Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen!Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, habe icheinige Mitteilungen zu machen.Der Kollege Ottmar Schreiner hat am vergangenenMontag seinen 65. Geburtstag gefeiert und der KollegeDr. Karl Lamers einige Tage vorher seinen 60. Ge-burtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich aufdiesem Wege noch einmal ganz herzlich und wünschealles Gute.
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass derKollege Bernd Siebert dem Kollegen Holger Haibachals stellvertretendes Mitglied in der ParlamentarischenVersammlung des Europarates und in der Versamm-lung der Westeuropäischen Union nachfolgen soll.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann ist der Kollege Siebert hiermit gewählt.Die Fraktion Die Linke schlägt den Kollegen JörnWunderlich für eine weitere Amtszeit im Beirat beider Bundesbeauftragten für die Unterlagen desStaatssicherheitsdienstes vor. Findet auch dieser Vor-Redeschlag Ihre Zustimmung? – Ich bin beeindruckt: Auchdarüber gibt es keinen Streit. Dann ist der Kollege Wun-derlich hiermit ebenfalls gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Die Stellungnahme des Bundesministers derVerteidigung Dr. Karl-Theodor Freiherr zuGuttenberg und mögliche Textübernahmenaus Ausarbeitungen des WissenschaftlichenDienstes des Deutschen Bundestaggebliche Textübernahmefunde nacPlag Wiki“ auf 270 Seiten der DissBundesministers der Verteidigung
zungen 24. Februar 2011.00 UhrZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 33a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Ko-enigs, Renate Künast, Claudia Roth ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBerichte zur NS-Vergangenheit des Bundesmi-nisteriums für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz veröffentlichen– Drucksache 17/4696 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten StephanKühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAltschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungs-unternehmen neu ausrichten– Drucksache 17/4698 –textÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten WernerSimmling, Ernst Burgbacher, Sibylle Laurischk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPAnwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintal-bahn– Drucksache 17/4861 –Überweisungsvorschlag:ss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
usschussss für Wirtschaft und Technologiess für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitss für Tourismuses sowie an-h „Gutten-ertation desAusschuFinanzaAusschuAusschuAusschuHaushaltsausschuss
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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d) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteKumpf, Christian Lange , Rainer Ar-nold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDAusbau der Rheintalbahn als Modell für Bür-gernähe, Lärm- und Landschaftsschutz– Drucksache 17/4856 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDTierheime entlasten – Einheitliche Regelungenschaffen– Drucksache 17/4851 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Haushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDTierschutzgesetz ändern – Kennzeichnung vonPferden tierschutzgerecht ausgestalten– Drucksache 17/4850 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzg) Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterGloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDReformprozesse in Nordafrika und Nahostumfassend fördern– Drucksache 17/4849 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDzum Entwurf eines Beschlusses des Europäi-schen Rates zur Änderung des Vertrags überdie Arbeitsweise der Europäischen Union hin-sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für dieMitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist– Ratsdok. 17629/10 –hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über dieZusammenarbeit von Bundesregierungund Deutschem Bundestag in Angelegen-heiten der Europäischen UnionHerstellung des Einvernehmens bezüglich derErgänzung von Art. 136 AEUV zur Einrich-tung eines Europäischen Stabilitätsmechanis-mus verantwortlich gestalten– Drucksache 17/4881 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussi) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, AndrejHunko, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEzum Entwurf eines Beschlusses des Europäi-schen Rates zur Änderung des Vertrags überdie Arbeitsweise der Europäischen Union hin-sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für dieMitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist– Ratsdok. 17629/10 –hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Art. 23 Abs. 3 desGrundgesetzes– Drucksache 17/4882 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussj) Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHerstellung des Einvernehmens zwischenBundestag und Bundesregierung zur Ände-rung des Art. 136 des Vertrages über die Ar-beitsweise der Europäischen Union hinsicht-lich eines Stabilitätsmechanismus für dieMitgliedstaaten, deren Währung der Euro isthier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über dieZusammenarbeit von Bundesregierungund Deutschem Bundestag in Angelegen-heiten der Europäischen Union– Drucksache 17/4883 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss
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k) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusTressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerkehrsträgerübergreifende Schlichtung ge-setzlich fixieren– Drucksache 17/4855 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Eskalation der Gewalt in LibyenZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
lung von Regelbedarfen und zur Änderung desZweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-buch– Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982,17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 4304,17/4719, 17/4770, 17/4830 –ZP 5 Vereinbarte Debattezur Lage von SGB-Leistungsempfängern undihrer KinderZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBeckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, WinfriedHermann, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKonsequenzen aus dem Zugunglück vonHordorf ziehen– Drucksache 17/4854 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzHaushaltsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 28 – dabei handelt es sichum das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz – wird heuteabgesetzt.
– Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, Herr Kollege Trittin.
Ich finde es beruhigend, dass sich offenkundig niemandernsthaft durch die Ankündigung einer solchen Gesetz-gebungsabsicht irritiert fühlt.
