei den Dienstposten, Sicher-heit für das eigene Fortkommen innerhalb oder auch au-ßerhalb der Bundeswehr bis hin zur Sicherheit bei derFrage: Welche Standorte bleiben erhalten? Welche ste-hen zukünftig nicht mehr zur Verfügung?
In den vergangenen Jahrzehnten war aufgrund der si-cherheitspolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht dierichtige Wehrform. Deshalb danke ich meinen Kamera-dinnen und Kameraden sowie allen Ausbilderinnen undAusbildern, die in meist vorbildlicher Weise und unterBerücksichtigung des Prinzips der Inneren Führungjunge Männer ausgebildet haben.
Eine gewaltige Zahl: Rund 7,5 Millionen Wehrpflich-tige haben gelobt, der Bundesrepublik Deutschland treuzu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschenVolkes tapfer zu verteidigen. Dafür möchte ich im Na-men der CDU/CSU-Fraktion allen ehemaligen und auchden noch diensttuenden Wehrpflichtigen herzlichen Danksagen.
Heute und für die Zukunft brauchen wir eine ange-passte Form des Dienstes in unserer Bundeswehr, eineArmee im Einsatz. Was der Einsatz einer Armee wirk-lich bedeutet, erleben wir besonders schmerzlich in Af-ghanistan oder auch teilweise auf See im Kampf gegenPiraterie.Wir brauchen nicht nur das bestmögliche Gerät undmodernste Ausrüstung, sondern wir brauchen auch einWehrrecht, das Klarheit schafft und die Menschen rekru-tiert, die sich einer manchmal gefährlichen, aber stetsfordernden Aufgabe stellen wollen.Hierzu bietet die Koalition in dem vorgelegten Gesetz-entwurf ein neues angepasstes Angebot, das einen frei-willigen 12- bis 23-monatigen Wehrdienst vorsieht. Da-rüber hinaus kann der Weg vom Soldaten auf Zeit zumBerufssoldaten führen, so wie es ihn bereits heute gibt.Der bisher vorhandene Werbeeffekt durch die allge-meine Wehrpflicht wird mit ausgesetzt, geht also verlo-ren. Deshalb müssen wir zwangsläufig attraktivitätsstei-gernde Maßnahmen einleiten, die neben Berufsförde-rung verstärkt Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnah-men ins Gesamtportfolio aufnehmen. Auch hier reagiertdie Koalition konsequent und bringt ein Maßnahmenpa-ket zur Steigerung der Attraktivität auf den Weg. Kreis-wehrersatzämter und Zentren für Nachwuchsgewinnungmüssen schnellstmöglich so aufgestellt werden, dass Ein-stellungen mit klaren Aussagen und Vorgaben erfolgenkönnen.Der Umstrukturierungsprozess hin zur Freiwilligenar-mee wird all diejenigen, die es gut mit der Bundeswehrmeinen, auch weiterhin fordern. Die Regierungskoali-tion arbeitet intensiv an der Beantwortung vieler Fragen.Uns geht es neben einer vernünftigen Struktur um dieVereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerechte Be-
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11352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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soldung, um eine gute sanitätsärztliche Versorgung, umFürsorge und um Verpflegung bis hin zur Einsatzvor-und -nachsorge.Meine Damen und Herren, die Wehrpflicht war einbedeutendes Element in der damals noch jungen Bun-desrepublik Deutschland. Sie auszusetzen, fällt vielennicht leicht – der Minister sagte es bereits – und hat zuintensiven, aber auch zielführenden Diskussionen ge-führt.Der Bundestag hat gerade in sicherheitspolitischenFragen und in Fragen der Bundeswehr nach einem größt-möglichen Konsens gesucht und ihn auch sehr oft gefun-den. Ich denke – das richte ich an die Kolleginnen undKollegen der SPD –, man sollte dieser Tradition folgen.Ich bitte um Zustimmung zum Wehrrechtsänderungsge-setz.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aus-setzung der Wehrpflicht ist ein großer politischer, aberauch gesellschaftlicher Schritt in Deutschland. Er mar-kiert das Ende einer langen Tradition.Die Aussetzung der Wehrpflicht ist richtig. Die Ver-pflichtung junger Männer zum Grundwehrdienst istheute sicherheitspolitisch nicht mehr gerechtfertigt. Mitt-lerweile besteht hierüber im Parlament Konsens über dieParteigrenzen hinweg. Ich denke, es ist gut, dass wir unsim Grundsatz gemeinsam auf diesen Weg machen.
Die Aussetzung der Wehrpflicht stellt uns aber auchvor eine neue, vor eine gravierende Herausforderung.Eine Institution wie die Bundeswehr, die sich bisher da-rauf verlassen konnte, einen Großteil des geeignetenNachwuchses aus den eigenen Reihen zu rekrutieren,muss sich nun dem freien Wettbewerb stellen. JedeSchulabgängerin und jeder Schulabgänger steht vor derFrage: Wie geht es weiter? In diesem Moment muss dieBundeswehr eine ernsthafte Alternative sein, eine Alter-native, die Möglichkeiten bietet und Chancen eröffnet.Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions-fraktionen, ich will es Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:Hier haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Sie haben die Wehrpflicht verkürzt, und nun setzen Siesie aus – und das alles in einem unwahrscheinlichenTempo. Dabei haben Sie es schlichtweg verpasst, dieBundeswehr attraktiver zu machen und so aufzustellen,dass sie auf dem freien Markt ausreichend geeignetenNachwuchs finden kann.Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind erst seit wenigenWochen im Amt. Sie persönlich können nichts für denScherbenhaufen, den man Ihnen hinterlassen hat; anderenennen es ein „gut bestelltes Haus“. Aber die Zeitdrängt. Wir müssen den Themenkomplex Nachwuchsge-winnung und Attraktivitätssteigerung jetzt zügig ange-hen. Sie haben eine enorme Kraftanstrengung vor sich.Ich will Ihnen ausdrücklich danken für die ersten Ge-spräche, die die SPD gemeinsam mit Ihnen führenkonnte, und will Ihnen unsere ehrliche Unterstützung an-bieten, wenn es in den kommenden Wochen darum geht,das Versäumte nachzuholen und die Attraktivität derBundeswehr zu steigern.
Es sollte in unser aller Interesse sein, dass wir dieseReform zustande bekommen. Die Umwandlung derBundeswehr in eine Freiwilligenarmee ist ein zentralerPfeiler dieser Reform. Er wird maßgeblich über ihrenErfolg entscheiden. Die Erhöhung der Attraktivität, dieIntensivierung der Nachwuchsgewinnung und die kon-zeptionelle Planung, wie wir die besten Hände und diebesten Köpfe in unsere Armee bekommen können, mussintegraler Bestandteil jeglicher Reformbemühungen inden kommenden Wochen sein. Um es klar zu sagen: Eskann keine Reform der Bundeswehr ohne eine signifi-kante Erhöhung der Attraktivität geben.Herr Minister, Sie haben recht, wenn Sie sagen, dieSteigerung der Attraktivität ist keine reine Frage desHaushalts. Es geht hier auch um Ansehen, es geht um ge-sellschaftlichen Stellenwert, und es geht auch um Über-zeugungen und Idealismus. Aber Attraktivität ist aucheine monetäre Frage. Deshalb wird es uns nur mit schö-nen Slogans, mit schönen Bildern und mit Anzeigen-kampagnen nicht gelingen, ausreichend Nachwuchs fürdie Bundeswehr zu gewinnen. Eine Bundeswehrreform,die getrieben ist vom strategischen Parameter der Haus-haltskonsolidierung, wird nicht gelingen. Die Abschaf-fung der Wehrpflicht wird gerade am Anfang – das ha-ben die Experten bestätigt – nicht kostenneutral sein. Esmuss also darum gehen, neue Anreize zu setzen. HerrMinister, ich habe die Hoffnung, dass Sie Ihre guten Be-ziehungen zum Finanzminister im Sinne der Truppe nut-zen werden.Bei der Frage der Attraktivität dürfen wir aber nichtaußer Acht lassen, dass sie ebenso wichtig ist für unsereSoldatinnen und Soldaten, die heute schon als Berufs-und Zeitsoldaten tätig sind. Sie sind wichtige Multiplika-toren für die Gewinnung von Nachwuchs. Sie berichtenvon ihren Erfahrungen in der Truppe und von der Wert-schätzung, die ihnen entgegengebracht wird. Lassen Siees mich auch an dieser Stelle anmerken: Die weitereKürzung des Weihnachtsgeldes war im Übrigen keinZeichen der Wertschätzung und auch kein positives Si-gnal für die Nachwuchsgewinnung.
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Lars Klingbeil
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Wenn es uns nicht gelingt, bessere Perspektiven zuschaffen, etwa indem wir Angebote zur Ausbildung,Weiterbildung und zum Studium erhöhen, indem wirauch die Bundeswehruniversitäten öffnen, dann wird dieBundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns nichtgelingt, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, etwadurch ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten oderauch durch eine Neuregelung beim Trennungsgeld undder Umzugskostenvergütung, zu erreichen, dann wirddie Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es unsnicht gelingt, Laufbahnen anders zu planen und Beförde-rungsstaus abzubauen, wird die Bundeswehr nicht at-traktiver werden.Ich bin mir sicher, Sie werden genauso wie wir beiTruppenbesuchen auf diese Punkte angesprochen. DieSoldaten und Soldatinnen haben sehr konkrete Vorstel-lungen, wie man den Dienst attraktiver gestalten kann.Ich finde, an der Stelle sollten wir als Parlamentarier ein-fach einmal genauer zuhören und die Sorgen und Wün-sche der Soldaten auch ernst nehmen.Bei allem haushaltspolitischen Spagat, den wir zu be-wältigen haben, ist festzuhalten: Soldatinnen und Solda-ten und auch die Zivilbeschäftigten verdienen unsere be-sondere Aufmerksamkeit. Gerade die letzten Wochenhaben uns doch gelehrt, wie schnell sich die weltpoliti-sche Lage verändern kann. Ich hoffe, uns allen ist nocheinmal bewusst geworden, dass es gut ist, zu wissen,dass wir uns auf eine gut aufgestellte, eine hochmoti-vierte und gut ausgebildete Bundeswehr in jedem Fallverlassen können.Sehr geehrte Damen und Herren, die Aussetzung derWehrpflicht verändert die Bundeswehr maßgeblich. Wiralle tragen Verantwortung, dass diese Reform gelingt.Als die Kanzlerin auf der Kommandeurstagung in Dres-den im letzten Jahr den Soldaten euphorisch zurief, siewünsche gemäß dem Motto „No risk, no fun“ viel Spaßbei der Veränderung, da war ich schon verwundert. Ichwünsche uns allen in den kommenden Monaten den not-wendigen Ernst, wenn wir die Herausforderungen, dievor uns liegen, gemeinsam angehen.Vielen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Kollege Christoph Schnurr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bartels, Sie sind zu Beginn Ihrer Ausführungenwieder auf die Frage eingegangen, warum diese Koali-tion den Wehrdienst von neun Monaten auf sechs Mo-nate reduziert hat. Ich will Sie gleich am Anfang daranerinnern, dass wir über diese Frage, diese Entscheidungund diesen Beschluss der Koalition in diesem HohenHause bereits im Sommer des letzten Jahres mehrfachausführlich diskutiert haben, und zwar nicht nur im Ver-teidigungsausschuss, sondern auch im Plenum. Heutegeht es nicht um die Frage, ob wir einen sechsmonatigenWehrdienst haben, sondern um die Entscheidung – unddas ist eine historische Entscheidung –, ob wir die Wehr-pflicht aussetzen.
Der Minister hat heute gesprochen. Er hat angekün-digt, dass er Ende des Jahres eine Evaluierung vorneh-men möchte und einmal zurückblicken will, wie vielejunge Frauen und Männer denn den Dienst bei der Bun-deswehr auf freiwilliger Basis aufnehmen möchten. Unddie SPD spricht schon wieder davon, dass die Koali-tionsfraktionen Experimente auf Kosten der Wehrpflich-tigen machten!
– Nein, das ist eben nicht so. Wir wollen zurückblicken.Es ist doch richtig, dass man auch einmal zurückblickt,um dann zu sehen, welche weiteren Maßnahmen maneinführen und welche Änderungen man vielleicht vor-nehmen kann, und zwar nicht im Hinblick auf die Aus-setzung der Wehrpflicht, sondern in Bezug auf die Stei-gerung der Attraktivität
und das Bekanntmachen des ehrenamtlichen Engage-ments, um die Kultur des freiwilligen Dienstes in diesemLand vielleicht weiter zu fördern.Herr Minister, dabei haben Sie unsere volle Unterstüt-zung. Ich begrüße diese Ankündigung am heutigen Tageausdrücklich.
Liebe Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz wirdhier am heutigen Tag nicht nur besprochen und debat-tiert, sondern auch verabschiedet. Das ist ein historischerSchritt. Wir entscheiden heute über ein maßgeblichesMomentum im Hinblick auf die Strukturreform, über dieAussetzung der Wehrpflicht.Die Wehrpflicht ist ein massiver Eingriff in dieGrundrechte junger Männer. Deshalb muss die Begrün-dung für diesen Eingriff in die Freiheit junger Menschenkontinuierlich überprüft werden. Diese Evaluierungwurde vorgenommen.Die FDP – das ist bekannt und kein Geheimnis – for-dert die Aussetzung der Wehrpflicht seit Jahren, undzwar nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus sicher-heitspolitischen Erwägungen. Wir brauchen in Zukunftkeine großen Streitkräfte, sondern eine hochprofessio-nelle, flexible, gut ausgebildete und gut ausgerüsteteBundeswehr.Die Union hat intensive Beratungen über diese Frageangestellt. Die Kollegen der Union – ich zolle ihnenmeinen Respekt – sind zu einem Entschluss gekommen,der es heute ermöglicht, die Wehrpflicht auszusetzen.
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Christoph Schnurr
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Die Bundeswehr wird mit diesem Gesetz auf die Frei-willigkeit und nicht mehr auf die Pflicht setzen. Das hatselbstverständlich auch für uns als Deutscher BundestagKonsequenzen. Natürlich muss die Bundeswehr als Ar-beitgeber noch attraktiver werden. Die Frage des Maß-nahmenkatalogs werden wir daher weiter thematisierenund behandeln. Es sind erste Maßnahmen vorgeschlagenworden. Diese Maßnahmen sind aber erst der Anfangund sicherlich nicht das Ende, um die Bundeswehr nochattraktiver zu gestalten.
Die Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr, dieVereinbarkeit von Familie und Beruf, die Infrastrukturder Standorte, die Versetzungshäufigkeit, finanzielle An-reize sowie die Ausbildung und Fortbildungsmaßnah-men sind weitere Aspekte, die in diesem Zusammenhangberücksichtigt werden müssen und auch berücksichtigtwerden.Wir brauchen aber auch eine Kultur der Freiwillig-keit. Dazu ist vieles gesagt worden. Diese Prozesse soll-ten und werden wir weiter begleiten.Zum Schluss möchte ich Ihnen nicht nur empfehlen,dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen,sondern auch der Grünenfraktion meinen Dank dafürausdrücken, dass sie unserem Gesetzentwurf – ein histo-rischer Schritt in der Bundeswehrreform, aber auch einhistorischer Schritt, wenn man sich die Geschichte derBundeswehr ansieht – heute hier zustimmt.
– Das ist keine Koalitionsverhandlung, Frau Kollegin.Wenn Teile der Opposition der richtigen Entscheidungder Koalition zustimmen, darf ich sie an dieser Stelledoch auch einmal loben, glaube ich.
Die Bundeswehr ist gut aufgestellt. In Zukunft wer-den wir den Weg in die richtige Richtung gehen.Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerk-samkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Mit dem heutigen Beschluss wird die allgemeine Wehr-pflicht nach 55 Jahren ausgesetzt. Es ist ein historischerTag in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf der einenSeite entfällt damit für zukünftige Generationen jungerMänner die Pflicht, einen Wehr- oder Ersatzdienst zuleisten. Sie gewinnen dadurch Lebenszeit, die sie zumBeispiel für ihr berufliches Fortkommen einsetzen kön-nen. Auf der anderen Seite bedeutet der Wegfall für dieBundeswehr, dass sie sich neu organisieren und vor al-lem ihre Nachwuchswerbung auf neue Beine stellenmuss.Von den Befürwortern der Wehrpflicht wurde immerhochgehalten, dass gerade die Wehrpflicht dafür sorgt,dass sich die Bundeswehr nicht von der Gesellschaft ab-koppelt und keine militärische Sonderkultur entsteht,sondern sich der soziale und weltanschauliche Pluralis-mus in unserem Land auch in unserer Armee wiederfin-det. Zentrales Leitbild dafür ist der Staatsbürger in Uni-form; das gilt weiterhin, dafür braucht man am Endekeine Wehrpflicht. Aber ohne Wehrpflicht müssen wirein noch stärkeres Augenmerk darauf richten.Wir, der Deutsche Bundestag, entsenden unsere Sol-daten, unsere Parlamentsarmee in Einsätze auf der gan-zen Welt. Sie sind dort oftmals schwierigen Konflikt-situationen ausgesetzt, die im äußersten Fall auch denEinsatz von Waffengewalt erfordern. Wir müssen unsdann darauf verlassen können, dass ihr Handeln ethi-schen Maßstäben genügt und die Soldaten vorbildlicheBotschafter unseres Landes, unserer Demokratie und un-serer Werteordnung sind.
Meine Damen und Herren, wir stellen diese Anforde-rungen nicht an andere Freiwilligendienste. Ich betonedas deswegen, weil vonseiten der Opposition immerwieder gefragt wurde, warum denn der freiwillige Wehr-dienst bevorzugt behandelt werde und nicht mit anderenFreiwilligendiensten gleichgestellt sei. Der Dienst an derWaffe ist eben nicht mit anderen Diensten vergleichbar,die für unser Land genauso wichtig sind, aber einen fun-damental anderen Charakter haben.Bei der Bundeswehr gibt es ein überragendes Inte-resse daran, dass wir junge Menschen aus allen Schich-ten der Gesellschaft erreichen und für einen Dienst ge-winnen. Frau Kollegin Malczak, „erreichen“ heißt indiesem Zusammenhang auch, dass wir sie anschreibenkönnen müssen. Deswegen ist es gerechtfertigt, dass dieWerbung für den freiwilligen Wehrdienst einen Sonder-status hat.
– Kollege Gehring, Sie haben jetzt nicht zugehört. DerDienst an der Waffe ist eben nicht mit anderen Freiwilli-gendiensten vergleichbar. Die anderen Freiwilligen-dienste sind genauso wichtig, aber bei der Bundeswehr– ich sage es noch einmal, weil es wichtig ist – haben wirein Interesse daran, dass sie einen Querschnitt der Be-völkerung abbildet.
Dies ist bei anderen Freiwilligendiensten nicht der Fall.
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Dr. Reinhard Brandl
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Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Zu-sammenhang von der Steigerung der Attraktivität desDienstes sprechen, darf das nicht nur mehr Geld bedeu-ten. Die finanziellen Aspekte sind wichtig – das gebe ichzu –; aber es ist mindestens genauso wichtig, dass geradewir als Parlamentarier den Soldaten vermitteln, welchezentrale Rolle wir ihnen als Botschafter unserer Demo-kratie und unserer Werteordnung beimessen, dass es einebesondere Ehre ist, unser Land im Ausland vertreten zudürfen.
Sie haben recht: Das vermittelt man nicht mit großenAnzeigen. Wir müssen vielmehr den Soldaten Wert-schätzung entgegenbringen, in Debatten wie heute, in öf-fentlichen Äußerungen und im persönlichen Gespräch.
Das ist der zentrale Beitrag, den wir als Parlamentarierzur Steigerung der Attraktivität und des Ansehens desDienstes und damit für die Zukunft der Bundeswehr leis-ten können und müssen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung wehrrechtlicher Vorschriften 2011.Uns liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31der Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll neh-men.1)Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/5239, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4821 inder Ausschussfassung anzunehmen.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab-stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag vonBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5244? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-trag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen ab-gelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und vonBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Linken.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –1) Anlage 2Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSUund FDP auf Drucksache 17/5245. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grü-nen gegen die Stimmen der SPD und der Linken ange-nommen.Entschließungsantrag der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/5246. Wer stimmt dafür? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag derSPD-Fraktion ist bei Zustimmung der SPD-Fraktion mitden Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/5247. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die-ser Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmender Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion beiZustimmung der Linken und Enthaltung von Bünd-nis 90/Die Grünen.Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/5248. Wer stimmt dafür? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie-ßungsantrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/DieGrünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abge-lehnt.Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 32 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür die Umsetzung der Gleichstellung vonSinti und Roma in Deutschland und Europa– Drucksache 17/5191 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt vonBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirerinnern uns alle noch an die eindringliche und berüh-
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Katrin Göring-Eckardt
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rende Rede von Zoni Weisz am 27. Januar in diesemHause an dieser Stelle. Wir hatten damals zum erstenMal einen Vertreter der Sinti und Roma eingeladen, beider Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zu spre-chen.Ich will ihn mit folgendem Appell aus seiner Rede zi-tieren:Wir sind doch Europäer und müssen dieselbenRechte wie jeder andere Einwohner haben, mit glei-chen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten.Im Protokoll auf der Homepage des Deutschen Bun-destages steht, dass Zoni Weisz dies unter Beifall des ge-samten Plenums gesagt hat.
Leider ist aus dem gemeinsamen Applaus von damalskein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen hervorgegan-gen. Auf die Gründe, warum es dazu nicht kam, will ichhier jetzt nicht eingehen, weil es um die Sache geht.Dennoch sage ich: Ich hoffe, dass wir noch eine Chancein den Beratungen haben.
Wie können wir den Forderungen an uns, die ZoniWeisz in seiner Rede formuliert hat, politisch gerechtwerden? Zunächst sicherlich, indem wir die historischePerspektive betrachten. Wir müssen uns darüber klarsein, dass Sinti und Roma Teil Europas, Teil Deutsch-lands sind. Wir müssen daran erinnern, dass sie in derGeschichte immer wieder Opfer von Verfolgung undDiskriminierung wurden, was in der Vernichtungspolitikder Nazis seinen Höhepunkt, seinen Extrempunkt fand.Etwa eine halbe Million Sinti und Roma sind ihr zumOpfer gefallen. Daraus erwächst für Deutschland einemehr als besondere historische und selbstverständlichauch moralische Verantwortung.
Auch heute werden Sinti und Roma Opfer aggressiverDiskriminierung. In diesen Tagen erreichen uns wiedererschreckende Berichte aus Ungarn, wo die Bürgerwehrder rechtsextremen Jobbik-Partei über Wochen hinwegRoma terrorisiert hat. Sie hat ausdrücklich angekündigt,dass sie dies auch weiterhin tun will. Es heißt sogar: un-ter Duldung der örtlichen Polizei. Offenbar, so ist zu er-fahren, plant diese Organisation weitere Aktionen. ZumGlück gibt es in Ungarn Menschenrechtsorganisationen,die dagegen protestieren. Auch die Roma selbst habenzu Gegendemonstrationen aufgerufen. Trotzdem ist esoffenbar so, dass die Hasstiraden, die den Roma entge-gengeschleudert werden, in Ungarn von vielen gesell-schaftlichen Schichten vertreten und akzeptiert werden,dass ihnen nicht widerstanden wird. Die Roma brauchenunsere Unterstützung, sie brauchen unsere Solidarität,genau wie die Menschenrechtsorganisationen, die dage-gen aufstehen.
Natürlich reicht es nicht, nach Ungarn zu schauen. Esist auch notwendig, auf uns selbst zu blicken, auf das ei-gene Land, in dem nach wie vor Vorurteile gegen Sintiund Roma, Klischees und manches, was nicht gerade aufgelungene Integration hindeutet, wahrgenommen werdenkönnen. Wie kann sich die besondere deutsche Verant-wortung jenseits des Applauses von damals und anderersymbolischer Gesten zeigen? In unserem Antrag sagenwir, worum es konkret gehen muss: um die Lebenssitua-tion der größten in Europa lebenden ethnischen Minder-heit. Diese müssen wir verbessern. Deutschland musssich deswegen auf europäischer Ebene dafür einsetzen,dass der neue Aktionsrahmen zur Integration von Romarasch entwickelt wird. Deutschland muss darauf hinwir-ken, dass das Rahmenübereinkommen des Europarateszum Schutz nationaler Minderheiten in allen Ländern– in wirklich allen Ländern –, die diesem Übereinkom-men beigetreten sind, angewandt wird.Die ungarische Ratspräsidentschaft hat Anfang diesesJahres angekündigt, die Integration der Roma zu einemSchwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Die Situation inUngarn habe ich eingangs beschrieben. Lassen Sie michan dieser Stelle eines deutlich sagen: So wichtig der eu-ropäische Rahmen, die europäische Programme und Ini-tiativen, die in dem Antrag genannt werden, auch immersind, Europa darf kein Alibi sein. Nein, wir haben auchin Deutschland eine Verantwortung. Auch hier müssenwir sie zeigen. Die besondere Verantwortung Deutsch-lands muss sich da zeigen, wo es um konkrete Menschengeht.
Deswegen können wir nicht das aussparen, was dieBundesregierung im April 2010 beschlossen hat, dasRücknahmeabkommen mit dem Kosovo. Wir alle wis-sen, dass im Kosovo Kapazitäten zur Aufnahme, erstrecht zur Integration, an allen Ecken und Enden fehlen.Wir haben in einem Antrag schon damals das sofortigeEnde der Zwangsrückführungen gefordert. Das tun wirjetzt wieder und fordern die Bundesregierung auf, sichgegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung derAbschiebung von Roma in das Kosovo einzusetzen.
Es ist unerträglich, wenn Kinder, die in Deutschland ge-boren und aufgewachsen sind, in ein Land geschicktwerden, das im Grunde kein Ort für sie ist, in dem siekeine Perspektive, keinen anständigen Wohnraum undauch keine echte Chance auf Bildung haben.„Besondere Verantwortung Deutschlands“ heißt auch,ganz praktisch zu handeln, auch innerhalb Europas. Wa-rum gab es eigentlich keine laute Empörung der Bundes-regierung, als Frankreich im vergangenen SommerRoma mit drastischen Maßnahmen abschob? Da darf
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Katrin Göring-Eckardt
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Außenpolitik nicht aufhören. Da muss sie gerade erst an-fangen, wenn sie glaubwürdig sein soll.
Ich möchte zum Schluss noch einen Satz von ZoniWeisz zitieren. Er sagte:Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, dasdurch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert undverfolgt worden ist, heute – im 21. Jahrhundert –immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichenChance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.Das müssen wir ändern. Darum unser Antrag.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! „Für die Umsetzung der Gleichstel-lung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa“ –so lautet der Titel des Antrags der Grünen. Ich bin derfesten Überzeugung, dass wir einen ganz großen Teildessen, was wir am 27. Januar hier miteinander erlebthaben, noch in Erinnerung haben – nicht nur den Ap-plaus, sondern auch die Bewegtheit – und dass wir unsauch über die moralische und geschichtliche Verantwor-tung einig sind. Deshalb bin ich froh darüber, dass ich ander Stelle den Staffelstab aufnehmen kann.Sie haben die historische Perspektive genannt, FrauKollegin. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Zoni Weisz andem Gedenktag zum ersten Mal aus dieser Perspektivegesprochen, uns dadurch bereichert und diese Farbe indie Diskussion eingebracht hat. Für mich persönlich wardas sehr bewegend, weil ich selbst – und auch meineFrau – sehr viele verschiedenste Erlebnisse und Begeg-nungen mit Mitgliedern dieser Gruppe hatte.Es ist richtig: Es ist eine der größten Gruppen, dienoch dazu vernachlässigt wurde, was ihre Wahrnehmungals Geschädigte angeht, als Opfer der NS-Zeit: Es waren500 000. Oft wurde über viele andere Gruppen geredet.Heute gehören in Europa 10 bis 12 Millionen Men-schen dieser größten ethnischen Minderheit an; wir ha-ben das gerade gehört. Inzwischen gibt es eine klare Be-nennung: Das ist die Gruppe der Roma. Die Identitätbestimmt sich nicht nur aus dem Roma-Sein, sondernauch aus der regionalen und nationalen Kultur, aus dersie stammen.Besonders im Süden Europas – von der EuropäischenGrundrechteagentur wurden immer wieder einige Ländergenannt – sind Diskriminierungen vorgekommen, dienicht unbedingt struktureller Art waren. Zwar gab es Er-mahnungen, aber die Diskriminierungen geschahen oft indem Alltagsmiteinander. Es gab Segregation anstatt Inte-gration sowie eine Ghettoisierung und erschwerte Bil-dungszugänge. Das lag nicht nur an den Personen selbst,sondern oft auch an den Strukturen, auch an uns.Menschenhandel wird an der Stelle immer angeführt.In einigen Regionen Europas stammen 80 Prozent derer,die mit Menschenhandel, Zwangsarbeit, sexueller Aus-beutung und Bettelei von Kindern zu tun haben, aus die-ser Personengruppe. Das darf nicht sein. Das dürfen wirnicht einfach so hinnehmen.2006 haben 76 Prozent der Roma in Deutschland Dis-kriminierungen am Arbeitsplatz erlebt; so ist ihre Aus-sage. Das ist als solches nicht sofort ein Problem desRechts; da ist auch ein Teil subjektiv. Aber das dürfenwir so nicht stehen lassen. Darum müssen wir uns küm-mern; denn das darf in unserem Land nicht so sein undbleiben. Deshalb ist für mich der Gedanke klar: Wehretden Anfängen des Antiziganismus.Gut, dass wir es hier noch einmal vor Augen geführtbekommen haben. Danke auch ein Stück weit dafür, dassZoni Weisz hier reden durfte, dass dies angestoßen undvon Ihnen angenommen wurde. Sie sind uns ein Stückvorausgegangen; denn auch wir haben einen Antrag inder Pipeline. Wir möchten gerne in dieser Frage ins Ge-spräch kommen. Vielleicht gibt es da eine Chance.Ich werde jetzt nicht umfassend über den rechtlichenStatus referieren. In Europa gibt es die Grund-rechtecharta, auf die sich jeder EU-Bürger berufen kann.Helmut Schmidt hat 1982 gesagt, dass das Völkermordwar. Helmut Kohl hat das später ebenfalls betont, auchhier vor dem Hohen Haus.Inzwischen gibt es Rahmenabkommen. Wir habendas Jahrzehnt der Integration der Roma. Das muss mannatürlich umsetzen. Deshalb bin ich froh, dass es unspräsent gemacht wurde. Auch wir, ich persönlich undmeine ganze Fraktion, sind sehr dankbar, dass die Rats-präsidentschaft Ungarns der europäischen Roma-Strate-gie auf der Tagesordnung Priorität einräumt. Das begrü-ßen wir, und das werden wir unterstützen. Sie werdendas auch in unserem Antrag, der Ihnen bald vorliegenwird, sehen.
Auf den Unterschied werden meine Kollegen, diegleich reden – unter anderem ein Kollege aus dem In-nenausschuss; ich bin kein Jurist –, genauer eingehen.Sie sagen, dass Sie der faktischen Ausgrenzung undStigmatisierung durch die Asylpolitik entgegentretenmöchten. Ja, es gibt hohe Vertreter, die das stützen. Auchuns in Deutschland werden Vorwürfe gemacht. NaviPillay hat deutlich gesagt, dass auch wir hier daran zu ar-beiten haben. Sie fordern eine Aussetzung des Rücknah-meabkommens. Wir sagen, dass man damit letztlichauch die Bekämpfung der illegalen Migration unter-gräbt; das sollte man nicht tun. Wir möchten das Asyl-recht als solches nicht aussetzen. Wir finden, das ist keinMittel zum Minderheitenschutz.
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Frank Heinrich
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Die Forderungen, die wir stellen werden – ich möchteunserem Antrag nicht vorgreifen –, sind zu großen Tei-len identisch mit denen in Ihrem Antrag. Darüber bin ichsehr froh. Sie fordern zum Beispiel das Eintreten gegenjede Form von Antiziganismus in Politik und Zivilge-sellschaft.
– Ich werde Ihnen bei Gelegenheit sagen, wann genauwir ihn einbringen.
Ich sage bewusst: Darauf müssen wir nicht nur als Politi-ker, sondern auch als Einzelne Wert legen. Wir müssenes benennen, und wir müssen die Menschen auffordern,Sinti und Roma in ihrem Umfeld zu begegnen.Wir müssen EU-weit an einer Verbesserung der Situa-tion mitwirken. Wir müssen für Chancengleichheit ein-treten. Wir müssen natürlich auch kritische Gesprächemit den Roma führen. Mögliche Themen sind die Rechteder Frauen und manche ihrer Vorbehalte gegen Schulbe-suche. Wir müssen die europäische Ratspräsidentschaftin ihrer Einstellung, die Roma-Strategie prioritär zu be-handeln, unterstützen. Bei den EU-Staaten, die das Rah-menübereinkommen des Europarats zum Schutz natio-naler Minderheiten noch nicht anerkannt haben, müssenwir dafür werben. Wir müssen die eingesetzte TaskForce unterstützen. Wir wünschen uns natürlich eineEinbeziehung der Vertreter der Roma in alle Gespräche,die es dazu gibt.Danke für die Initiative. Danke für den 27. Januar2011 – die Gedenkveranstaltung hat mich sehr bewegt –,danke Zoni Weisz für den Anstoß zum Nachdenken überdieses Thema und danke, dass dieser Anstoß angenom-men wurde. Ich bin gespannt, wie wir weiter damit ver-fahren.Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin
Kerstin Griese.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Uns alle hat die Rede von Zoni Weisz am Gedenktag fürdie Opfer des Nationalsozialismus, am 27. Januar, hierin diesem Haus sehr beeindruckt und betroffen gemacht.Er hat davon berichtet, wie er als siebenjähriger Jungeseine Familie verloren hat, die in den Zug nach Ausch-witz getrieben worden war. Meine beiden Vorredner ha-ben schon gesagt, dass es das erste Mal war, dass einVertreter der Opfergruppe der Sinti und Roma an diesemGedenktag hier gesprochen hat und damit ein deutlichesZeichen gesetzt hat, dass wir an diese viel zu lange ver-gessene Opfergruppe, an die vielen Sinti und Roma, diein ganzen Familien in die Lager der Nazis eingeliefertworden sind, endlich mehr und auch würdig erinnernmüssen.Ich habe oft mit Menschen gesprochen, die die KZüberlebt haben. Sie haben gesagt, dass sie zum erstenMal Kinder in den Lagern gesehen haben, als die Sintiund Roma dorthin verschleppt worden waren. Hundert-tausende wurden ermordet, wurden entrechtet und wur-den ihres kulturellen Erbes beraubt. Gerade deshalb istes so wichtig, dass wir in Verantwortung vor unserer Ge-schichte jeder Diskriminierung der heute in Deutschlandund in Europa lebenden Sinti und Roma entgegentreten,und zwar nicht nur an Gedenktagen und in Erinnerungs-reden, sondern auch in unserer alltäglichen Politik.
Was uns bei der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar,glaube ich, alle besonders betroffen gemacht hat, warenseine historischen und aktuellen Bezüge: der Verweis aufdie jahrhundertelange Tradition der Ausgrenzung vonSinti und Roma, aber eben auch der Verweis auf dieKontinuitäten nach 1945, als bei den Behörden weiterhinmit den Akten der Nazis gearbeitet wurde, wenn es umSinti und Roma ging. Er hat uns Beispiele vor Augen ge-führt, wie heute in Rumänien und Bulgarien Roma dis-kriminiert werden, wie in Ungarn Rechtsextremisten Ju-den, Sinti und Roma überfallen.Wir haben es eben schon gehört: Mit etwa12 Millionen Menschen sind die Roma die größte Min-derheit in Europa. Das Europäische Parlament hat schon2008 beschlossen, eine europäische Strategie für dieRoma zu entwickeln. Wir erwarten dafür in den nächstenWochen einen neuen EU-Rahmen. Wir setzen uns dafürein – ich will das ausdrücklich unterstützen –, dass dieAnstrengungen der EU verstärkt werden. Noch mehr set-zen wir uns dafür ein, dass sich auch die Mitgliedstaatendaran halten. Auf europäischer Ebene sind hierzu schoneinige gute Beschlüsse gefasst worden.Sie erinnern sich sicherlich daran, dass die EU-Justiz-kommissarin Frau Reding im letzten September denfranzösischen Präsidenten wegen der Gruppenabschie-bung von Roma aus Frankreich scharf kritisieren mussteund eine Klage der EU-Kommission wegen Diskriminie-rung aufgrund der ethnischen Herkunft oder Rasse ange-droht hat. Die EU hat hierzu also schon eine sehr eindeu-tige Position.Wir begrüßen es sehr, dass sich die ungarische Rats-präsidentschaft vorgenommen hat, bald, noch in dennächsten Wochen, die Anstrengungen auf europäischerEbene zur Integration der Roma zu verstärken. Dies sollauch Teil der Strategie „Europa 2020“ werden. Dennnachhaltiges Wachstum heißt auch, dass man alle Bevöl-kerungsgruppen teilhaben lässt: an Bildung, an Gesund-heit, an Integration und auch an guten Wohnmöglichkei-ten. Wir erwarten, dass gerade zu diesen Themen, zuBildung, Gesundheit und Wohnen, in der EU-Strategie
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Kerstin Griese
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deutliche Worte gefunden werden. Dazu muss auch gehö-ren, dass die Sinti und Roma an der Entwicklung dieserStrategie von Anfang an beteiligt werden und dass trans-parent überprüft wird, welche Fortschritte es gibt.Es ist in dieser Debatte schon zu Recht gesagt wor-den: Wir schauen nicht nur nach Europa, sondern auchdarauf, was bei uns los ist. Es gibt noch immer offeneund subtile Diskriminierung. In einer aktuellen Studiemit dem Titel „Die Abwertung der Anderen. Eine euro-päische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilenund Diskriminierung“ wurde untersucht, inwieweitMenschen, die eigentlich, rein rechtlich, gleichberechtigtsind, diskriminiert werden und inwieweit in ihnen an-dere oder Fremde gesehen werden. Das Erschreckendeist, dass dabei herausgekommen ist, dass Sinti und Romain der Unbeliebtheitsskala mit 79 Prozent Spitzenreiterim Spektrum der Menschenfeindlichkeit waren. Es wur-den viele Beispiele gefunden – in Aschermittwochsre-den, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche undim öffentlichen Leben –, die belegen, dass Sinti undRoma diskriminiert werden.Auch dies ist schon erwähnt worden: Ein besonderesProblem ist die Abschiebung von Roma aus Deutschlandin den Kosovo, weil sie dort häufig diskriminiert wer-den, keine Gesundheits- und Sozialleistungen bekom-men und keine Chance auf Bildung und Arbeit erhalten.Das ist besonders dann problematisch, wenn es sich umFamilien mit Kindern handelt, die entweder hier geborenoder aufgewachsen sind, oder wenn es sich um alte, pfle-gebedürftige oder traumatisierte Menschen handelt. Wirwissen aus Berichten von Vertretern internationaler Or-ganisationen und deutscher Sozialverbände, die vor ei-nem Jahr mit einer Delegation im Kosovo waren, dassabgeschobene Familien von Roma dort auch direkte Ge-walt erlebt haben.
Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an die Innen-minister aller Länder, die Ermessensspielräume in Ein-zelfallprüfungen großzügiger zu nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vonseiten derSPD-Fraktion sind der Fraktion Bündnis 90/Die Grünensehr dankbar für die Initiative zu diesem Antrag; stre-ckenweise haben wir sogar schon ein bisschen gemein-sam daran gearbeitet. Auch nach Ihrer Rede, KollegeHeinrich, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir es in denAusschussberatungen schaffen können, einen gemeinsa-men Antrag zu erarbeiten. Wir brauchen eine Positionie-rung, die im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet,damit wir aus der Rede von Zoni Weisz vom 27. Januardieses Jahres Lehren ziehen und real und konkret etwasfür die Sinti und Roma erreichen können.Wir sollten den Appell, dass ein Volk, das über Jahr-hunderte diskriminiert und verfolgt worden ist, nun einebessere Zukunft braucht, wirklich ernst nehmen. Des-halb mein Appell gerade an die Koalitionsfraktionen:Lassen Sie uns versuchen, einen gemeinsamen Be-schluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen,in dem die Grundüberzeugung zum Ausdruck kommt,dass wir mehr tun müssen, um der Diskriminierung vonSinti und Roma bei uns und in Europa entgegenzuwirkenund das Problem der menschlichen Schicksale, die beieiner Abschiebung drohen, so zu lösen, dass wir unse-rem Anspruch an ein humanes Miteinander in Europagerecht werden!Heute Morgen ist schon viel über Europa diskutiertworden. Zu einem Europa der Zukunft und zu einer Stra-tegie für ein Europa 2020 gehört neben der wirtschaftli-chen Gemeinschaft auch eine Gemeinschaft sozialer, hu-manitärer und demokratischer Standards, in derMinderheiten gewürdigt werden und bessere Chancenbekommen. Deshalb meine Bitte – die Sachlichkeit derDebatte, aber auch die Gemeinsamkeit, mit der wir unsauf die Rede vom 27. Januar dieses Jahres beziehen,stimmen mich ein wenig hoffnungsfroh –: Lassen Sieuns real etwas zur Verbesserung der Situation der Men-schen unternehmen!Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Serkan
Tören.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Si-tuation der Roma und Sinti in Deutschland und Europagreifen wir ein wichtiges Thema auf. Denn eines gehörtzu den ganz traurigen Kapiteln der europäischen Histo-rie: die Geschichte der Roma in Europa, die über Jahr-zehnte hinweg mit Unterdrückung, Diskriminierung undAusgrenzung verbunden war. Der schlimmste Abschnittwar zweifelsfrei ihre Verfolgung während der Zeit desDritten Reiches, einer Zeit, der mehrere HunderttausendMenschen zum Opfer gefallen sind. Am Gedenktag fürdie Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011hier im Deutschen Bundestag hat Zoni Weisz uns allenseine Empfindungen sehr eindrucksvoll geschildert.Wenn man die verschiedenen Staaten Europas be-trachtet, kann man eines festhalten: Die gegenwärtigeSituation der Roma stellt sich doch sehr unterschiedlichdar. Nehmen wir etwa viele Staaten Mittel- und Osteuro-pas! Dort leben heute die meisten Roma. Die Problemeder betroffenen Menschen sind in diesen Staaten amdeutlichsten zu erkennen. Es geht dabei um schlechteWohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit und mangelndeBildungschancen. Noch gravierender ist jedoch die so-ziale Situation. Diese ist oft durch Ausgrenzung und Iso-lation geprägt.Dass die Kinder der Roma in gesonderten Klassen ge-trennt von den anderen Kindern unterrichtet werden, ist
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Serkan Tören
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mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaatesnicht vereinbar.
Wenn die Wohnungen der Roma in räumlich getrenntenGebieten oder Stadtvierteln liegen, dann zementierensich Integrationsprobleme; dann existiert ein Klima, dasvon gegenseitigen Vorurteilen und Missverständnissengeprägt ist. Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgren-zung zu durchbrechen und die Roma besser zu integrie-ren, ist eine Herausforderung, die viele europäischeStaaten noch nicht ausreichend bewältigt haben.Eines gehört ebenfalls zur Wahrheit: Auch innerhalbder Gemeinschaften der Sinti und Roma muss zum Teilein Umdenken stattfinden. Verbesserte Rahmenbedin-gungen haben keinen positiven Effekt, wenn sie von denbetroffenen Volksgruppen nicht als Chance begriffenwerden. Ein verbesserter Zugang zu Bildung ist unbe-dingt notwendig. Die Eltern müssen ihre Kinder dannaber auch zur Schule schicken.
Die Gleichstellung von Sinti und Roma in allen gesell-schaftlichen Bereichen ist absolut wünschenswert. So-lange aber innerhalb der Familien der Sinti und RomaFrauen zum Teil unterdrückt werden, häuslicher Gewaltausgesetzt sind und ihr Recht auf Selbstbestimmung nichtwahrnehmen können, kann eine tatsächliche Gleichstel-lung von Frauen auch nicht erfolgen.
Wir beraten heute den Antrag der Fraktion der Grü-nen für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti undRoma in Deutschland und Europa. Als christlich-liberaleKoalition werden wir in Kürze einen eigenen, sehr vielausgewogeneren und sachorientierten Antrag zur Situa-tion der Sinti und Roma in Europa in den DeutschenBundestag einbringen.
Herr Kollege Tören, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Winkler?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich hatte mich bereits
vor zwei Sätzen zu einer Zwischenfrage gemeldet, als
Sie den Schulbesuch und die Eltern, die ihre Kinder
nicht zur Schule schicken, angesprochen haben.
Ohne Schärfe in die Debatte bringen zu wollen,
möchte ich darauf hinweisen, dass wir letztes Jahr mit ei-
ner Delegation des Innenausschusses im Kosovo waren.
Dort wurde uns berichtet, dass die aus Deutschland in
den Kosovo abgeschobenen Kinder der Sinti und Roma
in der Regel nicht Serbisch und Albanisch sprechen kön-
nen, da sie in Deutschland aufgewachsen sind. Diese
Kinder sprechen zu Hause Romanes, Deutsch oder eine
andere Sprache. In der Regel sprechen sie aber nicht die
Mehrheitssprache der jeweiligen Gegend im Kosovo. Es
ist also nicht gewährleistet – das wurde flächendeckend
berichtet –, dass die Kinder, die wir dorthin abschieben,
überhaupt beschult werden können, wenn sie von ihren
Eltern in die Schule geschickt werden. Entweder sitzen
sie dort und können dem Unterricht nicht folgen oder sie
gehen logischerweise irgendwann einfach nicht mehr
hin, weil ihnen nicht geholfen wird.
Sie hatten einen Fall geschildert. Ich wollte Sie
schlicht und ergreifend bitten, diese Umstände im Rah-
men ihrer Beratungen über den zu erwartenden Antrag
zu berücksichtigen. Es ist vielleicht nicht der Haupt-
punkt. Denn es gibt nicht nur Probleme mit der Bereit-
schaft der Eltern, ihre Kinder wirklich beschulen zu las-
sen. Es gibt auch Probleme bei denjenigen, die von
Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden. Es
gibt von staatlicher Seite kein Angebot einer entspre-
chenden Beschulung. Wir sollten zumindest im Hinblick
auf die Fälle, für die wir mittelbar verantwortlich sind,
weil wir die betreffenden Personen abgeschoben haben,
in Zukunft darauf achten, dass dieses Problem in Ge-
sprächen mit der Regierung des Kosovo angesprochen
wird. Ich möchte Sie mit dieser Zwischenbemerkung bit-
ten, dies zu berücksichtigen. Vielleicht können Sie kurz
dazu Stellung nehmen.
Mit Sicherheit werden wir uns diese Thematik bei derAntragsberatung innerhalb der Koalition näher an-schauen; das ist ganz klar. Ich habe hier auf einen ande-ren Sachverhalt aufmerksam gemacht, den es durchausgibt – an dieser Stelle dürfen wir uns auch nicht ver-schließen oder ein Thema tabuisieren –: Es geht darum,dass Eltern in der Community ihre Kinder bewusst nichtzur Schule schicken. Das ist ein weiter verbreitetes Phä-nomen als das, das Sie beschrieben haben. Insofern istunser Hauptanliegen, uns erst einmal darum zu küm-mern. Das andere Thema werden wir uns in der weiterenAntragsberatung natürlich auch anschauen, Herr KollegeWinkler.
Als christlich-liberale Koalition werden wir in Kürzeeinen eigenen, sehr viel ausgewogeneren und sachorien-tierten Antrag zu der Situation der Roma und Sinti inEuropa in den Deutschen Bundestag einbringen; ichsagte es bereits. Wir möchten damit Folgendes zum Aus-druck bringen: Uns ist das Thema sehr wichtig, und wirwollen eine Verbesserung der Situation der Roma undSinti.In dem Antrag der Grünen werden die aktuellen Be-mühungen der Bundesregierung in keinster Weise er-wähnt, beispielsweise die aktive Arbeit in internationalenForen wie der OSZE oder die Arbeit im Europarat, der
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Serkan Tören
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die Integration der Roma und Sinti in Europa auf vielfäl-tige Weise fördert. Auch unterstützt die Bundesregierungseit vielen Jahren zahlreiche Menschenrechtsprojekte zurUnterstützung der Roma und Sinti im Rahmen des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa bzw. des regionalenKooperationsrates für Südosteuropa. Die Bundesregie-rung arbeitet eng mit dem Zentralrat Deutscher Sinti undRoma im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bun-des zusammen.Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir uns, dass sichdie Bundesregierung weiterhin zur Verbesserung derMenschenrechtslage der Roma und Sinti einbringt. Wasuns als FDP besonders wichtig ist: Wir bekämpfen expli-zit den Menschenhandel, welcher unter Roma und Sintiaufgrund der schwierigen ökonomischen Situation ver-mehrt auftritt. Die Bundesregierung fördert auch EU-weite Kampagnen wie „Dosta!“ zur Verbesserung derLage der Roma und Sinti und zum Abbau von Vorurtei-len und Ausgrenzung. Die Bundesregierung unterstütztdas Dokumentations- und Kulturzentrum DeutscherSinti und Roma in Heidelberg, welches Forschungsar-beiten und Promotionen in diesem Bereich ideell undmateriell ermöglicht. Als christlich-liberale Koalitionmöchten wir in dem Zusammenhang insbesondere dieungarische EU-Ratspräsidentschaft auffordern: SetzenSie den eingeschlagenen Weg zur Umsetzung einer um-fassenden Roma-Strategie weiter fort.All dies werden wir auch in unserem eigenen Koali-tionsantrag zur Situation der Roma und Sinti thematisie-ren. Damit arbeiten wir effektiv auf eine Verbesserungder Lebenssituation der Roma und Sinti in Europa hin.All diese von mir erwähnten Bemühungen der Bundesre-gierung kommen in dem Antrag der Grünen leider kaumvor.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einige Worte zudem Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo sagen. DieForderungen der Grünen nach einem generellen Ab-schiebestopp bzw. nach einer Aussetzung des Rücknah-meabkommens mit dem Kosovo sind aus meiner Sichtsehr problematisch und zu kurz gedacht. Die schwierigesoziale und wirtschaftliche Lage von Roma und Sinti al-leine kann kein generelles Abschiebehindernis darstel-len. Grundsätzlich möchte ich sagen: Ein Abschie-bestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akuteKrisenentwicklungen, also nur eine Ultima Ratio.Als christlich-liberale Koalition verfolgen wir dasZiel: Die Situation der Roma und Sinti in Europa mussverbessert werden. Als FDP-Bundestagsfraktion nehmenwir uns dieser Herausforderung an, und wir werden inKürze zusammen mit dem Koalitionspartner einen abge-rundeten und in sich stimmigen Antrag vorlegen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImDezember vorigen Jahres wurde hier in Berlin der Euro-päische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma verliehen.In ihrer Laudatio verwies Frau Professor Dr. RitaSüssmuth auf die zahlreichen Diskriminierungen vonSinti und Roma europaweit, und sie mahnte:Es geht nicht um Minderheitenrechte, sondern umMenschenrechte.
Diesen Gedanken möchte ich hier gerne einführen.Wenn wir über die Gleichstellung von Sinti und Romain Deutschland und Europa diskutieren, dann reden wirnicht primär über Sinti und Roma, sondern debattierenvielmehr über Bürgerrechte und Menschenrechte inDeutschland und in der Europäischen Union. Hier gibtes eklatante Defizite.Vor knapp einem Jahr war ich in Ungarn – ebenso wieDFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger und Romani Rose,der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti undRoma. Neonazis hatten ein Haus in Brand gesteckt. Alsder Familienvater mit seinem fünfjährigen Sohn dem In-ferno entkommen wollte, wurden sie beide erschossen,weil sie Roma waren.In Italien und Frankreich wurden Sinti und Roma iso-liert oder des Landes verwiesen. Auch in der Slowakei,in Bulgarien und Rumänien werden Sinti und Roma teilswie Aussätzige behandelt. Sie sind de jure EU-Bürgerin-nen und Bürger. De facto aber werden sie pauschal aus-gegrenzt.Das sind die Aufgaben, über die wir heute reden. Ichbin dankbar, dass Bündnis 90/Die Grünen einen so weit-gefassten Antrag vorgelegt haben.In meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf in Berlingibt es eine Gedenkstätte. In Berlin fanden 1936 Olym-pische Spiele statt. Die Reichshauptstadt sollte von Zi-geunern gesäubert werden. Die meisten Sinti und Roma,die damals in Marzahn interniert waren, wurden späterim KZ in den Gaskammern ermordet. Wir haben keinRecht, diese Geschichte zu vergessen, aber wir haben diegemeinsame Pflicht, neuen Anfängen zu wehren.
Dabei spreche ich nicht nur von der extremen Rechten.Ausgrenzung beginnt oft in der Mitte der Gesellschaft.Sinti und Roma werden noch immer oder schon wie-der diskriminiert: bei der Bildung, bei der Gesundheit,beim Arbeiten, beim Wohnen, sozial, kulturell, rechtlich.Darauf macht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünenaufmerksam. Die Linke unterstützt ihn weitgehend.Überfällig ist auch, dass die EU eine gemeinsameStrategie zur Verbesserung der Lage der Roma verab-schieden will. Aber dieses EU-Papier entlässt keinen
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Petra Pau
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Staat aus seiner nationalen Verantwortung, auch Deutsch-land nicht.
Das ist der Kern, über den wir zu diskutieren haben.Es wurde schon angesprochen: Die BundesrepublikDeutschland will weiterhin hier lebende und Schutz su-chende Sinti und Roma in den Kosovo abschieben. Dortsind sie dem Ungewissen und Schlimmerem ausgelie-fert. Die Linke hält das im doppelten Sinn für unmora-lisch: gegenüber der Geschichte und gegenüber denMenschen, die davon betroffen sind.
Lassen Sie mich zum Schluss ganz persönlich eineBitte äußern: Die heutige Debatte ist bei allen Differen-zen – vielleicht gibt es kleine Unterschiede – sehr ver-antwortungsvoll geführt worden und war von Vorhabengeprägt, die aus allen Fraktionen vorgetragen wurden.Lassen Sie die Debatte am heutigen Nachmittag und diefolgende Beratung, in der auch die Anträge der anderenFraktionen diskutiert werden, nicht folgenlos bleiben. Esgeht nicht darum, dass wir diesen Antrag unverändertbeschließen, sondern darum, dass wir uns um die Bür-ger- und Menschenrechte auch dieser Bürgerinnen undBürger der Europäischen Union kümmern und ihnen hel-fen, diese Rechte wahrzunehmen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin dem Präsidium des Deutschen Bundestagesausdrücklich dankbar, dass am 27. Januar dieses JahresZoni Weisz die Rede zur Erinnerung an die Befreiungder Insassen der KZ gehalten hat. Es war eine eindringli-che und anrührende Rede, die unter die Haut gegangenist. Er hat nicht nur erinnert, sondern gemahnt. Er hatuns gemahnt, dass es auch heute noch schwierige Situa-tionen für die Sinti und Roma in Europa gibt.Ja, es ist richtig, dass die Situation der Roma immernoch nicht in allen europäischen Ländern befriedigendist. Sie ist außerordentlich problematisch und zum Teilprekär. Die Achtung und der Schutz von Minderheitenzählen zu den Kopenhagener Kriterien, die alle Staatenerfüllen müssten, bevor sie der Europäischen Union bei-treten können. Aber wie in einigen anderen Bereichenauch ist man in den jüngsten Beitrittsverfahren in derFrage der Roma sehr leichtfertig über gravierende Defi-zite, die es bis zum heutigen Tage gibt, hinweggegangen.So müssen wir leider bis heute feststellen, dass es in Eu-ropa in einzelnen Ländern nach wie vor nicht nur eine ba-nale Diskriminierung und Benachteiligung dieser Volks-gruppe gibt. Hier ist in erster Linie die EuropäischeUnion gefragt. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür dank-bar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das Schicksalund die Situation der Roma dieses Jahr zu einem zentra-len Thema gemacht hat, und das vor dem Hintergrund,dass es in Ungarn selbst problematische Situationen gibt.Hier in Deutschland gibt es weder eine staatliche Dis-kriminierung noch eine Ausgrenzung dieser Volks-gruppe aus dem Schul- oder Gesundheitsbereich. Aberes gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftli-che Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesemHause vermutlich klar.Wichtig ist – darauf müssen wir immer wieder hin-weisen –, dass die rechtmäßig in Deutschland lebendenSinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe haben.
Aber diese Möglichkeiten werden leider nicht ausrei-chend genutzt. Nicht ohne Grund hat der Deutsche Bun-destag 2007 festgestellt – die Kollegin Graf wird sich anden von der Großen Koalition eingebrachten Antrag er-innern –, dass bei den Bemühungen, die soziale Situationvon Roma zu verbessern, auch die Hürden in der Roma-Gesellschaft überwunden werden müssen. In vielen Fa-milien, so haben wir festgestellt, bestehen Vorbehaltehinsichtlich eines Schulbesuchs der Kinder. Bildungwird dort nicht als Chance verstanden, obwohl sie einesder wichtigsten Instrumente darstellt, dem Teufelskreisaus Armut und Arbeitslosigkeit zu entkommen.
– Das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Das istder Text des Beschlusses. – Mitunter werden Kinder vonihren Eltern von der Schule genommen, um zum Unter-halt der Familie beizutragen oder bereits in jungem Alterverheiratet zu werden. Jungen und Mädchen werden in-nerhalb der Roma-Gesellschaft oft ungleich behandelt,sodass der Anteil der Roma-Frauen ohne Schulbildungjenen der Männer übersteigt.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sindDinge, die den Kindern aus solchen Familien den Weg ineine gute Zukunft versperren. Wir müssen in Gesprächenmit den Repräsentanten der Roma für diese Problemesensibilisieren und deutlich machen: Ihr müsst eure Kin-der in die Schule schicken. Ihr dürft eure Frauen nichtverprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheira-ten. – Diese Dinge versperren den Menschen den Weg indas Miteinander in unserer Gesellschaft.
Deshalb haben wir seinerzeit die Bundesregierung auf-gefordert, in Gesprächen mit Vertretern der Roma inDeutschland und in anderen europäischen Ländern da-
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Erika Steinbach
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rauf hinzuwirken, dass sie sich innerhalb ihrer Gemein-schaft dafür engagieren, diese Defizite zu beheben. Sei-tens der Bundesregierung gibt es viel Unterstützung fürdiese Volksgruppe. Die Bundesregierung unterstützt denZentralrat der Sinti und Roma, und es gibt inzwischen– was ich sehr begrüße – eine Gedenkstätte, die daran er-innert, was den Sinti und Roma im Dritten Reich wider-fahren ist. Wir sollten aus unserer deutschen Warte he-raus in Gesprächen mit Vertretern dieser Volksgruppensehr deutlich machen, dass wir ihr Schicksal kennen undan ihrer Seite stehen. Wir müssen sie aber auch animie-ren, Teil unserer Gesellschaft zu werden.Herr Weisz ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass eseinem Roma gelingen kann, nicht nur Teil der Gesell-schaft zu werden, sondern auch eine herausgehobenePosition zu erringen und ein höchst respektables Amt zubekleiden. Er hat uns mit seiner Rede bewegt und aufdas Schicksal der Roma aufmerksam gemacht.
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir noch eineganze Menge gemeinsamer Arbeit vor uns haben.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorwenigen Tagen hat das Europäische Parlament eine Re-solution zur Lage der Roma verabschiedet, und heutesprechen wir im Bundestag über einen Antrag der Grü-nen zur Umsetzung der Gleichstellung der Roma in Eu-ropa. Ich denke, das ist eine Konsequenz aus dem, wasuns Zoni Weisz im Januar mitgegeben hat.Der Antrag der Grünen nimmt Bezug auf seine Rede– diese habe ich als erschütternd und zutiefst berührendin Erinnerung – zum Gedenktag für die Opfer des Natio-nalsozialismus. Zoni Weisz hat vor uns allen nicht nurseine schrecklichen Erlebnisse als Kind während des Na-tionalsozialismus geschildert – ich kann mich gut daranerinnern, wie er geschildert hat, dass er seine Angehöri-gen im Zug hat wegfahren sehen und sie nie wiedergese-hen hat –, sondern er ist auch auf die heutige Lebens-situation vieler Sinti und Roma in Europa, insbesonderein den osteuropäischen Ländern, eingegangen. Er hatdiese Situation als menschenunwürdig beschrieben. Sintiund Roma werden ausgegrenzt, systematisch schlechter-gestellt, leben oft in Gettos und werden bei Gelegenheitschnell des Landes verwiesen.Ich selbst war einige Male in osteuropäischen Län-dern und habe dort auch Roma-Siedlungen besucht. Ichhabe vorgefunden: Es gibt keine Stromversorgung undnur eine schlechte Trinkwasserversorgung. Die Abwas-serentsorgung ist teilweise ebenfalls sehr schlecht. DieSinti und Roma, mit denen ich gesprochen habe, habenzudem über behördliche Willkür geklagt. Die Gesund-heitsversorgung ist miserabel. Frauen und Kinder wer-den Opfer von Menschenhandel. Das ist in menschen-rechtlicher Hinsicht eine unmögliche Situation. Daherkann ich die Mahnung von Zoni Weisz nur unterstützen:Verschließen wir nicht die Augen vor der oft menschen-unwürdigen Lebenssituation vieler Roma in Europa!
