Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11445
(A) (C)
(D)(B)
forderungen das 21. Jahrhundert an unsere Verteidi-
gungspolitik stellt. Ohne eine konsequente Analyse
Nietan, Dietmar SPD 24.03.2011
an Reservisten die Mobilmachungs- und Aufwuchsfä-
higkeit für den Fall der Landes- und Bündnisverteidi-
gung deutlich geschwächt. Des Weiteren bin ich der
Meinung, dass nicht hinreichend geklärt ist, welche An-
Laurischk, Sibylle FDP 24.03.2011
Nahles, Andrea SPD 24.03.2011
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Binder, Karin DIE LINKE 24.03.2011
Brinkmann
(Hildesheim),
Bernhard
SPD 24.03.2011
Buchholz, Christine DIE LINKE 24.03.2011
Bülow, Marco SPD 24.03.2011
Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 24.03.2011
Burkert, Martin SPD 24.03.2011
Dr. Danckert, Peter SPD 24.03.2011
Ernstberger, Petra SPD 24.03.2011
Ferner, Elke SPD 24.03.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 24.03.2011
Gerster, Martin SPD 24.03.2011
Groschek, Michael SPD 24.03.2011
Hänsel, Heike DIE LINKE 24.03.2011
Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.03.2011
Hintze, Peter CDU/CSU 24.03.2011
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.03.2011
Klöckner, Julia CDU/CSU 24.03.2011
Kressl, Nicolette SPD 24.03.2011
Krüger-Leißner,
Angelika
SPD 24.03.2011
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.03.2011
Kunert, Katrin DIE LINKE 24.03.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Patrick Sensburg (CDU/
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vor-
schriften 2011 (Wehrrechtsänderungsgesetz
2011 – WehrRÄndG 2011) (Tagesordnungs-
punkt 30)
Erstens. Ich werde dem Gesetzentwurf aufgrund per-
sönlicher Bedenken nicht zustimmen.
Zweitens. Grund meiner Ablehnung ist die im Gesetz-
entwurf enthaltene Aussetzung der Wehrpflicht, die ich
aus zwei zentralen Gründen für falsch halte:
Am schwersten wiegen bei mir sicherheitspolitische
Bedenken. Gerade in Zeiten asymmetrischer Konflikte
benötigt unser Land eine breit aufgestellte und personell
gut ausgestattete Bundeswehr. Die vorgesehene Wieder-
einführung der Wehrpflicht käme in einem solchen Fall
aller Voraussicht nach zu spät, um neuen Bedrohungs-
szenarien gegenübertreten zu können. Zudem wird ohne
die Wehrpflicht und damit ohne eine hinreichende Zahl
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.03.2011
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.03.2011
Scheel, Christine BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.03.2011
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 24.03.2011
Sendker, Reinhold CDU/CSU 24.03.2011
Süßmair, Alexander DIE LINKE 24.03.2011
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 24.03.2011
Werner, Katrin DIE LINKE 24.03.2011
Zapf, Uta SPD 24.03.2011
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
11446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
dessen ist eine solch grundlegende Reform nicht zielfüh-
rend.
Zudem sprechen für mich klare gesellschaftspoliti-
sche Gründe gegen eine Aussetzung der Wehrpflicht, die
faktisch einer Abschaffung gleichkommt. Das Maß der
gesellschaftlichen Verankerung der Bundeswehr in der
Bevölkerung wird durch die Aussetzung deutlich zu-
rückgehen. Damit wird ein zentraler Eckpfeiler des
Selbstverständnisses der Bundeswehr geschwächt. Dies
ist für mich vor dem Hintergrund der sicherheitspoliti-
schen Lage nicht zielführend. Der „Bürger in Uniform“
– wie ihn insbesondere der Wehrpflichtige darstellt – ist
für die Bundesrepublik ein wichtiges Scharnier zwischen
unserer Gesellschaft und der Bundeswehr. Hierauf
möchte ich nicht verzichten. Meiner Meinung nach
sollte die Wehrpflicht auch zukünftig erhalten bleiben.
Gleichzeitig begrüße ich, dass sich die Bundeswehr
durch eine weitgehende Wehrreform auf die neuen He-
rausforderungen einstellt.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des
Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer (Schutz vor Kündi-
gung wegen eines unbedeutenden wirt-
schaftlichen Schadens)
– Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Ver-
dachtskündigung und der Erweiterung der
Kündigungsvoraussetzungen bei Bagatellde-
likten
– Beschlussempfehlung und Bericht: Unge-
rechtigkeiten bei Bagatellkündigungen kor-
rigieren – Pflicht zur Abmahnung einführen
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Wären wir vor Ge-
richt, wäre heute der Zeitpunkt für eine Rücknahme – in
diesem Fall Ihrer Anträge und Gesetzentwürfe, meine
Damen und Herren von der Opposition –, denn diese
laufen ins Leere. So lautet jedenfalls das einhellige Ur-
teil der Sachverständigen. Der Bund der Richterinnen
und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit brachte es auf den
Punkt – ich zitiere –: „Die Gesetzentwürfe würden die
derzeitige Rechtslage weder für Arbeitgeber noch für
Arbeitnehmer verbessern.“ Weitere Kommentare von
„systemwidrig“ bis „ungeheuerlich“ will ich Ihnen er-
sparen.
Was bewegt Sie? Vordergründig das Kündigungs-
schutzrecht. Zukünftig soll es keine Kündigung ohne
Abmahnung bei sogenannten Bagatelldelikten geben.
Die erste Tat soll folgenfrei bleiben. Dabei soll die
Grenze nach einem Vorschlag 5 Euro sein. Nach dem
Willen der Linken sollen auch Verdachtskündigungen
unwirksam sein.
Ihre gemeinsame Begründung lautet, die Arbeitsge-
richte würden bei Kündigung nach Diebstahl etc. grund-
sätzlich zugunsten von Arbeitgebern entscheiden. Diese
würden ihren Abwägungsspielraum nicht nutzen. Als
Kronzeugin diente die Kassiererin Barbara Emme, die
einen Pfandbon mit einem Wert von 1,30 Euro unter-
schlagen hatte.
Hätten Sie sich nur besser informiert, meine Damen
und Herren von der Opposition. Ja, Diebstahl und Unter-
schlagungen geringwertiger Sachen können ein Kündi-
gungsgrund sein. Straftat bleibt Straftat. Oder wie die
Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt
feststellte:
Es gibt in dem Sinne keine Bagatellen. Jeder frage
sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Ta-
sche nehmen lassen würde, bevor er reagiert.
Die Kündigung ist aber niemals als Sanktion für ein
vergangenes Fehlverhalten berechtigt. Sie ist es nur
dann, wenn auch in Zukunft Störungen zu erwarten sind.
Jeder Arbeitsrichter muss also prüfen, ob ein Arbeitge-
ber mit Recht sagen kann, dass sein Vertrauen unheilbar
zerstört ist, oder ob das Interesse des Arbeitnehmers an
seinem Arbeitsplatz größeres Gewicht hat.
Der Arbeitsrichter prüft, er wägt ab, entgegen Ihren
Vorwürfen ausgewogen – in vielen Fällen zugunsten der
Arbeitnehmer. Leider sind diese Fälle nur nicht so me-
dientauglich wie der Bienenstich-, der Frikadellenfall
oder eben der Fall von Barbara Emme. Das BAG ent-
schied zu ihren Gunsten. Spätestens seit dieser Entschei-
dung haben Ihre Anträge ihre Berechtigung verloren.
Denn die Richter haben einmal mehr gezeigt, dass sie in
Einzelfällen die Grenzlinie immer genauer und treffen-
der ziehen können als ein starres Gesetz – insbesondere
diese Gesetzentwürfe, die handwerklich lieblos und
rechtlich haltlos bis radikal sind.
Nähme man die Entwürfe ernst, könnte ein Arbeit-
nehmer schon am ersten Arbeitstag stehlen – und den-
noch könnte ihm nicht gekündigt werden. Was wäre
dann eigentlich bei kleineren Beleidigungen, Tätlichkei-
ten oder geringfügigen sexuellen Belästigungen?
Die ausnahmslose Unzulässigkeit der Verdachtskün-
digung – wie von den Linken gewünscht – würde auch
beim schwerwiegenden Verdacht des sexuellen Miss-
brauchs psychisch Kranker gelten. In der jüngsten Ent-
scheidung des BAG zur Verdachtskündigung ging es um
eben einen solchen Fall. Ein Krankenpfleger stand im
dringenden Verdacht, eine psychisch Kranke gezwungen
zu haben, ihn oral zu befriedigen. Hier wären dem Ar-
beitgeber, einem Heim, laut Antrag der Linken zukünftig
die Hände gebunden.
Nebulös bleibt auch der Begriff des Bagatells. Nach
dem Willen der Linken geht ein bisschen Diebstahl bis
5 Euro. Da sehe ich schon die Schlagzeilen: „Mitarbeiter
wegen 5,01 Euro gekündigt“.
Es bleiben weitere offene Fragen: Gilt die Fünf-Euro-
Regel nur für Geldbeträge oder auch für Produkte? Gilt
der Einkaufs- oder der Verkaufspreis? Wenn eine Floris-
tin eine Rose und 2,50 Euro aus der Kasse mitgehen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11447
(A) (C)
(D)(B)
lässt, werden diese Beträge addiert oder für sich berech-
net? Gilt diese Regel für Angestellte von Unternehmen
oder auch für Staatsdiener? Wie häufig darf der Geselle
in einem Handwerksbetrieb 5 Euro oder Schrauben im
Wert von 5 Euro klauen? Einmal in der Woche? Einmal
im Monat? Wird es dann im Gegenzug dem Handwerks-
meister erlaubt, seinem Gesellen 5 Euro im Monat weni-
ger zu überweisen? Ist das dann auch eine Bagatelle?
Darf der Arbeitgeber die „zu klauende Menge“ vorsorg-
lich vom Gehalt abziehen, weil mit dem Diebstahl zu
rechnen ist? Und wo verbucht er diese Summe?
Im Ernst: Wenn ein Kassierer Geld aus der ihm anver-
trauten Kasse klaut, dann sind weder 4,99 Euro noch
5,01 Euro das Problem. Das Problem ist der Vertrauens-
verlust. Das Problem ist das zerstörte Vertrauensverhält-
nis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Frage,
die sich stellt, lautet: Ist nach dem Zerstören des Vertrau-
ensverhältnisses eine Weiterbeschäftigung zumutbar?
Nein. Insofern kann es keine Bagatellen geben.
Das Problem, das wir heute debattieren, reicht tiefer.
Es geht um Fragen des Anstandes, des Vertrauens, von
Regeln. Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts
Ingrid Schmidt brachte es in einem Interview wie folgt
auf den Punkt – ich zitiere –:
Meine Frage ist eine andere. Wie kommt man ei-
gentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzuneh-
men? Oder eine Klorolle, oder stapelweise Papier
aus dem Büro? Warum solche Eigenmächtigkeiten?
Das hat was mit fehlendem Anstand, aber auch mit
unerfüllten Erwartungen zu tun. Ein Arbeitnehmer
erwartet doch von seinem Arbeitgeber nicht nur,
dass er sein Geld bekommt. Er erwartet auch Aner-
kennung, und dass er wie ein Mensch behandelt
wird. Aber umgekehrt ist es genauso: Ein Arbeitge-
ber erwartet, dass ein Arbeitnehmer das Interesse
des Unternehmens mitdenkt. Wenn diese Bezie-
hung gestört ist, dann kommt es dazu, dass ein Ar-
beitnehmer etwas mitgehen lässt und ein Arbeitge-
ber auch bei Kleinigkeiten die Vertrauensfrage
stellt.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Deshalb lehnen wir Ihre
Anträge und Gesetzentwürfe ab.
Ulrich Lange (CDU/CSU): Der medienwirksame
Fall „Emmely“ hat auch in diesem Hohen Hause eine er-
neute Debatte über die Kündigung bei Bagatelldelikten
ausgelöst. Dazu liegen uns diverse Anträge und Gesetz-
entwürfe der Opposition vor. Für gesetzgeberische Er-
gänzung sehen wir jedoch keinen Bedarf.
Nachdem nämlich besagter Fall aus der Tages- und
der medialen Aktualität verschwunden ist, ist es nun
vielleicht heute an der Zeit, eine sachliche und juristisch
fundierte Debatte zu führen. Dies sollte möglich sein
ohne Populismus. Der Populismus im Zusammenhang
mit dem Fall „Emmely“ ist weder der tatsächlichen
Rechts- und Gesetzeslage noch der hervorragenden Ar-
beit unserer Arbeitsgerichtsinstanzen gerecht geworden.
Er ist den Interessen beider Parteien nicht gerecht ge-
worden und hat deshalb nicht gut getan.
Mit seiner Entscheidung vom 10. Juni 2010 hat der
Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichtes bereits im ers-
ten Leitsatz festgestellt, dass zum Nachteil des Arbeitge-
bers begangene Eigentums- und Vermögensdelikte unab-
hängig von ihrer Strafbarkeit und unabhängig vom Wert
des Tatobjektes und der Höhe des Schadens als Grund
für eine Kündigung in Betracht kommen.
Im zweiten Leitsatz stellt das Gericht auf die einzel-
fallbezogene Prüfung und die Interessenabwägung ab.
Damit ändert sich auch in Zukunft die ständige Recht-
sprechung des BAG nicht, wonach die Zwei-Schritte-
Prüfung erforderlich ist: Erstens muss das dem Arbeit-
nehmer vorgeworfene Verhalten an sich als wichtiger
Grund geeignet sein. Zweitens muss auch eine Interes-
senabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände
des Einzelfalls die außerordentliche Kündigung rechtfer-
tigen.
Entgegen mancher Äußerungen von nicht immer
rechtskundigen Politikern und juristisch nicht immer sat-
telfesten Medienvertretern liegt in einer rechtswidrigen
und vorsätzlichen Handlung, die gegen das Vermögen
des Arbeitgebers gerichtet ist, immer eine schwerwie-
gende Pflichtverletzung vor. Damit kommen Eigentums-
oder Vermögensdelikte grundsätzlich immer unabhängig
vom Schadenseintritt als Grund für eine außerordentli-
che Kündigung in Betracht.
Zur Interessenabwägung betont der Zweite Senat in
seiner Emmely-Entscheidung, dass es keine absoluten
Kündigungsgründe gibt, bei denen eine Interessenabwä-
gung entbehrlich wäre. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die
Notwendigkeit einer Interessenabwägung unter Berück-
sichtigung aller Umstände des Einzelfalles ergibt sich
unmittelbar aus dem Gesetz. Im Übrigen unterscheidet
sich die Rechtsprechung im Fall „Emmely“ damit auch
nicht von der bisherigen Rechtsprechung in der soge-
nannten Bienenstich-Entscheidung.
Lediglich klarstellende Äußerungen hat der Zweite
Senat im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrund-
satz vorgenommen. Aber auch insoweit konnte der
Zweite Senat sich wiederum auf seine bisherige Recht-
sprechung berufen, die er bestätigt hat. Der Zweite Senat
hat aber zu Recht – dies zeigt die genaue Analyse der
Urteilsgründe – die Gedanken der Gesetzentwürfe der
Opposition eben gerade nicht aufgegriffen, wonach eine
Abmahnung Kündigungsvoraussetzung sein muss. Auch
weiterhin ist eine fristlose Kündigung grundsätzlich
ohne Abmahnung möglich, zum Beispiel bei einer
Pflichtwidrigkeit am ersten Arbeitstag.
Die im Ausschuss durchgeführte Anhörung hat von
den Experten mit praktischem und juristischem Sachver-
stand, den Sie vonseiten der Opposition bitte akzeptieren
mögen, ergeben – so zeigen dies die Ausführungen des
Vertreters des Bundes der Richterinnen und Richter am
Arbeitsgericht sowie der Bundesrechtsanwaltkammer –,
dass ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht be-
steht und es letztlich durch die Interessenabwägung im
Einzelfall zu einer fachgemäßen Abwägung kommt. Ich
kenne aus langjähriger Praxis diese sorgfältige und juris-
tisch fundierte Vorgehensweise von Arbeitsgerichten,
11448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
die ihre Arbeit täglich jenseits der medialen und politi-
schen Aufmerksamkeit hervorragend verrichten.
Im Ergebnis bleibt es also dabei: Diebstahl ist Dieb-
stahl und Eigentum muss geschützt sein! Jede andere
Entscheidung und gesetzgeberische Wertung wäre ein
Dammbruch nach dem Motto: „Einmal klauen ist kein-
mal klauen“. Das darf gesellschaftlich nicht konsensfä-
hig sein.
Das Gesetz, die praxisgerechte Rechtsprechung, zeigt
aber, dass es einer Gesetzesänderung nicht bedarf, wir
die notwendige Rechtssicherheit haben und die Abwä-
gung im Einzelfall bei unseren Richterinnen und Rich-
tern mit ihren ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern
gut aufgehoben ist.
Gabriele Molitor (FDP): Das Wichtigste gleich zu
Beginn: „Emmely“ arbeitet wieder in ihrem alten Job für
ihren alten Arbeitgeber, Ihr Fall hatte im vergangenen
Jahr für Aufsehen gesorgt. Sie hatte die Kündigung er-
halten, weil sie Pfandbons in Höhe von 1,30 Euro einge-
löst hatte. Im Rechtsstreit hob das Bundesarbeitsgericht
letztendlich die Kündigung auf und stufte ihr Vergehen
als erhebliche Pflichtwidrigkeit ein.
Dieser konkrete Fall zeigt: Unsere Rechtsordnung
funktioniert. Es ist Aufgabe der Gerichte, jeden Einzel-
fall zu betrachten und letztlich zu beurteilen. Und es ist
nicht Aufgabe des Gesetzgebers, weitergehende Rege-
lungen zu treffen.
In der Diskussion um die Kündigung bei Bagatellde-
likten wird der Eindruck erweckt, jedes kleine Vergehen
würde direkt zur Kündigung führen und der Arbeitneh-
mer sei schutzlos. Mit dieser Darstellung, die sich so-
wohl in den vorliegenden beiden Gesetzentwürfen und
auch in dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten
Antrag wiederfindet, machen Sie es sich leicht, sehr ge-
ehrte Kollegen von der Opposition.
Sie sprechen von der Null-Toleranz-Politik und bele-
gen dies mit den bekannten Fällen „Emmely“, „Maulta-
schen im Pflegeheim“ und dem sogenannten Bienen-
stichfall-Urteil von 1984.
Aber gerade der Fall von „Emmely“ hat doch gezeigt,
dass eine Abwägung des Einzelfalls stattfindet und
grundsätzlich mehrere Tatbestände geprüft werden;
nämlich die besonderen Umstände der Tat, die bisherige
Beschäftigungsdauer, das Alter der Person, mögliche be-
stehende Unterhaltspflichten und die Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Verdachtskündigungen sind im Übrigen
nicht so einfach vorzunehmen. Der Arbeitgeber muss
versuchen, den Vorfall aufzuklären, und dem Arbeitneh-
mer Gelegenheit geben, zu den Vorwürfen Stellung zu
nehmen.
Wir sprechen auch immer nur über die spektakulären
Fälle. Das verzerrt aber die Wirklichkeit. Richtig ist,
dass die Gerichte in vielen Fällen dem Arbeitnehmer-
recht geben. Das dürfen Sie nicht einfach ausblenden.
Die bestehenden rechtlichen Regelungen zum Schutz
der Arbeitnehmer sind ausreichend. Das haben in der
Expertenanhörung vom Juni 2010 sowohl der BDA, der
Handelsverband Deutschland und der Bund der Richte-
rinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit bestätigt.
In der Begründung für Ihren Gesetzentwurf schreiben
Sie, sehr geehrten Kollegen von der Fraktion Die Linke,
dass die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte den Grund-
sätzen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes
nicht gerecht würde. Das ist ein schwerwiegender Vor-
wurf, den Sie hier erheben. Die eben geschilderte Praxis
beweist das Gegenteil.
Die Einführung einer Abmahnpflicht bei Eigentums-
und Vermögensdelikten, wie Sie sie fordern, würde doch
einen Freibrief für Arbeitnehmer bedeuten. Bagatell-
diebstähle werden nicht geahndet, frei nach dem Motto
„Einmal ist keinmal“. Grundsätzlich besteht ja heute be-
reits die Pflicht zur Abmahnung vor einer verhaltensbe-
dingten ordentlichen Kündigung. Das darf man nicht
vergessen.
Hier ist der Fall aber anders gelagert. Wir sprechen
zwar von Bagatelldelikten, aber es geht hier doch um et-
was ganz Grundlegendes: das Vertrauensverhältnis zwi-
schen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Und das wurde
durch das Verhalten des Mitarbeiters erheblich gestört.
Die Kündigung erfolgt ja nicht grundlos, sondern es geht
der Bruch eines Vertrauensverhältnisses zwischen Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber voraus. Ich möchte an die-
ser Stelle gerne fragen: Wo wollen Sie denn die Grenze
ziehen? Was ist eine Bagatelle und was nicht? Das wäre
doch eine völlig willkürliche Festlegung.
Ich bin der Meinung, dass die Redlichkeit eines Ar-
beitnehmers durch den Arbeitgeber auch weiterhin ein-
gefordert werden können muss. Mit ihren Anträgen wol-
len Sie ein Sonderrecht, einen Sondertatbestand
schaffen. Wir haben im Kündigungsrecht eine Recht-
sprechung, die ausgewogen und differenziert ist. Eine
Ausweitung des Kündigungsschutzes, wie er in Anträ-
gen gefordert wird, ist nicht erforderlich. Neue gesetzli-
che Regelungen sind überflüssig und damit auch die hier
vorliegenden Gesetzentwürfe.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Wir debat-
tieren hier ja ein Thema, bei dem es in der Öffentlichkeit
und vor allem in den Medien teilweise starke, auch emo-
tionale Reaktionen gegeben hat. Da sollten besonders
wir einen kühlen Kopf bewahren. Ich glaube aber, dass
genau das Ihnen nicht gelungen ist, denn: Wir haben seit
fast 30 Jahren in dieser Frage eine gängige Rechtspre-
chung, und die lautet: Mal so, mal so – was gerecht ist,
kann immer nur im Einzelfall entschieden werden. Und
diese Rechtsprechung hat Ihre rechtspolitische Urteils-
kraft derart provoziert, dass Sie genau dann tätig wur-
den, als ein Einzelfall besonders prominent durch die
Medien ging. Keine neue Lage, keine neue Entwicklung
und keine neue Einsicht liefern den Beweggrund für Ihre
Vorlagen, sondern alleine Geltungsdrang.
Deswegen will ich noch einmal gerade die zentralen
Irrtümer Ihrer Gesetzentwürfe beziehungsweise Ihres
Antrags benennen: Erstens. Es herrscht bei Diebstählen
nicht das „Null-Toleranz-Prinzip“, sondern das Verhält-
nismäßigkeitsprinzip. Zweitens. Das Arbeitsrecht und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11449
(A) (C)
(D)(B)
Strafrecht sind weder hier noch sonst wo zu vergleichen
und müssen folglich auch nicht in Übereinstimmung ge-
bracht werden. Drittens. Bei Diebstählen besteht kein
besonderer Schutzbedarf von Arbeitnehmerinteressen,
weil Arbeitnehmer kein Interesse an Diebstählen haben.
Sie irren sich aber nicht nur an zentralen Stellen, son-
dern machen dann auch noch zentrale handwerkliche
Fehler. Denn eine Abmahnpflicht schafft nicht mehr
Rechtssicherheit. Auch die vorgeschaltete Abmahnung
müsste verhältnismäßig sein. Wenn Sie wirklich mehr
Rechtssicherheit wollen, können Sie ja die Vorausset-
zungen der außerordentlichen Kündigung exakt und ab-
schließend konkretisieren. Aber eine Bagatellgrenze, die
sich an einem „geringen wirtschaftlichen Schaden“
orientiert, ist gerade keine klare Grenze. Sie verschieben
damit nur die Abwägungsproblematik, machen aber
nichts einfacher, heute „wichtiger Grund“, morgen „ge-
ringer Schaden“, übermorgen wieder die gleiche schwie-
rige Abwägung vorm Arbeitsgericht. Irrtümer und Feh-
ler also.
Deswegen lehnen wir Ihre Entwürfe und Anträge ab,
und zwar aus folgenden Gründen: Die erstklassige deut-
sche Gerichtsbarkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit im
Besonderen verdienen unsere Unterstützung. Billige Ef-
fekthascherei auf Kosten der Richter mag Ihr Modell
sein, unseres ist es nicht. Außerdem versteht ein
Mensch, dass, ginge es nach Ihnen, ein bisschen Klauen
nicht gleich zur Kündigung führen können soll, ein biss-
chen mehr Klauen dann aber schon. Ich glaube, das Ge-
rechtigkeitsempfinden bei allen Menschen ist intakt und
geht so: Klauen geht gar nicht. Und da, wo die Sache
eben nicht so klar ist, entscheidet das Gericht. Zum
Schluss zitiere ich gerne die Kollegin Müller-Gemmeke:
„Ich kann nicht beurteilen, wann Bagatellkündigungen
angemessen sind und wann nicht.“ In diesem Sinne: Las-
sen Sie’s einfach!