Außerdem ist vorgesehen, den Jahresbericht desWehrbeauftragten – das ist der Tagesordnungspunkt 30 –bereits heute nach dem Tagesordnungspunkt 9 zu bera-ten und den Tagesordnungspunkt 10 mit Vorlagen zumBeschäftigtendatenschutz erst morgen im Anschluss andie vereinbarte Debatte aufzurufen.Schließlich mache ich auf einige nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 11. November 2010 überwiesene nachfol-gende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenaus-schuss zur Mitberatung überwiesenwerden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Vormundschafts- und Betreuungs-rechts– Drucksache 17/3617 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDer am 8. Juli 2010 überwiesene nachfolgende An-trag soll zusätzlich dem Innenausschuss
zur Mitberatung überwiesen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten SonjaSteffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDÄnderung des Vormundschaftsrechts und wei-tere familienrechtliche Maßnahmen– Drucksache 17/2411 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDer am 10. Februar 2011 überwiesene nachfolgendeAntrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss
zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankTempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zuder Mitteilung der Kommission an das Europäi-sche Parlament und den RatAuf dem Weg zu einer verstärkten europäi-schen Katastrophenabwehr: die Rolle von Ka-tastrophenschutz und humanitärer Hilfe
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Art. 23 Abs. 2 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzesüber die Zusammenarbeit von Bundesre-gierung und Deutschem Bundestag in An-gelegenheiten der Europäischen Union– Drucksache 17/4672 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
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Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDer am 27. Januar 2011 überwiesene nachfolgendeAntrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Seni-oren, Frauen und Jugend zur Mitbera-tung überwiesen werden.Die Mitberatung des Ausschusses für Gesundheit
soll entfallen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten PriskaHinz , Katja Dörner, Kai Gehring, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBildungsberichte nutzen – Bildungssystem ge-rechter und besser machen– Drucksache 17/4436 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDarf ich auch zu diesen Veränderungen Einverneh-men feststellen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dannist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung wehrrechtlicher Vorschriften 2011
– Drucksache 17/4821 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussSportausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister der Verteidigung.
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesmi-nister der Verteidigung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit dem Gesetzentwurf über die Aussetzung derVerpflichtung zum Grundwehrdienst steht nunmehr ei-ner der Kernpunkte der Neuausrichtung der Bundeswehrauf der Tagesordnung der heutigen Debatte.Wir nehmen mit der Einführung eines Freiwilligen-wehrdienstes Abschied von der Verpflichtung zumGrundwehrdienst. Wir nutzen diese Gelegenheit auch,um den vielen Grundwehrdienstleistenden der letztenJahrzehnte Dank zu sagen. Es waren Millionen, die indiesem Sinne auch eine besondere Verpflichtung für un-ser Land zum Ausdruck gebracht haben.
Die allgemeine Wehrpflicht war in der über 50-jähri-gen Geschichte der Bundeswehr zu ihrer Zeit die richtigeWehrform. Darauf darf man auch immer wieder hinwei-sen. Die Zusammensetzung unserer Streitkräfte aus Be-rufs- und Zeitsoldaten, Grundwehrdienstleistenden undzusätzlich freiwillig Wehrdienstleistenden sowie Reser-visten hat entscheidend zur erfolgreichen Erfüllung desAuftrages der Bundeswehr und zu ihrem hohen Ansehenbeigetragen.Ich persönlich bin immer ein grundsätzlicher Befür-worter der allgemeinen Wehrpflicht gewesen. Das istbekannt. Die Änderung der Wehrform war für mich nie-mals Selbstzweck, und sie ist mir – wie vielen von uns indiesem Hause – außerordentlich schwergefallen. Aberdie Untersuchungen des letzten Jahres, die Analysen, diewir angestellt haben, der Bericht des Generalinspekteursund der Bericht der Strukturkommission unter Leitungvon Herrn Weise haben in Verbindung mit längeren, sehrernsthaften, intensiven Diskussionen und Debatten eineindeutiges Ergebnis gebracht: Die Verpflichtung zumGrundwehrdienst ist heute sicherheitspolitisch nichtmehr begründbar. Auch für mich hat das letztendlich einUmdenken bedeutet – aber ein Umdenken, aus dem aucheine Perspektive erwachsen sollte.Der letztlich entscheidende Maßstab für die Bundes-wehr muss die Fähigkeit zum Einsatz im Rahmen desgegebenen Auftragsspektrums sein. In diesem Gesamt-kontext steht auch der heute vorliegende Gesetzentwurf.Die Bundeswehr hat, wie wir wissen, mit den aktuellenEinsatzverpflichtungen in vielen Bereichen bereits ihreLeistungsgrenze erreicht. Darüber hinaus entsprechenihre Strukturen nicht mehr den Anforderungen, die anden heutigen Einsatz und die künftigen Einsätze anzule-gen sind.Eine Neuausrichtung mit Blick auf eine stärkere Ein-satzorientierung war und ist daher unabdingbar. Wirbrauchen deswegen heute keine unverhältnismäßig hoheZahl von Soldaten mehr, sondern hochprofessionelleStreitkräfte, die über weite Distanzen für schwierigeEinsätze schnell verlegt und für Risikoszenarien nach-haltig eingesetzt werden können.Die Bundeswehr ist heute eine Armee im Einsatz.Erst vor wenigen Tagen haben wir einmal mehr auf er-schütternde Weise feststellen müssen, was es bedeutetoder bedeuten kann, Armee im Einsatz zu sein. Ichglaube, unser aller Gedanken und auch Gebete sindheute bei den gefallenen Soldaten von letzter Woche.Wir denken an die zehn Verwundeten und hoffen auf ihrebaldige Genesung.