Es ist nicht das erste Mal – Frau Steinbach hat das an-gesprochen –, dass wir dieses Thema aufnehmen. DerAntrag der ehemaligen Großen Koalition ist uns allenvielleicht noch in Erinnerung. Roma, Sinti, Gitanos undManouches bilden zusammen die größte ethnische Min-derheit Europas. Sie werden – das muss man ganz klaransprechen – nicht nur in Osteuropa diskriminiert, son-dern zum Beispiel auch in Deutschland, wo neben den70 000 Sinti und Roma mit deutschem Pass viele ausOsteuropa leben. Das Leben für diese Bevölkerungs-gruppe ist oft nicht einfach; denn auch bei uns sind Vor-urteile prävalent. Frau Steinbach und Herr Tören, ichmöchte keine Schärfe in die Debatte bringen, aber man-ches, was Sie vorgetragen haben, war doch sehr pau-schal.
Nicht jeder Roma wendet Gewalt in der Familie an.Auch Bildungsferne kann man nicht generell der ganzenVolksgruppe zur Last legen.
Sinti und Roma werden leider häufig Opfer von ras-sistisch motivierter Gewalt. In Deutschland besuchenSinti- und Roma-Kinder trotz Normalbegabung überpro-portional häufig Förderschulen. Sinti und Roma sindauch kaum in politischen Vertretungen und Institutionenvertreten.Ich finde es gut, dass sich die ungarische Ratspräsi-dentschaft trotz der Aktionen der Rechtsextremisten inUngarn dieses Themas annimmt und versucht, eine so-ziale Integration der Roma in Europa zu befördern. DasEuropäische Parlament hat eine Entschließung verab-schiedet, in der auf die wachsende Stigmatisierung so-wie den aufkommenden Antiziganismus im politischenDiskurs und in der breiten Öffentlichkeit hingewiesenwird. Zudem wird in dieser Entschließung die Rückfüh-rung von Roma in mehreren Mitgliedstaaten als „frag-würdig“ bezeichnet.Seit 2008 schieben Frankreich und Italien Roma mas-siv in den Kosovo ab. Mit dem deutsch-kosovarischenRücknahmeabkommen vom April 2010 ist auch bei unsfaktisch der Weg frei für die Abschiebung von circa11 700 Roma.
Nach einer UNICEF-Studie sind – das wurde vom Kol-legen Winkler schon angesprochen – die Hälfte davon
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Minderjährige, von denen zwei Drittel in Deutschlandgeboren wurden, die hier sozialisiert sind und Deutsch-land als ihre Heimat sehen. Die Studie fand heraus, dassdrei von vier abgeschobenen Kindern in dem Land, indas sie verbracht werden, nicht mehr in die Schule ge-hen, weil die Familien dort zu arm und ohne Beschäfti-gung sind, Sprachbarrieren haben – wenn sie hier bei unsaufgewachsen sind, können sie die Sprache des Landesnicht, in das sie verbracht werden – oder ihnen Papierefehlen. Deshalb ist es richtig, dass SPD-geführte Bun-desländer besonders sensibel mit den Rückführungenumgehen und umfassende individuelle Einzelfallprüfun-gen durchführen. Nordrhein-Westfalen führt beispiels-weise keine Kinder, ältere oder pflegebedürftige Men-schen zurück.Ich darf Sie daran erinnern, dass unser ehemaligerCDU-Kollege Professor Dr. Christian Schwarz-Schilling,der ehemalige Hohe Repräsentant der internationalenGemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und hoch-geschätzte Menschenrechtsverteidiger, mit Blick auf dieSituation der Kinder die Abschiebung der Roma verur-teilt und sie als historisch verantwortungslos bezeichnet.Ich denke, wir sollten die Mahnungen von Zoni Weiszaufnehmen und mit und für Sinti und Roma europaweitPerspektiven für ein menschenwürdiges Leben entwi-ckeln. Deswegen habe ich mich sehr über Ihren Beitraggefreut, Herr Kollege Heinrich. Ich habe die Hoffnung,dass wir aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, wirk-liche Perspektiven entwickeln, wie wir in diesem Hauszu einer Lösung dieses Problems kommen. Ich würde essehr begrüßen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Als Nürnberger Abgeordneter ist man mit
den Themen Alltagsdiskriminierung und Intoleranz his-
torisch auf besondere Art und Weise verknüpft. Das gilt
ganz besonders für die Diskriminierung von Sinti und
Roma. Der Verweis auf die schändlichen Nürnberger
Rassegesetze darf hier nicht fehlen. Sie wissen, dass von
diesem unsäglichen Blutschutzgesetz von 1936 auch
Sinti und Roma betroffen waren. Am ehemaligen Stand-
ort des Nürnberger Industrie- und Kulturvereins erinnert
heute ein Gedenkstein daran. Wir müssen uns immer
wieder dieses Unrechts bewusst werden, damit wir für
die Zukunft daraus Lehren ziehen können. Ich bin stolz,
dass es zur Gründung des Landesverbandes Bayern der
Deutschen Sinti und Roma in Nürnberg kam. Ich hono-
riere vor allem den Beitrag, den Sinti und Roma zur Ge-
denkstättenarbeit in Nürnberg leisten.
Wir tun uns dennoch mit dem vorliegenden Antrag – es
ist bereits erwähnt worden, dass die CDU/CSU und die
FDP einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema vorle-
gen werden – etwas zu leicht. Der Antiziganismus – ich
verweise noch einmal auf die Nürnberger Geschichte –
ist ein Thema, mit dem wir uns inhaltlich auseinander-
setzen müssen. Er hat offenbar in Europa Wurzeln, die
nur ganz schwer auszureißen sind. Da gilt es nach unse-
rer Auffassung anzusetzen. Es gibt nach wie vor eine
Vielzahl von Klischees und sehr viel Unwissenheit über
die Lebensweise der Sinti und Roma. Die Klischees und
Vorurteile werden gerne kultiviert und führen wie alle
Vorurteile und Klischees zu sozialer Ausgrenzung. Des-
halb ist es notwendig, dass wir uns mit diesem Thema
beschäftigen. Wir werden das mittels eines Antrags tun.
Ich will aber deutlich sagen, warum wir dem Antrag
des Bündnisses 90/Die Grünen heute nicht zustimmen
können. Er suggeriert, es gebe gezielte Abschiebungen
in das Kosovo. Frau Kollegin Graf, wer das Rückfüh-
rungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit
den Abschiebungen von Frankreich gleichstellt, neigt
schon sehr zu Pauschalisierungen, um es vorsichtig aus-
zudrücken.
Sie tun Ihrem Anliegen damit keinen Gefallen.
Worum geht es? Es geht darum, dass in erster Linie
die manchmal wirklich bedauerlichen wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse des Heimatlandes nicht da-
rüber hinwegtäuschen dürfen, dass wir es mit zwei ver-
schiedenen Problemen zu tun haben. Das eine ist die so-
ziale Situation der Sinti und Roma hier in Deutschland
und in Europa, wo sie als Flüchtlinge Zuflucht gefunden
haben; das andere ist das Asylrecht. In ihrem Antrag ver-
suchen die Grünen – es tut mir leid, wenn ich das sagen
muss –, gewollt oder ungewollt, beides über einen
Kamm zu scheren.
Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass das deutsche
Asylrecht auch in dieser Frage anzuwenden ist. Wir
müssen letztendlich darauf Rücksicht nehmen, dass die
völkerrechtliche Praxis, was die Anwendung des Asyl-
rechts und die Anerkennung des Flüchtlingsstatus anbe-
trifft, zu wahren ist.
Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ströbele?
Gern. Wenn ich den Gedanken noch schnell zu Endebringen darf, stehe ich für die Beantwortung einer Zwi-schenfrage selbstverständlich zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11365
Michael Frieser
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Ich will noch einmal darauf abzielen, dass es einendeutlichen Unterschied gibt. Auf der einen Seite stehtder ehrenwerte Ansatz: Wir müssen sozialer Benachteili-gung, Ausgrenzung überall dort begegnen bzw. sie ver-hindern und abstellen, wo wir sie antreffen. Aber auf deranderen Seite müssen wir auch das, was wir an asyl-rechtlichen Grundlagen und an rechtmäßigen, legalenFormen der Rückführung haben, beachten.Herr Kollege, bitte schön.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Danke, Herr Kollege. – Geben Sie mir recht darin,
dass die Sinti und Roma, die sich derzeit in Deutschland
aufhalten und jetzt von der Abschiebung oder Rückfüh-
rung bedroht sind, aus ihrem Heimatland, nämlich dem
Kosovo, nicht aus ökonomischen Gründen weggegangen
sind, sondern deshalb, weil man sie nach der Befreiung
des Kosovo dort systematisch verfolgt hat, weil man ihre
Häuser angesteckt hat und weil sie um ihr Leben fürch-
ten mussten? Bei mir hier im Deutschen Bundestag sind
danach mehrere Delegationen angekommen, die diese
Leute vertreten haben bzw. selber aus dem Kosovo ka-
men und mir im Einzelnen berichtet haben, welcher
scheußlichen Verfolgung sie im Kosovo ausgesetzt wa-
ren, weswegen sie dann in die Nachbarländer gegangen
sind, aber auch nach Deutschland, insbesondere übrigens
nach Bayern; gerade in der Nähe von München sind sie
heute ansässig. Wenn man diese Leute jetzt gegen ihren
Willen mit Gewalt wieder dahin zurückbringt, müssen
sie berechtigterweise befürchten, dass die Verfolgung,
derentwegen sie dort weggegangen sind, sie erneut trifft.
Herr Kollege Ströbele, die Antwort auf diese Frage
soll zeigen, dass es um zwei unterschiedliche Problem-
bereiche geht. Das eine ist die durchaus nachvollzieh-
bare Situation, was den Aufenthalt anbetrifft. Das andere
ist die Frage der Rückführung. Ich gebe Ihnen in diesem
Punkt natürlich recht: Viele von ihnen sind nicht freiwil-
lig von dort weggegangen; das steckt ja in dem Begriff
der Vertreibung. Für uns ergibt sich nach den asylrechtli-
chen Grundsätzen und der völkerrechtlichen Praxis eine
entscheidende Frage: Ist durch die geänderte Situation in
der Heimat eine Rückkehr möglich?
Am Schluss dieser Rede darf ich mir erlauben, noch
einen Gedanken vorzutragen. Gerade dieser Punkt macht
mich etwas ratlos: Vollenden wir damit nicht sogar das,
was einmal verbrecherisch begann? Menschen werden
aus ihrer Heimat vertrieben, müssen an einen Ort, an den
sie vielleicht nicht wollten. Die entscheidende Frage ist
– so verstehe ich die völkerrechtliche Praxis –, dass wir
alles tun müssen, um ihnen die Rückkehr wieder zu er-
möglichen. Also ist doch unsere Unterstützung in erster
Linie dort gefragt. Das ist, glaube ich, der Punkt. Wir
dürfen das, was einmal durch Unrecht eingetreten ist,
nicht sozusagen historisch auch noch legitimieren. Des-
halb sind es zwei verschiedene Dinge. Das eine ist, hier
alles zu tun, um eine soziale Teilhabe zu ermöglichen;
das andere ist, dort, wo es rechtlich zulässig und notwen-
dig ist, Menschen wieder in eine Situation zurückzufüh-
ren, die ihnen angestammt ist und aus der sie eigentlich
kommen. So verstehe ich den politischen Auftrag.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5191 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-überlassungsgesetzes – Verhinderung vonMissbrauch der Arbeitnehmerüberlassung– Drucksache 17/4804 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann,Diana Golze, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur strikten Regulierung der Ar-beitnehmerüberlassung– Drucksache 17/3752 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussesfür Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/5238 –Berichterstattung:Abgeordnete Jutta KrellmannZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt jeein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esdagegen Widerspruch? – Das scheint nicht der Fall zusein. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyendas Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zah-len stimmen. Wir haben ein glänzendes Wachstum von3,6 Prozent. Wir haben 41 Millionen Menschen in Ar-
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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beit; das ist ein Rekordwert. Wir sind zuversichtlich,dass die Arbeitslosigkeit 2011 im Jahresschnitt unter der3-Millionen-Grenze sein wird.Ja, die Zahlen stimmen. Dennoch glauben viele Men-schen in unserem Land, dass etwas nicht stimmt. Unterdem Druck des globalen Wettbewerbs drohen unfaireArbeitsbedingungen am unteren Rand des Arbeitsmark-tes Fuß zu fassen. Es sind insbesondere Vorfälle aus demBereich der Zeitarbeit gewesen, die den Menschen die-sen Eindruck vermittelt haben. Einige haben Schlupflö-cher ausgenutzt, um die Stammbelegschaft systematischschlechterzustellen. Das ist weder der Sinn von Zeitar-beit noch die Intention des Gesetzes. Wer seiner Beleg-schaft kündigt, um sie für die gleiche Arbeit zu schlech-teren Löhnen als Zeitarbeiter wieder einzustellen, derkündigt den fairen Umgang miteinander auf.
Das wollen wir nicht tolerieren. Deshalb schließen wirmit diesem Gesetz die Gesetzeslücke.Wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeitar-beit kann für Geringqualifizierte eine wichtige Alterna-tive zur Arbeitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zweiDrittel der Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma an-fangen, vorher nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hatkeinen Berufsabschluss. Sie haben als Zeitarbeitnehme-rinnen und -arbeitnehmer volle Arbeitnehmerrechte:Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, und sie sind so-zialversicherungspflichtig beschäftigt. Auf der anderenSeite gibt die Zeitarbeit Unternehmen die Möglichkeit,ihren Personalbedarf flexibel zu decken. Sie gibt ihnenBeweglichkeit für Auftragsspitzen oder besondere Pro-jekte. Wir sind uns deshalb einig, dass wir aus diesenGründen die Zeitarbeit brauchen. Das ist auch einer derGründe, warum vor gut acht Jahren SPD und Grüne dieZeitarbeit flexibilisiert haben. Wir sind nach wie vor derÜberzeugung, dass der Grundgedanke richtig ist, da-durch Menschen in Arbeit zu bringen, weil Arbeit immerbesser als Arbeitslosigkeit ist.
Meine Damen und Herren, wir stehen heute eher voreiner anderen Herausforderung. Es geht einerseits da-rum, die Flexibilität zu erhalten, und andererseits darum,die Fairness in der Zeitarbeit zu sichern. Hierzu trägtauch die europäische Leiharbeitsrichtlinie bei, die wirvollständig, eins zu eins, umsetzen. Am 1. Mai werdenwir unseren Arbeitsmarkt vollständig öffnen, auch fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den achtneuen EU-Mitgliedstaaten. Sie sind willkommen auf un-serem Arbeitsmarkt. Was wir aber nicht wollen, ist, denArbeitsmarkt für ausländische Billiglöhne öffnen. Des-halb habe ich mich immer klar für eine Lohnuntergrenzein der Leiharbeit ausgesprochen.
Wir ziehen jetzt in der Leih- und Zeitarbeit eine gesetzli-che Lohnuntergrenze ein, die auf Vorschlag der Tarif-partner durch Rechtsverordnung festgelegt wird.
Es wird eine Lohnuntergrenze für die Verleihzeit undfür die verleihfreie Zeit geben. Sie wird für Inländer undfür Ausländer gelten. Ferner haben wir uns darauf ver-ständigt, dass der Zoll die Einhaltung der Lohnunter-grenze kontrolliert. Hier wird der gleiche Mechanismuswie bei der Kontrolle der Mindestlöhne nach dem Ar-beitnehmer-Entsendegesetz greifen. Das geht aber nurmit einer sorgfältigen Abgrenzung der Prüfzuständigkei-ten und der Kontrollbefugnisse der Bundesagentur fürArbeit einerseits und der Zollbehörden andererseits. Wirbrauchen dazu die erforderliche Zeit.Sie alle wissen, meine Damen und Herren, dass dieentsprechenden Regelungen in Vorbereitung sind unddass sie rechtzeitig eine Kontrolle der künftigen Lohnun-tergrenze gewährleisten.Abschließend möchte ich noch etwas zum ThemaEqual Pay sagen. Es ist nicht in Ordnung, wenn Men-schen für die gleiche Leistung in demselben Betrieb dau-erhaft ungleich bezahlt werden.
Im Gesetz steht: Es gilt Equal Pay,
gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Leiharbeitern undStammbelegschaft, es sei denn, die Tarifparteien einigensich auf eine abweichende Lösung. Ich weiß sehr wohl,dass es einen unseligen Tarifparteienwettbewerb nach un-ten gegeben hat. Das war übel. Das hat dem Ansehen derZeitarbeit richtig geschadet.
Ein Gerichtsurteil hat hier jetzt eine Zäsur gesetzt; das istrichtig. Für uns bleibt es aber unstreitig, dass die Tarifau-tonomie erst einmal Vorrang hat.
Erst wenn sie versagt, muss der Staat eingreifen.
Deshalb erwarten wir jetzt, dass die Sozialpartner ihreFreiräume nutzen und sich mit Augenmaß auf eine An-näherung an Equal Pay verständigen.
Wenn die Tarifparteien innerhalb eines Jahres keineTariflösung finden, dann
werden wir eine Kommission einsetzen,
die an ihrer statt die Regeln für Equal Pay auslotet unddem Gesetzgeber einen Vorschlag unterbreiten muss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11367
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über-zeugung, dass die Tarifautonomie ein schützenswertesInstrument ist. Es ist aber eben auch unsere gemeinsameAufgabe, sicherzustellen, dass der Sozialstaat wirkt. Dasgelingt meines Erachtens am besten in einem breitenKonsens und nicht im Streit. Heute gehen wir einen ers-ten und wichtigen Schritt in diese Richtung.Danke.
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Bundesministerin, diese Beratung bietet vielleichtdie Gelegenheit, einmal grundsätzlich darüber zu reden,was der eigentliche Sinn und Zweck von Arbeitnehmer-überlassung, also von Zeit- und Leiharbeit, überhauptist.
Schon hier gibt es einen Widerspruch zu dem, was Sie,Frau Ministerin, eben gesagt haben. Wir sind nicht derMeinung, dass das, was wünschenswert wäre und wasSie hier in leuchtenden Farben beschrieben haben, tat-sächlich eingetreten ist. Die Daten geben nämlich nichther, dass Zeit- und Leiharbeit im Wesentlichen eine Artarbeitsmarktpolitisches Instrument ist, um Menschen inArbeit zu führen. Nach Studien des Instituts für Arbeits-markt- und Berufsforschung ist ein sogenannter Klebeef-fekt, also die Tatsache, dass Menschen über Zeit- undLeiharbeit tatsächlich in feste Beschäftigung bzw. ordent-liche Arbeit kommen, nur in 7 Prozent der Fälle festzu-stellen.Gleichwohl kann man aus wirtschaftspolitischer Sichtargumentieren, dass Zeit- und Leiharbeit als Flexibili-tätsinstrument sinnvoll für die Abdeckung von Auftrags-spitzen von Unternehmen sein kann. In diesem Sinnesind die Gewerkschaften und auch wir Sozialdemokratennicht der Meinung, dass man Zeit- und Leiharbeit ver-bieten sollte. Als Instrument zur Abdeckung von Auf-tragsspitzen der Unternehmen ist sie akzeptabel. FrauMinisterin, es darf aber nicht sein, dass Zeit- und Leihar-beit in Deutschland weiter als Instrument des Lohndum-pings und damit zum Lohndrücken missbraucht wird.Das ist aber leider Realität in diesem Lande.
Sie hatten wenig Redezeit, ich habe auch wenig Rede-zeit, aber die Höflichkeit hätte es geboten, Frau Ministe-rin, dass Sie, als Sie eben über die Einführung einesMindestlohnes in Form einer absoluten Lohnuntergrenzegesprochen haben, gesagt hätten, dass diese Regelung,die von Ihnen ursprünglich nicht im Gesetz vorgesehenwar, aber durch die Annahme der Beschlussempfehlun-gen des Ausschusses quasi dem Gesetzeswerk als Omni-bus aufgesetzt wird, Ihnen in zähen Verhandlungen inder Nacht vor allen Dingen gegen den Widerstand derFDP abgerungen werden musste.
Wir Sozialdemokraten haben also in diesen Verhandlun-gen dafür gesorgt, dass vor Inkrafttreten der Arbeitneh-merfreizügigkeit am 1. Mai 2011 zumindest ein Mindest-lohn als gesetzliche Lohnuntergrenze eingeführt wird.Wir haben dafür gesorgt, nicht Sie – mit Copyright, FrauDr. von der Leyen, sollten Sie sich an dieser Stelle aus-kennen –; das zu erwähnen, wäre ein Akt der Höflichkeitgewesen.Gleichwohl kann ich nicht feststellen, dass dieser Ge-setzentwurf zureichend ist, um das zu erreichen, was of-fensichtlich beabsichtigt ist, nämlich den Missbrauchvon Zeit- und Leiharbeit zu bekämpfen.
– Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Ich weiß nicht, obSie sich mit diesem Thema irgendwann einmal beschäf-tigt haben oder hier nur rumkrakeelen wollen. Die Wahr-heit ist: Zeit- und Leiharbeit wird in diesem Land massivmissbraucht.
Frau von der Leyen, an einem der Abende, an denenwir keine Nachtsitzung des Vermittlungsausschusseshatten, hatte ich noch den Nachtrhythmus drauf undkonnte nicht richtig schlafen, weil wir sonst immer mit-einander verhandelt haben. In dieser Nacht hatte ich dieGelegenheit, einmal das Nachtmagazin der ARD zu se-hen. Dort wurde die Situation sehr gut beschrieben. Esgab ein Interview mit zwei Beschäftigten: der eineStammbelegschaftskollege, der andere Leiharbeitnehmer;beide in einem Hamburger Unternehmen tätig; beide diegleiche Qualifikation; beide die gleiche Tätigkeit. Dereine Unterschied war, dass der Kollege Leiharbeiter we-niger Urlaub hat als der Stammbelegschaftsbeschäftigte.Der wesentliche Unterschied war, dass er trotz gleicherTätigkeit 900 Euro weniger bekommt. Das nehmen Men-schen als entwürdigend wahr, wenn sie es zu erleben ha-ben.Aber auch der Stammbelegschaftskollege war nichtglücklich über die Situation, weil er trotz Ihres Placebo-Gesetzes nach wie vor damit rechnen muss, dass er zu-künftig durch jemanden ersetzt wird, der schlechter be-zahlt wird. Genau an dieser Stelle versagt Ihr Gesetz.
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Hubertus Heil
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Ihr wohlfeiler Hinweis auf eine Tarifautonomie, die indiesem Bereich eben nicht mehr funktioniert, ist eineAblenkung davon. Zu Recht zitieren Sie, dass das Ar-beitnehmerüberlassungsgesetz bis dato im Prinzip denGrundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kennt. Sieverschweigen aber, dass das nicht die Regel ist, FrauMinisterin. Sie verschweigen das. Und Sie wissen ganzgenau – da können Sie sich auch nicht herausstehlen –,dass wir dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nichteffektiv begegnen können, wenn wir nicht den Grund-satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ als Gesetzgeberim Gesetz scharfschalten.Ich nehme es als ein Stück Heuchelei wahr, wenn diefür Arbeit und Sozialordnung zuständige Ministerin an-kündigt – ich darf das zitieren, was Sie eben gesagt ha-ben –: Wir schauen uns ein Jahr lang noch einmal an, obsich etwas bewegt, und drohen damit, nach einem Jahreine Kommission einzusetzen. – Was für eine Ankündi-gung! Diejenigen, die Zeit- und Leiharbeit missbrau-chen, zittern wirklich davor, dass Sie eine Kommissioneinsetzen.Frau Ministerin, die Wahrheit ist: Wir hätten längst inden Verhandlungen – ich glaube, sogar mit Ihnen – einebessere Lösung erzielt, was den Grundsatz „GleicherLohn für gleiche Arbeit“ betrifft, wenn Sie nicht in Gei-selhaft eines Koalitionspartners namens FDP wären, dernicht einmal nach neun Monaten gleichen Lohn für glei-che Arbeit wollte, sondern sich dafür eingesetzt hat, dassselbst nach neun Monaten dauerhaft nur der Grundlohngleich ist, nicht aber die Zuschläge. Sie, die FDP und dieCDU/CSU, verhindern den Kampf gegen den Miss-brauch von Zeit- und Leiharbeit.
Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich nur sa-gen: Dieses Gesetz beinhaltet zwar einen großen Fort-schritt, was die Lohnuntergrenze betrifft. Deshalb wer-den wir dem Antrag ganz folgerichtig zustimmen. Wirhaben das zusammen mit den Grünen in den Verhand-lungen durchgesetzt. Ich halte dies für eine gute Nach-richt. Das ist überfällig. Es ist notwendig, dass wir vordem 1. Mai zumindest zu einem Mindestlohn in dieserBranche kommen. Zureichend ist es aber nicht.Wenn man dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeiteffektiv begegnen will, sind einige weitere Dinge not-wendig, Frau Ministerin. Das können Sie unserem Ent-schließungsantrag entnehmen. Wir wollen die Mitbe-stimmungsrechte der Betriebsräte ausweiten, was denEinsatz von Zeit- und Leiharbeit betrifft. Warum verwei-gern Sie das eigentlich? Wir wollen gleiche Teilhabe derLeiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer beimZugang zu Gemeinschaftseinrichtungen, beispielsweiseKinderbetreuung, Gemeinschaftsverpflegung und Beför-derungsmitteln. Wir wollen die konzerninterne Verleihean dieser Stelle einschränken. Das halte ich für dringendnotwendig. Wir wollen vor allen Dingen, dass es keineVerträge von Fall zu Fall gibt – Stichwort: Synchronisa-tionsverbot.
Wir wollen auch eine zeitliche Befristung auf ein Jahr,was den Einsatz von Zeit- und Leiharbeitern betrifft.Das Wichtigste ist aber – und das ist der Geist derEU-Richtlinie zur Leiharbeit, die bis zum 5. Dezemberdieses Jahres umzusetzen ist –, dass wir uneingeschränktden Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“durchsetzen wollen. Mindestlohn ist das eine. Wir sindstolz darauf, dass wir Ihnen das abringen konnten.
Das reicht aber nicht, weil „Gleicher Lohn für gleicheArbeit“ das ist, was die Menschen brauchen.
Herr Heil.
Ich sage Ihnen: Wer den Menschen das verweigert,
der hat keine Ahnung von der Lebensrealität dieser Men-
schen. Es ist unwürdig, was Sie hier abziehen. Deshalb
werden wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen
können.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Heil, ich schätze Sie eigentlich sehr; aberich finde das, was Sie hier tun, nicht konsequent. WennSie mit uns der Meinung sind, dass wir hier – insbeson-dere was den Antrag anbelangt – in die richtige Richtunggehen, dann sollten Sie auch die Größe aufbringen, die-sen Schritt am Ende komplett mitzugehen, das heißt,dem Gesetz insgesamt zuzustimmen.
Das fände ich richtig. Schade, dass Sie das verweigernwollen.
So viel zum Thema „Konsens und gemeinsames Bemü-hen“.Ich will für uns, die FDP, erstens festhalten: Die Zeit-arbeit ist für uns ein wichtiges Instrument zur Gewähr-leistung von Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wir wollen
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Zeitarbeit erhalten und auch künftig am deutschen Ar-beitsmarkt gangbar machen.
Wir haben aber immer gesagt: Wir wollen keinen Miss-brauch der Zeitarbeit. Wir treten Tendenzen, Stammbe-legschaften durch Zeitarbeiter zu ersetzen, deutlich ent-gegen. Deswegen haben Kollege Schiewerling und ichsehr frühzeitig, zu Beginn letzten Jahres, gesagt: Wirwerden mit einer Drehtürklausel genau dies verhindern,nämlich dass Belegschaften entlassen und über Zeitar-beitsunternehmen zurückgeholt werden. Wir sind auchder Meinung: Zeitarbeit darf kein Mittel zur Lohndiffe-renzierung nach unten sein; auch das wollen wir defini-tiv nicht.
Deswegen sind wir in den Verhandlungen konkreteSchritte gegangen. Herr Kollege Heil, die Verhandlun-gen waren nicht einfach – das will ich festhalten –; aberwir sollten hier keine Legendenbildung betreiben. Wirhaben gemeinsam eine Lohnuntergrenze verabredet, dieam Ende auf Ihren Wunsch hin – das will ich hier bestä-tigen – als absolute Lohnuntergrenze ausgestaltet wurde.Wir sind diesen Schritt auch deswegen mitgegangen,weil sich durch die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit– Sie können es auch Mindestlohn nennen – in Deutsch-land de facto nichts ändern wird; denn die Tarifautono-mie funktioniert in diesem Bereich. Es ist der Bereichmit der mit Abstand höchsten Tarifbindung: 98 Prozentder Arbeitsverhältnisse sind tarifgebunden, entweder di-rekt durch Tarifmitgliedschaft oder durch Bezugnahmeauf Tarifverträge. Es wird sich für die deutschen Zeitar-beitsunternehmen und die bei ihnen angestellten deut-schen Zeitarbeiter de facto nichts ändern. Aber es gibteinen Schutz gegen die erwarteten und – vor allen Din-gen von Ihnen – befürchteten Verwerfungen am Arbeits-markt aufgrund der Freizügigkeit ab dem 1. Mai; diesenSchritt gehen wir mit.Zweitens. Die FDP-Fraktion hat sehr früh auf dasThema Equal Pay hingewiesen.
Wenn Sie sich erinnern: Im Sommer letzten Jahres – dawaren Sie noch sehr mit der Diskussion über Mindest-lohn und Freizügigkeit beschäftigt –
haben wir gesagt, dass die Durchsetzung von Equal Payeigentlich kein Problem ist. Man muss sagen – HerrHeil, ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen –: Beiden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss und in derArbeitsgruppe hat nicht die SPD Angebote gemacht,sondern die Koalition. Wenn Sie sich erinnern, von wemjeweils die Angebote vorgetragen wurden, werden Siedas bestätigen müssen.
Wir wollten das Thema angehen – das haben wir ge-sagt –; aber dabei wollten wir eine Auffanglinie schaf-fen, damit die Tarifpartner im Vorfeld tätig werden.Nach langen Verhandlungen mussten wir am Ende fest-stellen: „We agree to disagree.“ Wir sind nicht auf einenNenner gekommen. Jetzt machen wir genau das, was wiranfangs vorhatten: Wir fordern die Tarifpartner auf, imVorfeld tätig zu werden und ausdifferenziert – Branchefür Branche, entsprechend den jeweiligen Bedingungen –aufzuzeigen, was hier Equal Pay bedeutet und welcheFrist angemessen ist. Wir wollen – da stehen wir weiter-hin bereit – eine Auffanglinie schaffen und sagen: AmEnde, nach einer bestimmten Frist, muss immer klarsein, dass Equal Pay gezahlt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich gestatte sie. Sie kommt gerade noch rechtzeitig
in der Redezeit. Danke, Herr Heil.
Herr Heil, bitte schön.
Ich mache das gerne. Das ist eine Art Wiedergutma-chung: Ihr Kollege Otto hat mir vorhin in der Energiede-batte zu etwas mehr Redezeit verholfen.Herr Kolb, ich habe in diesem Zusammenhang zweiernsthafte Fragen, verbunden mit der Bitte um präziseAntworten.
Es geht mir um Klarstellungen zu den Verhandlungen,damit da keine Legendenbildung stattfindet.Erstens. Ist es richtig, dass Sie in den Verhandlungenerreichen wollten, dass es in den ersten neun Monateneiner Beschäftigung keinen gesetzlich vorgeschriebenengleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und Sie diese Zeitpauschal als Einarbeitungszeit definiert haben? Ist esrichtig, dass Sie erst nach neun Monaten Beschäfti-gungszeit den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Ar-beit“ uneingeschränkt per Gesetz durchsetzen wollten,wissend, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerin-nen und Leiharbeitnehmer weniger als drei Monate in ei-nem Unternehmen beschäftigt sind?Zweitens. Ist es richtig, dass Sie unter „Equal Pay“nicht das verstehen, was heute übrigens im Gesetz steht,nämlich dass es sich auf wesentliche Arbeitsbedingun-gen inklusive Arbeitsentgelt bezieht? Stimmt es, dassSie den Gesetzentwurf einfach umdrehen wollten undauch nach neun Monaten Beschäftigungszeit kein Equal
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Hubertus Heil
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Pay in dem Sinne zulassen wollten, wie es jetzt im Ge-setz steht, sondern nur bezogen auf den Grundlohn, dassSie also die Zuschläge herausrechnen wollten?Können Sie mir das bitte bestätigen, um zu unterstrei-chen, warum wir „agree to disagree“, weil wir faule Kom-promisse zulasten der Arbeitnehmer nicht mitmachenwollen?
Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für die Frage
und die Gelegenheit, zu präzisieren.
Wir haben uns in den Verhandlungen – wenn Sie Zah-
len nennen, kann ich das umgekehrt auch tun – aus sehr
unterschiedlichen Ecken aufeinander zubewegt. Es ist
richtig, dass die Koalition zunächst ein Angebot über
zwölf Monate gemacht hat. Es ist richtig – das darf ich
auch sagen –, dass Sie vom allerersten Tag an weniger
wollten und das in einer sehr forschen Art und Weise
vorgetragen haben. Es ist richtig, dass wir uns im Laufe
der Verhandlungen aufeinander zubewegt haben.
Wenn ich das recht erinnere, standen wir, bevor wir
festgestellt haben, dass wir nicht übereinkommen, bei
neun und Sie bei drei Monaten. Von den jeweiligen
Startpunkten aus betrachtet ergibt sich ungefähr eine
gleiche Entfernung. An dieser Stelle haben wir nicht
weiter verhandelt, weil man gesehen hat, dass es keinen
Sinn macht, und weil wir eine andere Wahrnehmung hat-
ten.
Ich habe das in den Verhandlungen als „masochisti-
schen Ansatz“ bezeichnet; denn nach Ihnen ist es nur
gut, wenn es wehtut. Wir haben gesagt: Wir wollen
schon das Signal an die Zeitarbeitsunternehmen senden:
Ihr könnt nicht ewig so weitermachen.
Aber das muss nicht dazu führen, dass Arbeitsverhält-
nisse bedroht werden.
Dabei sind wir nicht übereingekommen. Jetzt werden
wir erleben – da bin ich mir sicher; die Signale haben
wir jedenfalls –, dass sich die Zeitarbeitsunternehmen
und die Einsatzbranchen Gedanken machen werden
– das ist übrigens keine unverbindliche Ankündigung –
und wir innerhalb der nächsten zwölf Monate – –
– Sie bekommen auch die zweite Frage beantwortet,
wenn der Präsident zustimmt.
Jeder kann Fragen stellen, wie er will, und jeder kann
antworten, wie er will. So ist es.
Aus meiner Sicht, Herr Kollege Heil, gehört auch dasdazu, was ich jetzt noch gesagt habe.Was die konkrete Ausgestaltung der Frage nach EqualPay – dabei gibt es in der Tat eine Bandbreite – anbe-langt, haben die Verhandlungen in einer Arbeitsgruppestattgefunden. Sie haben verwirrende Ergebnisse gelie-fert. Es hieß zunächst, man habe sich auch über Fragenverständigt wie: Was heißt Equal Pay?
Dann hieß es, der Kollege Heil habe den Konsens indieser Unterarbeitsgruppe wieder aufgekündigt, sodassich mich außerstande sehe, zu bestätigen, dass wir unsauf irgendetwas an dieser Stelle hätten verständigen kön-nen. Sie wollten das selbst nicht; das muss man auch sa-gen.
Sie waren da vielleicht ein Stück weit ferngesteuert.
Ich habe durchaus Verständnis für Dinge, die im Hinter-grund von Verhandlungen ablaufen.Ich kann nur sagen: Die Koalition hat sich wirklichfair und nach Kräften bemüht, die Zeitarbeit zu moderni-sieren und die Fehler, die Sie bei den Hartz-Gesetzen ge-macht haben – so muss ich Sie verstehen, Herr Heil –,ein Stück weit zurückzunehmen,
aber dabei das Instrument der Zeitarbeit nicht kaputtzu-machen.
In diesem Sinne werden wir uns mit Interesse an-schauen, wie es weitergeht. Wir stehen dazu, dass auchder zweite Teil, die Umsetzung der Kontrolle, nochkommt.
Da dürfen Sie sich auf uns als Verhandlungspartner ver-lassen.Wir werden auch weiterhin dafür garantieren, dass eseinen Missbrauch der Zeitarbeit in Deutschland mit unsnicht geben wird.Danke für die Aufmerksamkeit.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich findees immer nett, wenn Sie sich streiten. Sie sollten weiter-machen. Das ist interessant.
Wir nehmen heute circa einer Million Menschen dasMenschenrecht auf gleiches Geld für gleiche Arbeit. Ichzitiere aus Art. 23 der Erklärung der Menschenrechte:Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichenLohn für gleiche Arbeit.
Früher war Leiharbeit dafür da, Auftragsspitzen abzu-fangen. Die Hartz-Gesetze von Rot-Grün haben es er-möglicht, dass die Leiharbeit inzwischen zum Billig-lohnsektor geworden ist.Die Zeche zahlen die Leiharbeiternehmer.
In meinem Wahlkreis gibt es einen Leiharbeitnehmer,der fünf Jahre unter dem Leiharbeitstarifvertrag desChristlichen Gewerkschaftsbundes arbeiten musste. Die-ser ist jetzt ungültig. Deshalb steht ihm der gleiche Lohnwie einem Stammbeschäftigten zu. Für ihn heißt das inZahlen: Er ist in fünf Jahren um 28 000 Euro betrogenworden.Leiharbeit ist und bleibt ein milliardenschweres Ge-schäft, das auf dem Rücken der Beschäftigten betriebenwird. Wer profitiert davon? Einerseits profitieren die Fir-men, die Leiharbeiter einsetzen. Sie senken ihre Lohn-kosten und entledigen sich der Verantwortung für ihreBeschäftigten. Andererseits profitiert die Leiharbeits-branche. Allein der Marktführer Randstad konnte seinenUmsatz von 2002 bis 2010 verdreifachen. Die Bosse beiRandstad freuen sich mittlerweile über einen fetten Um-satz in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzei-tig ist für viele Leiharbeitnehmer der Monat zu lang, umvon dem Geld leben zu können.Die schwarz-gelbe Regierung entscheidet gegen dieMehrheit der Deutschen. Eine Umfrage der Wochenzei-tung Die Zeit ergab, dass 91 Prozent der Deutschen fürEqual Pay in der Leiharbeit sind. Doch was macht dieBundesregierung? Statt endlich gleichen Lohn für glei-che Arbeit einzuführen, beschließt sie einen Mindest-lohn in der Leiharbeitsbranche. Zu einem Mindestlohnin der Leiharbeitsbranche sagt die Linke Nein. Wir brau-chen keinen Mindestlohn, wir brauchen Equal Pay,
weil der Mindestlohn dazu führt, dass die Leiharbeiterweiterhin weniger verdienen als die Stammbelegschaft.
– Da bin ich aber noch nicht. Ich bin noch bei der Arbeit.In der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsenbeispielsweise verdient man in der untersten Entgelt-gruppe 13,77 Euro. Da der Mindestlohn in der Leihar-beitsbranche im Westen 7,60 Euro beträgt, verdient einLeiharbeitnehmer etwa 45 Prozent weniger als einStammbeschäftigter. Der Mindestlohn darf nur in der ver-leihfreien Zeit gelten. Für die Arbeit gilt: Gleiches Geldfür gleiche Arbeit.
Als Zweites regelt die Bundesregierung den Drehtür-effekt. Sie verhindert zwar, dass eine Firma ihre Be-schäftigten zu einem schlechteren Entgelt über eine ei-gene Leiharbeitsfirma beschäftigen darf. Wenn diesePersonen allerdings sechs Monate arbeitslos oder woan-ders beschäftigt waren, ist das wieder möglich. Wo istdie Verbesserung? Die Umgehung ist vorprogrammiert.Es liegt auf der Hand, was man machen muss, um dieBeschäftigten wieder einstellen zu können.Die Bundesregierung behauptet zudem, mit ihremGesetz über Leiharbeit schaffe sie einen Mindestlohn,der nicht unterschritten werden kann. Das ist schlichtnicht wahr. Auch hier ein Beispiel: Adecco, eine dergrößten Leiharbeitsfirmen weltweit, zeigt, wie es geht.Bereits jetzt müssen Beschäftigte neue Arbeitsverträgeunterschreiben. Der Unterschied war für sie kaum zumerken. Statt Adecco GmbH stand Adecco OutsourcingGmbH im Arbeitsvertrag. Was hat sich geändert? DieKolleginnen und Kollegen sind keine Leiharbeitnehmermehr. Adecco hat sie in die konzerneigene Werkver-tragsfirma ausgegliedert, und für Werkvertragsbeschäf-tigte gilt der Mindestlohn nicht. So einfach ist das.
Für die Kolleginnen und Kollegen heißt das, dassselbst die schlechten Bedingungen, die wir hier beschlie-ßen sollen, schon jetzt unterlaufen werden. Das Gesetzder Bundesregierung ist Murks.
Leiharbeit darf nur dafür da sein, Auftragsspitzen aufzu-fangen.Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir mit der Lohn-drückerei Schluss machen. Die Linke sagt: GleichesGeld für gleiche Arbeit. Wenn Sie das Wohl der Leihar-beitnehmerinnen und -arbeitnehmer im Auge haben,müssen Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, damitsich endlich etwas bewegt und wir diese unsozialen Be-dingungen endlich abschaffen.
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Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Un-
sere Position in Sachen Leiharbeit ist bekannt. Unsere
zentralen Forderungen sind die konsequente Anwendung
von Equal Pay, eine Flexibilitätsprämie für Leiharbeits-
kräfte in Höhe von 10 Prozent und die Wiedereinführung
des Synchronisationsverbots. Wir meinen, nur eine kon-
sequente Regulierung stoppt den Missbrauch in der
Leiharbeit.
– Herr Kolb, stellen Sie doch eine Frage.
Nicht nur die Interessen der Wirtschaft und der Leih-
arbeitsbranche dürfen im Mittelpunkt stehen, sondern
die Politik muss auch den Beschäftigten in der Leihar-
beit gerecht werden. Sie haben einen berechtigten An-
spruch auf die gleichen Arbeitnehmerrechte, auf faire
Löhne und gute Arbeitsbedingungen wie alle anderen
Beschäftigten auch.
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?
Aber natürlich.
Bitte schön, Herr Kolb.
Das soll jetzt ausgleichende Gerechtigkeit sein. – Ichmöchte nur auf Verantwortlichkeiten hinweisen. Ich er-innere mich noch – ich bin lange genug im DeutschenBundestag –, dass Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen alsbesonders wichtig erkannt hatte, dass die Zeitarbeit ge-rade auch Menschen mit geringerer Qualifikation dieMöglichkeit zur Integration in den Arbeitsmarkt eröff-net. Ist es nicht ein bisschen so, dass Sie hier wie derweibliche Zauberlehrling stehen? Ich glaube, die Geis-ter, die Sie riefen, werden Ihnen jetzt zu viel. Sie machenjetzt die Drehung zurück. Das, was Sie jetzt verändernwollen und als Ihre Vorschläge präsentiert haben, istdoch das glatte Gegenteil dessen, was Sie in der Regie-rungsverantwortung 2004/2005 damals gemacht haben.Können Sie mir das bestätigen?
Kollege Kolb, ich bestätige Ihnen, dass wir unsereMeinung geändert haben.
Es wäre schön, wenn auch die FDP das hin und wiedereinmal täte.
Denn Politik muss meiner Meinung nach schlichtwegauch schauen, wie Gesetze wirken und welche Entwick-lungen und Fehlentwicklungen es gibt. Wir haben immergesagt: Wir haben andere Erwartungen gehabt. Ichnenne zum Beispiel den Klebeeffekt, der nicht eingetre-ten ist. Wir haben nicht damit gerechnet, dass beispiels-weise die Christlichen Gewerkschaften
so in diese Branche gehen und einen solchen Lohndruckmachen, wie sie es getan haben.
– Herr Kolb, ich bin jetzt dran. – Wenn Fehlentwicklun-gen zu sehen sind, dann muss die Politik Verantwortungübernehmen. Dann muss man auch die Größe haben, zusagen: Da sind Dinge gelaufen, die wir so nicht habenwollten. – Deswegen muss man dann Maßnahmen er-greifen, damit die Fehlentwicklungen wieder gestopptwerden. Das finde ich überhaupt nicht schlimm, sondernrichtig.
Ich wünsche mir, dass das auch die FDP irgendwann ein-mal macht.
Ich habe gerade von den gleichen Rechten der Be-schäftigten geredet. Wir meinen, dass der Gesetzentwurfdem nicht gerecht wird. Einzig und allein die Lohnunter-grenze ist ein richtiger und vor allem auch ein notwendi-ger Schritt. Dieser Lohnuntergrenze werden wir nachherzustimmen. Der Gesetzentwurf in Gänze aber ist undbleibt eine Minimalreform, der wir nicht zustimmenwerden; denn Sie werden Ihrer Verantwortung den Leih-arbeitskräften gegenüber nicht gerecht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11373
Beate Müller-Gemmeke
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Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, Sie suggerierenimmer wieder, die Leiharbeitsbranche sei eine Branchewie alle anderen auch. Fakt ist aber: In keiner anderenBranche müssen so viele Beschäftigte aufstockendesArbeitslosengeld II beantragen. Schon heute muss derStaat circa eine halbe Milliarde Euro pro Jahr an Trans-ferleistungen für Leiharbeitskräfte ausgeben. Darin sinddie langfristigen Kosten von Leiharbeitskarrieren nochgar nicht enthalten; denn die niedrigen Rentenansprücheführen die Menschen direkt in die Altersarmut. Keineandere Branche wird in diesem Umfang staatlich sub-ventioniert.Sie betonen auch immer, dass der Großteil der Leihar-beitskräfte vorher arbeitslos war. Das ist richtig, aber esist auf gar keinen Fall eine Rechtfertigung für die Leih-arbeit. Natürlich kündigt kein Mensch sein festes Ar-beitsverhältnis, um in der Leiharbeit für kurze Zeit undunter schlechteren Arbeitsbedingungen weniger zu ver-dienen. Deutlich wird aber, dass der Beschäftigungsauf-bau stark in die Leiharbeit geht und Stammbelegschaftenschleichend ersetzt werden.Auch der sogenannte Klebeeffekt ist ein Mythos. Ge-rade einmal 7 Prozent der Leiharbeitskräfte werden inreguläre Beschäftigungen übernommen. Diese Bilanz istunterirdisch und zeigt, dass die Leiharbeit als arbeits-marktpolitisches Instrument nicht funktioniert. Das wirdvon dieser Regierung wohl auch nicht gewollt; denn dieUnternehmen profitieren doppelt: Sie erhalten Flexibili-tät und billige Arbeitskräfte. Die Leiharbeitskräfte hin-gegen leiden unter einer doppelten Belastung: Sie ver-dienen weniger und haben keinen sicheren Job. Das istungerecht und nicht fair.Die heutige Entscheidung zur Leiharbeit im Bundes-tag ist also wichtig. Es geht darum, ob wir den Umbau inder Arbeitswelt hin zu noch mehr prekärer Beschäfti-gung befördern oder stoppen. Wir Grünen entscheidenuns für eine soziale Arbeitswelt. Sozial ist, was gute Ar-beit schafft.
Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, lange haben wirauf den Gesetzentwurf der Bundesregierung wartenmüssen. Jetzt aber geht es ganz schnell. Am Montagfand die Anhörung statt, und heute, drei Tage später,wird das Verfahren schon abgeschlossen. Dies geschieht,wie ich finde, trotz dieses wichtigen Themas auch nochzu einer sehr späten Tageszeit.
In der Anhörung wurden vielfältige Bedenken von Ex-perten geäußert. Sie ignorieren komplett die Gewerk-schaften und vor allem auch Teile der Wissenschaft. Dashat uns aber nicht überrascht.Gestern in der Ausschusssitzung haben wir auf unsereMaximalforderungen verzichtet und versucht, mit kon-kreten Änderungsanträgen einige wenige Verbesserun-gen des Gesetzentwurfs zu erreichen. Wir haben bei-spielsweise beantragt, dass die Auszubildenden in dieDrehtürklausel einbezogen werden, dass Betriebsrätemehr Rechte erhalten und dass Leiharbeitskräfte nicht inbestreikten Betrieben eingesetzt werden dürfen. Vor al-lem haben wir auch beantragt, dass die arbeitsvertragli-che Bezugnahme auf Tarifverträge gestrichen und derZugang zur betrieblichen Weiterbildung erleichtert wird,damit der Gesetzentwurf zumindest der EU-Richtlinieüber Leiharbeit gerecht wird. Leider hatten wir keinenErfolg. Nicht einmal über diese Minimalforderungen ha-ben Sie ernsthaft diskutiert.Der Gesetzentwurf bleibt also nahezu bedeutungslosfür die Beschäftigten. Die Interessen der Leiharbeits-branche und der Wirtschaft bedienen Sie aber. Das kannich nur Klientelpolitik pur nennen. Vor allem spalten Siedie Gesellschaft mit dem unregulierten Anstieg der Leih-arbeit weiter, und zwar nicht nur in Arm und Reich, son-dern auch in regulär und prekär Beschäftigte. SozialeGerechtigkeit und verantwortungsbewusste Politik sehenanders aus.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Schiewerling
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Arbeitnehmerüberlassung hat eine lange Geschichte.Sie hat nicht erst im Jahre 2001 begonnen; es gab sie da-vor auch schon. Durch Hartz I wurde allerdings bewirkt,dass sie sich von einem arbeitsmarktpolitischen Instru-ment zu einer Branche entwickelt hat. Dies geschah,weil die Rahmenbedingungen durch die damalige Ge-setzgebung unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Si-tuation, der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwie-rigen Entwicklung in den Sozialsystemen verändertwurden. Dadurch sollte wesentlich mehr Flexibilität indiesen Bereichen entstehen.Mittlerweile gibt es circa 1 600 Zeitarbeitsfirmen. Inder Tat gibt es in 98 Prozent dieser Firmen einen Tarif-vertrag; die allermeisten dieser Tarifverträge wurden mitDGB-Gewerkschaften abgeschlossen.
Ich verurteile das überhaupt nicht. Vom Grundsatz hergilt Equal Pay. Ich kenne die Geschichte sehr genau.
Wenn wir wollen, dass Equal Pay in der Zeitarbeitsbran-che gilt, dann brauchen wir in dieser Branche ab 2013einfach keine Tarifverträge mehr abzuschließen. Da-durch würden wir völlig problemlos Equal Pay für alleerreichen.
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11374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Vogler?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege. – Mich würde interessieren, wie Sie auf 98 Pro-
zent kommen. Es gibt ja ein Urteil des Bundesarbeitsge-
richts, das festgestellt hat, dass bestimmte Gewerkschaf-
ten überhaupt nicht tariffähig sind. Sie nennen sich zwar
christlich, sind meiner Auffassung nach aber weder
christlich noch Gewerkschaften. Deren Tarifverträge
sind von Anfang an nichtig und ungültig. Wie bewerten
Sie diese Tatsache? Welche Vorstellungen haben Sie, um
dem Wildwuchs, dass Arbeitgeber mit bestimmten Ge-
werkschaften Tarifverträge abschließen, die gar nicht im
Interesse der Beschäftigten sind, und dass Gewerkschaf-
ten auf Veranlassung von Arbeitgebern gegründet wer-
den, nur um Dumpinglöhne in ihren Betrieben aufrecht-
zuerhalten, entgegenzutreten?
Bei uns im Münsterland arbeiten Beschäftigte in der
Leiharbeitsbranche für 5,60 Euro pro Stunde. Jeden
Donnerstagabend gibt es extra verlängerte Öffnungszei-
ten bei der GAB, bei den Argen, damit die Leute dort er-
gänzendes ALG II beantragen können. Halten Sie das
tatsächlich für würdige Arbeitsbedingungen? Ich glaube,
hier müssen Sie noch ordentlich nachlegen und noch ein-
mal genau überprüfen, wie die Situation bei uns im
Münsterland tatsächlich ist.
Liebe Frau Kollegin Vogler, die Situation ist auch imMünsterland sehr differenziert zu beurteilen.Erstens. Tarifverträge werden von Gewerkschaftengeschlossen, egal in welchem Bereich. Die 98-prozen-tige Tarifbindung haben wir. Ein Teil der Tarifverträgewurde als nicht gültig eingestuft – dennoch gibt es zurStunde Tarifverträge –; ich gehe davon aus, dass dies imNachhinein geregelt und nachgeholt wird. Es bestehensicherlich Probleme. Sie haben aber nichts mit Grund-satzfragen im Hinblick auf Tarifverträge zu tun, sondernbetreffen gewerkschaftliche Entscheidungen in einemganz bestimmten Bereich.Zweitens. Ich will Ihnen gerne sagen, dass auch icheinen Stundenlohn von 5,40 Euro nicht gut finde. SehenSie: Deswegen schaffen wir mit diesem Gesetz die Vo-raussetzungen für eine Lohnuntergrenze. Wir wollen sol-che Löhne verhindern.
Ich hoffe sehr, dass Sie dem zustimmen.
Drittens möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhangsagen: Ich halte es schon für notwendig, die Zeitarbeits-branche sehr differenziert zu betrachten. Es geht nämlichnicht nur um Stundenlöhne von 5,40 Euro; dieses Bei-spiel, das eine bestimmte Branche, nämlich ungelernteArbeitskräfte, betrifft, haben Sie gerade genannt. Viel-mehr ist das Tarifsystem in der Zeitarbeitsbranche sehrausdifferenziert. Im Münsterland, aus dem wir beidekommen, gibt es auch Zeitarbeitsfirmen, die ihren Mitar-beitern 16 Euro die Stunde zahlen.
Ich kenne Industriebetriebe, die Wert darauf legen, dassvom ersten Tag an Equal Pay gilt. Diese Betriebe kennenauch Sie. Ich glaube, dass es notwendig ist, von dem ge-samten Kübel der Verwerfungen, den Sie über der Zeit-arbeit ausgießen, ein wenig Abstand zu nehmen, dieDinge sehr differenziert zu betrachten und genau zuüberprüfen, an welchen Ecken wir Veränderungen benö-tigen. Genau das tun wir.
Ich glaube allerdings, dass es in den vergangenen Jah-ren – das gestehe ich gerne zu, und deswegen handelnwir heute – zu Verwerfungen gekommen ist, weil Be-triebe ihre Betriebskonzeption darauf abgestellt haben,mit möglichst niedrigen Löhnen und durch Ausgliede-rungen in eigene Zeitarbeitsfirmen geschäftsfähig zusein.
Dies steht in deutlichem Widerspruch zur sozialenMarktwirtschaft, zur sozialen Verantwortung und zumHandeln eines ehrbaren Kaufmanns, der nicht nur Um-sätze, sondern auch seine Mitarbeiter im Blick habenmuss.
Mit dem heute vorliegenden Gesetz führen wir mitder sogenannten Drehtürklausel eine Regelung ein, diedem einen Riegel vorschiebt. Außerdem verhindern wirVerwerfungen im Bereich der Zeitarbeit, zu denen esaufgrund der Herstellung der vollständigen Arbeitneh-merfreizügigkeit in der EU ab dem 1. Mai dieses Jahreskommen könnte. Darüber hinaus schaffen wir für dieVerleihzeiten und die verleihfreien Zeiten eine Lohnun-tergrenze, die wie ein Mindestlohn wirkt. Im Übrigenwerden wir mit diesem Gesetz die europarechtskonfor-men Regelungen umsetzen.
3 Prozent aller Beschäftigten sind in Deutschland ineiner Zeitarbeitsbranche tätig. Nicht ganz Deutschlandarbeitet in Zeitarbeit, sondern nur 3 Prozent aller Be-schäftigten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11375
Karl Schiewerling
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Das sind – zugegebenermaßen – 1 Million Menschen.Die Branche erlebt einen deutlichen Aufschwung. In derAufschwungphase geht es Betrieben darum, Auftrags-spitzen aufzufangen – ich erlebe das immer wieder – undflexibel auf den Personalbedarf der Wirtschaft zu reagie-ren. Ich sage sehr deutlich: Das gelingt, auch dank derguten Zusammenarbeit mit den Regionalagenturen vorOrt. Davon profitieren übrigens nicht nur alle Zeitar-beitsfirmen, die wir kennen, sondern auch eine Zeitar-beitsfirma, an der der DGB beteiligt ist.Es zeigt sich, dass Betriebe zurzeit mit Festanstellun-gen zögern; ich halte das für falsch. Sie vergeben eherzeitlich begrenzte Verträge. Das ist für unsere gesell-schaftliche Entwicklung hochgefährlich, weil sich jungeMenschen, die keinen Dauerarbeitsplatz bekommen,nicht für Kinder und Familie entscheiden. Wir sind da-bei, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.Wir haben die Verwerfungen, die es im Augenblickgibt, im Blick; das gilt auch für andere Bereiche. Ichfrage mich, ob es notwendig ist, jemanden länger alszwölf Monate an einen Betrieb zu verleihen. Ich glaube,dass das nichts mehr mit Zeitarbeit zu tun hat, sondernein Regelarbeitsverhältnis ist. Wir sollten das gut imBlick behalten.Ich will auch deutlich sagen, dass es Zeitarbeit nichtnur in der Wirtschaft gibt. Es gibt sie leider auch imkommunalen Bereich und in Wohlfahrtsverbänden, undzwar in einer Form, wie ich sie nicht vermutet hätte.Leiharbeit kommt insbesondere im Bereich der Pflegevor. Die Arbeiterwohlfahrt in Essen zum Beispiel hat zumeinem großen Erstaunen ein komplettes Geschäftsmo-dell entwickelt.
Sehr deutlich möchte ich sagen, dass ich den Klebe-effekt durch Vermittlung nicht geringschätze. Die Werteschwanken übrigens, Frau Kollegin Krellmann, zwi-schen 8 und 15 Prozent;
das ist nicht genau festgelegt. Diesen Klebeeffekt gibt esaber. Ich begrüße das außerordentlich. Hier macht sichdie Zeitarbeit als eine Brücke zur dauerhaften Beschäfti-gung sehr positiv bemerkbar.
Bei aller Diskussion dürfen wir eines nicht übersehen:Der Aufschwung, den wir in der Wirtschaft erleben, istauf dem Arbeitsmarkt angekommen. Weniger Menschensind im Bereich der Kurzarbeit tätig. Wir haben einendeutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Es ist zueinem nach einer solchen Krisensituation nie gekanntenAufschwung im Bereich der sozialversicherungspflichti-gen Beschäftigungsverhältnisse gekommen.
Ich möchte Ihnen abschließend zwei Dinge sagen:Erstens. Ich würde der Opposition raten, in ihrer Wort-wahl zum Thema Zeitarbeit etwas sorgsamer zu sein.Die Menschen, die dort arbeiten, möchten auf das, wassie leisten, stolz sein.
Sie haben Respekt für die Arbeitsleistung, die sie erbrin-gen, verdient.
Kollege Schiewerling, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. – Zweitens. Ich glaube, dass
wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, einen
wichtigen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit und zu mehr
Regelungen in diesem Bereich machen. Das ist nicht nur
für die Beschäftigten, sondern auch für die Akzeptanz
der Branche und damit für die Betriebe wichtig.
Das Wort hat die Kollegin Kramme für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Unionsparteien und der FDP, ich frage mich immerFolgendes: Liegt bei Ihnen Sarkasmus oder Zynismusvor? Ist es schlichtweg der Balken im Auge, wenn Sieüber die Zustände in der Leiharbeit reden?
Ich kann nur sagen: Ich nehme ein komplette Realitäts-verkehrung wahr.