Die Gerichte können es nämlich besser als wir, das
müsste in Ihren Augen der Fall „Emmely“ doch ab-
schließend gezeigt haben. All das, was Sie immer unter-
stellt haben, nämlich eine grundsätzlich arbeitnehmer-
feindliche Abwägung der Arbeitsgerichte, hat das
Bundesarbeitsgericht doch gerade nicht gezeigt. Es gibt
also einfach keinen Handlungsbedarf.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Heute stimmen
wir über den Gesetzentwurf der Linken gegen Ver-
dachts- und Bagatellkündigungen ab. Dieser verfolgt
zwei einfache Punkte: Erstens. Wir wollen Verdachts-
kündigungen gesetzlich ausschließen. Zweitens. Bei Ba-
gatelldelikten soll es statt einer fristlosen Kündigung zu-
nächst eine Abmahnung geben.
Worum geht es dabei? Erinnern wir uns an den Fall
der wohl bekanntesten Kassiererin „Emmely“. Der lang-
jährigen Mitarbeiterin der Supermarktkette Kaiser-
Tengelmann wurde 2008 fristlos gekündigt. Als Grund
wurde angeführt, sie hätte unberechtigterweise zwei
Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro eingelöst, ob-
wohl das noch nicht einmal bewiesen werden konnte. Ei-
nen besonderen Beigeschmack erhielt die Kündigung,
weil „Emmely“ zuvor an Streikmaßnahmen der Gewerk-
schaft Verdi beteiligt gewesen war. „Emmelys“ erste Kla-
gen gegen die fristlose Kündigung waren alle erfolglos.
Das war kein Einzelfall; so ging es schon etlichen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern zuvor, zum Beispiel
einem 58-jährigen Lagerarbeiter mit achtjähriger Be-
triebszugehörigkeit, der aus einem zu Bruch gegangenen
Karton eine Milchschnitte aß, oder einer Altenpflegerin
am Bodensee mit 17-jähriger Betriebszugehörigkeit, die
übriggebliebene Maultaschen mitnahm. Sie alle wurden
ohne Abmahnung fristlos gekündigt, und das will die
Linke ändern.
Wir sagten damals: Das ist eine Rechtsprechung des
kalten Herzens, jenseits der Lebenswirklichkeit. Wir for-
derten, die Arbeitsgerichte mit einer anderen Gesetzge-
bung an die Kandare zu nehmen.
Union und FDP haben dagegen die unsägliche Recht-
sprechung im Fall „Emmely“ und anderer verteidigt. Ich
zitiere den Kollegen Wadephul von der CDU/CSU:
„Diese Entscheidung ist richtig.“ Der Kollege Vogel von
der FDP sprach von einer „ausgewogenen Regelung“.
Lieber Herr Kollege, was daran ausgewogen war, hat
sich mir bis heute nicht erschlossen.
Nur vier Monate später gab es eine erfolgreiche
Wende, die die Haltung der Linken bestätigte. Das Bun-
desarbeitsgericht in Erfurt gab als letzte rechtliche In-
stanz der Klage „Emmelys“ gegen ihre Kündigung statt.
Ihre fristlose Entlassung wurde aufgehoben.
Ich glaube, an dieser Stelle sollten wir „Emmely“
noch einmal dazu gratulieren und ihr unseren Respekt
zollen – Respekt für ihr Durchhaltevermögen über Jahre
hinweg und gegen böse Unterstellungen, Respekt aber
auch dafür, dass sie stellvertretend für viele andere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer ähnlichen
Lage gekämpft und gewonnen hat. Sie selbst hat nach
dem Urteil gesagt: „Das ist ein Sieg für alle. Ich habe ge-
kämpft und gehofft, dass es Gerechtigkeit gibt.“ Dem ist
nichts hinzuzufügen.
Das BAG-Urteil im Fall „Emmely“ hat die Recht-
sprechung an den Arbeitsgerichten enorm verändert.
Zwei Frikadellen kosten nicht mehr den Job und auch
das Aufladen eines Elektrorollers im Wert von 1,8 Cent
rechtfertigt keine Kündigung, um nur zwei jüngste Ur-
teile von Landesarbeitsgerichten zu nennen.
Nun könnten Sie sagen, der von uns vorgelegte Ge-
setzentwurf sei überflüssig geworden. Da sage ich Ih-
nen: keineswegs! Nun muss es darum gehen, das neue
Richterrecht in eine gesetzliche Form zu gießen. Dafür
steht unser Gesetzentwurf. Nur so wird eine klare Rechts-
lage hergestellt und der einseitigen Rechtsprechung zu-
gunsten der Arbeitgeber ein Riegel vorgeschoben. Denn
dem Interesse des Arbeitgebers, sein Eigentum zu schüt-
zen, steht das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt sei-
nes Arbeitsplatzes gegenüber. Zudem wäre dieser Ge-
setzgebungsakt ein deutliches Zeichen an die Arbeit-
geber, die Verdachts- und Bagatellkündigungen benutzen,
um unangenehme Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter los-
zuwerden.
11450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
Die heutige Abstimmung ist eine Abstimmung über
die Frage der Gerechtigkeit, und hier erwarten wir von
Ihnen ein klares Ja.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Auch in Zeiten, in denen weltpolitische Themen und
Landtagswahlen alle anderen Politikfelder zu überlagern
scheinen, ist es unsere Aufgabe als Parlamentarierinnen
und Parlamentarier, die vermeintlich nachrangigen An-
gelegenheiten ebenfalls im Auge zu behalten. Ich zitiere
den Schriftsteller Berthold Auerbach: „Heimisch in der
Welt wird man nur durch Arbeit. Wer nicht arbeitet, ist
heimatlos.“
Dieses Zitat veranschaulicht sehr genau die Bedeu-
tung des Wortes „Arbeitsplatz“. Und wir alle wissen
auch, dass viele Menschen die sozialen und kulturellen
Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet, nur dann
wahrnehmen können, wenn sie über einen sicheren Ar-
beitsplatz und ein ausreichendes Einkommen verfügen.
Für uns Grüne ist es ein zentrales politisches Anliegen,
die gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen zu ge-
währleisten.
Heute debattieren wir über das Thema „Bagatellkün-
digung“. Dieser Begriff beschreibt, unter welchen Vo-
raussetzungen der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer kün-
digen kann, wenn dieser im Arbeitsverhältnis
widerrechtlich einen geringfügigen wirtschaftlichen
Schaden verursacht hat.
Wir erinnern uns: Der Fall „Emmely“ hat enormes
Aufsehen erregt. Viele Menschen waren empört, weil sie
sich in ihrer eigenen beruflichen Existenz bedroht fühl-
ten, und weil sie es als ungerecht empfunden haben, dass
der Kassiererin Emmely nach 30 Jahren Betriebszugehö-
rigkeit wegen eines Pfandbons im Wert von 1,30 Euro
fristlos gekündigt wurde. Dieser Fall hat die Öffentlich-
keit zu Recht empört, und zu Recht hat auch das Bundes-
arbeitsgericht der Klage von Emmely stattgegeben. Wir
alle wissen aber auch, dass es schon andere Gerichtsent-
scheidungen gab. In vielen sogenannten Bagatellfällen
mussten Beschäftigte auch bei geringfügiger Schadens-
verursachung mit einer fristlosen Kündigung rechnen.
Es gibt also zwei unterschiedliche Linien in der
Rechtsprechung. Was bedeutet das für uns Abgeordnete?
Viele Abgeordnete in diesem Hause sind sich darüber ei-
nig, dass gehandelt werden muss. Denn wir brauchen an
dieser Stelle Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für alle
Beteiligten und insbesondere für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die oftmals ohnehin schon ein sehr
geringes Einkommen erzielen.
Wir Grüne meinen, dass das Vertrauensverhältnis
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch ein Ba-
gatelldelikt nicht unwiederbringlich gestört ist, zumal
diese Delikte auch aus Gedankenlosigkeit oder Unwis-
senheit begangen werden können. Konkret setzen wir
uns dafür ein, dass bei Kündigungen wegen Bagatellde-
likten in der Regel eine vorherige Abmahnung erfolgt
sein muss, denn mit der Abmahnung zeigt die Arbeitge-
berseite den Beschäftigten, dass ihr Verhalten nicht hin-
genommen wird. Das ist ein Warnschuss für den Arbeit-
nehmer bzw. die Arbeitnehmerin, den wir gesetzlich
etablieren müssen.
Also: Nichts zu unternehmen, wie es die Damen und
Herren von der Koalition handhaben wollen, ist keine
Lösung. Ein guter und klarer Ausgleich zwischen Ar-
beitnehmer- und Arbeitgeberinteressen ist Grundlage für
einen effektiv arbeitenden Betrieb. Arbeitnehmer, die sol-
chen fast schon willkürlichen Kündigungen ausgesetzt
sind, entwickeln nicht ihre optimale Leistungsfähigkeit.
Wenn sie in der ständigen Furcht leben müssen, wegen
geringfügigster Delikte und ohne zweite Chance fristlos
entlassen zu werden, arbeiten sie weder effektiv noch
motiviert. Sie sind viel zu sehr mit der Sorge um ihren
Arbeitsplatz beschäftigt. Das können wir weder in unse-
ren betrieblichen Arbeitsverhältnissen noch gesamtge-
sellschaftlich anstreben!
Wir müssen deshalb an diesem Punkt das Arbeitsver-
hältnis auf ein solides gesetzliches Fundament stellen.
Damit gewährleisten wir den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, ein Stück weit heimisch zu werden in
dieser Welt, und unseren Arbeitsprozessen ein gutes
Stück Gerechtigkeit und Stabilität.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Tourismus und Landschaftspflege
verknüpfen – Gemeinsam die Entwicklung
ländlicher Räume stärken
(Tagesordnungspunkt 11)
Marlene Mortler (CDU/CSU): „Nirgendwo
schmeckt Idylle besser“, hieß es in einem gelungenen
Artikel der Berliner Morgenpost. Der Artikel hat meine
Aufmerksamkeit geweckt, weil er mit diesen Worten
meine fränkische Heimat wunderbar beschreibt und weil
er beispielhaft zeigt, worin die Stärken des Deutschland-
Tourismus liegen: in der besonderen Authentizität, der
besonderen Vielfalt der einzelnen Regionen.
Deshalb sind auch Sie, so wie ich, stolz auf Ihre, un-
sere Heimat.
Heimat! Gerade die Menschen vor Ort sorgen dafür,
dass unser Reiseland so attraktiv ist. Ob Nord- und Ost-
see, Harz, Eifel, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz,
Erzgebirge, Schwarzwald, Teutoburger Wald, Bayeri-
scher Wald, Rhön, Allgäu oder Fränkisches Seenland,
um nur einige zu nennen – die Kulturlandschaft dieser
Regionen ist das Ergebnis von Landbewirtschaftung
über Jahrhunderte hinweg.
Vitale ländliche Räume sind keine idealisierten Bilder-
buchlandschaften. Vitale ländliche Räume brauchen eine
wirtschaftliche Basis. Früher haben Menschen nur dann
dort leben können, wenn sie eine wirtschaftliche Basis
hatten. Wenn sie die nicht hatten, mussten sie weiterzie-
hen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11451
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(D)(B)
Landschaftliche und kulturelle Vielfalt sind Werte, die
unsere Lebensqualität mitbestimmen, die wir pflegen und
bewahren müssen. Deshalb ist die regionale Wertschöp-
fung in Deutschland so wichtig. Der Tourismus steht da-
für. Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, denn er bietet
Arbeitsplätze vor Ort. Es sind Arbeitsplätze, die nicht ex-
portierbar sind. Als arbeitsintensive Branche sichert er
bundesweit immerhin 2,8 Millionen Arbeits- und
115 000 Ausbildungsplätze quer durch unser Land dank
der touristischen Vielfalt in Stadt und Land.
Und noch ein Grund zur Freude: Das Reiseland
Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen.
Die jüngsten Gästezahlen sind geradezu sensationell.
Wir sprechen vom besten Halbjahresergebnis aller Zei-
ten. Die Gästeübernachtungen aus dem In- und Ausland
stiegen insgesamt um 3 Prozent; bei den Inlandsgästen
waren es 2 Prozent, bei den Auslandsgästen 9 Prozent.
Diesen Schwung müssen wir weiter nutzen. Das heißt,
wir wollen Deutschland und seine Kulturlandschaften
als Reiseland noch intensiver bewerben.
Nicht nur in den großen Städten, sondern gerade in
den ländlichen Gebieten ist das Geschäft mit der Reise-
lust ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es ist oft Motor der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit unverzichtba-
ren Impulsen für den lokalen Arbeitsmarkt. Nachgela-
gerte Bereiche wie der Einzelhandel, die Land-, Forst-
und Ernährungswirtschaft, die Genussmittelindustrie,
das Transportgewerbe und der Kulturbereich profitieren
davon erheblich.
Bei all diesen wirtschaftlichen Betrachtungen darf ei-
nes nicht aus dem Blick geraten: Elementare Grundlage
für den Tourismus im ländlichen Raum ist eine intakte
Natur und eine attraktive Kulturlandschaft. Damit kön-
nen wir bei den Reisenden aus dem In- und Ausland
punkten. Denn Umweltprobleme in den weltweiten Ur-
laubsregionen werden von den Reisenden zunehmend
wahrgenommen. Sie beeinflussen die Reiseplanung so
sehr, dass inzwischen jeder zweite Urlauber sagt: Das
Wetter spielt nicht mehr die entscheidende Rolle, son-
dern schöne Landschaften, eine unberührte Natur und
eine saubere Umwelt stehen für mich hoch im Kurs.
Im globalen Dorf wird Nachhaltigkeit überall als „die
Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen“ verstan-
den. Zeitschriften wie LandLust, Schönes Land, mein
liebes Land und andere gehen weg wie warme Semmeln.
Der Trend zum Unverfälschten, zum Natürlichen ist ein-
deutig.
Ich zitiere aus der Welt:
Nachhaltiges Reisen wird zum neuen Trend. Lange
galt das Motto: schneller, höher, weiter. Doch die
Tourismusbranche muss umdenken, denn die Wün-
sche der Urlauber haben sich gewandelt. Das Meer
lindert Schmerzen. Wellenrauschen wirkt sich posi-
tiv auf Angst und Stress aus. Ist das Wasser türkis,
senkt das den Blutdruck. Gebirge, Wüsten und dra-
matische Regionen lösen ein Feuerwerk an Glücks-
hormonen aus. Die stärkste mentale Wirkung aber
üben Landschaften mit lockerer Vegetation, ge-
schwungenen Wegen, sanften Hügeln und einge-
sprenkelten Gewässern aus. In allen Fällen sind
körperliche Reaktionen messbar gesundheitsför-
dernd, das belegt die junge Disziplin der Land-
schaftspsychologie.
Ein Beispiel: Hopfen und Bier. Das gehört zusam-
men. Ich denke hier an die Hopfengärten rund um Spalt,
die so typisch und landschaftsbildprägend sind. Ich
denke aber auch an die einzigartige Spalter Brauerei, die
einzige Brauerei Deutschlands, die von ihrem Bürger-
meister „regiert“ wird.
Mit unserem Antrag wollen wir einen Beitrag leisten,
dieses Potenzial noch stärker zu nutzen. Unser Ziel ist
klar: Nicht nur die großen Städte, sondern auch die länd-
lichen Räume – strukturschwache Räume – sollen sich
durch zusätzliche wirtschaftliche Impulse weiterentwi-
ckeln. Der Weg ist die bessere Verknüpfung von Touris-
mus und Landschaftspflege einerseits und noch mehr
Verständnis für Tourismus und Landbewirtschaftung an-
dererseits.
Landschaftspflege ist ein wichtiges Segment. Aber
von der Landschaftspflege allein können Bauern und
Verbraucher nicht leben. Landbewirtschaftung heißt also
zum einen, die Landschaft in ihrer Vielfalt zu erhalten,
aber zum anderen auch, die Kulturlandschaft zu nutzen,
zu gestalten und zu pflegen, um von ihren Erträgen leben
zu können.
Die Land- und Forstwirtschaft braucht wiederum uns
als Verbraucher. Das heißt, wir haben es in der Hand,
dass wir heimische Produkte noch mehr schätzen und
gezielt einkaufen.
Tourismus und Landwirtschaft brauchen sich gegen-
seitig. Der Tourismus stärkt die Wirtschaft. Er trägt auch
dazu bei, dass sich Landbewirtschaftung weiter lohnt.
Für den Einheimischen ist es Heimat auf dem Teller und
für den Gast Urlaub zum Mitnehmen.
Der Blick fürs Ganze zeigt doch auch, dass – das wird
mir in intensiven Gesprächen immer wieder bewusst –
eine gepflegte Landschaft mit einem verlässlichen
Rechtsrahmen eine Errungenschaft ist, um die wir welt-
weit beneidet werden. Darum machen wir Deutsche am
liebsten Urlaub im eigenen Land. Das ist ein Trend, der
in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Aber auch
ausländische Gäste schätzen diese Tatsache.
Um die attraktive Vielfalt unserer Kulturlandschaften
zu sichern, sollen daher nach unserem Willen, nach dem
Willen der Unionsfraktion, das nationale Naturerbe,
Naturschutzprojekte des Bundes, die nationalen Natur-
und Kulturlandschaften sowie das Bundesprogramm
„Biologische Vielfalt“ vor allem über freiwillige Koope-
rationen weiter unterstützt werden. Zudem sollen natur-
touristische Angebote im Rahmen von Modellvorhaben
entwickelt und erprobt werden.
Die Achtung des Eigentums und der vorrangige Weg
der freiwilligen Kooperation sind bisher wesentliche Ga-
ranten des Erfolgs. Ökologie, Ökonomie und Soziales
sind im Miteinander zu betrachten. Festlegungen über
die gute fachliche Praxis hinaus, wie wir sie in der Land-
11452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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(D)(B)
wirtschaft kennen und befolgen, sind deshalb finanziell
auszugleichen.
Bei den anstehenden Diskussionen über die Weiter-
entwicklung der EU-Politik nach 2013 setzen wir uns für
eine Fortführung der starken ersten Säule und eine finan-
ziell gut ausgestattete zweite Säule in der gemeinsamen
EU-Agrarpolitik ein. Agrarumweltprogramme und Ver-
tragsnaturschutz sowie die Ausgleichszulage sind wich-
tige Instrumente zur Stärkung des Tourismus in ländli-
chen Gebieten. Dafür kämpfen wir!
Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Tou-
rismuskonzeption für den ländlichen Raum angekündigt.
Ich führe dazu vielfältige Expertengespräche, um das
Ganze auf den Weg zu bringen. Denn: Nirgendwo
schmeckt Idylle besser.
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Wir beraten heute in
dritter Lesung den Koalitionsantrag „Tourismus und
Landschaftspflege verknüpfen – Gemeinsam die Ent-
wicklung ländlicher Räume stärken“.
Persönlich freue ich mich sehr, dass dieses Thema im
Deutschen Bundestag debattiert wird. Diese Thematik
muss wegen ihrer querschnittsübergreifenden Bedeutung
in Zukunft noch mehr Beachtung finden.
Dieses Thema ist aktueller denn je, denn Tourismus
und intakte Landschaft sind zwei Seiten einer Medaille,
übrigens nicht nur in Deutschland und Europa, sondern
weltweit. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass
der Tourismus entsprechend stark auf den landschafts-
pflegerischen Beitrag der Landwirtschaft, der öffentli-
chen Hand und privater Eigentümer angewiesen ist.
Daher möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen
meinem hochgeschätzten Kollegen Josef Goppel für
seine wertvolle Arbeit als Präsident des Deutschen Ver-
bandes für Landschaftspflege danken. Mein Dank gilt
stellvertretend für alle in diesem anerkannten Natur-
schutzverband engagierten Personen und dessen beein-
druckende Leistungen, von der Lokalebene bis hin zum
Bundesvorstand.
Seit fast zwei Jahrzehnten setzt sich der Deutsche
Verband für Landschaftspflege wie keine andere Organi-
sation in Deutschland für eine praxisorientierte Zusam-
menarbeit von Naturschutz, Landwirtschaft und Politik
ein. Die Ideen der praktischen Kooperation unterschied-
licher Landnutzer und die gemeinsame Suche nach ei-
nem Ausgleich von Interessenkonflikten in ländlichen
Räumen nahmen auf Bundesebene 1993 ihren Ausgang.
Die Arbeit der Landschaftspflegeverbände ist ein zu-
kunftsweisendes Beispiel, wie durch freiwilligen Einsatz
lokaler Akteure die Funktionen der Landschaft – näm-
lich Naturschutz, Landwirtschaft und Erholung – durch
dauerhaft tragfähige Nutzungskonzepte aufrechterhalten
werden können.
Gerade in den mitteldeutschen Bundesländern mit ih-
rer bis 1989 geschundenen Natur und Umwelt ist wieder
vieles vom Kopf auf die Füße gestellt dank der deut-
schen Einheit und dem vielfach geleisteten ehrenamtli-
chen Einsatz engagierter Bürger, Geldgeber und Förde-
rer.
Viele unserer attraktiven Landschaften und flächen-
deckenden Landbewirtschaftungen sind gefährdet, weil
sich die dortige Landwirtschaft nicht mehr alleine trägt.
Hier setzt unser Antrag an.
Es gilt, die Zusammenarbeit von Tourismus, Land-
schaftspflege und Landwirtschaft zu fördern. Wir sind
der Meinung, dass der Tourismus die Wirtschaft der Re-
gion stärkt und dazu beiträgt, dass sich die Landwirt-
schaft weiter lohnt. Im Gegenzug sichert Landschafts-
pflege nachhaltige Nutzung und schafft so eine
erfolgreiche Grundlage für erfolgreichen Tourismus. Da-
rüber hinaus trägt der Tourismus zum Lebensgefühl der
Bevölkerung bei und ist ein wichtiger Bestandteil der
Identifikation mit einer Region, der Heimatverbunden-
heit sowie der Pflege von Brauchtum und Tradition.
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die in unse-
rem Antrag zum Beispiel unter Punkt 5 geforderten Mo-
dellregionen zu bewerten haben. Meiner Meinung nach
sind Leitbilder oder Masterpläne für Landschafts- und
Kulturräume zu entwickeln, die einen ganzheitlichen
Ansatz verfolgen.
Arbeit, Umweltschutz, Infrastruktur, Energieversor-
gung und die Verbesserung der Lebensqualität unter Be-
rücksichtigung des demografischen Wandels müssen als
Steine eines Mosaiks gesehen werden. Daneben müssen
wir den politischen Willen aufbringen, uns von der Ein-
zelförderung zu verabschieden und endlich mit der Re-
gionalförderung für Kulturlandschaften in Deutschland
ernst zu machen.
Ja, Deutschland hat den Reisenden viel zu bieten.
Nicht nur unsere Städte, auch unsere vielfältigen Kul-
turlandschaften leisten einen wichtigen Beitrag zur
touristischen Attraktivität unseres Landes. Natur und
Landschaft sind ein unschätzbares Gut für die wettbe-
werbsfähige Entwicklung ländlicher Räume. In unseren
ländlich geprägten Regionen leben rund 40 Prozent der
Bevölkerung.
Damit das Leben auf dem Land weiterhin attraktiv
bleibt, müssen die Arbeitsplätze in den Regionen gesi-
chert und nach Möglichkeit neue Beschäftigungsmög-
lichkeiten geschaffen werden.
Zahlreiche Urlaubsziele auf dem Land wie beispiels-
weise die Rhön, die Sächsische Schweiz, die Region
Schorfheide-Chorin oder das Allgäu zeigen eindrucks-
voll, wie der Schutz und die Nutzung einer Landschaft
zum Wohle der Erholungssuchenden und der Bevölke-
rung Hand in Hand gehen.
Gerade in strukturschwachen Gebieten leistet die
Landwirtschaft einen entscheidenden Beitrag zur Steige-
rung der Attraktivität einer Region als Urlaubsziel. Die
Sehnsucht zahlreicher Urlauber nach Authentizität und
Unverwechselbarkeit wird immer dort gestillt, wo ein
harmonisches Landschaftsbild, intakte Natur und regio-
naltypische Einzigartigkeit einen gelungenen Dreiklang
bilden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11453
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Mit der besseren Verknüpfung von Landschaftspflege
und Tourismus erhalten unsere Landwirte neue Möglich-
keiten der wirtschaftlichen Betätigung. Um ihr langfris-
tiges Überleben zu sichern, benötigen die Landwirte
aber verlässliche Finanzierungskonzepte. Landschafts-
pflege ist nicht umsonst zu haben; sie muss sich auch für
die Landwirte lohnen. Bürokratische Hemmnisse bei der
Mittelbewilligung und beim Mittelabfluss sind hier zu
reduzieren.