Sicher ist: Es wird niemals risikofreie Einsätze gebenund geben können. Aber es bleibt unsere dauerhafte Ver-pflichtung, alles, wirklich alles zu tun, um die Gefahren
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Bundesminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
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und Risiken für unsere Soldatinnen und Soldaten auf einMindestmaß zurückzuführen, und alles zu tun, um beiAusbildung, Ausrüstung und Schutzmaßnahmen, die zuergreifen sind, unserer Verantwortung gerecht zu wer-den: Wir müssen unsere Soldaten bestens gesichert undfür ihre Aufgaben auch ausgebildet in den Einsatz schi-cken. Die Bedingungen, die wir gerade für das Letztge-nannte zu schaffen haben, müssen wir noch intensiverbetrachten. Dazu gehören Laufbahn- und Personalstruk-turen sowie bestmögliche soziale, aber eben auch mate-rielle Bedingungen. Gerade Letztere haben eine bedeu-tende Auswirkung auf die Sicherstellung der Motivationunserer Soldatinnen und Soldaten – und damit indirektauch auf die Fähigkeit, im Einsatz bestehen zu können.Unter den gegebenen finanziellen Bedingungen liegthierin eine erhebliche Herausforderung. Auch wir müs-sen sparen und einen Beitrag zum Sparen erbringen; wirmüssen unsere Bundeswehr gleichzeitig aber auch zu-kunftsfest aufstellen, damit sie eine Perspektive entwi-ckeln kann. Wir müssen hier noch weiter freundschaft-lich und intensiv auch innerhalb der Bundesregierungverhandeln, damit wir die Bundeswehr entsprechendaufstellen können.Bei einem geringeren Gesamtumfang der Streitkräftewürde die Ausbildung und Betreuung von Grundwehr-dienstleistenden zu viele Berufs- und Zeitsoldaten bin-den. Das war einer der Gründe, weshalb wir gesagt ha-ben: Wir können künftig den Grundwehrdienst nichtmehr so wie ursprünglich aufrechthalten. Die weiterenGründe haben wir ausgiebig und intensiv diskutiert. Eswürde heute zu weit führen, darauf noch einmal hinzu-weisen.Es war nach alledem folgerichtig, dass die Bundes-regierung zeitgleich mit ihrem Eckpunktebeschluss zurNeuausrichtung der Bundeswehr am 15. Dezember desvergangenen Jahres die Gesetzesnovelle zum Wehr-pflichtgesetz auf den Weg gebracht hat. Die Pflicht zumGrundwehrdienst soll zum 1. Juli 2011 ausgesetzt wer-den; das ist der derzeitige Plan. Die letzten verpflichtendgrundwehrdienstleistenden Soldaten wurden am 3. Ja-nuar dieses Jahres eingezogen.An die Stelle des Grundwehrdienstes tritt ein neuer,ein freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten fürjunge Frauen und Männer. Weder die verfassungsrechtli-che noch die einfachgesetzliche Grundlage der Wehr-pflicht wird aber gänzlich abgeschafft. Ich halte esweiterhin für geboten und richtig, dass wir die verfas-sungsrechtliche Grundlage der Wehrpflicht erhalten ha-ben und weiter erhalten; das ist mit Blick auf Szenarien,die wir heute sicher noch nicht ganz absehen können,eine richtige und kluge Entscheidung.
Wir wollen Bewährtes erhalten, auch als Rückversiche-rung. Im Kern wird also lediglich die Verpflichtung zumGrundwehrdienst ausgesetzt.Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass die Gewin-nung von Freiwilligen angesichts der Konkurrenz mitanderen Arbeitgebern um qualifiziertes Personal wahr-scheinlich eine der größten Herausforderungen der Ge-genwart und der Zukunft darstellt. Gerade bei den Lauf-bahnen der Mannschaften muss hier ein Schwerpunktliegen; hierauf hat der Inspekteur des Heeres zu Rechthingewiesen. Wir nehmen diese Herausforderung mit al-ler Kraft an.Es geht jetzt darum, auch mit diesem Gesetz die ge-eigneten Instrumente zu schaffen und sich darüber hin-aus mit viel Kreativität dem Wettbewerb zu stellen.Bereits mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz ist vorgese-hen, dass junge Menschen mit Informationsmaterial übereinen Freiwilligendienst in der Bundeswehr versorgtwerden und eine ausführliche Beratung über Dienstmög-lichkeiten in der Bundeswehr erhalten können. Wir müs-sen uns auch hier öffnen, neue Wege beschreiten undinsbesondere die neuen Medien im Blick haben, also dieheutigen Formen, junge Menschen anzusprechen, tat-sächlich nutzen.Der deutlich verbesserte Wehrsold für diejenigen, dieden freiwilligen Wehrdienst leisten, sowie die Verpflich-tungsprämien sind zusätzliche starke Signale an potenzi-elle Interessenten. Hinzu kommen bessere Unterbrin-gungsstandards für Mannschaften, eine nach Möglichkeitheimatnahe Verwendung, die Fortgeltung der Steuerfreiheitder Geld- und Sachbezüge, der kostenlosen Familienheim-fahrten sowie der Regelungen des Arbeitsplatzschutzgeset-zes. Aus dem Parlament, vom BundeswehrVerband undvom Wehrbeauftragten kamen viele Hinweise. Das sindPunkte, auf die wir viel Wert legen und die die künftigeGestaltung der Bundeswehr bestimmen müssen. Sie bil-den natürlich auch den Rahmen dafür, wie wir uns künf-tig finanziell aufstellen können.Darüber hinaus sind Attraktivitätsmaßnahmen ge-plant, insbesondere die Erweiterung der Möglichkeit, imRahmen der Berufsförderung an Aus-, Weiter- und Fort-bildungsmaßnahmen teilzunehmen. Die Attraktivität ist– über die Sicherung des Nachwuchses bei den Mann-schaftsdienstgraden hinaus – insgesamt der Schlüsselzur künftigen personellen Einsatzbereitschaft der Bun-deswehr. Zu Beginn dieses Jahres wurde deshalb einMaßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität desDienstes in der Bundeswehr erlassen, das alle Soldatin-nen und Soldaten – ich betone: alle – betrifft. Hierüberwurde der Verteidigungsausschuss informiert. DiesesMaßnahmenpaket enthält über 80 grundsätzlich mögli-che Maßnahmen, die jetzt alle auf ihre Realisierbarkeithin geprüft werden. Nicht alles wird und soll kommen;das darf ich an dieser Stelle sagen. Entscheidend sind imEinzelfall kurzfristig greifende Maßnahmen, um denDienst in der Bundeswehr attraktiver zu machen. Dieeine oder andere Idee ist nach einer Überprüfung bereitsverworfen worden, aber es bleiben viele, die wir umzu-setzen haben.Neben der Einrichtung von Eltern-Kind-Arbeitszim-mern an 200 Standorten planen wir die Flexibilisierungund Verlängerung von Regelverpflichtungszeiten, dieverstärkte Besetzung ziviler Dienstposten mit ausschei-denden Soldaten auf Zeit, mehr Möglichkeiten des Woh-nens in Gemeinschaftsunterkünften, die Erhöhung vonZulagen und Ausgleichssätzen für mehrgeleistetenDienst und eine angemessenere Ausgestaltung der Rah-