Ihr Gesetzentwurf ist löchrig wie ein Schweizer Käse.Man kann auch sagen, er sieht aus wie ein Sack vollerKartoffeln, in dem es nur eine einzige genießbare Kar-toffel gibt.Wir alle wissen, dass es zwei Kernprobleme im Be-reich der Leiharbeit gibt. Das eine Problem ist: Die Leih-arbeit ist eine Niedriglohntätigkeit. Viele Menschen, diein der Leiharbeit beschäftigt sind, bekommen nicht nurNiedriglöhne, sondern Armutslöhne. Das andere Pro-blem ist: Immer mehr Menschen sind in der Leiharbeitbeschäftigt. Das liegt daran, dass Stammarbeitnehmerdurch Leiharbeitskräfte substituiert werden. Das machtuns große Sorgen. Denn Menschen in der Leiharbeit sindüber die Armutslöhne, mit denen sie auskommen müs-sen, sozial nur unzureichend abgesichert. Vor allem be-
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11376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Anette Kramme
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reitet es große Sorgen, wenn man sich ausrechnet, wasdiese Menschen eines Tages an Rente bekommen wer-den. Es ist volkswirtschaftlich auch äußerst unökono-misch, über SGB II Jahr für Jahr 500 Millionen Euro anAufstockungsleistungen zuzuzahlen und damit Dum-pingunternehmen in dieser Republik letztlich finanziellzu unterstützen.Wenn Sie einen Gesetzentwurf zum Arbeitnehmer-überlassungsgesetz vorlegen, könnte man denken, dassSie damit die Kernprobleme der Leiharbeit angehen undauf die Realität eingehen. Das ist aber leider nicht zu be-obachten.Sie legen hier eine winzige Regelung vor, mit der ge-gen die sogenannte Drehtürmethode vorgegangen wer-den soll. Was ist diese Drehtürmethode? Dabei geht esdarum, dass Arbeitnehmer zunächst in einem Stamm-unternehmen beschäftigt waren, dort entlassen wordensind oder mit der Arbeit aufgehört haben, weil sie nur ei-nen befristeten Arbeitsvertrag hatten, danach in einemLeiharbeitsunternehmen auftauchen und am gleichenArbeitsplatz weiterarbeiten.
Es ist richtig: Das ist ein Problem, das gelöst werdenmuss. In der Gesamtproblematik der Leiharbeit in dasaber eine Marginalie.Die Regelung kann durch Arbeitgeber auch ganzleicht umgangen werden, indem sie mit dem Leiharbeits-unternehmen einfach absprechen: Schickt mir andereLeiharbeitnehmer. – Dann muss kein Equal Pay gelten,wie es vorgesehen ist. Man kann auch mit einem kom-plett fremden Unternehmen der Leiharbeit zusammenar-beiten, zu dem es nie Kontakte oder Berührungspunktegegeben hat.Sie schreiben in dem Gesetzentwurf weiter: Leihar-beit soll nur noch vorübergehend sein. – Damit reagierenSie auf die EU-Leiharbeitsrichtlinie. Europäische Richt-linien sind aber so auszulegen, dass sie effektiv sind. Dastun Sie an dieser Stelle nicht, sondern Sie sagen: Vo-rübergehend ist alles, was irgendwann einmal ein Endehat.
Zu solch einem Ende kann es aber natürlich auch erst in10 oder 15 Jahren kommen.
Dabei hat sich der europäische Gesetzgeber durchaus et-was dabei überlegt, zu sagen, dass Leiharbeit nur vo-rübergehend geleistet werden soll.Es geht hierbei darum, dass Dauerarbeitsplätze inStammunternehmen vorhanden sein sollen, dass die Be-schäftigung primär dort stattfinden soll, zu guten Kondi-tionen, und dass die Leiharbeit ihre Probleme hat, wes-halb mit ihr nur Auftragsspitzen abgedeckt und Vertre-tungsregelungen umgesetzt werden sollen.Ein weiteres Problem lösen Sie ebenfalls nicht. Damitliegt ein gravierender Verstoß gegen die EU-Leiharbeits-richtlinie vor. Danach sind Abweichungen vom Grund-satz Equal Pay nur dann gestattet, wenn es Regelungenzur Sicherung des Gesamtschutzniveaus der Leiharbeit-nehmer gibt. Hier haben Sie jegliche Regelung unterlas-sen.Meine Damen und Herren, wir brauchen drei Dinge:Erstens. Wir brauchen Equal Pay und Equal Treat-ment, um die Verdrängung von Stammarbeitnehmern zuverhindern.Zweitens. Wir brauchen eine Höchstüberlassungs-dauer, um ebenfalls zu verhindern, dass dieser Verdrän-gungswettbewerb stattfindet.Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zu-sammenhang ist für uns: Es muss ein Synchronisierungs-verbot geben, weil wir in der Realität immer mehr fest-gestellt haben, dass Leiharbeitsverträge mit Arbeit-nehmern parallel zum Auftrag des Entleihunternehmensabgeschlossen werden. Das kann und darf nicht sein.Eine allerletzte Konstellation sei an dieser Stelle ge-nannt: Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräteschaden nie. Betriebsräte können gut und flexibel mitLeiharbeit umgehen, wenn sie auch Rechte haben, umauf die spezifische Situation im Unternehmen einzuge-hen.In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
Der Kollege Vogel hat für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben eben ja schon darüber geredet: Als Sie, liebeKolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, dieZeitarbeit flexibilisiert haben
– ich habe mir vom Kollegen Kolb umfangreich berich-ten lassen, lieber Toni Schaaf –, hatten Sie doch in Wahr-heit – wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie das zu –zwei Ziele im Blick: Sie hatten einerseits natürlich einFlexibilitätsinstrument für die Unternehmen im Blick,andererseits aber doch auch – zumindest hoffe ich dasfür Sie – den Einstieg für Arbeitslose in den Arbeits-markt.Jetzt sagen Sie: Es hat Fehlentwicklungen gegeben;die wollen wir korrigieren. Ich frage Sie: Was sind denndiese Fehlentwicklungen? Ist es eine Fehlentwicklung,dass zwei Drittel der Arbeitslosen, die in der Zeitarbeittätig sind, darüber den Einstieg in den Arbeitsmarkt fin-den? Ist es eine Fehlentwicklung, dass drei Viertel davondauerhaft im Arbeitsmarkt bleiben und dass 40 Prozentder Unqualifizierten, die in der Zeitarbeit beschäftigtsind, darüber in den Arbeitsmarkt kommen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11377
Johannes Vogel
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Wenn das so ist, dann kann ich für die christlich-liberaleKoalition nur sagen: Wir sagen, das ist eine Errungen-schaft und keine Fehlentwicklung. Diese wollen wir er-halten.
Aber vielleicht meinen Sie mit der Fehlentwicklungetwas anderes. Vielleicht meinen Sie Ereignisse in derArt von schwarzen Schafen, die die Zeitarbeit missbrau-chen, wie wir es bei Schlecker und bei der Arbeiterwohl-fahrt im Ruhrgebiet erlebt haben. Schönen Gruß an dieKolleginnen und Kollegen von der SPD, da könnten Siepositiv Einfluss nehmen.Wenn Sie das meinen, dann frage ich mich, warumSie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Genau dasführen wir nämlich ein: eine Anti-Schlecker-Klausel undeinen Mindestlohn mit Blick auf die ausländischen Zeit-arbeitsunternehmen.
Wenn das die Fehlentwicklungen sind, dann könnten Siezustimmen. Ich habe heute von Ihnen keinen Grund ge-hört, dem Gesetzentwurf in irgendeinem Punkt nicht zu-zustimmen. Ich habe das Gefühl, Sie meinen es mit derKorrektur von Fehlentwicklungen nicht richtig ernst,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Auch wirmeinen, dass es bei der Zeitarbeit noch einen Punkt gibt,der korrigiert werden muss, damit die Zeitarbeit nichtnur ein Steg in den Arbeitsmarkt ist, sondern eine Brü-cke. Dabei geht es um das Equal Pay. Das haben wir sel-ber thematisiert.
– Ja, lieber Kollege Heil. – Wir wissen, dass es mit demEqual Pay nicht ganz einfach ist. Es kann auch, zum Bei-spiel wenn man es ab dem ersten Tag vorsieht, wie Sie eswollen, negative Effekte haben. Ich zitiere kurz, wasHerr Walwei vom IAB in der Anhörung gesagt hat. Esist übrigens interessant, dass in der Anhörung, von derauch Sie heute häufig gesprochen haben, kein einzigerKollege von Ihnen, liebe Opposition, auch nur eine ein-zige Frage an die anerkannt unabhängigen Akteure BAund IAB gestellt hat. Sie haben nur die von Ihnen selbstbestellten Sachverständigen befragt.
Deswegen zitiere ich, was Herr Walwei gesagt hat:Bei Equal Treatment muss man ganz klar sagen,dass dies ab dem ersten Tag und ohne Ausnahmedie Zeitarbeit erheblich verteuern würde. Die Inan-spruchnahme ginge dann definitiv zurück. Da mussman ganz klar sagen, dass damit dann Zugangs-hürden für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmerwachsen würden. Es käme im Grunde zur Rachedes Gutgemeinten.Das wollen wir nicht. Wir wollen das auch für die Gerin-gerqualifizierten erhalten. Deshalb sagen wir: Die Tarif-partner regeln das Equal Pay.Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben ebensowie ein anderer Kollege von Heuchelei gesprochen undgesagt, dass das Aufgabe der Politik sei. Das ist der Un-terschied zwischen Ihnen und uns: Wir wollen den Tarif-partnern nicht die Brosamen überlassen, die übrigblei-ben, nachdem die Politik alles geregelt hat. Wir vertrauenden Tarifpartnern, dass sie eine gute Lösung finden wer-den.
Nur dann, wenn sie nicht handeln, werden wir nach ei-nem Jahr tätig.In diesem Sinne ist festzustellen: In der Frage desEqual Pay wird es entweder eine guten Lösung der Tarif-partner oder durch die Kommission geben, die wir nacheinem Jahr einsetzen.
Alle anderen Probleme, die Sie beklagen, die die Zeitar-beit aber nicht kaputtmachen würden, sind gelöst. In die-sem Sinne kann ich nicht erkennen, warum Sie dem Ge-setzentwurf nicht zustimmen.Ich kann nur erkennen, dass Sie viel Schauspiel be-treiben und wir uns um die Probleme der Menschenkümmern.Vielen Dank.
Der Kollege Lehrieder hat für die Unionsfraktion das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! In der Diskussion wurde bereits einigesausgeführt. Wir führen die zweite und dritte Beratungdes Gesetzentwurfs durch, der den Missbrauch bei derZeitarbeit unterbinden soll.
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11378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Paul Lehrieder
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Lieber Kollege Hubertus Heil, wir haben lange ver-handelt. Es wäre gut, wenn Sie als SPD das Ergebnis derVerhandlungen mittragen könnten.
Wir haben vieles mit in den Gesetzentwurf hineinver-handeln können. Wir haben uns sehr viel Mühe mit Ih-nen gegeben. Es wäre schön, wenn Sie das ganze Paketmitschultern könnten.
Kollege Vogel hat gerade die Anhörung angespro-chen, die am Montag stattgefunden hat. Auf meineFrage, ob durch die Zeitarbeit eine Verdrängung regulä-rer Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang er-folgt, hat der Sachverständige Walwei ausgeführt, dassdas nach seiner Erkenntnis gerade nicht der Fall ist.Denn, wie Sie selber gesagt haben, Herr Heil, habenviele Leiharbeitnehmer nach einer kurzen Frist das Un-ternehmen verlassen. Insofern kommt es nicht zu einerspürbaren Verdrängung aus regulären Beschäftigungs-verhältnissen.Wir haben auch festgestellt, dass durch die von Ihnenvorgegebene gesetzliche Regelung Möglichkeiten zumMissbrauch gegeben waren. Der Gesetzentwurf siehtdeshalb Regelungen vor, um die Fälle von Scheinzeitar-beit zu vermeiden, in denen den Arbeitnehmern gekün-digt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer zuschlechteren Bedingungen und Löhnen wieder im ehe-maligen Unternehmen zu beschäftigen. Auf die Drehtür-klausel wurde bereits zu Beginn der Debatte von unsererMinisterin hingewiesen.Wer Zeitarbeit auf diese Weise missbraucht, um Ar-beitslöhne zu drücken, der untergräbt ein an sich gutesInstrument der Arbeitsmarktpolitik und verkennt denSinn der Zeitarbeit.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nunsichergestellt, dass ein solcher Missbrauchsmechanismusnicht mehr möglich ist. Zugleich wird damit die EU-Leiharbeitsrichtlinie des Europäischen Parlaments unddes Rates vom 19. November 2008 in nationales Rechtumgesetzt. Wir gewährleisten damit, dass die Zeitarbeitnicht mehr als Drehtür zur Absenkung von Arbeitslöh-nen und Arbeitsbedingungen genutzt werden kann. Wirleisten damit einen notwendigen und wichtigen Beitragzur Verbesserung eines für den Arbeitsmarkt bewährtenInstruments.Selbstverständlich ist es wünschenswert, feste Anstel-lungen bzw. unbefristete Arbeitsverträge auf dem Ar-beitsmarkt zu haben. Das ist bei über 95 Prozent der Be-schäftigungsverhältnisse in unserem Land auch der Fall.Unser Ziel ist es aber, allen arbeitsfähigen Menschen dieMöglichkeit zu bieten, einer Arbeit nachzugehen.
Arbeit zu haben, ist besser als gar keine Arbeit. DieZeitarbeit ist daher auch ein Sprungbrett in eine feste Be-schäftigung. Sie ist die Chance für jeden, der Arbeitsucht; Kollege Vogel hat auf diesen Aspekt bereits hin-gewiesen.Der Leiharbeit haben wir es zu verdanken, dass ge-rade in den Krisenzeiten der letzten Jahre Geringqualifi-zierte und Arbeitslose eine Chance auf Beschäftigunghatten. Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeit-arbeitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbil-dung, und zwei Drittel hatten vor ihrer Anstellung keineArbeit.
Die Flexibilität der Zeitarbeit machte es möglich, denkonjunkturellen Aufschwung schneller in Beschäftigungumzusetzen.
Sicherlich – das soll nicht in Abrede gestellt werden –ist in der Zeitarbeitsbranche, die sich von einem Arbeits-marktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelthat, einiges unglücklich gelaufen. Schlupflöcher, die aufKosten der Arbeitnehmer ausgenutzt wurden, werdenmit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nun ge-schlossen. Folgende Kernpunkte sind darin enthalten.Erstens erfolgt eine Ausdehnung der Erlaubnispflichtder Arbeitnehmerüberlassung auch auf solche Überlas-sungen, mit denen keine Gewinnerzielungsabsicht ver-bunden ist, sowie auf solche, die nicht auf Dauer ange-legt sind.Zweitens wird in Zukunft verhindert, dass zuvor ar-beitslose Leiharbeitnehmer für einen Zeitraum von biszu sechs Wochen von einem Unternehmen zu einemNettogehalt beschäftigt werden, das dem zuletzt gezahl-ten Arbeitslosengeld entspricht.Drittens wird den Zeitarbeitnehmern nun das Rechteingeräumt, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungenoder -diensten zu erhalten.Last, but not least – viertens – geht der Entleiher dieVerpflichtung ein, Leiharbeitnehmer über freie Stellenim Unternehmen in Kenntnis zu setzen.Ein weiterer zentraler Punkt ist die Festlegung einerabsoluten Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit. Eine sol-che haben wir in Höhe von 7,60 Euro für die alten und6,65 Euro für die neuen Bundesländern eingeführt.Erlauben Sie mir, am Ende meiner Redezeit noch ein-mal auf das viel gerühmte Equal Pay einzugehen. LieberHerr Kollege Heil, Equal Pay soll im Laufe der nächstenMonaten insbesondere bei auslaufenden Tarifverträgenvon den Tarifvertragsparteien diskutiert bzw. in Tarifver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11379
Paul Lehrieder
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träge hinein verhandelt werden, die wir dann mit den Ar-beitgeberverbänden und mit den Gewerkschaften für all-gemeinverbindlich erklären können.Die Forderungen der SPD zeigen, dass ihr sehr vieleGewerkschafter davongelaufen sind. Wir halten es fürsinnvoll, dass die Tarifvertragsparteien, denen wir eingroßes Vertrauen entgegenbringen, innerhalb des nächs-ten Jahres – auf diesen Zeitraum hat die Frau Ministerinhingewiesen – Regelungen anstreben, die wir dann über-prüfen werden und übernehmen können. Das ist allemalgescheiter, als sich aus der Hüfte heraus auf eine Begren-zung der Verleihdauer auf einen Zeitraum zwischen dreiund neun Monaten – Kollege Heil und Kollege Kolb hat-ten davon gesprochen – zu entscheiden.Lassen Sie uns das prüfen. Es wird ja auch in ZukunftHandlungsbedarf geben. Lassen Sie uns dieses an sichvernünftige Instrument weiterentwickeln.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Ver-hinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung.Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 16/4804 in der Ausschussfassung mitden in der Beschlussempfehlung genannten Maßgabenanzunehmen.Die Fraktion der SPD hat getrennte Abstimmung überdie Maßgaben beantragt.Ich rufe daher zunächst die in der Beschlussempfeh-lung genannten Maßgaben auf. Ich bitte diejenigen, diediesen zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind die inder Beschlussempfehlung genannten Maßgaben mit denStimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, derFDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.Ich lasse jetzt über die übrigen Teile des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/4804 abstimmen. Ich bitte die-jenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sindauch die übrigen Teile des Gesetzentwurfs mit den Stim-men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen dieStimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom-men. Der Gesetzentwurf ist somit in allen Teilen inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und derFDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der SPD-Fraktion angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Wir stimmen zuerst über den Entschließungsantragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5253 ab. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan-trag ist abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/5254. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.Wir kommen zu dem von der Fraktion Die Linke ein-gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur strikten Regulie-rung der Arbeitnehmerüberlassung. Der Ausschuss fürArbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Ge-setzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3752 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zu-satzpunkt 9 auf:10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDMit Transparenz und parlamentarischer Be-teiligung gegen die Ausweitung von Rüstungs-exporten– Drucksache 17/5054 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGenehmigung für Waffenexporte bei Unzuver-lässigkeit konsequent aussetzen– Drucksache 17/5204 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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11380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich bitte diejenigen, die an dieser Aussprache teilha-ben wollen, sich einen Platz im Plenum zu suchen, unddiejenigen, die eine Aussprache zu anderen Themen füh-ren wollen, das Plenum zu verlassen. – Frau Ministerinvon der Leyen, ist es möglich, dass wir mit den Beratun-gen fortfahren?Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was ist der Grund für unseren Antrag und für einen Neu-anfang? Wir teilen die Einschätzung der evangelischenund der katholischen Kirche, die uns in der Gemeinsa-men Konferenz Kirche und Entwicklung auffordern, inder Rüstungs- und Waffenexportpolitik Deutschlands ei-nen Neuanfang mit Transparenz und parlamentarischerBeteiligung zu machen. Vor dem Hintergrund meinerelfjährigen Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat – dasEntwicklungsministerium ist seit 1998 dort Mitglied –unterstütze ich diesen notwendigen Neuanfang aus tiefereigener Überzeugung und Erfahrung. Ich meine dasdurchaus selbstkritisch.
Welche konkreten Gründe gibt es aktuell? Durch dieUmstrukturierung der Bundeswehr verfügen die deut-schen Streitkräfte zukünftig über Waffen und Rüstungs-güter, die nicht mehr benötigt werden. Die Gefahr istgroß, dass diese Waffen weltweit und damit auch in Kri-sengebiete exportiert werden. Deutschland darf abernicht dazu beitragen, dass damit Konflikte in anderenRegionen angeheizt werden. Das hätte entsetzliche Kon-sequenzen für das Leben von Menschen.
Entsprechende Entwicklungen bei der Umstrukturie-rung von Armeen gibt es in vielen Industrieländern.Auch deshalb ist es notwendig, dass der gemeinsameStandpunkt der Europäischen Union zu Rüstungsausga-ben aus dem Jahr 2008 endlich von allen EU-Ländern,auch von Deutschland, in einer rechtlich bindendenForm gefasst wird; denn mit diesen acht Kriterien wer-den Festlegungen für eine restriktive Waffen- und Rüs-tungsexportpolitik in der Europäischen Union insgesamtgetroffen. Dazu gehören unter anderem die Einhaltungder internationalen Verpflichtungen des Empfängerlan-des, die Achtung der Menschenrechte und des humanitä-ren Völkerrechts durch das Empfängerland, die Frage,ob das betreffende Land in einer Region mit bewaffnetenKonflikten oder in einer Spannungsregion liegt, und dieFrage, wie sich ein solches Empfängerland gegenüberder internationalen Gemeinschaft verhält.Rot-Grün hat, beginnend im Jahr 1999 und dann imJahr 2000, sehr restriktive politische Grundsätze für denWaffen- und Rüstungsexport erarbeitet, die für das Ver-halten der Bundesregierung prägend sein sollten, undman hat sie so ausgestaltet, dass in Länder außerhalb derNATO bzw. in der NATO gleichgestellte Staaten nur inbegründeten Einzelfällen geliefert werden kann. Ich sageaber auch: Es bestand und es besteht immer die Gefahrder unterschiedlichen Interpretation, ob bei konkretenEntscheidungen die politischen Grundsätze eingehaltenwurden bzw. werden oder nicht.Der zweite Grund, warum es notwendig ist, jetzt ent-sprechende Initiativen zu ergreifen, ist folgender: Dieschwarz-gelbe Bundesregierung hat angekündigt, dasssie von einer restriktiven zu einer verantwortungsbe-wussten Exportpolitik übergehen will.
Das lässt Schlimmes vermuten, zumal die europäischeRüstungslobby auf die Lockerung der Bestimmungen fürden Rüstungsexport drängt.Der dritte Punkt ist – ich glaube, da sind wir uns alleeinig –:
Die Erfahrungen vieler europäischer Länder, Frank-reichs, Italiens, Spaniens, Großbritanniens und auchDeutschlands, mit Waffen- und Rüstungsexporten unterdem Zeichen geostrategischer Stabilität an nordafrikani-sche Länder und Länder des Nahen Ostens in den letztenJahren und zum Teil Jahrzehnten zeigen, wie notwendigTransparenz sowohl in unserem Land als auch in ande-ren europäischen Ländern für derartige Exportentschei-dungen ist. Wären diese Verhaltensweisen früher öffent-lich diskutiert worden, hätten viele Entscheidungenkeinen Bestand gehabt.Wir alle haben gelernt – das ist hoffentlich ein Ergeb-nis dieser Debatte –: Waffenlieferungen in Länder, dienicht der Demokratie verpflichtet sind, darf es nicht ge-ben.
Es ist natürlich wichtig, dass man Waffenembargos be-schließt. Aber sie werden doch immer erst beschlossen,wenn die Krisensituation schon eingetreten ist. An-schließend wird oft genug Business as usual betrieben.Eine solche Praxis muss ein Ende haben.
Wir fordern deshalb eine restriktive Genehmigungs-praxis, die eine Kultur der Zurückhaltung erkennen lässtund die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch dieHintertür einer europäischen Harmonisierung verwäs-sert. Wir fordern, nicht Lobbyinteressen zu bedienen, in-dem Exportrichtlinien aufgeweicht werden, sondern An-sätze der Konversion wiederzubeleben, um die zivileProduktion deutscher Unternehmen, die neben Rüs-tungsgütern in vielen Fällen auch zivile Produkte her-stellen, zu stärken.Gerade jetzt, da Deutschland als nicht ständiges Mit-glied in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden ist, for-
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Heidemarie Wieczorek-Zeul
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dern wir die Bundesregierung auf, die Verhandlungenfür ein weltweites Waffenhandelsabkommen im Jahr2012 zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen unddabei vor allen Dingen abrüstungspolitisch engagierteNichtregierungsorganisationen in die Beratungen einzu-beziehen. Ziel des Abkommens muss es sein, eine mög-lichst große Zahl von Staaten – ich verweise auf China,Russland und die USA – auf grundlegende Prinzipienzur Begrenzung und Kontrolle der Rüstungstransfers zuverpflichten und völkerrechtlich bindende Richtlinienfür alle Rüstungsexporte zu entwickeln.Die Zahl der Exportgenehmigungen für sogenanntekleine und leichte Waffen, also für Massenvernichtungs-waffen in Zeitlupe, wie sie Kofi Annan genannt hat,muss endlich drastisch reduziert werden. Hier müssenentsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden.Der Kern unseres Antrags – da bitte ich alle Kollegin-nen und Kollegen um Unterstützung –, besteht aber da-rin, dass wir den Vorschlag der Gemeinsamen KonferenzKirche und Entwicklung für eine stärkere parlamentari-sche Beteiligung bei Rüstungs- und Waffenexportent-scheidungen aufgreifen. Wir formulieren in unserem An-trag:Ein geeignetes Instrument dafür– für die frühzeitige Einbeziehung des Deutschen Bun-destages in den Entscheidungsprozess –könnten vertrauliche Beratungen im Unteraus-schuss des Auswärtigen Ausschusses des Deut-schen Bundestages für „Abrüstung, Rüstungskon-trolle und Nichtverbreitung“ sein …Wir gehen davon aus, dass die Kolleginnen und Kol-legen in diesem Hause, und zwar in allen Fraktionen, einInteresse daran haben, die Beteiligung des DeutschenBundestages zu stärken, und bieten deshalb ausdrücklichan, einen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten, mitdem Ziel, diese Rechte des Deutschen Bundestages zuerweitern. Schweden zum Beispiel hat einen solchenProzess der parlamentarischen Beteiligung.Zum Schluss. Die nordafrikanischen Länder brauchenChancen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Per-spektiven für die Jugendlichen, die aufbegehren. Siemüssen ihre Militärausgaben drosseln und die Mittel fürBildung, Arbeit und zivile Entwicklung einsetzen. Insge-samt befanden sich laut dem Bonner International Centerfor Conversion im Jahr 2009 elf Länder der RegionNordafrika/Naher Osten unter den Ländern mit denhöchsten Militarisierungsgraden. Das wichtigste Boll-werk gegen mögliche islamistische Gewalt ist aber dieUnterstützung von Demokratie und Zukunftsperspekti-ven in diesen Ländern; es ist nicht die Lieferung vonWaffen.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Fritz hat nun für die Unionsfraktion das
Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Frie-denspolitik und muss Friedenspolitik sein. Daran gibt esseit der Gründung dieser Republik keinen Zweifel. WasRüstungsexportpolitik angeht, liebe Frau KolleginWieczorek-Zeul, haben wir in diesem Parlament einelange gemeinsame Praxis. Das hängt auch damit zusam-men, dass das Verhalten nach Änderung von Mehrheitenin der Regel nicht kurzfristig geändert wurde. Aus demWort „verantwortungsvoll“ zu schließen, unsere Politiksei nicht mehr restriktiv, passt, finde ich, überhaupt nichtin die Diskussion in diesem Hause zu dem kompliziertenThema Rüstungsexport.Sie wissen ganz genau, dass durch den Lissabon-Ver-trag, durch den Binnenmarkt vieles, von dem wir früherausgegangen sind, von der Praktikabilität des Umgangsund der Kooperation innerhalb der Europäischen Unionher nicht mehr passt. Deshalb gibt es Bedarf, da etwas zuändern, und das soll gemacht werden.Reden Sie doch bitte nicht klein, was stets das Zielder Bundesregierungen und vor allen Dingen des Bun-destages war! Es waren immer Kollegen aus dem Deut-schen Bundestag, die das vorangetrieben haben, indemsie gesagt haben: Lasst uns eine gemeinsame europäi-sche Exportkontrollpolitik betreiben, weil sie, wenn derStandard höher wird, auf jeden Fall insgesamt bessereErgebnisse zeitigt als viele nationale Ansätze mit denZwängen, die Sie dargestellt haben. Insofern kann ichdas, was Sie hier vorgetragen haben, nicht ganz verste-hen.Ich kenne logischerweise all die Themen und Papiere,auf die Sie sich beziehen. Ich sage hier nur: Der Antrag,den Sie eingebracht haben, über den zu reden wir Gele-genheit haben werden, enthält, was Veränderungen an-geht, etwa hinsichtlich der parlamentarischen Beteili-gung, keine neuen Vorschläge. Das diskutieren wir seit20 Jahren.
– Jetzt passen Sie einmal auf.Der Vorschlag, das Parlament, das ich als den wich-tigsten Kontrolleur ansehe, was Rüstungsexportpolitikangeht, zumindest teilweise zur Genehmigungsbehördezu machen, hat zwei Seiten, die man ernsthaft betrachtenmuss. Das Beispiel Schweden repräsentiert eine Seite.Die dortige Praxis habe ich mir schon vor Jahren ganzgenau angesehen und immer wieder mit Kollegen disku-tiert.Bedenken Sie einmal Folgendes: In deutschen Groß-städten wurde sehr ausgiebig über die Einrichtung vonVergabeausschüssen in Form von politischen Gremien
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Erich G. Fritz
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diskutiert, die die Aufträge für die Stadt verteilen. WennSie sich heute umschauen, dann stellen Sie fest, dass esnicht mehr viele davon gibt. Es ist nämlich nicht gut, dieDinge zu vermischen. Außerdem ist die Anfälligkeit,etwa für Korruption, viel zu groß, wenn man die Dingenicht auseinanderhält. Wir sind bereit, ernsthaft darüberzu reden; schließlich gibt es gute Argumente für beidePositionen. Denken Sie aber daran, dass das kein Themaist, das man von Anfang an für zentral erklären muss,nur weil es starke Kräfte gibt, die das fordern.Wir haben in diesem Bereich eine Trennung zwischenExekutive und Legislative. In diesem Fall geht es umexekutives Handeln. Es geht nicht nur um die Genehmi-gung von wenigen Großaufträgen. Dem Bundestag istim Übrigen noch nie verweigert worden, rechtzeitig in-formiert zu werden. Jeder Kollege, der sich darum küm-merte, konnte sich informieren und kann das auch heutenoch. Es geht um Folgendes: Zur Bundesverwaltung ge-hört das Bundesausfuhramt und das Zollkriminalinstitut.Die Kontrollfähigkeiten des Zolls sind – das wissen Sieaufgrund Ihrer früheren Mitwirkung ganz genau – immerstärker geworden. Das führt dazu, dass Unternehmenhäufiger eine Unbedenklichkeitserklärung beantragen.Dadurch ist die Anzahl der Genehmigungen dieser An-träge enorm gewachsen. Es gibt in diesem Bereich einegroße Sensibilität, auch der Unternehmen. Niemand willsich in die kriminelle Ecke stellen. Das ist auch gut so.Das alles jetzt in die Verantwortung des Bundestags zustellen, das ist keine positive Entwicklung. Damit sindauch Schwierigkeiten verbunden.Meine Redezeit ist seltsamerweise fast vorüber.
– So ist das manchmal, wenn man sich nicht an das Kon-zept hält.Die Praxis der Kontrolle, an der Sie beteiligt waren,Frau Wieczorek-Zeul, führt dazu, dass wir ganz viele de-likate Probleme haben, bei denen es berechtigte Ein-wände gibt. Auch heute kann blockiert werden. Die Aus-einandersetzungen wegen Genehmigungsverfahren, diesich über Jahre hinziehen, sind nicht beliebt. Ich bin den-noch für restriktive Verfahren, weil die Folgen falscherEntscheidungen immer bedacht werden müssen.Zu den anderen Themen will ich jetzt nichts sagen.Ich will nur noch anführen, dass Siegfried Lenz in seinerNovelle Schweigeminute, die der eine oder andere viel-leicht gelesen hat, den schönen Satz geschrieben hat:Was wir verschweigen … ist mitunter folgenreicherals das, was wir sagen.Das gilt auch für dieses Thema. Deshalb sind wir fürTransparenz, für Kontrolle und für eindeutige, klare Ver-fahren.
Wenn Sie mit uns darüber reden möchten, was man bes-ser machen kann, sind wir dabei. Populistischen Forde-rungen stimmen wir aber nicht zu.Danke.
Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habein den letzten Wochen mehrfach gehört, dass Deutsch-land eine strenge Rüstungsexportkontrolle habe. Das istwirklich eine Legende.
Damit müssen wir endlich einmal aufräumen.
Denn wenn es eine strenge Exportkontrolle gäbe, dannwäre Deutschland doch nicht weltweit die Nummer dreider waffenexportierenden Länder, dann hätte Deutsch-land auch keine Waffen an Libyen, an Ägypten, anSaudi-Arabien und all die anderen Länder geliefert, fürdie jetzt plötzlich ein Waffenembargo gilt und gegen dieder Westen möglicherweise Krieg führt. Ich möchte daseinmal an drei Beispielen aufzeigen:Erstens. Was passiert eigentlich mit den Waffen, wennsie erst einmal exportiert worden sind? Das weiß keinMensch. Das muss man sich einmal vorstellen. Es ist aus-reichend, wenn eine Waffenschmiede wie Heckler &Koch, die Maschinenpistolen herstellt, ein Schreiben vor-legt, in dem zum Beispiel Mexiko versichert: Ja, die Ma-schinenpistolen, die wir kaufen, bleiben bei uns im Land.Wir liefern sie nicht weiter. – Danach kontrolliert das niewieder jemand. Angesichts dessen sage ich immer: JedeFrittenbude in Deutschland wird besser kontrolliert alsWaffenexporte. Wenn ich in Hamburg eine Frittenbudeaufmache, dann reicht es nicht aus, dass ich am Anfangein Schreiben schicke, in dem ich bestätige: Ja, ich machejeden Tag sauber und wechsle jede Woche das Öl. – Dakommen natürlich regelmäßig Kontrolleure und kontrol-lieren das. Bei den Waffenexporten ist das nicht der Fall.Das führt dazu, dass deutsche Waffen bei allen Krie-gen in der Welt auftauchen. In Mexiko hat zum BeispielHeckler & Koch jetzt ein Strafverfahren am Hals, weildeutsche Gewehre plötzlich in Provinzen auftauchen, fürdie ein Embargo gilt. Beim Krieg in Georgien sind plötz-lich Sondereinheiten mit deutschen G36-Sturmgewehrenaufgetaucht. Diese Gewehre hätten dort gar nicht seindürfen; dafür gab es nie eine Genehmigung. Oder den-ken Sie an den Sohn von Gaddafi, der neulich in Tripolismit einem deutschen Sturmgewehr vom Typ G36 we-delte. Das hätte nie dort sein dürfen. Wenn man nichtkontrolliert, wo die Waffen in den einzelnen Ländernverbleiben, dann kommt es natürlich dazu, dass sie wildin die ganze Welt exportiert werden.
Man sollte sich einmal anschauen, was die Amerika-ner machen. Die Amerikaner haben eine entsprechende
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Jan van Aken
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Endverbleibskontrolle. Sie schicken gerne einmal Kon-trolleure ins Land, die nachschauen, ob die Waffen wirk-lich da geblieben sind, wohin sie geliefert wurden. Dasist doch das Mindeste, was Deutschland machen könnte.
Zweitens: die Frage der Menschenrechte. Es war hiermehrfach die Rede von den Rüstungsexportrichtliniender Bundesregierung. Diese können Sie getrost in dieTonne drücken; sie sind völlig unverbindlich. Es gibt inDeutschland kein Verbot des Exports von Waffen inmenschenrechtsverletzende Staaten. Das muss man einfür alle Mal klarstellen. Es handelt sich um eine unver-bindliche Richtlinie. Es wird nämlich abgewogen zwi-schen den Fragen, wie viel Geld verdient wird, wiewichtig ein Land in politischer Hinsicht ist und wie esmit der Einhaltung der Menschenrechte im betreffendenLand aussieht. Die Menschenrechte fallen am Ende im-mer hinten herunter. Anders kann man doch gar nicht er-klären, dass nach Saudi-Arabien Tausende von Sturmge-wehren geliefert werden,
obwohl die Bundesregierung selber in ihrem Menschen-rechtsbericht schreibt, dass dort dauerhaft schwere Men-schenrechtsverletzungen stattfinden.Es reicht insofern nicht aus, auf die Menschenrechtehinzuweisen, sondern eine rechtsverbindliche Regelungmuss her.
Ich bin dafür, dass als minimaler Standard festgelegtwird, dass in ein Land, in dem es nach dem Menschen-rechtsbericht der Bundesregierung dauerhaft schwereMenschenrechtsverletzungen gibt, keine Waffen mehrexportiert werden dürfen. – Punkt! Hier darf dann keineAbwägung mehr vorgenommen werden.
Drittens: die Frage der Transparenz. Man muss sicheinmal vorstellen, dass wir und die Öffentlichkeit zumBeispiel von einer Lieferung von Panzern nach Chile,die die Bundesregierung genehmigt, erst anderthalbJahre später erfahren. Das darf doch wohl nicht wahrsein. Das Mindeste ist – das finde ich auch richtig –, dasswir vorab informiert werden, welche Anträge vorliegenund was wann wohin gehen soll, damit wir gegebenen-falls einschreiten können. Heute kann niemand mehr dieWaffen, die nach Libyen gegangen sind, zurückholen.Erst vor einigen Wochen haben wir erfahren, wie vieleWaffen im Jahr 2009 dorthin exportiert wurden. Für dasJahr 2010 liegen uns ja noch gar keine Daten vor.Schließlich unterstütze ich die Forderung der SPD,dass die Exporte von Kleinwaffen drastisch reduziertwerden. Das aber einfach nur in den Raum zu stellen, än-dert nichts. Die SPD und die Grünen haben diese Forde-rung schon 1998 erhoben; hinterher sind die Exporte vonKleinwaffen aber gestiegen. Hier müssen Sie klare Gren-zen ziehen. Es müssen Verbote erlassen werden, dass inbestimmte Regionen und Staaten, die Menschenrechteverletzen, oder wohin auch immer Waffen geliefert wer-den.Ich bin im Übrigen der Meinung, dass Deutschlandgar keine Waffen mehr exportieren sollte.
Mit einer vernünftigen Endverbleibskontrolle, die mitTransparenz, klaren Menschenrechtskriterien und demVerbot des Exports von Kleinwaffen einhergeht, könnteein Anfang gemacht werden. Darauf könnte man sichjetzt schon verständigen; das fände ich gut. In ein paarJahren kommt es dann zu einem Totalverbot.Ich bedanke mich bei Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Esist schade, dass wir am letzten Freitag nicht die – in derQualität ganz anderen – Anträge der SPD und der Grü-nen beraten haben. Das hätte uns deutlich mehr gebracht,als sich ausschließlich mit dem populistischen Klientel-antrag der Linken zu beschäftigen. Der Antrag der Lin-ken hat nur dazu gedient, in irgendwelchen Antifa-Ver-öffentlichungen zu zeigen, dass schon etwas läuft undwer hier gut und böse ist.
Das war doch der einzige Zweck. Die heutige Debattehätte also schon früher stattfinden können.Frau Wieczorek-Zeul, was Sie hier vorgelegt haben,ist zwar seriöser, ich wage aber, zu bezweifeln, dass IhreFraktion Ihnen und damit sich einen Gefallen damit ge-tan hat, Sie hier als Rednerin vorzuschicken.Letzte Woche gab es den neuesten Rüstungsexportbe-richt. Wenn man die Zahlen darin liest, fällt einem auf,dass zwischen dem Jahr 2003 und heute ein Gesamtvolu-men an Kriegswaffenexporten aus Deutschland pro Jahrim Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro zu verzeichnen ist.Das sind, um einmal die Größenordnung klarzustellen,etwa 0,15 Prozent des Gesamtexports. Ein Jahr sticht da-bei heraus, nämlich das Jahr 2005. Damals waren nichtnur Sie als Entwicklungshilfeministerin, sondern auchAußenminister Joseph Fischer im Bundessicherheitsratvertreten. In diesem Jahr wurden Kriegswaffen mit einemWert von 1,63 Milliarden Euro exportiert. Das machte0,26 Prozent des Gesamtexports aus.
Jetzt könnten wir natürlich denken, dass es sich dabeivielleicht um besondere Exporte in verbündete NATO-Staaten handelte. Wenn man sich das Ganze etwas ge-
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Dr. Martin Lindner
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nauer anschaut, kommt man zu dem Ergebnis, dass vonden 1,6 Milliarden Euro Exporte im Wert von 911 Mil-lionen Euro in Entwicklungsländer gingen, für die Siezuständig waren, Frau Wieczorek-Zeul.
Dennoch sagten Sie uns gerade: Waffenlieferungen inLänder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, sindzu untersagen.
– Entschuldigung, Sie waren die dienstälteste Ministe-rin, als Schwarz-Rot abgewählt wurde. Sie waren jahre-lang zuständig. Kaum sind Sie aus dem Amt, erzählenSie uns hier etwas vom Pferd und sagen, was einzu-schränken sei.
Das ist doch wirklich nicht glaubwürdig.
Genau in dem Jahr, in dem Rot-Grün hauptverant-wortlich war, stieg die Anzahl der Kriegswaffenexporte.Jetzt werden wieder Kriegswaffen im Wert von etwa1,3 Milliarden Euro exportiert.Kriegswaffenexport ist in seinem Wesen kein Pro-blem des Kleinwaffenexports. Kleinwaffen sind sozusa-gen Stangenware auf diesem Markt. Diese Länder, auchSaudi-Arabien, können sie überall kaufen. Das großeProblem und die ernsthafte Herausforderung sind hoch-technologische Waffensysteme. Wenn Sie dieses Themabeleuchten, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass eine be-sondere Herausforderung darin besteht, dass die Absatz-märkte innerhalb der NATO und innerhalb der EU in denJahren des Kalten Krieges deutlich größer waren. Gottsei Dank haben wir mittlerweile eine andere Sicherheits-lage. Daher sind die entsprechenden Unternehmen jetztin der Bedrängnis, nur noch wesentlich geringere Stück-zahlen verkaufen zu können, was die Stückpreise erhöht.Allerdings haben die Staaten der Europäischen Unionfeste Budgets, was zusätzlichen Druck bedeutet.Die einzig sinnvolle Forderung, die wir in diesem Be-reich aufstellen müssen, lautet doch, dass es innerhalbder Europäischen Union nicht nur, was die Rüstungsun-ternehmen angeht, sondern auch, was die Rüstungsbud-gets betrifft, zu einer Harmonisierung und Integrationkommt. Nur dann können die Stückzahlen innerhalb un-serer Wertegemeinschaft so erhöht werden, dass der öko-nomische Druck, Exporte in Länder außerhalb der EU zutätigen, nicht mehr in der Weise besteht wie im Moment.Die Forderung lautet also, die Rüstungsprogramme in-nerhalb der Europäischen Union zu harmonisieren.
Ein weiteres Thema ist Dual Use. Dazu habe ich amvergangenen Freitag ebenfalls schon etwas gesagt. Auchhier ist es doch nicht so, wie Sie suggerieren: dass diedeutschen Unternehmen diejenigen sind, die andere anden Rand drängen. Vielmehr machen zahlreiche Kon-kurrenzunternehmen aus anderen Ländern der Europäi-schen Union regelrecht Werbung: Kauft diese Produktenicht bei deutschen Unternehmen, sondern kauft sie beiuns. Wir haben zwar möglicherweise schlechtere Pro-dukte, aber bis die deutschen Anbieter ihre Exportgeneh-migung bekommen, habt ihr schon längst, was ihrbraucht. – Das ist doch die Realität.Wir müssen überlegen, wie wir zu schnellen Verfah-ren kommen, die natürlich auch zu einer Ablehnung ei-nes Antrags führen können. Um dies zu erreichen, kanndas Ziel sinnvollerweise nur eine Harmonisierung euro-päischer Anforderungen an die Exportbestimmungen fürDual-Use-Produkte sein.
Nur dann, wenn wir gleichgerichtete Vorschriften haben,besteht kein Konkurrenzverhältnis mehr innerhalb derEuropäischen Union und innerhalb der NATO.
Meine Damen und Herren, der Kollege Fritz hatschon das meiste zu der Forderung nach einer Vorabbe-fassung des Deutschen Bundestages gesagt. Wir habeneine Exekutive und eine Legislative. Wir tun uns keinenGefallen – ich habe dasselbe gesagt, als ich in einem an-deren Parlament Oppositionspolitiker war –, wenn wirals Parlament bei klassischen Angelegenheiten der Exe-kutive unsere Finger im Spiel haben. Wir haben gar nichtdie Kompetenz und die Mitarbeiter dafür.
– Herr van Aken, Sie natürlich schon. Sie haben Mitar-beiter dafür; Sie haben Tausende von Beamten in IhrerFraktion, die einzelne Rüstungsexportgenehmigungsan-träge prüfen können. – Das glauben Sie doch wohl selbernicht. Das ist doch völliger Blödsinn; Sie betreiben hiernur Populismus. Wenn Sie sich ernsthaft damit beschäf-tigen, kommen Sie nicht zu dem Ergebnis, dass derDeutsche Bundestag eine Rüstungsexportkontrollbe-hörde werden kann; das ist ausgeschlossen. Der Geheim-schutz und Nachrichtendienste wie der BND sind in die-sem Bereich beteiligt.
Man kann das doch nicht im Deutschen Bundestag ma-chen.Im Übrigen kommt es oft zu der Situation, dass es imZuge eines solchen Genehmigungsverfahrens zu einerRücknahme des Antrags kommt; mit dieser Möglichkeitkann man dem Unternehmen eine öffentliche Darstel-lung ersparen. So handelt man sinnvoll. Diese Bundesre-gierung und diese Koalition werden dieses Thema ge-nauso verantwortlich wie die Vorgängerregierungenhandhaben.
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Dr. Martin Lindner
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Wir werden in einem Spannungsfeld von berechtigtenInteressen unserer Industrie und Sicherheitsinteresseneine vernünftige Abwägung treffen. Ich habe auch ange-sichts der beteiligten Minister überhaupt keine Sorge,dass hier planlos die Schleusen geöffnet werden. AlleDamen und Herren, die sich mit dieser Aufgabe beschäf-tigen, handeln verantwortungsvoll; sie ist bei ihnen inguten Händen.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gestern haben wir in den Ausschüssen überden Rüstungsexportbericht debattiert, aber leider nichtüber den von 2010, sondern über den von 2009. Es istwieder einmal über ein Jahr ins Land gegangen; die imBerichtszeitraum gelieferten Waffen sind längst im Ein-satz.2009 wurden Exporte im Wert von mehr als5 Milliarden Euro genehmigt. Dabei wurde nicht nur anverbündete Demokratien geliefert: Der Wert der geneh-migten Kriegswaffenausfuhren an Drittstaaten war mehrals doppelt so hoch wie der Wert der Ausfuhren an EU-und NATO-Staaten. Dabei darf nach der Rüstungsexport-richtlinie der Bundesregierung eigentlich nur in Ausnah-mefällen an Drittstaaten geliefert werden. Diese Ent-wicklung ist ganz klar gesetzeswidrig.
Darüber hinaus ist die Berücksichtigung menschen-rechtlicher Standards in dieser Richtlinie festgeschrie-ben. Dennoch wurde an Mubarak, Gaddafi und andereDespoten geliefert.
Saudi-Arabien hat gleich eine ganze Waffenfabrik be-kommen.Das Problem liegt auf der Hand: Die Bundesregie-rung unterliegt in diesen Bereichen weder einer parla-mentarischen noch einer gerichtlichen Kontrolle. Sietrifft ihre Exportentscheidungen in geheim tagendenGremien, ohne sich dafür irgendwo rechtfertigen zumüssen.
Sie fühlt sich zur Auskunft über einzelne Ausfuhrgeneh-migungen und deren Begründung nicht verpflichtet.
Die Lobby der Menschenrechte kann mit den Wirt-schaftsinteressen hier gar nicht mithalten. Der KollegeLindner hat uns schon letzte Woche eindrücklich vorAugen geführt, was die Koalition von einer restriktivenExportpolitik hält, als er hier zum Thema Rüstungsex-porte ein flammendes Bekenntnis zur ExportnationDeutschland abgegeben hat.Die SPD erhebt in ihrem Antrag die berechtigte For-derung nach Transparenz und parlamentarischer Beteili-gung. Im Kern der Forderung steht die frühzeitigeEinbindung des Deutschen Bundestages in die Genehmi-gungsverfahren. Diese Forderung teilen wir Grünen, dadie Bundesregierung nur so gezwungen werden kann,ihre Entscheidungsgründe offenzulegen.Richtig ist auch die Forderung, die Konversion vonArbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie zu unterstützen;denn gerade der europäische Markt wird aufgrund derSparmaßnahmen künftig nicht mehr wie im bisherigenUmfange für die Abnahme von Rüstungsgütern zur Ver-fügung stehen. Die Rüstungsexportrichtlinie ist eindeu-tig: „Beschäftigungspolitische Gründe“ dürfen bei derGenehmigung „keine ausschlaggebende Rolle spielen“;der Rüstungsexport in Drittstaaten darf „nicht zum Auf-bau zusätzlicher, exportspezifischer Kapazitäten füh-ren“.Auch wenn wir den Antrag der SPD grundsätzlich un-terstützen, habe ich einige Verbesserungsvorschläge. Zu-nächst einmal greift der Titel des Antrags zu kurz. Wirsind nicht nur dafür, „die Ausweitung von Rüstungsex-porten“ zu stoppen; es geht uns darum, den Umfang derRüstungsexporte zu verringern.
Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, die Rüstungsexport-richtlinie und den EU-Kodex für Waffenausfuhren in dasAußenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um den Normendamit eine höhere Verbindlichkeit zu verschaffen.Wir sind außerdem für die konsequente Übertragungder Federführung vom Wirtschaftsministerium an dasAuswärtige Amt, wo die Einschätzung von Krisenregio-nen und Menschenrechtslagen deutlich besser aufgeho-ben sein dürfte.Zuletzt noch einige Worte zu Heckler & Koch: Da wirbereits am 10. Februar über den Antrag der Linken de-battiert haben, mache ich es kurz. Das Unternehmensteht im Verdacht, Waffen nach Mexiko geliefert zu ha-ben, und zwar in Provinzen, in die es nicht hätte lieferndürfen. Die Bundesregierung hat deswegen die Geneh-migung der Ausfuhranträge nach Mexiko ausgesetzt. Dader Verdacht der Unzuverlässigkeit aber gerade nicht dasEmpfängerland, sondern das exportierende Unterneh-men betrifft, reicht es nicht, die Aussetzung auf Mexikozu beschränken.
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Katja Keul
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Leider musste die Fraktion der Linken unbedingtnoch die Forderung nach einem Totalverbot aller Waffen-exporte anhängen und dazu das Grundgesetz bemühen.
Wahrscheinlich wollen Sie einfach nicht, dass wir IhrenAnträgen zustimmen. Aber bei uns ist es anders: Wirfreuen uns über Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner
hat unser Kollege Dr. Reinhard Brandl von der Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich wundere mich schon darüber, welche
Debatte wir heute führen und – genauer gesagt – was die
SPD heute hier fordert.
Der Wunsch, dem Parlament ein Mitspracherecht bei
Rüstungsexporten einzuräumen, ist nicht wirklich neu.
Am 19. Oktober 2000 hat zum Beispiel die damalige
PDS einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem sie
genau das fordert. Meine Damen und Herren von der
SPD, ich erspare es Ihnen, jetzt darzulegen, mit welcher
Begründung die Redner der SPD dies damals abgelehnt
haben.
Ich könnte die SPD-Reden von damals heute fast selbst
halten.
Meine Damen und Herren, Sie waren danach noch
neun Jahre an der Regierung beteiligt. Warum haben Sie
denn in dieser Zeit keine Parlamentsbeteiligung einge-
führt?
Zumindest mit Blick auf die Zeit bis 2005 können Sie
wohl nicht sagen, dass es an uns gelegen habe.
Ich vermute, dass es nicht an den Grünen lag, sondern
daran, dass Sie selbst es nicht als sinnvoll erachtet ha-
ben. Da hatten Sie recht: Wir sind als Parlament keine
Genehmigungsbehörde.
Das ist klassische Aufgabe von Verwaltung und Regie-
rung. Der Kollege Fritz hat es vorhin ausgeführt.
Aber wir üben parlamentarische Kontrolle aus. Diese
Aufgabe müssen wir ernst nehmen. Ich bin zum Beispiel
in dem Punkt, den Sie in Ihrem Antrag aufführen, näm-
lich dass die Rüstungsexportberichte schneller vorgelegt
werden müssen, völlig Ihrer Meinung. Frau Kollegin
Keul hat es ebenfalls angesprochen.
Aber warum Sie jetzt plötzlich bei der Frage der Par-
lamentsbeteiligung auf die Position der Linken um-
schwenken, ist mir nicht erklärbar.
– Diese Position haben Sie übernommen. Ich möchte
über die Gründe nicht spekulieren; das ist Ihre Sache.
Mich stört aber, dass Sie in Ihrem Antrag unter-
schwellig den Eindruck erwecken, dass die Bundesregie-
rung bei der Genehmigung von Exportgeschäften seit
Ihrem Ausscheiden aus der Regierung plötzlich verant-
wortungslos handelt.
Das ist nicht gerechtfertigt; das wissen Sie auch. Deswe-
gen verwenden Sie in Ihrem Antrag vorsichtshalber auch
nur Formulierungen wie „es könnte sein“, „es besteht die
Gefahr, dass … “ und „das kann dazu führen“.
Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, dass die
Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Ex-
port von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus
Ihrer rot-grünen Regierungszeit und der Gemeinsame
Standpunkt der Europäischen Union aus 2008 unverän-
dert Grundlage für Genehmigungen sind. Die christlich-
liberale Koalition hat daran nichts geändert.
Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfolgen
einzelfallbezogen unter besonderer Berücksichtigung
der außenpolitischen Position und der Menschenrechts-
lage im Empfängerland. Genehmigungen werden nur er-
teilt, wenn zuvor der Endverbleib im Endempfängerland
sichergestellt ist. Auch an diesem Verfahren haben wir
nichts geändert. Die Kriterien, die in Ihrer Regierungs-
zeit galten, gelten auch heute noch.
Kollege Dr. Reinhard Brandl, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ströbele?
Ja, ich gestatte sie.
Dann hat der Kollege Ströbele jetzt Gelegenheit, eineZwischenfrage zu stellen.
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Danke, Herr Präsident. – Sie haben mich aufmerkenlassen, als Sie gesagt haben, der Endverbleib werde si-chergestellt. Wie wird er sichergestellt? Was sagen Siedazu, dass die Regierung des Landes, in das geliefertwird – das gilt zum Beispiel im Fall von Mexiko –, nichteinmal darüber informiert wird, dass es eine Einschrän-kung gibt? Wie soll angesichts dessen der Endverbleibsichergestellt werden? Können Sie mir das erklären?
Es ist richtig, dass es Fälle wie den gibt, den Sie an-
sprechen. Wir erfahren davon manchmal aus der Presse.
Auch ich habe mich geärgert, als ich Gaddafi gesehen
habe oder als gemeldet wurde, dass Heckler & Koch
Waffen in eine Unruheprovinz geliefert haben soll.
Der Punkt ist: Das müssen wir aufklären. Im Fall von
Heckler & Koch sind Gerichte dafür zuständig. Diese
Ermittlungen warten wir ab.
Jedes Jahr werden viele Anträge gestellt. Ich glaube,
es sind 16 000 Anträge. Das ist eine große Zahl.
Wenn es in Einzelfällen zu Problemen kommt, dann
muss man daraus lernen. Das ist ja richtig.
Vielen Dank für die Zwischenfrage, Herr Kollege.
Es gibt einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag, der
mich stört. Sie stellen sehr undifferenziert jede mögliche
Ausweitung von Rüstungsexporten als Gefahr für den
Frieden dar. Es findet sich zum Beispiel kein Hinweis
darauf, dass der größte Teil der tatsächlich ausgeführten
Kriegswaffen in NATO-, der NATO gleichgestellte oder
EU-Länder geht. 2009 waren es 76 Prozent. Da stellt
sich die Frage, wie Sie es grundsätzlich mit der deut-
schen Rüstungsindustrie halten. Mich stört die Doppel-
züngigkeit, mit der hier manchmal gesprochen wird. Wir
fordern hier immer wieder – diesbezüglich gibt es einen
breiten Konsens –, dass die Bundeswehr für ihre Aufga-
ben bestmöglich ausgerüstet wird. Ich bin froh, dass wir
wesentliche Kompetenzen dafür in unserem eigenen
Land haben. Das liegt in unserem ureigenen sicherheits-
politischen Interesse.
Es versteht wirklich jeder, dass man mit dem Export
von Rüstungsgütern sehr sensibel umgehen muss. In
Deutschland haben wir ein Genehmigungs- und Kon-
trollverfahren dafür gefunden. Das haben Sie in Ihrer
Regierungszeit praktiziert, und wir haben es fortgeführt.
Deshalb ist es unfair, eine ganze Branche und damit die
Arbeit vieler Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in den Betrieben pauschal zu verurteilen, als unethisch
zu bezeichnen und diese Menschen damit in eine be-
stimmte Ecke zu stellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege
Jan van Aken.
Ich möchte nur kurz auf die Debatte, die wir in der
letzten Woche hier geführt haben, zurückkommen. Herr
Fritz, ich habe Sie in der letzten Woche an dieser Stelle
einen Rüstungslobbyisten genannt.
Das würde ich gerne zurücknehmen, weil ich noch nicht
weiß, ob Sie ein Rüstungslobbyist sind oder nicht. Ich
weiß das von einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion. Herr
Kauder zum Beispiel vertritt gerne Heckler & Koch als
Anwalt. Von Ihnen weiß ich das aber nicht. Deswegen
entschuldige ich mich an dieser Stelle für diesen Vor-
wurf.
Kollege Fritz, wollen Sie antworten?
Ich nehme das gerne entgegen, Herr Präsident.
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Daherschließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen aufden Drucksachen 17/5054 und 17/5204 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen derCDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. DieFraktionen der Sozialdemokraten und des Bünd-nisses 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführungbeim Auswärtigen Ausschuss.Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenabstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Aus-schuss.Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Überwei-sungsvorschläge sind abgelehnt.Jetzt lasse ich über die Überweisungsvorschläge derFraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,nämlich Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
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11388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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und Technologie. Wer stimmt für diese Überweisungs-vorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Überweisungsvorschläge sind angenommen. Damitliegt die Federführung zu beiden Vorlagen beim Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutz-gesetzes und weiterer Gesetze– Drucksache 17/5178 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKrankenhausinfektionen vermeiden – Tödli-che und gefährliche Keime bekämpfen– Drucksache 17/4489 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENPrävention von Krankenhausinfektionen ver-bessern– Drucksache 17/5203 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-regierung hat zunächst Bundesminister Dr. PhilippRösler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Schätzungen zufolgegibt es jährlich 400 000 bis 600 000 sogenannte Kran-kenhausinfektionen und aufgrund solcher Infektionenjährlich circa 7 500 bis 15 000 tote Menschen in Deutsch-land. Es trifft dann meist die Älteren, die Schwachen undim wahrsten Sinne des Wortes die Kranken im System.All diese Menschen haben keine Lobby. Sie haben keineInteressenvertreter – mit einer Ausnahme: Diejenigen,die genau die Interessen dieser Menschen vertreten, sinddie Abgeordneten des Deutschen Bundestages; denn dieInitiative zu diesem Gesetz zur Änderung des Infektions-schutzgesetzes stammt aus den Reihen der Abgeordne-ten von CDU/CSU und FDP.Das gemeinsame Ziel ist es, mit den vorhandenen gu-ten Instrumenten – auch mit den Instrumenten, die dieVorgängerregierungen geschaffen haben – die Menschenin Deutschland künftig vor solchen Krankenhausinfek-tionen besser schützen zu können, als dies bisher der Fallist.
Ein Problem bei diesen Infektionen ist nicht alleinihre hohe Zahl, sondern der Anteil an resistenten Erre-gern. Fachleute beziffern den Anteil der Krankenhausin-fektionen in Deutschland aufgrund dieser Erreger auf biszu 20 Prozent. In den Niederlanden – zum Vergleich –beträgt dieser Anteil gerade einmal 1 Prozent.Man kann solche Resistenzen durch den richtigenEinsatz von antibiotischen Medikamenten verhindern.Deswegen sieht dieses Gesetz die Einrichtung einer„Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“am Robert Koch-Institut vor. Das ist eine wissenschaftli-che Kommission, die Leitlinien für den richtigen Ge-brauch von Antibiotika entwickeln soll. Denn uns gehtes nicht nur darum, Infektionen, die es gibt, zu bekämp-fen, sondern auch darum, Infektionen durch einen besse-ren und optimalen Einsatz von Antibiotika von vornhe-rein zu verhindern.
Die Existenz solcher Gesetze allein reicht aus unsererSicht nicht aus. Zum Teil gibt es zwar schon gute Emp-fehlungen; die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie isthier nur ein Beispiel. Aber wir müssen auch dafür sor-gen, dass solche Gesetze dann in der Praxis umgesetztwerden.Am Robert Koch-Institut gibt es bereits eine Kom-mission; sie heißt „Kommission für Krankenhaushy-giene und Infektionsprävention“, kurz: KRINKO. DieseKommission hat schon längst Empfehlungen entwickelt,wie beispielsweise die Prozesse in den Kliniken, aberauch die baulichen Maßnahmen daraufhin ausgerichtetwerden können, um die Anzahl von Krankenhausinfek-tionen künftig zu reduzieren oder sie gar ganz zu vermei-den.Das Problem ist nur, dass solche Vorschläge bishernur empfehlenden Charakter haben. Mit diesem Gesetzbekommen diese Fachempfehlungen eine höhere Ver-bindlichkeit. Wir stellen damit sicher, dass es nicht nurgute Gesetze und nicht nur gute Vorgaben gibt, sonderndass diese Vorgaben im klinischen Alltag auch umge-setzt werden. So können die Menschen vor Krankenhaus-infektionen besser geschützt werden.