Wir können in Deutschland stolz auf unsere unver-
gleichbar schönen Landschaften sein. Ebenso stolz müs-
sen wir auf diejenigen sein, die uns tagein tagaus mit ih-
rer Hände Arbeit diese einmaligen landschaftlichen
Reize der Heimat schaffen und bewahren. Aber es sind
nicht nur unsere Landwirte, sondern auch viele ehren-
amtlich Tätige, die unsere Landschaften so attraktiv ge-
stalten.
Honorieren wir diesen hervorragenden Einsatz aller
Beteiligten, sei es durch eine angemessene finanzielle
Förderung ihrer landschaftspflegerischen Leistungen
oder durch einen Besuch unserer attraktiven Kulturland-
schaften, am besten in Form von Ferien auf dem Bauern-
hof. Der ländliche Raum muss auch zukünftig als intak-
ter Lebens-, Arbeits- und Erholungsraum zum Wohle des
ganzen Landes gesichert werden, wie es seit Jahrhunder-
ten Tradition ist.
Heinz Paula (SPD): Die Bedeutung des Landtouris-
mus beschreibt eine gemeinsame Initiative von DBV,
Deutschem Landkreistag und Bauernhof & Landurlaub.
Ich zitiere:
Für die ländlichen Räume ist die Tourismusent-
wicklung von großer und oft elementarer Bedeu-
tung: Touristische Infrastrukturen und branchenun-
terstützende Rahmenregelungen haben nicht nur
direkte wirtschaftspolitische Effekte, sondern tra-
gen darüber hinaus zur Erhaltung und zum Ausbau
intakter, lebenswerter und attraktiver ländlicher
Räume und zur Abfederung demografischer Ent-
wicklungen bei.
Der Landtourismus ist breit aufgestellt: Bio-, Kneipp-
Feriendörfer, Sport- und Wellness-Angebote, Camping,
Wander-, Fahrradtourismus, Angebote für Tagestouris-
ten.
2008 gab es 46 000 Beherbergungsbetriebe mit über
2 Millionen Gästebetten und 268 Millionen Übernach-
tungen bei 2,8 Millionen Beschäftigten und über
100 000 Ausbildungsplätzen. Die Entwicklung ist höchst
erfreulich, wie Bauernhofurlaub am 27. Januar 2011
vermeldet:
Ferien auf dem Land liegen immer mehr im Trend
... Jeder dritte Betrieb berichtet von einer besseren
oder sogar sehr viel besseren Belegung im Ver-
gleich zum Vorjahr.
Mein Kompliment an alle Anbieter.
Besonders interessant dabei ist eine Einschätzung des
Sparkassen-Tourismusbarometer: Das Potenzial ist bis-
her bei weitem nicht ausgeschöpft. Das BMELV spricht
sogar davon, dass nur ein Drittel der an Landurlaub Inte-
ressierten tatsächlich dort Ferien verbringt.
Laut einer Studie des Studienkreises Tourismus und
Entwicklung ist für über 54 Prozent der Interessenten für
die Auswahl des Urlaubsziels entscheidend, dass Natur
dort unmittelbar erlebt werden kann.
Nun zu ihrem Antrag: Der Prosateil ist ja noch akzep-
tabel:
Neben einer touristischen Infrastruktur, gutem Ser-
vice und regionaltypischer Verpflegung erwarten
die Gäste eine vielfältige Kulturlandschaft mit
schönen Ausblicken – wohltuend für das Auge und
für die Seele. Doch viele dieser attraktiven Land-
schaften und die flächendeckende, nachhaltige
Landbewirtschaftung durch Landwirte sind gefähr-
det ... Tourismus, Landwirtschaft und Landschafts-
pflege können hier gemeinsam gegensteuern.
Wer möchte da widersprechen. Aber dann kommt es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf,
1. …verstärkte, freiwillige Kooperationen mit den
Grundeigentümern … vor Ort weiter zu unterstüt-
zen …
2. … freiwillige Kooperation von Grundeigentü-
mern und Bauern vor Ort … verstärkt zu unterstüt-
zen …
3. Leistungen der Land- und Forstwirtschaft … zu-
künftig weiter zu unterstützen.
Das ist doch nicht ihr Ernst. Wer so formuliert, be-
weist eines: Dieser Antrag wird sogar von Ihnen als völ-
lig überflüssig eingestuft.
Wir waren schon viel, viel weiter. 2006: „Nationale
Naturlandschaften – Chancen für Naturschutz, Touris-
mus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwick-
lung.“ Über 16 Punkte werden eingefordert – bei Ihnen
sind es gerade mal fünf.
Zum Beispiel haben wir in der Großen Koalition ge-
fordert: Natururlaub muss zu einem Markenzeichen des
Deutschland-Tourismus werden; barrierefreies Natur-
und Kulturerleben; Ausbildung im Tourismus verbes-
sern; die nationalen Naturlandschaften stärker als bisher
in die nationale Nachhaltigkeitsstrategie und in die
nationale Biodiversitätsstragie integrieren; bessere Ver-
marktung.
2007 beschloss die Große Koalition den Antrag „Un-
sere Verantwortung für die ländlichen Räume“. Als zen-
trale erste Forderung verlangen wir eine ressortübergrei-
fende Politik, die sich an den Problemen der ländlichen
Regionen orientiert und eine integrierte ländliche Ent-
wicklung unterstützt.
Weitere positive Beispiele: finanzielle Situation der
Kommunen berücksichtigen, bessere verkehrliche Er-
schließung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermög-
lichen, gezielte Entlohnung für gesellschaftlich er-
wünschte ökologische Leistungen. Das sind zielführende
Forderungen. Setzen Sie diese Forderungen endlich um.
11454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
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Wir von der SPD-Fraktion verlangen endlich einen
Sachstandbericht: Wie weit ist denn das Ministerium?
Wir verlangen hier klare Antworten, Konzepte, nicht
wie üblich Ankündigungen, Frau Ministerin.
Beunruhigend sind für mich viele Dinge:
Es gibt keine Bereitschaft für eine Gesamtstrategie
zur Förderung der Tourismuswirtschaft. Siehe die Ant-
wort der Regierung auf Anfrage der Grünen.
Entlarvend ist die Antwort des Ministeriums auf
meine Anfrage am 23. Februar 2011:
Im Zuge der Erarbeitung des Tourismuskonzepts
für ländliche Räume wird geprüft, ob und gege-
benenfalls welche weiteren Maßnahmen zur Stär-
kung des Landtourismus erforderlich sind.
Noch schwächer geht es wirklich nicht.
Dabei hat der ländliche Tourismus Riesenpotenziale,
zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeit. Eine Um-
frage des Sparkassen- und Giroverbandes zeigt, dass je-
der dritte Bundesbürger bereit ist, für ein nachhaltiges
Reiseangebot einen Aufpreis von 10 bis 20 Euro pro Tag
zu zahlen. Frau Kollegin Mortler hat völlig zu Recht in
der letzten Debatte die Welt zitiert: „Nachhaltiges Reisen
wird zum neuen Trend.“
Sofort handeln müssen Sie hinsichtlich Punkt 4 Ihres
Antrages: Es muss umgehend eine Korrektur der will-
kürlichen Kürzungen der Mittel bei den Gemeinschafts-
aufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-
tenschutzes“ – 100 Millionen Euro gestrichen – und
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –
10 Millionen Euro – erfolgen. Das verlangt die SPD-
Fraktion von Ihnen, verehrte Kollegen der schwarz-gel-
ben Koalition.
Ich darf Ihnen zum Schluss noch einen kleinen Tipp
geben. Lesen Sie unbedingt das Papier „Ländlichen Tou-
rismus stärken“; es ist sehr aufschlussreich. Sie verlan-
gen „Sicherstellung ausreichender finanzieller Mittel im
Rahmen des ELER und der GAK sowie eine Anpassung
der Förderbedingungen zur verbesserten Unterstützung
des Tourismus im ländlichen Raum“.
Sie werden mir hier sicher zustimmen, genauso wie
bei der nächsten Forderung des gemeinsamen Papiers
von Bauernverband, Landkreistag und Bauernhofurlaub:
Gefordert wird eine „Verbesserte Verortung und Koordi-
nierung der Tourismuspolitik innerhalb der Bundesregie-
rung“ und damit der Finger durch den Bauernverband
genau in die Wunde gelegt. Die Bundesregierung muss
endlich handeln im Sinne des ländlichen Tourismus.
Mein Kompliment an die CDU: Sie haben die ekla-
tanten Mängel Ihres Antrags genau erkannt. Der Agra-
Europe vom 21. März 2011 kann man entnehmen, dass
die CDU ein Papier entwickelt hat: „Heimat gestalten –
Programm für lebendige ländliche Räume“. Sie fordern
unter anderem: Entwicklung ländlicher Räume als Quer-
schnittsaufgabe; Tourismuskonzeption, um die
Potenziale des ländlichen Raumes besser auszuschöpfen;
flächendeckendes Glasfasernetz; Anpassung beim
ÖPNV.
Das kommt ihnen sicher bekannt vor aus den beiden
oben genannten Beschlüssen aus der Zeit unserer ge-
meinsamen Koalition. Ich hoffe, dass alle diesbezügli-
chen Beschlüsse der Großen Koalition übernommen
werden.
Eine letzte Bitte zum Schluss: Bremsen Sie den baye-
rischen Ministerpräsidenten. Sollte sich sein Konzept
„Zukunftsfähige Gesellschaft – Bericht des Zukunftsra-
tes“ durchsetzen, wäre dies der Kahlschlag für alle länd-
lichen Räume, gefördert werden sollen nur noch die
Zentren. Das wäre verheerend.
Fazit: Wir bitten Sie, diesen Antrag abzulehnen, set-
zen Sie besser die Beschlüsse von 2006 und 2007
schnellstens um.
Horst Meierhofer (FDP): Die Stärkung des ländli-
chen Raumes wird regelmäßig beschworen. Dennoch
setzt sich die Landflucht stetig fort. In meinem eigenen
bayerischen Bezirk, der Oberpfalz, erleben wir das
ebenso wie in vielen anderen Regionen Deutschlands.
Nun stellt sich die Frage, was wir dagegen tun kön-
nen. Alleine auf die Landwirtschaft zu setzen, reicht au-
genscheinlich nicht aus; das ist uns allen wohlbekannt.
Wichtig ist, dass die Menschen im ländlichen Raum
auch ihre Arbeitsstelle im ländlichen Raum haben. Denn
ein jahrzentelanges Pendeln zum Arbeitsplatz in der
nächsten Großstadt ist nicht immer zumutbar. Wie be-
kommen wir also Arbeit in den ländlichen Raum? Und
idealerweise ohne die ländlichen Strukturen zu zerstö-
ren, ohne der Region ihre Identität zu nehmen?
Tourismus kann eine mögliche Antwort sein; da sind
sich die Koalitionsfraktionen auch mit dem Deutschen
Landkreistag und dem Deutschen Bauernverband einig.
Denn gerade unsere schönen Kulturlandschaften sind ein
Pfund für die touristische Erschließung; die Landschafts-
pflege muss eben deshalb auch besonders gewürdigt und
unterstützt werden.
Doch Tourismus auf dem Lande ist viel mehr als „Ur-
laub auf dem Bauernhof“.
Unter anderem bietet der ländliche Raum touristische
Potenziale auf folgenden Feldern: Reiterferien, Fahrrad-
urlaub, Wanderferien, Weinverkostungen auf dem Win-
zerhof, Wassersport (Kanu, Bootsfahrt), Wellness- und
Gesundheitstourismus, Campingurlaub; die Liste ließe
sich fast endlos fortsetzen.
Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, um diese
nachhaltigen Tourismusprojekte zu fördern. Damit wird
auch die Qualität der strukturschwachen Gegenden er-
halten und erhöht. Lassen Sie uns den ländlichen Raum
mit touristischer Infrastruktur aufwerten und jungen
Menschen auch in kleineren Städten und Dörfern eine
Perspektive geben. Dann können wir nicht nur für ein
Anwachsen der Arbeitsplätze sorgen, sondern auch so-
ziale und wirtschaftliche Integration im ländlichen Raum
fördern. Durch eine bessere Infrastruktur – Einkaufen,
ÖPNV, ärztliche Versorgung, Restaurants usw. – wird
der ländliche Raum natürlich nicht nur für Touristen in-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11455
(A) (C)
(D)(B)
teressant; vielmehr profitieren gerade die Bewohner na-
türlich davon.
Die Dienstleistungsbranche ebenso wie die Industrie
kann von der touristischen Wertschöpfung profitieren.
Entlang der gesamten touristischen Servicekette sind po-
sitive Effekte zu erwarten. Freizeitangebote, die daraus
entstehen, sind als sekundärer Faktor weiterer Garant für
den Arbeitsmarkt und dienen dem Wettbewerb. Die klei-
nen und mittelständischen Tourismusbetriebe, zum Bei-
spiel aus dem Gastgewerbe, werden es uns danken, die
Landwirte, die dadurch ein zusätzliches Standbein be-
kommen, ebenso!
Deshalb darf ich Sie bitten, uns bei diesem wichtigen
Anliegen zu unterstützen. Stimmen Sie für den Antrag!
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Lassen Sie mich
zu Beginn einige wesentliche Feststellungen machen:
Mehr als 65 Prozent der Deutschen leben und arbeiten
außerhalb großstädtischer Ballungsgebiete in ländlichen
Regionen. Unsere ländlichen Räume sind die Stützpfei-
ler und das Rückgrat unserer Gesellschaft. Ich weiß, wo-
von ich rede: Meine Heimat ist die wunderschöne Eifel
in Rheinland-Pfalz. In den ländlichen Regionen existie-
ren die Bürgergesellschaften noch, hier kann man noch
von intakter Gesellschaft sprechen, hier übernehmen die
Bürgerinnen und Bürger Verantwortung – kurz, die so-
zialen Probleme sind gering, es gibt keine sozialen
Brennpunkte und nur wenige Arbeitslose, und die Sozi-
albudgets werden am geringsten belastet.
Diese Stabilität hat viel mit der Multifunktionalität
ländlicher Räume zu tun: Ursprünglich rein landwirt-
schaftlich geprägt, haben sich aufgrund der verbesserten
Infrastruktur vor- und nachgelagerte Bereiche des Han-
dels und der Dienstleistungen angesiedelt und den ehe-
mals armen Gebieten zu Wohlstand verholfen. Die at-
traktive Kulturlandschaft ist zum beliebten Reiseziel
vieler Erholungssuchender geworden und hat zum Auf-
und Ausbau des Tourismus beigetragen.
Vielfältige Kulturlandschaften, flächendeckende, nach-
haltige Landbewirtschaftung und attraktive touristische
Angebote bedingen einander. Die Attraktivität der länd-
lichen Räume für den Tourismus ist durch die Landbe-
wirtschaftung entstanden; gleichzeitig kann die Land-
wirtschaft allein die ländlichen Räume nicht erhalten.
Die dort lebenden Menschen müssen attraktive Le-
bens- und Arbeitsbedingungen vorfinden; sie dürfen
nicht von der technologischen Entwicklung abgehängt
werden.
Weil dies so ist, brauchen wir auch künftig prosperie-
rende ländliche Räume. Es geht um den Erhalt wirt-
schaftlicher Multifunktionalität, um die Synergie von
Tourismus, Landwirtschaft und Landschaftspflege. Wir
müssen auch in Zukunft die ländlichen Räume weiter
fördern, sei es im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-
zes“, GAK, oder bei der Weiterentwicklung der Gemein-
samen Agrarpolitik, GAP, nach 2013. Wanderer, Biker,
Wellness und Gesundheitstourismus sind auf dem Vor-
marsch. Das ist gut so in den ländlichen Regionen
Deutschlands. Das müssen wir politisch fördern und un-
tersützen. Regionale Wertschöpfung, sozialer Frieden
und Schutz von Natur und Umwelt sollten uns das wert
sein.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Gestatten Sie mir zu
Beginn einen kurzen Rückblick:
Am 17. Dezember 2007 brachte die Linke den Antrag
„Landurlaub und Urlaub auf dem Bauernhof als Chance
für einen umweltfreundlichen Tourismus in Deutschland
nutzen“, Drucksache 16/7614, in den Bundestag ein.
Ein Dreivierteljahr später, am 24. September 2008,
zogen die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD mit
einem Antrag „Bauernhofurlaub und Landtourismus wei-
ter fördern – Ländliche Räume nachhaltig stärken“,
Drucksache 16/10320, nach. Dies war nötig, damit nicht
nur der Antrag der Linken Gegenstand der öffentlichen
Anhörung auf der Grünen Woche am 19. Januar 2009
war. Das durchgängige Fazit der Sachverständigen bei
der Anhörung war: Beide Anträge sind gut und ergänzen
einander. Die Annahme und Umsetzung beider Anträge
wäre sinnvoll und wünschenswert.
Am 18. Juni 2009 lehnte der Bundestag, wie leider
üblich, den Antrag der Linken mehrheitlich ab und be-
schloss den Antrag der Koalitionsfraktionen. Übrigens:
Die Linke stimmte dem Antrag von CDU/CSU und SPD
zu, zumal nicht wenige Vorschläge und Forderungen aus
dem Antrag der Linken von der Koalition übernommen
worden waren. Aber seitdem engagierte sich weder die
Große noch die jetzige Koalition im Sinne des Beschlus-
ses des Bundestages. Alles blieb, wie es war.
Nun haben wir wieder einen Schaufensterantrag von
CDU/CSU und FDP zum Landtourismus, nur – auch im
Vergleich zum Antrag aus dem Jahr 2008 – deutlich sub-
stanzloser und oberflächlicher.
Unser Fazit: Ihren Antrag werden wir ablehnen, denn
damit kann man die Bundesregierung nicht zum Jagen
tragen, damit helfen Sie nicht den auf dem Lande leben-
den und arbeitenden oder arbeitssuchenden Menschen,
damit tun Sie nichts für potenzielle Touristinnen und
Touristen, damit stärken Sie weder die Tourismuswirt-
schaft noch die Landwirtschaft, und damit tun Sie auch
nichts für die Natur.
Die Linke will den Landurlaub und den Urlaub auf
dem Bauernhof als Chance für einen umweltfreundli-
chen Tourismus in Deutschland nutzen. Wir fordern des-
halb von der Bundesregierung, die Investitionsförderung
im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ unter beson-
derer Berücksichtigung der Möglichkeit des barriere-
freien Reisens als wichtiges Element des Qualitätstouris-
mus im ländlichen Raum zu erweitern und ein
Innovationsprogramm für Angebote in den ländlichen
Räumen aufzulegen, das die zukünftigen Haupteinfluss-
faktoren im Tourismus wie die Klimaänderung, den de-
mografischen Wandel und die wachsende europäische
Vernetzung berücksichtigt. Zudem muss gemeinsam mit
den Bundesländern der Bildungsaspekt des Landtouris-
11456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
mus stärker in den Vordergrund gerückt werden, zum
Beispiel über die verstärkte Förderung von Klassenfahr-
ten. Auch soll die Bundesregierung die Chancen aus den
Möglichkeiten der gemeinsamen europäischen Agrarpo-
litik nutzen und den ländlichen Tourismus als wichtige
Säule der ländlichen Entwicklung etablieren sowie die
Vermarktung landtouristischer Angebote über die Deut-
sche Zentrale für Tourismus stärken.
Ich gestehe: Diese Forderungen sind nicht neu. Sie
sind aber weiterhin aktuell. Neu wäre, wenn endlich et-
was geschähe.
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
ländlichen Räume waren lange in vielen wichtigen Fra-
gen ausgeblendet. Fakt ist aber: Zwei Drittel der deut-
schen Bevölkerung leben in ländlich geprägten Regio-
nen. In diesen Regionen existieren mehr als
23 Millionen Arbeitsplätze, und hier werden 57 Prozent
der Wirtschaftsleistung Deutschlands erbracht. Das zeigt
die enorme Bedeutung.
Sie sind aber nicht nur ein wichtiger Wirtschafts-
standort, sondern Natur- und damit vor allem Rückzugs-
und Erholungsraum für den Menschen.
Im ländlichen Raum liegen also zentrale ökologische,
aber auch ökonomische Perspektiven für große Teile un-
seres Landes.
Gleichwohl müssen wir auch Antworten auf soziale
wie ökologische Herausforderungen wie den demografi-
schen Wandel oder den Verlust von Arten finden.
Da spielt der Tourismus eine wichtige Rolle, weil ge-
rade Inlandsreisen und hier vor allem der Kurzurlaub
sich steigender Beliebtheit erfreuen. Das ist eine große
Chance für unsere Regionen, sich als Reiseziele zu eta-
blieren. Gleichzeitig – das ist an dieser Stelle wichtig –
ermöglicht ein nachhaltiger Tourismus den Bestand un-
serer Kulturlandschaften und damit auch Biodiversität.
Damit wir aber wirklich eine nachhaltige – also öko-
logische, ökonomische und soziale – Wirkung für den
ländlichen Raum entfalten können, ist eine Vielzahl von
Faktoren zu beachten. Ausgerechnet diese bleiben in Ih-
rem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, aber leider unerwähnt. Das ist das Problem Ih-
res Antrags: Die Forderungen passen nur teilweise zu ih-
rer Analyse. Es fehlt an Verbindlichkeit und damit letzt-
lich an Stimmigkeit.
Sie fordern die Bundesregierung auf, die Sicherung
artenreicher und attraktiver Landschaften über ver-
stärkte, freiwillige Kooperationen mit den Grundeigen-
tümern und Bauern vor Ort stärker zu unterstützen. Das
begrüße ich ausdrücklich. Wenn Sie das aber ernsthaft
wollen, dann müssen Sie auch die finanziellen Grundvo-
raussetzungen dafür schaffen. Stattdessen fordern Sie in
Ihrem Antrag ein „Weiter so“ in der Agrarförderstruktur,
eine „starke“ erste Säule und eine nur „finanziell gut
ausgestattete“ zweite Säule in der gemeinsamen EU-
Agrarpolitik. Wir wissen doch alle, das hilft in erster Li-
nie den industriellen Agrarbetrieben.
Ich sage Ihnen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus.
Statt weiterhin auf einen hohen Anteil an Direktzahlungen
zu pochen, sollten Sie, wenn es Ihnen wirklich ernst mit
der regionalen Wirtschaftsentwicklung und dem Natur-
schutz ist, die zweite Säule in den Mittelpunkt rücken. Sie
muss in der Förderperiode 2013 finanziell deutlich ge-
stärkt und enger mit den anderen einschlägigen europäi-
schen Fördertöpfen abgestimmt und vernetzt werden, und
das vor allem im Interesse vieler kleinerer und mittlerer
landwirtschaftlicher Betriebe. Denn gerade sie sind im
Hinblick auf den Tourismus von großer Bedeutung.
In Ihrem Antrag kann ich auch davon leider nichts er-
kennen.
Wenn man die ländlichen Räume nachhaltig weiter-
entwickeln möchte, darf man sich in der Betrachtung
aber nicht ausschließlich auf die Landwirtschaft fokus-
sieren. Wichtige weitere Bereiche sind ganz klar die Ver-
kehrspolitik, aber auch die Regionalförderung. Wird hier
künftig eine ökologische und soziale Lenkungsfunktion
in den Förderstrategien beachtet? Wo können wir konkret
finanziell fördern, um die interkommunale Zusammenar-
beit auszubauen? Das ist doch gerade in der Angebots-
entwicklung und der Vermarktung eine ganz wichtige
Frage.
Das BMELV hat festgehalten, dass nur ein Drittel
derjenigen, die Urlaub auf dem Land machen wollen, es
dann auch tatsächlich tun. Wie kann es also gelingen,
dass die Zahl der Besucher auch tatsächlich steigt? Sie
sehen: Fragen über Fragen, denen Sie sich in diesem An-
trag nicht oder nur unzureichend gewidmet haben.
Mit diesem Antrag dokumentieren sie allenfalls guten
Willen. Den möchte ich Ihnen nicht absprechen. Das
Ziel werden wir damit leider nicht erreichen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Beratung des An-
trags: Sanktionen im Zweiten Buch Sozial-
gesetzbuch und Leistungseinschränkungen im
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen
(Tagesordnungspunkt 14)
Durch den Kontakt zu den Menschen in diesem Land
weiß ich, dass Betroffene die Androhung von Leistungs-
kürzungen oftmals als geradezu willkürlich empfinden.
Sanktionen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
werden nicht selten ohne Augenmaß angedroht und auch
verhängt. Die Sanktionen für Bezieherinnen und Bezie-
her von Arbeitslosengeld II sind nach meiner Wahrneh-
mung meist unnötig und teilweise sogar kontraproduk-
tiv. Die gegenwärtige Praxis der Sanktionierung bzw.
deren Androhung erschüttert bei vielen Menschen den
Glauben an die Gerechtigkeit und das Vertrauen in die
Institutionen des Sozialstaats.