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menbedingungen für dienstlich veranlasste Umzüge. Füreinige dieser Maßnahmen brauchen wir gesetzliche Re-gelungen, um deren Unterstützung ich gerne bitten undwerben will.Heute bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorliegen-den Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes. Je schnel-ler wir in der Lage sind, die im Gesetz enthaltenen Maß-nahmen umzusetzen, umso schneller können wir dringendbenötigte Freiwillige in die Streitkräfte einstellen und dieim Entwurf enthaltenen Attraktivitätsmaßnahmen wie denerhöhten Wehrsold und die Verpflichtungsprämien end-gültig umsetzen. Mit Ihrer Zustimmung leisten Sie alleeinen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Neuaus-richtung unserer Bundeswehr, zur Gewährleistung ihrerEinsatzfähigkeit und damit zu unserer Sicherheit. Wirkönnen bei der Neuausrichtung der Bundeswehr einenwichtigen, großen Schritt vorangehen, gerade mit Blickauf die Attraktivität des Dienstes, die unsere Soldatenmehr als verdient haben.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unzwei-felhaft: Die Bundeswehr gehört zu den großen Erfolgs-geschichten der Bundesrepublik. Es ist eine demokrati-sche Erfolgsgeschichte, weil die Bundeswehr nie Staatim Staate war, sondern immer in der Mitte der Gesell-schaft und fest verankert war in der Demokratie. Sie isteine europäische Erfolgsgeschichte, weil keiner unsererNachbarn jemals vor Aggressionen Angst haben mussteund davor, dass die Bundeswehr eine Gefahr für sie dar-stellen würde. Ganz im Gegenteil: Die Bundeswehr istimmer eine Armee gewesen, die sich sehr dem Frieden,der Völkerverständigung und auch dem Völkerrecht ver-bunden gefühlt hat. Nie zuvor gab es eine deutsche Ar-mee, die das von sich sagen konnte.Die große und wirklich bedeutende Geschichte derBundeswehr ist eine der großen Erfolgsgeschichten derBundesrepublik Deutschland, und sie ist untrennbar mitder Wehrpflicht verbunden gewesen. Die Wehrpflicht si-cherte, dass die Bundeswehr den Querschnitt der Bevöl-kerung repräsentierte, dass der Nachwuchs aus allen Be-völkerungsschichten gewonnen wurde, und vor allenDingen sorgte sie dafür, dass wir alle uns mit der Bun-deswehr beschäftigt haben, weil es immer unsere eige-nen Söhne und Töchter sein konnten, die dort ihrenDienst taten.Wir alle wissen: Die Beendigung der Wehrpflicht, wiesie heute vorgeschlagen wird – ob von Dauer oder aufZeit, wird sich erst noch herausstellen –, ist deshalb vongroßer und weitreichender Bedeutung. Die SPD hat we-gen der Schwierigkeiten der Wehrgerechtigkeit diesenWeg bereits 2007 vorgeschlagen. Unsere früheren Koali-tionspartner CDU und CSU wollten ihn damals nicht ge-hen. Jetzt wollen sie ihn gehen. Wir begrüßen das.
Aber wir wissen auch: Die Beendigung der Wehr-pflicht, ob auf Dauer oder zeitweilig, wird die Rahmen-bedingungen für die Bundeswehr, auf die sie sich fünfJahrzehnte verlassen konnte, völlig verändern. Eskommt deshalb darauf an, dass wir mit der Änderungdieser zentralen Rahmenbedingungen nicht auch die Er-folgsgeschichte der Bundeswehr in der deutschen Ge-schichte beenden. Auch ohne Wehrpflicht muss es unsgelingen, den Nachwuchs der Bundeswehr aus allenSchichten der Bevölkerung zu gewinnen und den Dienstso attraktiv zu machen, dass die Bundeswehr nicht inGefahr gerät, nur noch Negativauslese derjenigen zuwerden, die es woanders nicht geschafft haben. Die Bun-deswehr muss deshalb auch eine Qualifizierungsarmeewerden. Vor allem darf die Abschaffung der Wehrpflichtnicht dazu führen, dass wir uns weniger für die Soldatin-nen und Soldaten interessieren, sie schlechter ausstattenoder ausbilden oder sie gar leichtfertiger in gefährlicheAuslandseinsätze schicken.Wenn ich mir allerdings ansehe, wie diese Bundes-wehrreform beginnt, dann stelle ich fest, dass sich dieBundesregierung und der Bundesverteidigungsministerschon in den ersten Schritten von der Bundeswehr ab-wenden. Die ganze Reform beginnt als Sparaktion. Mehrals 8 Milliarden Euro sollen durch diese Bundeswehrre-form eingespart werden. Der Verteidigungsminister istvollmundig mit einer gigantischen Sparbüchse auf dieBundeswehr losgegangen. Inzwischen muss er kleinlautzugeben, dass er nicht etwa einsparen, sondern mögli-cherweise sogar mehr Geld ausgeben muss. Statt dieAufgaben der Bundeswehr zur zentralen Messlatte fürdie Reform, die Organisation, die Ausstattung und dieBezahlung der Bundeswehr zu machen, erklärt der Bun-desverteidigungsminister am 25. Oktober des letztenJahres bei der Vorstellung seiner Reform bei der Füh-rungsakademie der Bundeswehr in Hamburg – ich zitiere –,der höchste – ich betone – der „höchste strategische Pa-rameter“ der Bundeswehrreform sei die Haushaltskonso-lidierung. Die Bundeskanzlerin attestiert ihm am Anfangdes Jahres, der Sparbeitrag – Frau Kanzlerin, so habenSie gesagt – des Verteidigungsministers sei das Wich-tigste. Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen, was unserhöchster strategischer Parameter ist und was für uns dasWichtigste ist: die Sicherheit der Soldatinnen und Solda-ten. Das ist der wichtigste strategische Parameter.