Erreichen wollen wir dies, indem wir den Ländern dieMöglichkeit geben, ohne ein eigenes Landeshygienege-setz eine Hygieneverordnung auf Grundlage des Infek-tionsschutzgesetzes des Bundes auf den Weg zu bringen.Bisher gibt es nur sieben Bundesländer, die eine solche
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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eigene Hygieneverordnung haben. Wir wollen nicht nur,dass mehr Länder Hygieneverordnungen auf den Wegbringen und dass sie dies schneller tun, sondern wir wol-len auch möglichst einheitliche Standards. Nach diesemGesetzestext wäre die Einheitlichkeit dadurch gegeben,dass immer dann davon auszugehen ist, dass man denStand der Wissenschaft eingehalten hat, wenn man dieEmpfehlungen der KRINKO befolgt. Damit stellen wirbeide Ziele sicher: mehr und schneller erlassene Hygie-neverordnungen auf Landesebene und gleichzeitig eineVereinheitlichung. Erreger machen nicht an Landesgren-zen halt. Deswegen hat es Sinn, die Schutzmaßnahmennicht an Landesgrenzen auszurichten, sondern möglichstbundeseinheitlich auszugestalten.Ebenso wollen wir dafür sorgen, dass die Ergebnissesolcher Maßnahmen künftig gemessen werden könnenund diese Ergebnisse veröffentlicht werden, damit dieMenschen ein Stück weit selbst einen Einblick in dieHygienesituation in den jeweiligen medizinischen Ein-richtungen bekommen. Auch das kann bewirken, dassder Anreiz für die Kliniken größer wird, selber für bes-sere Hygienemaßnahmen zu sorgen.Ebenso möchten wir, dass die Menschen, die heutemit resistenten Erregern befallen sind, schon im ambulan-ten und nicht erst im stationären Bereich als Hochrisiko-patient erkannt werden und dass sie, noch bevor sie mitsolchen hochresistenten Stämmen stationär im Kranken-haus aufgenommen werden, davon befreit, also saniertwerden. Dadurch wird verhindert, dass sich solche Erre-ger in den Kliniken verbreiten. Wir wollen die betroffe-nen Menschen, wie gesagt, von vornherein im ambulan-ten Bereich von diesen Erregern befreien und damiteinen höheren Schutzgrad in den Kliniken erreichen.
Insgesamt können wir feststellen, dass es schon heutedurchaus gute Maßnahmen gibt, zum Beispiel die „Ak-tion Saubere Hände“, die ganz konkret in den klinischenAlltag integriert werden können. Wir brauchen aber wei-tere Instrumente; wir haben einige vorgeschlagen. Fach-leute gehen davon aus, dass man die Zahl der Infektio-nen durch bessere Hygienemaßnahmen langfristig um 20bis 30 Prozent senken kann. Es sollte unser gemeinsa-mes Ziel sein, die Zahl der Krankenhausinfektionen zumSchutz der Patientinnen und Patienten zu senken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Bärbel Bas
von der Fraktion der Sozialdemokraten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist in der Tat ein äußerst wichtiges Thema. Das RobertKoch-Institut – dessen Namensgeber hat nicht grundloseinen Nobelpreis für seine Forschung in dem Bereich be-kommen und gilt heute als Vorreiter für die moderneKrankenhaushygiene – setzt Standards und gibt Empfeh-lungen. Aber das Problem, das wir in der Tat haben – dashaben Sie richtig beschrieben, Herr Minister –, ist, dassdiese Empfehlungen nicht umgesetzt werden; sonstmüssten wir uns heute hier im Hause nicht über diesesThema unterhalten.Ich glaube, wir brauchen uns nicht über die Zahl, wieviele Menschen sich infizieren, zu streiten. Jeder Ein-zelne ist einer zu viel. Wer mit Menschen gesprochenhat, die Angehörige durch solch eine Infektion im Kran-kenhaus verloren haben, weiß das. Diese Infektionenkönnen auch Amputationen zur Folge haben. Der Lei-densweg für die Betroffenen ist lang. Zu dem Leid desEinzelnen kommen die hohen Kosten der Behandlungsolcher Infektionen hinzu.Was müssen wir tun? Wie können wir eine Lösungfinden? Ich weiß, dass ein Argument ist, dass wir auf derBundesebene nicht viel tun können, weil die Kranken-häuser Länderangelegenheit sind. Wir sollten uns, wennwir Ihren Gesetzentwurf betrachten, fragen, ob wir allenicht mutiger sein sollten. Es gibt schon jetzt über alleFraktionen hinweg weitaus bessere Vorschläge, die Kran-kenhaushygiene zu verbessern. Ich weiß, dass selbst dieKollegen Ihrer eigenen Fraktion deutlich weitreichen-dere Vorschläge gemacht haben, als man sie jetzt in Ih-rem Gesetzentwurf findet. Das finde ich bemerkenswert.Sie haben zum Beispiel gesagt, dass die Länder dieVerordnung jetzt umsetzen sollen; bisher hätten das nursechs oder sieben Länder getan. Das ist richtig; aberdann müssen Sie, finde ich, den Ländern eine Frist set-zen. Es bringt nichts, dies auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertagen. Die Länder sollten nicht wieder unend-lich viel Zeit haben, um etwas für die Krankenhaushy-giene zu tun.Kollege Spahn und ich sind beide aus NRW. Es gibtdort ein bemerkenswertes Projekt, bei dem es ein Scree-ning von Risikopatienten direkt bei der Aufnahme imKrankenhaus gibt. Dieses anerkannte Projekt hat schontolle Erfolge erzielt. Ich verstehe nicht, warum so etwasnicht als Standard in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenwird.
Ich denke, es ist eine wichtige Entscheidung, Risiko-patienten direkt bei Aufnahme zu screenen. Die Datenund Zahlen, die wir dabei gewinnen, müssen ausgewer-tet und transparent gemacht werden. Vor allen Dingen istes wichtig, sie der Forschung zur Verfügung zu stellen,damit herausgefunden werden kann, warum es zu diesenInfektionen kommt.Außerdem brauchen wir deutlich mehr Fachpersonal;das werden auch meine Kollegen sicherlich noch anspre-chen. Wir haben auf diesem Gebiet schon Know-howverloren, und zwar massiv. Selbst wenn wir jetzt aufBundesebene die Forderung aufstellen, dass es ab einerKrankenhausgröße von 300 oder 400 Betten in jedemKrankenhaus Hygienefachärzte gibt, müssen wir fest-stellen: Wir können diese Forderung nicht erfüllen, weildas nötige Hygienefachpersonal nicht vorhanden ist.Dennoch finde ich, dass eine solche Regelung, bezogen
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11390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Bärbel Bas
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auf eine bestimmte Bettenanzahl oder Fallzahl, auf jedenFall als Standard in dieses Gesetz gehört. Ich glaube,Ihre FDP-Kollegen haben eine Größenordnung von30 000 Fällen vorgeschlagen. Diese Regelung sollte manin das Gesetz aufnehmen. Man darf nicht so vage blei-ben.
Ein weiterer Aspekt ist – ich habe das mit Spannunggelesen; deswegen will ich darauf zu sprechen kommen –:Sie sagen, dass ambulant tätige, niedergelassene ÄrzteSanierungen durchführen und dafür eine Abrechnungs-ziffer bekommen sollen. Ich persönlich halte das – abge-sehen davon, dass es vielleicht Geldverschwendung ist –medizinisch bzw. aus hygienischen Gründen nicht fürsinnvoll.Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Patient wird,eine Woche oder 14 Tage nachdem er beim Arzt war, insKrankenhaus aufgenommen. In der Zwischenzeit war ervielleicht im Pflegeheim oder zu Hause und hat sich denKeim schon wieder irgendwo anders eingefangen. Ichfinde, es ist medizinisch sinnvoller, in ein Aufnahme-screening in einer stationären Einrichtung zu investieren,als es im ambulanten Bereich durchführen zu lassen. Ichglaube, es bringt uns in Sachen Hygiene überhaupt nichtweiter, das Aufnahmescreening weiterhin niedergelasse-nen Ärzten zu überlassen. Das macht für mich in medizi-nischer und hygienischer Hinsicht keinen Sinn.
Wir brauchen Eingangsscreenings im Hinblick aufRisikogruppen. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Ih-ren Blick nach NRW zu richten, sich mit dem Projekt,von dem ich sprach, zu beschäftigen und sich die ent-sprechenden Zahlen anzuschauen. Es wurde in diesenBereich investiert. Es ist nachgewiesen, dass sich In-vestitionen in die Krankenhaushygiene im Verhältnis1 zu 10 rechnen. Ich finde, das ist bemerkenswert undauf Bundesebene nachahmenswert.Ich kann Sie nur auffordern, alle Vorschläge, die aufdem Tisch liegen – seien sie von den Linken, seien esunsere Vorschläge zum Hygienepersonal, seien sie vonIhrer eigenen Fraktion –, ernst zu nehmen und diesenGesetzentwurf deutlich zu verbessern. Wir braucheneine Verbesserung im Bereich der Hygiene, damit dieMenschen, wenn sie ins Krankenhaus kommen, keineAngst mehr haben müssen, dass sie sich möglicherweiseinfizieren und das Krankenhaus noch kränker verlassen,als sie es waren, bevor sie ins Krankenhaus kamen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Als Nächster hat
unser Kollege Lothar Riebsamen von der Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ob im Krankenhaus, in der Praxis, im Pflege-heim – geschwächte Menschen geben sich überall, wosie unterwegs sind, jeden Tag millionenfach die be-rühmte Klinke in die Hand. Nun möchte ich nicht be-haupten, dass die Türklinken in diesem Zusammenhangdas größte Problem sind. Aber in der Tat – der HerrMinister hat es erwähnt – ist die Zahl der Krankenhaus-infektionen und vor allem die Zahl derjenigen, die daransterben, allzu hoch. Diese Zahl ist sogar höher als die derVerkehrstoten, die wir in diesem Land jedes Jahr zu ver-zeichnen haben. Es ist daher richtig, dies zu ändern.Heute ist somit ein guter Tag für die Patientinnen undPatienten in unserem Land.
Ich denke, es ist nicht nur ein guter Tag, sondern auchein gutes Jahr für die Patientinnen und Patienten. Dennwir bringen nicht nur diesen Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Infektionsschutzgesetzes in den Bundes-tag ein, sondern wir werden ihm auch ein Patienten-schutzgesetz folgen lassen, um die flächendeckende Ver-sorgung mit Ärzten im Land sicherzustellen. Außerdemwerden wir, ebenfalls noch in diesem Jahr, ein Patienten-rechtegesetz erarbeiten, mit dem wir dafür sorgen wer-den, dass sich Patienten und Leistungserbringer mehrauf Augenhöhe begegnen.
Im europäischen bzw. im internationalen Vergleichstehen wir übrigens gar nicht so schlecht da. Es gibt Län-der, in denen die Infektionsraten noch höher sind als inDeutschland. Allerdings gibt es auch Länder, die deut-lich geringere Infektionsraten zu verzeichnen haben. Wirmüssen und wollen uns an den Ländern orientieren, diees bisher besser machen als wir.
Die Problematik liegt vor allem darin, dass viele In-fektionen durch zunehmend resistente Keime entstehen,die dann nur schwer therapierbar sind und eine sehrlange Behandlungsdauer erfordern. Es kommt hinzu,dass unsere Gesellschaft älter wird. Älter werdende Pa-tienten sind natürlich noch anfälliger.Deswegen werden wir drei Wege gehen, um zu einerVerbesserung der Situation zu kommen: Erstens. Wirwerden mit diesem Gesetz die Hygienequalität unmittel-bar in den Einrichtungen verbessern. Zweitens. Wir wer-den für einen sachgerechteren Einsatz von Antibiotikasorgen, um Resistenzen zu minimieren. Drittens. Wirwerden sektorübergreifend für mehr Prävention sorgen.
Ich komme zu meinem ersten Punkt: die Verbesse-rung der Hygienequalität. Dazu brauchen wir alle Bun-desländer im Boot.
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Lothar Riebsamen
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Wir haben es gehört: Es sind bisher sieben Bundesländerim Boot. Baden-Württemberg gehört seit dem 1. Januar2011 dazu. 7 Bundesländer von 16 haben eine Hygiene-verordnung erlassen. Daran mag man erkennen, dass diePriorität noch nicht in allen Ländern an der gleichenStelle gesetzt wird. Wir werden die Länder daher moti-vieren, im föderativen Wettbewerb zu handeln. Wir wer-den aber auch für Wettbewerb um Qualität innerhalb derEinrichtungen sorgen.Es ist richtig, den Richtlinien zur Krankenhaushy-giene, die es beim Robert Koch-Institut bereits gibt, Ge-setzes-charakter zu verleihen, um ihnen mehr juristischesGewicht zu geben. Es muss klar sein, dass die Einhal-tung des Standes der Technik und der Wissenschaft zu-künftig verpflichtend sein muss. Ein Baustein dafür wirdein Mehr an Qualitätssicherung und Transparenz sein.Dafür ist es notwendig, Indikatoren zu schaffen, die eineVergleichbarkeit ermöglichen.Wir werden den Gemeinsamen Bundesausschuss auf-fordern, den Kliniken, den Einrichtungen und uns ent-sprechende Indikatoren vorzugeben. Die Risikolage istvon Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Esreicht nicht aus, schlicht und ergreifend Informationenüber die Anzahl der Infektionen ans Schwarze Brett zutackern oder im Internet zu veröffentlichen. Wir brau-chen Vergleichbarkeit. Es muss für jeden nachvollzieh-bar sein – auch für die Patientinnen und Patienten –, obes sich um eine vermeidbare Infektion handelt. Kolibak-terien haben beispielsweise nichts in einem Hüftgelenkzu suchen.
Es muss für jeden nachvollziehbar sein, ob es sich um ei-nen deutlich komplexeren Sachverhalt handelt.
Es nützt herzlich wenig, Pläne zu machen, wenn diesePläne nicht umgesetzt werden. Deswegen werden wirauch Vorgaben zur Umsetzung machen. Ich habe amWochenende mit einem Architekten geredet, der denAuftrag hat, einen OP-Saal zu sanieren, auch in hygieni-scher Hinsicht. Er hat mir erzählt, dass während seinerersten Aufnahme der Situation ein leitender Mitarbeitermit einem Tablett voller Wurstbrötchen durch den asepti-schen Bereich des OPs gewandelt ist. Da nützen Hygie-nerichtlinien natürlich nichts.
Da nützen auch große bauliche Maßnahmen nichts. DerFaktor Mensch spielt eine große Rolle. Deswegenkommt den Führungskräften in den Häusern eine beson-dere Verantwortung zu. Sie dürfen es nicht ignorieren,wenn im nachgeordneten Bereich Fehler gemacht wur-den. Mit diesem Gesetz werden die Leiter der Einrich-tungen zukünftig in Haftung genommen, wenn unsereVorgaben nicht eingehalten werden.
Ein zweiter Punkt ist der gezieltere Einsatz von Anti-biotika, um Resistenzen zu minimieren. Wir werden eineneue Kommission einrichten, die sich mit antiinfektiverResistenz und Therapie beschäftigt. Die erarbeitetenStandards werden Gesetzescharakter und dadurch eingrößeres juristisches Gewicht erhalten. Der GemeinsameBundesausschuss wird verpflichtet, diese Indikatorenauf der Grundlage der etablierten Systeme – Erfassung,Auswertung und Rückkopplung – für einen rationalenEinsatz zu erarbeiten, damit Antibiotika nur dort einge-setzt werden, wo es tatsächlich auch angezeigt ist.Ein dritter Punkt ist die sektorübergreifende Präven-tion. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf entspre-chende Anreize schaffen und die vertragsärztliche Ver-gütung verändern. Das Screenen von Risikopatienten,zum Beispiel vor planbaren Operationen, und das Sanie-ren wird vergütet, um das Risiko innerhalb der Klinikenund auch sektorübergreifend – wie gesagt: Der Erregerkann vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder in die Pra-xis transportiert werden – zu reduzieren.Mit der Änderung dieses Infektionsschutzgesetzeswerden wir eine deutliche Verbesserung für die Patientenin Bezug auf ihr Leid erlangen,
aber wir werden auch ein deutliches Mehr an Wirtschaft-lichkeit für die Krankenhäuser und auch für die gesetzli-che Krankenversicherung insgesamt erreichen.
Freilich sind Vorleistungen der Einrichtungen not-wendig, und es gibt eine große Anzahl von Krankenhäu-sern, die Risikopatienten vor geplanten Operationenauch bisher schon screenen und isolieren, wenn dies not-wendig ist. Dies hat sich bewährt. Diese Krankenhäuserhaben kapiert, dass es sich rechnet. Sie haben kapiert,dass man zuerst zwar Geld in die Hand nehmen muss, eszum Schluss aber günstiger und wirtschaftlicher für sieist, das Screening durchzuführen.Zukünftig haben wir hinsichtlich der Qualität einMehr an Wettbewerb in unseren Einrichtungen, und wirhaben zukünftig mehr Transparenz in den Einrichtungen.Dadurch erreichen wir mehr Sicherheit für die Patientin-nen und Patienten.Deswegen gibt es mit diesem Gesetzentwurf, mit derVermeidung von Infektionen, nur Gewinner. Die größtenGewinner sind die Patienten in unserem Land.Herzlichen Dank.
Als Nächster hat unser Kollege Harald Weinberg vonder Fraktion Die Linke das Wort.
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11392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dieser Gesetzentwurf zur Krankenhaushy-giene kommt zu spät.
Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Linksfraktion,meine Fraktion, hat bereits 2009 einen Antrag zur Be-kämpfung von Krankenhausinfektionen vorgelegt. DasRobert Koch-Institut hat gute Richtlinien erlassen. DieNiederlande und andere Staaten zeigen, wie die Zahl derKrankenhausinfektionen durch konsequente Hygiene-standards wirksam gesenkt werden kann.Während die schwarz-gelbe Koalition durch dieSchweinegrippe zu großem Aktionismus befeuertwurde, sah die Bundesregierung beim Thema Kranken-haushygiene jahrelang weg. Tausende Menschenlebenhätten gerettet werden können, wenn früher effektiveMaßnahmen ergriffen worden wären.
An Krankenhausinfektionen sterben in Deutschlandmehr Menschen als an den Folgen von Verkehrsunfällen,illegalen Drogen, Aids und Selbsttötungen zusammen-genommen. Sogar der Bund spricht in seiner Gesund-heitsberichterstattung von bis zu 40 000 Toten jedesJahr. Das sind bis zu 100 Tote jeden Tag. Dieser Zustandwar und ist durch nichts zu rechtfertigen.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich tragische Einzel-schicksale. Insbesondere Patienten mit einem relativschwachen Immunsystem sind betroffen, also Neugebo-rene und ältere Menschen. Im epidemiologischen Be-richt der EU über Infektionskrankheiten von 2010 wirddie Zunahme von Krankenhausinfektionen noch vor derBedrohung durch pandemische Influenza und HIV alsgrößte Gefahr eingeordnet. Verlaufen diese Infektionennicht tödlich, können sie trotzdem schwerwiegendeSchädigungen an verschiedenen Organen hervorrufen.Bleibende Behinderungen und Amputationen können dieFolge sein.Wirksame Maßnahmen für die Verbesserung derKrankenhaushygiene sind also mehr als überfällig:Erstens. Die von der Kommission für Krankenhaus-hygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-In-stitut aufgestellten Richtlinien müssen flächendeckendumgesetzt werden.
Zweitens. Es ist eine grundsätzliche Meldepflicht fürInfektionen mit multiresistenten Keimen und ein ver-bindliches Screening bei der Aufnahme in stationäreEinrichtungen einzuführen.
Drittens. An allen Krankenhäusern müssen Fachärz-tinnen und Fachärzte für Hygiene und Hygienefach-kräfte die Einhaltung von Hygienestandards sicherstel-len. Wir brauchen bundeseinheitliche wirksameSanktionen für den Fall, dass dagegen verstoßen wird.
Viertens. Durch die Vergütungsregelungen und Inves-titionszuschläge für Krankenhäuser müssen Anreize fürdie Einhaltung von Hygienestandards geboten werden.Fünftens. Es müssen entsprechende Fachkräfte ausge-bildet werden, weil es bis jetzt so wenige gibt.Sechstens. Der massenhafte Einsatz von Antibiotikain der kommerziellen Tierhaltung und auch die übermä-ßige Anwendung beim Menschen haben zu einer drama-tischen Zunahme von multiresistenten Keimen geführt.Der Antibiotikaeinsatz ist daher auf das medizinisch not-wendige Maß zu beschränken.
All dies haben wir schon mit unserem Antrag von2009 gefordert. Unseren damaligen Antrag lehnte dieUnion übrigens mit der Begründung ab, die Bundesre-gierung sei, soweit ihre Zuständigkeit das zulasse, be-reits tätig geworden. Es gebe mit dem Infektionsschutz-gesetz und den Krankenhaushygieneverordnungen schoneffektive Regelungen zur Prävention. Deswegen hat dieUnion damals den Antrag abgelehnt.Die FDP, damals Oppositionsfraktion, meinte, dassfür die Einhaltung hygienischer Standards in erster Liniedie Krankenhäuser selbst die Verantwortung trügen. DieBundesregierung dürfe hierfür nicht verantwortlich ge-macht werden. Deswegen hat sie damals dem Antragnicht zugestimmt. – Auf einmal geht es doch.
Nachdem die Presse häufiger über skandalöse Zu-stände und Tote in Krankenhäusern berichtet hat, konn-ten Sie die Suche nach einer Lösung für das Problem of-fensichtlich nicht weiter auf die lange Bank schieben. Esbewegt auch die Bürgerinnen und Bürger: Allein in derletzten und in der aktuellen Wahlperiode sind20 Petitionen, also Eingaben und Beschwerden von Be-troffenen und Bürgern, zum Thema Krankenhaushy-giene beim Deutschen Bundestag eingegangen.In diesen Tagen fühle ich mich an die Geschichte vonIgnaz Semmelweis erinnert. Das war ein ungarisch-österreichischer Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts– also vor 150 Jahren – das verstärkte Auftreten vonKindbettfieber in Krankenhäusern mit Gebärstationenauf mangelnde Handhygiene bei den Ärzten und demPersonal zurückgeführt hat.Seine Erkenntnisse wurden von der Mehrheit seinerFachkollegen damals als spekulativer Unfug abgelehnt,weil sie nicht zur herrschenden Lehrmeinung passten.Semmelweis starb im Irrenhaus, und es gab Gerüchte,die besagen, er sei von seinen eigenen Ärztekollegendorthin abgeschoben worden, weil er zu unbequem war.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11393
Harald Weinberg
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Seine Erkenntnisse zur Krankenhaus- und Handhy-giene setzten sich erst zwei Ärztegenerationen später zuAnfang des 20. Jahrhunderts durch. Es ist eigentlich eineSelbstverständlichkeit, dass sich die Betroffenen daraufverlassen können müssen, sich im Krankenhaus nichtneue, weitere und schwerwiegende Krankheiten zuzu-ziehen. Es ist zu hoffen, dass es nicht zwei Generationendauert, bis das der Fall ist.
Nun bewegt sich die Regierung endlich in die richtigeRichtung. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungbleibt aber hinter dem zurück, was möglich und notwen-dig ist, um Deutschland in Sachen Krankenhaushygienein die europäische Spitzengruppe zu führen. Wir werdenin den weiteren Beratungen darauf drängen, dass die er-forderlichen Verbesserungen vorgenommen werden.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste hat unsereKollegin Maria Klein-Schmeink von der FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.Bitte, Frau Kollegin.
Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Ganz so martialischwie mein Vorredner will ich nicht an das Thema heran-gehen. Es ist zwar leicht, am Ende eines Erkenntnispro-zesses zu sagen: „Wir haben es schon immer besser ge-wusst; jetzt kommt zum Glück die Erkenntnis zumTragen“,
aber ich glaube, man muss ein bisschen fairer damit um-gehen.
– Wie gnädig.In der Tat liegt ein Gesetzentwurf zur Verbesserungder Krankenhaushygiene vor, dessen Inhalt noch vorzwei Jahren vom größeren Teil dieses Hauses abgelehntworden ist. Das sehe ich genauso. Man sieht, dass es ei-nen längeren Erkenntnisprozess gegeben hat, der zu derEinsicht geführt hat, dass wir nicht weiter nur auf frei-willige Maßnahmen und das Engagement der Länderund Kommunen bei der Hygieneüberwachung setzenkönnen, sondern auf allen Ebenen konsequent arbeitenmüssen. So lässt sich die Vorgeschichte beschreiben.Es ist zwar nicht verkehrt, auf die verschiedenen frei-willigen Instrumente einzugehen. Diese nutzen wir auchin vielen anderen Bereichen. Man muss aber deutlich sa-gen, dass der Erkenntnisgewinn zu lange gedauert hat.Ich selber komme aus Münster. Dort kann man erle-ben, dass konsequentes Handeln und ein strikter Hy-giene- und Präventionsplan dazu führen, dass die Infek-tionsraten in den Krankenhäusern massiv gesenktwerden können, nämlich auf ungefähr 1 Prozent wie inden Niederlanden.Als Münsteranerin weiß ich auch, dass man, wennman einen Unfall hat und in ein grenznahes Kranken-haus kommt, als Risikopatient gilt, weil wir – jedenfallsbislang – so schlechte Hygienestandards haben. Das al-les ist ernst zu nehmen und ein Hinweis darauf, dass wirgroße Defizite haben.Der Gesetzentwurf versucht, einige Problemfaktorenanzugehen, und zwar vor allen Dingen mit Regelungen,die über die Länderverordnungen zum Tragen kommensollen. Ein Defizit ist aber, dass Sie die Dinge, die manim Bundesinfektionsschutzgesetz regeln könnte, nichtauch dort regeln, zum Beispiel das Instrument des Scree-nings, das sich in den Niederlanden so gut bewährt hat.Warum gibt es dazu keine gesetzliche Vorgabe im Bun-desinfektionsschutzgesetz? Das leuchtet mir nicht ein.Eine solche Vorgabe würde dazu führen, dass wir bun-desweit einen bestimmten Standard hätten, der überall– sowohl in Krankenhäusern als auch in anderen Ein-richtungen – einzuhalten wäre.
Diesen wichtigen Schritt könnte man gehen. Es ist nichtnachvollziehbar, dass Sie dieses Problem, obwohl wireine Bundeskompetenz dafür haben, nicht auf Bundes-ebene angehen.Die Niederlande profitieren davon, dass sie seit Jahr-zehnten eine sehr restriktive Antibiotikastrategie haben.Was machen wir? Wir setzen erneut eine Kommissionein. Es gab ja schon eine Vorläuferkommission; ichkonnte bei meiner Recherche allerdings keinerlei Ergeb-nisse oder Zwischenberichte finden. Die neue Kommis-sion soll jetzt zwar verbindliche Empfehlungen abgeben,aber das wird dauern. Wir brauchen einen ganz konkre-ten Plan, um in der ambulanten medizinischen Versor-gung wirklich zu einem viel restriktiveren Antibiotika-einsatz zu kommen.Wir wissen alle, dass eine neue und sehr gefährlicheQuelle von MRSA die Landwirtschaft, die Tierzucht, ist.Was ist diesbezüglich vorgesehen? Dieser gesamte Be-reich ist in dem Gesetzentwurf komplett ausgeklammertworden. Es gibt keine gezielten Maßnahmen für die Be-schäftigten in der Landwirtschaft. Ich habe keinen einzi-gen Ansatz in diesem Papier dazu gefunden, was wir inlandwirtschaftlich geprägten Regionen ganz gezielt ma-chen müssen, um zu weiteren Fortschritten zu kommen.
Da besteht ein massiver Nachbesserungsbedarf.
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11394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Maria Anna Klein-Schmeink
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Der Gesetzentwurf liefert aber eine gute Vorlage, umim Sinne des Patientenschutzes voranzukommen. Ichbitte aber darum, zusätzlich die Frage eines neuen EBMnoch einmal genauer zu betrachten. Es geht nicht darum,Anreize zu schaffen. Es geht darum, wirksame Instru-mente wie das Screening sehr zielgerichtet einzusetzen,und zwar nicht als zusätzliche Einkommensmöglichkeitfür Ärzte, sondern um im Übergang zwischen ambulan-ter und stationärer Versorgung sowohl Risiken auszu-schließen als auch die Sanierung von MRSA zu gewähr-leisten.Heute liegt tatsächlich ein Vorschlag für einen Schrittin Richtung Patientenschutz auf dem Tisch. Wir müssenallerdings zusehen, dass er auch wirklich stringent undtatkräftig umgesetzt wird.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat unser
Kollege Lars Lindemann von der Fraktion der FDP das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeWeinberg, die Regierung hat nichts auf die lange Bankgeschoben, wie Sie ganz am Anfang behauptet haben.Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode sehr be-müht, das Thema aufzugreifen. Es hat zwar eine gewisseZeit gedauert, bis wir zu diesem Entwurf gekommensind. Aber das Thema stand von Anfang auf der Agenda.
Das Eingeständnis des Zurückbleibens hinter eigent-lich als selbstverständlich empfundenen Hygienestan-dards im Gesundheits- und Pflegebereich in Deutschlandist nicht angenehm. Es ist auch keine annehmbare Bot-schaft für die Patientinnen und Patienten in unseremLand. Darüber sind wir uns alle einig; das brauchen wir,denke ich, hier nicht weiter zu erörtern.Unser Problem liegt darin, dass es viele unterschiedli-che Versorgungseinrichtungen in diesem Land gibt, diemit großer Selbstverständlichkeit Hervorragendes aufdem Gebiet der Hygiene leisten, jedoch nicht alle so er-folgreich sind, wie wir uns das wünschen und vorstellen.Daran müssen wir miteinander arbeiten.Dies erkennend, geht es in dem von der Koalition vor-gelegten Gesetzentwurf nicht in erster Linie darum, dasVerhalten Einzelner zu pönalisieren oder öffentlich zusanktionieren, sondern darum, die systemischen Unzu-länglichkeiten – so will ich das nennen – herauszuarbei-ten und diesen dann mit gesetzgeberischem Handeln ent-gegenzuwirken.
Wir haben festzustellen, dass jedes Jahr in Deutsch-land Tausende Menschen an Infektionen, die sie sich inverschiedenen Versorgungsbereichen zuziehen, erkran-ken und schlimmstenfalls auch sterben. Das Risiko imVergleich zum Straßenverkehr ist hier bereits mehrfachbeschrieben worden. Diese Auffassung teilen wir. Wirhaben in diesem Zusammenhang festzustellen, dass dieZahl schwer behandelbarer Infektionen, ausgelöst durchmehrfach resistente Erreger, seit Jahren zunimmt.Ebenso ist festzustellen, dass ein übermäßiger und undif-ferenzierter Einsatz von Antibiotika – auch in der Tier-zucht – ganz wesentlich zu Entstehung und Vermehrungneuer resistenter Keime beigetragen hat. Schließlich ha-ben wir festzustellen, dass es regional gut funktionie-rende Netzwerke gibt, die sich der Problemlage ange-nommen haben, jedoch leider nicht flächendeckend.Die Analyse des Vorgehens anderer Länder, aber auchder Ergebnisse einiger Modellprojekte – auch aus IhremHeimatort, Frau Klein-Schmeink – zeigt, dass es An-sätze gibt, die man verfolgen kann. Die Schlussfolgerun-gen, die wir daraus gezogen haben, sind in den Gesetz-entwurf aufgenommen worden.
Durch Verbesserung der Hygienequalität und Verän-derung des Einsatzes von Antibiotika lassen sich tau-sendfaches Leid vermeiden und erhebliche Kosten spa-ren; darauf ist schon hingewiesen worden. DieErsparnisse werden weit über den Aufwendungen lie-gen, die die Umsetzung des Gesetzes nach sich ziehenwird. Es ist deshalb richtig, dass nun alle Bundesländerverpflichtet werden, auf der Grundlage des Infektions-schutzgesetzes Hygieneverordnungen zu erlassen, diesodann beispielsweise die erforderliche Ausstattung mitHygienefachkräften in den adressierten Einrichtungenverbindlich vorschreiben. Es ist richtig, dass die Emp-fehlungen des RKI in Sachen Hygiene für die Adressa-ten einen verbindlichen Charakter erhalten. Es ist zudemzielführend, dass neben der Kommission für die Erarbei-tung von Hygienerichtlinien eine Kommission, die denUrsachenzusammenhang zwischen der Art und Weiseder Verordnung von Antibiotika und der Entstehung vonResistenzen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, einbe-rufen wird.Es ist richtig, dass die Verantwortlichen in den adres-sierten Einrichtungen verpflichtet werden, den Stand dermedizinischen Wissenschaft hinsichtlich Hygiene undauch der Verordnung von Antibiotika einzuhalten haben,der sich dann in den jeweils aktuellen Empfehlungen derKommissionen ausdrückt. Es ist richtig, dass den Leiternder adressierten Einrichtungen verpflichtend aufgegebenwird, das Auftreten von nosokomialen Infektionen beiHäufungen dem zuständigen Gesundheitsamt zu meldenund über die Landesbehörden auch dem RKI mitzutei-len.
Mit den vorgesehenen Vergütungsregeln werden dieVoraussetzungen für ein verbessertes Screening und dieSanierung der betroffenen Patienten geschaffen. Ich bin
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11395
Lars Lindemann
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auf Ihrer Seite, dass wir da mehr tun können. Darüberwerden wir noch Gespräche führen.Zudem wird es Vorgaben zur sektorenübergreifendenQualitätssicherung geben, die, wenn die Indikatoren ge-funden und veröffentlicht sind, zu einem qualitätsför-dernden Wettbewerb führen werden.Zum Schluss. Ich freue mich über die sachorientiertenVorschläge und inhaltliche Unterstützung durch die Op-position. Sie hat konkrete Vorschläge gemacht, aus de-nen hervorgeht, wie wir gemeinsam an einer Verbesse-rung arbeiten können. Ich bin zuversichtlich – und ichwerbe ausdrücklich bei Ihnen, meine Damen und Herrender SPD –, dass wir uns in den anstehenden Berichter-stattergesprächen über das eine oder andere auseinander-setzen können und dass es uns gelingt, unserem gemein-samen Ziel der Reduzierung von Infektionsraten zumSchutz aller Betroffenen ein Stück weit näherzukom-men.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Lindemann. – Nächste auf
meiner Rednerliste ist unsere Frau Kollegin Dr. Marlies
Volkmer von der Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Jeder von uns hat sicherlich schon von solchen tra-gischen Ereignissen gehört: Jemand geht wegen einerRoutineuntersuchung ins Krankenhaus und verstirbt dortan einer Sepsis. Oder ein Mensch muss nach einem Un-fall künstlich beatmet werden und bekommt dann imKrankenhaus eine schwere Lungenentzündung, auf diekein Antibiotikum anspricht.Das sind leider keine bedauernswerten Einzelfälle,sondern das ist hunderttausendfache Realität in deut-schen Krankenhäusern. Wir haben leider auch 7 500 bis15 000 Todesfälle wegen Krankenhausinfektionen inDeutschland.
Diese Zahl zeigt schon ein Problem: Wir wissen über-haupt nicht, wie viele Krankenhausinfektionen wir ge-nau haben. Erstens werden nicht alle Fälle diagnostiziert,zweitens werden nicht alle Fälle gemeldet, und drittenswerden die gemeldeten Fälle nicht zusammengeführt.Das ist ein unhaltbarer Zustand.
Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung und eineVerhaltensänderung, und zwar sowohl in den Einrichtun-gen des Gesundheitswesens als auch in der Politik. Esdarf nicht so sein, dass Hygiene das fünfte Rad am Wa-gen ist; denn ohne einen guten Hygienestandard gibt eskeine sichere und erfolgreiche Behandlung der Patien-ten. Auf eine sichere Behandlung haben Patientinnenund Patienten jedoch einen Anspruch.
Daher ist es auch so wichtig, dass wir in den Universitä-ten wieder flächendeckend Lehrstühle für Hygiene ha-ben.
Als ich studiert habe, gab es diese noch. Ich habe in mei-nem Staatsexamen noch eine Prüfung in Hygiene able-gen müssen. Das halte ich auch für richtig.
Nun geht die Bundesregierung das Problem der Kran-kenhaushygiene mit einem Gesetzentwurf an, aber es ist– das ist schon gesagt worden – ein äußerst zaghafterEntwurf.
Ein Beispiel sind die Antibiotikaresistenzen. Die Ursa-chen für Antibiotikaresistenzen sind komplex. Eine Ur-sache führt der Gesetzentwurf ausdrücklich auf. Es istdie unsachgemäße Verordnung von Antibiotika, undzwar sowohl für Menschen als auch für Nutztiere. Dochstatt eine Strategie vorzustellen, wie man damit sinnvollumgehen kann, gründet die Bundesregierung eine neueKommission,
zusätzlich zur bereits bestehenden Kommission fürKrankenhaushygiene und Infektionsprävention. Aberwas passiert denn, wenn die Leiter von medizinischenEinrichtungen den Empfehlungen solcher Kommissio-nen nicht folgen? Nichts passiert. Wir brauchen aber fürsolche Fälle Sanktionsmöglichkeiten, zum Beispiel inForm von Vergütungsabschlägen, die Krankenhäuser al-lethalben dann hinnehmen müssen.Ein Thema, das Sie bei der Erstellung des Gesetzent-wurfes überhaupt nicht auf dem Radarschirm hatten, istdie unzureichende Personalausstattung der Kliniken.
Je größer der Zeitdruck, desto flüchtiger wird zum Bei-spiel die Händedesinfektion ausfallen. Das ist nun ein-mal eine ganz einfache und wirkungsvolle Methode inder Hygiene. Ein Vergleich zwischen Deutschland undden Niederlanden ist aufschlussreich. In einer deutschenIntensivstation versorgt eine Pflegekraft drei Patienten,in den Niederlanden ist das Verhältnis nahezu eins zueins. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,wenn Sie weiter auf Kosten der Beschäftigten in denKrankenhäusern sparen, wie mit der letzten Gesund-heitsreform geschehen, wird sich der Zeitdruck in denKrankenhäusern weiter erhöhen. Das steht einem konse-quenten Hygienemanagement und einer Senkung der In-fektionsraten absolut entgegen.
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11396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Marlies Volkmer
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Das ist aber das Letzte, was wir gebrauchen können;denn es darf nicht sein, dass jemand wegen einer Kran-kenhausinfektion kränker aus dem Krankenhaus heraus-kommt, als er hineingegangen ist.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Volkmer. – Jetzt hat
als Nächster unser Kollege Erwin Rüddel für die Frak-
tion der CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! 2011 wird das Jahr der Patientinnen und Pa-tienten.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher insbesondere denvorliegenden Gesetzentwurf. Ich freue mich über diedurchaus positive Bewertung dieses Gesetzentwurfsdurch die Opposition. Ich denke, wir werden bei diesemGesetz zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden.Mit dem Gesetz werden die Voraussetzungen geschaf-fen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern und beimedizinischen Behandlungen durchgreifend zu verbes-sern sowie die Infektionsrate durch Krankenhauskeimedeutlich zu reduzieren.In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Mel-dungen über infektionsbedingte Todesfälle, die mitRecht Unruhe und Sorgen in der Bevölkerung ausgelösthaben. Nach vorsichtiger Schätzung von Experten sindin Deutschland durch Infektionen in Kliniken, die aufmangelnde Hygiene zurückzuführen sind, jährlich zwi-schen 7 500 und 15 000 Todesfälle zu beklagen. Darüberhinaus erkranken jedes Jahr schätzungsweise rund400 000 bis 600 000 Patientinnen und Patienten an In-fektionen, die im Zusammenhang mit einer medizini-schen Maßnahme stehen. Nach anderen Schätzungenmuss sogar von noch höheren Fallzahlen ausgegangenwerden.Unabhängig davon, welcher Einschätzung wir jeweilsGlauben schenken und mehr Plausibilität zubilligen wol-len: Es besteht in jedem Fall ein dringender Handlungs-bedarf. Jede zusätzliche Infektion bedeutet persönlichesLeid.
Durch das Gesetz werden die Bundesländer verpflich-tet, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Ver-ordnungen zur Infektionshygiene und zur Präventionvon resistenten Krankheitserregern in medizinischenEinrichtungen zu erlassen. Durch einheitliche Standardsund Qualitätsberichte sowie durch zusätzlichen Exper-tenrat und Präventionsmaßnahmen nach dem Stand dermedizinischen Wissenschaft lassen sich – das sagenFachleute – rund 30 Prozent der Infektionen mit Klinik-keimen vermeiden.Hinzu kommt, dass wir Anreizsysteme für die nieder-gelassenen Ärzte schaffen wollen, die bereits im Vorfeldverhindern sollen, dass gefährliche Keime überhaupt indie Krankenhäuser gelangen.
Ein Auslöser der öffentlichen Diskussion über man-gelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern warenzweifellos die beklagenswerten Vorfälle im vorigenSommer auf der Intensivstation der UniversitätsklinikMainz. Auch wenn sich zwischenzeitlich herausgestellthat, dass diese nicht die Folge mangelnder Hygiene, son-dern einer Vergiftung aufgrund einer verseuchten Infu-sionslösung waren, hätte dies für das zuständige Gesund-heitsministerium in Mainz Veranlassung sein können,eine eigene Hygieneverordnung für die Ärzte und Kran-kenhäuser in Rheinland-Pfalz zu erlassen, wozu die Ge-setzeslage dem Land durchaus Handhabe gegeben hätte.
Die verantwortliche Ministerin in Mainz, Frau Dreyer,hat dies allerdings versäumt,
und das steht leider auch beispielhaft für Defizite undVersäumnisse der Gesundheitspolitik in Rheinland-Pfalz.
Auch deshalb ist es gut und richtig, dass nun der Bunddie Initiative ergreift und wir den vorliegenden Gesetz-entwurf beraten. Für uns ist dabei entscheidend, dassHygienepersonal in die Krankenhäuser kommt, dass dieHygieneleitlinien des Robert-Koch-Instituts verbindlichwerden und dass es jährliche Qualitätsberichte gibt.Nicht recht verständlich ist mir in diesem Zusammen-hang die Kritik der Deutschen Krankenhausgesellschaftan unserem Vorhaben. Der Kampf gegen mangelndeSauberkeit, unzureichende Reinigung oder verschmutz-tes Operationsgerät in unseren Krankenhäusern sollteeine bare Selbstverständlichkeit sein.Ja, es stimmt: Wir wollen, dass Hygienebeauftragteund zusätzliche Ärzte neu eingestellt werden, damit indeutschen Krankenhäusern das Augenmerk verstärkt aufSauberkeit und Hygiene gelegt wird. Das wird Geld kos-ten. Auf der anderen Seite aber werden diese Mehrkos-ten dadurch mehr als ausgeglichen, dass Infektionen mitall ihren entsprechenden Folgekosten in großer Zahl ver-mieden werden.Der GKV-Spitzenverband hat mit Recht darauf hinge-wiesen, dass die Krankenhäuser allein in diesem Jahr1,9 Milliarden Euro zusätzlich von den Beitragszahlernerhalten. Mit diesem Geld sollte sich einiges bewirken
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Erwin Rüddel
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lassen, um die hygienische Situation in unseren Klinikenzu verbessern.
Der Gemeinsame Bundesausschuss wird dazu geeigneteStandards und Vergleichsmarken entwickeln, die für dieQualitätsberichte der Krankenhäuser als Richtschnurdienen werden.Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurfsind wir auf dem richtigen Weg. Wir unterstützen denGesundheitsminister in seinem Bestreben, auf dieseWeise unser Gesundheitswesen zu stärken. Wir werdendeshalb gemeinsam – dabei schließe ich die Oppositionmit ein – für eine bundeseinheitliche gesetzliche Rege-lung zur Verbesserung der Hygiene in Krankenhäusernund anderen medizinischen Einrichtungen sorgen.
Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Mir liegenkeine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/5178, 17/4489 und 17/5203 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Es sprichtniemand dagegen. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Erweiterung des Kündigungs-schutzes der Arbeitnehmerinnen und Ar-
– Drucksache 17/648 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Wolfgang Neškoviæ, Jan Korte,Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zum Verbot der Verdachts-kündigung und der Erweiterung der Kün-digungsvoraussetzungen bei Bagatelldelik-ten– Drucksache 17/649 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/4281 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolbb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger,Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUngerechtigkeiten bei Bagatellkündigungenkorrigieren – Pflicht zur Abmahnung einfüh-ren– Drucksachen 17/1986, 17/4281 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. KolbInterfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto-koll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgenderKolleginnen und Kollegen – ich lasse die Fraktionsbe-zeichnung jetzt weg und erwähne nur die Namen –: Kol-legin Gitta Connemann, Kollege Ottmar Schreiner1),Kollegin Gabriele Molitor,
Kollegin Sabine Zimmermann, Kollegin IngridHönlinger, Kollege Ulrich Lange und Kollege JohannesVogel. Die Reden sind somit zu Protokoll genommen.2)Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim-mung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zurErweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehme-
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4281, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/648 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratungabgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-nung die weitere Beratung.Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 12 a. Wirkommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf derFraktion Die Linke zum Verbot der Verdachtskündigungund der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungenbei Bagatelldelikten. Der Ausschuss für Arbeit und So-ziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/4281, den Gesetzentwurf derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/649 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiterBeratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunkt 12 b. Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Arbeit und Soziales zu dem Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ungerechtigkei-ten bei Bagatellkündigungen korrigieren – Pflicht zurAbmahnung einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/4281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/1986 abzulehnen. Wer stimmt1) Der Redebeitrag lag zu Redaktionsschluss nicht vor und wird zu ei-nem späteren Zeitpunkt abgedruckt.2) Anlage 3
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11398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist somit angenom-men.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten HorstMeierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPTourismus und Landschaftspflege verknüpfen– Gemeinsam die Entwicklung ländlicherRäume stärken– Drucksachen 17/2478, 17/5117 –Berichterstattung:Abgeordnete Marlene MortlerHeinz PaulaHorst MeierhoferKornelia MöllerMarkus TresselInterfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zuProtokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden fol-gender Kolleginnen und Kollegen: Kollege HorstMeierhofer,
Kollege Heinz Paula, Kollegin Marlene Mortler,
Kollege Dr. Ilja Seifert, Kollege Markus Tressel, Kol-lege Klaus Brähmig und Kollege Dr. Edmund Geisen.1)
Der Beifall zeigt, dass alle einverstanden sind, dass dieReden zu Protokoll genommen werden.
– Okay, den Eindruck habe ich auch gehabt.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Tourismus zu dem Antrag der FraktionenCDU/CSU und FDP mit dem Titel „Tourismus undLandschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Ent-wicklung ländlicher Räume stärken“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/5117, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU undFDP auf Drucksache 17/2478 anzunehmen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.1) Anlage 4Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuchund Leistungseinschränkungen im ZwölftenBuch Sozialgesetzbuch abschaffen– Drucksache 17/5174 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstKollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. Bitteschön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 9. Fe-bruar 2010 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dassdie Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig sind unddass das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzmi-nimum für Hilfebedürftige dem Grunde nach unverfüg-bar ist. Dieses Urteil ging zurück auf eine Klage vonThomas Kallay. Nur wenige Tage nach dem Urteildrohte das zuständige Jobcenter Frau Kallay unter win-digen Vorwänden eine 100-prozentige Sanktion an. 100-prozentige Sanktion meint den kompletten Entzug derHartz-IV-Leistung.
Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Damacht ein Erwerbsloser von seinen rechtsstaatlichenRechten Gebrauch, klagt, bekommt Recht, aber kurz da-rauf droht seiner Frau der komplette Entzug des ohnehinniedrigen Hartz-IV-Regelsatzes. Hier deutet sich dochan, dass Sanktionen disziplinierend eingesetzt werdenund die Wehrhaftigkeit von Betroffenen untergraben sol-len. Deswegen gehören sie abgeschafft.
Zum Glück kannte die Familie einige Abgeordnete. Alses Nachfragen aus ganz unterschiedlichen politischenRichtungen gab, wurde diese Androhung auch zurückge-zogen.Doch nicht jeder, der von Sanktionen betroffen ist, hatdieses Glück. Jährlich werden mehr als 700 000 Sanktionenverhängt. Eine Sanktion bedeutet in diesem Zusammen-hang, dass die ohnehin niedrigen Regelleistungen gekürztwerden. Die Wirkung dieser Sanktionen ist verheerend.Zum einen widersprechen sie dem Grundrecht auf ein so-ziokulturelles Existenzminimum, zum anderen führen sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11399
Katja Kipping
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bei den Betroffenen zu Existenzangst, ja, zu richtigerexistenzieller Not. Um das noch einmal zu verdeutlichen:Jeden Monat sind im Durchschnitt 12 000 Menschen vomkompletten Entzug der Hartz-IV-Leistungen betroffen.Ja, selbst Schwangere werden mit dem kompletten Ent-zug der Leistungen bedroht, wenn sie nicht jeden 1-Euro-Job, nicht jedes Jobangebot annehmen.
Die Betroffenen werden durch diese Sanktionsmöglich-keit wehrlos gegenüber ausbeuterischen Arbeitsverhält-nissen.Ich habe von einem Fall gehört, bei dem eine Frau ineinem Bewerbungsgespräch nur kritisch die Höhe desangebotenen Lohnes, der übrigens sehr niedrig war, hin-terfragt hat. Daraufhin ist sie nicht eingestellt worden. Eswurde ein Vermerk angefertigt, dass dort kritisch nach-gefragt worden ist, und ihre Unterlagen wurden mit die-sem Vermerk an die Bundesagentur zurückgeschickt.
Ihr wurde sofort der Regelsatz gekürzt mit dem Hinweisdarauf, das sei ein Fall von fehlender Mitwirkung.Hinzu kommen enorm hohe Fehlerquoten. 37 Prozentaller Widersprüche gegen Sanktionen ist in Gänze statt-gegeben worden. Das heißt, dass diesen Leuten nach-weislich zu Unrecht das Existenzminimum vorenthaltenwurde. Ich möchte Sie einmal erleben, wenn Ihnen überMonate hinweg die Diäten einfach nicht überwiesenwerden.
Hier reden wir über Menschen, die wirklich kaum ein fi-nanzielles Polster haben.
Das zentrale Argument der schwarz-gelben Bundesre-gierung lautet – Zitat –:… Sanktionen dienen dazu, die Besetzung von Ar-beitsplätzen zu unterstützen …Schauen wir uns doch einmal das Verhältnis von offe-nen Stellen zu Erwerbslosen an. Wenn wir die offiziellenStatistiken betrachten und nur die offensichtlichstenTricks bei der Berechnung von Arbeitslosen herausneh-men, erhalten wir folgendes Ergebnis: Auf eine offeneStelle kommen zehn Erwerbslose. Egal wie sehr sie sichbemühen, müssen von diesen zehn also neun leer ausge-hen. Das ist nüchterne Mathematik.Das heißt, das Problem ist nicht die angebliche Ar-beitsunwilligkeit; das Problem ist, dass es diese Ge-sellschaft nicht schafft, die vorhandene Erwerbsarbeitgerecht zu verteilen, zum Beispiel durch Arbeitszeit-verkürzung.
Die Linke fordert deswegen: Weg mit den Sanktio-nen. Wir fordern, die vorhandene Erwerbsarbeit durchArbeitszeitverkürzung gerechter zu verteilen.Ja, wir lehnen Zwang zur Arbeit genauso ab wie Er-werbslosigkeit wider Willen; denn beides widersprichtunserem Verständnis von einer freiheitlichen und einerhumanistischen Gesellschaft.Insofern möchte ich mit dem Zitat des HumanistenErich Fromm enden. Er sagte,daß der Mensch unter allen Umständen das Rechthat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung undUnterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildungusw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, dasunter keinen Umständen eingeschränkt werdendarf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Be-treffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“.So weit der Humanist Erich Fromm.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat unser
Kollege Dr. Carsten Linnemann von der Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kipping,herzlichen Dank für die Einführung. In der Tat machenSie den Vorschlag, die Sanktionen abzuschaffen, sodassdie Menschen, die von der Solidargemeinschaft Unter-stützung bekommen, am Ende keiner Kontrolle mehr un-terliegen.
Die Frage ist: Macht das Sinn? Diese Frage muss mansich stellen. Wir verneinen das, und ich will es Ihnenauch begründen.Zunächst einmal müssen wir uns fragen: WelcheGruppen werden von der Solidargemeinschaft unter-stützt?Zum einen ist das die Gruppe der Menschen, die amRande der Gesellschaft stehen. Dabei handelt es sich umMenschen, die sich nicht selber helfen können. Sie kön-nen nicht, wie Röpke sagt, wenn sie Hilfe suchen, ihrenrechten Arm nehmen. Das sind Menschen, die unsereUnterstützung brauchen – wie geistig Behinderte, kör-perlich Behinderte und andere. Diese Menschen brau-chen Solidarität, und zwar nicht nur die normale Solida-rität, sondern die bedingungslose Solidarität.
Zum anderen gibt es die Menschen, über die Sie spre-chen, nämlich die SGB-II-Empfänger. Das sind Lang-zeitarbeitslose, die von der Solidargemeinschaft unter-
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Dr. Carsten Linnemann
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stützt werden, also von den Menschen, die mit ihrenEinkommensteuern und Umsatzsteuern das soziale Netzin Deutschland finanzieren. Das kann man ja einmal aus-sprechen. Auch die Langzeitarbeitslosen brauchen un-sere Solidarität – aber nicht bedingungslos. Das ist derUnterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik.
Jetzt habe ich so viel über Solidarität gesprochen.Was steckt hinter Solidarität? Das Ganze ist nichts ande-res als eine Vertragsvereinbarung zwischen Menschen,die in das System einzahlen, also die Solidargemein-schaft, und Menschen, die das Geld abrufen und gleich-zeitig eine Gegenleistung erbringen. Es ist also nichtsanderes – Herr Zimmer, Sie haben es letztens gesagt –als das Prinzip der Reziprozität. Das heißt, Solidarität istkeine Einbahnstraße, sondern beruht auf dem Prinzip derGegenseitigkeit.Für diese Gegenseitigkeit bedarf es Schranken. DieseSchranken sind wichtig, damit – –
Schnaufen Sie einmal schnell durch. Es gibt den
Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zu-
lassen?
Ja, gerne.
Jetzt ist die Zwischenfrage unserer Kollegin gerne er-
laubt.
Ich habe vernommen, dass Sie annehmen, dass Men-
schen, die keiner Berufstätigkeit nachgehen, keine für
die Gesellschaft nützliche Arbeit verrichten.
Ich kenne jede Menge Mütter, die ihre Kinder erziehen.
Ich kenne jede Menge Menschen, die Steuern zahlen,
weil sie Lebensmittel, Kleidung und alle Sachen, die sie
für ihren alltäglichen Bedarf benötigen, einkaufen und
natürlich wie jeder andere auch Mehrwertsteuer zahlen.
Natürlich tragen sie zur Solidargemeinschaft bei. Wieso
diskreditieren Sie hier Menschen, bloß weil sie vom Ar-
beitsprozess ausgeschlossen sind? Was meinen Sie, wie
viele dieser Menschen sich in dieser Zeit gegen Atom-
kraft oder für sehr viele andere Sachen engagieren, die
ohne bürgerschaftliches Engagement überhaupt nicht
mehr laufen würden, weil so viel weggekürzt worden
ist?
Ich habe eben versucht, zu erklären, was die Solidar-gemeinschaft ist. Das sind in erster Linie die Menschen,die in Deutschland arbeiten gehen, Einkommensteuerund andere Dinge zahlen. Natürlich gehören auch dieMenschen dazu, die einkaufen gehen und mit der Mehr-wertsteuer einen Beitrag leisten; aber in erster Linie sindes die Menschen, die den Kuchen, der in Deutschlandverteilt wird, erst erwirtschaften. Das ist so. Damit habeich nichts Falsches gesagt, sondern nur das, was Realitätist.
Lassen Sie mich zu den Schranken zurückkommen.Wir brauchen Schranken, damit das Prinzip der Gegen-seitigkeit funktioniert, damit wir ein gutes Zusammenle-ben in der Gesellschaft haben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil anscheinend kaumnoch jemand zuhört – Sie haben eben auch nicht zuge-hört, sonst hätten Sie die Frage nicht gestellt –,
in die Wirtschaftsgeschichte einsteigen. Ich bin Fan vonAdam Smith, dem alten Schotten, der gesagt hat: Es be-darf verschiedener Schranken, damit das Zusammenle-ben funktioniert. In der Familie gibt es eine natürlicheSchranke, weil der eine für den anderen einsteht: Wennmein Bruder einen Platten hat, helfe ich ihm; da brau-chen wir keine Gesetze.
Eine Ebene höher finden wir die Schranke in der Dorfge-meinschaft, im Vereinsleben – Adam Smith bezeichnetsie als die „Schranke der Ethik“ –: Man tut etwas odertut es nicht; man läuft nicht nackt über den Sportplatz,weil man das einfach nicht tut.Wenn diese Schranken nicht funktionieren, dannkommen gesetzliche Schranken zum Einsatz, damit dasPrinzip der Gegenseitigkeit funktioniert. Bei Hartz IVmachen wir nichts anderes:
Damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert,brauchen wir Schranken. Sanktionen sind hier ein Instru-ment. Wir nutzen dieses Instrument, damit das, was dieSolidargemeinschaft einzahlt, sachgerecht verwendetwird. Ich bin sicher, dass das System der Sanktionenfunktioniert.Frau Kipping, Sie haben absolute Zahlen genannt; dasist clever. Man muss aber sagen, dass die Quote derFälle, in denen es zu Sanktionen kommt, in den verschie-denen Bundesländern zwischen 2 und 4 Prozent liegt.Das System funktioniert. Insofern räume ich Ihrem An-trag wenig Chancen ein. Wir können gerne im Aus-schuss darüber reden; aber wir werden diesen Antragnicht unterstützen.Ich bedanke mich, wünsche Ihnen einen schönenAbend und zu dieser Zeit auch eine geruhsame Nacht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11401
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Vielen Dank für die höfliche Schlussformel. – Als
Nächste hat unsere Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von
der Fraktion der SPD das Wort.
Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Linken! Sie beklagen in Ihrem Antrag Sanktionenund Leistungseinschränkungen bei Hartz IV und in derSozialhilfe. Es ist richtig: In beiden Gesetzen sind ent-sprechende Möglichkeiten verankert. Ich stimme Ihnenzu: Gerade vor dem Hintergrund des Urteils der oberstenVerfassungsrichter zur Grundsicherung vom Februar2010 gehören Sanktionen und Leistungskürzungen aufden Prüfstand. Deshalb haben wir bereits am 30. No-vember 2010 einen Entschließungsantrag zu diesemThema eingebracht.Die Erfahrungen mit dem Instrument der Sanktionenim Sozialgesetzbuch II zeigen, dass diese in der Regelstark überschätzt werden. Die bessere Alternative zuSanktionen ist die intensive Betreuung und Unterstüt-zung von langzeitarbeitslosen Menschen durch derenFallmanager.
Eines wissen wir genau: Die große Mehrheit der Ar-beitsuchenden will arbeiten und wäre froh, wenn einpassender Arbeitsplatz zur Verfügung stünde.
Unser Anliegen muss deshalb sein, so viel Unterstützungzur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wie irgendmöglich zu leisten. Leider geht die schwarz-gelbe Bun-desregierung den genau entgegengesetzten Weg. Siekürzt ausgerechnet bei der aktiven Arbeitsmarktpolitikmassiv. Im Vergleich der Jahre 2010 und 2011 wurde derMittelansatz von 6,6 Milliarden Euro auf 5,3 MilliardenEuro eingedampft. Das bedeutet durchschnittliche Bud-getkürzungen um 21 Prozent gegenüber 2010.
Einige Jobcenter wie zum Beispiel das in meinem Wahl-kreis sind noch härter betroffen und müssen mit bis zu30 Prozent weniger auskommen. Das, meine Damen undHerren, ist der falsche Weg.
Fördern kostet erst einmal Geld. Doch es rechnet sichmittel- und langfristig auf jeden Fall. Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen der Linken, sprechen in Ihrem Antragdie jugendlichen Arbeitslosengeld-II-Bezieher unter25 Jahren an. Nach einer aktuellen Bertelsmann-Studiehaben 58 400 Jugendliche im Jahr 2009 die Schule ohneAbschluss verlassen. Das entspricht einer Abbrecher-quote von 7 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar. Das istviel zu hoch.
Wir wissen: Ein fehlender Schulabschluss oder eineabgebrochene Berufsausbildung stellen besondersschwere Vermittlungshemmnisse dar. Deshalb muss esunser Ziel sein, Jugendliche auf ihrem Weg ins Berufsle-ben mit aller Kraft zu unterstützen und zu begleiten.