Besonders junge Menschen unter 25 Jahren leiden un-
ter den Sanktionen des SGB II. Niemand käme auf die
Idee, in der Jugendhilfe starre Sanktionen einzuführen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11457
(A) (C)
(D)(B)
Sogar das Jugendstrafrecht kennt pädagogische Ele-
mente. Für jemanden, der nicht etwa kriminell, sondern
arbeitslos ist, gelten hingegen gnadenlose Regeln, die für
Erwachsene nicht einschlägig sind. Warum gerade He-
ranwachsenden im SGB II eine höhere Handlungskom-
petenz zugeschrieben wird als Erwachsenen, und die
Sanktionen hier besonders drastisch und unflexibel sind,
vermag niemand plausibel zu erklären. Die Starre des
SGB II im Bereich der unter 25-Jährigen ist ohne Bei-
spiel.
Union und FDP haben mit dem jüngst verabschiede-
ten Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge-
setzbuch sogar weitere diskriminierende Regelungen ge-
schaffen, die Leistungsberechtigte nach dem SGB II
schlechter stellen als die Bezieher anderer Sozialleistun-
gen. So hat sich beispielsweise die Nachzahlungspflicht
bei falschen Bescheiden von vier Jahren auf ein Jahr ver-
kürzt. Allen anderen Sozialleistungsbeziehern, etwa
Rentnerinnen und Rentnern, werden bei einem falschen
Bescheid die Leistungen für vier Jahre nachgezahlt. Nur
bei Beziehern von Arbeitslosengeld II soll das jetzt nur
noch für ein Jahr gelten.
Auch der im Rahmen des Gesetzes beschlossene Ver-
zicht auf die Rechtsfolgenbelehrung bei der Verhängung
von Sanktionen stellt eine Diskriminierung dar. So hat das
Bundessozialgericht am 18. Februar 2010 entschieden,
dass es einer verständlichen, richtigen und vollständigen
Belehrung über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung
bedürfe. Die strengen Anforderungen an den Inhalt der
Rechtsfolgenbelehrung sei vor allem deshalb geboten,
„weil es sich bei der Herabsetzung der Grundsicherungs-
leistungen, wie aus der Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 3/09, 4/
09) hervorgeht, um einen schwerwiegenden Eingriff han-
delt“.
Bündnis 90/Die Grünen wollen Menschen bei Bedürf-
tigkeit vorbehaltlos unterstützen und bauen zuvörderst
auf die Motivation und Selbstbestimmung eines jeden
Einzelnen. Deshalb muss ein Wunsch- und Wahlrecht des
Hilfebedürftigen zukünftig zentrale Grundlage des Fall-
managements werden. Dieser Grundsatz ist in anderen
Säulen des Sozialgesetzbuches bereits allgemein aner-
kannt und gesetzlich verankert. Auch im SGB II sollte er
Anwendung finden. Ziel von Bündnis 90/Die Grünen ist
eine Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt
und die auf Motivation, Hilfe und Anerkennung statt auf
Bestrafung setzt.
Ein solches Prinzip der partnerschaftlichen Zusam-
menarbeit ist mit den heutigen Sanktionsandrohungen
und -automatismen nicht vereinbar. Ein kooperatives
Fallmanagement wird durch Regelsanktionen, die bis
zur vollständigen Streichung des Arbeitslosengelds II
reichen, verunmöglicht. Das gilt insbesondere für die
Sonderregelungen für junge Menschen bis 25 Jahre.
Diese sind nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich,
sondern werden in ihrer Wirkung auch als kontraproduk-
tiv eingestuft, da sie die Betroffenen häufig aus dem Ein-
gliederungsprozess herausdrängen.
Legen Hilfebedürftige Widerspruch gegen die Ver-
hängung einer Sanktion ein, so muss dieser zukünftig
eine aufschiebende Wirkung haben. Nach unseren Vor-
stellungen muss der Fall sodann umgehend den neu zu
schaffenden, von der Geschäftsführung oder anderen In-
stitutionen des Jobcenters unabhängigen Ombudsstellen
vorgelegt werden. Ein Klageverfahren ist erst im An-
schluss möglich; die aufschiebende Wirkung des Wider-
spruchs besteht bis zum Urteil fort. Mit den Ombudsstel-
len stehen neutrale Anlaufstellen vor Ort zur Verfügung,
die bei Konflikten vermitteln.
Solange die Voraussetzungen für eine partnerschaftli-
che Zusammenarbeit nicht gegeben und die Rechte der
Arbeitsuchenden nicht gestärkt worden sind, bedarf es
der Aussetzung von Sanktionen. Unsere konkreten For-
derungen finden sich in einem Antrag „Rechte der Ar-
beitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen“ (Druck-
sache 17/3207), der momentan im Ausschuss für Arbeit
und Soziales behandelt wird.
Zentrales Ziel einer emanzipativen Sozialpolitik muss
es sein, die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und
gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen. Wir sind der
Überzeugung, dass es hierfür zweier Komponenten be-
darf: zum einen einer bedarfsgerechten, das sozio-kultu-
relle Existenzminimum garantierenden Grundsicherung,
und zum anderen eines diskriminierungsfreien Zugangs
zu sozialen und kulturellen Angeboten, zu Räumen der
Befähigung und der Bildung.
Bündnis 90/Die Grünen setzen auf ein solidarisches
System sozialer Sicherung, in dem einerseits alle Men-
schen bei Bedürftigkeit vorbehaltlose Unterstützung er-
warten können. Andererseits müssen sich aber alle, die
das gegenseitige Sicherheitsversprechen garantieren, da-
rauf verlassen können, dass jedes Mitglied der Solidar-
gemeinschaft seinen Anteil zum Erhalt derselben bei-
trägt. Dieses Prinzip ist konstitutiv für solidarisches
Handeln. Es entspricht daher durchaus unserer Vorstel-
lung von sozialer Gerechtigkeit, dass Menschen, die
dazu in der Lage sind, für erhaltene solidarische Unter-
stützung durch individuelle Transfers auch aktiv zum
Wohle der Gesellschaft beitragen. Geeignete, erforderli-
che und angemessene Sanktionen gegen unsolidarische
Mitglieder der Gesellschaft sind dem Rechtsstaat nicht
fremd und sind manchmal schlichtweg notwendig, so-
lange der Mensch als soziales Wesen nicht in seiner
Existenz gefährdet wird.
Vor dem Hintergrund der heutigen Sanktionspraxis
sowie der schwachen Rechtsstellung Arbeitsuchender
erscheint es auf den ersten Blick vielleicht nachvollzieh-
bar, dass die Linksfraktion in ihrem vorliegenden Antrag
nun die komplette Abschaffung von Sanktionen fordert.
Schon der zweite Blick offenbart allerdings die Schwie-
rigkeiten einer solchen Entscheidung, würde doch der
völlige Verzicht auf die wechselseitige Solidarität in
letzter Konsequenz eine Gefahr für den gesellschaftli-
chen Zusammenhang darstellen. Auch der Verweis auf
das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom
9. Februar 2010 ist hierbei nicht überzeugend. Weder hat
sich das Bundesverfassungsgericht dezidiert zur Frage
der Sanktionen geäußert, noch erklärte sich das Bundes-
11458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
sozialgericht in seiner Entscheidung vom 18. Februar
2010 zum Ob des Verhängens von Sanktionen.
Unter Gerechtigkeit verstehen wir ein wechselseitiges
Verhältnis, in dem Bürgerinnen und Bürger durch die
Solidargemeinschaft füreinander eintreten. Ein gelingen-
des und vielfältiges Gemeinwesen ist auf die Partizipa-
tion seiner Mitglieder angewiesen. Deshalb heißt Gegen-
seitigkeit natürlich auch, dass die Gesellschaft vom
Einzelnen ökonomisches, soziales, kulturelles oder poli-
tisches Engagement entsprechend seiner individuellen
Fähigkeiten erwarten darf und auch die Bereitschaft for-
dern kann, im Rahmen seiner Vorstellungen und Fähig-
keiten etwas zur Gesellschaft beizutragen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung des Antrags: Wissenschaftliche
Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Pro-
motionen stärken (Tagesordnungspunkt 16)
Monika Grütters (CDU/CSU): Wir haben uns heute
hier versammelt, um über Redlichkeit zu sprechen –
über Redlichkeit – nicht nur – in der Wissenschaft. Doch
was bedeutet „Redlichkeit“ eigentlich? Worüber wollen
bzw. sollen nach Meinung der Grünen und der SPD wir
hier reden?
Mit Redlichkeit werden die Tugend oder die Charak-
tereigenschaft einer Person bezeichnet, die sich den ge-
sellschaftlichen Regeln entsprechend gerecht, aufrichtig
oder loyal verhält. Johann August Eberhard definierte
Redlichkeit als etwas, was vom wörtlichen Sinn der
„Rede“ abgeleitet wird. Es gehe also um einen, „der über
alles, was er tut, mit gutem Gewissen Rede stehen, von
allem Rechenschaft ablegen kann“. Es bezeichnet „einen,
der seine Pflicht unter allen Umständen treu erfüllt“. So
nachzulesen im Synonymischen Handwörterbuch der
deutschen Sprache von 1910.
Wissenschaftliche Redlichkeit bedeutet hier, dass nur
das behauptet werden darf, was bewiesen ist und wissen-
schaftlich nachgewiesen werden kann.
Wir alle wissen ja, dass die Regeln für wissenschaftli-
ches Arbeiten selbstverständlich von der Wissenschafts-
gemeinschaft selbst gesetzt werden, ganz sicher also
nicht von der Politik. Daher möchte ich hier einige kluge
Gedanken zitieren, die in den vergangenen Wochen von
der Wissenschaftswelt selbst öffentlich gemacht wurden.
So stellt in der FAZ vom 17. März 2011 ein anonymer
Autor, der als promovierter Dozent an einer deutschen
Hochschule lehrt, unter dem Titel: „Ist die Bayreuther
Diskussion nur die Spitze des Eisbergs?“ die Frage, ob
wir nach der Plagiatsdiskussion der letzten Wochen
„nicht Standards von wissenschaftlicher Ehrlichkeit und
Rechtschaffenheit ins Feld geführt haben, die wir im täg-
lichen akademischen Umfeld als praktisch unrealisierbar
und relativ folgenlos zu unterlaufende erleben und tole-
rieren“. Er fährt fort:
Wesentlich zahlreichere studentische Hausarbeiten
werden einem da wohl übel aufstoßen, die inhalt-
lich und vor allem sprachlich bestenfalls Mittel-
schul-Niveau aufweisen, für die aber die übliche
Standardbenotung zwischen 1,7 und 2,3 für ange-
messen gehalten wurde.
Und weiter heißt es:
Außerdem könnte man sich einige der Bachelor-
und Master-Arbeiten zu Gemüte führen, die offen-
sichtlich in letzter Minute abgegeben, daher in
halbgarem Deutsch und oberflächlicher Argumen-
tation hingeschustert wurden, aber ganz selbstver-
ständlich eine Note mit der „1“ vor dem Komma er-
halten haben, weil alles andere heute als eine
persönliche Beleidigung des Kandidaten gilt.
Milos Vec sekundiert, ebenfalls in der FAZ veröffent-
licht, wie folgt:
Denn im Kern geht es um die Frage, worin wissen-
schaftliche Originalität besteht. Es drängt sich der
Verdacht auf, dass man diese nicht messen oder
quantifizieren kann, obwohl natürlich begutachtet
und beurteilt werden muss, und dass diese Aporie
dazu führt, dass man Hilfsindikatoren wie Umfang
oder Fußnotendichte wie eine Monstranz vor sich
herträgt, statt sich auf das Wagnis des Selbstden-
kens einzulassen – seitens der Betreuer, der Nach-
wuchsforscher und schließlich der Kommissionen.
(„Der Fall Bayreuth und seine Lehren“, FAZ,
23. Februar 2011)
Dieses „Wagnis des Selbstdenkens“, wie es Vec for-
muliert, fordert auch Volker Rieble, Arbeitsrechtler der
LMU, ein, indem er das Binnenverhältnis zwischen Pro-
fessoren und Assistenten kritisiert:
Deshalb möge sich der Philosophische Fakultäten-
tag nicht so aufplustern. Selbstreinigung gegenüber
hauptamtlichem Personal an den Universitäten ist
eine schwere Aufgabe. Das Ausnutzen der Assis-
tenten als Ghostwriter für den Professor, der nur ein
paar Worte umformuliert und dann als Alleinautor
fungiert, wird nicht angegangen. („Bayreuth fehlt
die Legitimation zur Prüfung des Täuschungsvor-
wurfs“, FAZ, 3. März 2011)
Die Verdächtigungen des anonymen Kenners der
Szene – FAZ vom 17. März 2011 – gipfeln in der Vermu-
tung:
Der inoffizielle akademische Flurfunk weiß jeden-
falls immer wieder von Berufungsverfahren zu be-
richten, deren Resultate aufgrund manipulatorischer
Insider-Vereinbarungen und innerakademischer Vet-
ternwirtschaft erklüngelt werden.
Was also ist zu tun? Wie stellen sich die Verantwortli-
chen in der Wissenschaft eine Verbesserung der von ih-
nen selbst beklagten Situation vor?
Heike Schmoll empfiehlt dazu in der FAZ vom
3. März 2011 unter dem Titel „Wie gut ist die Doktoran-
denbetreuung?“:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11459
(A) (C)
(D)(B)
Die deutsche Wissenschaft wäre gut beraten, die
Chance beim Schopfe zu ergreifen und auch selbst-
kritisch zu fragen, ob die in der Plagiatsaffäre zu
Recht verteidigten hohen Qualitätsmaßstäbe des
Wissenschaftssystems auch wirklich überall grei-
fen.
Doch das scheint so einfach nicht zu sein. Zu attraktiv
sind die Aussichten auf das hohe Ansehen Aktiver im
Wissenschaftssystem, gerade in Deutschland, als dass
man das eigene Nest beschmutzen würde.
Das jedenfalls beurteilt von außen, aus der Perspektive
der ETH Zürich, in der FAZ vom 9. März 2011 Caspar
Hirschi so:
Kulturell profitiert das deutsche Wissenschaftssys-
tem noch immer, wenn auch unterschwellig, von
der bildungsbürgerlichen Verehrung für Geistes-
akrobatik im Allgemeinen und für Forschung im
Besonderen. In kaum einem anderen westlichen
Land sind das Ansehen der Wissenschaft und das
Prestige von Professoren so hoch wie in Deutsch-
land. Das sind hervorragende Voraussetzungen, um
viele Studenten von einer wissenschaftlichen Kar-
riere träumen zu lassen.
Wollte man also tatsächlich etwas ändern im hart um-
kämpften Wissenschafts- und Prüfungsalltag an deut-
schen Universitäten, dann helfen nur drakonische Maß-
nahmen, meint unser Anonymus in der FAZ vom
17. März:
Was hier nötig wäre, ist schnell gesagt: knallharte
höchst indiskrete Transparenz und eine über die
universitätsinternen Nachgiebigkeitszirkel hinaus-
gehende Kontrolle. Warum gibt es keine deutsch-
landweit institutionalisierten Stichproben von
schriftlichen Prüfungsleistungen, von der einfachen
Hausarbeit bis zur Master-Thesis, die in einem ano-
nymisierten Blind-Review-Verfahren Qualitäts-
und Notengebungsvergleiche durchführt?
Bei so viel Einsicht und derart harschen Empfehlun-
gen aus den Inner Circles muss uns hier im Parlament ja
nicht bange sein um die Kultur der Aufrichtigkeit in der
deutschen Wissenschaftslandschaft.
Das ist auch gut so, denn, wie schon zu Beginn ge-
sagt: Seine Regeln gibt sich das Wissenschaftssystem
selbst, und wir Politiker sind gut beraten, uns da klug he-
rauszuhalten. Nicht ohne Grund postuliert das Grundge-
setz unmissverständlich die Freiheit der Wissenschaft in
seinem Art. 5, wo es heißt: „Kunst und Wissenschaft …
sind frei.“
Was das für die Politik heißt, wusste schon Max Weber
in Wissenschaft als Beruf:
Man sagt, und ich unterschreibe das: Politik gehört
nicht in den Hörsaal. Sie gehört nicht dahin von sei-
ten der Studenten.
Aber das Verhältnis von Wissenschaft und Politik
bleibt schwierig.
Wie immer lesenswert hat uns das der bisherige Vor-
sitzende des Wissenschaftsrates, Peter Strohschneider,
unter dem Titel „Zur Grenze zwischen Politik und Wis-
senschaft“ in der FAZ vom 17. März 2011 erklärt:
Wissenschaft und Politik bilden unterscheidbare
Sphären sozialen Handelns. In ihnen gelten je ei-
gene Funktionsprimate, Handlungslogiken und Ak-
teursinteressen. Wissenschaftliche Kommunikation
im Medium von „Wahrheit“ ist etwas anderes als
politische Kommunikation im Medium von
„Macht“. …
Beide Handlungssphären sind systematisch aufein-
ander verwiesen. Politik bedient sich zum Zwecke
des Machterhalts der Wissenschaft. Diese erschließt
sich über Politik finanzielle Ressourcen und Durch-
setzungschancen für ihre Deutungsansprüche. …
Politik und Wissenschaft nehmen einander für die
eigenen Funktionen in Anspruch. Das muss einen
nicht beunruhigen. Problematisch wird es aller-
dings dort, wo die Systemgrenze zwischen Wissen-
schaft und Politik unscharf wird …
Bleibt also abschließend die nüchterne Erkenntnis,
dass die Wissenschaft, zumindest im Idealfall, die stär-
kere Seite unserer Gesellschaft ist, jedenfalls in der Ge-
genüberstellung zur Politik. Denn es gilt, wie Heike
Schmoll am 7. März 2011 in der FAZ unter dem Stich-
wort „Wissenschaft und Politik“ schreibt:
Wissenschaftliche Erkenntnis gibt keine Hand-
lungsanweisung, Schlussfolgerungen bleiben dem
Handelnden überlassen. Wissenschaft muss viel-
stimmig, oft auch widersprüchlich bleiben, weil
miteinander konkurrierende Wahrheitsansprüche
ihr Wesen ausmachen. Ihre Stärke bezieht sie aus
dem besseren Argument und ihrer methodischen
Klarheit und Nachprüfbarkeit.
Überlassen wir Politiker es also den Wissenschaftlern,
sich über ihre eigenen Regeln, über ihr Selbstverständnis
und über die Maßstäbe klar zu werden, an denen sie von
uns und allen anderen gemessen werden wollen.
Wir Politiker dagegen sollten uns fragen, mit wel-
chem Anspruch wir unseren Job machen. Max Weber
stellt in seinem Standardwerk Politik als Beruf dazu fest:
Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich
entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft –
Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft
im Sinne von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hin-
gabe an eine „Sache“ …
Sie
– die Leidenschaft –
macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als
Dienst in einer „Sache“ auch die Verantwortlichkeit
gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden
Leitstern des Handelns macht.
In diesem Sinne sollten wir alle uns, hier besonders
die Antragsteller von den Grünen und der SPD, fragen
und fragen lassen, ob und wie redlich es ist bzw. war, uns
heute hier diese Debatte aufzuerlegen. Dient sie wirklich
der „Sache“ der „Redlichkeit in der Wissenschaft“?
11460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
Oder war es nicht wieder einmal ein bisschen mehr
Wahlkampf?
Wie dem auch sei. Der berühmte Philosoph und Theo-
loge Josef Pieper fasst das so zusammen:
Das Lehren – so sagt Thomas (von Aquin) – ist eine
der höchsten Formen überhaupt, weil es die Vita
contemplativa und die Vita activa verknüpft.
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Wir erleben
heute ein klassisches Politikmuster: Zuerst gibt es einen
medial bedeutsamen Vorfall wie vor wenigen Wochen
die Debatte um die Promotion des ehemaligen Verteidi-
gungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, und dann
kommt die Opposition, die mit heißer Nadel Anträge
strickt und damit versucht, auf der abklingenden media-
len Welle doch noch ein Stück weiterzureiten.
Das bringt Ihnen, meine Damen und Herren von den
Grünen, vielleicht kurzfristig Applaus, bringt uns aber in
der Sache selbst nicht weiter.
Wie Sie wissen, sind die Förderung des wissenschaft-
lichen Nachwuchses und damit auch die Qualität der For-
schungsleistungen eines der Hauptanliegen dieser Bun-
desregierung und der sie tragenden Koalitionsparteien.
Frau Bundesministerin Schavan hat dazu 2008 den ersten
Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses vorgelegt, in dem die Situation an unseren
Hochschul- und Forschungseinrichtungen erstmals syste-
matisch untersucht worden ist und der eine valide Daten-
basis für die Diskussion liefert.
Die großen Maßnahmen wie die Exzellenzinitiative,
der Pakt für Forschung und Innovation, der Hochschul-
pakt oder der Qualitätspakt Lehre sind alle darauf ange-
legt, die Situation der Nachwuchswissenschaftler, sei es
durch zusätzliche Stellen oder durch intensivere Betreu-
ung, zu verbessern. Gerade die Qualität der Beratung
und Betreuung beeinflusst den Verlauf einer Promotion
erheblich. Wenn ein Doktorand seinen Doktorvater
kaum sieht und am Lehrstuhl auch sonst nicht besonders
betreut wird, trägt das nicht positiv zur Qualität seiner
Arbeit bei.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht mit ihren
momentan 250 finanzierten Graduiertenkollegs und Gra-
duiertenschulen den erfolgreichen Weg der strukturier-
ten Doktorandenprogramme, den wir auch weiter för-
dern möchten. Aber auch die allermeisten Professoren,
die nicht an den Graduiertenprogrammen teilnehmen, in-
vestieren viel Zeit und Mühe in die Betreuung und För-
derung ihrer Doktoranden.
Trotzdem wird es bei 25 000 Promotionen im Jahr
immer wieder Fälle geben, in denen die zu Recht hoch-
gesetzten wissenschaftlichen Standards nicht erfüllt wer-
den. Das Bekanntwerden eines solchen Falls schadet
nicht nur dem Doktoranden, sondern vor allem dem be-
treuenden Professor und der davon betroffenen Universi-
tät.
In der Wissenschaft zählt der gute Ruf wie in kaum
einem anderen Bereich. Fehlverhalten wird von der je-
weiligen Community scharf sanktioniert. Wissenschaft-
liche Qualitätskontrolle ist deswegen im ureigensten In-
teresse einer jeden Universität. Es ist vor diesem
Hintergrund folgerichtig, dass vor Ort die Verantwortung
dafür getragen wird.
Das Promotionsrecht ist ein besonderes Privileg. Es
ist verbunden mit der Pflicht, die eben genannte Verant-
wortung wahrzunehmen und das Bestmögliche zu tun,
um sicherzustellen, dass die Doktorwürde nur bei Ein-
haltung wissenschaftlicher Standards verliehen wird. Ich
traue es unseren Universitäten und Professoren ohne
Zweifel zu, dass sie dieser Verantwortung gerecht wer-
den und dass sie selbst aus jedem Fall, in dem dies nicht
gelungen ist, die richtigen Konsequenzen ziehen.
René Röspel (SPD): Vertrauen und Redlichkeit sind
wesentliche Voraussetzungen für eine funktionierende
moderne Wissenschaft und Forschung. Wissenschaftli-
ches Fehlverhalten ist daher ein Grundproblem, für alle
Fächer und auf allen Stufen des akademischen Lebens.
Ob die neuen Medien und das inzwischen sprichwörtli-
che „Copy and Paste“ dem Fehlverhalten in Wissen-
schaft und Forschung Vorschub leisten oder aber ob im
gleichen Zuge die Prüferinnen und Prüfer nicht die
neuen Medien zu einer verbesserten Kontrolle insbeson-
dere von Qualifikationsarbeiten einsetzen können, ist
nur schwer zu beantworten.
Ungeachtet dessen kann man festhalten, dass jeder
Fall von wissenschaftlichem Fehlverhalten dem For-
schungs- und Innovationsstandort Deutschland Schaden
zufügt. Dieser Schaden ist umso größer, wenn nur halb-
herzig betrügerisches bzw. falsches wissenschaftliches
Verhalten als solches benannt wird und Fehlverhalten
keine schmerzhaften Folgen nach sich zieht.
Zur wissenschaftlichen Redlichkeit zählt insbeson-
dere, dass man eigene Erkenntnisse und eigenes Wissen
klar und eindeutig von dem Wissen anderer abgrenzt,
wenn man es zum eigenen Nutzen verwenden will. Lei-
der haben wir in der Vergangenheit feststellen müssen,
dass dieser Grundsatz der Wissenschaft immer wieder
verletzt wird. Schlimmer noch: Einige Personen haben
in den Debatten der letzten Wochen und Monate gar in-
frage gestellt, ob dieser Grundsatz und die kategorische
Ablehnung und Ächtung des Diebstahls von geistigem
Eigentum überhaupt groß öffentlich diskutiert werden
sollte.