Sie machen die Bundeswehr zum Sparschwein IhrerHaushaltspolitik. Das ist nicht nur ein politischer Fehler;im Zweifel ist das für die Soldatinnen und Soldatenziemlich gefährlich. Die Bundesregierung und vornewegder Verteidigungsminister verwechseln die Reihenfolge:Sie entscheiden zuerst über drastische Einsparungen undwundern sich dann, dass die Bundeswehr ihre Aufgabennicht erledigen kann. Sie müssen diese Reform vomKopf auf die Füße stellen: Zuerst müssen Sie die Aufga-
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ben festlegen, die die Bundeswehr erfüllen soll. Danachmüssen Sie sagen, welche Ausbildung und Ausstattungdie Soldaten dafür brauchen. Danach müssen Sie sagen,wie Sie ohne die Wehrpflicht das Personal für diese Auf-gaben bekommen. Und dann müssen Sie den Finanzbe-darf für diese Aufgaben und für diese Nachwuchsgewin-nung festlegen. Das ist die richtige Reihenfolge derBundeswehrreform.
Sie versuchen es genau umgekehrt, und deswegengeht das schief; denn ohne deutlich bessere Bezahlung,ohne Angebote für Ausbildung, Studium und Weiterver-wendung nach der Bundeswehr werden Sie den benötig-ten Nachwuchs nicht gewinnen können. Sie haben keinKonzept dafür, wie wir die Freiwilligendienste ausbauenkönnen.Übrigens werden wir natürlich Standorte schließenmüssen. Wir können die Standortdebatte auch nicht zumMaßstab der Ausrichtung der Bundeswehr machen. Aberdann müssen Sie doch ein Konversionsprogramm aufle-gen, mit dem die Bürgermeister und Landräte leben kön-nen. Auch das kostet Geld. Aber nichts davon findet sichin Ihrem Konzept wieder.
Gerade haben Sie selbst, Herr Verteidigungsminister,Ihr Maßnahmenpaket zitiert. Ich lese einmal ein biss-chen daraus vor, weil das deutlich macht, dass das allesFloskeln sind. Ich zitiere eine schöne Formulierung zueinem Punkt, den Sie selber gerade angesprochen haben:„Die bisherigen Mannschaftslaufbahnen sind mit demZiel der Erhöhung der Attraktivität neu zu gestalten.“ –Aber dann ist Schluss. Dazu, wie das geschehen soll,steht nichts in Ihrem Maßnahmenpaket. Es finden sichnur wolkige Formulierungen, aber nichts Konkretes. ImHinblick auf tatsächlich vorhandene gute Vorschläge wiedie von Ihnen eben angesprochene Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf muss Ihr Staatssekretär sofort zugeben,dass dies alles unter dem Finanzierungsvorbehalt des Fi-nanzministers steht. Das ist Camouflage. Sie haben IhrenJob nicht gemacht. Sie haben nicht gesagt, was manschaffen muss, wenn man die Bundeswehrreform zu ei-nem Erfolg machen will. Das ist unser Vorwurf.
Wir bekommen ein hohles Gesetz ohne jeden Reali-tätsbezug. Der Verteidigungsminister kann keine Ant-wort auf die Frage nach der künftigen Struktur der Bun-deswehr oder nach den Standorten geben. Er kann keineAntwort auf die Fragen zur Nachwuchsgewinnung derArmee und schon gar keine zum Finanzierungskonzeptgeben. Auf jede Frage bleibt der Verteidigungsministerdie Antwort schuldig – und das, obwohl die Reform am1. April 2011 starten soll.Im Weise-Bericht heißt es: „Gefordert sind schnelleEntscheidungen …“ Wir fragen uns, Herr Minister, wasSie in den letzten knapp fünf Monaten seit Vorlage desGutachtens eigentlich getan haben. Wenn Sie, Frau Bun-deskanzlerin, dann am 22. November 2010 als Regie-rungschefin nach Dresden zur Kommandeurstagungfahren und den Kommandeuren zum Thema der Bundes-wehrreform den Spruch „no risk, no fun“ entgegenhal-ten, dann frage ich mich, auf welcher geistigen Höhe inDeutschland inzwischen Sicherheitspolitik gemachtwird.
Frau Kanzlerin, für uns hört der Spaß an dieser Stelleauf. Bei der Bundeswehr geht es nicht um „fun“, wie Sieoffenbar meinen, sondern um die Sicherheit unseresLandes, um die Sicherheit der Einsätze sowie um Leibund Leben der Soldatinnen und Soldaten.Inzwischen wissen wir, dass der Heeresinspekteuralarmiert ist, weil ihm zum 1. April 2011 nur ein Fünftelder benötigten Rekrutinnen und Rekruten zur Verfügungsteht. Der Generalinspekteur räumt ein, dass die Bundes-wehr Gefahr läuft, 2012 nicht mehr genügend Soldatin-nen und Soldaten für den Auslandseinsatz zu haben. DieBundeswehr ist – wir kennen den Begriff – bedingt ab-wehrbereit und bedingt einsatzbereit. Das, Herr Verteidi-gungsminister, sind die tatsächlichen Resultate Ihrerfachlich angeblich so guten Arbeit. Das ist das ProduktIhrer Amtszeit.