Wir von der SPD haben hierfür 2008 einen Rechtsan-spruch auf das Nachholen eines Hauptschulabschlussesgeschaffen und den Ausbildungsbonus auf den Weg ge-bracht. Bis zum September 2010 haben mehr als 40 000Altbewerberinnen und Altbewerber durch den Ausbil-dungsbonus eine echte Berufseinstiegschance erhalten.Das, meine Damen und Herren, ist eine gute Investitionin die Zukunft.
Es ist unfassbar, dass ausgerechnet dieses wichtigeFörderinstrument von Ministerin von der Leyen nichtverlängert wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns steht ganzklar das Fördern im Vordergrund. Sanktionen dürfen nie-mals Schikane oder Demütigung, sondern lediglich einletztes Druckmittel sein.Wir müssen uns die Sanktionsmöglichkeiten sehr ge-nau anschauen. Gänzlich auf sie zu verzichten, halte ichfür falsch; denn wir brauchen auch ein Instrument zurDurchsetzung von Zielvereinbarungen bei der Eingliede-rung und zum Schutz vor Missbrauch.Wie sieht es nun in der Sozialhilfe aus? Sie ist das un-terste Auffangnetz für besonders hilfebedürftige Men-schen. Deshalb müssen wir hierbei ganz besonders da-rauf achten, dass das Existenzminimum abgesichert istund nicht unterschritten wird.Es gibt zwei „Sanktionsparagrafen“ in der Sozialhilfe,die §§ 26 und 39 SGB XII. In § 39 heißt es:Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Ver-pflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit oder dieTeilnahme an einer erforderlichen Vorbereitung ab,vermindert sich der maßgebende Regelsatz in einerersten Stufe um bis zu 25 vom Hundert, bei wieder-holter Ablehnung in weiteren Stufen um jeweils biszu 25 vom Hundert. Die Leistungsberechtigten sindvorher entsprechend zu belehren.Ich habe im Sozialamt meines Wahlkreises nachge-fragt, wann und wie oft diese Möglichkeit der Leistungs-kürzung eingesetzt wird. Die Antwort lautete: nie.
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11402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Gabriele Hiller-Ohm
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Nach der Reform der Grundsicherung 2005 unterRot-Grün sind alle Leistungsempfänger, die mehr alsdrei Stunden täglich arbeiten können, aus der Sozialhilfeherausgenommen und in Hartz IV überführt worden.Das bedeutet, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen,überhaupt nicht erwerbstätig sein können. Deshalb ist esrichtig, diesen Paragrafen infrage zu stellen. Wenn erkeine Bedeutung mehr hat, sollten wir ihn streichen.Anders verhält es sich mit § 26, in dem es heißt:Die Leistung soll bis auf das zum LebensunterhaltUnerlässliche eingeschränkt werden1. bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendungdes 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermö-gen vermindert haben in der Absicht, die Vorausset-zungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leis-tung herbeizuführen,2. bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrungihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen.So weit wie möglich ist zu verhüten, dass die unter-haltsberechtigten Angehörigen oder andere mit ih-nen in Haushaltsgemeinschaft lebende Leistungsbe-rechtigte durch die Einschränkung der Leistungmitbetroffen werden.Dieser Paragraf kommt zumindest in meinem Wahl-kreis so gut wie nie zur Anwendung. Die wenigen Fällebetreffen Rückforderungen von zu viel ausbezahlter So-zialhilfe. Es werde in jedem Einzelfall sehr genau ge-prüft – das erfuhr ich von dem Sozialamt in meinemWahlkreis –, ob eine Rückzahlung überhaupt möglich seiund inwieweit Angehörige möglicherweise unter einerLeistungskürzung zu leiden hätten. Wenn eine Rückzah-lung unzumutbar sei, werde darauf verzichtet.Auch wenn Leistungsmissbrauch nur selten vor-kommt, halte ich es für richtig, diese Sanktionsmöglich-keit zum Schutz der Solidargemeinschaft aufrechtzuer-halten.
Menschen, die Sozialleistungen widerrechtlich in An-spruch nehmen, müssen mit Konsequenzen rechnen. Dasgilt für die Sozialhilfe und gleichermaßen für Hartz IV.In § 1 des Sozialgesetzbuches XII steht als erster Satz,und zwar nicht erst seit dem Urteilsspruch der Bundes-verfassungsrichter vom letzten Jahr:Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsbe-rechtigten die Führung eines Lebens zu ermögli-chen, das der Würde des Menschen entspricht.Diesen Leitsatz müssen wir natürlich insbesondere imHinblick auf Leistungskürzungen sehr genau im Auge ha-ben. Das Gesetz sieht deshalb vor, dass Leistungen nichtbeliebig, sondern nur bis auf das Unerlässliche gekürztwerden dürfen. Das bedeutet, das materielle Existenzmi-nimum darf nicht angetastet werden. Einschränkungensind nur im Bereich des soziokulturellen Existenzmini-mums möglich. Dies steht aus meiner Sicht nicht im Wi-derspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtsvom 9. Februar 2010. Die Bundesrichter räumen einengewissen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung derLeistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein. Siesagen sehr deutlich, dass der Gestaltungsspielraum beiden Leistungen zur Sicherung der physischen Existenzsehr eng begrenzt ist und er nur etwas größer ist, wenn esum Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichenLeben geht.Danke für Ihre Aufmerksamkeit bei diesem so wichti-gen Thema.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Als Nächs-
ter spricht für die FDP-Fraktion Kollege Pascal Kober. –
Bitte schön, Kollege Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerSozialstaat hat zwei Seiten. Auf der einen Seite gibt esdiejenigen, die auf die Leistungen des Sozialstaates an-gewiesen sind, und auf der anderen Seite gibt es diejeni-gen, die mit ihrer Hände oder ihrer Köpfe Arbeit daserwirtschaften, was der Sozialstaat als Leistung denjeni-gen zur Verfügung stellt, die auf Leistung angewiesensind. Beiden Seiten muss die Politik gerecht werden.Deshalb ist das Sozialgesetzbuch II – das sind die soge-nannten Hartz-IV-Gesetze – geprägt vom Prinzip desFörderns auf der einen und des Forderns auf der anderenSeite.Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Menschenschulden sie sich gegenseitig. Beide Seiten sind sich So-lidarität schuldig. Deshalb geht kein Weg daran vorbei,dass die einen Steuern zahlen, durch die die Sozialleis-tungen finanziert werden, und zugleich die anderen dasihnen Mögliche tun, um aus ihrer Notsituation herauszu-kommen.
Im Bereich des Förderns hat diese Regierung schoneiniges unternommen, um gerade bei diesem Aspekt zuVerbesserungen zu kommen. Mit der Jobcenterreformhaben wir sichergestellt, dass die Betreuung der Men-schen weiterhin vernünftig und kompetent aus einerHand erfolgt. Zudem haben wir den Schlüssel für dieBetreuung durch die Jobcenter im Rahmen des SGB IIauf 1: 75 für die unter 25-Jährigen und auf 1: 150 für dieüber 25-Jährigen gesenkt. Damit möchten wir sicherstel-len, dass die Mitarbeiter der Jobcenter gezielt auf diespezifischen Probleme der Arbeitsuchenden eingehenund sie besser bei der Arbeitsaufnahme unterstützenkönnen.Wir werden in den kommenden Wochen mit der Re-form der arbeitsmarktpolitischen Instrumente sicherstel-len, dass diese Instrumente in Zukunft gezielter und wir-kungsvoller zum Wohle der Arbeitsuchenden eingesetztwerden können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11403
Pascal Kober
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Doch zum Aspekt des Förderns gehört auch derGrundsatz des Forderns.
Aus diesem Grund werden Eingliederungsvereinbarun-gen abgeschlossen. Darin enthalten sind genau die Maß-nahmen, die nach Ansicht des Jobcenters hilfreich für dieArbeitsaufnahme sind. Ich finde, es ist nicht verwerflich,wenn wir im Rahmen der Eingliederungsvereinbarungenden Menschen gegenüber Erwartungen formulieren, wiezum Beispiel Terminen im Jobcenter nachzukommen,eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen zu schreibenoder notwendige Fortbildungen zu besuchen. Natürlichwäre es uns am liebsten, wenn keine Sanktionen ausge-sprochen werden müssten, weil wir keine Probleme beider Aktivierung hätten und die Menschen immer sehr ein-fach einen Job finden würden. Es stellt sich aber dieFrage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wenn je-mand diese Hilfe bewusst oder vielleicht auch unbewusstnicht in Anspruch nimmt, aber dennoch die Unterstüt-zung der Solidargemeinschaft erwartet.Der Antrag der Linken schlägt vor, in diesem Fallkomplett darauf zu verzichten, Sanktionen auszuspre-chen. Doch was wäre die Folge eines solchen Verzichts?Er würde sicherlich nicht mehr Menschen in Arbeit brin-gen. Aussagen von Mitarbeitern der Jobcenter verdeutli-chen uns, dass für viele Menschen, gerade für jungeMenschen, solch eine Sanktion unter Umständen einhilfreicher Schuss vor den Bug sein kann.Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung zwi-schen denjenigen, die sich bemühen – egal ob die Bemü-hungen erfolgreich oder erfolglos sind –, und denjeni-gen, die keinerlei Anstrengungen unternehmen. Dieshalte ich für ungerecht, und es trägt auch nicht zur Moti-vation der Arbeitsuchenden bei.Zudem müssen wir die Frage stellen, welche Akzep-tanz die Grundsicherung für Arbeitsuchende bei den Er-werbstätigen, also denjenigen, die die Grundsicherungdurch ihre Arbeit finanzieren, hätte, wenn es keine Not-wendigkeit zur Eigeninitiative gäbe.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Siezeichnen gerne ein Bild, das zeigen soll, dass so gut wiejeder Bezieher von Arbeitslosengeld II von Sanktionenbetroffen wäre. Aber tatsächlich betrifft das nur einenganz geringen Teil der Arbeitsuchenden. Laut einer Stu-die des IAB betrug die Quote der tatsächlich mit Sank-tionen belegten Personen im Jahr 2010 nur 3,7 Prozent.
Das zeigt, wie hoch die Motivation der Arbeitsuchendenist. Das zeigt auch, wie hoch die Kompetenz der Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ist, wennes um die Unterstützung der Arbeitsuchenden geht.
Ich kann Ihnen versichern, dass es den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern in den Jobcentern sicherlich nichtleichtfällt, in Einzelfällen Sanktionen auszusprechen.Wir sollten nicht so tun, als würden die Jobcenter Sank-tionen aus Jux und Tollerei verhängen. Das ist mit Si-cherheit nicht der Fall und wird den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern in den Jobcentern nicht gerecht.Was werden wir machen? Wir werden mit Sicherheitauf die Ausbildung und die Stärkung der Kompetenz derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern set-zen, gerade in der nahen Zukunft. Aber es wäre auchschon heute ungerecht, es diesen Personen gegenüber sodarzustellen, als würden sie Sanktionen aus Jux und Tol-lerei aussprechen.
Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Soli-darität durch die Gesellschaft, aber dafür kann die Ge-sellschaft auch eine Gegenleistung erwarten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Als Nächster
käme, wenn er die Rede nicht zu Protokoll gegeben
hätte, der Kollege Markus Kurth von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Rede ist damit zu Protokoll
genommen.
Jetzt ist – er steht schon da – der Kollege Paul
Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU aufgerufen.
Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident Edi
Oswald, ich darf Ihnen an dieser Stelle – trotz vorge-
rückter Stunde – zu Ihrem noch heute aufgenommenen
und souverän ausgeübten Amt recht herzlich gratulieren
und wünsche Ihnen viel Vergnügen an dem Amt.
Die Ovationen werden zu jeder Zeit entgegengenom-
men. Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau KolleginKipping hat vorhin in ihrer Rede hier ausgeführt, die Er-werbsarbeit gerechter zu verteilen sei Aufgabe staatli-chen Handelns. Von zehn Arbeitslosen bekommt nur ei-ner den Job, sagte sie. Das traurige Beispiel derSchwangeren, die sich um jeden Job bemühen muss,rührt einen direkt zu Tränen.
Frau Kollegin Kipping, Sie wissen genauso gut wie ich,dass die Vermittlung nur in zumutbare Beschäftigungs-
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11404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Paul Lehrieder
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verhältnisse erfolgt. Das heißt, eine Hochschwangerewird kaum in eine körperlich anspruchsvolle Tätigkeitvermittelt werden können.
Der Staat weist Arbeit nicht zu; der Staat bietet Arbeitan. Wenn aber die Arbeit aus Gründen, die die Allge-meinheit nicht tolerieren kann, nicht angenommen wird,dann gebietet es die Sachwalterstellung der Behörden fürdie kargen öffentlichen Mittel, dass man sie effizient ein-setzt. Das steht ausdrücklich im Urteil des Bundesver-fassungsgerichts vom 9. Februar 2010.
Wir sind nicht diejenigen, die Arbeit verteilen. Sie ha-ben gerade das Recht auf Arbeit angesprochen. LiebeFrau Kollegin Kipping, aus Sozialromantik heraus wer-den Sie wahrscheinlich die DDR im Auge gehabt haben.
In der DDR hat es ein Recht auf Arbeit gegeben; es hataber auch eine Pflicht zur Arbeit gegeben. Sagen Sie mirdoch einmal, wie sich ein Bürger in der DDR hätte sank-tionslos durch das System mogeln können, wenn es einefür ihn zumutbare Tätigkeit gab.
– Darüber freue ich mich. – Frau Kollegin Kipping, wirleben im Hier und Heute. Im Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts wurde ausgeführt – ich darf mit Erlaubnisdes geschätzten Herrn Präsidenten zitieren –:Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungs-anspruch auf Gewährleistung eines menschenwür-digen Existenzminimums erstreckt sich nur aufdiejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung einesmenschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlichsind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimumdurch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, diesowohl die physische Existenz des Menschen, alsoNahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung,Hygiene und Gesundheit …, als auch die Sicherungder Möglichkeit … zu einem Mindestmaß an Teil-habe am gesellschaftlichen, kulturellen und politi-schen Leben umfasst …
Die Verfassung gebietet also nicht die Gewährung be-darfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistun-gen, so das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 2010.Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mitArt. 20 Abs. 1 Grundgesetz greift nur dann, wenn andereMittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigenExistenzminimums nicht zur Verfügung stehen. Wenneinem Menschen diese Mittel fehlen, weil er sie wederaus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermö-gen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, istder Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz derMenschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatli-chen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die Menschen-würde zu schützen. Zunächst ist also vorrangig, dass dasErwerbseinkommen bzw. der Lebensunterhalt mit eige-nen Mitteln gesichert wird. Erst dann können wir staatli-che Mittel, Mittel, die wir anderen Bürgern durch Steu-ern von ihrem Erwerbseinkommen weggenommenhaben, an die Bedürftigen ausreichen.
Liebe Frau Kipping, zu Ihrer wohlgefälligen Aufklä-rung: Unser Sozialstaatsprinzip ist keine Kuh, die imHimmel frisst, aber auf Erden Milch geben kann. Dasheißt, wir müssen das, was wir verteilen, irgendjeman-dem vorher abnehmen. Wir müssen es erwirtschaften.Wir können nur das ausgeben, was wir eingenommenhaben. Deshalb ist Sozialpolitik auch immer Wirt-schaftspolitik. Wir haben vorhin – da waren Sie leider,sicherlich wegen wichtiger Termine, verhindert – einewunderbare Debatte zum Arbeitnehmerüberlassungsge-setz geführt. In dieser Debatte hat Ihre KolleginKrellmann ausgeführt: Die Linkspartei ist gegen einenMindestlohn in der Leiharbeit. – Das möchte ich in die-ser Debatte wiederholen, weil es eine ungeheuerlicheAussage ist.
Ich nehme das zur Kenntnis. Jetzt steht es zweimal imProtokoll des Bundestages. Nehmen Sie das heuteAbend mit nach Hause. Freuen Sie sich: Die Linksparteiwar heute gegen Mindestlohn.Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
Birkwald das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte nur ganz
kurz klarstellen, dass Sie vorhin wohl leider nicht richtig
zugehört haben, Herr Kollege. Wir haben gesagt, dass
wir für Equal Pay in der Leiharbeit eintreten, weil für
uns das Prinzip gelten muss: Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit. Nur deshalb haben wir gesagt, dass in der Leihar-
beit ein Mindestlohn nicht die Lösung ist. Wir wollen,
dass Arbeit gleich bezahlt wird.
Vielen Dank. – Herr Kollege Lehrieder, Sie stehen be-
reits. Das heißt, Sie wollen antworten?
Wenn ich darf, Herr Präsident, sehr gerne. – LieberKollege Birkwald, es gibt zwei Komponenten – das wis-sen Sie so gut wie ich, auch aus unserer Diskussion imAusschuss –: die Verleihzeit und die verleihfreie Zeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11405
Paul Lehrieder
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Wir wollen – anders als Ihre Partei – die Arbeitnehmerauch in der Nichtverleihzeit durch einen Mindestlohn inder Leiharbeit schützen. Das haben wir gegen Ihren er-klärten Willen getan. Diejenigen, die die Arbeitnehmerrichtig schützen, sitzen auf dieser Seite des Hauses undnicht auf Ihrer.Danke schön.
Ich sehe keine weiteren Wünsche nach einer Kurzin-
tervention. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5174 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Das ist also
der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d
sowie Zusatzpunkt 10 auf:
13 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Die arabische Welt – Region im Aufbruch,
Partner im Wandel
– Drucksache 17/5193 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller , Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine neue Politik gegenüber den Ländern
Nordafrikas und des Nahen Ostens
– Drucksache 17/5192 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser,
Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Reformprozesse in Nordafrika und Nahost
umfassend fördern
– Drucksachen 17/4849, 17/5146 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer
Günter Gloser
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern – Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren
– Drucksachen 17/4671, 17/5147 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Günter Gloser
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Paul Schäfer , Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Libyen-Krieg sofort beenden
– Drucksache 17/5173 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Kollege Dr. Rainer Stinner für die Fraktion der FDP. –
Bitte schön, Kollege Dr. Stinner.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen undHerren! Herr Präsident, auch ich freue mich, dass ichheute, an Ihrem ersten Arbeitstag, unter Ihnen redendarf.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erfolg und freue michauf vergnügliche gemeinsame Stunden hier im Deut-schen Bundestag.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann zunächstfeststellen, dass wir uns im Deutschen Bundestag vonganz links bis ganz rechts zur Überraschung vieler in derÖffentlichkeit völlig einig sind. Wir sind uns einig, dasssich deutsche Soldaten nicht am militärischen Einsatz imLibanon beteiligen sollen.
– Entschuldigung, in Libyen. Aber was den Libanon be-trifft, sind wir uns hoffentlich auch einig.
Diese Einigkeit geht in der Öffentlichkeit weitestge-hend unter, weil sie von dem Streit darüber, wie wir zudieser Entscheidung gekommen sind, überlagert wird.Diese Einigkeit wird auch von einigen Mitgliedern die-ses Hauses durchbrochen. Frau Wieczorek-Zeul zumBeispiel hat sich anders geäußert. Da befindet sie sich in
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11406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Rainer Stinner
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guter Gesellschaft mit Peter Scholl-Latour. Die beiden,das Traumpaar deutscher Außen- und Sicherheitspolitik,
sind in dieser Frage nämlich derselben Meinung.
Man kann über den Weg zu dieser Entscheidungsfin-dung sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein. DieBundesregierung hat sich entschlossen, sich im UN-Si-cherheitsrat zu enthalten, weil sie nicht möchte, dass sichDeutschland militärisch beteiligt. Die Grünen sind ande-rer Meinung; das kann man so sagen. Ich glaube aber,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenndie Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat Ja gesagt undsich anschließend genauso verhalten hätte, wie Sie es jawollen – wenn sie also entschieden hätte, dass sichDeutschland nicht militärisch beteiligt –, würden wireine ähnliche Diskussion über die deutsche Beteiligungführen. Das kommt auf dasselbe heraus.
Meine Damen und Herren, es wird vielfach verges-sen, dass die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsratesaus mehreren Teilen besteht und dass in nur einem Teilvon militärischen Maßnahmen die Rede ist, nämlich inden Absätzen 4, 5 und 6. Darüber hinaus sind in dieserResolution weitere Maßnahmen beschrieben, an denensich die Bundesregierung natürlich außerordentlichgerne beteiligt, zum Beispiel an Boykotten, Sanktionenetc.
Leider erleben wir in diesen Tagen, dass sich in ande-ren Ländern ähnliche Szenen abzuspielen beginnen, wiewir sie auch in Libyen beobachten können. In meinerletzten Rede habe ich auf die Situation in Bahrain hinge-wiesen. Heute erleben wir dramatische Zustände in Sy-rien. Ich möchte all diejenigen in diesem Hause unddraußen im Lande, die der Meinung sind, man sollediese Situation mal eben mit Militär bereinigen, fragen:Sind Sie der Meinung, dass der Einsatz militärischerMittel auch in Syrien richtig wäre, wenn sich die Ent-wicklung dort, was wir nicht hoffen, fortsetzen sollte?Ich glaube, wenn wir das zu Ende denken, kommen wirzu der Überzeugung, dass dieses Vorgehen insgesamtsehr fragwürdig ist.
Allerdings stehen wir vor dem Hauptproblem, dassdie arabische Welt, um die es primär geht, nach wie vorein völlig konfuses Bild abgibt; das muss ich so deutlichsagen. Der Widerspruch besteht darin, dass Katar auf dereinen Seite angekündigt hat, sich an der Aktion in Li-byen zu beteiligen – das ist bis heute nicht geschehen –,andererseits aber bereit ist, Truppen in sein Nachbar-und Bruderland Bahrain zu schicken, um dort den Wi-derstand und die Freiheitsbewegungen niederzuhaltenund eventuell niederzuknüppeln. Die arabische Weltmuss sich fragen lassen, auf welchem Weg sie eigentlichist.Ich befürchte nach wie vor, dass, nachdem die Kam-pagne seit sechs Tagen läuft, zunehmend der Eindruckerweckt wird, es handele sich ein weiteres Mal um einereine Aktion westlicher Staaten, die „natürlich“ nur ihreÖlinteressen vertreten und deshalb dort aktiv werden.Ich fordere die arabische Welt daher von hier aus auf, ih-ren Beitrag zur Friedens- und Freiheitsbewegung in die-sen Ländern zu leisten.Es liegen zur heutigen Debatte Anträge von allenFraktionen vor. Ich möchte kurz auf diese Anträge ein-gehen. Ich bin doch sehr erstaunt, dass heute, am24. März dieses Jahres, sowohl von der Linkspartei alsauch von der SPD Anträge vorliegen, die ich nur mitdem Wort „antiquarisch“ bezeichnen kann. Wir stehenheute, am 24. März 2011, unter dem Eindruck von Li-byen. Da kann doch die Linke nicht einen Antrag vom8. Februar 2011 einbringen, in dem der Rücktritt vonMubarak gefordert wird.
Glauben Sie wirklich, dass wir Sie dabei ernst neh-men? Wir haben unseren Antrag an die aktuelle Situa-tion angepasst und ihn gestern eingebracht. Die Grünenhaben das genauso getan. Doch auch die SPD ist nichtviel besser dran als die Linkspartei: Ihr Antrag ist vom22. Februar 2011. Es steht viel Richtiges und Gutes da-rin; das will ich gar nicht bestreiten. Aber auch Sie sindin Ihrem Antrag nicht auf die Situation in Libyen einge-gangen.Wir werden die Anträge ablehnen, weil wir einen um-fassenden und, wie ich finde, abgewogenen Antrag vor-gelegt haben, der mit der zugegebenermaßen schwieri-gen Positionierung Deutschlands – das will ich gar nichtbestreiten – sauber und ehrlich umgeht. Ich glaube, dasses richtig ist, diesen Antrag heute im Deutschen Bundes-tag zu verabschieden. Auf diese Weise können wir ge-meinsam einen Beitrag leisten, um die schwierige Situa-tion in der arabischen Welt einer Besserung zuzuführen.Ich habe die Hoffnung, dass es in einigen Ländern baldaufwärts geht – das kann Tunesien oder Ägypten sein –und dass der Diktator Gaddafi bald abdankt und seineUntaten nicht weiter treiben kann. Ich hoffe, dass nichtnoch weitere Länder mit kriegerischen Auseinanderset-zungen überzogen werden. Das ist unsere Hoffnung. Un-ser Beitrag, den wir leisten können, umfasst Entwick-lungshilfe und Zusammenarbeit. Das wollen wir gernetun. Wir wollen das Mögliche beitragen, damit sich dieSituation in dieser Region verbessert und sie pazifiziertwird. Wir wollen einen Beitrag zur Stabilisierung der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11407
Dr. Rainer Stinner
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Region leisten. Das ist Aufgabe Deutschlands und Euro-pas. Dieser Aufgabe wollen wir gerne nachkommen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Rainer Stinner. – Jetzt unser
Kollege Günter Gloser für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich natürlich
auch, dass ich vor einem schwäbischen Präsidenten ste-
hen darf.
Bayerisch-schwäbisch!
Bayerisch-schwäbisch. – Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Wir reden heute zu später Stunde über die Lageim Norden Afrikas und im Nahen Osten. Nach zunächsthoffnungsvollen Entwicklungen in Tunesien und inÄgypten bedrücken uns gegenwärtig der blutige Bürger-krieg, aber auch das menschenverachtende VorgehenGaddafis und seiner Anhänger gegen die Freiheitsbewe-gung in Libyen umso mehr. Auch wenn es zu späterStunde ist: Ich finde es gut, dass wir darüber debattieren.Lieber Herr Kollege Stinner, auch wenn es spät ist, hätteich mir gewünscht, dass Sie in der Lage gewesen wären,in Ihren Aussagen etwas zu differenzieren.
Nicht nur die Lage in Libyen bedrückt uns. Auch dasVerhalten der Bundesregierung in der Weltgemeinschaftzur Libyen-Frage ist deprimierend und lässt leider nichtden Rückschluss zu, es sei vom Ende her gedacht, so wiees der Bundesaußenminister heute in einem Zeitungsbei-trag zu suggerieren versucht hat. Ich will jetzt gar nichtso sehr auf die neutrale Position im Sicherheitsrat derVereinten Nationen abheben. Ich gebe Ihnen völligRecht: Es ist das Recht jedes Abgeordneten und jederAbgeordneten, eine eigene Position zu finden. Es han-delt sich hierbei um eine schwierige Frage. Aber wobleibt gegenwärtig eigentlich die politische Initiative derBundesregierung zur Deeskalation der Situation? Mankann doch wirklich niemandem mehr erklären, weshalbsich die Bundesmarine bei Vorliegen eines Mandates derVereinten Nationen nicht an der Unterbindung von Waf-fenlieferungen an Gaddafi im Mittelmeer beteiligen soll.Dabei wurde das doch seit Wochen von AußenministerWesterwelle gefordert: Embargos, Embargos, Embargos.Jetzt aber hält man sich zurück. Ich verstehe das nicht.Das hat alles nichts damit zu tun, dass man vom Endeher denkt. Wer das tut, der muss dringend die Waffenzu-fuhr in diesem Konflikt unterbinden. Man kann auchnicht einfach sagen: Es gibt aber noch eine andereGrenze, die zum afrikanischen Kontinent. – So viel Geo-grafiekenntnisse haben wir auch noch. Aber das eineschließt das andere nicht aus.Ich denke, die Welt schüttelt teilweise den Kopf überDeutschland, genauer gesagt über den Außenministerund die Kanzlerin. Denn der Außenminister hat vor we-nigen Wochen – da hat er auch die Unterstützung diesesHauses gefunden – noch gesagt: Wir wollen den erstenSchritt gehen. – Das ist auch passiert.Aber was ist dann eigentlich passiert? Nichts ist pas-siert. Er hat nur gesagt: Ich bin beeindruckt und entsetztaufgrund der schrecklichen Bilder aus Tripolis und ganzLibyen. Jetzt müssen wir kluge Antworten finden.Gaddafi muss weg. – Wo bleiben die klugen Antworten?Wie soll er weggehen? Nicht einmal in dem Mandat derVereinten Nationen ist ein Regimewechsel vorgesehen.Ich sage es noch einmal: Das ist ein sehr starker Schlin-gerkurs. Eine Sinuskurve ist dagegen geradlinig.Einige Worte auch zu Syrien. Die Nachrichten, dieuns heute von dort erreichen, sind erschütternd. Es istvon zahlreichen Toten die Rede; die Angaben schwan-ken zwischen 37 und 100. Das ist sehr betrüblich. Ichkann nur auch von dieser Stelle aus die Verurteilungnoch einmal wiederholen und an das syrische Regimeappellieren, sich mit den legitimen Forderungen der Be-völkerung nach demokratischen Reformen, der Wahrungder Menschenrechte und Meinungsfreiheit in angemes-sener Weise auseinanderzusetzen und die Anwendungroher Waffengewalt sofort einzustellen. Die syrischeFührung sollte sich an den positiven und nicht an den ne-gativen Beispielen der jüngsten Zeit dafür, wie man ei-nen Umbruch organisieren und was man zulassen kann,orientieren.Es gibt aber auch positive Entwicklungen in der Re-gion. So ist das Referendum in Ägypten ein Hoffnungs-zeichen für Demokratie. Natürlich gibt es hier auch nochviele Gefahren. Eine Gefahr besteht darin, dass alte Eli-ten noch immer so fest im Sattel sitzen, dass sie am Endeauch im neuen System die Oberhand behalten. Dadurchwürden die friedlichen Revolutionäre vom Tahrir-Platzum die Früchte ihres mutigen Einsatzes betrogen. Dasdarf nicht passieren. Deshalb müssen wir auf einenWahltermin in angemessener Frist, auf die sofortigeFreilassung aller politischen Gefangenen und auf die in-ternational überprüfbare Einhaltung der Menschenrechtedrängen.Nach Jahrzehnten des Ausnahmezustandes sind daskeine kleinen Schritte; es sind gewaltige Änderungen,die noch dazu von den Militärs angestoßen werden müs-sen, die ja jetzt die Macht haben. Ohne den anhaltendenDruck der ägyptischen Öffentlichkeit und ohne den ent-scheidenden Einsatz der internationalen Partner Ägyp-tens wird das nicht funktionieren.In Tunesien wurde die Freiheit gewonnen und derDiktator gestürzt. Das Land steht aber vor ähnlichenProblemen, wie uns eine Delegation der Schwesterparteider SPD in diesen Tagen bei ihrem Besuch erläutert hat:Eine junge Bevölkerung, die im Gegensatz zur Bevölke-rung in manchem Nachbarland mehrheitlich sogar her-vorragend ausgebildet ist, sucht nicht nur nach Freiheit
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11408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Günter Gloser
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und Würde, sondern auch nach einer beruflichen und so-zialen Perspektive.Freiheitsdividende heißt für diese Menschen, dass siean einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung teilha-ben können. Dafür müssen die richtigen Reformen einge-leitet werden. Dafür muss aber auch die EuropäischeUnion die richtigen Schritte tun. Die Festung Europa – inAnführungszeichen – muss für Waren – auch für Agrar-erzeugnisse – und in begrenztem Ausmaß auch für Ar-beitskräfte geöffnet werden.
Eine wirkliche Mobilitätspartnerschaft mit Ländern wieTunesien ist auch in unserem Interesse; denn ich denke,wenn Fachkräfte aus Tunesien für einige Jahre inDeutschland arbeiten und danach bei der Existenzgrün-dung im eigenen Land unterstützt werden, dann kommtdas auch der deutschen Wirtschaft zugute.Ich will in diesem Zusammenhang Algerien und Ma-rokko aber nicht vergessen. Angesichts der wirtschaftli-chen Entwicklung hat Algerien schon länger die Chancegehabt, die Erlöse aus dem Öl- und Gasgeschäft endlichfür die wirtschaftliche Entwicklung und für die politi-sche und soziale Teilhabe einzusetzen. Dies wäre im In-teresse der vielen jungen Menschen, aber auch der Zu-kunft des Landes.Positiv ist zu vermerken, dass König Mohammed VI.weitere Reformen in Marokko angekündigt hat, demParlament und der Regierung mehr Rechte zukommenlassen möchte und dem Menschenrechtsrat Unabhängig-keit garantiert. Dabei darf es aber nicht bleiben. Der Ab-bau der sozialen Ungleichheiten im Lande muss drin-gend forciert werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschlie-ßend einige Sätze zu den vorliegenden Anträgen:In fast allen Reden und Antragstexten ist zu verneh-men, dass sich Europa eine historische Chance bietet,Demokratie und Freiheit in der arabischen Welt zu unter-stützen. Fast nie wird aber der notwendige Schluss da-raus gezogen, dass unsere Reaktion auf diese Chancenicht kleinteilig und leisetreterisch sein darf, sonderndass sie klar und deutlich sein muss.Mit einer Fortschreibung der bisher schon betriebe-nen europäischen Nachbarschaftspolitik unter den strik-ten Vorgaben durch den bisherigen Finanzrahmen alleinwerden wir der Situation der Region jedenfalls nicht ge-recht. Insofern sind auch die insgesamt guten Vorschlägeder Europäischen Kommission und die Beschlüsse desEuropäischen Rates zur Mittelmeerpolitik nicht ausrei-chend.Denn es geht nicht nur um ein bisschen mehr Kondi-tionierung von Hilfeleistungen. Es muss um einen wirk-lichen Pakt für Demokratie und Entwicklung im Mittel-meerraum gehen. Das große Wort Marshallplan habe ichselbst in diesem Zusammenhang benutzt. Auch wennhistorische Vergleiche gelegentlich hinken, stehe ich zudiesem Wort; denn es zeigt die Dimension dieser Auf-gabe.Wir dürfen jetzt den alten Fehler nicht wiederholen,Demokratie nur im Norden Afrikas zu fördern und in an-deren arabischen Ländern nur auf Sicherheit und ver-meintliche Stabilität durch die gegenwärtigen Regierun-gen zu setzen. Wir werden hier neue Konzepte brauchen,und wir werden sie – das sage ich in aller Klarheit –nicht im Rahmen der bisherigen Haushaltsansätze um-setzen können.Im Antrag der Koalition zur heutigen Debatte heißt esauf der fünften Seite:Der Bundestag begrüßt ausdrücklich die führendeRolle, die die Bundesregierung in den vergangenenWochen gespielt hat.Ich schlage Ihnen vor, den Text der Regierungsfraktio-nen folgendermaßen zu ändern: Der Deutsche Bundestaghätte es begrüßt, wenn die Bundesregierung eine füh-rende Rolle gespielt hätte.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Günter Gloser für die Fraktion
der Sozialdemokraten.
Der Nächste auf meiner Rednerliste ist unser Kollege
Joachim Hörster für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich binmit der Erwartung in diese Debatte gegangen, dass esuns um die Frage geht, wie wir mithelfen und mitsteuernkönnen, dass die Umwälzungen, die sich in dem einenoder anderen arabischen Land andeuten, befördert wer-den und in die richtige Richtung laufen. Das Verjagendes Autokraten ist das eine; das Installieren einer demo-kratischen Ordnung ist das andere.Noch kann man nicht erkennen, dass in einem einzi-gen der Staaten, in denen gegenwärtig Auflehnung ge-gen die Regierungen und die Machthaber stattfindet,Positionen bezogen würden, die mit unseren demokrati-schen Grundsätzen übereinstimmen. Deswegen ist es,glaube ich, wichtig, dass wir uns von vornherein darüberim Klaren sind, dass wir nicht global von einer arabi-schen Welt oder von Nordafrika sprechen können, Kol-lege Gloser, weil die Staaten Nordafrikas weder in derVergangenheit in der Lage waren noch in der Zukunft inder Lage zu sein scheinen, die Arabische Maghreb-Union tatsächlich mit Leben zu füllen und sich wechsel-seitig zu stützen. Die Staaten Nordafrikas könnten ganzalleine über alle Mittel verfügen, um ihr Land aufzu-bauen, ihrer Jugend eine Ausbildung zu gewähren undArbeitsplätze für sie mitzufinanzieren. Wir müssen da-rauf achten, dass auch in der arabischen Welt eine Per-spektive in den Ländern selbst entsteht, die dieses wol-len.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11409
Joachim Hörster
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Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im DeutschenBundestag, Herr Kollege Gloser. Ich war damals Vorsit-zender der deutsch-arabischen Parlamentariergruppe;Sie waren Vorsitzender der deutsch-maghrebinischenParlamentariergruppe, und der Kollege Ernst Hinskenwar Vorsitzender der deutsch-ägyptischen Parlamen-tariergruppe. Die „Tage der Arabischen Welt“ fandenvom 1. bis 3. Dezember 2004 statt und waren eine ein-malige Angelegenheit. So etwas hat es weder davor nochdanach in vergleichbarer Weise gegeben. Wir hatten über180 Gäste aus 18 arabischen Ländern, die wir zum Teilselbst ausgesucht haben. Die Hierarchien standen nichtim Vordergrund. Amru Mussa war unter den Rednern.Der frühere Bundeskanzler Schröder hat teilgenommen,und Bundestagspräsident Thierse hat die Veranstaltungmit eröffnet. Wir haben damals als Bundestag insgesamtversucht, losgelöst von unseren politischen Positioneneinen einheitlichen Einfluss auf die arabischen Länderauszuüben und deutlich zu machen, wie man vorgehenkönnte.Vielleicht wäre die jetzige Situation geeignet, dasswir als Deutscher Bundestag an die neuen Kräfte in denbetreffenden Ländern herantreten und mit ihnen darüberdiskutieren, was sie vorhaben und welche Ziele sie ver-folgen.
Jede neue Verfassung, die jetzt entsteht, muss auch ein-mal daraufhin geprüft werden, ob damit auch das, waswir unter Demokratie verstehen, zustande kommt. WirEuropäer neigen dazu, immer gleich Schuldbekenntnisseabzugeben, wenn es darum geht, wie wir mit unserenNachbarn umgehen.Der Barcelona-Prozess aus dem Jahre 1995 war aller-dings ein genialer Vorgang. Im Barcelona-Prozess warendrei Körbe vorgesehen: eine Kooperation im Bereich derSicherheit, eine Kooperation im Bereich des Handelsund der Ausbau der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesell-schaft ist genau der Bereich, in dem die politischen Par-teien und die Nichtregierungsorganisationen auftretenund in dem die Wissenschaft und die Medien frei agierenkönnen. In einer ganzen Reihe von Ländern ist auch Po-sitives geschehen. Die Entwicklung in Tunesien wäreohne den Barcelona-Prozess nicht vorstellbar gewesen;denn der Barcelona-Prozess hat dazu geführt, dass dieAnalphabetenrate in Tunesien außerordentlich gering ist,dass der Mittelstand größer ist als in jedem anderen ara-bischen Land und dass eine sehr starke Vernetzung mitEuropa – auch in Form persönlicher Kontakte – vorhan-den war.Auch wenn man es jetzt Mittelmeerunion oder wieauch immer nennt, sollte man dieses Modell nicht ein-fach zu den Akten legen, weil es uns ermöglicht hat, mitunseren Nachbarn in der arabischen Welt in organisierterWeise zu kooperieren.
Dass der Palästina-Konflikt die Sache am Ende zumErliegen gebracht hat, ist sehr bedauerlich. Ich will aber– weil Sie, Herr Kollege Gloser, eben Syrien angespro-chen haben – auch daran erinnern, dass Syrien das erstearabische Land war, das auf den Besitz von Massenver-nichtungswaffen verzichtet hat, um an dem Barcelona-Prozess teilnehmen zu können. Es gibt also verschiedeneOptionen.Der Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerinhaben recht, wenn sie sagen, dass die arabischen Länder– die Bevölkerungen in den arabischen Ländern – selbstdefinieren müssen, was sie wollen. Das wird nicht vonheute auf morgen gehen; das braucht Zeit.Eine der Klagen, die zum Beispiel gegen den Reform-prozess und die Verfassungsänderungen in Ägypten vor-gebracht werden, ist die, dass es nur zwei Organisatio-nen gibt, die in der Lage sind, innerhalb so kurzerFristen Parteistrukturen aufzubauen und sich Wahlen zustellen. Die eine ist die frühere Regierungspartei, die an-dere sind die Muslimbrüder. Alle anderen aus dem bür-gerlichen, zivilen Bereich haben keine echten Chancen.Das sind Dinge, über die wir nachdenken müssen.Das Anstreben der Demokratie und freier Wahlen istrichtig. Wir sollten diese Bestrebungen überall unterstüt-zen. Aber wir sollten bei der Unterstützung von freienWahlen darauf achten, dass Gruppierungen gewählt wer-den, die auch bereit sind, wieder von der Macht zu las-sen, falls die Mehrheiten einmal anders ausfallen.
Wenn diese Selbstverständlichkeit implementiert werdenkann, dann haben wir den Wechsel erreicht.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Joachim Hörster.
Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
gin Sevim Dağdelen.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Auf die Frage, ob die deutschen Waf-fenlieferungen an Libyen, also an Ihren Gaddafi, nichtfalsch gewesen wären, besaß der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, gestern imdeutschen Fernsehen die Dreistigkeit, zu antworten:Ja, es ist immer ein Fehler, in solche Systeme Waf-fen zu liefern.Hier im Deutschen Bundestag findet man in Ihrem An-trag kein Wort dazu. Deshalb nehmen wir der Koalitionihre plötzliche Unterstützung für die Demokratiebewe-gungen in der arabischen Welt nicht ab.
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11410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Sevim Daðdelen
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Sevim DağdelenWährend wir hier debattieren, werden Menschen inder arabischen Welt ermordet. Die Diktatoren benutzendeutsche Waffen, die unter Ihrer Regierung und unterSchwarz-Rot, aber auch schon unter Rot-Grün geliefertwurden. Nun versuchen Sie, die Öffentlichkeit massiv zutäuschen und die Wirklichkeit zu verbiegen. Doch ge-nauso wie bei Ihrem Atommoratorium: Dieses Tricksen,Tarnen und Täuschen wird nicht aufgehen.
Sie liefern weiter Waffen in Länder, wo Parteien ver-boten sind, wo von Opposition, Koalitions-, Versamm-lungs- und Meinungsfreiheit keine Rede sein kann, woTausende Menschen ohne Anklage in Haft sind und ge-foltert werden, wo Frauenrechte mit Füßen getreten wer-den, wo Demonstrationen mit tödlicher Gewalt aufgelöstwerden, und all das mit Ihrer Hilfe und Unterstützung.Wozu all die Waffen dienen, die allein 2009 an Bahrain,Katar, Oman, Saudi-Arabien, die Emirate und den Irak,aber auch an Syrien, Marokko, Libyen, Kuwait, Jorda-nien, Algerien und Tunesien im Wert von fast 1 Mil-liarde Euro geliefert wurden, war stets klar: zur Kon-trolle und Unterdrückung der Bevölkerung.
– Da lachen Sie! Ich finde das ganz schön zynisch. – Mitdiesen Waffen, deutschem Tränengas, deutschen Wasser-werfern und Ihrer Ausbildungs- und Ausstattungshilfefür Polizei und Militär dieser Regime werden nun dieDemokratiebewegungen in den arabischen Ländern blu-tig niedergeschlagen. Solange Sie das tun, sind Sie voll-kommen unglaubwürdig.
In den Anträgen der Koalition wie der SPD findetsich konsequenterweise kein einziges Wort dazu. Manmuss deshalb schlussfolgern: Es geht Ihnen um ein Wei-ter-so. Sie wollen die Demokratie in den arabischen Län-dern nicht fördern. Sie wollen hingegen die Diktaturendort weiterhin stützen. Erst als Ben Ali und Mubarak fie-len, stoppten Sie Ihre Rüstungsexporte. Die Parteien BenAlis und Mubaraks hatten bis zuletzt Platz an der Seiteder SPD in der Sozialistischen Internationalen. Ange-sichts dieses fortgesetzten Desasters sagt die Linke: Be-enden Sie endlich Ihre Unterstützung von Diktatoren!Sie dürfen sich nicht weiter zum Erfüllungsgehilfen derdeutschen Rüstungslobby machen. Der Bundestag mussendlich die Außenpolitik wieder selbst in die Hand neh-men.
Noch ein Wort an die Grünen. In Ihrem Antrag wirddie Bombardierung Libyens regelrecht begrüßt. Sie fei-ern sogar die Zusage der Teilnahme der beiden monar-chistischen Diktaturen Katar und Vereinigte ArabischeEmirate an den Luftangriffen auf Libyen. Das ist einfachskandalös.
Man findet im Forderungsteil Ihres Antrages kein einzi-ges Wort zu Saudi-Arabien. Man möchte fast meinen:Grüne haben einen Stillhaltepakt mit den Monarchodik-taturen in der arabischen Welt.
Ist es Ihnen mit Jugoslawien, mit Ihrer indirekten Betei-ligung am Krieg gegen den Irak, mit dem nunmehr neunJahre dauernden Afghanistan-Krieg nicht genug? Wieviele Tote muss es noch geben? Sagen Sie endlich ein-mal Nein zu einem Krieg, nur ein einziges Mal, bitteschön!
Leider hat die Linke auch hier ein Alleinstellungs-merkmal. Sie ist die einzige Partei im Deutschen Bun-destag, die für eine friedliche Außenpolitik streitet. Sieist die einzige Partei, die keine Waffen an Diktatoren lie-fern will. Sie ist die einzige Partei, für die Krieg keinMittel der Politik ist, sondern die gravierendste Men-schenrechtsverletzung.Ich sage es noch einmal: Wenn Sie die Demokratiebe-wegungen in der arabischen Welt unterstützen wollen,dann bedarf es einer radikalen Wende. Eine Wende kön-nen Sie erreichen, wenn Deutschland autoritären Regi-men keine Waffen mehr liefert, mit denen diese Regimeihre eigenen Bürgerinnen und Bürger ermorden.
Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, mit dem wiruns mit den Menschen in der arabischen Welt solidari-sieren und die Unterstützung der autoritären Regime be-enden wollen.
Als Nächste hat unsere Kollegin Kerstin Müller für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Die Grünen sollen die einzige monarchistische ParteiDeutschlands sein? Das hat uns noch niemand vorge-worfen.
Ich kann das leider nicht ernst nehmen, Frau Dağdelen.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind seit drei Monaten Zeugen von Veränderungen in derarabischen Welt, die so niemand vorhergesehen hat undmit denen so kaum jemand gerechnet hat. Es ist sehr be-dauerlich, dass die Europäer nicht gemeinsam und multi-lateral auf diese großen Herausforderungen reagieren,sondern dass bei ihnen leider nationale Alleingänge dasBild bestimmen.Damit meine ich nicht nur Libyen; wir haben auch an-dere Fehler der EU und der Außenbeauftragten erlebt.Wenn das so bleibt, dann wird das – davon bin ich über-zeugt – langfristig verheerende Konsequenzen haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11411
Kerstin Müller
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Daher ist es zunächst einmal absolut erforderlich, dassEuropa zu einer gemeinsamen Politik gegenüber denLändern der arabischen Welt findet. Sonst wird unserpolitischer Einfluss in der Zukunft gegen null gehen, unddie Menschen werden sich von Europa abwenden, weilsie sich im Stich gelassen fühlen.
Die erste Konsequenz muss sein, dass wir mit derPolitik der doppelten Standards in der deutschen und eu-ropäischen Außenpolitik Schluss machen. Das heißt,dass wir Bilanz ziehen und klar sagen, dass es falschwar, auf Stabilität durch Despoten zu setzen, anstatt De-mokratie und Menschenrechte zu fördern. Das war einIrrweg. Das heißt auch – das sage ich sehr deutlich –,dass Rüstungsexporte in solche Länder künftig unter-bleiben müssen.
Europa darf – auch das muss auf den Prüfstand –keine Budgethilfe mehr leisten, ohne sie an die Umset-zung von demokratischen und rechtsstaatlichen Refor-men zu knüpfen. Wir brauchen darüber in Europa undauch in der Kommission endlich eine Debatte.
Ich teile die Ansicht von Herrn Gloser, dass wir un-sere Märkte für Produkte aus der Region öffnen müssen.Das ist absolut wichtig; denn die jungen Menschen sindnicht nur für politische Rechte auf die Straße gegangen,sondern auch für ökonomische Perspektiven, aus sozial-ökonomischen Gründen. Deshalb ist es absolut wichtig,wie sich Europa in dieser Hinsicht verhalten wird.Schließlich muss die Mittelmeerunion endlich be-erdigt werden. Herr Hörster, Sie sprachen von der Mit-telmeerunion und dem Barcelona-Prozess. Wir stimmendem zu, was im Koalitionsantrag steht. Es muss darumgehen, die von Sarkozy initiierte Mittelmeerunion zu be-erdigen und die europäische Nachbarschaftspolitik zuüberarbeiten und auszuweiten.
Ich fand die Vorschläge des Außenministers gar nichtso schlecht. Ich habe nur die Befürchtung, dass nachdem diplomatischen Desaster in der Libyen-Frage un-sere Durchschlagskraft in Europa nicht mehr sehr großsein wird. Warum sollten Frankreich oder andere Süd-länder unseren Vorschlägen folgen, nachdem wir einennationalen Alleingang gemacht haben? Ich glaube, dasVorgehen Deutschlands hat Europa in dieser extremwichtigen Frage gespalten und unsere Glaubwürdigkeitbei der UNO beschädigt.
Darunter werden wir noch lange leiden; davon bin ichüberzeugt. Man kann bezüglich der Motive und desVorgehens von Sarkozy Zweifel haben, aber er ist jetzterst einmal gestärkt. Wir wurden leider auch noch vonGaddafi gelobt; das ist einfach eine Katastrophe.Natürlich hat man eine schwierige Abwägung zu tref-fen. Außer bei der Fraktion Die Linke sind in allen Frak-tionen Abwägungen vorgenommen worden.
– Sie haben gerade gesagt, dass Sie keine schwierigenAbwägungen treffen, weil Sie sowieso wissen, wie Sieabstimmen werden. – In den anderen Fraktionen ist dasanders gewesen. Die meisten treffen ihre Entscheidungnach schwierigen Abwägungen. Es besteht ein Eskala-tionsrisiko, und es gibt keine chirurgischen Eingriffe.Natürlich ist auch die Durchsetzung der Flugverbotszoneeine militärische Intervention, und es ist bitter: Wenn dasMilitär eingreift, dann hat die Politik bereits versagt.Jahrelang hat die Politik, auch Frankreich, Gaddafi ho-fiert, Libyen aufgerüstet und sich einen Terroristen he-rangezogen. Dennoch kommen viele in meiner Fraktionbei dieser Abwägung zu dem Schluss: Ohne den Be-schluss des Sicherheitsrates und das schnelle Eingreifenwären Tausende in Bengasi und Misurata schon tot. Des-halb ist der Sicherheitsratsbeschluss, die Resolution1973, konsequent und richtig. Er war notwendig undrichtig, und er ist ein Ausdruck der Responsibility toprotect, zu der sich die gesamte internationale Gemein-schaft verpflichtet hat.
Selbst wenn bei dieser Abwägung die Risiken über-wiegen, hätte man im Sicherheitsrat mit Ja stimmen underklären können, dass man nicht bereit ist, alle Maßnah-men mitzutragen. Ich finde es nicht einsichtig, dass manjetzt zur eigenen politischen Entlastung AWACS-Flug-zeuge im Luftraum von Afghanistan zur Verfügungstellt. Das ist ein schlechter Deal. Herr Stinner, Sie ha-ben gesagt, man wolle sich an allen anderen Maßnahmender Resoultion beteiligen. Warum beteiligt man sich zumBeispiel nicht an der Durchsetzung des Waffenembar-gos?
Ich finde schwer verständlich, warum wir hier nicht dieAnfrage der Bundesregierung bekommen, ob wir uns ander maritimen Absicherung des Waffenembargos beteili-gen, und dass wir stattdessen morgen im Eilverfahrenüber Afghanistan reden, obwohl es keine Eilbedürftig-keit in dieser Sache gibt.Ich glaube, im Ergebnis war das eine schwerwiegendeFehlentscheidung der deutschen Diplomatie, an der wirleider noch lange zu knabbern haben werden und dieauch Auswirkungen auf unser Standing in der arabischenWelt haben wird.Vielen Dank.
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11412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Thomas Silberhorn für die Fraktion CDU/CSU das Wort.
Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Edi,
zu dieser späten Stunde vor nahezu leeren Zuschauerrän-
gen zu reden,
zählt nicht gerade zu meinen liebsten Vergnügungen,
aber erstmals unter deiner Präsidentschaft vortragen zu
dürfen, beflügelt mich.
Wir warten die Rede mal ab.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Tune-sien und Ägypten steht nun Libyen im Zentrum einesepochalen Wandels, der sich derzeit im Nahen Osten undin Nordafrika vollzieht. Die Sehnsucht der überwiegendjungen Bevölkerungen nach Freiheit, nach politischerTeilhabe ist unwiderruflich geweckt. Die Veränderun-gen, deren Zeugen wir derzeit sind, können das Tor zuDemokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenrech-ten und individueller Freiheit öffnen.Der Wandel wird sich aber nicht automatisch undnicht linear vollziehen, also nicht so, dass ohne großesZutun ein Regime nach dem anderen geradezu wie vonselbst fallen würde. Die Reformbewegungen werdenvielmehr Rückschläge zu verkraften haben, und sie wer-den harte Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Dochdie Chancen stehen gut, dass das Streben nach einerneuen und besseren Zukunft letztlich die Beharrungs-kräfte der alten Ordnungen überwindet.Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist,dass die Reformbewegung in Tunesien deutlich auf Dis-tanz zum Vorgängerregime ging und rasch nach Ägyptenübergeschwappt ist. Viel wird jetzt davon abhängen, obfreie und faire Wahlen in diesen Ländern gelingen. Wenndort ein friedlicher Übergang zu Demokratie und Frei-heit stattfindet, dann wird das der Reformbewegung inder gesamten Region Dynamik verleihen; das wird sichauch auf andere Staaten ausweiten. Tunesien und Ägyp-ten können damit zu Schrittmachern in ihrer Region wer-den. Deswegen wird nicht umsonst die Entwicklung ge-rade in diesen Staaten im übrigen Nahen Osten mitbesonderer Aufmerksamkeit verfolgt.Es ist bemerkenswert, welche weitreichenden Verän-derungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben. Mankann diese Entwicklung auch als eine schrittweise Eska-lation lesen. Während in Tunesien der Umsturz nochweitgehend friedlich verlaufen ist und es in Ägypten nurkurze Zeit zu gewaltsamen Übergriffen kam, mobilisiertin Libyen das Regime Gaddafi jetzt alle Kräfte und führtnachgerade einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung.Die größte Gefahr für den arabischen Aufstand ist, dassMachthaber die Augen vor der Realität verschließen,nicht erkennen, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und mit ro-her Gewalt um sich schlagen. Deshalb ist es notwendig,dass die internationale Gemeinschaft unzweideutig zumAusdruck bringt, dass sie das nicht toleriert und dass Re-gime, die gegen die eigene Bevölkerung Gewalt anwen-den, ihre Legitimation verlieren.
Welchen Beitrag können wir für das Gelingen derNeuordnung in Nordafrika und im Nahen Osten leisten?Militärische Mittel dürfen nur bei schwersten Menschen-rechtsverletzungen oder Völkermord in Betracht kom-men. Wo sie eingesetzt werden, muss die Gefahr einerEskalation eingedämmt werden. Wer sich militärisch en-gagiert, muss sich klar darüber sein, was das politischeZiel ist und wie der Einsatz beendet werden soll. Deswe-gen war es mit Blick auf Libyen richtig, dass Deutsch-land die politischen Ziele der UN-Resolution 1973 un-terstützt, aber sich nicht an Militäraktionen beteiligt.Wir haben bei Sanktionen eine internationale Füh-rungsrolle gespielt. Die Vereinten Nationen und die Eu-ropäische Union gehen gezielt gegen Personen und Insti-tutionen vor. Es entfaltet Wirkung, den Zugang zuFinanzquellen abzuschneiden und zu verhindern, dassinternational platzierte gewaltige Vermögen von den je-weiligen Machthabern dazu genutzt werden, Angriffegegen die eigene Bevölkerung zu finanzieren.Die Europäische Union hat gestern die vierte Sank-tionsrunde gegen das Gaddafi-Regime verhängt. Insbe-sondere ist zu begrüßen, dass darin Sanktionen gegenfünf Tochtergesellschaften der nationalen ÖlgesellschaftLibyens enthalten sind. Das bedeutet faktisch ein Öl-embargo, für das sich die Bundesregierung in der Euro-päischen Union mit Nachdruck eingesetzt hat.
Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeutungfür den Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten sinddie Unterstützung beim Übergang zur Demokratie, dieMobilisierung reformorientierter Kräfte in Staat und Ge-sellschaft sowie die Hilfe bei der wirtschaftlichen Ent-wicklung. Die wirtschaftlichen Faktoren, nämlich dieLebensmittelpreise, haben eine zentrale Rolle bei diesenUmbrüchen gespielt. Deswegen ist die Neuordnung derRegion auch und gerade eine ökonomische Frage. Nurdann, wenn es den Reformkräften gelingt, für bessere
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11413
Thomas Silberhorn
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Lebensverhältnisse zu sorgen, wird der Übergang zurDemokratie dauerhaft über den notwendigen Rückhalt inder Bevölkerung verfügen.Die Bundesregierung leistet auf vielfältige WeiseHilfe. Insbesondere die Transformationspartnerschaft,die Tunesien und Ägypten angeboten worden ist, ist einwichtiger Ansatz, der Vorbild sein kann für andere Staa-ten in der Region. Diese Maßnahmen stehen allen Part-nern in der Europäischen Union offen. Ich denke,Deutschland hat damit angemessen und schnell auf dieErfordernisse vor Ort reagiert.
Für die Entwicklung der Region ist die Hilfe beimAufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturennatürlich ebenso wichtig. Ich will darauf hinweisen, dasssowohl die politischen Stiftungen als auch die kirchli-chen Hilfswerke dabei eine unverzichtbare Rolle spie-len. Sie sind bereits seit vielen Jahren und Jahrzehntenvor Ort unterwegs und haben Kontakte geknüpft auch zuKräften, die jetzt diese Reformbewegungen mittragen.Das zeigt, dass sich das Engagement gerade unsererpolitischen Stiftungen langfristig auszahlt.Bei aller Unterstützung, die von außen geleistet wer-den kann: Im Kern muss die Kraft für den Wandel vonInnen kommen. Die Bevölkerungen der arabischen Staa-ten müssen ihren eigenen Weg finden. Wir können imRahmen unserer Möglichkeiten dort helfen, wo wir umUnterstützung gebeten werden. Wir leisten, was möglichist, damit sich die Chance auf Demokratie und Freiheitentfaltet, damit der Wandel in der arabischen Welt ge-lingt.Vielen Dank.
Das ist der Beifall für den letzten Redner gewesen.Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache17/5193 mit dem Titel „Die arabische Welt – Region imAufbruch, Partner im Wandel“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –Der Antrag ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5192mit dem Titel „Für eine neue Politik gegenüber den Län-dern Nordafrikas und des Nahen Ostens“. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimment-haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Reformpro-zesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/5146, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/4849 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebe-wegungen in den arabischen Ländern – Beendigung derdeutschen Unterstützung von Diktatoren“: Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/5147, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/4671 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/5173 mit dem Titel „Libyen-Kriegsofort beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abge-lehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KristaSager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENWissenschaftliche Redlichkeit und die Quali-tätssicherung bei Promotionen stärken– Drucksache 17/5195 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:Monika Grütters, Dr. Reinhard Brandl, René Röspel,Dr. Martin Neumann,
Dr. Petra Sitte, Krista Sager.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5195 an den Ausschuss für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Auflösung und Abwicklung der AnstaltAbsatzförderungsfonds der deutschen Land-und Ernährungswirtschaft und der AnstaltAbsatzförderungsfonds der deutschen Forst-und Holzwirtschaft– Drucksache 17/4558 –1) Anlage 6
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11414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 17/5167 –Berichterstattung:Abgeordnete Marlene MortlerDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannFriedrich OstendorffInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Folgende Kolle-ginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben: Marlene Mortler, Dr. Wilhelm Priesmeier,Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Kirsten Tackmann,
Friedrich Ostendorff.1)Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/5167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/4558 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieVereinfachung des Austauschs von Informa-tionen und Erkenntnissen zwischen den Straf-verfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten derEuropäischen Union– Drucksache 17/5096 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: ArminSchuster, Dr. Eva Högl, Gisela Piltz,
1) Anlage 7Frank Tempel,
Dr. Konstantin von Notz.