Viele Menschen und Einrichtungen haben in den letz-
ten Wochen deutlich gemacht, was davon zu halten ist,
wenn Partei- und Regierungsvertreter systematisches
wissenschaftliches Fehlverhalten etwa mit dem Ab-
schreiben in der Schule gleichsetzen. Die Bagatellisie-
rung von Urheberrechtsverstößen, von Falschaussagen
und von Betrug fällt eindeutig auf diejenigen zurück, die
in den letzten Monaten den „Kronprinzen der CSU“ vor
seiner gerechten Strafe schützen wollten. Der Aussage
des Bayreuther Juraprofessors Oliver Lepsius: „Wir sind
einem Betrüger aufgesessen“ ist in ihrer Deutlichkeit
kaum noch etwas hinzuzufügen. Ich hoffe eindringlich,
dass sich in der ehemaligen „Law-and-Order“-Fraktion
von CDU/CSU und insbesondere in der Unions-Arbeits-
gruppe Bildung und Forschung mehr Personen für dieses
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11461
(A) (C)
(D)(B)
Verhalten des Herrn Guttenberg schämen als nur Frau
Bundesministerin Schavan.
Unabhängig von dem politischen Skandal, dass Frau
Bundeskanzlerin Merkel die Affäre Guttenberg mit dem
nachgerade frechen Hinweis, sie habe keinen wissen-
schaftlichen Mitarbeiter eingestellt, kleinreden wollte,
müssen wir uns fragen, welche Schlussfolgerungen wir
aus den Erfahrungen der letzten Monate ziehen. Die
Grünen tun daher grundsätzlich das Richtige, wenn sie
das Thema mit einem Antrag aufgreifen und nicht mit
dem überfälligen Rücktritt von Herrn Guttenberg auf
sich beruhen lassen.
Wenn wir heute über wissenschaftliche Redlichkeit
sprechen, so müssen wir zunächst anerkennen, welche
Maßnahmen von der Wissenschaft selbst in den letzten
Jahren auf den Weg gebracht wurden. Alle Wissen-
schaftsorganisationen haben konsequent Instrumente
entwickelt, eingesetzt und Selbstverpflichtungen präsen-
tiert, um gegen wissenschaftliches Fehlverhalten vor-
zugehen. Hierdurch haben sie wesentliche Beiträge zur
Qualitätssicherung im Wissenschaftsbetrieb geleistet
und versucht, Schaden vom Forschungsstandort
Deutschland abzuwenden.
Dies hat aber leider nicht verhindert, dass wir immer
wieder von teilweise spektakulären Wissenschaftsskan-
dalen lesen und hören mussten. Das Problem des wissen-
schaftlichen Fehlverhaltens ist natürlich kein nationales
Phänomen. Zu den bekanntesten Fällen international
zählt sicherlich der Betrug des Klonforschers Hwang. In
Deutschland hat in den letzten Monaten neben Herrn zu
Guttenberg vor allem der Skandal im Umfeld des For-
schungszentrums Borstel sowie die Betrugsfälle im Son-
derforschungsbereich „Stabilität von Randzonen tropi-
scher Regenwälder in Indonesien“ an der Universität
Göttingen für Schlagzeilen gesorgt.
Es ist für uns als SPD-Bundestagsfraktion klar, dass
diese Fälle ein Nachdenken über bessere Rahmenbedin-
gungen zum Kampf gegen wissenschaftliches Fehlver-
halten nötig machen. Folglich haben wir das Thema der
heutigen Beratungen bereits seit Längerem auf der Ta-
gesordnung. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir im
Grundsatz die Initiative der Grünen, obgleich der heute
zur ersten Lesung vorliegende Antrag den Eindruck ei-
nes „Schnellschusses“ nicht komplett aus der Welt räu-
men kann. Oder um es anders zu sagen: Herr zu
Guttenberg sollte nicht der alleinige Anlass sein, sich
grundsätzlich mit dem Thema „Wissenschaftliches Fehl-
verhalten“ auseinanderzusetzen. Das Thema ist zu groß,
um es an einem Hochstapler bzw. Betrugsfall festzuma-
chen.
Wir wünschen uns eine deutlich umfassendere und
grundsätzlichere Debatte über wissenschaftliches Fehl-
verhalten. Dies schließt ein, dass wir uns nicht nur auf
Promotionen beschränken, wie es der Antrag der Grünen
schon in seinem Titel ankündigt. Fehlverhalten gibt es
auch bei Habilitationen, bei Bachelor- und Masterarbei-
ten oder auch bei anderen wissenschaftlichen Arbeiten.
Es gibt akademisches Ghostwriting, und es werden in ei-
nigen Fällen wissenschaftliche Daten gefälscht. Auch
unethische Handlungen, etwa im Rahmen der Forschung
mit Probanden, stellen eine Form von wissenschaftli-
chem Fehlverhalten dar.
Warum die Grünen mit ihrem Antrag nun ausschließ-
lich auf Promotionen abstellen, ist uns nicht klar, und
folglich können wir dem Antrag auch nicht zustimmen.
Wir wollen mehr als nur eine an die Guttenberg-Debatte
anschließende Sonderdebatte über wissenschaftliches
Fehlverhalten bei Promotionen. Wir müssen uns anläss-
lich des Guttenberg-Betrugs einmal mehr grundsätzliche
Fragen zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlver-
halten stellen und in allen genannten Bereichen solide
Vorschläge unterbreiten, wie wir gegen Fehlverhalten in
Wissenschaft und Forschung vorgehen können.
Um ein Beispiel zu nennen: Welche Auswirkungen
hat der verstärkte Fokus auf die Einwerbung von Dritt-
mitteln auf das Auftreten von wissenschaftlichem Fehl-
verhalten? Der Begriff „Drittmittel“ fehlt im Antrag der
Grünen komplett. Unklar bleibt auch, welche der von
den Grünen geforderten Maßnahmen geeignet sind, um
gegen das akademische Ghostwriting vorzugehen. Das
Problem wird zwar an einer Stelle erwähnt; die Frage,
wie der Kampf gegen den beständig wachsenden Markt
der gekauften Qualifizierungsarbeiten verstärkt bzw.
überhaupt erst einmal aufgenommen werden kann, wird
jedoch nicht beantwortet. Diese Aspekte zeigen, dass die
Grünen leider das Thema nicht in einem umfassenden
Sinne problematisieren und folglich aus unserer Sicht
der Antrag nicht hinreichend für eine Zustimmung ist.
Wir werden nach gründlichen Debatten in unserer
Fraktion ebenfalls einen Antrag vorlegen und in die
kommenden Beratungen einbringen. Wir springen aber
nicht so kurz wie die Grünen: Wir wollen uns umfassend
mit dem Problemfeld des wissenschaftlichen Fehlverhal-
tens auseinandersetzen und politische Lösungen präsen-
tieren. Hierbei müssen wir auch die Bagatellisierung von
wissenschaftlichem Fehlverhalten durch Mitglieder des
Deutschen Bundestages kritisch beleuchten. Dies ist ne-
ben dem Verhalten der Bundeskanzlerin ein ganz eigener
Skandal, mit dem wir uns noch ausführlicher befassen
werden.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es ein-
führend klarzustellen: Die FDP-Bundestagsfraktion
misst der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Red-
lichkeit einen großen Stellenwert bei. Wir vertrauen im
Kampf gegen Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten auf
die Selbstkontrollmechanismen der Hochschulen und
sonstigen Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen.
Wir begrüßen, dass sich die Gemeinsame Wissenschafts-
konferenz von Bund und Ländern in ihrer nächsten Sit-
zung mit dem Thema Promotionen befassen wird. Aber
wir sind auch davon überzeugt, dass das Gros der deut-
schen Hochschulen bereits seit Jahren über wirksame In-
strumente und Mechanismen im Kampf gegen Plagiate
und sonstige Täuschungsversuche von Studierenden und
Promovierenden verfügt und mit aller Entschiedenheit
Betrugsversuche ahndet. Dieses Ansinnen liegt im Inte-
resse der Hochschulen selbst, und es bedarf keines Ein-
greifens seitens der Politik, um die notwendigen Maß-
nahmen zu ergreifen.
11462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
Mit dem vorliegenden Antrag „Wissenschaftliche
Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen
stärken“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll der
Deutsche Bundestag per Beschluss dafür sorgen, dass
die Bundesregierung für mehr Redlichkeit in der Wis-
senschaft sorgt. Wie absurd und überzogen ich diese For-
derung finde, muss ich an dieser Stelle nicht weiter aus-
führen. Aber es ist schon sehr bezeichnend, mit welcher
Denkweise die Grünen dem deutschen Wissenschaftssys-
tem gegenüberstehen. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt
es jedenfalls ab, eine weitere Verrechtlichung und Büro-
kratisierung der deutschen Hochschulen voranzutreiben.
Wir sind davon überzeugt, dass die deutschen Hochschu-
len ein Mehr an Autonomie und nicht ein Mehr an Büro-
kratie benötigen, um gute Arbeit leisten zu können. Hier
stimme ich dem Präsidenten des Deutschen Hochschul-
verbandes, Bernhard Kempen, zu, der in der Süddeut-
schen Zeitung vom 23. März 2011 vor einem überstürz-
ten Vorgehen mit immer mehr Kontrollen warnt. Herr
Kempen hat recht, wenn er darauf verweist, dass nicht
erst seit der Plagiatsaffäre umfangreiche Mechanismen in
den Hochschulen vorhanden sind und angewandt werden,
um Missbrauch zu verhindern und, wenn nötig, mit Vehe-
menz zu verfolgen. Dazu braucht es keinerlei Aktionis-
mus seitens der Politik!
Erschreckend ist für mich zudem, dass der Fall des
ehemaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg – und
hierzu habe ich mich als FDP-Wissenschaftspolitiker
frühzeitig und mehr als deutlich öffentlich geäußert –
zum Anlass genommen wird, das gesamte Wissen-
schaftssystem und vor allem die Promovierenden unter
den Generalverdacht zu stellen, mit „Copy and Paste“-
Techniken auf Titeljagd zu gehen. Auch ist die Forde-
rung der Grünen, die Bundesregierung solle „öffentlich
und unmissverständlich“ klarstellen, dass Diebstahl
geistigen Eigentums keine Bagatelle ist, mehr als absurd,
in jedem Fall aber überflüssig. Bereits vor Jahren hat
Bundeskanzlerin Angela Merkel klargestellt, dass Raub-
kopien kein Kavaliersdelikt sind. Für diese Auffassung
bedarf es des Antrags der Grünen also in keinem Fall!
Mit ihren Vorwürfen, die im Zusammenhang mit der
öffentlichen Diskussion um den ehemaligen Verteidi-
gungsminister zu Guttenberg erhoben wurden, hat die Op-
position ganz sicher nicht dazu beigetragen, das Vertrauen
der Wissenschaft in die Politik zu erhöhen. Äußerst be-
fremdlich ist für mich die Behauptung der Grünen, dass in
Teilen der Öffentlichkeit das Bewusstsein „für die Bedeu-
tung wissenschaftlicher Redlichkeit und den Schutz geisti-
gen Eigentums teilweise unterentwickelt“ sei. Dass die
Grünen hier irrtümlicherweise einem von den Medien ge-
zeichneten Bild aufgesessen sind, scheint mir offensicht-
lich. Nicht anders lässt sich erklären, mit welcher Kraft
und in welchem beeindruckenden Umfang sich Tau-
sende von Studierenden und Promovierenden in einem
offenen Brief an die Öffentlichkeit gewandt haben und
unmissverständlich klargemacht haben, was sie von Pla-
giaten halten und wie wichtig ihnen der Kodex einer red-
lichen Wissenschaftsarbeit ist.
Die FDP-Bundestagsfraktion ist der festen Überzeu-
gung, dass unser Wissenschaftssystem nicht überregle-
mentiert werden kann und darf. Die von den Grünen er-
hobenen Forderungen sind vollkommen überzogen. Der
Ehrenkodex der deutschen Wissenschaftler, sowohl der
Professoren und Doktorväter als auch der Studierenden
und Promovierenden, ist eindeutig und das zu nahezu
100 Prozent wirksamste Mittel gegen Plagiate in der
wissenschaftlichen Arbeit. Ich bin der festen Überzeu-
gung, dass die Hochschulen – sofern nicht längst gesche-
hen – in ihrer eigenen Verantwortung die notwendigen
Maßnahmen ergreifen werden. Ein gewisses Restrisiko
wird es dennoch immer geben, selbst dann, wenn man
alle vorgeschlagenen Maßnahmen ergreifen würde. Ei-
nes ist jedoch ebenso klar: Auch wenn mit diesem pro-
minenten Einzelfall das Thema Plagiate und möglicher
Diebstahl geistigen Eigentums in den Blickpunkt des öf-
fentlichen Interesses gerückt wurde, so ist es trotz allem
zunächst ein Einzelfall. Dieser darf nicht zum Anlass ge-
nommen werden, mit überzogenen Maßnahmen zu re-
agieren und mit den berühmten Kanonen auf Spatzen zu
schießen. Ein Eingreifen von Bundestag oder Bundesre-
gierung ist hier weder erforderlich noch zielführend.
Deshalb wird die FDP-Bundestagsfraktion den vorlie-
genden Antrag der Grünen ablehnen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Wir wissen nicht, was
die Kanzlerin dachte, als sie auf der CeBIT vom Rück-
tritt ihres Kabinettskollegen zu Guttenberg erfuhr und
der Bundesforschungsministerin Annette Schavan zulä-
chelte. Vielleicht hat sie da schon gedacht: Doktortitel
sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren … Und
man bräuchte eigentlich auch hier ein Bundesprogramm,
um die Qualität von Promotionen auch über geeignete
Verfahren zu sichern. Im vorliegenden Antrag der Grü-
nen sind dazu – um es vorwegzunehmen – sinnvolle Vor-
schläge gemacht worden.
Der Bereich der akademischen Nachwuchsförderung
ist besonders zwischen den Traditionen der alten univer-
sitären Ständegesellschaft und den Reformen des New
Public Management eingeklemmt worden. Es gibt noch
immer ein enges starkes Abhängigkeitsverhältnis zwi-
schen – meist männlichen – Doktorvätern und ihren
„Zöglingen“. Die Betreuungszusage für eine Promotion
wird zumeist nach dem langjährigen Aufbau eines per-
sönlichen Vertrauensverhältnisses gegeben. Dabei spie-
len nicht nur wissenschaftliche, sondern auch persönli-
che oder gar politische Beziehungen eine große Rolle.
Ein Professor wird nur selten jemanden unterstützen, der
eine andere wissenschaftliche Denkrichtung als er selbst
verfolgt.
Diesen uralten Traditionen von akademischer Gefolg-
schaft, die noch aus der Zeit der Ordinarienuniversität
stammen, stehen die marktorientierten Reformen der
letzten zehn Jahre gegenüber. Heute wird eine Universi-
tät in der Regel nach dem Output bemessen. Ihre Mittel-
zuweisung hängt von der Zahl ihrer „Produkte“ ab; da-
runter fallen auch Promotionen. Dies brachte die
Universitäten dazu, Mechanismen zur Steigerung ihrer
Promotionszahlen zu entwickeln. Parallel dazu wurde im
Rahmen der Exzellenzinitiative, aber auch des Bologna-
Prozesses das angelsächsische Vorbild der Promotion als
Studienphase in Deutschland eingeführt. Anders als in
den USA, Australien oder Großbritannien wurde jedoch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11463
(A) (C)
(D)(B)
weder die Durchlässigkeit erhöht, noch wurden Hierar-
chien abgebaut. Wer dort promovieren will, kann dies di-
rekt nach einem ersten Bachelorstudienabschluss tun.
Von dieser Flexibilität sind wir hier weit entfernt. Statt-
dessen drücken bei uns in Graduiertenschulen und Pro-
motionsstudiengängen nun Menschen die Schulbank, die
mit ihrer Promotion eigentlich schon in die erste Phase
wissenschaftlicher Berufsausübung eintreten sollten.
In beiden existierenden Wegen zur Promotion, ob als
Mitarbeiter eines Lehrstuhls oder als Promotionsstuden-
tin, kommt die Selbstständigkeit der Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und -wissenschaftler zu kurz. Wir sollten
diese jungen Menschen, die mit Ende 20, Anfang 30 in
ihrer vielleicht kreativsten Lebensphase stecken, mehr
zutrauen. Dazu gehört auch, ihre Rolle in der Universität
zu stärken und verbindlicher zu gestalten. Es ist richtig,
Promotionsvereinbarungen, wie von den Grünen bean-
tragt, flächendeckend einzuführen, die Bewertung der
Dissertationen durch externen Sachverstand zu objekti-
vieren und die Stellung der Promovierenden gegenüber
den betreuenden Hochschullehrerinnen und -lehrern zu
stärken. Der Betreuung muss mehr Aufmerksamkeit
durch die Institutionen gewidmet werden.
Zwei Dinge im Antrag der Grünen sehe ich jedoch
auch kritisch: Zum Ersten werden die Phasen nach der
Promotion vernachlässigt. Dazu gibt es keinen Grund. In
den letzten Jahren sind diverse Plagiatsfälle auch im pro-
fessoralen Bereich aufgedeckt worden.
Zum Zweiten wundert mich die Rhetorik hinsichtlich
geistigen Eigentums in einem Grünen-Antrag. Ich muss
sagen: Da ist die Debatte deutlich weiter. Wenn in einer
wissenschaftlichen Arbeit in einem gewissen Rahmen
Texte von anderen Autorinnen und Autoren zitiert wer-
den, dann ist das eine essenzielle, durch das Zitatrecht
gesicherte wissenschaftliche Praxis. Niemandem wird
damit etwas weggenommen. Im Gegenteil: Die Zitation
erhöht die wissenschaftliche Reputation des Zitierten.
Dass die Quelle genannt werden muss, ist eine Frage der
Redlichkeit und der Kennzeichnung der eigenen Leis-
tung, nicht jedoch des Eigentums. Die Grünen sprechen
jedoch in ihrem Antrag mehrfach von Diebstahl. Ich
kann für meine Fraktion dazu nur sagen: Wir setzen uns
intensiv für eine stärkere Betonung von Wissen als Ge-
meingut, für eine stärkere Offenheit der Wissenschaft im
Sinne von Open Access und auch für deren öffentliche
Finanzierung ein. Dinge, die offensiv geteilt werden,
kann man auch nicht stehlen.
Wehren muss man sich zudem gegen die hergestellte
Verbindung von wissenschaftlichem Fehlverhalten und
den Möglichkeiten der Digitalisierung und des Internets.
Neulich war in einer Zeitung zu lesen, der Guttenberg-
Eklat sei auch Folge dieser grassierenden „Creative-
Commons-Remix-Mentalität“. Es ist notwendig, die ver-
schiedenen Sphären klar und deutlich zu trennen und
Mythen zurückzuweisen. Ein Remix, ein Cover, eine Zi-
tation in der Kunst setzt auf das Wiedererkennen durch
Leserinnen und Leser, durch Zuhörerinnen und Zuhörer.
Häufig liegt ein Kunsterlebnis gerade darin, die zitierten
Textteile oder Melodiestücke zuordnen zu können.
Kunst darf mystifizieren und andeuten. Wissenschaft
darf das nicht. Hier gelten Transparenz und Nachvoll-
ziehbarkeit der Forschungsergebnisse als oberste Maxi-
men. Zitieren ist eine Grundtechnik der Wissenschaft –
inklusive aller Quellenangaben. Das Internet kann nichts
dafür, wenn jemand sich an diese Regel guter wissen-
schaftlicher Praxis nicht hält. Es hat aber zugleich er-
möglicht, Plagiate schnell aufzufinden – viel schneller,
als das noch vor 20 Jahren möglich war. Auch die
schnelle Durchleuchtung der Guttenberg’schen Disserta-
tion wäre ohne das Internet nicht möglich gewesen. In-
sofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
sollten wir nicht von der „Copy and Paste“-Technik
schreiben, die durch das Internet um sich gegriffen habe.
Computer und Internet vereinfachen die wissenschaftli-
che Arbeit ganz erheblich. Jeder weiß das, erst recht
wenn er oder sie wie ich eine Dissertation im Schreibma-
schinenzeitalter verfasst hat. Es gibt also keinen Grund
für technologisch inspirierten Kulturpessimismus, son-
dern viele Gründe für die Reform überkommener Sys-
teme der wissenschaftlichen Nachwuchsentwicklung
und der akademischen Selbstkontrolle.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zur
heutigen Debatte hat die grüne Bundestagsfraktion einen
Antrag zur wissenschaftlichen Redlichkeit und zur Qua-
litätssicherung bei Promotionen vorgelegt. Wir alle ken-
nen den Anlass, der die Aufmerksamkeit auf ein Thema
gelenkt hat, das gemeinhin nicht im Zentrum des politi-
schen Geschehens steht.
Wer sich mit wissenschaftlichem Fehlverhalten be-
schäftigt, weiß, dass die weitaus meisten Promotionen in
Deutschland ehrlich und redlich erarbeitet werden. Wir
Wissenschaftspolitikerinnen und Wissenschaftspolitiker
wissen aber auch, dass es Betrug, Diebstahl von Ideen,
Ghostwriting, Manipulation von Daten und andere For-
men des wissenschaftlichen Fehlverhaltens gerade bei
Promotionen gibt. Denken Sie nur an die Praktiken der
sogenannten Promotionsberater im Jahr 2009. Damals
wurde gegen über 100 Professoren wegen Bestechlich-
keit ermittelt.
Wissenschaft als rationale Suche nach Erkenntnis und
Wahrheit braucht Wahrhaftigkeit und Vertrauen. Deshalb
greifen Betrug, Manipulation und Diebstahl geistigen
Eigentums die Wissenschaft in ihrer Kernsubstanz an.
Um die Wissenschaft zu schützen, bedarf es vorbeugen-
der Maßnahmen ebenso wie effektiver Kontrollen und
Sanktionen. Das hat nichts mit einem Generalverdacht
gegen die Wissenschaft zu tun, sondern im Gegenteil:
Eine effektive Qualitätssicherung trägt dazu bei, die
Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und unzähliger redli-
cher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schüt-
zen.
Umso ärgerlicher waren die Versuche selbst höchster
Repräsentanten der Regierung, wissenschaftliches Fehl-
verhalten zu verharmlosen. Wissenschaftlicher Betrug
und Diebstahl geistigen Eigentums sind keine Kavaliers-
delikte. Dieser Grundsatz muss auch und gerade dann
gelten, wenn das Bewusstsein für die Bedeutung wissen-
schaftlicher Redlichkeit und den Schutz geistigen Eigen-
tums in einem Teil der Öffentlichkeit unterentwickelt ist.
11464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
Glücklicherweise sind diese Bagatellisierungsversu-
che durch einen regelrechten Aufstand der Wissenschaft
gescheitert. Zigtausende Promovierende, Nachwuchswis-
senschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Professo-
rinnen und Professoren haben sich in Unterschriftenlisten
und offenen Briefen empört. Das war das entscheidende
Signal gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegen-
über denjenigen Medien, die den groben Täuschungsver-
such von Herrn zu Guttenberg als Petitesse verkaufen
wollten.
Die Plagiatsaffäre hat aber auch Lücken in der Quali-
tätssicherung bei Promotionen offenbart. Es waren näm-
lich erst der vierte Guttenberg-Rezensent sowie das Gut-
tenPlag Wiki, die den Diebstahl geistigen Eigentums
aufdeckten. Zuvor konnte die Dissertation die Gutachter
und den Prüfungsausschuss der Universität Bayreuth
ohne jede Beanstandung und sogar mit dem Prädikat
„summa cum laude“ durchlaufen.
Die Politik muss jetzt gemeinsam mit der Hochschul-
rektorenkonferenz, dem Wissenschaftsrat, der Deutschen
Forschungsgemeinschaft und den Universitäten die Qua-
litätssicherung bei Promotionen überprüfen, weiterent-
wickeln und stärker vereinheitlichen. Wir fordern die
Bundesregierung auf, ihrer Gesamtverantwortung für
das Wissenschaftssystem gerecht zu werden, rasch die
Zusammenarbeit mit den Ländern zu suchen und diesen
Prozess aktiv zu unterstützen.
Um beim Thema Qualitätssicherung voranzukom-
men, brauchen wir mehr Schutz vor Täuschung und dem
Verfälschen von Daten sowie mehr Schutz des geistigen
Eigentums. Hier ist die Bundesregierung gefordert, in
Abstimmung mit den Ländern die Hochschulrektoren-
konferenz und den Wissenschaftsrat um Empfehlungen
zu bitten. Die Empfehlungen sollten Maßnahmen zum
Schutz vor Täuschung, zum Vorgehen in Betrugsfällen,
mögliche Konsequenzen und Sanktionen sowie Parame-
ter zur Bewertung von Grenzfällen umfassen. Unerläss-
lich sind auch Vorschläge dazu, wie die Vermittlung der
Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens besser in den
Curricula der Studiengänge verankert und die Sensibili-
sierung für die Bedeutung wissenschaftlicher Redlich-
keit schon bei den Studierenden geschärft werden kön-
nen.
Den Empfehlungen müssen Vereinbarungen folgen,
wie es zu einer möglichst schnellen, einheitlicheren und
verbindlichen Umsetzung an den Hochschulen kommen
kann.
Die Promotionsordnungen in Deutschland weisen je
nach Fakultät und Fach eine extreme Spannbreite auf.