Ihre sogenannte Bundeswehrreform entfaltet bei denjungen Männern und Frauen in Deutschland gerade eineenorme Signalwirkung. Das kann man wohl sagen. Wirlesen, dass von 166 000 Briefen der Kreiswehrersatzäm-ter an junge Frauen und Männer nur ganze 7 000 mit In-teressenbekundungen zurückkamen, also nur knapp4 Prozent. Das ist die Signalwirkung, die von Ihnen aus-geht, und zwar nicht deshalb, weil die Bundeswehr einschlechter Arbeitgeber wäre, sondern weil die jungenMänner und Frauen auf jede konkrete Frage, wie ihr frei-williger Dienst in der Bundeswehr denn aussehen soll,keine konkrete Antwort bekommen. Sie haben ein Chaosorganisiert, wenn Sie so weitermachen.
Noch einmal: In fünf Wochen soll der Nachwuchs derBundeswehr allein aus Freiwilligen gewonnen werden.Diese Eile haben Sie sich übrigens selbst auferlegt. DasKabinett hat beschlossen, dass erst zum 1. Juli 2011 um-gestellt werden soll. Sie aber sagen: Nein, es muss schonzum 1. April 2011 geschehen.
Es geht immer nach dem alten Motto: Schnell, schnei-dig, schick!
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Aber es geht nicht um ein Wettrennen, Herr Verteidi-gungsminister. Es geht um unsere Soldatinnen und Sol-daten und um die Leistungsstärke und Funktionsfähig-keit der Armee. Wir können Sie nur auffordern:Verschieben Sie die Reform so lange, bis Sie wirklichwissen, wohin Sie wollen und wie Sie das machen wol-len.
Sie müssen erst die Voraussetzungen für die Reformschaffen und dann handeln und nicht umgekehrt. WennSie weiter im Blindflug unterwegs sind, ist die Reformschon gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat.Das größte Kapital bei dieser wirklich großen Reformist doch das Vertrauen der Menschen, auch der Soldatin-nen und Soldaten, in die politische Führung. Genau die-ses für die Reform wichtige Vertrauen verspielen Sie ge-rade. Hinter der glitzernden Fassade aus großen Wortenund schillernden Begriffen von der größten Reform allerZeiten befindet sich bei Ihnen nur der unbedingte Willezur Ankündigung, Herr Minister, mehr nicht. Es ist nichtdas erste Mal, dass wir merken, dass Schein und Sein beiIhnen ziemlich unterschiedlich sind.Weil es um das Vertrauen geht, Frau Bundeskanzlerin,möchte ich Sie ganz persönlich ansprechen. Ich achteSie nicht nur wegen Ihres Amtes, Frau Kanzlerin. Ichachte Sie auch, weil wir uns in der Großen Koalitionkennengelernt haben.
– Sie müssen nicht lachen. Ich meine das ganz ernsthaft.
– Wenn Sie lächeln, wenn ich Sie lobe, verzeihe ich Ih-nen das. Ich habe die Absicht, das zu tun.
Ich habe Sie als jemanden kennengelernt, der, na klar,machtbewusst ist. Das ist keine Frage. Aber ich habe Sienie als machtvergessen und auch nie als machtversessenerlebt. Ich habe mir das immer damit erklärt, dass IhreBiografie Sie für demokratische Herausforderungen sen-sibel gemacht hat. Gerade weil ich Sie so kennengelernthabe, bitte ich Sie um eines: Muten Sie uns und der Bun-deswehr, sich und unserem Land dieses unwürdigeSchauspiel, das wir seit Wochen mit Ihrem Verteidi-gungsminister erleben, nicht länger zu.Ich weiß nicht, ob Sie, Frau Bundeskanzlerin, die De-batte im Bundestag gestern verfolgt haben. Wenn Sie dasgemacht haben, dann ist Ihnen vielleicht eines aufgefal-len.
– Ich habe sie mir angeschaut und war erstaunt über das,was hier passiert ist. – Es gab keinen Ordnungsruf desPräsidenten, nicht einmal Tumulte oder allzu laute Pro-teste auf Ihrer Seite, als hier zum ersten Mal in der Ge-schichte des Parlaments ein amtierender Minister mehr-fach von Abgeordneten Lügner, Hochstapler undBetrüger genannt wurde.
– Nein, Frau Göring-Eckardt war gestern die Präsiden-tin.
Es gab keine große Aufregung bei Ihnen und keinenOrdnungsruf. Frau Bundeskanzlerin, was glauben Siewohl, warum das so war? Weil jeder hier im Hauswusste, dass das Tatsachenbehauptungen sind.
Das ist doch das Problem. Jeder weiß, dass wir es mit ei-nem politischen Hochstapler zu tun haben.
– Ich habe kein Problem damit, wenn wir das einmalproblematisieren würden. Vielleicht stellt auch jemandStrafantrag. Das wäre interessant.Frau Bundeskanzlerin, stellen Sie sich doch nur füreine Sekunde vor, die Zeitungsberichte über das Verhal-ten des Verteidigungsministers, die Sie gelesen haben,enthielten nicht den Namen zu Guttenberg, sondern dieNamen Trittin, Lafontaine oder Gabriel. Stellen Sie sichdoch nur einmal vor, was Sie gesagt und gedacht hätten,wenn das nicht Herr zu Guttenberg gewesen wäre. Dannwissen Sie, wie weit wir hier inzwischen weg sind vonRecht und Gesetz, was für alle gelten soll. Dann wissenSie das.