Der europäische Einigungsprozess hat unter anderem
zu einem Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrol-
len unter den Schengen-Partnern geführt. Bürgerinnen
und Bürger können sich heute weitgehend unbeschränkt
innerhalb der EU bewegen; Waren und Dienstleistungen
sind nahezu grenzenlos unterwegs. Diese positive Ent-
wicklung hat Europa insgesamt gestärkt. Allerdings nut-
zen diese Freiheiten auch die Straftäter, die nicht an den
Grenzen haltmachen. Die neuen, illegalen Möglichkei-
ten für Kriminelle, europäisch vernetzt vorzugehen, dür-
fen wir bei allen Fortschritten auf keinen Fall unter-
schätzen. Daher zählt es zu den elementaren Aufgaben
der Europäischen Union, ihren Bürgern die Freiheit, die
Sicherheit und das Recht zu gewährleisten.
Vor diesem Hintergrund müssen wir wirksame Instru-
mente zur gemeinsamen Gefahrenabwehr und Strafver-
folgung schaffen und weiterentwickeln. Unsere Aufgabe
ist es, den europäischen Polizei- und Strafverfolgungs-
behörden auch nach Wegfall der Grenzkontrollen eine
effektive und effiziente Aufgabenerledigung zu ermögli-
chen.
Hierfür ist der erleichterte Informationsaustausch
zwischen den Behörden in Europa eine entscheidende
Ausgleichsmaßnahme für eine wirksame Strafverfolgung
und Gefahrenabwehr. Es gilt: Nur wer hinreichend in-
formiert ist, kann die richtigen Maßnahmen ergreifen.
Und hinreichend informiert heißt beim heutigen Täter-
verhalten, oft auch über Grenzen hinweg, also euro-
päisch informiert zu sein.
Genau das ist das Ziel des vorgelegten Gesetzentwur-
fes: Anlass für das Vorhaben ist der Rahmenbeschluss
2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Europäischen Union. Diese sogenannte schwedische
Initiative soll nunmehr in innerstaatliches Recht umge-
setzt werden.
Hierdurch sind Änderungen im Bundeskriminalamt-
gesetz, im Bundespolizeigesetz, im Gesetz über die inter-
nationale Rechtshilfe, in der Strafprozessordnung, im
Zollfahndungsdienstgesetz und im Zollverwaltungsge-
setz, in der Abgabenordnung, im Gesetz zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit und schließlich im SGB X notwendig.
Für den Austausch von Informationen zwischen den
Mitgliedstaaten dürfen künftig keine strengeren Rege-
lungen gelten als innerhalb eines Mitgliedstaates. Die-
ser Gleichbehandlungsgrundsatz ist der zentrale Aspekt
des Vorhabens und orientiert sich an den rechtlichen
Möglichkeiten des Informationsgeberlandes. Eine Da-
tenübermittlung von Berlin nach Malmö soll also künftig
unter den grundsätzlich gleichen gesetzlichen Voraus-
setzungen erfolgen können wie von Berlin nach Lörrach.
Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz schafft eine völlig
Armin Schuster
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neue Qualität bei der innereuropäischen Zusammenar-
beit.
Weiterhin darf künftig die Beantwortung von Ersu-
chen aus dem europäischen Ausland nur noch bei Vor-
liegen konkreter Ausnahmetatbestände verweigert wer-
den. Danach ist beispielsweise eine Übermittlung von
personenbezogenen Daten unzulässig, wenn hierdurch
wesentliche deutsche Sicherheitsinteressen des Bundes
oder der Länder gefährdet würden.
Schließlich gilt es, bei dem gesamten Vorhaben noch
einen weiteren Aspekt zu beachten: den Datenschutz.
Immerhin geht es hier um den grenzüberschreitenden
Austausch von personenbezogenen Daten. Aus diesem
Grund muss der Datenschutz durchgängig Beachtung
finden. Dies ist ein zentrales Anliegen der Bundesregie-
rung. Es wird auf gar keinen Fall so sein, dass unsere
hohen innerstaatlichen Datenschutzstandards im Zuge
einer Übermittlung an einen anderen europäischen Mit-
gliedstaat gesenkt werden.
Der vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt diese Vorgabe
umfassend. Insbesondere unterliegen die Daten nach
der Übermittlung einer besonderen Zweckbindung. Der
Gesetzentwurf macht klar, dass die Daten nur für die
Zwecke, für die sie übermittelt wurden, genutzt werden
dürfen. Von dieser strengen Zweckbindung darf nur ab-
gewichen werden, wenn es um die Abwehr einer gegen-
wärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Si-
cherheit geht. Diese enge Ausnahmeregelung ist
angemessen.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird
Deutschland seinen europäischen Verpflichtungen aus
dem Rahmenbeschluss nachkommen. Darüber hinaus
wird der Informationsaustausch zwischen den Strafver-
folgungsbehörden in Europa erheblich erleichtert. Letz-
teres ist ausdrücklich im Interesse Deutschlands. Daher
ist diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Kriminalität ist kein nationales Problem und machtvor Ländergrenzen nicht halt. Menschenhandel, Terro-rismus oder Korruption sind internationale und damitländerübergreifende Straftaten, denen auch nur länder-übergreifend effektiv begegnet werden kann.Ein flexibler und zuverlässiger Austausch von straf-verfolgungsrelevanten Informationen zwischen den Mit-gliedstaaten der Europäischen Union, Art. 87 Abs. 1,Abs. 2 a AEUV, ist aus diesem Grund ein wichtiger Bau-stein bei der wirksamen Bekämpfung der internationalenKriminalität. Der Vertrag von Lissabon stärkt in dieserBeziehung bereits die Rolle von Eurojust und Europol,Art. 85 und Art. 88 AEUV, die die Mitgliedstaaten in ih-rer Zusammenarbeit bei Ermittlungen, Strafverfolgun-gen und der Prävention und Bekämpfung von Kriminali-tät und Terrorismus unterstützen. Das ist ein wichtigerSchritt auf dem Wege der Verbesserung der polizeilichenund justiziellen Zusammenarbeit in der EU.Darüber hinaus hat die Europäische Union mit demim Dezember 2009 verabschiedeten Stockholmer Pro-gramm eine ganzheitliche Strategie vorgelegt, die dieZu ProtokollPrioritäten der EU für den Raum der Freiheit, der Si-cherheit und des Rechts für den Fünfjahreszeitraum von2010 bis 2014 festlegt. Damit bildet sie den Rahmen fürzahlreiche politische Maßnahmen der Union auf Gebie-ten wie der Justiz, der öffentlichen Sicherheit, der Ein-wanderung und des Asyls. Hierbei ist es wichtig, dierichtige Balance zwischen sicherheitspolitischen Inte-ressen und Freiheitsrechten zu wahren. Wir Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine Ausge-wogenheit von Freiheit uns Sicherheit.Mit dem Rahmenbeschluss 2006/960/JI aus demJahre 2006 formulierte der Rat ein zentrales Ziel derEuropäischen Union. Es besteht darin, ihren Bürgerin-nen und Bürgern ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten.Nur durch eine engere Zusammenarbeit der Strafverfol-gungsbehörden der Mitgliedstaaten beim Austausch vonInformationen und Erkenntnissen über Straftaten undkriminelle Aktivitäten kann eine effektive länderüber-greifende Prävention und Strafverfolgung und damit einmöglichst hoher Schutz für die Bürgerinnen und Bürgerin Europa gewährleistet werden. Jedem Mitgliedstaatwurde die Möglichkeit eingeräumt, die für die Strafver-folgungsbehörden relevanten Daten anzufordern undauf deren Ersuchen hin zu erhalten. Das ist ein wichtigerSchritt hin zu einer wirksamen Bekämpfung von Krimi-nalität, den wir als SPD ausdrücklich unterstützen.Zwei große Fortschritte beinhaltet der Rahmenbe-schluss gegenüber den bisherigen Rechtshilfebestim-mungen, auf die ich hinweisen möchte: Zum einenschreibt er den sogenannten Gleichbehandlungsgrund-satz bzw. Grundsatz der Verfügbarkeit personenbezoge-ner Informationen fest, der besagt, dass Informationenden Strafverfolgungsbehörden aus anderen Ländern inder gleichen Art und Weise zugänglich gemacht werdenmüssen wie den inländischen Behörden. Zum anderenenthält der Rahmenbeschluss Regelungen zu Beantwor-tungsfristen. So soll auf Ersuchen aus EU-Staaten in Eil-fällen innerhalb von acht Stunden, in normalen Fälleninnerhalb von zwei Wochen geantwortet werden. Bislangwurde der Informationsaustausch zwischen den Mit-gliedstaaten durch rechtliche Hindernisse und kompli-zierte Verwaltungsstrukturen beeinträchtigt. Eine mehr-monatige Wartezeit, wie sie bisher nicht selten die Regelwar, wäre nunmehr ausgeschlossen. Mit dem Gleichbe-handlungsgrundsatz und der Fristenregelung beschrei-ten die europäischen Staaten einen neuen und richtigenWeg.Leider hat es Deutschland bisher versäumt, den Rah-menbeschluss trotz Ablauf der Umsetzungsfrist in natio-nales Recht umzusetzen. Wir begrüßen daher, dass dieBundesregierung nun einen Gesetzentwurf vorgelegthat, um die notwendige Umsetzung in deutsches Rechtzu vollziehen. Mit dem Entwurf des Gesetzes über dieVereinfachung des Austauschs von Informationen undErkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehördender Mitgliedstaaten der Europäischen Union schlägt dieBundesregierung Änderungen bei einer Reihe von Ge-setzen vor, darunter das Gesetz über die internationaleRechtshilfe in Strafsachen, das Bundeskriminalamtge-setz und das Bundespolizeigesetz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11415
gegebene RedenDr. Eva Högl
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Die SPD unterstützt ausdrücklich den Rahmenbe-schluss zur Erleichterung des Informationsaustauscheszwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied-staaten und damit auch die Umsetzung durch das ge-plante Gesetz. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dassnur verfügbare Daten übermittelt werden sollen, also dieDaten, die bei der ersuchten Behörde vorhanden sindund die ohne Ergreifen von Zwangsmaßnahmen erhobenworden sind. Eine Übermittlung von Daten, die erstdurch Zwangsmaßnahmen erhoben werden müssten,wird nicht gestattet.Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme vom11. Februar 2011, dass der Begriff der „durch Zwangs-maßnahmen erlangten Erkenntnisse und Informationen“legal definiert wird. Der Polizei wäre sonst der Datenab-gleich als ein wichtiges Instrument im grenzüberschrei-tenden Austausch von Informationen genommen. DieSPD hält genau wie die Bundesregierung eine Legalde-finition des Begriffes für nicht notwendig. Da ohnehinnur Daten ausgetauscht werden können, die bereits vor-handen sind und aufgrund einschlägiger nationaler Vor-schriften abgeglichen werden, spielt die Frage keineRolle, ob die Daten durch Zwangsmaßnahmen erlangtwerden können, da diese ohnehin einem Verwertungsver-bot unterlägen.Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenspielt bei der Weitergabe von Informationen der Daten-schutz eine besonders große Rolle. Ein modernes euro-päisches Netzwerk zum Informationsaustausch bedarfauch eines gewissenhaften einheitlichen Schutzes der zuübertragenden Daten. Der Grundsatz der Verfügbarkeitzielt darauf ab, die vorhandenen nationalstaatlichenund gemeinschaftlichen europäischen Informationssys-teme miteinander zu vernetzen, sodass die Daten für dieverschiedenen Sicherheitsbehörden abgerufen, gespei-chert und übermittelt werden können, auch wenn sie nurdurch das Einverständnis des jeweiligen Mitgliedstaateseingeholt werden dürfen. Eine wirksame Strafverfolgungüber Ländergrenzen hinweg zum Schutz kollektiver Si-cherheitsinteressen darf den Individualschutz der Unions-bürgerinnen und Unionsbürger nicht beeinträchtigen.Es ist notwendig, jedem Missbrauch vorzubeugen undden Grundrechteschutz, wie in Art. 16 AEUV sowie inder Charta der Grundrechte der Europäischen Unionund der Europäischen Menschenrechtskonvention fest-gelegt, vollständig zu achten.Meine Fraktion und ich begrüßen den Schritt der eu-ropäischen Staaten hin zu einer gegenseitigen Akzeptanzvon rechtlichen Strukturen und Entscheidungen sowie zueinem umfassenden Informationsaustausch im Bereichder Strafverfolgung. Der Umsetzung des Rahmenbe-schlusses von 2006 gestehen wir dabei eine besondereRolle zu. Nach der Umsetzung in nationales Recht ist eswichtig, den Austausch von Strafverfolgungsdaten zwi-schen den Mitgliedstaaten der EU zu überwachen unddie Funktionalität und Wirksamkeit der Austauschnetz-werke kontinuierlich zu überprüfen. Wir unterstützeneine intensive und weitgehende Zusammenarbeit derMitgliedstaaten untereinander und auf europäischerEbene – nicht nur im Bereich der Strafverfolgung, son-Zu Protokolldern auch darüber hinaus. Deshalb können wir dem Ge-setzentwurf der Bundesregierung zustimmen.
In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und desRechts ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeitvon herausragender Bedeutung. Es ist daher notwendig,innerhalb Europas die Zusammenarbeit der Sicherheits-behörden zu verbessern.Dabei darf aber keiner der drei Aspekte – Freiheit,Sicherheit und Recht – ins Hintertreffen geraten. EineZusammenarbeit, die sich nur an der Sicherheit orien-tiert, dabei aber die Freiheit über Gebühr einschränktund dem Recht durch mangelnde rechtsstaatliche Siche-rungen nicht ausreichend Rechnung trägt, genügte denAnforderungen an eine vernünftige Politik in der drittenSäule nicht.Der unter der schwedischen Ratspräsidentschaft ent-wickelte Rahmenbeschluss folgt dem Gedanken eineseinheitlichen EU-weiten Raums der Freiheit, der Sicher-heit und des Rechts. Dabei ist es grundsätzlich nachvoll-ziehbar, dass in diesem kein Unterschied gemacht wer-den soll zwischen dem Datenaustausch der zuständigeninnerstaatlichen Behörden und den zuständigen Behör-den anderer EU-Mitgliedstaaten. Dennoch muss natür-lich berücksichtigt werden, dass ein einheitlicher Raumder Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht bedeu-tet und auch nicht bedeuten darf, dass Strafverfolgungnicht mehr in nationaler Hoheit steht. Es ist daher rich-tig, dass eine nationale Behörde nicht über die Regeln,die für die innerstaatliche Datenübermittlung gelten, hi-naus verpflichtet ist, Behörden anderer MitgliedstaatenDaten zur Verfügung zu stellen. Damit wird gewährleis-tet, dass die deutschen Behörden unseren Standard wah-ren können, wenn Ersuchen bearbeitet werden.Richtig und wichtig ist auch die Zweckbindung derübermittelten Daten. Die strikte Zweckbindung und dasausdrückliche Verbot, übermittelte Daten zu Beweiszwe-cken im Strafverfahren zu verwenden, sofern keine dies-bezügliche ausdrückliche Zustimmung vorliegt, ist einezentrale rechtsstaatliche Absicherung.Das Bundesverfassungsgericht hat in ständigerRechtsprechung deutlich gemacht, dass in der Übermitt-lung von Daten ein eigener Grundrechtseingriff zu sehenist, der dem Eingriff bei der Erhebung gleichzustellenist. Da es sich bei den hier infrage stehenden Daten umsensible Daten handelt, muss ein hohes Niveau an Da-tenschutz sowie an Rechtsschutz gewährleistet sein. Zu-dem muss stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.Daher hat die FDP-Fraktion immer angemahnt, dassderartige Daten nur dann übermittelt werden dürfen,wenn die Schwere der Straftat, die in Rede steht, die Da-tenübermittlung verhältnismäßig macht. Insofern ist esgut, dass die Datenübermittlung verweigert werdenkann, wenn die Straftat im Empfängerland mit einerFreiheitsstrafe von einem Jahr oder weniger bedroht ist.Wenngleich mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurfim Wesentlichen nur Anpassungen nationaler Rechts-vorschriften, die sich auf den Rahmenbeschluss bezie-
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11416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene RedenGisela Piltz
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hen, vorgenommen werden, dürfen wir nicht die Augendavor verschließen, dass, wie die Bundesregierung in ih-rer Begründung schreibt, „neue Maßstäbe“ bei der Da-tenübermittlung gesetzt werden. Diese Maßstäbe dürfenaus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion aber nicht nurdie Interessen der Strafverfolgungsbehörden sein, son-dern müssen ebenso die Grundrechte, insbesondere denDatenschutz und den Rechtsschutz, umfassen. DieSchnelligkeit und Leichtigkeit der Datenübermittlungmuss durch strikte rechtsstaatliche Sicherungen flan-kiert sein.Die Liberalen erkennen ausdrücklich die Bedeutungder europäischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfungvon Kriminalität und Terrorismus an. Ebenso steht aberdie Achtung der Grundrechte für uns an vordersterStelle. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dieGratwanderung deutlich, die bei der Abwägung vonFreiheit und Sicherheit stets gegeben ist. Aus Sicht derFDP-Fraktion ist dies den federführenden Bundesminis-terien der Justiz und des Innern gelungen. Die FDP-Fraktion wird weiterhin sorgsam darauf achten, dass inder EU bei allen Beschlüssen alle Aspekte der drittenSäule gleichermaßen berücksichtigt werden.
Unbestritten gibt es die Notwendigkeit für einen bes-seren Austausch von Erkenntnissen zwischen den Straf-behörden der Mitgliedstaaten in der EuropäischenUnion. Bei vielen Straftaten ist die grenzüberschreitendeKriminalität zur Normalität geworden. Eine grenzüber-greifende Ermittlungszusammenarbeit ist eher noch dieAusnahme.Bisher lief der zwischenstaatliche Datenaustauschvon Ermittlungsbehörden weitgehend über das Mitteldes Rechtshilfeersuchens. Lange Wartezeiten und aus-bleibende Reaktionen auf Anfragen waren die Regel.Das war ein äußerst unbefriedigender Zustand.In den letzten Jahren hat sich in der EU der Ansatzder „weitgehend diskriminierungsfreien Verfügbarkeitvon Daten“ durchgesetzt. Ermittelnde Behörden einesMitgliedstaates sollen grundsätzlich und zeitnah auf dievorhandenen Ermittlungsdaten des anderen Mitglied-staates zugreifen können. Für den Informationsaus-tausch mit dem EU-Ausland dürfen keine strengerenRegelungen als für den Austausch von Strafverfolgungs-daten im Inland bestehen. Bis zum 26. August 2011 müs-sen die EU-Beschlüsse zum Datenabgleich, resultierendaus dem „Ratsbeschluss zur Vertiefung der grenzüber-schreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Be-kämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreiten-den Kriminalität“, umgesetzt sein.So weit, so gut. Der Prozess zur Schaffung der techni-schen und rechtlichen Voraussetzungen zum Austauschvon Strafverfolgungsdaten findet allerdings vor demHintergrund eines nicht vorhandenen europäischen Da-tenschutzrechtes, eines national völlig unterschiedlichenDatenschutzniveaus und teilweise unzureichenderRechtsstaats- und Menschenrechtsstandards statt.Zu ProtokollIn der Europäischen Union existiert kein verbindli-cher, einklagbarer Datenschutzstandard. Es existierenjeweils bereichsspezifische Datenschutzbestimmungenmit eher zweifelhaften Datenschutzniveaus, zum Beispielzu Europol, Schengen oder zum Prümer Ratsbeschluss.Es gibt aber keine Anwendbarkeit des Strafrechtes aufdie Datenschutzrichtlinien und -vorschriften. Der einziggeltende Rechtsakt ist das völlig veraltete völkerrechtli-che „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei derautomatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“der Mitglieder des Europarates von 1981.Der Mangel bei den Rechtsstaats- und Menschen-rechtsstandards in einigen EU-Ländern zeigte sich bei-spielsweise beim sogenannten „Krieg gegen den Ter-ror“. Die vom BND-Untersuchungsausschuss benanntenFälle bewiesen, dass grundlegende Rechtsstaats- undMenschenrechtsstandards massiv verletzt wurden undbei neuerlichen Terroranschlägen auch künftig wiederverletzt werden dürften. So gab es in den MitgliedstaatenPolen, Litauen und Rumänien sogenannte Black Sites,also inoffizielle Gefängnisse der CIA, in denen unterFolterbedingungen inhaftierte Verdächtige bei ihrenVernehmungen mit Informationen aus unter anderem inDeutschland geführten strafrechtlichen Ermittlungsver-fahren konfrontiert wurden.Die Umsetzung des Ratsbeschlusses durch den Ge-setzentwurf der Bundesregierung wird von der Linkenstrikt abgelehnt. Der Ratsbeschluss zielt darauf, keinenUnterschied mehr zwischen innerstaatlichen und euro-päischen Strafverfolgungsbehörden zu machen, wenn esdarum geht, bei den Strafverfolgungsbehörden vorhan-dene oder verfügbare Informationen zur Verfügung zustellen. Damit geht der Rechtsakt grundsätzlich über Re-gelungen zum Austausch von Informationen und Er-kenntnissen zwischen Strafverfolgungsbehörden hinaus,die auf Art. 39 des Schengener Durchführungsüberein-kommens, SDÜ, beruhen. Art. 39 SDÜ verpflichtet dieMitgliedstaaten zwar zu gegenseitiger Hilfe im Interesseder vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung vonstrafbaren Handlungen, überlässt es jedoch dem natio-nalen Recht, die Art der Zusammenarbeit auszugestal-ten.Nach dem Ratsbeschluss hingegen gibt es für die an-gefragten Mitgliedstaaten lediglich ein Rückweisungs-recht bei Informationen und Erkenntnissen, die durchZwangsmaßnahmen erlangt wurden, und wenn dies mitdem nationalen Recht nicht vereinbar ist. Für eine der-art weitgehende grenzüberschreitende Verfügbarkeitstrafrechtlicher Ermittlungsdaten fehlt es indes, wie ge-sagt, an der Grundvoraussetzung eines unabhängig voneiner Einzelfallprüfung vollzogenen Informationsaus-tausches: ein angemessener rechtstaatlicher, insbeson-dere datenschutzrechtlicher, Standard innerhalb der EU.Es fehlen insbesondere klare Regelungen im Hinblickauf den Zweck der Datenabfrage, den von der Datenver-arbeitung betroffenen bzw. auszuschließenden Perso-nenkreis, die Begrenzung der Übermittlung von DNA-Daten auf bestimmte Deliktbereiche, die Speicherfristender Daten im anfordernden Land sowie ein Weitergabe-verbot an dritte Dienststellen und Drittstaaten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11417
gegebene RedenFrank Tempel
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Die unscharfe Trennung von Polizei, Geheimdienstenund Militär in verschiedenen Mitgliedstaaten lässt er-warten, dass übermittelte Daten nach Belieben in derennationale Datenbanken eingespeist und nicht im Sinneder deutschen Rechtsprechung verwendet werden. Wei-terhin ist völlig unklar, wie die Einhaltung von daten-schutzrechtlichen Fragen auf der europäischen und na-tionalen Ebene parlamentarisch überprüft werden kann.Man muss es klar sagen: Der Austausch von Ermitt-lungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten ohne ausrei-chende Rechtsgrundlage wird den Wert der so erlangtenErmittlungsergebnisse vor Gericht reduzieren. Verurtei-lungen, zumindest vor deutschen Gerichten, werden un-wahrscheinlich, wenn der Wert von Beweisen zweifelhaftist.Der Bundesregierung muss man ins Stammbuchschreiben, dass sie mit großem Fleiß die Umsetzung vonBeschlüssen der EU ins deutsche Recht betreibt, mit de-nen man die Befugnisse europäischer Sicherheitsbehör-den massiv ausweitet. Zu vermuten ist gar, dass man überden Umweg europäischer Verordnungen den hohen, vomBundesverfassungsgericht vorgegebenen, Datenschutz-standard aushebeln möchte. Sie rührt aber keinen Fin-ger, wenn es um die Ausgestaltung eines europäischenDatenschutzes geht, der die Bürgerinnen und Bürger vorstaatlichen Eingriffen in die Privatsphäre schützen soll.Die Linke fordert eindringlich den Einsatz der Bundes-regierung auf europäischer Ebene für die Sicherung in-dividueller Rechte, Rechtsstaatlichkeit und datenschutz-rechtlicher Standards nicht unter den vomBundesverfassungsgericht vorgegebenen Niveaus!
Wir befinden uns im Jahr 2011, 15 Monate nach In-krafttreten des Vertrages von Lissabon, nach dem nunendlich das Europäische Parlament bei der europa-rechtlichen Regelung des Datenschutzes und des Aus-tauschs personenbezogener Daten auch im Bereich desPolizei- und Strafrechts entscheidend mitbestimmenkann. Das ist wichtig und im Hinblick auf die anste-hende Gesamtreform des EU-Datenschutzrahmens unddie datenschutzrechtlichen Herausforderungen einesRaums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, denes rechtlich und politisch zu gestalten gilt, auch notwen-dig.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über dieVereinfachung des Austauschs von Informationen undErkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehördender Mitgliedstaaten der Europäischen Union dient derUmsetzung eines eher beunruhigenden Relikts aus altenZeiten, in denen EU-Recht noch hinter verschlossenenTüren ohne effektive parlamentarische Kontrolle durchdas Europäische Parlament gemacht werden konnte,wenn sich nur die Vertreterinnen und Vertreter der Regie-rungen und der jeweiligen Innenministerien der Mit-gliedstaaten einig waren. Das Gesetz soll der Umsetzungeines EU-Rahmenbeschlusses über die Vereinfachungdes Austauschs von Informationen und Erkenntnissenzwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied-Zu Protokollstaaten der Europäischen Union, der sogenanntenschwedischen Initiative aus dem Jahr 2006, dienen.Dass man die Umsetzungsfrist, die im Dezember 2008auslief, seelenruhig und deutlich hat verstreichen las-sen, kann ich angesichts der schwerwiegenden daten-schutzrechtlichen Kritik, die am Konzept des Rahmenbe-schlusses in den letzten Jahren immer wieder geübtwurde, verstehen. Warum Deutschland ausgerechnetjetzt den Rahmenbeschluss umsetzen soll, wo ein Berichtder Kommission über dessen Umsetzung und die Reformdes EU-Datenschutzrahmens kurz bevorstehen, er-schließt sich mir aber nicht. Die Erkenntnisse aus demBericht der Kommission und aus den Fachdebatten zurReform des EU-Datenschutzrahmens sollten auf jedenFall gebührende Berücksichtigung finden.Der Rahmenbeschluss und sein Umsetzungsgesetzbezwecken den möglichst ungehinderten und beschleu-nigten Datenaustausch zwischen den Polizei- und Straf-verfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Der Da-tenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmteGefahrensituationen oder Verdachtstaten beschränkt.Der Kreis der Behörden, die untereinander – offenbarkreuz und quer – Daten austauschen sollen, ist sehrgroß: Jede Behörde, die befugt ist, Straftaten oder krimi-nelle Aktivitäten aufzudecken, zu verhüten, aufzuklärenund Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, kann Daten andeutsche Behörden übermitteln oder Daten von deut-schen Behörden anfragen. Es reicht, dass der betref-fende Mitgliedstaat die Polizei-, Strafverfolgungs-,Steuer-, Ausländer-, Gesundheits- oder sonstige Be-hörde gegenüber dem Rat der EU als zuständig benannthat. Die Möglichkeiten, die Übermittlung von Informa-tionen auf Anfrage einer EU-ausländischen Behörde zuverweigern, sind sehr eng. Die Übermittlung von Datenvon Stuttgart nach Györ oder Barcelona soll praktischso behandelt werden wie die Übermittlung von Datenvon Stuttgart nach Wiesbaden. Die Fristen für die Über-mittlung sind zudem äußerst kurz. Zwischen acht Stun-den und zwei Wochen hätte eine deutsche Behörde Zeit,die Daten auf der Grundlage eines holzschnittartigenFormblatts zu übermitteln. Auch spontane Übermittlun-gen zwischen den als zuständig benannten Behördenverschiedener EU-Mitgliedstaaten zwischen Litauenund Portugal soll es geben, wenn konkrete Gründe fürdie Annahme bestehen, dass die Informationen für diePrävention oder Verfolgung schwerer Straftaten nützlichsein könnten.Es verwundert unter diesen Voraussetzungen nicht,dass sowohl Vertreter von Regierungen und Sicherheits-behörden als auch Datenschützer davon ausgehen, dassdie Umsetzung der schwedischen Initiative zu einemdeutlichen Anstieg und zur Beschleunigung des Informa-tionsaustausches in der EU führen wird.Wir Grüne wollen ein starkes Europa, einen starkenRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. AberSicherheit auf der einen Seite und Freiheit und Recht aufder anderen Seite müssen in einem ausgewogenen Ver-hältnis stehen. Eine „Securitization“ Europas unterPreisgabe der Grundrechtserrungenschaften Deutsch-lands wollen wir nicht. Nach Lissabon wollen und müs-sen wir auch das EU-Grundrecht auf Datenschutz in
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11418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11419
Dr. Konstantin von Notz
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Art. 8 der nunmehr verbindlichen EU-Grundrechtechartain die Waagschale werfen.Der alte Rahmenbeschluss über den Informations-austausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehör-den, den wir hier umsetzen sollen, basiert auf der Fik-tion, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staatenin etwa vergleichbar sind. Träfe das zu, könnte man Da-ten zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in-nerhalb der EU tatsächlich weitgehend unbedenklichaustauschen. Dass aber ein EU-weit vergleichbares Da-tenschutzniveau im Sicherheitsbereich bedauerlicher-weise noch längst nicht Wirklichkeit ist, sondern pureFiktion, bestreitet meines Wissens niemand. Wer es be-streitet, der sollte den datenschutzrechtlich völlig unzu-reichenden EU-Rahmenbeschluss zum Datenschutz ausdem Jahr 2008 an den Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts für die Erhebung und Verarbeitung vonpersonenbezogenen Daten durch Polizei- und Strafver-folgungsbehörden messen. Er oder sie wird feststellenmüssen, dass nichts von diesen verfassungsrechtlichenVorgaben sich als EU-rechtliche Pflicht in dem Rahmen-beschluss wiederfindet. Die Mitgliedstaaten konntensich 2008 aus gutem Grund gar nicht auf die Normie-rung datenschutzrechtlicher Standards für die Datenver-arbeitung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehördenauf nationaler Ebene einigen. Der Rahmenbeschluss be-schränkt sich deshalb auf den Datenaustausch zwischenden betreffenden Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Daskann schon deshalb keinen ausreichenden Datenschutzgarantieren, weil die übermittelten Daten im Empfän-gerland mit den dort erhobenen Daten zusammengeführtwerden. Auch die Rechte der Betroffenen werden durchden Rahmenbeschluss Datenschutz nicht ausreichendgewährleistet. Von einem vergleichbaren datenschutz-rechtlichen Schutzniveau in der EU oder gar einer euro-parechtlich abgesicherten Harmonisierung des Daten-schutzes im Bereich des Polizei- und Strafrechts kanndaher nicht die Rede sein.Unter dieser Voraussetzung können wir nicht einfachein Gesetz verabschieden, das den praktisch ungehin-derten und beschleunigten Datenaustausch mit einerUnzahl von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden inder ganzen EU ermöglicht.So weit zu dem an sich schon beunruhigenden Kon-zept des Rahmenbeschlusses zum Informationsaus-tausch und seines Umsetzungsgesetzes. Lassen Sie michweitere konkrete Gründe nennen, warum wir diesen Ge-setzentwurf einer gründlichen Prüfung unterziehen soll-ten.Erstens fehlt es dem Gesetz an vielen Stellen an derverfassungsrechtlich gebotenen Normenklarheit. Es be-nennt nicht die Behörden der EU-Mitgliedstaaten, in dieDaten übermittelt werden dürfen, sondern verweistRechtsanwenderinnen und -anwender sowie Richterin-nen und Richter zu diesem Zweck auf eine Liste, die ir-gendwo beim Generalsekretariat des Rates liegen muss.Das Umsetzungsgesetz benennt auch die Straftatennicht, in deren Zusammenhang Daten spontan in andereMitgliedstaaten übermittelt werden können, sondernverweist diesbezüglich auf den Rahmenbeschluss zumEU-Haftbefehl. Darüber hinaus begnügt sich das vorge-schlagene Umsetzungsgesetz mit einem vagen Verweisauf Art. 6 des EU-Vertrages, um zu beschreiben, wanndie Übermittlung aus grundrechtlichen Erwägungen he-raus unterbleiben muss.Zweitens nützt das Umsetzungsgesetz die Umset-zungsspielräume nicht, die der EU-Rahmenbeschlussden Mitgliedstaaten gewährt. So fehlt es zum Beispiel ander Normierung einschränkender Modalitäten für Spon-tanübermittlungen. Es fehlt außerdem an begrenzendenRegelungen über die Weitergabe der Daten an Drittstaa-ten außerhalb der EU. Als letztes Beispiel für die feh-lende Nutzung des Umsetzungsspielraums zugunsten derGrundrechte möchte ich anführen, dass das Umset-zungsgesetz keine inhaltlichen Anforderungen an die Er-suchen um Datenübermittlung an Drittstaaten enthältund dadurch der Übermittlung von nichterforderlichenÜberschussinformationen Tür und Tor öffnet.Drittens möchte ich darauf hinweisen, dass auch die-ses Umsetzungsgesetz offenbar wieder zur Ausweitungbundesdeutscher exekutiver Handlungsspielräumedurch die Hintertür genützt werden soll. Wie schon zahl-reiche Umsetzungsgesetzentwürfe der Bundesregierungzuvor enthält auch dieses Gesetz Rechtsverschärfungen,die mit der EU-Vorlage, dem Rahmenbeschluss, garnichts zu tun haben. So soll zum Beispiel durch Änderun-gen im Bundespolizeigesetz und im BKA-Gesetz das Da-tenschutzniveau für die Datenübermittlung in Nicht-EU-Staaten abgesenkt werden. Künftig können die „schutz-würdigen Interessen der betroffenen Personen … auchdadurch gewahrt werden, dass der Empfängerstaat oderdie empfangende zwischen- oder überstaatliche Stelleim Einzelfall einen angemessenen Schutz der übermittel-ten Daten garantiert“. Einzelfallregelungen entsprechennicht unseren rechtsstaatlichen und grundrechtlichenSchutzstandards. Das lassen wir uns nicht so einfach un-terjubeln, und das sollten auch Sie, meine Damen undHerren von den Koalitionsfraktionen, nicht tun!Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam undin aller Ruhe, bestenfalls unter Hinzuziehung externenSachverstands, über diesen komplexen Gesetzentwurfberaten und anschließend besonnen über das weitereVorgehen entscheiden. Lassen Sie uns den vielfältigenEntwicklungen im Sicherheitsrecht Europas Rechnungtragen, die sich seit dem Erlass des Rahmenbeschlusses2006 vollzogen haben. Lassen Sie uns gemeinsam einklares Ja zu Europa formulieren, gleichzeitig aber un-missverständlich klarmachen, dass es mit uns keinenAusverkauf von Datenschutzstandards über die europäi-sche Hintertür geben wird.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 17/5096 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.
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11420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Urheberrechtsgesetzes– Drucksache 17/5053 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ich lese die Na-men der Kolleginnen und Kollegen vor, damit die Frak-tionen wieder Beifall geben können: Ansgar Heveling,
René Röspel,
Stephan Thomae,
Dr. Petra Sitte,
Krista Sager.1) Sollten die Kolleginnen und Kollegennicht da sein, bitte ich, Ihnen mitzuteilen, dass sie hiermit Beifall bedacht worden sind.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/5053 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatz-punkt 11 auf:21 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten UweBeckmeyer, Rainer Arnold, Sören Bartol, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zurVolksabstimmung– zu dem Antrag der Abgeordneten SabineLeidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEStuttgart 21, Neubaustrecke Wendlin-gen–Ulm und das Sparpaket der Bundesre-gierung– zu dem Antrag der Abgeordneten WinfriedHermann, Kerstin Andreae, Birgitt Bender,1) Anlage 8weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und dieNeubaustrecke Wendlingen–Ulm– Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893,17/5172 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Stefan KaufmannZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. AntonHofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENTransparenter Stresstest für die Leistungsfä-higkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21– Drucksachen 17/5041, 17/5236 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Stefan KaufmannWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. StefanKaufmann, Ulrich Lange, Ute Kumpf, WernerSimmling,
Sabine Leidig, Winfried Hermann.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklunghat empfohlen, die Anträge von SPD, Linken und Bünd-nis 90/Die Grünen, die im Wesentlichen einen Baustoppzum Ziel haben, abzulehnen. Der Ausschuss hat weiter-hin empfohlen, den Antrag von Bündnis 90/Die Grünenzu einem „Transparenten Stresstest für die Leistungsfä-higkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21“ ebenfalls abzu-lehnen. Alle zur Debatte stehenden Anträge sind meinerAnsicht nach mit dem Schlichterspruch des SchlichtersDr. Heiner Geißler obsolet geworden, was ich im Einzel-nen gerne erläutern möchte.Zunächst zum Antrag der SPD. Nach dem Schlichter-spruch hätte die SPD die Chance gehabt, ihren Zick-zackkurs beim Thema Stuttgart 21 zu beenden. DieseChance hat sie offensichtlich aus wahltaktischen Grün-den nicht genutzt. Der Schlichterspruch zu Stuttgart 21betont, dass eine Volksabstimmung verfassungswidrigwäre und daher nicht in Betracht kommt. Mit etwas Er-staunen nehme ich zur Kenntnis, das dies offenbar auchvon SPD-Parteichef Siegmar Gabriel so gesehen wird.Oder wie ist die Aussage zum Volksentscheid vom10. März dieses Jahres in der “Südwestpresse“: „viel-leicht braucht man das jetzt gar nicht mehr“ zu interpre-tieren? Leider wurde Herr Gabriel noch am selben Tagvom SPD-Spitzenkandidaten und Möchtegern-Minister-präsidenten Dr. Nils Schmid zurückgepfiffen. HerrSchmid hält weiter an seiner merkwürdigen Konstruk-Dr. Stefan Kaufmann
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tion eines verfassungswidrigen Volksentscheids fest. Ichkann nur dringend abraten, einen solchen Volksent-scheid zu initiieren. Die Äußerungen des Präsidentendes Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle sindeindeutig. Ich zitiere ihn aus der „Süddeutschen Zei-tung“ vom 16. Oktober 2010:Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernst-haftes Problem für die Verwirklichung von Infra-strukturprojekten dar. Irgendwann muss hier einSchlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenndie höchsten Gerichte über das Projekt entschiedenhaben.Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Einen Volks-entscheid wird es nicht geben. Der SPD rate ich davonab, ihren parteiinternen Streit in dieser Sache auf demRücken der Baden-Württemberger auszutragen.Zum Antrag der Linken möchte ich zwei Punkte beto-nen. Erstens hat die Schlichtung deutlich gemacht, dassdas Projekt Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke ein ei-genwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG ist.Zweitens haben unabhängige Wirtschaftsprüfungsge-sellschaften im Laufe der Schlichtung zudem bestätigt,dass das Projekt ausreichend finanziert ist. Auch für dieNeubaustrecke, also das im Bundesverkehrswegeplanenthaltene Teilprojekt, wurde die Wirtschaftlichkeitnochmals bestätigt. Ihr Antrag ist daher folgerichtig ab-zulehnen.Eine dem Wahlkampf in Baden-Württemberg geschul-dete totale Realitätsverweigerung erleben wir derzeitbei den Grünen. Sie haben die Faktenschlichtung gefor-dert, Sie haben die Person des Schlichters vorgeschla-gen und Sie haben dem Verfahren zugestimmt. Da Ihnendas Ergebnis nicht passt, vermitteln Sie nun den Ein-druck, als hätte es den Schlichterspruch nie gegeben.Darüber hinaus wollen Sie nun am Stresstest beteiligtwerden; dem dient der jüngste der Anträge. Diese Betei-ligung ist im Schlichterspruch aber nicht vorgesehen.Wie Sie wissen, wird die Bahn beginnend im April einenStresstest durchführen und die Ergebnisse durch dasschweizerische Sachverständigenbüro SMA überprüfenlassen. So wurde es im Rahmen der Schlichtung verein-bart. Der Stresstest soll im Juni abgeschlossen sein.Dies ist ein ebenso transparentes wie öffentliches Ver-fahren – so wie von Ihnen gefordert. Die Bahn wird denStresstest eben nicht hinter verschlossenen Türen durch-führen. Die Öffentlichkeit wird über die Schritte desStresstests informiert, und die Bahn wird die Arbeit in ei-nem Dialogforum zur Diskussion stellen.Da Sie sich aber ungern an Vereinbarungen halten,sind Sie sechs Tage vor der Wahl in Baden-Württembergnoch einen Schritt weitergegangen und haben die Er-gebnisse eines eigenen Stresstests präsentiert, bei demStuttgart 21 – man glaubt es kaum – durchfällt. Bedau-erlicherweise haben Sie niemanden, etwa von der Bahnoder den Projektbefürwortern, an Ihrem eigenen kleinenStresstest beteiligt. Sie stellen nur immerzu Forderungenan die anderen. Wohlgemerkt, die Bahn selbst benötigtüber ein halbes Jahr für das komplizierte Verfahren. DasVorhaben ist deshalb so zeitaufwändig, weil zunächstalle für Stuttgart 21 geplanten Bahnanlagen – wieZu ProtokollGleise, Weichen, Signale und Bahnsteige inklusive derEisenbahnstrecken rund um Stuttgart – erfasst werdenmüssen. Die Ergebnisse aus 100 simulierten Betriebsta-gen bilden dann die Grundlage, um die Leistungskapazi-tät beurteilen zu können. In den „Stuttgarter Nachrich-ten“ am Montag war zu lesen, dass Sie selbsteinräumen, dass nur die Bahn über die technischenMöglichkeiten für eine Computersimulation verfügt;dennoch sei Ihre stark vereinfachte Berechnung aussa-gekräftig.Das ist doch hanebüchen! Ich sage Ihnen, für was IhrAktionismus aussagekräftig ist: Es handelt sich um ei-nen weiteren unredlichen, aber durchschaubaren Ver-such, die Stuttgarter vor der Landtagswahl zu verunsi-chern und gegen die Zukunft aufzuwiegeln. Auf diesebillige Wahlkampfmasche werden die Bürgerinnen undBürger hoffentlich nicht hereinfallen. Seriös sind IhreBerechnungen einmal mehr nicht.Zu Ihrem Antrag, der die Forderung nach einem so-fortigen Baustopp enthält, möchte ich noch Folgendesanmerken: Mit der Schlichtung wurden die von Ihnengeforderten offenen Gespräche mit allen Beteiligten ge-führt. Der Bau wurde hierfür weitgehend unterbrochen.Bis ins kleinste Detail wurden die in Ihrem Antrag gefor-derten unterschiedlichen Aspekte des Gesamtprojektsoffengelegt und intensiv diskutiert. Im Ergebnis sprachsich der Schlichter Dr. Heiner Geißler klar für eineFortführung des Projekts und eine Weiterentwicklung zuStuttgart 21 Plus aus. Nehmen Sie diese Tatsache bitteendlich zur Kenntnis.Lassen Sie mich nochmals kurz die Chancen des Pro-jekts für meine Heimatstadt Stuttgart und das Land Ba-den-Württemberg skizzieren: Mit Stuttgart 21 und derNeubaustrecke Wendlingen–Ulm stärken wir nicht nurden Fernverkehr, sondern insbesondere auch den Regio-nalverkehr in der Region Stuttgart und darüber hinaus.Mit dem Fildertunnel wird die Region südlich von Stutt-gart inklusive des Flughafens durch schnellere Verbin-dungen viel besser ans Nahverkehrsschienennetz ange-schlossen. Mit der Neubaustrecke nach Ulm wird diegesamte Region Oberschwaben optimal an die Landes-hauptstadt Stuttgart angeschlossen. Mehrere durchgän-gige Regionalexpresslinien werden künftig neben U- undS-Bahn eine dritte Netzspinne bilden. All dies wird in dervom Autoverkehr sehr stark belasteten Region Stuttgartentscheidend dazu beitragen, den Personenverkehr vonder Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Neubau-strecke nach Ulm und der weitere Ausbau nach Augs-burg bringen eine Entlastung der A 8, eine der amstärksten frequentierten Autobahnen in Deutschland.Dies sahen selbst die Grünen bis zum Jahr 2009 so. Eineüberzeugende Alternative zur Neubaustrecke haben sieauch in der Schlichtung nicht vorgebracht. Die Variantedurchs dichtbesiedelte Neckartal wirft beispielsweisedie Frage nach der prinzipiellen Planfeststellungsfähig-keit auf. Unabhängig davon werden die Bewohner desNeckartals die zusätzlichen Belastungen nicht wider-standslos hinnehmen. Die geplante NeubaustreckeWendlingen–Ulm verläuft dagegen weitgehend durchweniger dichtbesiedeltes Gebiet. Weil sie parallel zurAutobahn gebaut wird, kann eine Zerschneidung der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11421
gegebene RedenDr. Stefan Kaufmann
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Landschaft verhindert werden. Auch der Bau der Neu-baustrecke hat im Übrigen schon begonnen. Lassen Sieuns diese Strecke zügig vorantreiben.Zum Schluss möchte ich noch auf die städtebaulichenVorteile für Stuttgart selbst eingehen. Ich halte es fürrichtig, dass die freiwerdenden Flächen dauerhaft demVersuch von Grundstücksspekulationen entzogen wer-den. Eine umfassende Bürgerbeteiligung zur Gestaltunghat bereits begonnen. Es wird ein neues lebendigesWohnquartier und eine Erweiterung des Schlossgartensum mindestens 20 Hektar geben. An den Nahverkehrwird das Quartier bestens angeschlossen. Schon heutesind die Vorarbeiten für neue U-Bahnlinien sichtbar.Insgesamt überwiegen also die verkehrlichen und diestädtebaulichen Vorteile des Projekts deutlich. DieSchlichtung hat erfreulicherweise auch dazu beigetra-gen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger so-wohl in Baden-Württemberg als auch in der RegionStuttgart das Projekt inzwischen befürwortet, wie die re-präsentativen Umfragen zeigen.Ich darf Sie daher bitten, den Beschlussempfehlungendes Ausschusses zu folgen und alle vier heute zur Dis-kussion stehenden Anträge abzulehnen.
Stuttgart 21 ist nicht nur für die baden-württembergi-sche Landeshauptstadt, sondern für ganz Deutschlandein Leuchtturmprojekt. Es ist richtig, und es ist wichtig.Genauso richtig ist aber auch, dass im Vorfeld viel zuwenig auf die Bevölkerung eingegangen, die Bevölke-rung bei diesem Großprojekt nicht mitgenommen wurde.Es ist das herausragende Verdienst von HeinerGeißler, dass es zu einer Befriedung, ja zu einer Versöh-nung innerhalb der zerstrittenen Bevölkerung kam undeine Lösung gefunden wurde, obwohl kaum jemand eineLösungsmöglichkeit sah. Insbesondere die Grünen hat-ten nicht damit gerechnet, dass es zu einer Lösung kam,und nur sehr wenige Grüne, wie der Tübinger Bürger-meister Boris Palmer, waren Demokraten genug, um dasSchlichtungsergebnis zu akzeptieren.Die Grünen hatten auf eine weitere Eskalation im Zu-sammenhang mit Stuttgart 21 gehofft, um weiter in derGunst der Wähler zu steigen. Anschließend machte sichstarke Enttäuschung breit, nicht weil die Bedeutung unddie Richtigkeit von Stuttgart 21 bestätigt wurden, son-dern weil es keine spektakulären Demos mehr gab, aufdenen man sich als Aktivist gegen jeglichen Ausbau dar-stellen konnte. Deshalb werden jetzt Scheinanträge ge-stellt, um das Thema am Kochen zu halten. Meine Da-men und Herren von den Grünen, Sie schüren innerhalbder Stuttgarter Bevölkerung bewusst Ressentiments, umdie Spaltung in der Gesellschaft voranzutreiben, eineSpaltung, die die Schlichtung zum Glück beendet hat.Sie haben die von Ihnen geforderte Schlichtung durchHeiner Geißler erhalten. Akzeptieren Sie endlich das Er-gebnis, beenden Sie Ihre Hetzkampagnen!In der öffentlichen Wirkung wurden immer nur dieGrünen als Gegner von Stuttgart 21 wahrgenommen.Nur die Grünen haben davon profitiert; die SPD ist inZu Protokollder Bedeutungslosigkeit versunken. Lange Zeit hat diebaden-württembergische SPD das Großprojekt mitge-tragen. Als man sah, wie die Medien sich gegen das Pro-jekt wandten, suchte man mit Händen und Füßen einenGrund, ebenfalls gegen den neuen Bahnhof sein zu dür-fen. Man forderte eine Volksabstimmung, wohl wissend,dass das Land Baden-Württemberg gar nicht zuständigist, wohl wissend, dass die Mehrheit der Baden-Württemberger für Stuttgart 21 ist. Hauptsache war,dass man endlich einen Grund gefunden hatte, zumin-dest für einen sofortigen Baustopp sein zu können. Siehaben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag sagen, dass großeVerkehrsinfrastrukturprojekte von der Unterstützungunserer Gesellschaft leben. Deshalb fand die Schlich-tung statt, bei der alle Argumente pro und kontra darge-legt wurden. Geben Sie der DB AG doch die Zeit, den inder Schlichtung beschlossenen Stresstest durchzuführenund die Leistungsfähigkeit des kommenden Tiefbahnho-fes zu beweisen!Wie nicht anders zu erwarten, wollten auch die Lin-ken auf den Protestzug aufspringen. Der heute disku-tierte Antrag zeigt, dass die Linken nicht bis zum Randihres Tellers blicken können, geschweige denn darüberhinaus. Es ist richtig, dass jeder Euro nur einmal ausge-geben werden kann; aber es gibt in unserem Lande Zu-kunftsprojekte, die notwendig für unsere Gesellschaft,für unsere Wirtschaft, für unsere Arbeitnehmer und Ar-beitgeber sind. Dazu gehört der Aufbau einer funktio-nierenden Infrastruktur. Wir müssen unsere Wirtschaftam Laufen halten, wenn wir die sozialen Leistungen wieHartz IV bezahlen wollen; denn jede Wohltat, die verteiltwerden kann, muss erst verdient werden. Sie als Nach-folger der DDR-Diktatur wissen leider nicht, wasVorsorge für die Zukunft bedeutet. Sie haben es inner-halb weniger Jahrzehnte geschafft, die Wirtschaft inOstdeutschland zugrunde zu richten, die Verkehrsin-frastruktur verrotten zu lassen. Dass Sie sich jetzt gegenden Bau zukunftsorientierter Maßnahmen wie Stutt-gart 21 und den Neubau der Strecke Wendlingen–Ulmwenden, wundert eigentlich nicht wirklich.Die Schlichtung hat den verkehrlichen Nutzen vonStuttgart 21 bestätigt. Die dadurch bedingte höhereLeistungsfähigkeit hat mehrere offensichtliche positiveEffekte:Erstens Regionalverkehr: Der neue Durchgangs-bahnhof wird in alle Richtungen verbunden. So ist keinZug mehr gezwungen, zu wenden, und kann direkt Kursauf seinen nächsten Haltebahnhof nehmen. Dadurchwird die Reisezeit verkürzt.Zweitens Fernverkehr: Stuttgart ist mit den StädtenUlm, Augsburg und München über eine uralte Streckeverbunden, auf der teilweise nur 70 Stundenkilometergefahren werden dürfen. Durch den Neubau der StreckeWendlingen–Ulm wird künftig eine Hochgeschwindig-keitstrasse geschaffen, mit der Folge, dass die Fahrzeitvon Stuttgart nach Ulm von 54 auf 28 Minuten nahezuhalbiert wird.Drittens. Die Fahrzeit bis München wird von derzeitüber zweieinviertel Stunden – 139 Minuten – auf etwasmehr als eineinhalb Stunden – 102 Minuten – reduziert.
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11422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene RedenUlrich Lange
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Viertens Güterverkehr: Durch die Neubaustreckekommt es zu einer Entlastung der bestehenden Strecke,sodass dort zusätzliche Kapazitäten entstehen.Für die anwohnenden Schwaben wirkt sich der Aus-bau auch direkt positiv aus. So kommt es zu einer deutli-chen Verbesserung der Flughafenanbindung mit deutli-cher Verkürzung der Reisezeiten aus den südlichenLandesteilen:Von Tübingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr-zeit von 64 auf 35 Minuten – 29 Minuten Zeitgewinn.Von Reutlingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr-zeit von 75 auf 25 Minuten – 50 Minuten Zeitgewinn.Von Nürtingen zum Flughafen reduziert sich die Fahr-zeit von 68 auf 11 Minuten – 57 Minuten Zeitgewinn. VonHorb zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 66Minuten auf 33 Minuten – 33 Minuten Zeitgewinn.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposi-tion, geben Sie Ihre Haltung als Dauerblockierer auf,steigen Sie ein in den Zug der Zukunft, und unterstützenSie den Ausbau von Stuttgart 21 und der Strecke Wend-lingen–Ulm! Die kommenden Generationen werden esIhnen danken.
Die heute zur Debatte stehenden Anträge sind in ei-ner Phase entstanden, als die Stimmung in Stuttgart ge-gen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hochkochte, als einTeil der Bürgerschaft in Stuttgart sich aufgewühlt gegendie Pläne von Stadt, Bahn und Land stellte und rebel-lierte, als die Politiker als „Lügenpack“, „Mafiosi“ und„Kannibalen“ diffamiert wurden, als die politische Weltvereinfacht wurde in „Ihr da oben“ und „Wir da unten“.Die Gegner des Projektes Stuttgart 21 redeten überdie gewählten Vertreter in den Parlamenten im Bund, imLand und in der Kommune, als seien wir alle Rosstäu-scher und Berufsversager, die nichts Richtiges zustandebringen. Politiker und Experten wurden in einen Sackgesteckt, und es wurde kräftig draufgeschlagen. Stutt-gart 21 wurde bundesweit zum Bürgerprotest schlecht-hin.Angesichts dieser Entwicklung forderte die SPD imLand wie im Bund einen Volksentscheid über Stuttgart 21und die Zustimmung zum Projekt, da dieser aufgewühlteVolkszorn nur auf diese Weise befriedet werden kann. Einungewöhnlicher Vorschlag, da das Projekt in den ver-gangenen Jahren alle parlamentarischen Hürden ge-nommen hatte; denn Stuttgart 21 wurde bereits überzehn Jahre hinweg in den parlamentarischen Gremienvon Stadt, Land und Bund debattiert. Rund 60 Alternati-ven wurden beleuchtet und wieder verworfen, ehe amEnde Stuttgart 21 als beste Variante übrig geblieben ist.Die Eskalation im Sommer 2010 ist den politisch Ver-antwortlichen der Stadt Stuttgart und der schwarz-gel-ben Landesregierung zuzuschreiben – allen voran Ober-bürgermeister Schuster und Ministerpräsident Mappus.Aber auch die Bahn trägt Mitschuld daran, dass sich derProtest gegen Stuttgart 21 aufschaukeln konnte. Sie sindfür den Kommunikations-GAU verantwortlich. Sie ha-ben sich lange auf die Zuschauertribünen zurückgezo-Zu Protokollgen und den Kritikern das Feld überlassen, nach demMuster: Wir haben ja die Beschlüsse, und das wird sichschon alles beruhigen.Mit einigen Aufklärungsveranstaltungen und Ausstel-lungen, so dachte man, seien die Stuttgarter Bürgerin-nen und Bürger genug informiert. Diese Einschätzungwar falsch. Es stellt sich aber auch die Frage, warumsich dieser massive Protest erst im Sommer 2010, als diePläne längst beschlossen und bekannt waren, formierte?Kam der Protest angesichts der anstehenden Landtags-wahlen im März 2011 vielleicht einigen gerade recht?Der Vorschlag eines Volksentscheides wurde im Land-tag Baden-Württemberg mit den Stimmen von CDU, FDPund Grünen abgelehnt. Stattdessen wurde die Schlich-tung von Ministerpräsident Mappus als Lösungsweg prä-sentiert, als Notbremse nach dem indiskutablen und ver-heerenden Einsatz der Polizei am „schwarzenDonnerstag“.Die Schlichtung vor laufender Kamera trug zwar zurEntgiftung der aufgeheizten Stimmung bei, aber nichtzur Befriedung. Das Positive an dieser Form der Her-stellung von Öffentlichkeit war: Ein Mythos wurde ent-zaubert. Es geht bei Stuttgart 21 nicht um Leben oderTod. Es geht um ein Infrastrukturprojekt, und es geht umunterschiedliche Auffassungen, wie wir in Stuttgart undBaden-Württemberg Stadtentwicklung und Mobilitätnachhaltig gestalten. Es geht darum, wie wir zukünftigmehr Verkehr von der Straße auf ein modernes europäi-sches Schienenverbundnetz bringen, wie wir die Ver-kehrsträger besser miteinander vernetzen und wie wirneugewonnene Fläche in Stuttgart zu einem hoffentlichnachhaltigen Innenstadtquartier entwickeln. Wir, dassind Stuttgart und Baden-Württemberg als leistungs-stärkste Wirtschaftsregion Europas.Bei der Schlichtung sind Details und Expertenwissenzu einer höchstkomplexen Planung auf den Tisch gekom-men, das öffentliche Interesse war riesengroß – Phoenixverzeichnete einen Zuschauerrekord.Heiner Geißler hat in seinem Schlichterspruch vom30. November 2010 eine Reihe von Kritikpunkten derGegner aufgenommen, die bei der weiteren Planung undDurchführung des Projekts Stuttgart 21 berücksichtigtwerden sollen. Schwachstellen wurden identifiziert, diebeseitigt werden sollen. Das Projekt Stuttgart 21 sollbaulich attraktiver, umweltfreundlicher, behinderten-freundlicher und sicherer gemacht werden. Im Klartextheißt das, aus Stuttgart 21 wird Stuttgart 21 plus.Zum zentralen Ergebnis der Stuttgart-21-Schlichtunggehört der verordnete Stresstest. Die SPD unterstütztden Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss dieDeutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahn-hofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau be-findliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzen-stunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann.Beim Schlichterspruch und Stresstest dürfen Bahn,Land und Stadt keine politischen Spielchen treiben.Transparenz hat höchste Priorität.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11423
gegebene RedenUte Kumpf
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Die Deutsche Bahn AG muss den Stresstest öffentlichgestalten und im Dialog mit den Kritikern bleiben. DieBahn darf nicht den Eindruck erwecken, hinter ver-schlossenen Türen zu agieren.Die Proteste halten trotz der Schlichtung an, zwarweniger vehement, aber sie finden statt, montags undsamstags mit nachlassender Beteiligung. Daher haltenwir es nach wie vor für unumgänglich, unseren vorge-schlagen Weg einer Volksabstimmung zu gehen.Wir alle sind gut beraten, neue Wege der Beteiligungzu gehen und dafür die rechtlichen Grundlagen zu schaf-fen. Wir müssen Antworten auf die Frage geben, wie wirkünftig Bürgerbeteiligung bei Großprojekten gestalten.Wir beschleunigen die Zustimmung zu Projektennicht, indem wir weniger Beteiligung möglich machen.Zustimmung zu Großprojekten kann gewonnen werden,wenn frühzeitig, umfassend und nachvollziehbar infor-miert wird, Beteiligungsformen neu entwikkelt und dieVorschläge aus der Bürgerschaft aufgenommen werden.Der Ausbau der Rheintalbahn und das Konzept „Ba-den 21“ der Bürgerinitiativen im Rheintal können hierVorbild sein.Auch wir in den Parlamenten müssen unsere Haus-aufgaben machen. Lassen wir bei den großen Verkehrs-projekten das populistische Süppchenkochen! Das Säenvon Misstrauen – so wie jüngst durch das Schnellgut-achten der Grünen zum Stresstest – und das Surfen aufder Skandalisierungswelle führen in die Irre und zerstö-ren das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie.Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf denWeiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstim-mung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojektebrauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid aufden Weg gebracht werden kann.Wir, die SPD, stehen zu S 21 und auch zu S 21 plus.Wir stehen als SPD aber auch dafür, dass ein derartigwichtiges Projekt nicht über zehn Jahre hinweg unterPolizeischutz gebaut wird. Der Schlichterspruchbraucht die demokratische Legitimation, und das gehtnur über einen Volksentscheid.