Ob die Promovenden beispielsweise eine eidesstattliche
Erklärung abgeben müssen, dass sie die Arbeit selbst-
ständig und nur unter Nutzung der angegebenen Quellen
und Hilfsmittel erstellt haben, bleibt bislang dem Gut-
dünken der jeweiligen Fakultät überlassen. Schlicht vom
Zufall hängt es ab, ob die Hochschule Antiplagiatssoft-
ware zur Verfügung stellt und die Prüfenden sie auch be-
dienen können. Mal stammen alle Gutachter aus der
gleichen Fakultät, mal werden Gutachter anderer Uni-
versitäten beteiligt.
Wir müssen Schluss machen mit dem „völlig un-
durchsichtigen Handschlagmilieu“, in dem Doktoran-
den mit ihrem Professor ein Thema vereinbaren und
dann im stillen Kämmerlein vor sich hin forschen, wie es
Professor Hornbostel vom Institut für Forschungsinfor-
mation und Qualitätssicherung der DFG ausdrückt. Die
Mehrzahl der Promotionen in Deutschland wird noch
immer in der subjektiven Informalität eines Meister-
Schüler-Verhältnisses angefertigt. Bei der Vereinheitli-
chung von Qualitätsstandards kommt es daher darauf an,
das Verhältnis zwischen den Promovierenden und ihren
Betreuerinnen und Betreuern zu verobjektivieren. Dazu
sind Betreuungsvereinbarungen und transparente, faire
Zugänge zur Promotion geeignet. Dabei muss auch die
Universität mehr Verantwortung übernehmen.
Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz sollte in
Kooperation mit dem Wissenschaftsrat und der Hoch-
schulrektorenkonferenz prüfen, welche Regelungen sich
in den Landeshochschulgesetzen und Promotionsord-
nungen bewährt haben und als Best Practice empfohlen
werden können.
Auch die schwierigen Rahmenbedingungen, unter de-
nen manche Promovierenden ihre Dissertation verfassen,
müssen in den Blick genommen werden. Die strukturierte
Promotion in Graduiertenschulen und Graduiertenkollegs
sollte weiter gestärkt werden, ohne dass dies mit einer
Verschulung verbunden ist. Promovierende auf soge-
nannten Qualifizierungsstellen müssen neben ihren Auf-
gaben an der Hochschule genügend Zeit haben, ihre Dis-
sertation fertigzustellen. Auch die Arbeitsbedingungen
und die Personalausstattung der Betreuer und Gutachter
spielt eine wichtige Rolle. In der leistungsabhängigen
Besoldung der Professorinnen und Professoren und in
den Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den Univer-
sitäten dürfen nicht nur erfolgreich abgeschlossene Pro-
motionen als Kriterium gelten. Auch die Betreuung von
Doktorarbeiten, Zweitgutachtertätigkeiten und die Mit-
wirkung an Prüfungen müssen berücksichtigt werden.
Ich hoffe, wir werden unseren Antrag im Ausschuss
ausführlich beraten. Es muss darum gehen, das hohe An-
sehen, das die Promotion an deutschen Universitäten
weltweit genießt, zu verteidigen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatz-
förderungsfonds der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatz-
förderungsfonds der deutschen Forst- und
Holzwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Die christlich-liberale
Koalition hält Wort. Union und FDP schaffen mit dem
nun vorliegenden Gesetz zur Auflösung und Abwick-
lung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds ein In-
strument, das die möglichen nach der Abwicklung ver-
bleibenden Vermögensüberschüsse in die Hände unserer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11465
(A) (C)
(D)(B)
deutschen Bauern und Waldbauern zurückgibt, und da-
mit in die Hände der ursprünglichen Beitragszahler.
Vor genau sechs Wochen haben wir das letzte Mal
über die Verwendung der Restmittel aus dem Absatz-
fonds und dem Holzabsatzfonds in diesem hohen Hause
diskutiert. Wir von der CDU und CSU haben seit dieser
Zeit einiges im Sinne der deutschen Bauern und Wald-
bauern erreichen können, und damit im Sinne derjeni-
gen, die die Gelder einst aufgebracht haben.
Ich selbst habe zuletzt vor sechs Wochen zum Aus-
druck gebracht, dass mit der Auflösung des Absatzfonds
ein erfolgreiches Kapitel der Verkaufsförderung der Pro-
dukte des deutschen Ernährungsgewerbes zu Ende geht.
Denn der Absatzfonds wird nun endgültig abgewickelt.
Vielen Wirtschaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein
deutlich geworden, wie wichtig eine zentrale Absatzför-
derung ist und welch gute Arbeit CMA und ZMP geleis-
tet haben, auch wenn man über Einzelheiten und Details,
wie so oft, streiten kann.
Schauen wir uns exemplarisch doch nur einmal die
Bedeutung von Werbung und Marketing für den Absatz
der bei uns erzeugten Produkte im Ausland an. Der Ex-
port unserer hochqualitativen heimischen landwirt-
schaftlichen Produkte ist heute wichtiger denn je, führt
doch der große Erfolg und die Innovationskraft unserer
heimischen Betriebe dazu, dass die erzeugten Produkte
international in immer stärkerem Maße nachgefragt wer-
den. Sie müssen wissen, dass Deutschland im Jahre 2009
zweitgrößter Exporteur von Lebensmitteln und Geträn-
ken war, mit über 6 Prozent Anteil an den globalen Aus-
fuhren. Damit liegen wir direkt hinter den Vereinigten
Staaten und noch ein gutes Stück vor Brasilien, China
oder Frankreich. Darauf kann die gesamte deutsche Er-
nährungswirtschaft mit gutem Recht stolz sein.
Das führt uns wieder vor Augen, wie eng wir mit un-
seren internationalen Handelspartnern verknüpft sind,
und wie wichtig globale Vermarktungswege und welt-
weites Marketing heutzutage auch für den landwirt-
schaftlichen Sektor sind. Auch das Inlandsmarketing
oder, noch weiter heruntergebrochen, in immer größe-
rem Maße das regionale Marketing, sind von fundamen-
taler Bedeutung für den Absatz der bei uns erzeugten
Produkte sowie natürlich für die Generierung eines an-
gemessenen Preises, der im besten Fall den Preis für ein-
geführte Waren auch noch übersteigt, das heißt eine hö-
here Wertschöpfung erzielt.
Zwischenzeitlich sind auf Initiative der Wirtschaft so-
wohl in der Ernährungsbranche als auch im Holzbereich
Nachfolgeorganisationen gegründet worden. Dies be-
grüße ich ausdrücklich. Diese Erfolgsstory unserer Er-
nährungsbranche weiterzuschreiben und zu unterstützen,
sollte unser aller Auftrag sein.
Um nun wieder auf den uns vorliegenden Gesetzent-
wurf zurückzukommen: Die Beschlüsse des Bundesver-
fassungsgerichtes vom Frühjahr 2009 zur Verfassungs-
widrigkeit des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds
haben uns vor die Frage gestellt, was mit den Restmit-
teln nach Liquidierung der Institutionen geschehen soll.
Wie können die Vermögensüberschüsse, die zum Zeit-
punkt der Beendigung des Absatzfonds und des Holzab-
satzfonds möglicherweise bestehen bleiben – und wir re-
den hier hoffentlich von bis zu 14 Millionen Euro –, zum
Wohle und im Sinne der Beitragszahler, also der deut-
schen Bauern und Waldbauern, verwendet werden?
Nach Anhörung der Verbände argumentierte das Bun-
desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz, eine Verwendung etwaiger Überschüsse
zugunsten der ursprünglichen Beitragszahler sei recht-
lich nicht geboten, und mögliche Restmittel sollten dem
allgemeinen Bundeshaushalt zugeführt werden. Die
christlich-liberale Koalition, und gerade wir als Union,
haben nun aber das Ministerium im Laufe des Gesetzge-
bungsverfahrens mit Entschlossenheit und guten Argu-
menten davon überzeugen können, die rechtlichen Mög-
lichkeiten auszunutzen, die Restmittel im Sinne unserer
Bauern und Waldbauern zu verwenden, und sie eben
nicht dem allgemeinen Bundeshaushalt zuzuführen.
Unsere Auffassung fand auch im Bundesrat Unter-
stützung, hat er sich doch im Dezember letzten Jahres
dafür ausgesprochen, etwaige Überschüsse zugunsten
der Betriebe der Land- und Ernährungswirtschaft sowie
der Holz- und Forstwirtschaft einzusetzen, sei es bei-
spielsweise durch Messebeteiligungen, Marktstudien
oder Markterschließungsmaßnahmen. Diese Auffassung
des Bundesrates habe ich und hat die Union im Deut-
schen Bundestag ausdrücklich begrüßt.
Wir Abgeordnete der Regierungskoalition haben mit
dem nun vorliegenden Gesetz erreicht, dass die etwaigen
Überschüsse in das bestehende Zweckvermögen der
Landwirtschaftlichen Rentenbank übertragen werden.
Deshalb kann ich mit gutem Recht, wie bereits zu Be-
ginn meiner Rede, behaupten: Die christlich-liberale Ko-
alition hält Wort.
Union und FDP schaffen, wie angekündigt, ein Instru-
ment, welches zukünftig erlauben wird, die Restmittel
aus dem Absatzfond kosteneffizient und unbürokratisch
für zukunftsgerichtete Projekte zu nutzen. Das Zweck-
vermögen zum Beispiel wird erstens dazu verwendet,
Innovationen der Land- sowie der Agrar- und Ernäh-
rungswirtschaft in den Markt und in die Praxis einzufüh-
ren, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungs-
kette, das heißt in den Bereichen Erzeugung, Verarbei-
tung und Vermarktung. Zweitens unterstützt das Zweck-
vermögen bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank die
experimentelle Entwicklung von Innovationen. Ein Bei-
spiel hierfür ist die Umsetzung universitärer Forschung
in neue Produkte, die vom Markt aufgenommen und
nachgefragt werden. Die betroffenen Verbände begrüßen
ausdrücklich den Weg, den wir als Koalition jetzt mit
diesem Gesetz eingeschlagen haben.
Die Opposition hingegen will die Mittel unserer Bau-
ern und Waldbauern für parteipolitisch angehauchte rot-
grüne Spielwiesen missbrauchen. Da machen wir nicht
mit. So wollen zum Beispiel die Grünen eine neue büro-
kratische und ideologisch agierende Institution im Ge-
wande einer Stiftung errichten, die neue Posten und
Pöstchen entstehen lässt, anstatt das Ernährungsgewerbe
und die Holzwirtschaft zu unterstützen. Diesem falschen
11466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
Ansinnen sind Union und FDP entschieden entgegenge-
treten.
Wir, die Abgeordneten der christlich-liberalen Koali-
tion, haben erreicht, dass die Mittel jetzt unkompliziert,
unbürokratisch und transparent zum Wohle der deut-
schen Land- und Forstwirtschaft eingesetzt werden kön-
nen.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute geht zumin-
dest im Deutschen Bundestag das Kapitel Absatzfonds
zu Ende.
Führen wir uns nochmals die Historie vor Augen: Im
Jahr 1969 wurden durch das Absatzfondsgesetz die zen-
tralen Fonds zur Absatzförderung der deutschen Land-,
Forst- und Ernährungswirtschaft errichtet. Erklärtes Ziel
war es damals, der deutschen Land-, Forst- und Ernäh-
rungswirtschaft ein wirkungsvolles Instrument zur zen-
tralen Absatzförderung zu verschaffen und ihre Markt-
stellung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu
festigen. Der Absatz und die Verwertung von Erzeugnis-
sen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft sollte
durch die Erschließung und die Pflege von Märkten im
In- und Ausland mit modernen Mitteln und Methoden
zentral gefördert werden, so der damalige Gesetzestext.
Die Fonds wurden durch eine Sonderabgabe gespeist,
die von belasteten Abgabepflichtigen, den Land- und
Forstwirten, direkt oder indirekt aufgebracht wurden.
Die Zielsetzung der Absatzfonds war zur damaligen
Zeit sicherlich sinnvoll, obwohl es bereits damals kriti-
sche Stimmen gab. Auf gesättigten Märkten läuft insbe-
sondere das von der Centralen Marketing-Gesellschaft
der deutschen Agrarwirtschaft mbH betriebene Grup-
penmarketing ins Leere. Auf gesättigten Märkten ist
Gruppenmarketing nicht zielführend. Vielmehr geht es
um die Produktdifferenzierung innerhalb von Waren-
gruppen. Dieses Marketing können Lebensmittelprodu-
zenten eindeutig besser umsetzen als zentrale Absatzför-
derungsorganisationen.
Die zentrale Absatzförderung verlor zunehmend ihre
Legitimation. Die Abgabenpflichtigen stellten die be-
rechtigte Frage nach dem Sinn der Zwangsabgabe. Ver-
heerend für das Image der CMA waren auch die vielen
Beispiele einer falsch verstandenen Zielgruppenwer-
bung. Die CMA-Anzeige für deutsches Fleisch wurde
mit dem Spruch unterlegt: „Ich steh’ auf Typen mit
Kohle.“ Die CMA-Anzeige für deutsches Geflügel mit
„Ich liebe schöne Schenkel“. Solche Sprüche stoßen
nicht nur aufgeklärte Verbraucherinnen und Verbraucher
vor den Kopf. Dies sollte doch den für Marketing Ver-
antwortlichen klar sein. Vielleicht waren aber die Ver-
waltungsräte doch zu weit von der Konsumentenrealität
entfernt und orientierten sich zu stark an den vermeintli-
chen Bedürfnissen der Agrarproduzenten.
Ende 2002 entschied der EUGH, dass die Verwen-
dung des Gütezeichens der CMA „Markenqualität aus
deutschen Landen“ gegen EU-Recht verstößt. Für einige
Landwirte war dies der Anlass, Anfang 2003 gegen den
Absatzfonds zu klagen.
In 2006 wurde die CMA durch den Bundesrechnungs-
hof überprüft. In zwei Berichten dokumentierten die Prü-
fer ihre Kritik an der CMA und dem Absatzfonds. Der
Rechnungshof warf der CMA unter anderem vor, regel-
widrig und unwirtschaftlich zu arbeiten. Am 3. Februar
2009 erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungs-
gerichts in Karlsruhe die gesetzlichen Pflichtabgaben an
den Absatzfonds für verfassungswidrig.
Bezeichnend ist auch, dass der Deutsche Bauernver-
band so lange für den Absatzfonds gekämpft hat, obwohl
doch schon lange klar war, dass dieses Instrument voll-
kommen antiquiert, ja sogar verfassungswidrig war. Es
ist gut, dass das Thema Absatzfonds ein Ende findet.
Schlecht ist es, dass die Restmittel der Absatzfonds nur
bedingt gruppennützlich an die Landwirtschaftliche
Rentenbank fließen. Die SPD hat die Bundesregierung
aufgefordert, etwaige dem Bund zufließende Restmittel
aus der Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatz-
förderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungs-
wirtschaft sowie der Anstalt Absatzförderungsfonds der
deutschen Forst- und Holzwirtschaft zweckgebunden
und damit auch gruppennützlich einzusetzen.
Wir wollen, dass die möglichen Vermögensüber-
schüsse aus der Auflösung und Abwicklung der Anstalt
Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh-
rungswirtschaft an die Andreas-Hermes-Akademie flie-
ßen. Deren Trägerverein, das Bildungswerk der Deut-
schen Landwirtschaft e. V., sollte die Mittel dafür
einsetzen, um ein Fortbildungsprogramm mit den
Schwerpunkten Unternehmens- und Umweltmanage-
ment aufzulegen. Damit könnten landwirtschaftliche Be-
triebsleiter geschult werden. Damit lassen sich landwirt-
schaftliche Betriebe gezielt weiterentwickeln.
Stattdessen wird die Koalitionsmehrheit heute be-
schließen, mögliche Vermögensüberschüsse der beiden
Fonds auf das Zweckvermögen des Bundes bei der
Landwirtschaftlichen Rentenbank zu übertragen. Damit
kommen die Überschüsse aber nicht in erster Linie den
ehemaligen Abgabepflichtigen zugute, sondern in erster
Linie dem Deutschen Bauernverband. Der entscheidet
nämlich letztendlich, wer welche Projektgelder aus dem
Zweckvermögen erhält – in der Regel immer zuerst die
eigenen Landesverbände.
Dieses Vorgehen birgt meines Erachtens auch eine
weitere Gefahr: Wir wissen alle, dass das Sondervermö-
gen der Landwirtschaftlichen Rentenbank Bundesver-
mögen ist. Im Fall der Fälle kann der Gesetzgeber Rück-
flüsse in den Bundeshaushalt veranlassen. Ich unterstelle
Schwarz-Gelb, dass sie sich den letztendlichen Zugriff
auf die Restmittel dann doch noch erhalten wollen.
Ich weiß, dass eine Rückführung der Bestandsmittel
an die ehemaligen Beitragszahler mit enormen Kosten
verbunden wäre. Die SPD will mit ihrem Antrag eine
gruppennützliche Verwendung der Restmittel gewähr-
leisten – und zwar ohne Rückfallposition, ohne Hinter-
türchen zugunsten des Bundeshaushalts. Wir werden
nach Abwicklung der Fonds und nach der Übertragung
der Restmittel darauf achten, dass die Mittel auch dort
ankommen, wo sie hingehören: bei den aktiven Land-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11467
(A) (C)
(D)(B)
wirten und nicht bei der Verbände- oder Verwaltungs-
bürokratie.
Würde es nach dem Willen der SPD gehen, würden
auch mögliche Vermögensüberschüsse aus der Auflö-
sung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungs-
fonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft sinnvoller
eingesetzt. Die SPD fordert, dass dieses Geld als einmali-
ger Zuschuss an die „Zukunft Holz GmbH“, ZHG, ausge-
zahlt wird. Damit sollen konkret zusätzliche Absatzför-
dermaßnahmen für nachhaltig produzierte Holzprodukte
gefördert werden. Die Labels FSC, Naturland oder PEFC,
mit denen aus nachhaltiger Produktion stammendes Holz
zertifiziert wird, müssen stärker beworben werden. Ver-
braucher könnten dann bewusst anhand der Labels ent-
scheiden.
Von einer Regierung, die es aber nicht einmal schafft,
einen gesellschaftlichen Konsens für eine nachhaltige
Holznutzung im Rahmen einer konsistenten Waldstrate-
gie zu formulieren, kann niemand ernsthaft erwarten,
dass sie sich für zusätzliche finanzielle Mittel einsetzt,
mit denen der Markt für nachhaltig erzeugte Holzpro-
dukte ausgebaut werden kann.
Wir werden daher diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Es ist den
Agrarpolitikern der christlich-liberalen Koalition ge-
meinsam mit den Haushaltspolitkern gelungen, den Ge-
setzentwurf zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt
Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh-
rungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds
der deutschen Forst- und Holzwirtschaft im parlamenta-
rischen Verfahren hinsichtlich der Verwendung der even-
tuell vorhandenen Restmittel zu verbessern.
Die FDP hat von Anfang an gefordert, nach Ab-
schluss sämtlicher noch anhängender Verfahren am Ende
des Abwicklungsprozesses übriges Restvermögen beider
Fonds gruppennützig zu verwenden und nicht in den all-
gemeinen Haushalt fließen zu lassen. Die Sonderabgabe
ist von Unternehmen der Land- und Ernährungswirt-
schaft wie auch der Forst- und Holzwirtschaft geleistet
worden. Die Mittel wurden über eine nicht EU-kon-
forme und verfassungsrechtlich nicht haltbare Branchen-
abgabe eingezogen. Warum sollte ein deutscher Obst-
bauer mit seiner Abgabe den Absatz von Obst ganz
allgemein fördern? Auch war nie einzusehen, wieso die
Landwirtschaft im Gegensatz zu den übrigen Wirt-
schaftsbereichen für die Exportförderung eigene Mittel
aufbringen sollte. Die Verwendung dieser Restmittel
sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht ha-
ben, erfolgen. Dies mag zwar haushaltsrechtlich nicht
der klassische Weg sein; aus Gründen des Vertrauens-
schutzes war es jedoch politisch geboten.
Derzeitige Schätzungen gehen von einem Vermögen
zwischen 10 und 12 Millionen Euro aus. Um die Bei-
tragszahler und die Steuerzahler nicht zu belasten, sind
die Kosten der Abwicklung selbst zunächst aus dem
Restvermögen zu tragen. Nach der Bekanntgabe des Ge-
richtsbeschlusses gab es zahlreiche Klagen gegen die
monatlichen Beitragsbescheide. Nach der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichtes wurden diese für erle-
digt erklärt und die zu Unrecht eingezogenen Beiträge an
die klagenden Betriebe zurückgezahlt. Es muss über die
Forderung der Länder entschieden werden, dass die Pro-
zesskosten der anhängigen Klagen vom Bund getragen
werden.
Es gab eine ganze Reihe unterschiedlicher Vorstellun-
gen davon, in welcher Weise das Restvermögen der bei-
den Anstalten verwendet werden könnte, zum Beispiel
als Einbringung in eine Stiftung oder als Unterstützung
bestehender Vermarktungsstrukturen, die sich in der
Nachfolge der beiden Anstalten gegründet haben. In je-
dem Fall wollten wir sichergestellt wissen, dass diejeni-
gen, die die Mittel aufgebracht haben, davon einen Nut-
zen haben.
Nach gründlichen Überlegungen haben wir uns inner-
halb der Koalition entschlossen, die Mittel an die Land-
wirtschaftliche Rentenbank zu überführen und dem
Zweckvermögen zukommen zu lassen. Dies ist die ein-
fachste und zugleich transparenteste Variante zur Ver-
wendung des Restvermögens. Es kommt damit denjeni-
gen zugute, die das Vermögen durch ihre
Beitragszahlungen aufgebaut haben. Wir vermeiden zu-
dem mehr Bürokratie und höhere Transaktionskosten,
wenn wir ein bestehendes, bekanntes Förderinstrument
stärken.
Die Landwirtschaftliche Rentenbank ist öffentlich-
rechtlich organisiert, sie bindet Bund und Länder sowie
nicht nur die Verbände der Land-, Agrar- und Ernäh-
rungswirtschaft, sondern auch die der Forst- und Holz-
wirtschaft ein. So können Zukunftsprojekte aus Land-,
Ernährungs- und Forstwirtschaft finanziert werden, die
nachhaltige Tier- und Pflanzenproduktion fördern, Inno-
vationen beinhalten und Ausbildung und Beratung unter-
stützen. Ebenso können im Sinne der Absatzförderung
Konzepte für Information und Kommunikation über eine
nachhaltig wirtschaftende Produktionskette bei Lebens-
mitteln und bei Produkten der Holzwirtschaft entwickelt
werden. Die Rentenbank fördert in diesem Sinne insbe-
sondere kleine und mittlere Unternehmen sowie For-
schungseinrichtungen.
Ganz besonders betonen möchte ich, dass das Zweck-
vermögen auch Projekte in der Forst- und Holzwirtschaft
unterstützen kann und soll. Dies war der FDP ein wichti-
ges Anliegen, da auch das Restvermögen des Absatzför-
derungsfonds der Forst- und Holzwirtschaft in dieses
Zweckvermögen überführt wird. Voraussichtlich wird
dieses einen Anteil von einem Viertel der Beträge aus-
machen; deswegen muss die Holzwirtschaft förderungs-
fähig sein. Wir werden prüfen, ob eine Klarstellung der
Richtlinien zur Verwendung des Zweckvermögens hilf-
reich sein könnte.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke be-
grüßt das Ende der bisherigen Absatzfonds, will aber
mehr regionale Absatzförderung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden der Ab-
satz- und der Holzabsatzfonds, die verfassungswidrig fi-
nanziert sind, endgültig beendet. Das ist gut so. Als
11468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
Linke haben wir die breite inhaltliche Kritik an der Cen-
tralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirt-
schaft, CMA, unterstützt. Auch die Erhebung der
Zwangsabgabe zur Finanzierung von oft mehr als peinli-
chen Werbekampagnen, die vielen Landwirtinnen und
Landwirten jahrelang Zornesröte ins Gesicht trieb, ha-
ben wir schon länger für verfassungswidrig gehalten.
Diese Einschätzung wurde auch durch die Anhörung im
zuständigen Agrarausschuss des Bundestages im Jahr
2009 bestätigt. Schon damals habe ich die Bundesregie-
rung aufgefordert, einen Plan B zu erarbeiten. Doch die
ehemalige schwarz-rote Koalition blieb, wie so oft, untä-
tig. Die Folgen können wir nun als einen Scherbenhau-
fen „bewundern“. Er wird nur sehr mühsam und holprig
beseitigt.
Zwei Dinge sind aus unserer Sicht als direkte Folge
zu beachten. Einerseits geht es um die Frage, was mit
den Geldern aus den beiden Fonds passiert, die nach Be-
zahlung aller offenen Rechnungen noch übrig sind. Mo-
mentan ist immerhin von 13,4 Millionen Euro beim Ab-
satzfonds und 2,8 Millionen beim Holzabsatzfonds die
Rede. Dass die unfreiwilligen Beitragszahlerinnen und
-zahler wenigstens von diesen Restmitteln indirekt profi-
tieren sollten, war in den Oppositionsfraktionen immer
selbstverständlich, und am Ende konnte sich auch die
Koalition dieser Logik nicht entziehen.