Ehre, Pflichtgefühl, Recht und Anstand, das sind Be-griffe, die gerade für den Inhaber der Befehls- und Kom-mandogewalt über die Bundeswehr von großer Bedeu-tung sein müssen. Nichts davon findet sich im HandelnIhres Ministers. Frau Bundeskanzlerin, was soll Ihreseltsame Bemerkung, Sie hätten einen Minister und kei-nen wissenschaftlichen Mitarbeiter berufen? Spielt ei-gentlich – das frage ich Sie – der Charakter eines Men-schen bei der Berufung in Ihr Kabinett für Sie keineRolle mehr?
Ich sage Ihnen: Es ist eine Zumutung für jeden Abge-ordneten im Saal, dass wir hier von einem Regierungs-mitglied für dumm verkauft werden sollen.
– Für dumm verkauft? Sagen Sie einmal: Glauben Siewirklich daran, dass jemand aus Versehen 270 von400 Seiten abschreiben kann? Was ist das denn für eine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10429
Sigmar Gabriel
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seltsame Ausrede? So etwas habe ich überhaupt nochnicht gehört. Aus Versehen?
Ich sage Ihnen: Für jeden von uns, der fair arbeitet,der etwas von Leistung, von Anstand hält, für jeden Ab-geordneten ist es eine Zumutung, dass wir uns auf diesesintellektuelle und moralische Niveau herabbegeben müs-sen. Das ist die Zumutung, die hier im Parlament geradestattfindet.
Frau Bundeskanzlerin, es geht nicht mehr um Herrnzu Guttenberg, es geht inzwischen um ganz prinzipielleFragen von Rechtsstaat und Demokratie. Rücktritte inunserer parlamentarischen Demokratie waren ein Zei-chen der Stärke. Sie haben gezeigt, dass das Parlamentund die demokratischen Institutionen zur Korrektur fä-hig sind, dass sie Fehlverhalten am Ende nicht durchge-hen lassen und ohne Ansehen der Person und des Amteshandeln. Das hat die Demokratie gestärkt.Sie machen das Gegenteil. Sie und Ihr Minister sindin der letzten Woche eine politische Schicksalsgemein-schaft eingegangen. Sie haben die demokratische Achseunserer parlamentarischen Demokratie verschoben, undSie haben einen Berufungsfall für künftige Parlamenteund Regierungen geschaffen. Denn eines ist klar: EinVerteidigungsminister, der eigene Regeln für sich bean-sprucht, die sich außerhalb des Werte- und Rechtssys-tems der Bundesrepublik Deutschland bewegen, derhöhlt dieses Rechts- und Wertesystem scheibchenweiseaus, weil er sich über Recht, Gesetz und Regeln setzt. Eroffenbart eine Haltung, die ihre Wurzeln in der Stände-gesellschaft, aber keinen Platz in einem demokratischenLand hat.
Frau Kanzlerin, es geht nicht mehr darum, ob Ihr Ver-teidigungsminister die Kraft und das Format hat, Konse-quenzen zu ziehen, sondern es geht darum, ob Sie alsRegierungschefin noch bereit sind, Schaden von unse-rem Land und seinen Institutionen abzuwenden.
Ich bedaure es, aber ich bin mir sicher, dass Sie sich sel-ber in Zukunft hier im Deutschen Bundestag noch andiese Tat erinnern werden. Ich bedaure, dass Sie – ge-nauso wie wir – noch erleben werden, welche Konse-quenzen das hat.Ich lese Ihnen zum Schluss vor, was jemand geschrie-ben hat, der mit Sicherheit zu Ihrer Wählerschaft gehörtund nicht zu der der Sozialdemokraten. Dr. ChristophBerglar hat an Sie geschrieben:Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,meine Frau und ich haben sechs Kinder im Alterzwischen 14 und 29 Jahren. Wir haben als Elternversucht, unseren Kindern sog. christliche Werteund solche der bürgerlichen Aufklärung zu vermit-teln. Hierzu gehören u. a. das Bemühen um Wahr-haftigkeit und der Respekt vor dem Eigentum ande-rer – ohne Ansehung der Person!Er schreibt weiter:Einer Ihrer Minister hat nachweislich in höchst gra-vierendem Umfang gelogen, betrogen und gestoh-len. Sie wissen das. Alle wissen das.Trotzdem ziehen Sie aus machttaktischen Erwägun-gen nicht die einzig zulässige Schlussfolgerung: dieEntlassung dieses Herrn aus Ihrem Kabinett.Die weltweite Finanzkrise, deren Folgen allseits zubesichtigen sind, wurde von Schrott-Immobilienund einem Übermaß an Gier nach Geld ausgelöst.Die Legitimationskrise des bürgerlichen Lagersschwelt schon lange und wurde jetzt in dem von Ih-nen regierten Land durch eine Schrott-Dissertationund ein Übermaß an Macht- und Geltungsgier akut.Bitte verraten Sie mir und meiner Frau, wie wir beieiner solchen Sachlage unseren Kindern noch Ver-trauen in die Verfassungswirklichkeit des von Ihnenregierten Landes vermitteln sollen. Bitte verratenSie uns, wie wir unsere Kinder dazu motivieren sol-len, auf ehrliche Weise einen Beruf zu erlernen undauszuüben.Bitte überdenken Sie noch einmal Ihre Entschei-dung. Es kann, es darf nicht das letzte Wort in die-ser Sache gesprochen sein!Dem ist nichts hinzuzufügen.
Elke Hoff ist die nächste Rednerin für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Gabriel, Sie haben eben dem Bundes-minister der Verteidigung bzw. der Bundesregierungvorgeworfen, sie verspiele das Vertrauen der Soldaten.
Glauben Sie wirklich, dass Sie mit dem Beitrag, den Siehier gerade geleistet haben, Wesentliches dazu beige-steuert haben, dass unsere Bürgerinnen und Bürger dasVertrauen zurückgewinnen? Ich glaube, nicht.