Eine im Sommer 2010 ziemlich angespannte Situa-tion um das Projekt Stuttgart 21 wurde in einem modell-haften Schlichtungsverfahren zu einem für alle Beteilig-ten annehmbaren Ergebnis geführt. Allen voran giltunser Dank der hervorragenden Arbeit des SchlichtersDr. Geißler. Alle am Schlichtungsverfahren beteiligtenGruppen haben am 30. November 2010 den Schlichter-spruch, der auch die Durchführung eines Stresstests for-dert, akzeptiert. Während der Schlichtung wurde verein-bart, dass die DB AG den Stresstest unter Begutachtungder Firma SMA durchführt. Auch damit haben sich alleBeteiligten einverstanden erklärt. Die DB AG hat be-reits frühzeitig mitgeteilt, dass der Stresstest nicht hinterverschlossenen Türen stattfinden wird, wie die FraktionBündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag behauptet. Viel-Zu Protokollmehr werden die Zwischenergebnisse sowie die weitereRealisierung des Projektes durch ein von der Landesre-gierung geschaffenes Dialogforum begleitet. Unter Lei-tung des Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Zen-trums für Luft- und Raumfahrt , ProfessorDr. Johann-Dietrich Wörner, wird der partnerschaftli-che Dialog mit den Projektgegnern fortgesetzt. Mit demForum wird eine Plattform geschaffen, die über denAustausch hinaus Anregungen und Vorschläge bei derweiteren Realisierung des Projekts erarbeitet und ein-bringt. So kann in verschiedenen Dialoggruppen, bei-spielsweise zur Baubegleitung oder zur Parkgestaltung,die Umsetzung von Stuttgart 21 aktiv begleitet werden.Wir sind somit auf einem guten und richtigem Weg.Gleichwohl dürfen wir uns nicht zurücklehnen, son-dern müssen die bei Stuttgart 21 aufgezeigten Defiziteim Planungsverfahren aktiv angehen. Wir brauchen beikünftigen Großprojekten eine verbesserte Transparenz,kürzere Planungsverfahren sowie zu einem früherenZeitpunkt mehr Bürgerbeteiligung. Wir als FDP-Bun-destagsfraktion haben bereits in einem Positionspapier„Beteiligung und Erneuerung – 16 Punkte zur Bürger-beteiligung und Planungsbeschleunigung bei privatenund öffentlichen Investitionen“ Wege aufgezeigt, wie dasPlanungsrecht bürgerfreundlicher gestaltet werden kann,ohne dabei auf die nötige Infrastruktur zu verzichten.Denn wir brauchen auch in Zukunft staatliche Infra-strukturprojekte und große private Investitionsvorhabenin Deutschland. Forschung und Entwicklung befördernneue Technologien. Neue Technologien schaffen neueIndustrien, eine schnellere und bessere Bahn mit neuenSchienenwegen und Bahnhöfen, klimafreundliche Ener-gie nicht ohne neue Anlagen zur Energiegewinnung undneue Leitungsnetze.Wir müssen Bürokratie abbauen und Verfahren ver-einfachen, um staatliche und private Investitionen zu be-schleunigen und um zusätzliche Wachstumsimpulse zusetzen. Zugleich müssen wir weiterhin hohe Umwelt-schutzstandards gewährleisten sowie mehr Transparenzder Verfahren und mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen,um die Akzeptanz für Großprojekte zu verbessern. Indiesem Sinne setzt die FDP-Bundestagsfraktion sich füreinen Paradigmenwechsel ein. Wir wollen einerseits dieVerfahren und Prozesse beschleunigen und andererseitsdie Bürger stärker einbeziehen.Information und Beteiligung ist kein Recht, das derStaat seinen Bürgern gewährt, sondern das Grundprin-zip einer freien und liberalen Bürgergesellschaft. Bür-gerbeteiligung und Planungsbeschleunigung widerspre-chen sich dabei in einem Rechtsstaat nicht, sondern sieergänzen sich. Denn eine frühzeitige Bürgerbeteiligungbedeutet auch stärkere Akzeptanz, reduziert damit dieZahl der Klagen und beschleunigt am Ende das Verfah-ren. Dabei sind eine stärkere Nutzung neuer Medien,beispielsweise E-Governance, anzustreben und die Öff-nung des Planungsrechts für Mediationsverfahren sowieeine stärkere Rolle von Bürgerentscheiden bei der Be-stimmung der Eckpunkte des Planungsverfahrens her-vorzuheben. Wir werden dem Deutschen Bundestag inKürze die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen.
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11424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene Reden
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Zum notwendigen Ausstieg aus dem unterirdischenProjekt Stuttgart 21 will ich nichts mehr sagen. Es istentlarvt, und die Gegenargumente sind publik – dankder starken Protestbewegung.Am vergangenen Samstag konnten alle, die es woll-ten, sehen und hören: Der Widerstand gegen Stutt-gart 21 wird wieder stärker. Die Irritationen, die es imZusammenhang mit dem unverantwortlichen, einseiti-gen und anmaßenden Schlichterspruch von HeinerGeißler gab, spielen kaum mehr eine Rolle. Es warenwieder 50 000, die gegen dieses Projekt, das für dieStadt und den Schienenverkehr zerstörerisch wirkt, aufdie Straße gingen.Der Regisseur Volker Lösch hat dort in 600 Sekunden60 Lügen vorgetragen, die zur Begründung von S 21 an-geführt werden, und sie widerlegt. Und wie schon beivorhergehenden Kundgebungen skandierten die Leute:„Lügenpack! Lügenpack!“ Das ist es, worüber ich re-den will.Selbstverständlich verwende ich nicht den Begriff„Lügenpack“; aber sowohl die Bundeskanzlerin FrauMerkel als auch der Verkehrsminister Herr Ramsauerund der Ministerpräsident Herr Mappus verspielen ineklatanter Weise politische Glaubwürdigkeit und fügendamit der demokratischen Kultur Schaden zu. Dasdürfte das Parlament nicht geschehen lassen.Zunächst zur Kanzlerin, die vor einigen Monaten ve-hement für das Projekt und gegen ein Bürgerbegehrengesprochen hat, weil ansonsten die Vertrauenswürdig-keit Deutschlands bei Investoren und Wirtschaftspart-nern leide. Dieselbe Frau Merkel hat gerade offenbart,dass solche Schwarzmalerei mitnichten der Wahrheitentspricht. Bis vor kurzem hat sie behauptet, dass Atom-kraftwerke weiterlaufen müssen, weil sonst unsere Ener-gieversorgung gefährdet sei. Nach dem Super-GAU vonFukushima und vor den Landtagswahlen wurden jetztsieben alte Atomkraftwerke abgeschaltet. Es ist keinLicht ausgegangen. Aber einigen ging ein Licht auf: Tat-sächlich ist ein kompletter Ausstieg aus der Atomenergiemöglich. Aber das wurde bestritten, um den Energiekon-zernen die Extraprofite von 1 Million Euro täglich ausjedem abgeschriebenen AKW zu sichern.Übrigens hängt auch die Deutsche Bahn AG in derAtomseilschaft; sie ist an einem AKW beteiligt und fährterheblich mit Atomstrom. Wenn es die Bundeskanzlerinernst meinen würde mit ihrer neuen Atomkraftskepsis,dann müsste sie dem einen Riegel vorschieben; immer-hin handelt es sich hier um ein Unternehmen, das sich zu100 Prozent in Bundeseigentum befindet. Die DB AGmuss sich komplett von der Atomenergie verabschiedenund auf regenerative Energien umsteigen! Zudem mussder Chef von RWE, Jürgen Großmann, den der Ver-kehrsminister im Aufsichtsrat der DB AG platziert hat,ausgetauscht werden.Zweitens zu Bundesverkehrsminister Ramsauer: Erverweist immer wieder auf die europäischen Güter-ströme und die großen Verkehrsachsen in Europa. Aller-dings wissen wir inzwischen alle, dass die S-21-Neubau-Zu Protokollstrecke Wendlingen–Ulm mit 35 Promille steiler seinwird als die Geislinger Steige und dass dort wohl garkeine Güterzüge fahren werden. Im Rheintal dagegenoder um Fulda herum müsste dringend ausgebaut wer-den, damit mehr Güterverkehr auf der Schiene rollenkann – aber da fehlen die Investitionsmittel. Das heißt:Die sündhaft teure Neubaustrecke nutzt dem Schienen-güterverkehr rein gar nichts; im Gegenteil: Sie behin-dert die Verlagerung von der Straße auf die Schiene.Aber warum hält Herr Ramsauer daran fest? Er for-ciert PPP-Projekte, bei denen Autobahnen mit Geldernprivater „Investoren“ finanziert und realisiert werden,denen dann die Mauteinnahmen zufließen. Aktuell treibtder Bundesverkehrsminister den sechsspurigen Ausbauder Autobahn Augsburg–Ulm auf diese Weise voran,nachdem der Abschnitt München–Augsburg bereitsdurch PPP ausgebaut wurde. Als Nächstes wäre in die-ser Logik der Autobahnausbau Ulm–Stuttgart dran.Die „Schwäbische Zeitung“ schreibt am 3. Januar2011:Privatautobahn: Der Albaufstieg wird teuer. Nachdem erfolgreichen Pilotprojekt München–Augs-burg steht nun die Strecke nach Ulm auf dem Pro-gramm.Und weiter heißt es zu den PPP-Autobahnprojekten:Sicher ist: Ohne reichlich Lastwagen rechnet sichdie Sache nicht. Die Investoren reagieren höchsthellhörig auf jeden Versuch, mehr Güter mit derBahn zu transportieren.Es scheint, dass der Verkehrsminister lügt, wenn ersagt, dass er die Schiene stärken will. In Wahrheit ist er„ein Mann der Straße“, wie ihn die „Financial TimesDeutschland“ bei Amtsantritt vorstellte.Schließlich noch ein Wort zum baden-württembergi-schen Ministerpräsidenten: Herr Mappus kaufte mit vielSteuergeld den Atomstromenergiekonzern EnBW. Dabeispielt ein Mappus-Freund, der Investmentbanker DirkNotheis, eine wichtige Rolle. Derselbe Herr Notheis isteng mit dem Projekt der Bahnprivatisierung verbunden.Dazu schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 14. Dezem-ber 2010:Mit einem Staatsauftrag, der Notheis besonders amHerzen lag, war er … 2008 gescheitert: Unter demCode-Namen „Oktoberfest“ wollte der Badener ...die Deutsche Bahn an die Börse bringen.Eine äußerst unglaubwürdige Zickzackpolitik: Mappuslässt Baden-Württemberg einen Energieriesen kaufen,der sich besonders für Atomstrom engagiert. Der Ver-mittler des Geschäfts ist ein engagierter Bahnprivatisie-rer. Eine Woche vor der Wahl nimmt man einen Atom-meiler vom Netz, der auch noch Atomstrom an die Bahnlieferte. Und was würden Mappus und Merkel nach derWahl machen, wenn sie diese ohne allzu große Blessurenüberstehen sollten? Die Mehrheit der Bevölkerung weißdarauf eine Antwort: Das Ganze ist lediglich ein Manö-ver – dann gingen die Atomkraftwerke wieder ans Netz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11425
gegebene RedenSabine Leidig
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Übrigens: Am meisten Beifall erhielt Volker Löschauf Lüge 59. Sie lautet: Mappus und Merkel behaupten,der 27. März sei „die Volksabstimmung über S 21“.Wahr ist, dass der Kampf – unabhängig vom Ausgangder Wahl – weitergehen wird!So wie der Laufzeitverlängerungsdeal nicht der Ener-giesicherheit diente, sondern den Stromkonzernen, diemit jedem Tag, an dem ein abgeschriebenes AKW wei-terläuft, 1 Million Euro machen, so dient Stuttgart 21nicht einem besseren Bahnverkehr, sondern den Tunnel-bohr-, Beton- und Immobilienkonzernen.So wie die Bevölkerung bei der Atomkraft getäuschtworden ist, wird sie bei S 21 belogen. So wie AKW demAusbau erneuerbarer, dezentraler Energien entgegen-stehen, steht S 21 dem Ausbau einer besseren Bahn imWeg.Es ist höchste Zeit für eine andere Politik: Atomkraft-werke abschalten – jetzt und für immer! Und: Stuttgart 21abblasen und stattdessen bahnsinnige Alternativen bauen!
In der heutigen Debatte zum Umbau des StuttgarterHauptbahnhofs reden wir zunächst über drei Opposi-tionsanträge vom September 2010, die sich alle, wennauch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, für einen so-fortigen Baustopp des Projektes Stuttgart 21 und fürmehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnenund Bürger einsetzen. Darüber hinaus diskutieren wireinen aktuellen Antrag meiner Fraktion für einen trans-parenten Stresstest zur Leistungsfähigkeit des unterirdi-schen Bahnprojektes Stuttgart 21.Anlass für die Anträge vom September letzten Jahreswaren die monatelangen Proteste und Großkundgebun-gen der Gegner des Projektes, die seit dem Abriss desNordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs täglich zuTausenden kreativ und friedlich gegen Stuttgart 21 de-monstrierten. Sie stammen also aus der Zeit vor demVersuch der baden-württembergischen Landesregierungam 30. September 2010, mit einem unverhältnismäßigharten Polizeieinsatz das Projekt gewaltsam durchzuset-zen, was zur Eskalation der Situation führte. HunderteMenschen, die in Stuttgart im Park friedlich gegen dieBaumfällarbeiten der Deutschen Bahn AG demonstrier-ten, wurden verletzt. Die politische Verantwortung dafürtragen Ministerpräsident Mappus und InnenministerRech, nicht der Polizeipräsident; der trägt seine eigeneVerantwortung als Polizeichef.Erst dieser Eklat, der in eine bundesweite Diskussionüber die unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeitbei Großprojekten und die Durchsetzung solcher Pro-jekte gegen massiven Widerstand aus breiten Schichtender Bevölkerung mündete, führte dazu, dass Gegner undBefürworter des Projektes sich an einer Art rundemTisch unter Leitung von Heiner Geißler zur sogenanntenFaktenschlichtung trafen. Das führte zur Versachli-chung der Diskussion und dazu, dass endlich deutlichmehr – allerdings noch längst nicht alle – Fakten aufden Tisch kamen, als sie den Parlamenten in Stadt, Landund auf Bundesebene zuvor je zugänglich gemacht wor-Zu Protokollden waren. Doch ein entscheidender Akteur saß nichtmit am Tisch. Der Bund bzw. das Bundesverkehrsminis-terium hielt sich fein raus. Warum eigentlich?Die Frage stellt sich vor allem, weil der Bund derHauptzahler für den Umbau des Bahnknotens Stutt-gart 21 und für die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm ist.Dies war ein großer Mangel des Verfahrens; denn sofanden seine Interessen keinen Eingang in das Schlich-tungsergebnis. Die Konsequenzen für den Bundeshaus-halt insbesondere bei der Neubaustrecke Wendlin-gen–Ulm, die bereits heute eine Deckungslücke von 865Millionen Euro aufweist, wurden nicht berücksichtigt,obwohl Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke des Bundesgar nicht funktioniert, sondern ohne Schienenanschlussim Nichts stehen würde.Dabei ist das Schlichtungsergebnis für Stuttgart 21vernichtend gewesen, und der Bund als Eigentümer derDB AG und verantwortliche Instanz für den Aus- undNeubau des bundeseigenen Schienennetzes hätte davonhöchst alarmiert sein müssen, insbesondere was dieWirtschaftlichkeit des Projektes betrifft. Denn der zen-trale Satz im Schlichterspruch von Heiner Geißler lau-tete: „Ich kann den Bau des Tiefbahnhofs nur befürwor-ten, wenn entscheidende Verbesserungen vorgenommenwerden.“Mit anderen Worten, Stuttgart 21 in seiner alten Formist tot. Es weist eklatante Mängel im Betriebskonzeptauf, und der geplante unterirdische Engpass könnte nurdurch erhebliche, teure Nachbesserungen beseitigt wer-den. Damit sind neue Planfeststellungsverfahren nötig,die einen erheblichen Zeitverzug und massive Kosten-steigerungen bedeuten.Dies bestätigt unser Misstrauen und die Forderungunseres Antrages vom September 2010. Ein Baustopp istso lange zwingend erforderlich, bis die Wirtschaftlich-keit und Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 überprüftwurde. Erst danach kann eine Entscheidung über dasProjekt endgültig gefällt werden.Doch wie sieht nun diese Überprüfung von Stuttgart 21nach der Faktenschlichtung in Stuttgart aus? HeinerGeißler hatte in seinem Schlichterspruch sehr deutlichgemacht, dass der unterirdische Tunnelbahnhof nur alsStuttgart 21 plus funktioniert. Deshalb forderte er unteranderem die Erweiterung des Bahnhofs von ursprüng-lich acht geplanten Gleisen auf zehn Gleise sowie zahl-reiche zusätzliche Baumaßnahmen an den Zulaufstre-cken, und er forderte, dass die DB AG im Rahmen einerBelastungssimulation eines sogenannten Stresstestesden Nachweis erbringen müsse, dass Stuttgart 21 über-haupt in der Lage ist, in Spitzenbelastungszeiten die be-haupteten 30 Prozent mehr an Kapazität gegenüber dembestehenden Kopfbahnhof zu erbringen.Trotzdem behaupteten DB AG sowie das Land undseine Partner schon unmittelbar nach der Schlichtung,die von Geißler geforderten Nachbesserungen seien garnicht notwendig. Der Stresstest werde ergeben, dass manso verfahren könne, wie ursprünglich geplant.Das ist ja an sich schon bezeichnend, weil damitquasi das Ergebnis schon vorher feststeht und man den
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11426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11427
Winfried Hermann
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vielgelobten Schlichter Heiner Geißler Lügen straft, be-vor der Stresstest überhaupt vollzogen wurde. Verwun-derlich ist es jedoch nicht, wenn man weiß, dass die DBAG den Stresstest hinter verschlossen Türen durchführtund weder unabhängige Experten noch Kritiker des Ak-tionsbündnisses daran beteiligt werden sollen. Bei Stutt-gart 21 soll genauso verfahren werden wie in den Jahrenzuvor. Die DB AG präsentiert Ergebnisse, die auf Zah-len, Daten und Fakten basieren, die nur der DB AG zu-gänglich sind und die der Eigentümer Bund und im Fallevon Stuttgart 21 auch die übrigen Projektpartner dannso glauben müssen. Die angebotene Einsicht im Nachhi-nein ist keine echte Kontrolle, weil man nicht weiß, wasan Daten eingegeben wurde. Die öffentliche Kontrolleunterbleibt, obwohl maßgeblich die Steuerzahlerinnenund Steuerzahler für die Risiken und die damit verbun-denen Kostensteigerungen aufkommen müssen. Stattdes-sen werden die Bürgerinnen und Bürger erneut damitabgespeist, dass das Projekt durch parlamentarischeBeschlüsse legitimiert sei, obwohl diese auf der Grund-lage fragwürdiger Informationen bzw. besser gesagtNichtinformationen zustande gekommen sind.Das ist für uns in höchstem Maße unglaubwürdig,und darauf wollten wir uns verlassen. Schließlich muss-ten wir in den letzten Jahren seit Gründung der DB-Ak-tiengesellschaft schon viele schlechte Erfahrungen mitder Informationspolitik des DB-Konzerns sammeln.Deshalb hat die grüne Landtagsfraktion in den letztenWochen eine eigene Studie zur Leistungsfähigkeit vonStuttgart 21 in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist dra-matischer als befürchtet. Stuttgart 21 erbringt nur danndie Leistung, die der unsanierte Kopfbahnhof bereitsheute erbringen kann, wenn alle von Heiner Geißler auf-gestellten Nachbesserungen vorgenommen werden, alsodas sogenannte Stuttgart 21 plus vollständig umgesetztwird.DB AG und das Land wollen also gegen allen gesun-den Menschenverstand Milliarden sinnlos verschleu-dern für ein Projekt, das nichts anderes kann als der alteBahnhof, nur damit dieser unter der Erde verschwindet.Und der Bund schaut tatenlos zu.Und was sind die Konsequenzen? Es werden aufJahrzehnte große Teile der Haushaltsmittel für denSchienenausbau für ein sinnloses Doppelprojekt ver-schwendet. Sie, liebe Regierungskoalitionäre, nehmendamit wider besseres Wissen in Kauf, dass der Ausbauvon Projekten mit immenser verkehrlicher und volks-wirtschaftlicher Bedeutung wie zum Beispiel der Ausbauder Hafenhinterlandstrecken von den Nordseehäfen inRichtung Südeuropa deshalb aufgeschoben werdenmuss. Für die Folgen nämlich, dass die Güter dort nichtrechtzeitig auf die klimafreundliche Schiene verlagertwerden können und ab 2017 vor dem dann hervorragendausgebauten Gotthardtunnel in der Schweiz im Stau ste-cken bleiben, sind Sie voll verantwortlich. Ebenso sindSie voll verantwortlich, wenn der erst vor wenigen Ta-gen hier im Hause versprochene anwohnerfreundlicheAusbau der Rheintalbahn sich noch um Jahrzehnte ver-zögert, weil die Mittel sinnlos vergraben werden.Das ist skandalös und verantwortungslos. Und des-halb kann ich Ihnen nur zurufen: Kommen Sie endlichzur Vernunft, und stoppen Sie dieses unsägliche Projekt!Investieren wir in einen zukunftsfähigen Schienenver-kehr in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung auf Drucksache 17/5172. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion derSPD auf Drucksache 17/2933 mit dem Titel „Kein Wei-terbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 17/2914 mit dem Titel „Stuttgart 21, NeubaustreckeWendlingen–Ulm und das Sparpaket der Bundesregie-rung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 17/2893 mit dem Titel „Sofortiger Baustopp fürStuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen.Zusatzpunkt 11. Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „TransparenterStresstest für die Leistungsfähigkeit des BahnprojektsStuttgart 21“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/5236, den Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/5041 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, MarkusTressel, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENStärkung der Fahrgastrechte im Fernbusver-kehr– Drucksache 17/5057 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für TourismusWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
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11428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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Reden der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Vogel,Ulrich Lange, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, PatrickDöring,
Thomas Lutze, Dr. Anton Hofreiter.
Die auf der EU-Ebene beschlossene Verordnung zu
den Fahrgastrechten im Kraftomnibusverkehr regelt alle
nationalen und grenzüberschreitenden Linienverkehrs-
dienste im Langstreckenverkehr bei einer Entfernung ab
250 Kilometer. Sie tritt im Frühjahr 2013 in Kraft, und
die Nationalstaaten haben die Möglichkeit, eine Schon-
frist von vier Jahren mit einer einmaligen Verlängerung,
also insgesamt acht Jahren, zu beschließen.
Folgende wesentliche Regelungen wurden im Ver-
mittlungsausschuss auf europäischer Ebene vereinbart:
Verzögert sich die Abfahrt um mehr als 90 Minuten,
haben die Fahrgäste bei Fahrten mit planmäßiger
Dauer von über drei Stunden Anspruch auf Imbisse und
Erfrischungen. Im Fall einer Unterbrechung der Fahrt,
eines Unfalles oder bei Verspätungen, die eine Über-
nachtung erfordern, muss der Anbieter zusätzlich die
Hotelkosten für maximal zwei Übernachtungen von bis
zu 80 Euro pro Nacht aufkommen.
Wünscht ein Fahrgast, nach einer Reiseantrittsver-
spätung von 120 Minuten von der Reise zurückzutreten,
hat er das Recht auf die volle Fahrpreiserstattung.
Die Verordnung sieht zudem eine Entschädigung in
Höhe von 50 Prozent des Fahrpreises zusätzlich zur Er-
stattung des regulären Fahrpreises vor, wenn ein Anbie-
ter nach einer Verspätung von zwei Stunden eine Fahrt
annulliert und diese auch nicht auf geänderter Strecken-
führung oder mit anderen Transportmitteln durchführen
kann.
Der Anbieter ist nur bei Naturkatastrophen oder ex-
tremen Wetterbedingungen, die eine sichere Weiterreise
unmöglich machen, hiervon befreit.
Für verlorene oder beschädigte Gepäckstücke sollen
Busunternehmen zukünftig mit bis zu 1 200 Euro haften,
es sei denn, die nationale Gesetzgebung sieht höhere
Entschädigungsleistungen vor. Des Weiteren ist eine
Haftungssumme von bis zu 220 000 Euro für Todesfälle
und Verletzungen von Fahrgästen vorgesehen.
Insgesamt wurde eine ausgewogene Lösung im Euro-
päischen Parlament erzielt, die sowohl die Rechte der
Busreisenden schützt und dennoch die Existenz der zu-
meist kleinen und mittleren Busunternehmen sichert.
Der Geltungsbereich der Verordnung umfasst zwar
nur die Touren mit einer Gesamtlänge ab 250 Kilometer,
aber auch Passagiere, die nicht die gesamte Strecke mit-
fahren, genießen den Schutz der Verordnung und haben
somit ein Recht auf Schadenersatz.
Dies gilt auch bei Annullierungen von Reisen, Über-
buchungen oder Verspätungen. Hier muss der Veranstal-
ter zwingend eine andere Lösung zur Fortsetzung der
Reise anbieten oder den Fahrgast auf andere Weise ent-
schädigen.
Eigentlich muss man den Fernbusverkehr nicht für
die Fahrgäste attraktiv machen, denn er ist es bereits.
Die Fahrgäste haben keinerlei Gepäcktransfersorgen,
und sie kommen für deutlich weniger Geld von A nach B
als mit anderen Verkehrsmitteln.
Die Fahrgastrechteverordnung ist unter Mitwirkung
aller Beteiligten rechtmäßig zustande gekommen. Bei
dem Vermittlungsverfahren auf EU-Ebene wurden be-
reits circa 50 Änderungen zum Entwurf des Rates mitge-
teilt und teilweise übernommen. Unter anderem wurde
der Geltungsbereich von 500 auf 250 Kilometer abge-
senkt, und statt der zunächst vorgesehenen drei grundle-
genden Fahrgastrechte sind nun zwölf aufgeführt.
Die Grünen hatten während des gesamten – seit 2005
währenden – Prozesses die Gelegenheit, sich einzubrin-
gen und ihre Argumente vorzubringen.
Die Verordnung sieht nicht ohne Grund davon ab,
alle Fahrgastrechte auf alle Streckenlängen auszuwei-
ten. Von „Rechtlosigkeit“ der Buspassagiere kann keine
Rede sein. Bestimmte Basisrechte – auf Information bzw.
auf Hilfeleistung nach Unfällen – gelten auch unabhän-
gig von der Streckenlänge.
Würden die von den Grünen gemachten Vorschläge
so verwirklicht, hätte dies zur Folge, dass der Fernbus-
verkehr so teuer wäre, dass kaum ein Fahrgast ihn be-
zahlen könnte bzw. wollte, und das wäre dann erst recht
kein verantwortungsvolles Handeln im Interesse der
Verbraucher.
Im Übrigen arbeiten die Unternehmen bereits jetzt
sehr gut mit der im Antrag erwähnten Schlichtungsstelle
für den öffentlichen Personenverkehr e. V. zusam-
men. Aus deren Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die
Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist.
Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen hier nur vier
den Busverkehr. Dies ist nicht Ausfluss fehlender Fahr-
gastrechte, sondern eher die Folge großer Fahrgastnähe.
Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes
Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, so-
dass diese ihn weiterempfehlen und wiederkommen.
Außerdem dürfte die von den Grünen darüber hinaus
geforderte verpflichtende Beteiligung an einer Schlich-
tungsstelle zwar unter gewissen Voraussetzungen recht-
lich möglich sein. Doch muss dazu deutlich gesagt wer-
den, dass bereits heute, unabhängig vom Verkehrsmittel,
der Zugang zur Schlichtungsstelle gewährleistet ist. Au-
ßerdem wird durch einen Schlichterspruch nicht das
Recht ausgeschlossen werden, auch ein rechtsbindendes
Urteil vor einem staatlichen Gericht erstreiten zu dür-
fen.
Ich bin der Meinung, dass es jetzt erst einmal gilt, die
Regelungen in der Praxis zu beobachten, um dann bei
Bedarf weitere Maßnahmen zu ergreifen.
Ich wünsche den Ausschussmitgliedern intensive und
konstruktive Diskussionen.
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Der Schutz der Verbraucher ist ein wichtiges Recht in
Deutschland. Auch der Fahrgast muss geschützt werden,
egal ob er mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Bus un-
terwegs ist. Mit ihrem Antrag auf Fahrgastrechte im
Busverkehr suggerieren die Grünen unter dem Deck-
mantel des Verbraucherschutzes, dass Buspassagiere,
die weniger als 250 km reisen, in Deutschland nahezu
rechtlos seien. Dies ist aber nicht der Fall. Auch diese
Busfahrgäste haben viele Rechte, beispielsweise das
Verbot der Diskriminierung von Fahrgästen aufgrund
ihrer Nationalität; das Verbot der Diskriminierung von
Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mo-
bilität sowie finanzielle Entschädigungen bei Verlust
oder Beschädigung ihrer Mobilitätshilfen infolge eines
Unfalls; Mindestvorschriften für die Information aller
Fahrgäste vor und während der Fahrt sowie allgemeine
Unterrichtung über ihre Rechte an den Busbahnhöfen
und über das Internet; Einrichtung eines Verfahrens für
die Bearbeitung von Fahrgastbeschwerden; die Benen-
nung unabhängiger nationaler Stellen in allen Mitglied-
staaten mit dem Auftrag, die Verordnung durchzusetzen
und Verstöße gegebenenfalls zu ahnden.
Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf
die vorhergehende Anfrage der Grünen auf den beste-
henden Rechtsschutz für die Buspassagiere hingewie-
sen. Sowohl im Busreiseverkehr als auch im Linienver-
kehr liegen die Rechte der Fahrgäste und die Haftung
der Unternehmen an der europäischen Spitze.
Wir stehen der europarechtlichen Regelung von
Fahrgastrechten auch im grenzüberschreitenden Bus-
fernlinienverkehr positiv gegenüber. Dieser kann jedoch
nicht eins zu eins auf den Nah- und Regionalverkehr
übertragen werden. Denn während nach Kommissions-
angaben im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr
jährlich europaweit 72,8 Millionen Busfahrgäste beför-
dert werden, waren es 2008 allein im ÖPNV in Deutsch-
land 5,4 Milliarden Busfahrgäste. Dies stellt für die
praktischen, wirtschaftlichen und verwaltungsbezoge-
nen Folgen europaweit verbindlicher individueller
Fahrgastrechte eine völlig andere Dimension dar.
Der Antrag der Grünen ist nicht fachdienlich. Er wird
zu keinen besseren Busverbindungen führen, sondern im
Gegenteil, er würde, wenn er denn durchkäme, zu weni-
ger Wettbewerb und damit zu weniger Verbindungen bei
wesentlich höheren Fahrpreisen führen. Dies wollen wir
nicht. Dies ist mit uns nicht zu machen!
Verspätungen – egal ob in der Bahn, im Flieger, im ei-
genen Auto oder mit dem Bus – sind immer unangenehm.
Aber wir müssen natürlich im Falle einer Verspätung
fragen: Wer hat die Zeitverzögerung verursacht, wer ist
schuld? Wenn ein Stau aufgrund eines Unfalls entsteht,
wenn der Busfahrer bei plötzlich auftauchendem Nebel
oder Blitzeis seine Geschwindigkeit halbieren muss,
kann da der Busunternehmer mit allen Folgekosten in
Regress genommen werden?
Im Gegensatz zu den Bahnen fahren die Busse auf öf-
fentlichen Straßen und nicht auf Sondertrassen. Verspä-
tungen im Busverkehr gehen in der Regel auf Straßen-
und Witterungsverhältnisse zurück. Der Busfernverkehr
Zu Protokoll
ist also in besonderer Weise von Straßenzustand, Ver-
kehrsfluss und Witterung abhängig. Daher ist eine über-
mäßige Haftung für Verspätungsschäden äußerst pro-
blematisch, weil die Verspätungen in der Regel auf
Umständen beruhen, die vom Busunternehmer nicht be-
einflussbar sind.
Die Vorstellung der Grünen vom Busverkehr gehen
an der Realität vorbei. So soll die diskriminierungsfreie
Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten
und mobilitätseingeschränkten Personen zwingend vor-
geschrieben werden. Aber nicht jeder Bus hat eine Hub-
einrichtung, um einem Schwerstbehinderten den Ein-
stieg zu ermöglichen. Das haben nur wenige Busse.
Wollen Sie alle anderen vom Wettbewerb ausschließen?
Die besten Rechte auf dem Papier nützen nichts,
wenn sie praxisfern sind. Ein Kardinalfehler bei Ihnen
von den Grünen ist, dass Sie bei Ihren Überlegungen
nicht die Unternehmer mit ins Boot nehmen. Wie bei
Stuttgart 21 der Fehler gemacht wurde, die Bevölkerung
nicht in die Planungen einzubeziehen, ignorieren Sie die
berechtigten Belange der mittelständigen Busunterneh-
mer und stellen Ihre Forderungen realitätsfremd vom
fernen Schreibtisch aus.
Zu Ihrer Forderung, eine verpflichtende Beteiligung
von Busfernreiseunternehmen an der Schlichtungsstelle
für den öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, vorzuse-
hen, möchte ich Ihnen sagen, dass die Busunternehmen
schon lange sehr gut mit der SÖP zusammenarbeiten. Es
muss nicht alles juristisch vorgeschrieben werden. Ha-
ben Sie etwas Vertrauen in unsere soziale Marktwirt-
schaft. Auch im Busverkehr werden sich langfristig die
kundenfreundlichen Busunternehmen durchsetzen.
Aus dem söp-Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die
Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist.
Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen 1 509 die
Bahn, 98 den Flugverkehr und 4 den Busverkehr. Dies
ist nicht ein Anzeichen für fehlende Fahrgastrechte, son-
dern für große Fahrgastnähe und Kundenzufriedenheit.
Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes
Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, so-
dass diese wiederkommen und ihn weiterempfehlen.
Fahrgastrechte auch im Buslinienverkehr sind wich-
tig. Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Über-
triebene Forderungen führen nur zu weniger Wettbe-
werb, geringerem Angebot und hohen Fahrpreisen. Das
ist nicht im Sinne der Verbraucher und der Fahrgäste.
Treten Sie ein in einen konstruktiven Dialog mit den be-
troffenen Unternehmen, um einen für alle Seiten akzep-
tablen Kompromiss zu finden.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratensind gesetzlich verankerte Rechte für Verbraucherinnenund Verbraucher, die wirksam durchgesetzt werden, sehrwichtig. Wir wollen, dass Kundinnen und Kundengrundsätzlich auf gleicher Augenhöhe mit Anbietern vonDienstleistungen und Produkten am Markt teilnehmenund agieren können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11429
gegebene RedenUlrike Gottschalck
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Im Bereich der Fahrgastrechte hat die sozialdemo-kratische Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries,in der Großen Koalition das Fahrgastrechtegesetzdurchgesetzt. Es trat am 29. Juli 2009 in Kraft.Mit diesem Gesetz wurden die deutschen eisenbahn-rechtlichen Vorschriften an die Verordnung
Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und desRates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflich-ten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr angepasst. Mitdiesem Gesetz wurden die Rechte der Fahrgäste maß-geblich verbessert und gegenüber den europäischenVorgaben erheblich erweitert. Bahnkundinnen undBahnkunden erhalten ab einer Verspätung von 60 Minu-ten einen Anspruch auf Erstattung von 25 Prozent desFahrpreises. Bei einer Verspätung ab 120 Minuten er-halten sie dank dieses Gesetzes einen Anspruch auf Er-stattung von 50 Prozent des Fahrpreises.Ein sehr wichtiger weiterer Schwerpunkt dieses Ge-setzes ist die Möglichkeit für den Fahrgast, eine Schlich-tungsstelle anzurufen, wenn es zu Streitfällen mit einemEisenbahnunternehmen kommt.Mit dem Gesetz von Brigitte Zypries ist die soge-nannte Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personen-verkehr e. V., abgekürzt söp, gegründet worden. DieseSchlichtungsstelle hat mittlerweile sehr erfolgreiche Ar-beit geleistet und sich eine parteiübergreifende Anerken-nung erworben, parteiübergreifend sowohl im poltischenSpektrum als auch bei Fahrgästen und Verkehrsunter-nehmen. Die söp kann immerhin eine Schlichtungsquotevon 91 Prozent aufweisen. Und das heißt, dass bei91 Prozent der Fälle, die von der söp bearbeitet wordensind, beide Streitparteien den Schlichterspruch der söpangenommen haben. Oftmals konnte durch einen solchenSchlichterspruch sogar das Vertrauensverhältnis zwi-schen Fahrgast und Verkehrsunternehmen wiederherge-stellt werden.Aus vielen Informationsquellen weiß ich, dass diesesSystem gut gelingt. Die Passagiere kommen an die Ent-schädigungen, die ihnen zustehen, ohne vorher zeit-,nerven- und kostenaufwendig vor deutschen Gerichtenzu klagen, was bei einem Streitwert zwischen 50 und100 Euro und darunter oftmals nicht wirklich ernsthaftin Betracht gezogen wird. Unter dem Dach dieserSchlichtungsstelle beteiligen sich heute mehr als120 Verkehrsunternehmen im Sektor Bahn, Bus, Schiff,ÖPNV und teilweise auch im Flugbereich freiwillig amSchlichtungsverfahren.Dieser Ansatz der verkehrsträgerübergreifendenSchlichtung schafft Kundenfreundlichkeit, Stärkung derVerbraucherrechte und gleiche Augenhöhe von Kundenund Dienstleistern, die in vielen anderen Bereichen nichtvorhanden ist. Deshalb setzen wir Sozialdemokratinnenund Sozialdemokraten uns für eine möglichst breite Be-teiligung der Verkehrsunternehmen am Schlichtungsver-fahren unter dem Dach der söp ein.Wir unterstützen den vorliegenden Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen, „Stärkung der Fahrgastrechte imFernbusverkehr“, auch in dem Punkt, die verpflichtendeBeteiligung von Busfernreiseunternehmen an derZu ProtokollSchlichtungsstelle söp vorzusehen, wenngleich wir wis-sen, dass eine verpflichtende Beteiligung bei einemSchlichtungsverfahren einen Widerspruch in sich selbstdarstellt. Wir hoffen jedoch, durch solch eine pointierteFormulierung einen Prozess voranzutreiben, um mehrVerkehrsunternehmen dazu zu bringen, sich der söp an-zuschließen.Denn es ist uns doch allen klar, dass ohne die freiwil-lige Mitarbeit der Verkehrsunternehmen eine Schlich-tung nicht möglich sein kann. Es liegt auch in der Natureines Schlichterspruchs, dass er nur erfolgreich ist,wenn sich beide Streitparteien daran freiwillig gebun-den fühlen. Außerdem kommt die Schlichtung immer erstdann zum Einsatz, wenn der oder die Reisende von dembetroffenen Verkehrsunternehmen keine befriedigendeAntwort erhalten hat. Die Befürchtung mancher Ver-kehrsunternehmen, vom Staat in ein Schlichtungsver-fahren gezwungen zu werden, entbehrt einer realenGrundlage. Vielmehr gibt es gute Gründe auch für Ver-kehrsunternehmen, sich freiwillig einem verkehrsüber-greifenden Schlichtungsverfahren anzuschließen.Brigitte Zypries hat mit dem von ihr durchgesetztenFahrgastrechtegesetz für den Bereich Bahn auch dieRechte von behinderten Personen und Personen mit ein-geschränkter Mobilität sehr gestärkt. Das Gesetzschreibt vor, dass Bahnhöfe, Bahnsteige, Fahrzeuge undsonstige Einrichtungen für Personen mit eingeschränk-ter Mobilität zugänglich sein müssen. Wir begrüßen denVorstoß der Grünen, mit ihrem vorliegenden Antrag zufordern, diese Rechte auch auf den Bereich Bus auszu-dehnen.Gerade angesichts der Aktivitäten der Bundesregie-rung, mit dem seit Januar vorliegenden Referentenent-wurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle dasFernverkehrsmonopol der Bahn aufzugeben und ab2012 einen Fernbusverkehr in Deutschland zulassen zuwollen, kommt der Stärkung der Fahrgastrechte im Bus-bereich eine besondere Bedeutung zu.Der Entwurf zur Personenbeförderungsgesetz-No-velle der Bundesregierung wird mehr Fahrgäste von derSchiene auf den Bus umleiten. Die Möglichkeit, Sozial-und Qualitätsstandards vorzugeben, wird durch den Ge-setzentwurf ausgehebelt. Eine nichtregulierte Freigabedes Fernlinienbusverkehrs ohne Mautpflicht und Fahr-gastrechte ermöglicht den Fernlinienbussen niedrigePreise, die dem Schienenverkehr Fahrgastverluste undStreckenstilllegungen bescheren werden. Will man wirk-lich gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Fernbusund Fernzug, muss man auch für beide Verkehrsmittelgleiche Fahrgastrechte vorschreiben.Schließlich beinhaltet der Antrag von Bündnis 90/DieGrünen einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt. Ohneeine Durchsetzung der Verbraucherrechte im Busfern-verkehr ab dem ersten Kilometer, wie es die Grünen indem vorliegenden Antrag fordern, würden nach der ak-tuell vereinbarten EU-Verordnung über die Fahrgast-rechte im Omnibusverkehr die Fahrgastrechte erst nachder Überschreitung einer Reisedistanz von 250 Kilome-tern gelten. Das heißt, dass für Busse von Aachen nachTrier, von Luxemburg nach Saarbrücken oder von Berlin
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11430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene RedenUlrike Gottschalck
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nach Stettin keinerlei Entschädigungsregeln gelten wür-den, würden wir die kürzlich verabschiedete EU-Verord-nung eins zu eins in Deutschland umsetzen. Das könnenwir nicht akzeptieren.Es ist uns bewusst, dass die Forderungen von Bünd-nis 90/Die Grünen in ihrem vorliegenden Antrag überden gegenwärtigen Status quo der vorhandenen Fahr-gastrechte hinausgehen, auch über den Status quo derFahrgastrechte, die wir für den Bahnbereich durch dasFahrgastrechtegesetz von Brigitte Zypries erreicht ha-ben. Die Grünen fordern Entschädigungsansprüche be-reits ab 30 Minuten Verspätung und nicht erst ab 60 Mi-nuten, wie es das Fahrgastrechtegesetz vorsieht. EineForderung des vorliegenden Antrags lautet ebenfalls,ein verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveaufür Fahrgäste zu erreichen. Sollen beide Forderungen,Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätungfür Busreisende und verkehrsträgerübergreifendesSchutzniveau für alle Fahrgäste, gleichzeitig umgesetztwerden, müssten auch die Fahrgastrechte für Bahnkun-den entsprechend weiter ausgebaut werden.Wir setzen uns für umfassende Rechte für Fahrgästeein; deshalb können wir auch den vorliegenden Antragunterstützen. Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhangaber auch, dass wir nicht an jeder einzelnen Forderungdes vorliegenden Antrags mit aller Macht festhaltenwerden. Wir können die Stoßrichtung des vorliegendenAntrags unterstützen; allerdings werden nicht alle For-derungen dieses Antrags von uns als unabdingbar be-trachtet. Über die eine oder andere Forderung werdenwir sicherlich noch einmal vertieft diskutieren.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten set-zen uns für die Stärkung der Rechte der Fahrgäste ein,haben in Regierungsverantwortung zur Stärkung derFahrgäste einiges erreicht und freuen uns, wenn wir, wieder vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünenzeigt, in diesem Bereich einen Bündnispartner gefundenhaben.
Ich gehe davon aus, dass wir alle eine Stärkung der
Fahrgastrechte im Fernbusverkehr wollen.
Am 15. Februar dieses Jahres hat das EU-Parlament
die Verordnung über Fahrgastrechte im Busverkehr an-
genommen. Nach Stärkung der Fahrgast- und Passa-
gierrechte im Luft-, Eisenbahn- und Schiffsverkehr re-
gelt diese Verordnung erstmalig Fahrgastrechte auch für
den Busverkehr. Dies ist lobenswert!
Allerdings gehen diese Rechte nicht weit genug. Dass
Fahrgastrechte erst ab 250 Kilometer gelten sollen, ist
nicht hinnehmbar. Dass Menschen mit Behinderungen
keine verbindliche Assistenz zusteht, ist beschämend.
Extreme Wetterbedingungen und damit auch höhere Ge-
walt sind nicht genauer definiert und hinterlassen damit
einige Schlupflöcher.
Daher begrüßen wir den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen. Besonders begrüßen wir Verbraucherpolitiker,
dass sie die Fahrgastrechte im Busfernverkehr auf na-
tionaler Ebene stärken wollen.
Zu Protokoll
Wenngleich wir einer Änderung des Personenbeför-
derungsgesetzes aus bekannten Gründen nicht zustim-
men wollen, wird es wohl, sobald die Gesetzesänderung
durch ist, auf deutschen Straßen zu wesentlich mehr
Busfernverkehr kommen. Da müssen wir vorsorgen!
Verbraucherrechte ab dem ersten Kilometer durch-
setzen zu wollen, ist sinnvoll, sofern es sich dabei um
Fernverkehr handelt. Entschädigungsansprüche bei
Verspätungen zu fordern, um ein verkehrsübergreifend
gleiches Schutzniveau zu erreichen, ist ebenfalls sinn-
voll. Allerdings sollte hier genau überlegt werden, ob
man dann nicht auch die Fahrgastrechte verkehrsüber-
greifend anpasst. Das heißt im Klartext: Entschädigung
ab 60 Minuten Verspätung. So ist es auch bei der Bahn
geregelt. Diese Position haben wir bereits in der vergan-
genen Wahlperiode vertreten, und dabei bleiben wir!
Die Forderung, Schadenersatzansprüche auf den tat-
sächlich entstandenen Folgeschaden zu gewährleisten,
betrachten wir eher mit Skepsis. Soll ein Busunterneh-
men wirklich für ein Musicalticket in Hamburg aufkom-
men, wenn der Bus aus Berlin sich verspätet hat?
Das Recht auf Nutzung anderer Verkehrsmittel ohne
zusätzliche Kosten dürfte selbstverständlich sein. Dies
unterstützen wir natürlich.
Ebenso selbstverständlich muss eine diskriminie-
rungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, Seh- und
Mobilitätseingeschränkten sein. Darüber diskutieren
wir nicht.
Eine Beteiligung der Reise- und Fernbusunterneh-
men an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per-
sonenverkehr e. V. fordern wir genauso wie Bündnis 90/
Die Grünen. An dieser Stelle sei eine kurze Aufforderung
an die Fluggesellschaften erlaubt, sich ebenfalls an die-
ser Möglichkeit einer außergerichtlichen Schlichtung zu
beteiligen. Auch das fordern wir seit langem mit Nach-
druck.
Bereits in dem Antrag „Reisende besser schützen“
haben wir Informations- und Vermittlungszentren an al-
len Verkehrsknotenpunkten als kritisch und nicht durch-
führbar angesehen. Wenn Sie das Gleiche nun auch in
Ihrem Antrag zu Fahrgastrechten im Omnibusfernver-
kehr fordern, halten wir das wiederum für nicht durch-
führbar. Gegen eine Evaluierung und Erfassung mit Ver-
spätung oder nicht beförderter Personen im Busverkehr
haben wir nichts einzuwenden. Diese Forderung dürfte
aber so lange vernachlässigbar sein, bis das Personen-
beförderungsgesetz geändert ist. Es ist seit Jahren ein
Grundanliegen der SPD-Fraktion, die Rechte der Ver-
braucher zu stärken; viele Initiativen wurden bereits er-
griffen.
Das Anliegen des Antrages ist richtig. Ich halte eine
Zustimmung aller Fraktionen für wünschenswert.
Nach langen und zähen Verhandlungen einigten sichdas Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten vorwenigen Monaten auf die Einführung weitreichenderund europaweit einheitlicher Fahrgastrechte im Busver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11431
gegebene RedenPatrick Döring
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kehr. Ebenso wie im Luft- und Eisenbahnverkehr geltenab dem Frühjahr 2013 auch für Fahrgäste im nationalensowie internationalen Buslinienfernverkehr gleiche Haf-tungsregeln und Entschädigungsansprüche. Darüberhinaus werden mit der neuen Verordnung, die in allenMitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht darstellt,Mindestvorschriften für die Information aller Fahrgästevor und während der Reise verankert. Menschen mit Be-hinderung oder eingeschränkter Mobilität soll zusätzli-che Unterstützung zukommen. Das sind Ansätze, die ichsehr begrüße.Mit der neuen Verordnung wird das europäische Re-gelwerk schließlich für die Nutzer aller Verkehrsartenvervollständigt. Doch wie bei so manchem, was ausBrüssel kommen, steckt auch hier der Teufel im Detail.Lassen Sie mich nur auf zwei kleine, jedoch nicht minderwichtige Punkte eingehen:Der erste Punkt ist das Subsidiaritätsprinzip. Bei grenz-überschreitenden Linienverkehren scheint es durchaussinnvoll, ja sogar wünschenswert, europaweit einheit-liche Mindeststandards bei den Fahrgastrechten festzu-legen. Doch im grenzüberschreitenden Fernbusverkehrwerden in Europa jährlich nur 72,8 Millionen Fahrgästebefördert. Im deutschen ÖPNV waren es im Jahr 2008hingegen über 5,3 Milliarden Fahrgäste, die den Buswählten. Um die Größenordnung noch einmal zu verdeut-lichen: Der gesamte grenzüberschreitende Buslinienfern-verkehr in der Europäischen Gemeinschaft entsprichtgerade einmal 1,4 Prozent des deutschen Buslinienver-kehrs im ÖPNV. Vor diesem Hintergrund erschließt essich mir nicht, warum inländische Busverkehre und ins-besondere der öffentliche Personennahverkehr aus Brüs-sel reglementiert werden sollen.Ferner sei angemerkt, dass die Organisation und Fi-nanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs inDeutschland gemäß Regionalisierungsgesetz immernoch den Ländern obliegt. Und natürlich steht es dennach Landesrecht zuständigen Aufgabenträgern frei, beider Umsetzung der Nahverkehrspläne auch über den inder Verordnung gefundenen Kanon grundlegender Fahr-gastrechte hinauszugehen.Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion können kom-munale Verkehre immer noch am besten dort geregeltwerden, wo sie auch stattfinden, nämlich vor Ort.Der zweite Punkt, der von der FDP-Bundestagsfrak-tion stets wachsam und kritisch begleitet wird, ist dieFrage der Verhältnismäßigkeit. Im Rahmen der Novel-lierung des Personenbeförderungsgesetzes ist die christ-lich-liberale Koalition gerade dabei, den deutschenBuslinienfernverkehr zu liberalisieren. Mit diesem ord-nungspolitisch längst überfälligen Schritt bietet sich dieChance, Angebot und Qualität des Fernverkehrs inDeutschland spürbar zu verbessern. Bei der angestreb-ten Marktöffnung gibt es jedoch zahlreiche Punkte, diebeachtet werden müssen. Insbesondere dürfen wir denvielen kleinen und mittelständischen Busunternehmerndurch die Auferlegung von Pflichten keine Kosten auf-bürden, die für die Unternehmen nicht zu überwindendeMarktzutrittsschranken darstellen. Dessen ungeachtetmuss, um auch das mit aller Deutlichkeit zu sagen, derZu ProtokollStaat natürlich regulierend eingreifen, sollte nach derLiberalisierung ein Marktversagen beobachtet werden.Aber bitte nicht vorher!Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst diePraxis der Verordnung zu beobachten und zu analysie-ren, ehe wir, wie in dem uns vorliegenden Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, über zusätz-liche Maßnahmen diskutieren, die weit über die Forde-rungen der Europäischen Union hinausgehen.
Fahrgäste im Fernbusverkehr genießen weit weniger
Rechte als die Nutzerinnen und Nutzer anderer Ver-
kehrsträger. Auch die jüngsten Festlegungen auf euro-
päischer Ebene bleiben weit hinter dem Notwendigen
zurück. Der rechtliche Schutz für Reisende im Fernbus-
verkehr ist, verglichen mit den übrigen Verkehrsträgern,
der schlechteste. Besonders bei Verspätungen sind die
Regelungen völlig unzureichend.
Mit der Klausel von den „extremen Wetterbedingun-
gen“ hat überdies dieselbe schwammige Formulierung
ihren Weg ins Regelwerk gefunden, die schon im Bereich
des Flugverkehrs fast ausschließlich zum Nachteil der
Kundinnen und Kunden ausgelegt wird. In einem sol-
chen Fall gelten die Fahrgastrechte nicht.
Schätzungen zufolge werden 60 Prozent der Ver-
kehrsnachfrage auf Fernbuslinien aus dem schienenge-
bundenen Verkehr abgezogen. Deshalb ist es gerade im
Hinblick auf die Liberalisierung des Fernbusverkehrs
dringend geboten, auch die Anbieter von Busreisen
rechtlich in die Pflicht zu nehmen. Wettbewerbsvorteile
für den Reiseverkehr auf der Straße dürfen nicht über
die fehlenden Rechte der Fahrgäste gewonnen werden.
Der Fernbusreiseverkehr muss beim Schutz der Fahr-
gäste mindestens mit dem Bahnsektor gleichziehen.
Dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wie
beispielsweise Rollstuhlfahrer, weiterhin von der Nut-
zung von Fernbuslinien ausgeschlossen werden können,
weil eine Beförderungspflicht und eine zwingende ent-
sprechende technische Ausstattung der Fahrzeuge nicht
vorgesehen ist, ist schlicht eine Unverschämtheit. Die
Bundesregierung ist hier in der Pflicht, Art. 9 der UN-
Behindertenrechtskonvention Geltung zu verschaffen
und diskriminierende Barrieren auch im Busfernlinien-
verkehr abzuschaffen.
Der vorliegende Antrag der Grünen greift einige wei-
tere wichtige Punkte zur Verbesserung der Rechtssitua-
tion von Fahrgästen im Fernlinienbusverkehr auf, von
denen die Linke einige unterstützen kann.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Die Vorteile des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmit-teln sind unbestritten. Vom Effizienzvorteil des öffent-lichen Verkehrs profitieren Verbraucher und Umweltgleichermaßen. Weniger Energieverbrauch bedeutet we-niger Mobilitätskosten, weniger Emissionen und weni-ger Umweltfolgekosten. Und nicht zu vergessen: Öffent-liche Verkehrsmittel bieten Mobilität für alle, also auch
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11432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11433
Dr. Anton Hofreiter
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für Kinder, Ältere, mobilitätseingeschränkte Personenund sozial Schwache.Umso wichtiger ist es, den öffentlichen Verkehr at-traktiver zu gestalten. Menschen steigen gern auf die öf-fentlichen Verkehrsmittel um, wenn das Angebot stimmt.Überall dort, wo ein Angebot neu geschaffen oder nen-nenswert verbessert wurde, schnellen die Fahrgastzah-len in die Höhe. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik mussdeshalb der Kunde stehen.Das bedeutet: Wir brauchen hohe Pünktlichkeitsquo-ten und einen Taktfahrplan, der schnellstmögliche Ver-bindungen sicherstellt. Aber auch das Angebot an Bera-tung und der Service müssen stimmen. Reisen muss fürEltern mit Kindern, Rollstuhlfahrer, geheingeschränktePersonen und Reisende mit Gepäck komfortabel sein.Deshalb ist eine durchgehend barrierefreie Bahninfra-struktur nicht nur für mobilitätseingeschränkte Perso-nen wichtig.Zudem brauchen wir verbindliche, leicht verständli-che Fahrgastrechte. Denn Fahrgastrechte sind das Aund O für die Verbraucher. Gestärkte Fahrgastrechte be-deutet, auf Verspätungen rechtzeitig aufmerksam zu ma-chen, entstandene Schäden in vollem Umfang zu erset-zen, Ausweichmöglichkeiten frei zur Verfügung zustellen sowie verbraucherfreundliche und barrierefreieInformationspflichten zu Reiseverbindungen, Fahrplä-nen, voraussichtlichen Störungen und Verspätungenvorzuschreiben. Fahrgäste dürfen nicht länger mit Mini-malstandards abgespeist werden.Doch genau das ist in Deutschland der Fall. Die eu-ropäischen Regelungen segmentieren nach Transport-mitteln. Die im Februar erlassene Verordnung überFahrgastrechte im Busverkehr sollte Buspassagierenmehr Rechte bei Verspätungen, Annullierungen oderähnlichen Ärgernissen zukommen lassen und die Stan-dards denen im Bahnverkehr anpassen. Doch die Ver-ordnung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Im Vergleich zuden anderen Verkehrsträgern fallen die Rechte für Bus-reisende am schlechtesten aus.Ein wirksamer Schutz der Passagiere im europäi-schen Busverkehr wird vor allem dadurch verhindert,dass nennenswerte Fahrgastrechte erst bei einer Entfer-nung von über 250 Kilometern Anwendung finden. Da-mit gelten für den größten Teil aller Busfahrten in Eu-ropa effektiv keine umfassenden Fahrgastrechte.Beschämend ist auch, dass die Rechte der Menschen miteingeschränkter Mobilität bescheiden sind: Verbindli-che Ansprüche auf Unterstützung im Busverkehr wird esnicht geben.Schließlich wurde den Busunternehmen ein weiteresSchlupfloch eröffnet: Im Falle „extremer Wetterbedin-gungen“ – die nicht genau bestimmt sind – werden dieFahrgastrechte ausgesetzt. Schon bei der Umsetzungder Fluggastrechte-Verordnung hat sich gezeigt, dassdiese Klausel eindeutig auf Kosten der Reisenden geht.Das würde auch die Schaffung unabhängiger Schlich-tungsstellen, die dringend geboten ist, nicht ausmerzenkönnen.Hinzu kommt, dass durch die Ungleichbehandlungder verschiedenen Verkehrsträger bestehende Wettbe-werbsverzerrungen weiter verschärft werden. So zahlenEisenbahnen – im Gegensatz zu Bussen – nicht nur aufjedem Streckenkilometer eine Maut in Form von Tras-senpreisen; vielmehr gelten für die Bahn auch deutlichstärkere Fahrgastrechte. Gerade vor dem Hintergrundder in Deutschland anstehenden Liberalisierung desBuslinienverkehrs ist eine solche künstliche Verzerrungzwischen zwei konkurrierenden Verkehrsmitteln nichtakzeptabel.Eine unserer wichtigsten Forderungen ist daher, dieVerbraucherrechte im Busfernverkehr schon ab dem ers-ten Kilometer durchzusetzen und Entschädigungsan-sprüche ab 30 Minuten Verspätung vorzusehen, um einverkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau fürFahrgäste zu erreichen.Von entscheidender Bedeutung ist aber, die diskrimi-nierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, sehein-geschränkten und mobilitätseingeschränkten Personenzwingend vorzuschreiben. Die Bundesregierung verfügtnach eigener Auskunft weder über aktuelle Informatio-nen zur Barrierefreiheit von Fernbuslinien, noch beab-sichtigt sie, die Genehmigung des innerstaatlichen Bus-fernlinienverkehrs an den Einsatz barrierefreier Bussezu binden. Dieses Handeln widerspricht ganz klar Art. 9und 20 der UN-Behindertenrechtskonvention. Zudemverschärft es noch die Zugangsbedingungen für die öf-fentlichen Nah- und Fernlinienbusse insofern, als auchzukünftig in neue Barrieren investiert werden kann.Wir brauchen verkehrsübergreifende Regelungen, diedas Verbraucherschutzniveau für Kunden des öffentli-chen Verkehrs bestimmen und gleichzeitig UnternehmenPlanungssicherheit in Bezug auf mögliche Ansprüchevon Kunden geben. Dies muss einerseits auf europäi-scher Ebene vorangetrieben werden; andererseits sindverbraucherfreundlichere Strukturen im nationalen Rah-men durchzusetzen. Die Grünen werden deshalb einenverkehrsträgerübergreifenden Antrag aufsetzen, in dem,im Sinne der Verbraucherfreundlichkeit und Barriere-freiheit, Informationspflichten zu Reiseverbindung,Fahrplänen, Fahrtverlauf, voraussichtlichen Störungenund Verspätungen sowie der barrierefreie Zugang zu al-len Verkehrsträgern festgeschrieben werden.Auch die Einrichtung einer unabhängigen, verkehrs-übergreifenden Schlichtungsstelle, wie sie CDU, CSUund FDP in ihrem Koalitionsvertrag verankert haben,aber bis heute nicht angegangen sind, ist für die Stär-kung der Verbraucherrechte im öffentlichen Verkehr un-abdingbar. Denn Rechte müssen auch durchgesetzt wer-den können. Sowohl für Unternehmen als auch für dieReisenden hat sich dieses Verfahren der außergerichtli-chen Streitbeilegung bei Bahnreisen bewährt. Umsowichtiger ist es, dieses Angebot für alle Verkehrskundenbereitzustellen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/5057 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
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11434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Vizepräsident Eduard Oswald
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verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEEinsatz von Pfefferspray durch die Polizeimassiv beschränken– Drucksache 17/5055 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: GünterBaumann, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz,
Ulla Jelpke,
Wolfgang Wieland.
Ich möchte, bevor ich mich zu dem beschämenden
Antrag der Linkspartei äußere, unseren Bundespolizis-
tinnen und Bundespolizisten meinen Dank für Ihr großes
Engagement zum Schutz der Bevölkerung aussprechen.
Ich nenne diesen Antrag beschämend; denn Sie, Mit-
glieder der Linken, unterstellen den Beamtinnen und Be-
amten, nicht nur den Tod von Menschen in Kauf zu neh-
men, sondern dies auch noch leichtfertig, expansiv und
unverhältnismäßig zu tun. Diesen Grundgedanken Ihres
Antrags weise ich entschieden zurück.