Gleichzeitig sollte bei aller berechtigten Kritik an der
CMA nicht vergessen werden, dass von der Abwicklung
Beschäftigte betroffen sind, die völlig unverschuldet in-
folge juristischer Urteile, politisch falscher Entscheidun-
gen oder Nichthandelns ihren Arbeitsplatz verloren ha-
ben. Viele Beschäftigte von CMA und ZMP sind ebenso
existenziell betroffen wie Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter des Holzabsatzfonds.
Den circa 350 Beschäftigten der CMA und ZMP
wurde Hoffnung auf erfolgreiche Vermittlung anderer
Arbeitsplätze gemacht. Doch viele sind noch heute ar-
beitslos. Sie sind bitter enttäuscht. Insbesondere wurde
zu keinem Zeitpunkt in geeigneter Weise auf die Proble-
matik der über 50-Jährigen eingegangen, obwohl abseh-
bar war, dass sie ein besonders hohes Risiko haben, er-
werbslos zu werden. Hier wäre das Bundesministerium
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz,
BMELV, in der Pflicht gewesen, seinen Beitrag für eine
soziale Perspektive der ehemaligen Beschäftigten der
beiden Fonds zu leisten. Die Linke hatte das in Aus-
schusssitzungen mehrmals thematisiert. Um wie viele
Betroffene es sich aktuell handelt, konnte ich leider nicht
herausfinden. Aber einige haben sich mit ihren Erfah-
rungen mit der Transfergesellschaft an mich gewandt.
Der CMA-Sozialplan ist anscheinend nicht so erfolg-
reich gewesen, wie in Aussicht gestellt. Die zur Verfü-
gung stehenden Mittel der Transfergesellschaft PEAG
waren Ende Mai 2010 bereits restlos aufgebraucht. Hätte
die damalige Bundesregierung frühzeitig an einem
Plan B gearbeitet, wie von der Linken gefordert, dann
hätte auch dieses Problem sozialverträglicher gelöst wer-
den können. Auch die SPD hat ihre soziale Verantwor-
tung hier nicht konsequent übernommen.
Die gruppennützige Verwendung der Restmittel ist
unterdessen im Bundestag fraktionsübergreifend unstrit-
tig. Große Teile der Branche haben das in unzähligen
Briefen gefordert. Dabei war die Wunschliste zur Um-
setzung dieses politischen Zieles sehr lang. Jede Interes-
sensgemeinschaft wollte möglichst viel vom Kuchen ab-
bekommen. Als Linke ist uns wichtig, die Restmittel an
der Stelle einzusetzen, wo der Fonds am dringlichsten
nötig gewesen wäre, eine verfassungsgemäße Finanzie-
rung vorausgesetzt. Deshalb haben wir die Weitergabe
an die regionalen Absatzfördergesellschaften vorge-
schlagen. So wären sie gruppennützig und sinnvoll ver-
wendet worden.
Die Koalitionsfraktionen haben sich für die Weiter-
gabe der Gelder an die Landwirtschaftliche Rentenbank
entschieden, damit diese ihr Sondervermögen aufsto-
cken kann. Das ist allemal besser als die ursprünglich
geplante Einspeisung in den Bundeshaushalt. Bisher
habe ich zu diesem Vorhaben noch keine verärgerten
Aufschreie vernommen, außer von den Grünen, die lie-
ber ihre Klientel mit dem Geld beglückt hätten. Die
Branche hat dieses Vorgehen wohl als gruppennützig ak-
zeptiert. Selbst der Deutsche Forstwirtschaftsrat hat die
Entscheidung begrüßt; also sollte auch das Geld des
Holzabsatzfonds dort einigermaßen gut aufgehoben sein.
Vorteil dieser Lösung gegenüber den Vorschlägen der
SPD und der Grünen ist aus unserer Sicht, dass die Gel-
der wie bei unserem Vorschlag in eine bereits bestehende
Struktur einfließen, also kein Geld für den Aufbau neuer
Strukturen verwendet werden muss. Die Rentenbank
bietet ein breites Angebot für Land- und Forstwirtschaft,
Wein- und Gartenbau. Die Kritik, dass nicht gesichert
wäre, dass auch die Betriebe der Holzwirtschaft in den
Genuss der Programme der Rentenbank kommen, sollte
allerdings ernst genommen werden. Wir werden das im
Auge behalten.
Dem Förderungsfonds der Rentenbank standen im
Jahr 2009 5,375 Millionen Euro aus dem Bilanzgewinn
des Vorjahres zur Verfügung. Daraus wurden viele Ein-
zelprojekte und Institutionen in den ländlichen Räumen
unterstützt. Diese Verwendung entspricht zwar nicht un-
serem – noch besseren – Vorschlag der Übergabe der
Restmittel an regionale Absatzfördergesellschaften.
Aber er entspricht der von der Opposition immer gefor-
derten gruppennützigen Verwendung. Daher kann ich
die Ablehnung dieses Kompromisses durch die SPD und
die Grünen nicht nachvollziehen. Als Linke werden wir
uns enthalten.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Anders als für die CDU/CSU, die dem Absatz-
fonds immer noch nachtrauert, begrüßen wir die Auflö-
sung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds
ausdrücklich; denn damit wird das Ende der jahrelangen
verfassungswidrigen Zwangsabgabe von Bäuerinnen
und Bauern endlich besiegelt.
Jahrelang haben Bäuerinnen und Bauern gegen die
Zwangsabgabe zum Absatzfonds gekämpft, einer von
ihnen hat schließlich erfolgreich geklagt. Ihnen gegen-
über stand der Deutsche Bauernverband, der sich mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11469
(A) (C)
(D)(B)
Unterstützung der CDU/CSU bis zuletzt für die Beibe-
haltung der Zwangsabgabe eingesetzt hat, weil er über
Jahre direkt und indirekt kräftig davon profitiert hat.
DBV-Präsident Sonnleitner als Chef des Absatzfonds,
DBV-Vize Hilse als Aufsichtsratschef der CMA, DBV-
Vize Folgart als Aufsichtsratschef der ZMP: Die Herren
des DBV hatten sich die Macht über die jährlich rund
90 Millionen Zwangsabgaben der Bäuerinnen und Bau-
ern sorgsam gesichert und scherten sich wenig darum,
dass das Ganze nicht nur für die Bauern ohne erkennba-
ren Nutzen war, sondern schlicht verfassungswidrig.
Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsge-
richt diesem Treiben ein Ende gesetzt und die Zwangs-
abgaben zum Absatzfonds für verfassungswidrig erklärt.
Am 12. Mai 2009 folgte das gleiche Urteil für den Holz-
absatzfonds.
Nach der Abwicklung werden aus dem Absatzfonds
voraussichtlich etwa 13,4 Millionen Euro und aus dem
Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro verbleiben.
Diese Gelder sollen nach dem Willen der Koalition
nun ausgerechnet an das Zweckvermögen des Bundes
bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank gehen. Das hat
– vorsichtig ausgedrückt – ein Geschmäckle.
Denn wer hat in der Rentenbank das Sagen? Vorsitzen-
der des Verwaltungsrates ist DBV-Präsident Sonnleitner.
Neben Sonnleitner sitzen im Vorstand: Dr. Helmut Born,
DBV-Generalsekretär, Udo Folgart, DBV-Vize, Werner
Hilse, DBV-Vize, Franz-Josef Möllers, DBV-Vize. Die
Liste ließe sich fortsetzen.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Institutionen
und Projekte des Bauernverbands zu den größten Profi-
teuren des Förderfonds der Rentenbank gehören. Bei der
Förderung aus dem Zweckvermögen entscheidet die
Landwirtschaftliche Rentenbank zwar formal nur im
Einvernehmen mit dem BMELV. Der Verdacht liegt je-
doch nahe, dass der Deutsche Bauernverband auch hier
zu den bevorzugten Nutznießern gehören dürfte.
Die Bundesregierung hätte längst die Gelegenheit ge-
habt, diesen Verdacht auszuräumen. Aber in der Antwort
auf unsere entsprechende Kleine Anfrage vom 5. Juli
2010 weigerte sich die Bundesregierung, konkrete An-
gaben zur Verwendung der Fördergelder aus dem
Zweckvermögen zu machen. Dabei wäre das BMELV
nicht zuletzt entsprechend Abs. 5.1 der Richtlinien über
die Verwendung des Zweckvermögens des Bundes bei
der Landwirtschaftlichen Rentenbank berechtigt gewe-
sen, Vorhaben, Antragsteller und Höhe der Förderung zu
nennen.
Ich fordere daher die Bundesregierung auf, dem Par-
lament umgehend offenzulegen, wer in welchem Um-
fang von der Förderung aus dem Zweckvermögen profi-
tiert.
Wir sind der Meinung, dass eine gruppennützige Ver-
wendung der Gelder, wie sie das Bundesverfassungsge-
richt und der Bundesrat gefordert haben, nur durch eine
unabhängige Institution gewährleistet werden kann.
Wir schlagen daher die Errichtung einer unabhängi-
gen Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft vor. Zweck der
Stiftung sollte die Förderung des landwirtschaftlichen
Gemeinwohls sein. Die Stiftung Bäuerliche Landwirt-
schaft sollte Pionierarbeit von Bäuerinnen und Bauern
fördern, die dem langfristigen Wohl der Landwirtschaft
dient, zum Beispiel in den Bereichen Züchtung und Bo-
denfruchtbarkeit.
Die deutlich geringeren Restmittel aus dem Holzab-
satzfonds sollten einer bestehenden oder neuzugründen-
den unabhängigen Institution zukommen, die Vorhaben
im allgemeinen Interesse der Forst- und Holzwirtschaft
realisiert, zum Beispiel die Fortführung des Informa-
tionsdienstes Holz oder Vorhaben zur Förderung des
Holzbaus.
Eine weitere einseitige Begünstigung einflussreicher
Lobbygruppen lehnen wir hingegen ab.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 19)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Lassen Sie uns heute
über das Zweitverwertungsrecht reden. Darum geht es
jedenfalls in dem auf Drucksache 17/5053 vorgelegten
Gesetzentwurf der SPD – vordergründig jedenfalls. Ei-
gentlich geht es aber eher um etwas anderes. Eigentlich
geht es darum, dass sich die SPD-Fraktion mit ihrem Ge-
setzentwurf das „Ich bin schon da“-Gefühl geben
möchte, das wir aus dem „Hase und Igel“-Märchen der
Gebrüder Grimm kennen. Während die Koalition behä-
big ihre Themen abarbeitet, kommt die SPD flink und
listig mit allem schon viel früher um die Ecke. Glück-
wunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD!
Der Punkt geht an Sie – jedenfalls der Punkt, dass Sie
schneller sind.
Aber Listigkeit und Flinksein haben ihren Preis. Das
sehen wir gerade an dem von Ihnen vorgelegten Gesetz-
entwurf. Um nicht zu sagen: Der Erfolg ihres Gesetzent-
wurfs reduziert sich allein darauf, dass Sie ihn schneller
vorgelegt haben. Ihnen mag das vielleicht reichen; uns
reicht es jedenfalls nicht.
Machen wir es also ebenso schnell: Der Gesetzent-
wurf der SPD ist viel zu kurz gesprungen. Er ist reine
Effekthascherei, weil er einen einzelnen Aspekt, das
Zweitverwertungsrecht, ausschließlich so, wie ihn eine
Interessengruppe, verschiedene Wissenschaftsorganisa-
tionen, nach vorne tragen, in Gesetzesform gießen will.
Ich kann zwar nachvollziehen, dass sich die SPD an-
gesichts der Tatsache, dass es nur um den kurzfristigen
Effekt geht, wirklich nicht viel Mühe machen wollte;
aber so einseitig vorzugehen und nicht einmal im Ansatz
den Versuch zu starten, mit einem Gesetzentwurf den
Ausgleich verschiedener Interessen vorzunehmen, das
11470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
(A) (C)
(D)(B)
ist schon bemerkenswert. Bemerkenswert unklug! So
weit zum Gesetzentwurf der SPD.
Nun zum eigentlichen Thema, das wirklich die ernst-
hafte Auseinandersetzung lohnt. Denn es sind einige
Faktoren in der Tat nicht von der Hand zu weisen:
Zum einen wollen Wissenschaftler nachvollziehbarer-
weise ihre Ergebnisse gerne im Verlag mit dem höchsten
Renommee veröffentlichen. Daraus hat sich in einigen
Bereichen eine gewisse Monopolisierung ergeben. Und
es stimmt: Manche Verlage nutzen diese Monopolbil-
dung aus, verlangen immer höhere Preise und erreichen
dadurch Margen von bis zu 70 Prozent.
Zum anderen halten die Bibliotheksetats bei der
explosionsartigen Vermehrung von Veröffentlichungen
nicht Schritt. Im Gegenteil, die finanzielle Ausstattung
durch die öffentliche Hand wird immer schmaler.
Da ist es eigentlich kein Wunder, dass von interessier-
ter Seite der Ruf nach einer Schranke zugunsten einer
Zweitverwertungsmöglichkeit laut wird. Aber nur weil
der Ruf erschallt, heißt das noch nicht zwangsläufig,
dass man ihm folgen muss, vor allem nicht, dass man
sich dann auf dem richtigen Weg befindet.
„Quidquid agis prudenter agas et respice finem“ lau-
tet ein lateinisches Sprichwort: Was auch immer du tust,
handle klug und bedenke das Ende! Wenn der Gesetzent-
wurf der SPD dies schon nicht tut, dann sollten wir das
im Interesse der Urheber sehr sorgsam tun. Das braucht
naturgemäß Zeit – Zeit, die wir uns zur sorgsamen Vor-
bereitung des Dritten Korbs der Urheberrechtsreform
auch nehmen, um solche Schnellschüsse wie den SPD-
Gesetzentwurf zu vermeiden.
Wir sollten daher genau überlegen, ob ein solches
Zweitverwertungsrecht wirklich zielführend ist. In die-
sem Überlegungsprozess befinden wir uns derzeit.
Erstens. Es sind vor allem die Wissenschaftsorganisa-
tionen, die die Einführung eines Zweitverwertungsrech-
tes forcieren. Wo ist da die Stimme der wirklichen Urhe-
ber? Sind sie so schwach, dass sie der Stimme anderer
bedürfen? Oder sind sie vielleicht damit zufrieden, dass
sie gerade in dem besonderen Journal X oder der
Zeitschrift Y ihre Ergebnisse veröffentlichen können?
Zweitens. Ist eine gesetzliche Regelung im Urheber-
recht wirklich das richtige Instrument? Der SPD-Antrag
fordert das Zweitverwertungsrecht ausschließlich für die
Veröffentlichung von Ergebnissen öffentlich geförderter
Forschung. Damit wird der Gegenstand des Zweitver-
wertungsrechts schon deutlich eingeschränkt. Hinter die-
ser Beschränkung steht die nachvollziehbare Überle-
gung, dass die öffentliche Hand nicht zweimal für
Forschung bezahlen soll: zum einen über die For-
schungsförderung und zum anderen über die Biblio-
theksförderung.
Wenn es aber ohnehin nur um die Ergebnisse öffent-
lich geförderter Forschung geht, dann stellt sich die
Frage, ob das gewünschte Ziel nicht bereits durch Zu-
wendungsauflagen bei der Fördermittelvergabe erreicht
werden kann. So breit wie die öffentliche Förderung auf-
gestellt ist, müsste es doch mit dem Teufel zugehen,
wenn nicht ausreichend kritische Masse auf diesem Weg
erzeugt werden könnte, um den Verlagen als ebenbürti-
ger Verhandlungspartner gegenüberzustehen.
Drittens. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die
Forderung nach einem Federstrich des Gesetzgebers
nicht sogar von dem eigentlichen Problem ablenkt, näm-
lich dem Problem, dass Etats von wissenschaftlichen Bi-
bliotheken immer weiter reduziert werden und immer
weniger Mittel für die Bereitstellung von Publikationen
zur Verfügung stehen. Ist es richtig, das auf Kosten der
Verlage zu sanktionieren?
Viertens. Können Verlage überhaupt noch verlässlich
kalkulieren, wenn es ein verbindliches Zweitverwer-
tungsrecht gibt? Die Verlage investieren in Veröffentli-
chungen. Sie steuern technisches Know-how bei und er-
bringen mit dem Lektorieren, Setzen und Publizieren
eigene Leistungen. In der Summe wollen Verlage selbst-
verständlich ihre verlegten Werke auch amortisieren. Es
ist nicht auszuschließen, dass die renommierten Publika-
tionen noch teurer und viele andere Werke einfach gar
nicht mehr verlegt werden. Am Ende mögen weniger
Veröffentlichungen und damit weniger Qualität stehen.
Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wol-
len, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigen
Journalen veröffentlichen wollen, werden sich mögli-
cherweise zwingen lassen. Auch das müssen wir beden-
ken.
Sie sehen: Allein die Diskussion um diese eine
Schranke im Urheberrecht wirft viele Fragen auf – Fra-
gen, die bedacht sein wollen und auf die der Gesetzent-
wurf der SPD auch nicht im Ansatz eine Antwort gibt.
Ich will nicht verhehlen, dass ich persönlich einem
Zweitverwertungsrecht insgesamt kritisch gegenüber-
stehe. Ich sehe, dass hier die Gefahr einer Kostenverla-
gerung von den Nutzern auf die Kreativen besteht. Ich
sehe die Gefahr, dass letztlich die Qualität von Veröf-
fentlichungen leidet. Außerdem sehe ich die Gefahr,
dass es statt weniger mehr Monopolisierung gibt. Wir
sollten daher mit dem Instrument des Zweitverwertungs-
rechts sehr vorsichtig sein – vorsichtiger als die SPD mit
ihrem Gesetzentwurf.
René Röspel (SPD): Wie ermöglicht man einen um-
fassenden Zugriff auf das wissenschaftliche Wissen der
Welt? Diese ebenso grundsätzliche wie wichtige Frage
steht im Zentrum des von der SPD-Bundestagsfraktion
heute vorgelegten Entwurfs für ein Gesetz zur Änderung
des Urheberrechts.
Wir alle kennen die klassischen Wege der schriftli-
chen Wissenschaftskommunikation. Es werden zunächst
Forschungsprojekte betrieben, die zu neuen oder erwei-
terten Erkenntnissen führen. Diese werden durch den
oder die Forscher in einem Textbeitrag dargestellt und
dann in einem Buch, einem Sammelband oder in einer
Zeitschrift veröffentlicht. Idealerweise stehen diese
Werke dann allen am Thema interessierten Forscherin-
nen und Forschern zur Verfügung, damit sie Rück-
schlüsse ziehen und Anregungen aufnehmen können für
ihre eigene Arbeit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11471
(A) (C)
(D)(B)
Nun werden seit einigen Jahren die Grenzen dieses
klassischen Modells deutlich. Die Gründe hierfür sind
vielfältig. So hat sich die Dynamik der wissenschaftli-
chen Kommunikation in einer Art und Weise verstärkt,
wie es zu Zeiten vor Internet und Web 2.0 undenkbar
war. Der Bedeutung des Internets für die wissenschaftli-
che Kommunikation muss der Gesetzgeber Rechnung
tragen, wenn die deutsche Wissenschaft von dieser Ent-
wicklung nicht abgekoppelt werden soll.
Die Verlage wiederum haben in den letzten Jahren
verstärkt ihre marktbeherrschende Rolle in der Wissen-
schaftskommunikation für teilweise extreme Preissteige-
rungen genutzt. Ein Beispiel aus den USA ist die Ankün-
digung der Nature Publishing Group gegenüber der
University of California, den Preis für die Onlinelizenz
für die Universität von 2011 an um sage und schreibe
400 Prozent zu erhöhen. Erst nach einer Boykottdrohung
kam es zu einer Annährung zwischen der Verlagsgruppe
und der Universität. Das Verhalten der Verlagsgruppe
zeigt, mit welcher Aggressivität einige Verlage versu-
chen, die Abhängigkeit von Hochschulen auszunutzen.
Übrigens waren die Kosten für die Lizenz der Nature
Publishing Group zwischen 2005 und 2009 bereits um
137 Prozent gestiegen.
Die Folgen dieser Abhängigkeit sind insbesondere in
Bezug auf die staatliche Forschungsförderung für einen
unabhängigen Beobachter kaum mehr vermittelbar. Da
fördern der Bund und die Länder mit Milliardenbeträgen
die Wissenschaft und Forschung in Deutschland über
Projektmittel und Gehaltszahlungen. Ein Ergebnis dieser
Förderung sind neue Erkenntnisse, welche die Wissen-
schaftler in Schriftform einem weiten Kreis von Interes-
senten bekannt machen wollen. Hier treffen sie auf das
„Nadelöhr“: Verlage, die sich meist alle Rechte an den
Texten abtreten lassen. Meist wird sogar die Formatie-
rung des Textes, ausgehend von einer Formatvorlage, als
Aufgabe an den oder die Autoren delegiert. Der Verlag
verkauft dann sein Printprodukt bzw. seine Lizenzen an
Hochschulen, Bibliotheken, Einzelpersonen usw. In den
ersten beiden Fällen kauft der Steuerzahler – vertreten
durch Bund und Länder – also die von ihm finanzierten
Forschungserkenntnisse erneut zu hohen Kosten ein, da-
mit Dritte Zugang zu ihnen erlangen können. Aus Sicht
der Verlage hat dieses Vorgehen nur Vorteile; ein Modell
für die Zukunft der Wissenschaftskommunikation ist
dieses Verfahren aber nicht.
Diese Erkenntnis ist nicht erst wenige Wochen oder
Monate alt. Bereits im Rahmen der Beratungen des
„Zweiten Korbes“ zur Reform des Urheberrechts hat
sich der Deutsche Bundestag für die Prüfung eines soge-
nannten unabdingbaren Zweitverwertungsrechts ausge-
sprochen. Dieser etwas sperrige Begriff bedeutet, dass
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Recht er-
halten, nach einer im Gesetz festgelegten Embargofrist
ihre – überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierten –
Texte nach einer Erstveröffentlichung etwa in einer Zeit-
schrift nach Belieben an einer anderen Stelle zweitzuver-
öffentlichen. Der Bundesrat hat in den Beratungen zum
„Zweiten Korb“ sogar einen dezidierten Vorschlag für
die Festschreibung eines solchen Zweitverwertungs-
rechts vorgelegt, den die damalige Bundesregierung je-
doch bedauerlicherweise nicht aufgegriffen hat.
Nun steht seit einigen Monaten der Regierungsent-
wurf eines „Dritten Korbes“ zur Reform des Urheber-
rechts aus. Die Signale, die man bisher empfangen
konnte, deuten leider stark darauf hin, dass die Regie-
rung die Chance zur Vorlage eines Entwurfs für die Be-
lange von Bildung, Wissenschaft und Forschung und für
eine Stärkung des Wissenschafts- und Forschungsstand-
ortes Deutschland erneut vergeben wird. Dies ist sehr
bedauerlich, hat sich doch der Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung bei der Ver-
abschiedung des „Zweiten Korbes“ einstimmig für einen
„Dritten Korb“ für die Belange von Bildung, Wissen-
schaft und Forschung ausgesprochen. Ein modernes wis-
senschaftsfreundliches Urheberrecht ist ein wichtiger
Standortvorteil für unser Land.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns daher
dazu entschlossen, den Aspekt „Zweitverwertungsrecht“
in einem eigenständigen Gesetzentwurf in die parlamen-
tarische Debatte einzubringen. Wir wollen nicht, dass
diese wichtige Frage zwischen den vielen anderen Fra-
gen im Rahmen eines „Dritten Korbes“ untergeht oder,
wie üblich, weiterhin auf die lange Bank geschoben
wird. Auch wollen wir deutlich machen, dass eine Rege-
lung zum Zweitverwertungsrecht kein Spezial- oder
Randthema ist.
Was fordern wir nun konkret? Mit unserem Gesetz-
entwurf soll ein unabdingbares Zweitverwertungsrecht
für wissenschaftliche Beiträge eingeführt werden, die im
Rahmen einer überwiegend mit öffentlichen Mitteln fi-
nanzierten Lehr- und Forschungstätigkeit entstanden
sind. Damit sollen die rechtlichen Voraussetzungen ge-
schaffen werden, um Open-Access-Publikationen zu er-
möglichen. Dabei ist uns klar, dass dies nur ein erster
Schritt sein kann und dass es weiterer flankierender
Maßnahmen bedarf, um Open Access zu unterstützen,
beispielsweise hinsichtlich der Förderrichtlinien der For-
schungsförderung oder hinsichtlich der Unterstützung
der Universitäten und der wissenschaftlichen Fachge-
sellschaften bei der Einrichtung entsprechender Plattfor-
men.
Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates diffe-
renzieren wir hinsichtlich der Embargofrist zwischen
sechs Monaten für Zeitschriftenbeiträge und zwölf Mo-
naten für Beiträge in Sammelwerken. Jeder Urheberin
und jedem Urheber steht frei, wie er mit diesem Recht
umgeht und die Möglichkeit zur Zweitverwertung nutzt.
Die Autoren erhalten das Recht, ihre Beiträge im Ori-
ginalformat der Erstveröffentlichung zur Verfügung zu
stellen. Dies ist keine „Enteignung“ der Verlage, die das
Layout entwickelt haben, sondern es ist eine unerlässli-
che Voraussetzung, damit etwa die Zitierfähigkeit erhal-
ten bleibt. Durch die Verpflichtung, dass im Rahmen
einer Zweitverwertung der Ort der Erstpublikation anzu-
geben ist, kann und soll sogar eine Werbewirkung für die
betreffenden Zeitschriften bzw. Verlage entstehen.
Mit unserem Vorschlag befinden wir uns damit sehr
nah an den Vorstellungen der großen Wissenschaftsorga-
11472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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nisationen sowie der Bundesländer. Auch die bisherigen
Stellungnahmen der anderen im Bundestag vertretenen
Parteien lassen sich aus unserer Sicht dahin gehend in-
terpretieren, dass man über die Parteigrenzen hinweg of-
fen sein sollte bzw. ist für unseren Regelungsvorschlag.
Wir hoffen daher auf eine konstruktive Debatte und eine
Zustimmung über unsere Fraktion hinaus.
Zu einer Debatte gehört selbstverständlich auch eine
Bewertung der Kritik an einem unabdingbaren Zweitver-
wertungsrecht. Nur darf man hierbei nicht vergessen,
dass für Wissenschaft und Forschung im Urheberrecht
andere Maßstäbe gelten müssen als für andere Publika-
tionsformen und -felder. So verdienen Wissenschaftler
selten einen Großteil ihres Einkommens mit Veröffentli-
chungen. Bestenfalls kann man Einnahmen aus Veröf-
fentlichungen als Nebenverdienst in Wissenschaft und
Forschung bewerten. Vielmehr ist es – gerade bei Buch-
publikationen – durchaus möglich, dass eine Veröffentli-
chung wissenschaftlicher Werke sogar Kosten für den
Autor zur Folge hat.
Der freie Fluss von Informationen ist außerdem kon-
stitutiv für eine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit.
Diese Freiheit von Informationen durch Hürden wie Ge-
bühren für den Zugriff auf Artikel und Beiträge – auch
noch Jahre und Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung –
einzuschränken, behindert immer mehr auch die Wissen-
schaft. Zwar mag der Grad der Einschränkung der wis-
senschaftlichen Forschung und der Wissenschaftsfreiheit
durch diese finanziellen, verlagsseitigen Hürden kaum
bezifferbar sein; klar ist jedoch, dass die Abwesenheit
eines Zweitverwertungsrechts den freien Fluss von In-
formationen erheblich behindert. All diejenigen, die sich
folglich gegen ein unabdingbares Zweitverwertungs-
recht aussprechen, müssen diese negativen Effekte aus-
drücklich in Kauf nehmen.
Unser Gesetzentwurf ist sicherlich nur ein erster, aus
unserer Sicht wichtiger, Schritt auf dem Weg zur Umset-
zung eines echten Open Access – also offenen Zugangs –
zu wissenschaftlichem Wissen. Wir haben – auch und
gerade durch das Engagement vieler Menschen in zahl-
losen Gremien und Netzwerken – hier schon viel er-
reicht. Wir werden aber mit unserem heute vorgelegten
Entwurf nicht stehen bleiben im Bemühen für eine um-
fassende wissenschaftsfreundliche Reform des bundes-
deutschen Urheberrechts. Nicht zuletzt aus diesem
Grund und um dem Paradigmenwechsel wirklich mittel-
fristig Rechnung tragen zu können, haben wir den Ge-
setzentwurf mit einer Evaluierungsklausel versehen.
Drei Jahre nach Inkrafttreten soll diese Regelung dahin
gehend evaluiert werden, ob das Ziel des Gesetzgebers,
Open Access zu ermöglichen, tatsächlich erreicht wer-
den kann und ob es gegebenenfalls weiteren rechtlichen
Klarstellungsbedarf gibt.
Übrigens hat unsere Debatte von heute natürlich Aus-
wirkungen über die Landesgrenzen hinweg. Wir debat-
tieren ja auch auf europäischer Ebene über die Zukunft
des Urheberrechts, und viele andere Staaten in Europa
werden unser Bemühen für ein unabdingbares Zweitver-
wertungsrecht mit großem Interesse verfolgen. Deutsch-
land ist schon in der Vergangenheit in Europa mutig vo-
rangeschritten, wenn es darum ging, auch dort sinnvolle
Regelungen auf den Weg zu bringen, wo andere viel-
leicht noch zögern.
Perspektivisch können wir es – wie bereits angedeutet –
aber nicht bei der Festschreibung eines unabdingbaren
Zweitverwertungsrechts belassen; dies schafft lediglich
die rechtliche Grundvoraussetzung. Wir müssen auch in-
tensiv prüfen, welcher flankierender Maßnahmen es be-
darf und wie beispielsweise die einschlägigen Förder-
richtlinien des Bundes dahin gehend verändert werden
müssen, sodass Open Access in allen Wissenschaftsbe-
reichen ermöglicht und gefördert wird. Auch wird zu
prüfen sein, wie die Forschungseinrichtungen, Universi-
täten und Hochschulen oder Bibliotheken und die wis-
senschaftlichen Fachgesellschaften unterstützt werden
können bei der Errichtung entsprechender Open-Access-
Publikationsplattformen. Schließlich gilt es auch bei den
wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren dafür zu
werben, von diesem Zweitverwertungsrecht tatsächlich
Gebrauch zu machen. Auch bei den Wissenschaftsverla-
gen müssen wir dafür werben, neue Publikationsformen
und -modelle zu erproben und anzubieten.
Selbstverständlich müssen wir auch mit den Ländern
sprechen, um sicherzustellen, dass wir in Deutschland
eine vergleichbare Infrastruktur an den Hochschulen er-
halten, die es erlaubt, das Zweitverwertungsrecht in der
Forschungspraxis zu leben. Mit den Bibliotheken haben
wir bereits leistungsstarke Dienstleister, die ein wichti-
ger Partner bei der Umsetzung des Zweitverwertungs-
rechts sein können. Nur haben die Länder in der Vergan-
genheit leider Sparmaßnahmen auf den Weg gebracht,
die den Universitäten die Aufrechterhaltung dieser Infra-
strukturen erschwert haben. Hier muss der Bund helfen.
Wir als SPD sind bereit, hier unterstützend tätig zu wer-
den.
Abschließend möchte ich den Kolleginnen und Kolle-
gen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hierbei ins-
besondere Johannes Kollbeck, danken, die sich in den
letzten Jahren für die Festschreibung eines unabdingba-
ren Zweitverwertungsrechts eingesetzt und die uns bei
der Erarbeitung des Gesetzentwurfs unterstützt haben.
Lassen Sie uns nun ergebnisoffen in die Ausschussbe-
ratungen gehen, gegebenenfalls auch eine Sachverstän-
digenanhörung, möglicherweise zu unterschiedlichen
Regelungsentwürfen, durchführen und zu einem ge-
meinsamen Weg finden, der das von unserem Gesetzent-
wurf präsentierte Ziel – und zwar sowohl hinsichtlich
der dafür notwendigen Rechtsgrundlagen als auch hin-
sichtlich der ebenso notwendigen flankierenden Maß-
nahmen – erreichbar macht.
Stephan Thomae (FDP): Der Rohstoffreichtum un-
seres Landes liegt in den Köpfen seiner Menschen. Krea-
tivität, Innovationsgeist, Erfindungsreichtum und Risi-
kobereitschaft sind die Quellen unseres Wohlstandes.
Erfindungen und Entdeckungen bedürfen aber von ih-
rer Entstehung bis hin zu ihrer Verwirklichung bisweilen
eines hohen Maßes an immateriellem und materiellem
Einsatz. Solche Investitionen werden nur getätigt, wenn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11473
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eine reale Chance dafür besteht, dass sich Kreativität
und die dafür aufgewendeten Mittel auch auszahlen kön-
nen.
Dafür muss der Staat die Rahmenbedingungen schaf-
fen. Der effektive Schutz und die wirksame Nutzbarkeit
und Durchsetzbarkeit der Rechte des geistigen Eigen-
tums sind mithin eine unerlässliche Voraussetzung, um
Kreativität und Innovationen zu fördern. Ich gehe davon
aus, dass darüber in diesem hohen Haus mehr oder weni-
ger Konsens herrscht. Wie man diese Ziele jedoch errei-
chen will, darüber kann man streiten.
Die SPD setzt sich mit dem von ihr eingebrachten
vorliegenden Gesetzentwurf für ein Zweitverwertungs-
recht wissenschaftlicher Urheber ein. Damit soll das Ziel
erreicht werden, Wissenschaft, Forschung und Bildung
unter wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen Zugang
zu wissenschaftlichen Informationen zu ermöglichen.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich dem vorlie-
genden Antrag aus verschiedenen Gründen nicht an-
schließen. Zum einen ist der Antrag in sich sprachlich
widersprüchlich. Wer Dritten ein ausschließliches Nut-
zungsrecht an seinem Werk einräumt, kann selber kein
Nutzungsrecht an dem Werk haben, es sei denn, es
wurde vorher so vereinbart. Da entsprechende Vereinba-
rungen bereits jetzt im Rahmen der Privatautonomie
möglich sind, bedarf es hierfür keines eigenen Gesetzge-
bungsverfahrens.
Zum anderen sprechen auch inhaltliche Argumente
gegen ein obligatorisches Zweitverwertungsrecht: Ein
solches Zweitverwertungsrecht würde die Nutzungs-
rechte desjenigen beschneiden, dem der Urheber zuvor
eben jene Nutzungsrechte eingeräumt hat. Mit anderen
Worten: Wenn sich ein Autor bewusst zur Veröffentli-
chung seines Beitrags in einem Verlag entscheidet, dann
darf der Verlag nicht einer gesetzlich angeordneten Kon-
kurrenz ausgesetzt werden, sondern dann müssen die
vertraglichen Vereinbarungen in Bezug auf die Nut-
zungsrechte grundsätzlich Bestand haben. Ein obligato-
risches Zweitverwertungsrecht im deutschen Recht
würde darüber hinaus zu einer Wettbewerbsverzerrung
zulasten deutscher Verlage führen.
Abschließend sei Ihnen gesagt, dass der von der SPD
angestrebte Erfolg mit der Schaffung eines solchen
Zweitverwertungsrechts keineswegs gesichert wäre;
denn das Zweitverwertungsrecht gäbe den Wissenschaft-
lern nur das Recht zur Zweitveröffentlichung. Kein Wis-
senschaftler wäre aber gezwungen, sich um eine solche
Veröffentlichung zu bemühen und sein Zweitverwer-
tungsrecht auch tatsächlich auszuüben.
Um die Zweitverwertung zu gewährleisten, wären
deshalb ergänzende Regelungen in den Bedingungen für
die Vergabe von Fördergeldern erforderlich, mit denen
der Wissenschaftler zur Zweitverwertung verpflichtet
wäre. Eine solche Pflicht wäre urheberrechtspolitisch be-
denklich, weil sie dem Grundsatz widerspricht, dass al-
lein der Urheber über das Ob und das Wie einer Veröf-
fentlichung seiner Werke entscheidet.
Aus diesen Gründen wird die FDP-Bundestagsfrak-
tion den vorliegenden Gesetzentwurf nicht unterstützen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Man kann es nicht oft
genug wiederholen: Ergebnisse von öffentlich geförder-
ter Wissenschaft werden heute allzu oft in privatwirt-
schaftlichen Wissenschaftsverlagen publiziert. Dafür er-
hält der Verlag bis zu 80 Prozent seiner Kosten durch
Zuschüsse des Autors oder Herausgebers abgesichert. In
der Regel geben Wissenschaftler diese Kosten an ihre
Auftrags- und Arbeitgeber, also erneut die öffentliche
Hand, ab. Bei stetig steigenden Endpreisen kaufen dann
die Bibliotheken und Archive der Wissenschaftseinrich-
tungen wiederum mit öffentlichen Geldern diese Publi-
kationen, falls ihr Etat dafür ausreicht.
Durch diese Praxis werden die Verlage mehrfach aus
der öffentlichen Hand subventioniert. Weiter wird es für
Wissenschaftseinrichtungen immer schwerer, For-
schungsergebnisse auch in den Archiven bereitzustellen.
Durch diese Praxis wird öffentliches Geld privatisiert
und freier Informations- und Wissensfluss einge-
schränkt.
Einem Versuch, dieses System zu durchbrechen, stehe
ich deshalb zunächst immer positiv gegenüber. Entspre-
chend begrüße ich grundsätzlich den Gesetzentwurf der
SPD zum Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche
Publikationen.
Würde Wissenschaftlern ein solches Recht unabding-
bar eingeräumt, wäre die Grundlage dafür geschaffen,
dass Wissenschaftler mit der Zweitveröffentlichung ihrer
Forschungsergebnisse eine allgemein zugängliche Wis-
sensdatenbank ohne Bezahlschranken aufbauen könnten.
Es wäre ein großer Schritt auf dem Weg zur Förderung
und Durchsetzung von Open-Access-Publikationen.
Der Entwurf der SPD steht im Einklang mit den Forde-
rungen des Bundesrates und der Allianz der Wissenschafts-
organisationen, die beide seit 2006 beziehungsweise
Sommer 2010 die Einführung eines Zweitverwertungs-
rechts vorschlagen. Auch wird die Zweitverwertung expli-
zit als Recht des Urhebers und nicht als Pflicht ausgestaltet.
Das sollte mit der gängigen Rechtsauslegung der Wissen-
schaftsfreiheit kompatibel sein, die interpretiert wird als
„Freiheit der Wissenschaftler, über die Art und Weise der
Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse zu entschei-
den“.
Um es ganz klar und deutlich zu sagen: Die Einfüh-
rung eines Rechts auf Zweitveröffentlichung stärkt die
Urheber. Kein Verlag darf von ihnen verlangen, alle Ver-
öffentlichungsrechte exklusiv und auf Dauer abzutreten.
Dennoch geht der Entwurf der SPD an einigen Stellen
nicht weit genug. Es ist mir nicht ersichtlich, warum das
Zweitverwertungsrecht nur für Beiträge in Sammelwer-
ken und Periodika gelten soll. Auch Monographien wie
Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften werden aus
öffentlichen Mitteln gefördert. Warum muss ein Zweit-
verwertungsrecht, das zweifelsfrei dringend benötigt
wird, an den § 38 gekoppelt sein, der sich auf Sammel-
werke beschränkt?
Auch die unterschiedlichen Embargofristen bei Erst-
und Zweitverwertung mit sechs beziehungsweise zwölf
Monaten erschließen sich mir noch nicht. Warum sieht
der Entwurf im Vergleich zum bestehenden § 38 Abs. 1
11474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
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die Verkürzung auf ein halbes Jahr nur bei Periodika,
nicht aber bei Sammelwerken vor? Ist eine Embargofrist
überhaupt nötig, oder könnten wir nicht etwa auf For-
matgleichheit der Zweitpublikation verzichten und dafür
die Embargofristen deutlich verkürzen oder weglassen?
Nicht zuletzt erscheint mir die Beschränkung des
Zweitverwertungsrechts auf nichtkommerzielle Publika-
tionen problematisch. Geschäftsmodelle wie „Hybrides
Publizieren“, bei dem nur die digitale Version der Publi-
kation frei zugänglich ist, der Kauf des gedruckten
Werks aber kostenpflichtig ist, werden so schwieriger
durchzuführen sein.
Das von der SPD verfolgte richtige Ziel, durch die
Einführung eines Zweitverwertungsrechts Open-Access-
Publikationen zu erleichtern und zu fördern, wird so teil-
weise gefährdet.
Dies ist übrigens ein Punkt, den es generell zu beden-
ken gilt: Ein Zweitverwertungsrecht erleichtert Open
Access. Eine umfassende Open-Access-Strategie ist da-
mit aber nicht erreicht. Damit ein offener Zugang zu
wissenschaftlichen Publikationen in der Breite möglich
wird, muss Open Access als Nutzungsrecht verstanden
werden. Davon würden auch Wissenschaftler bei ihrer
Recherche profitieren; sie sollten dann aber gegebenen-
falls zur Open-Access-Publikation ihrer Ergebnisse ver-
pflichtet werden. Dass dies im vorgegebenen rechtlichen
Rahmen viel schwieriger umzusetzen ist als der von der
SPD vorgeschlagene erste Schritt, ist mir bewusst. Wir
sollten dennoch hier nicht stehen bleiben.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Entwicklung des Internets und der neuen IuK-Techniken
haben auch die Arbeit im Wissenschaftsbereich revolu-
tioniert.
Für viele Aspekte der wissenschaftlichen Praxis, von
der wissenschaftlichen Recherche über die Kommentie-
rung bis zum internationalen Diskurs, ergeben sich
enorm erweiterte und beschleunigte Möglichkeiten. Der
leichtere und schnellere Zugang zu den Ergebnissen wis-
senschaftlicher Arbeit bringt positive Impulse für den
Fortschritt in der Wissenschaft und den Erkenntnisge-
winn.
Es ist nur konsequent, Zugangsbarrieren im Bereich
der Wissenschaft nicht nur im Bereich der technischen
Verfügbarkeit abzubauen, sondern auch Zugangsbarrie-
ren im Bereich der Kosten zu hinterfragen. Gerade da,
wo wissenschaftliches Arbeiten und Forschen öffentlich
finanziert wird, ist es nicht einsehbar, dass die Allge-
meinheit für den Zugang zu den Ergebnissen dieser Ar-
beiten noch einmal bezahlen soll.
Viele Bibliotheken konnten sich schon in der Vergan-
genheit viele internationale Journale mit hoher wissen-
schaftlicher Reputation kaum noch leisten, und die Kos-
ten für die öffentliche Hand im Zusammenhang mit der
Anschaffung wissenschaftlicher Publikationen sind zu-
nehmend explodiert.
Die schnelle und leichte elektronische Verfügbarkeit
von wissenschaftlichen Arbeiten tritt zunehmend in ei-
nen Widerspruch zu einer vorhandenen Kostenbarriere
für die Nutzerinnen und Nutzer dieser Ergebnisse. Kein
Wunder also, dass die Forderung nach Open Access,
nach kostenfreiem Zugang zu wissenschaftlichen Veröf-
fentlichungen für die Nutzerseite, nicht nur international
immer mehr um sich greift, sondern in unterschiedlicher
Weise und auf unterschiedlichen Wegen bereits prakti-
ziert wird. Dies reicht von anderen Bezahlmodellen, die
nicht die Nutzerinnen und Nutzer belasten, über wissen-
schaftsgeleitete Open-Access-Plattformen bis zur Ver-
pflichtung der Open-Access-Veröffentlichung im
Zusammenhang mit der öffentlichen Forschungsfinan-
zierung. Nicht nur die Forderung nach, sondern auch die
Umsetzung von Open Access im Wissenschaftsbereich
hat in letzter Zeit unübersehbar an Dynamik gewonnen.
Wir sind dafür, diesen Prozess auch politisch zu unter-
stützen.
Bei dieser Entwicklung spielt sicher auch eine Rolle,
dass nicht nur die Nutzerinnen und Nutzer ein Interesse
an einem möglichst barrierefreien Zugang haben, son-
dern auch die Verfasserinnen und Verfasser wissen-
schaftlicher Beiträge diese möglichst breit mit der wis-
senschaftlichen Community teilen möchten. Viele
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fühlen sich
von den wissenschaftlichen Verlagen zunehmend ausge-
beutet, weil ein Großteil der Arbeit für die elektronische
Publikationsfähigkeit von den Autorinnen und Autoren
selbst erbracht werden muss. Auch die notwendigen
Peer-Review-Verfahren werden in der Regel kostenlos
von der Scientific Community selbst geleistet. Gleich-
zeitig werden den Autorinnen und Autoren alle oder fast
alle Rechte an ihren eigenen Beiträgen genommen. Viele
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machen heute
geltend, dass diese Quasi-Enteignung in keinem ange-
messenen Verhältnis zu den tatsächlich erbrachten Leis-
tungen der Verlage steht.
Gleichzeitig gibt es aber auch die Warnung vor einem
möglichen Verlust von Publikationsmöglichkeiten, wenn
die Arbeit von Verlagen nicht mehr angemessen hono-
riert würde oder es in der Folge der Open-Access-Bewe-
gung zu einem noch stärkeren Konzentrationsprozess
kommen sollte. Gerade in den Fachrichtungen, in denen
die Buchform immer noch eine gewisse Bedeutung hat,
wird vor dem Verschwinden kleiner spezialisierter Ver-
lage gewarnt.
Der Überlegung, dass die realen Verlagsleistungen
vergütet werden sollten, trägt der sogenannte goldene
Weg Rechnung. Dabei wird die Leistung des Verlages
durch die Autorinnen und Autoren bzw. deren Institutio-
nen finanziert und nicht durch die Nutzerinnen und Nut-
zer. Große Wissenschaftsorganisationen wie die DFG
stellen dafür Publikationszuschüsse zur Verfügung.
Durch den goldenen Weg sind inzwischen große Open-
Access-Plattformen bedeutender internationaler wissen-
schaftlicher Verlage in verschiedenen Spezialrichtungen
entstanden. Dieser Weg entlastet zwar die Nutzerinnen
und Nutzer, beinhaltet aber nach wie vor die Gefahr der
Überforderung der öffentlichen Hand, die für die Kosten
der wissenschaftlichen Arbeit an Hochschulen und For-
schungseinrichtungen ja im Regelfall schon aufkommt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011 11475
(A) (C)Eine andere Möglichkeit des Open Access ist der so-
genannte grüne Weg, das heißt die kostenlose elektroni-
sche Zweitveröffentlichung nach einer vereinbarten
Embargofrist ergänzend zur Verlagsversion, zum Bei-
spiel auf einem fachspezifischem Institutserver oder ei-
nem interdisziplinären Repository.
Aus aktuellem Anlass möchte ich unterstreichen, dass
Open Access, also der kostenfreie Zugang, die jeweilige
wissenschaftliche Veröffentlichung nicht zum Allge-
meingut macht, sondern diese weiterhin nach den Maß-
gaben wissenschaftlicher Redlichkeit als die wissen-
schaftliche Leistung ihrer Verfasserinnen und Verfasser
zu behandeln ist.
Um Open Access zu garantieren, ohne die öffentliche
Hand alleine mit den Verlagskosten zu belasten, wird in-
ternational die Pflicht zur Open-Access-Veröffentli-
chung haushalts- oder vertragsrechtlich zunehmend
schon mit der Bewilligung von öffentlichen Forschungs-
mitteln verbunden. In den USA wird eine entsprechende
Gesetzesinitiative diskutiert. Die EU hat dieses Verfah-
ren erprobt und will es zukünftig ausweiten und zum Re-
gelfall machen.
Die Verankerung eines Zweitverwertungsrechts im
§ 38 a des Urheberrechtsgesetzes, wie die SPD es heute
vorschlägt, würde zweifellos in der Open-Access-Szene
und Teilen der Scientific Community als starkes Signal
gewertet. Trotzdem sollten wir uns vor einer endgültigen
Festlegung auf dieses Instrument im Ausschuss gründ-
lich mit den Vor- und Nachteilen dieses Vorschlages und
auch mit den anderen Wegen zum Open Access befas-
sen. Denn es gibt da doch einige wichtige Fragen. Die
vorgeschlagene Änderung stärkt zwar die Rechte der
wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren, enthält
aber nicht die Verpflichtung zur kostenlosen Veröffentli-
chung, geht also weniger von den Interessen der Nutze-
rinnen und Nutzer öffentlich oder überwiegend öffent-
lich finanzierter Forschung aus.
Wie weit ist die Reichweite des deutschen Urheber-
rechts in einem Bereich, wo das Publikationsgeschehen
international ist, die größten Verlage sich im Ausland be-
finden und wissenschaftliche Ergebnisse oft von Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedli-
chen Staaten in Kooperation erbracht werden? Sind die
vorgeschlagenen Embargofristen bei der Zweitveröffent-
lichung für die unterschiedlichen Bedürfnisse im Wis-
senschaftsbereich differenziert genug? Wie wären die
Auswirkungen auf Publikationsmöglichkeiten im Be-
reich der Geisteswissenschaften zum Beispiel bei kleine-
ren spezialisierten Verlagen? Welche Auswirkungen
könnte die Grenze der mindestens hälftigen öffentlichen
Finanzierung für öffentlich-private Forschungskoopera-
tionen haben? Ist der § 38 a des Urheberrechts geeignet
für die Weiterentwicklung von Open Access in einem
nach wie vor lernenden System, das noch sehr im Um-
bruch ist? Diesen Fragen sollten wir im Ausschuss nach-
gehen, gerne auch unter Hinzuziehung von Experten.
(B)
(D)
99. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 24. März 2011
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8