Die Zahl der im Einsatz verletzten Landes- und Bun-
despolizisten steigt von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2010 wur-
den so viele Bundespolizisten wie noch nie angegriffen,
seit solche Attacken im Jahr 2000 erstmals statistisch
erfasst wurden. 2010 kam es zu über 2 000 Attacken ge-
gen Bundespolizisten. Im Vergleich zu 2009 bedeutet
dies einen Anstieg von 33 Prozent.
Ich nenne hier nur einige Ereignisse: 1. Mai 2008,
Berlin: 103 verletzte Polizisten; 1. Mai 2009, Berlin: 479
verletzte Polizisten; 19. Februar 2011, Dresden: 82 ver-
letzte Polizisten. Hier sprach die Gewerkschaft der Poli-
zei von einer „Explosion der Gewalt durch linksextremis-
tische Straftäter“ gegen die Polizei. Die Beamten wurden
unter anderem mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Fla-
schen beworfen.
Sicherlich demonstriert eine Vielzahl der Menschen
friedlich. Wie jedoch die eben genannten Zahlen zeigen,
ist die Gewaltbereitschaft einiger Demonstranten ex-
trem gestiegen.
Die Anwendung von Pfefferspray ist im Gesetz über
den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Ge-
walt durch Vollzugsbeamte des Bundes, UZwG, geregelt.
Bei der Anwendung von Zwangsmitteln – dies sind nach
Gesetz Hieb- und Schusswaffen, Reizstoffe und Explo-
sivmittel – sind alle in Deutschland Polizeidienst ver-
richtenden Beamtinnen und Beamten streng an den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser
Grundsatz ist kein Novum, denn das UZwG trat im Jahr
1961 in Kraft. Sie fordern in Ihrem Antrag etwas, was
seit 50 Jahren Bestand hat. Deshalb ist der Antrag nich-
tig. Außerdem – das möchte ich hier noch einmal
betonen – steht es jedem, der den Einsatz eines Zwangs-
mittels gegen sich vermeiden möchte, frei, den Anweisun-
gen der Polizei Folge zu leisten.
Es liegt doch in der Natur der Sache, dass Zwangs-
mittel eine Art von Wirkung entfalten müssen, da an-
sonsten der Vollzug der polizeilichen Anordnung gegen
den Widerstand nicht erfolgen könnte. Bei Einsatz der
Pfeffersprays besteht die Wirkung aus einer zeitlich be-
grenzten Reizung der Schleimhäute. Somit schließt der
Einsatz eines solchen Zwangsmittels die Lücke zwischen
einfacher körperlicher Gewalt und dem Einsatz von
Schusswaffen. Vor Einführung des Pfeffersprays bei den
Polizeien der Länder und der Bundespolizei wurden Stu-
dien zur Wirkung und zu eventuellen Gefahren von Pfef-
ferspray durchgeführt.
Es ist kein Todesfall in Deutschland bekannt, bei dem
als Ursache der vorherige Gebrauch von Pfefferspray
nachgewiesen wurde. Auch die in Ihrem Antrag auftau-
chende amerikanische Bürgerrechtsbewegung ACLU
hat entgegen dem Bekunden der Linkspartei eben nicht
festgestellt, dass 26 Personen nach dem Einsatz von
Pfefferspray gestorben sind; vielmehr hat sie festge-
stellt, dass das Pfefferspray nicht die primäre Ursache
der der American Civil Liberties Union bekannten To-
desfälle in Kalifornien zu sein scheint.
Außerdem möchte ich anmerken, dass ich es für sehr
bedenklich halte, wenn man sich für die Begründung des
Antrags auf ein „Gutachten“ stützt, das ein Mitglied der
eigenen Partei verfasst hat.
Es ist immer möglich, dass es bei der Anwendung von
Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt bei dem Betroffe-
nen zu – möglichst vorübergehenden – Beeinträchtigun-
gen kommt. Aber auch hier ist festzuhalten und noch-
mals zu verdeutlichen, dass Pfefferspray nur dann
eingesetzt wird, wenn mildere Zwangsmaßnahmen zur
Durchsetzung der polizeilichen Verfügung keinen Erfolg
haben. Und auch in diesem Fall wird der Einsatz grund-
sätzlich vorher angekündigt, um den Personen die Mög-
lichkeit zu geben, dieses Ereignis durch ihre eigene Ent-
scheidung noch abzuwenden.
Für die polizeiliche Aufgabenstellung ist der Einsatz
von Pfefferspray grundsätzlich völkerrechtlich zulässig.
Pfefferspray ist für den Polizeieinsatz ein geeignetes
Mittel. Technische Weiterentwicklungen machen heutzu-
tage gezieltes Sprühen möglich; somit kann die Gefähr-
dung unbeteiligter Dritter ausgeschlossen werden.
Folglich zielt auch die Gefährdung von unbeteiligten
Dritten bei Demonstrationen als Begründung des An-
trags für ein Verbot von Pfefferspray ins Leere.
Günter Baumann
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Ich möchte kurz resümieren: Pfefferspray ist ein zu-
gelassener Reizstoff, es ist völkerrechtlich zulässig und
wird nur eingesetzt, wenn es erforderlich ist und eine ge-
eignete sowie angemessene Maßnahme ist. Deshalb
bleibt hier nur eine Entscheidung zu treffen: Der Antrag
der Linken ist eindeutig abzulehnen.
Die Fraktion Die Linke spricht in ihrem Antrag eine
Problematik an, die in der Tat bei den geschilderten Er-
eignissen in Stuttgart im September des vergangenen
Jahres zutage getreten ist.
Wir alle haben wohl noch die erschreckenden Bilder
vor Augen, wie gegen überwiegend friedliche Demons-
trantinnen und Demonstranten mit unnötiger Härte vor-
gegangen wurde, wobei auch Pfefferspray zum Einsatz
kam. So gibt es Videos, in denen Beamte zu beobachten
sind, die ungezielt bzw. wahllos Pfefferspray einsetzen,
um Demonstrantinnen und Demonstranten zum Verlas-
sen des Ortes zu veranlassen. Hierbei hätte auch einfa-
che körperliche Gewalt, wie zum Beispiel das Wegtra-
gen, als milderes Mittel gereicht.
Das baden-württembergische Polizeigesetz schreibt in
§ 52 Abs. 1 vor, dass das angewandte Mittel unmittelba-
ren Zwangs – und als solches ist der Einsatz von Pfeffer-
spray zu bewerten – nach Art und Maß dem Verhalten,
dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen
sein muss. Wenn, wie in Stuttgart geschehen, auch eine
große Anzahl älterer Leute, junger Familien und Kinder
friedlich an einer solchen Versammlung teilnimmt, dann
ist es offenkundig, dass der Einsatz von Pfefferspray ge-
gen diese Personen nicht verhältnismäßig ist.
Deshalb beantragte die SPD-Fraktion im Landtag
von Baden-Württemberg den Untersuchungsausschuss
„Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30. September
2010 im Stuttgarter Schlossgarten“, der die politische
Verantwortung für den harten Polizeieinsatz offenlegen
sollte. Diese Verantwortung trägt nach Ansicht der
SPD-Fraktion der Ministerpräsident Mappus, der bei
einer Vorbesprechung die Entscheidung an sich zog und
den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray
billigte – so das Ergebnis des Untersuchungsausschus-
ses.
Aus meiner polizeilichen Arbeit kenne ich den Einsatz
von Pfefferspray sehr wohl, allerdings immer nach dem
Grundsatz, einfache körperliche Gewalt dem Einsatz
schwerwiegenderer Hilfsmittel vorzuziehen. Vordring-
lich dient er im Rahmen des unmittelbaren Zwangs dazu,
Gefahren abzuwehren und den Schusswaffengebrauch
zu vermeiden. Diese Einsatzweise findet im Wesentli-
chen im Einzeldienst Anwendung und soll einen Störer
vorübergehend angriffsunfähig machen. Hierbei ist
selbstverständlich zu beachten, nicht auf die Augen des
Betroffenen zu zielen.
Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem
Antrag, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen
zu verbieten, die sich in Ansammlungen wie einer De-
monstration oder bei einem Fußballspiel befinden. Das
halte ich für übertrieben und nicht zielführend. Schließ-
Zu Protokoll
lich erlaubt auch das Gesetz über den unmittelbaren
Zwang, UZwG Bund, in § 10 Abs. 2 den Schusswaffenge-
brauch gegen eine Menschenmenge. Der Einsatz von
Schusswaffen ist ein viel schärferes Mittel als der Ein-
satz von Pfefferspray und mit deutlich größerer Gefahr
für Leib und Leben verbunden. Deshalb muss es möglich
bleiben, unterhalb des Schusswaffengebrauchs über ein
polizeiliches Einsatzmittel zu verfügen.
Die Forderung nach einer massiven Einschränkung
geht zu weit. Bedingte Einschränkungen halte ich für
ausreichend. Diese sind aber in den Polizeigesetzen der
Länder bereits enthalten. Auf § 52 Abs. 1 Polizeigesetz
Baden-Württemberg wurde bereits hingewiesen.
Ferner ist im UZwG des Bundes und der Länder der
Einsatz von Zwangsmitteln detailliert geregelt und un-
terliegt stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,
der über allen polizeilichen Handlungen „schwebt“.
Verstöße gegen diese Bestimmungen bei Einsätzen der
Polizei sind natürlich zu verfolgen und müssen gegebe-
nenfalls strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Ein Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem
hier vorgelegten Inhalt ist deshalb nicht erforderlich.
Es ist schon erstaunlich, dass die Fraktion Die Linkein ihrem Antrag so tut, als lebten wir in einem Polizei-staat, in dem Polizisten wahllos und willkürlich den Todvon Menschen hinnehmen, um sich das Leben leichtzu-machen. Das finde ich schon ein starkes Stück!Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland, seiensie von der Bundespolizei oder von den Polizeien derLänder, die sich im Prinzip jedes Wochenende bei Groß-veranstaltungen für die Gewährleistung der Sicherheit inGefahr begeben und die bei Demonstrationen oft genugverletzt werden, sind doch nicht die, die sich vor allemmit Rechtsbruch hervortun; im Gegenteil.Aber auf einen Antrag der Linksfraktion, in dem klar-gestellt und auch eingefordert wird, dass vom Versamm-lungsrecht Gewalt nicht umfasst ist, können wir wahr-scheinlich lange warten. Da wird mit zweierlei Maßgemessen; im Grunde wird hier überhaupt ganz maßlosargumentiert: Wenn Steine auf Polizisten geworfen wer-den, machen Sie die Augen zu und behaupten hinterhernoch, dass die armen Demonstranten bestimmt von derbösen Polizei provoziert wurden. Wenn aber Polizistin-nen und Polizisten gegen Randalierer vorgehen, dannsoll ihnen nach Meinung der Linken am besten nur nocherlaubt sein, Rechtsbruch mit Streicheleinheiten zu be-kämpfen. Das kann aber nicht funktionieren. Das ist mitunserem Rechtsstaat auch nicht vereinbar.Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland sindan Recht und Gesetz gebunden, und Sie müssten eigent-lich ganz genau wissen, wie eng und strikt das Regelwerkist, innerhalb dessen Einsätze der Polizei stattfinden. Im-merhin regiert die Linkspartei ja bedauerlicherweise ineinigen Bundesländern und hat dort die Verantwortungfür die Polizei. Da frage ich mich: Darf die Polizei inBerlin zum Beispiel bei Naziaufmärschen oder bei den1.-Mai-Steinewerfern solche Teilnehmer von Demonstra-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11435
gegebene RedenGisela Piltz
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tionen, die das Recht brechen, nur durch exzessives Ku-scheln dazu bewegen, sich an Recht und Gesetz zu hal-ten? Nein, natürlich nicht. Die Polizei muss dieMöglichkeit haben, unseren Rechtsstaat zu schützen.Ich erinnere daran, dass die Linke im Grunde möchte,dass der Polizei vollkommen die Hände gebunden sind:Wasserwerfer finden Sie schlecht, Wegtragen finden Sieschlimm, Schlagstöcke dürfen nicht eingesetzt werden,Schutzkleidung von Polizisten finden Sie provokant usw.usf. Am Ende müssen Sie sich fragen, ob Sie überhauptwollen, dass es in einem Rechtsstaat eine Polizei gibt.Es ist selbstverständlich richtig, dass innerhalb einesklaren Regelwerks die Polizei notfalls auch mit unmittel-barem Zwang reagieren kann. Dabei muss die Durchset-zung des staatlichen Gewaltmonopols in unseremRechtsstaat natürlich immer an den Regeln der Verhält-nismäßigkeit orientiert sein. Zudem muss jede Maß-nahme – und das ist ja auch der Fall – nachprüfbar sein.Die Linke will hier den Eindruck erwecken, dass ge-nau diese Richtschnur fehlt. Dabei kann man über diesesThema ja durchaus ernsthaft und in Ruhe diskutieren.Auch der Landtag in Baden-Württemberg befasst sich inseinem Untersuchungsausschuss mit dem Einsatz vonPfefferspray.Natürlich muss jedes Einsatzmittel der Polizei immerwieder auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft werden.Natürlich müssen auch neue Erkenntnisse in diese Be-wertung einbezogen werden, vor allem wenn diese sichauf gesundheitliche Gefahren beziehen.Aber zu einer ernsthaften Befassung gehört auch,dass man festhält, dass Pfefferspray nicht generell Men-schen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Ver-letzung bringt. In aller Regel ist es vielmehr so, dass essich um ein Mittel handelt, das gerade ohne dauerhafteSchädigung der Durchsetzung unmittelbaren Zwangsdient. Das heißt nicht, dass man es nicht immer wiederhinterfragen muss; auch das gehört selbstverständlichin unserem Rechtsstaat dazu.Eine ernsthafte Debatte darüber würde ich gerne füh-ren. Aber auf dem Niveau, auf das die Linke sich hier be-gibt, ist das nicht möglich.
Die Fraktion Die Linke will den Einsatz von Pfeffer-spray durch die Bundespolizei massiv beschränken.Denn Pfefferspray bzw. sein chemischer Ersatz ist einegefährliche, unter Umständen tödliche Waffe. Nicht vonungefähr steht auf den Sprühgeräten, die man im Waf-fenladen kaufen kann, eindeutig, dass sie nur gegenTiere eingesetzt werden dürfen. Doch eine Ausnahmegibt es: Die Polizei darf auch Menschen mit Pfeffer-spray besprühen.Und da müssen wir leider feststellen, dass die Polizeikeineswegs nur in Fällen akuter Notwehr zum Pfeffer-spray greift. Vielmehr haben wir gerade im vorigen Jahrgesehen, dass Pfefferspray zum ganz normalen Mittel ei-nes Polizeieinsatzes geworden ist und flächendeckendZu Protokollund massiv gegen Demonstranten, Fußballfans oderEinzelpersonen eingesetzt wird.Wie unverhältnismäßig diese Einsätze oftmals sind,erwies sich zum Beispiel am 30. September vorigen Jah-res in Stuttgart, als die Menschen, die gegen das Milliar-dengrab Stuttgart 21 protestiert haben, massiv mit Pfef-ferspray beschossen wurden. Noch schlimmer war esdann beim Castortransport im November. Dort hat al-leine die Bundespolizei fast 2 200 Sprühdosen ver-braucht. Insgesamt waren Hunderte von Verletzten zubeklagen. Die Fraktion Die Linke hält es für absolut un-verantwortlich und undemokratisch, so mit Demon-stranten umzuspringen.Denn gerade beim Einsatz gegen größere Menschen-mengen nehmen die Einsatzführungen und die politischVerantwortlichen zwangsläufig in Kauf, dass auch völligunbescholtene Bürger in Mitleidenschaft gezogen wer-den. Und wir reden hier nicht nur von Verletzten. Wirkönnen vielmehr von Glück reden, dass es bei diesenEinsätzen keine Toten gegeben hat.Denn Pfefferspray ist eben nicht das handliche, nütz-liche Allroundmittel, als das es benutzt wird. Vielmehrist Pfefferspray eine potenziell tödliche Waffe, der schonDutzende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Dasist wissenschaftlich längst erwiesen; nur hat bislang nie-mand die politische Schlussfolgerung daraus gezogen.Dazu hat dieses Parlament nun durch unseren Antragdie Gelegenheit.Inwiefern ist Pfefferspray hochgefährlich? Man kanngeneralisierend sagen: Kerngesunde Menschen könnendas Reizgas mehr oder weniger wegstecken. Verletzun-gen an den Schleimhäuten, insbesondere an den Augen,tragen auch sie davon; aber Langzeitschäden haben siemeist nicht zu befürchten. Doch bei gesundheitlich vor-belasteten Menschen sieht das ganz anders aus: Werunter Asthma leidet, bestimmte Allergien hat, Psycho-pharmaka nehmen muss, dauerhaft Kokain oder Amphe-tamine konsumiert oder eine Herz-Kreislauf-Schwächehat, für den wird der Kontakt mit Pfefferspray extremgefährlich. Am schlimmsten sind dabei die möglichenReaktionen eines allergischen Schocks, die entstehenkönnen. In Stellungnahmen des US-Justizministeriums,aber auch beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundes-tages ist nachzulesen, dass es dieses Risiko gibt. Alleinein den letzten zwei Jahren waren in Deutschland mindes-tens fünf Todesopfer zu beklagen. Selbst die Bundesre-gierung sagt:Bei bestimmungsgemäßer Exposition von gesundenPersonen sind in der Regel keine bleibenden ge-sundheitlichen Schäden zu erwarten.Das hat sie auf eine Kleine Anfrage von uns geant-wortet. Damit bestätigt sie verklausuliert, dass krankePersonen sehr wohl gefährdet sind. Doch die tödlichenRisiken und Nebenwirkungen bezeichnet sie zynisch als„Einzelrisiken“. Die Linke meint allerdings: Ein Mittel,das den Tod hervorrufen kann, darf, wenn überhaupt,nur extrem zurückhaltend eingesetzt werden.Niemand kann Situationen ausschließen, in deneneine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben existiert
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11436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11437
Ulla Jelpke
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und der Einsatz von Pfefferspray gegen einen Gewalttä-ter als akute Notwehr vertretbar erscheint. Viele Frauenführen es mit sich, um sich gegen angreifende Männerwehren zu können. Aber es darf einfach nicht sein, dasssolche Reizgase gegen Menschen eingesetzt werden, diefriedlich protestieren. Nehmen wir Stuttgart 21: DieRäumung des Schlossparks ohne Pfefferspray hätte viel-leicht ein paar Stunden länger gedauert. Aber was istschon die mögliche Verzögerung dieses unsinnigen Bau-projekts gegen das Risiko, durch wahllosen Pfeffer-sprayeinsatz schwerste Gesundheitsschäden zu verursa-chen? Denn es kann doch keiner ausschließen, dassunter den Demonstranten etliche Menschen mit Asthmaoder Allergiker sind. Das Gleiche gilt für den Protest ge-gen den Castortransport. Auch der Einsatz gegen soge-nannte Randalierer, die eventuell nur einfache Ruhestö-rungen verursachen, muss unterbunden werden. Denngerade weil solche Personen häufig Drogen konsumierthaben, ist Pfefferspray für sie unvergleichlich viel ge-fährlicher.Wir können mit unserem Antrag nur den Pfefferspray-einsatz der Bundespolizei einschränken. Es ist für unsein Gebot der politischen Vernunft, aber auch schlichtder Gesundheit, auf Länderebene nachzuziehen. Ge-nauso wenig, wie man in Menschenmengen mit Schuss-waffen hineinschießen darf, darf man sie mit Pfeffer-spray überziehen.
Seit Jahrzehnten gehören Reizstoffe wie Pfefferspray
zur gängigen Ausrüstung der Polizei. Eingeführt wurden
sie als das „mildere Mittel“. Wo früher Schlagstöcke
oder die Schusswaffe eingesetzt werden mussten, sollte
nun die Chemie die Ausübung des unmittelbaren Zwangs
auf schonendere Weise ermöglichen. Sei es bei Großein-
sätzen oder bei Festnahmen von Gewalttätigen, man
hoffte, mit CN/CS-Gas – vulgo: chemische Keule – Ver-
letzungen und Schlimmeres vermeiden zu können.
Wir mussten lernen: Auch CN/CS-Gas kann zu erheb-
lichen Verletzungen führen, von leichten Verätzungen
über ernsthafte Schäden an Augen und Schleimhäuten
bis hin zu schwersten Komplikationen bei bestimmten
Vorerkrankungen. Dabei trifft es nicht selten auch den,
der es einsetzt. Es ist also keine geeignete Waffe zum
Beispiel bei Gegenwind.
Das jetzt gebräuchliche Pfefferspray sollte alle diese
Probleme lösen. Aber dieser Wunsch ging nicht in Erfül-
lung. Denn auch bei den heute üblichen Reizstoffen
kommt es zu teils erheblichen Verletzungen, selbst wenn
sie gesunde Menschen treffen. Richtig gefährlich kann es
aber für Menschen mit Asthma oder bestimmten Aller-
gien sowie in Wechselwirkung mit Medikamenten oder
manchen Drogen werden. Dann drohen akute Atemnot
und Ersticken, Organschäden oder gar der Tod.
Das mag nicht häufig passieren; aber hier gilt: Jeder
Schwerverletzte ist einer zu viel, und Tote darf man
schon gar nicht in Kauf nehmen. Polizeiliche Mittel dür-
fen nicht schwere Verletzungen in Kauf nehmen; das ge-
bietet die Verhältnismäßigkeit. Das gilt bei der ganz
konkreten, auf eine bestimmte Person zielenden Aus-
übung von Zwang, und das gilt auch, wenn sich die Poli-
zei großen, aggressiven Gruppen gegenübersieht. Ge-
rade in diesem Fall ist nicht zu erkennen und nicht
vorher zu ermitteln, wer eine Allergie hat, wer von
Asthma betroffen ist oder wer bestimmte Krankheiten
hat. Besonders hier kommen die Risiken von Pfeffer-
spray also voll zum Tragen.
Verbieten klingt wie eine einfache Lösung. Wer das
fordert, muss schon sagen, welchen Ersatz er anbieten
kann. Durch die Menge jagende Reiterstaffeln können es
ja wohl nicht sein. Deshalb gilt: Wir brauchen aussage-
kräftige, ehrliche Studien zum Pfefferspray. Wir brau-
chen gegebenenfalls Alternativen. Pfefferspray ist offen-
bar nicht das erhoffte „mildere Allheilmittel“.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5055 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer , Inge Höger, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beachtung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
bei dem Evakuierungseinsatz in Libyen
– Drucksache 17/5175 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer , Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Stopp der Überwachung des libyschen Luft-
raums durch AWACS-Luftfahrzeuge
– Drucksache 17/5176 –
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
Brand, Dr. Wolfgang Götzer, Lars Klingbeil, Dr. Rainer
Stinner,
Inge Höger,
Volker Beck.
Die Evakuierung deutscher und anderer Staatsange-
höriger aus Libyen durch unsere Bundeswehr am
26. Februar 2011 war richtig und erfolgreich. Dafür
danken wir den Soldatinnen und Soldaten sehr. Die Eva-
kuierung duldete angesichts einer humanitären Notlage
keinen Aufschub, zumal Gefahr im Verzug wahr.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wur-
den insgesamt 132 Personen mit zwei Bundeswehrflug-
zeugen vom Typ C-160 Transall evakuiert, darunter
22 deutsche Staatsbürger. An Bord waren laut Auskunft
Michael Brand
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der Bundesregierung – Bundestagsdrucksache 17/5002
vom 11. März 2011 – neben der Transall-Besatzung ins-
gesamt 20 Soldaten der Bundeswehr, 8 Feldjäger und
12 Fallschirmjäger. In den Luftfahrzeugen wurden dem-
nach Pistolen P8 und P7, Gewehre G3ZF, G36 sowie
MG3 mitgeführt.
Die Transportflugzeuge starteten und landeten auf
Kreta. Mit an Bord waren seinerzeit Sicherungskräfte;
als Landezone diente der im Osten Libyens gelegene
Flughafen Nafurah. Bereits am 22. und 23. Februar
hatte die Bundeswehr nach eigenen Angaben insgesamt
130 EU-Bürger ausgeflogen, darunter 103 Deutsche.
Neben Deutschland haben auch weitere Staaten wie
zum Beispiel die USA, China, die Türkei, Frankreich,
Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande, Por-
tugal Österreich, Rumänien und Bulgarien eigene
Staatsbürger evakuiert.
Weiter geht aus der Antwort der Bundesregierung
hervor, dass die an der Evakuierung deutscher Staats-
bürger beteiligten Kräfte der Bundeswehr, die uns heute
hier im Hohen Hause beschäftigen, durch das Einsatz-
führungskommando geführt wurden und der Einsatz der
Kräfte auf Anforderung des Krisenstabes des Auswärti-
gen Amtes erfolgte.
Die Obleute der Fraktionen im Verteidigungsaus-
schuss wurden beim Rückflug am 25. Februar nach der
Trauerfeier in Regen für die in Afghanistan getöteten
Soldaten von Herrn Generalinspekteur Wieker über die
bevorstehende Evakuierung unterrichtet, der SPD-Ob-
mann telefonisch.
Nach erfolgreichem Einsatz wurden die Vorsitzenden
der Bundestagsfraktionen am 25. Februar spätabends
und am nächsten Tag von Außenminister Westerwelle te-
lefonisch unterrichtet; die Vorsitzenden, stellvertretenden
Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und Verteidi-
gungsausschusses wurden am 26. Februar schriftlich
durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr
und im Verlauf des 27. Februar durch die Staatssekre-
täre des Auswärtigen Amtes und des BMVg telefonisch
über den Verlauf der durchgeführten Evakuierungen un-
terrichtet. Darüber hinaus erhielt der genannte Perso-
nenkreis am 4. März eine schriftliche Unterrichtung.
Der Bundestag ist vor Beginn und während des Ein-
satzes in geeigneter Weise unterrichtet worden.
Die beteiligten Soldaten waren nach Auskunft des
Verteidigungsministeriums angewiesen, die Waffen nur
zur Selbstverteidigung und Nothilfe sowie erforderli-
chenfalls zur Durchsetzung der Evakuierung einzuset-
zen.
Zur rechtlichen Bewertung ist die Feststellung von
erheblicher Bedeutung, dass seitens der Bundesregie-
rung die klare Erwartung bestand, dass die mitgeführten
Waffen nicht würden eingesetzt werden müssen.
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz findet nur bei ei-
nem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Aus-
land Anwendung. Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist
nicht anzunehmen, wenn eine Einbeziehung deutscher
Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Unterneh-
Zu Protokoll
mung nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und
den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen
nicht zu erwarten ist.
Dies war bei den in der Vorbemerkung der Bundesre-
gierung und der Antwort auf die Frage 1 dargestellten
Flügen zur Evakuierung deutscher und Staatsbürger an-
derer Länder der Fall. Aufgrund der gegebenen Bedro-
hungslage bestand zum Zeitpunkt der entsprechenden
Entscheidungen die klare Erwartung, dass die eingesetz-
ten Soldaten durch libysche Kräfte nicht bedroht sind,
ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen und mithin
nicht in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen wer-
den würden. In diesem Zusammenhang wird auf die Aus-
führungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Ur-
qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaff-
nete Auseinandersetzungen zur parlamentarischen Zu-
stimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes deut-
scher Soldaten .
Dass der Deutsche Bundestag die Wahrung seiner
Rechte einfordert und auf deren Einhaltung pocht, ist
schlicht seine Pflicht. Daran darf es keinerlei Abstriche
geben.
Im vorliegenden Falle verweise ich auf die obige ju-
ristische Würdigung. Den Antrag der Fraktion Die
Linke lehnen wir ab.
Am 26. Februar dieses Jahres wurden 132 Personen,die sich in einer äußerst schwierigen humanitären Lagebefanden, mit zwei geschützten Transall-Maschinen ausdem Raum Nafura evakuiert und außer Landes ge-bracht.Die Transall-Maschinen wurden von insgesamt 20 deut-schen Soldaten begleitet, die zum Zwecke der Selbstver-teidigung Waffen mit sich führten. Klare Erwartungshal-tung von Beginn der Evakuierungsaktion an war, dass eszu keinem Einsatz der mitgeführten Waffen kommenwerde.Die Linke vertritt nun gemeinsam mit der SPD und denGrünen die Auffassung, dass der Evakuierungseinsatz dernachträglichen Genehmigung durch den Bundestag be-dürfe, weil es sich um einen Einsatz bewaffneter Streit-kräfte im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes han-dele.Diese Auffassung ist rechtlich unzutreffend. Dass diesdurchaus auch der Linken bewusst ist, zeigt sich an derrelativ geduldigen Zurückhaltung, mit der die Fraktionauf den angeblich rechtswidrigen Bundeswehreinsatzreagiert hat. Möglicherweise möchte die Linke aberauch angesichts bevorstehender Landtagswahlen einenhumanitären Rettungseinsatz nicht als rechtswidrig ver-urteilen.Umso verwunderlicher ist jedoch die Kritik von denGrünen und der SPD, sollten diese doch mittlerweile dieVoraussetzungen des Parlamentsvorbehalts kennen,nachdem sie es waren, die im Jahr 2003 mit dem Einsatz
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11438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene RedenDr. Wolfgang Götzer
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deutscher Soldaten in AWACS-Aufklärungsflugzeugenüber der Türkei gegen die Verfassung verstoßen haben.Die Evakuierungsflüge vom 26. Februar dieses Jah-res jedenfalls waren verfassungsrechtlich zulässig. DieEinholung eines vorherigen oder nachträglichen Man-dats des Bundestages nach dem Parlamentsbeteili-gungsgesetz war und ist nicht erforderlich. Bei der Maß-nahme handelte es sich um keinen Einsatz bewaffneterStreitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG, da nach dererfolgten Lageeinschätzung der Bundesregierung ausEx-ante-Sicht nicht zu erwarten war, dass die Soldatenin bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werdenwürden.Im Jahr 2008 stellte das Bundesverfassungsgericht inseinem sogenannten AWACS-II-Urteil fest, dass diesaber das entscheidende Merkmal ist. Im Urteil heißt esdazu, dass ein Auslandseinsatz der Bundeswehr imSinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nur dann ge-geben ist, wenn – unabhängig von der Bewaffnung derentsandten Soldaten – „die Einbeziehung deutscher Sol-daten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zuerwarten ist“. Die „bloße Möglichkeit“ – diese musstebei der Luftevakuierung aus Nafura als Vorsichtsmaß-nahme einkalkuliert werden und führte zu der Entsen-dung bewaffneter Soldaten – „reicht hierfür nicht aus“,so Karlsruhe.Sowohl das Bundesverteidigungsministerium alsauch das Auswärtige Amt gingen vor Beginn der Luft-evakuierung davon aus, dass die entsandten deutschenSoldaten ihre Waffen nicht einsetzen werden, denn es lagkeine konkrete Gefährdungslage vor. Weder das Win-tershall-Lager in Nafura noch die zu evakuierenden Per-sonen dort waren konkret bedroht. Allerdings befandensie sich in einer humanitären Notlage, da ihre Vorrätezur Neige zu gehen drohten und es unmöglich war, dasLager auf dem Landweg zu verlassen.Im Übrigen wurde das Gaddafi-Regime über die Ak-tion vorab informiert. Die fehlende Reaktion konnte alskonkludente Zustimmung gewertet werden.Auch die Tatsache, dass nur zwei leicht gesicherteFlugzeuge und lediglich 20 leichtbewaffnete Soldatenzur Evakuierung von immerhin 132 Menschen entsandtwurden, zeigt, dass die Bundesregierung tatsächlich nievon einer konkreten Bedrohungslage ausgegangen istund auch nicht ausgehen musste, sodass kein bewaffne-ter Einsatz im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG vorlag.Zu dem Antrag der Linken, der sich auf den AWACS-Einsatz mit deutscher Beteiligung im Mittelmeerraumbezieht, ist Folgendes zu sagen:Nachdem sich die westliche Allianz nun auf eineSchlüsselrolle der NATO im Libyen-Einsatz geeinigt hat,wird die Bundesregierung 300 deutsche Soldaten, dieBesatzungsmitglieder von AWACS-Aufklärungsflugzeu-gen sind, nach Afghanistan schicken, um die NATO-Partner im Libyen-Einsatz zu entlasten. Gleichzeitigwerden alle deutschen Soldaten vom NATO-Einsatz imMittelmeer abgezogen. Der Grund dafür ist, dass nichtauszuschließen ist, dass Bilder der AWACS-Aufklä-Zu Protokollrungsflugzeuge für einen operativen Einsatz verwendetwerden.Es bestehen somit im Sinne des AWACS-II-Urteils ausdem Jahr 2008 „greifbare tatsächliche Anhaltspunktefür eine drohende Verstrickung“ der Soldaten, die der-zeit im Rahmen von OAE im Mittelmeer tätig sind, „inbewaffnete Auseinandersetzungen“, die in Umsetzungder UN-Resolution zur Einhaltung der Flugverbotszonegeführt werden.Nach diesem AWACS-II-Urteil ist ein Mandat desBundestages erforderlich, sobald solche „greifbarentatsächlichen Anhaltspunkte“ bestehen. Die Schiffe, diesich im Rahmen von OAE im Mittelmeer befinden, wer-den aus demselben Grunde nationalem Kommando un-terstellt und abgezogen.Der Antrag der Linken ist damit gegenstandslos.
Die Frage, ob der Evakuierungseinsatz in LibyenEnde Februar dieses Jahres unter das Parlamentsbetei-ligungsgesetz fällt, lässt sich auf folgende Frage redu-zieren: War zu erwarten, dass die Soldatinnen und Sol-daten in bewaffnete Unternehmungen einbezogenwerden oder nicht?Wenn eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unter-nehmung zu erwarten ist, dann handelt es sich nach § 2Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes um einenEinsatz im Sinne desselben. Dies hätte zwar nicht zurKonsequenz gehabt, dass das Parlament im Vorhineindem Einsatz zustimmen muss, denn nach § 5 des Parla-mentsbeteiligungsgesetzes ist eine nachträgliche Zu-stimmung des Deutschen Bundestages möglich.Unter Abs. 1 steht dort:Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschubdulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmungdes Bundestages. Gleiches gilt für Einsätze zur Ret-tung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen,solange durch die öffentliche Befassung des Bun-destages das Leben der zu rettenden Menschen ge-fährdet würde.Es besteht kein Zweifel, dass dieser Fall in Libyeneingetreten war. Ich bin daher auch der Überzeugung,dass die Bundesregierung klug und im Sinne aller ge-handelt hat. Es war wichtig und notwendig, die Evakuie-rung durchzuführen. Wir alle haben uns bei denen zu be-danken, die diese Maßnahme durchgeführt haben.Dass Absatz 2:Der Bundestag ist vor Beginn und während desEinsatzes in geeigneter Weise zu unterrichten.ebenfalls erfüllt wurde, berichtete mir der außenpoliti-sche Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Mützenich.Der letzte Absatz in § 5 regelt jedoch, wie im Nach-gang mit dem Parlamentsvorbehalt umzugehen ist:Der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz ist unver-züglich nachzuholen. Lehnt der Bundestag den An-trag ab, ist der Einsatz zu beenden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11439
gegebene RedenLars Klingbeil
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War die Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh-mung in Libyen also zu erwarten, so hätte die Bundesre-gierung zeitnah die Zustimmung des Parlaments bean-tragen müssen.Wenn die Bundesregierung davon ausgegangen ist,dass eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh-mung nicht zu erwarten war, dann benötigt dieser Ein-satz nach § 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nichtdie Zustimmung des Bundestages. Die Frage ist also:Konnte die Bundesregierung davon ausgehen, dasskeine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zuerwarten war?Die mediale Berichterstattung lässt diesen Schlussnicht wirklich zu. Es war von bis zu 1 000 Soldaten imEinsatz zu lesen. Sechs Transall-Maschinen, drei Schiffeund zwei Fregatten waren im Einsatz. Die Berichterstat-tung darüber ließ den Schluss zu, dass der Einsatz alsäußerst riskant einzuschätzen war und daher auchstreng geheim durchgeführt wurde.Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehrüberrascht als die mediale Berichterstattung, ist die Do-kumentation des Einsatzes durch die Bundesregierungselbst. Auf dem Internetauftritt des Bundesministeriumsder Verteidigung ist zum Einsatz – dort als OperationPegasus betitelt – unter anderem zu lesen:Die Landung im völlig unüberschaubaren Krisen-gebiet war für die Soldaten nicht ohne Risiko. Esbestand die Gefahr, dass der libysche Diktator,Muammar al-Gaddafi, die besetzten Ölanlagen derStadt bombardieren und so auch die dort tätigenEuropäer gefährden könnte. Was die Soldaten nachder Landung in einem vom Bürgerkrieg erfasstenLand erwartet, ist unklar.Weiter schreibt das BMVg:Über Angst sprechen die Soldaten nicht. Sie habenRespekt vor ihrer Aufgabe, weil sie nie genau wis-sen, was auf sie zukommt. Die Stimmung könnteplötzlich umschlagen, selbst Angriffe sind nichtauszuschließen.In einem Video auf der Seite beschreibt ein Soldat dieGefahrenlage und die damit verbundenen Risiken. Sowurden die Soldaten darauf vorbereitet, dass in Libyenmöglicherweise Luftabwehrraketen eingesetzt werdenwürden.Dies alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dasssehr wohl das Risiko einer Einbeziehung in eine bewaff-nete Unternehmung bestand. Die Einschätzung der Lagedurch die Soldaten im Einsatz dürfte auch dem BMVgund dem Auswärtigen Amt und somit der Bundesregie-rung vorgelegen haben und vorliegen. Es ist dahermeine Auffassung, dass nach dem Parlamentsbeteili-gungsgesetz der Antrag auf Zustimmung zum Einsatzdurch die Bundesregierung unverzüglich nachzuholenist.Im Jahr 1997 führte die Bundeswehr einen ähnlichenEinsatz durch. Mit der Operation Libelle wurden deut-sche Staatsbürger aus Albanien ausgeflogen. Ob die Ge-fahrenlage zu vergleichen ist, müssen Experten entschei-Zu Protokollden; der Hintergrund des Einsatzes war jedochvergleichbar. Bei der Operation Libelle kam es zu einemSchusswechsel auf dem Flugplatz, die Einbeziehung ineine bewaffnete Unternehmung war also gegeben undder Bundestag hat im Nachgang dem Einsatz zuge-stimmt. Ich halte es jedoch für sehr problematisch, dieParlamentsbeteiligung davon abhängig zu machen, obes wirklich zu einem Beschuss kam oder ob nur die Ge-fahr dafür bestand.Warum die Bundesregierung dem Antrag auf Zustim-mung zum Einsatz nicht nachkommt und weiterhin aufdem Standpunkt beharrt, dass es sich um einen humani-tären Einsatz ohne Risiko einer Einbeziehung in eine be-waffnete Unternehmung handelte, ist für mich daher un-verständlich.Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass ein sol-cher nachträglicher Antrag im Deutschen Bundestageine breite Zustimmung finden würde. Es handelt sichhierbei ja um einen Einsatz zur Evakuierung deutscherund anderer europäischer Staatsbürger.Zweitens müssen wir Politiker unseren Worten auchTaten folgen lassen. Über alle Parteigrenzen hinwegstellen wir immer wieder die Wichtigkeit und Besonder-heit der Parlamentsarmee heraus. Zu Recht, denn siehat nicht nur ihre geschichtliche Existenzberechtigung,sondern sie ist auch eine große Errungenschaft. Auchwenn der Parlamentsvorbehalt oft gescholten wird, binich der Überzeugung, dass die Streitkräfte der Zukunftweiterhin vom Parlament kontrolliert werden müssen.Nur so stellen wir sicher, dass ihr Einsatz durch demo-kratische Willensbildung zustande kommt. Anstatt diesmit Leben zu füllen, versteckt sich die Regierung hinterder Auslegung und der Interpretation von Paragrafen.Ich bin der festen Überzeugung: Im Zweifel sollte sichdie Regierung parlamentsfreundlich verhalten.Drittens geht es mir um die Glaubwürdigkeit vonPolitik. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einebreite Unterstützung in der Öffentlichkeit haben, wennes darum geht, deutsche Staatsbürger aus Krisengebie-ten zu evakuieren. Wenn die Einschätzung des Auswärti-gen Amts und des BMVg nun in diesem Fall ergeben,dass für die Evakuierung bewaffnete Soldatinnen undSoldaten im Einsatzgebiet vonnöten sind, dann steht ih-nen das als verantwortliches Ressort zu. Wenn wir nunaber auf der einen Seite stets betonen, dass in Deutsch-land das Parlament über den Einsatz von Soldaten imAusland entscheidet, auf der anderen Seite aber Bildervon bewaffneten Soldaten in Libyen auftauchen und keinBeschluss des Bundestages vorliegt bzw. beabsichtigtist, haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Die Anträge der Linken sind vollkommen überflüssigund falsch. Wir brauchen zu diesem Thema nun wirklichkeinerlei Nachhilfe durch eine Fraktion, die sich beiKlagen zu Bundeswehreinsätzen vor dem Bundesverfas-sungsgericht reihenweise schallende Ohrfeigen abge-holt hat. Nun wollen Sie Ihre absurde Rechtsauffassung,mit der Sie in Karlsruhe ausnahmslos gescheitert sind, gegebene Reden
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11440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Dr. Rainer Stinner
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hier im Bundestag anbringen, aber hier werden Sie ge-nauso scheitern.Selbstverständlich beachtet die Bundesregierungpeinlich genau das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ein li-beral geführtes Außenministerium ist die beste Gewährdafür. Wir Liberale haben nach dem rot-grünen AWACS-Einsatz während des Irakkrieges eine Klage vor demBundesverfassungsgericht eingereicht und, im Gegen-satz zu den Kollegen der Linken, vollumfänglich Rechtbekommen.An genau diesem Urteil orientiert sich auch das Han-deln der Bundesregierung, und zwar in beiden Fällen: Ineinem Antrag fordern Sie die schon erfolgte Beendigungder Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten an demAWACS-Einsatz zur Überwachung des libyschen Luft-raums. Die Bundesregierung hat dies in exakt dem Mo-ment getan, als die Operation begann, eine bewaffneteUnternehmung im Sinne des Parlamentsbeteiligungsge-setzes zu werden. Das ist eine völlig konsequente, strin-gente und verfassungsgemäße Handlungsweise. Des-halb ist dieser Antrag überflüssig.Ihr anderer Antrag, der die Nachmandatierung desEvakuierungseinsatzes in Libyen fordert, ist schlicht undergreifend falsch. Aus der Urteilsbegründung zumAWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibtsich völlig unstreitig, dass der Evakuierungseinsatz inLibyen eben kein bewaffneter Einsatz im Sinne des Par-lamentsbeteiligungsgesetzes war und deshalb auch nichtvom Deutschen Bundestag mandatiert werden muss. Ichempfehle Ihnen, dieses Urteil noch einmal gründlich zulesen. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Be-gründung:Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehungdeutscher Soldaten in bewaffnete Auseinanderset-zungen besteht, wenn sie im Ausland Waffen mitsich führen und ermächtigt sind, von ihnen Ge-brauch zu machen. Denn es kann dadurch je nachdem Verlauf des tatsächlichen Geschehens dazukommen, dass die Bewaffnung in die Anwendungvon Waffengewalt mündet. Solange es sich aller-dings rechtlich nur um eine Ermächtigung zurSelbstverteidigung handelt und der Einsatz selbsteinen nicht-militärischen Charakter hat, ist, wie derSenat bereits festgestellt hat, die Schwelle der Zu-stimmungsbedürftigkeit nicht schon durch diese Er-mächtigung erreicht.Bei der Evakuierung hat es sich ohne jeden Zweifelum einen Einsatz mit nichtmilitärischem Charakter indiesem Sinne gehandelt. Dass die Bundesregierung einezusätzliche Sicherheitskomponente mit dem Recht zurSelbstverteidigung mitgeschickt hat, spricht dem nichtentgegen, wie das Gericht ausdrücklich feststellt. Wirsollten auch wirklich nicht dazu kommen, der Bundesre-gierung Vorwürfe zu machen, wenn sie sich für noch sounwahrscheinliche Eventualitäten vorbereitet.Auch vor Ihrer weiteren Argumentation kann ich Sie nurwarnen: Sie sehen in der Unterrichtung der Fraktionsvor-sitzenden durch die Bundesregierung vor dem Einsatz ei-nen Beweis dafür, dass es sich um einen zu mandatierendenZu ProtokollEinsatz handelt. Das ist natürlich völlig lächerlich. Ichhalte es für ausgesprochen angemessen, dass die Bundesre-gierung – unabhängig von irgendeiner rechtlichen Ver-pflichtung – das Parlament informiert, wenn sie deutscheStaatsbürger aus einer Situation evakuiert, die alle Schlag-zeilen des Tages bestimmt hat. Wollen Sie wirklich in einersolchen Lage lieber nicht informiert werden? Das kanndoch nicht Ihr Ernst sein. Ich bedanke mich ganz aus-drücklich beim Auswärtigen Amt und bei AußenministerWesterwelle für die konstruktive und offene Informa-tionspolitik zu dieser Operation.Die FDP-Fraktion lehnt also beide Anträge mit sehrguten Gründen ab und empfiehlt der Fraktion der Lin-ken, sich einmal zu den verfassungsrechtlichen Gege-benheiten von Bundeswehreinsätzen unterrichten zu las-sen, aber bitte nicht durch die Rechtsvertreter, mit denenSie in der Vergangenheit in Karlsruhe ständig geschei-tert sind.
Seit dem 19. März 2011 führt eine „Koalition der Wil-ligen“ kriegerische Angriffe auf libysches Territoriumdurch. Bei der Verabschiedung der Resolution 1973 desUN-Sicherheitsrates, die als Legitimation für die Bom-bardierungen dient, hat sich die deutsche Regierungenthalten. Sie hat ebenfalls klargemacht, dass sichDeutschland nicht an dieser Operation beteiligen wird.Die Linke begrüßt es, dass in diesem Fall deutsche Au-ßenpolitik etwas besonnener ist, als wir es aus anderenKrisengebieten dieser Welt kennen.Allerdings war die deutsche Regierung gerade im Vor-feld der internationalen Angriffe auf Libyen keineswegsmilitärisch abstinent. In der Operation Pegasus wurdenunter Beteiligung von bis zu 1 000 Bundeswehrsoldaten,darunter schwer bewaffnete Sondereinheiten, Zivilistenaus Libyen evakuiert. Die Marine hat mit drei Schiffen und700 Soldaten 450 Menschen, die aus Libyen nach Tunesiengeflohen waren, nach Ägypten gebracht. Die „Tages-schau“ spekulierte damals, dass „die Guttenberg-geschüt-telte Bundesregierung … schöne Fernsehbilder undSchlagzeilen von geretteten Ägyptern auf einer deutschenFregatte“ benötigte, denn mit ein bis zwei zivilen Flugzeu-gen wäre der Transport in wesentlich kürzerer Zeit möglichgewesen. Zudem waren mehr als 70 deutsche Soldaten alsBesatzungsmitglieder beteiligt an der Überwachung deslibyschen Luftraums im Vorfeld des Krieges, also bis zum19. März, vielleicht sogar bis zum 22. März. Erst am22. März hat die Bundesregierung ihre Beteiligung anden entsprechenden Verbänden offiziell aufgekündigt.Für zwei dieser Militäroperationen – für die Opera-tion Pegasus und für die Überwachung des libyschenLuftraums im Vorfeld des Krieges – wäre eine Mandatie-rung des Einsatzes durch den deutschen Bundestag not-wendig gewesen. Leider hat die Bundesregierung wedervor dem Einsatz den Bundestag beteiligt, noch hat siedies im Nachhinein getan. Hierdurch wurden und werdengesetzlich garantierte Rechte der Parlamentarierinnenund Parlamentarier missachtet. Das Parlaments-beteiligungsgesetz regelt ganz eindeutig, dass das Parla-ment – und nicht die Regierung – verantwortlich ist für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11441
gegebene RedenInge Höger
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die Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streit-kräfte.Brigadegeneral Volker Bescht machte in einem Inter-view in der Zeitschrift „Bundeswehr Aktuell“ ausführ-lich klar, dass keineswegs mit einem reibungslosen Ver-lauf der Operation zu rechnen war:Die Gefahren stellten die Flugabwehrsysteme auflibyscher Seite dar … Es stellte sich auch dieFrage, wer den Luftraum kontrolliert … Außerdemwar offen, wie sich die libysche Marine bei unseremEintritt in die Hoheitsgewässer verhalten wird.Unklar war auch, welche Kräfte die Region kontrol-lieren, aus der evakuiert wurde. Folglich war es alleineine Frage des Zufalls, dass die Mission tatsächlichfriedlich verlief. Es handelt sich also um eine bewaffneteUnternehmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Parlamentsbetei-ligungsgesetz. Selbst wenn sich die Bundesregierunghier auf Gefahr im Verzug beruft, müsste sie dem Bun-destag im Nachhinein unverzüglich ein Mandat vorle-gen. Dies ist jedoch nicht geschehen und nicht beabsich-tigt. Wir müssen also feststellen: Die Bundesregierungsetzte 1 000 Soldaten in einem Kontext ein, in dem mitbewaffneten Auseinandersetzungen zu rechnen war, undbehauptet dennoch, dass daran das Parlament nicht zubeteiligen sei. Dies ist für die Linke völlig inakzeptabel.Noch kühner wird die Argumentation der Regierungbei der Überwachung des libyschen Luftraums durchdeutsche AWACS-Besatzungsmitglieder. Einerseits gabStaatssekretär Christian Schmidt bei der gestrigen Fra-gestunde zu, dass auf Daten, die bei dieser NATO-Ope-ration erhoben wurden, natürlich auch sämtliche NATO-Mitglieder Zugriff haben. Andererseits meint Staatsekre-tär Werner Hoyer, er könne ausschließen, dass dadurchein Beitrag für die „exekutiven Handlungen“ – so kannman Bombardierung auch nennen – geleistet wordenwäre. Nach NATO-Angaben überwachten AWACS-Sys-teme seit dem 7. März rund um die Uhr den libyschenLuftraum. Schmidt weiß aber nur von Überwachungs-maßnahmen ab dem 12. März. Schon längere Zeit vordem 19. März war absehbar, dass es zu einer internatio-nalen Militärmission kommen würde, mit der eine Flug-verbotszone über Libyen durchgesetzt werden sollte.Trotzdem hatte die Bundesregierung keine Bedenken,sich an einer Unternehmung zu beteiligen, bei der nie-mand ausschließen kann, dass sie eben doch der Vorbe-reitung kriegerischer Angriffe diente. In gewisser Weisetaten sowohl Staatssekretär Hoyer als auch sein KollegeSchmidt in der gestrigen Fragestunde so, als wären sieam 19. März völlig überrascht davon gewesen, dass Li-byen angegriffen wurde und als hätte es erst ab diesemMonat eine Veranlassung gegeben, die deutsche AWACS-Besatzung abzuziehen. Es war jedoch schon Tage vorherabsehbar, dass hier eine militärische Eskalation bevor-stand.Das Bundesverfassungsgericht hat bereits am 7. Mai2008 ein Präzedenzurteil gefällt, das sich auf einen ver-gleichbaren Fall bezog. Damals wurde festgestellt, dassdie Bundesregierung im Jahr 2003, im Vorfeld des Irak-krieges, ein Bundestagsmandat für den Einsatz vonAWACS-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung hätteZu Protokollvorlegen müssen. Auch damals ging es „nur“ um dieÜberwachung des Luftraums des NATO-Partners Tür-kei. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist im-mer dann ein Bundestagsmandat nötig, wenn „greifbaretatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstri-ckung in bewaffnete Auseinandersetzungen“, so dieRandnote 78 der Urteilsbegründung, vorliegen. DieseAnhaltspunkte gab es während der gesamten Zeit derBeteiligung deutscher Soldaten an der Überwachungdes libyschen Luftraums.Alles in allem missachtet die Bundesregierung syste-matisch die Rechte des Parlaments. Die Absicht dahin-ter haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitions-vertrag längst aufgezeigt: Sie planen Änderungen desParlamentsbeteiligungsgesetzes. Die Folge wäre, dassdie Kontrollrechte des Parlaments weiter eingeschränktwerden, sodass in vielen Fällen nur noch ein kleinesausgewähltes Kontrollgremium über die Realität der je-weiligen Militärschläge informiert wird und entscheidet.Auf diesem Wege wird die Bundeswehr Stück für Stückzur Regierungsarmee. Die Linke sagt zu dieser Entwick-lung klar und entschieden Nein. Die Linke wird dafürkämpfen, dass über deutsche Militärpolitik nicht hinterverschlossenen Türen entschieden wird.
Es ist schon erstaunlich, dass die Bundesregierung einums andere Mal Nachhilfe in Fragen der Parlamentsbe-teiligung benötigt. Die Beteiligung des Parlaments istkeine lästige Pflichtaufgabe, wie es die Bundesregierungzu sehen scheint, sondern sie ist in einer Demokratie derAusdruck und die notwendige Folge der Gewaltentei-lung. Dieses grundlegende rechtsstaatliche Prinzip aberverletzt die Bundesregierung immer wieder aufs Neue.Die Bundesregierung möchte die Evakuierungsmis-sion Nafurah, auch bekannt als Operation Pegasus,nicht nachträglich mandatieren. Der Bundesministerdes Auswärtigen vertritt in einem Schreiben an mich dieAuffassung, dass es sich bei der Evakuierungsmissionum einen humanitären Einsatz gehandelt habe, der nichtmandatierungspflichtig sei. Der Einsatz sei mit der kla-ren Erwartung verbunden gewesen, dass die Soldatenihre Waffen nicht würden einsetzen müssen. Deswegenmüsse nicht gemäß § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteili-gungsgesetzes der Bundestag beteiligt werden; es greifedie Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2.Diese Rechtsauffassung ist falsch. Es war die Bun-destagsfraktion der FDP, die im Jahr 2003 eine Organ-klage beim Bundesverfassungsgericht einreichte, weilsie das Parlament im Zuge des damals beschlossenenAWACS-Einsatzes im Irak-Konflikt nicht ausreichendeinbezogen gesehen hatte. Das Bundesverfassungsge-richt gab der FDP-Fraktion in einem wegweisenden Ur-teil vom 7. Mai 2008 Recht. Nun will der Außenminister,der damals einer der Kläger war, nichts mehr davonwissen. Er missachtet die Rechte des Deutschen Bundes-tages, die Pflichten der Bundesregierung, und er miss-achtet auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dassein dem Parlamentsvorbehalt unterliegender Einsatz
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11442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
gegebene RedenVolker Beck
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bewaffneter Streitkräfte dann vorliegt, wenn deutscheSoldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmun-gen einbezogen sind. Eine Parlamentsbeteiligung seientgegen der engen Auffassung, die in dem damaligenVerfahren von der Bundesregierung vertreten wurde,nicht erst bei tatsächlicher Anwendung von bewaffneterGewalt notwendig. Andererseits lässt das Gericht diebloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu be-waffneten Auseinandersetzungen kommt, auch nichtgenügen. Es verlangt eine sogenannte qualifizierte Er-wartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinander-setzungen. Der Unterschied der qualifizierten Er-wartung von der bloßen Möglichkeit bewaffneterAuseinandersetzungen soll zum einen darin liegen, dasses greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dassein Einsatz nach seinem Zweck, den konkreten politi-schen und militärischen Umständen sowie den Einsatz-befugnissen in die Anwendung von Waffengewalt mün-den kann. Zum anderen sollen eine besondere Nähe derAnwendung von Waffengewalt erforderlich und die Ein-beziehung unmittelbar zu erwarten sein. Anhaltspunktefür die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten siehtdas Bundesverfassungsgericht gegeben, wenn diese imAusland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, vonihnen Gebrauch zu machen.Unter diese höchstrichterlichen Vorgaben muss jetztder tatsächliche Sachverhalt subsumiert werden. Mansollte meinen, dass dies insbesondere für einen Juristenwie den Bundesminister des Auswärtigen kein Problemdarstellt. Zur Sachverhaltsdarstellung empfiehlt sich einBlick auf die Homepage derer, die den Einsatz durchgeführthaben: auf die Seite www.bundeswehr.de. GeneralleutnantRainer Glatz, der Befehlshaber des Einsatzführungskom-mandos der Bundeswehr und damit verantwortlich für denEvakuierungseinsatz, wird dort mit folgenden Worten zi-tiert:Wir haben Glück gehabt, denn diese Evakuierungs-operation war nicht unkritisch.und weiter:Mit ihrem Einsatz in einer durchaus unübersichtli-chen Situation haben die Soldatinnen und SoldatenGefahr für Leib und Leben deutscher und ausländi-scher Staatsbürgerinnen und -bürger abgewendet.Am Ende des Berichts heißt es:Der stellvertretende Kommandeur der DivisionSpezielle Operationen, Brigadegeneral VolkerBescht, war der Führer des Einsatzverbandes vorOrt und stellte fest, dass die Sicherheitslage zu kei-ner Zeit unterschätzt werden durfte. Obwohl beideFlüge angemeldet waren, galt die Lage insgesamtals kritisch.Wenn die Bundeswehr selber angibt, sie habe Glückgehabt und die Lage sei kritisch gewesen, wenn voll be-waffnete Fallschirmjäger und Feldjäger im Einsatz sindund ein Verband aus knapp 1 000 Soldatinnen und Sol-daten aufgestellt werden muss, dann bestand nicht ein-fach nur die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Ein-satz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt,Zu Protokollsondern dann gab es die qualifizierte Erwartung, dassder Einsatz in die Anwendung von Waffengewalt würdemünden können. Es handelte sich bei der OperationPegasus demnach um einen Einsatz bewaffneter Streit-kräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 des Parlamentsbe-teiligungsgesetzes und eben nicht um einen Ausnahme-tatbestand nach § 2 Abs. 2.Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteilfest, dass angesichts der Funktion und Bedeutung deswehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts seineReichweite nicht restriktiv bestimmt werden dürfe. Viel-mehr sei der Parlamentsvorbehalt im Zweifel parla-mentsfreundlich auszulegen. Insbesondere könne dasEingreifen des Parlamentsvorbehalts nicht von den poli-tischen und militärischen Bewertungen und Prognosender Bundesregierung abhängig gemacht werden. Gehtes noch deutlicher?Angesichts dieser klaren Rechtslage ist die Weige-rung der Bundesregierung unverständlich. Noch unver-ständlicher wird sie, wenn man berücksichtigt, dass derBundesminister des Auswärtigen selber die Fraktions-vorsitzenden des Deutschen Bundestages vor dem Ein-satz ausdrücklich gemäß § 5 Abs. 2 des Parlamentsbe-teiligungsgesetzes informierte. § 5 trägt die Überschrift„Nachträgliche Zustimmung“. Wie kann der Ministerdiese nachträgliche Zustimmung verweigern, wenn erdoch ausdrücklich nach dieser Vorschrift handelte?Um eins klarzustellen: Meine Fraktion unterstütztden Evakuierungseinsatz inhaltlich. Doch wir sorgenuns angesichts solch rechtsstaatlicher Ignoranz um dieRechte des Deutschen Bundestages. Das Parlamentsbe-teiligungsgesetz formuliert in § 5 Abs. 3 Satz 1 einen Im-perativ: „Der Antrag auf Zustimmung ist unverzüglichnachzuholen“. Insofern meint der Antrag der FraktionDie Linke das Richtige; doch eigentlich ist es nicht dieAufgabe des Parlaments, die Bundesregierung zur Ein-haltung ihrer genuinen Pflichten aufzufordern. Nichts-destotrotz werden wir diesem Antrag zustimmen, auchwenn dieses Verfahren eigentlich nicht vorgesehen ist.Denn die eigentliche Konsequenz bei einer unterbliebe-nen Parlamentsbeteiligung ist der Weg nach Karlsruhe.Wir behalten uns diesen erneuten Gang zum Bundesver-fassungsgericht ausdrücklich vor. Die Bundesregierungallerdings sollte sich diese Peinlichkeit ersparen unddem Deutschen Bundestag ein Mandat für den Evakuie-rungseinsatz in Nafurah vorlegen.Den zweiten Antrag der Fraktion Die Linke werdenwir ablehnen. Wir finden es richtig, dass die Bundesre-gierung nicht ohne ein Mandat des Bundestages operie-ren möchte. Umso verwunderlicher ist es aber, dass dieBundesregierung den Bundestag nicht bittet, die Umset-zung des Waffenembargos seeseitig vor der libyschenKüste zu unterstützen. Wenn man dem libyschen Volkhelfen will, muss man dafür sorgen, dass keine Waffenins Land kommen. Die deutsche Marine war vor Ort. Mitdem Abzug der Schiffe zerschlägt die Bundesregierungweiteres Porzellan. Und wir fragen die Bundesregie-rung: Wo ist ihr Antrag?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11443
gegebene Reden
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11444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5175. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5176.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt.
Sie werden es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind
damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 25. März 2011, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche einen schönen Abend. Vielen herzlichen
Dank!
Die Sitzung ist geschlossen.