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10430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Ich möchte mich an dieser Stelle, auch im Namenmeiner Fraktion, von den Beschuldigungen, die gesternin diesem Hause erhoben und von der Bundestagsvize-präsidentin nicht gerügt wurden – es hieß, der Bundes-minister der Verteidigung sei ein Hochstapler –, aus-drücklich distanzieren. Das ist nicht der Stil derAuseinandersetzung, der in diesem Hause gepflegt wer-den sollte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir beratenheute in erster Lesung das Wehrrechtsänderungsgesetz.Ich bedaure sehr, dass dieses wichtige Thema, eine his-torische Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr, heutewieder benutzt wird, um zu versuchen, Menschen, diesich gestern auch hier im Parlament sehr klar und deut-lich zu ihren Fehlern bekannt haben, zu diskreditieren.
– Wissen Sie: Lautstärke alleine ersetzt die Argumentenicht.
Ich darf darauf zurückkommen: Wir reden heute überdas Wehrrechtsänderungsgesetz. Wir müssen für die Zu-kunft der Bundeswehr junge Männer und Frauen davonüberzeugen, dass der Bundestag hinter ihnen steht, dasswir im Hinblick auf die Streitkräfte eine Freiwilligenkul-tur befürworten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Positives sa-gen. Der Kollege Dr. Bartels hat gestern im Verteidi-gungsausschuss einen sehr bedenkenswerten und diskus-sionswürdigen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Wir alsParlament sollten uns über die Parteigrenzen hinweg zurFreiwilligenkultur in diesem Lande bekennen.
Wir sollten eine Debatte darüber führen, wie wir dieFreiwilligenkultur stärken können. Da die SPD-Fraktionimmer Befürworter einer Aussetzung der Wehrpflichtgewesen ist,
sage ich Ihnen: Das tun wir heute. Wir schaffen heute dieVoraussetzungen dafür, dass die neuen sicherheitspoliti-schen Herausforderungen in der Welt bewältigt werdenkönnen.
– Hören Sie doch einfach einmal zu!Ich bin ganz bei der Bundeskanzlerin, wenn sie sagt,dass solide Haushalte eine wesentliche Grundlage für dieSicherheit von Staaten sind.
Das kann man auch in anderen Staaten feststellen. Nichtumsonst haben unsere amerikanischen Verbündeten inihrer nationalen Sicherheitsstrategie festgestellt, dass dieSolidität von Haushalten ein entscheidender Parameterfür die Sicherheit ist.
Wir müssen jetzt gemeinsam versuchen, diesen Anforde-rungen gerecht zu werden.Es ist kein Fehler, wenn wir auch vom Bundesminis-ter der Verteidigung Einsparungen verlangen.
Die Fragen lauten: Auf welchem Wege und auf welcherZeitachse? Wir als FDP-Fraktion haben uns immer sehrdeutlich dazu positioniert und gesagt: Ja, wir möchtendie Einsparungsziele erreichen, aber in einem anderenZeitrahmen als dem, den sich Teile der Bundesregierungvorstellen. Das ist legitim, darüber müssen wir diskutie-ren, und wir werden auch zu einem Ergebnis kommen.Meine Damen und Herren, es ist eben sehr deutlichdargestellt worden, dass uns letztendlich bestimmte äu-ßere Rahmenbedingungen zu der Entscheidung, die wirheute im Plenum treffen, geführt haben. Die demografi-sche Entwicklung macht es schwerer, die Wehrpflicht sozu organisieren, wie es sich der Verfassungsgeber da-mals vorgestellt hat. Wir haben eine neue sicherheitspo-litische Lage, die Streitkräfte erfordert, die kleiner sind,die schmaler sind, die flexibler sind.Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen: Das istkeine Herausforderung, der sich die Bundesrepublik al-leine stellen muss. Das ist eine Herausforderung, die alleStaaten betrifft. Wenn Sie sich die Situation in Deutsch-lands Nachbarstaaten und jenseits des Atlantiks an-schauen, stellen Sie fest: Die Streitkräfte unterliegenzurzeit überall einer Neubewertung, einer Neubeurtei-lung. Wir müssen einen Spagat schaffen: zwischen einerfinanziellen Konsolidierung und einer vernünftigen undauch belastbaren Sicherheitspolitik und Landesverteidi-gung. Dem versuchen wir Rechnung zu tragen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10431
Elke Hoff
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Ich denke, es ist hier im Hause auch Konsens, dasswir junge Männer und Frauen zukünftig nur dann für denDienst in den Streitkräften gewinnen können, wenn erattraktiv ist. Meines Erachtens kommen zu den Punkten,die der Minister eben sehr richtig dargestellt hat, weitereAspekte hinzu. Die freie Wirtschaft und die Bundeswehrdürfen auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft nicht in Formeines Gegeneinanders um junge Männer und Frauenkonkurrieren, sondern man sollte versuchen – ich darf eseinmal so sagen –, Arbeitsbiografien aufzubauen. DieBundeswehr sollte einen Teil der Ausbildung jungerMänner und Frauen übernehmen, sodass sie später dieMöglichkeit haben, auch in der Wirtschaft ein Auskom-men zu finden. Dafür tragen wir auch Verantwortung.Ich glaube, Herr Minister, dass Sie in diese Richtungrecht bald Initiativen ergreifen werden.Meine Damen und Herren, wir dürfen mit Blick aufdie Attraktivität unserer Streitkräfte auch folgende Fra-gen nicht außer Acht lassen: Was passiert mit den Solda-tinnen und Soldaten, wenn sie aus einem Einsatz zurück-kommen, wenn sie verwundet oder traumatisiert sind?Was passiert mit den Hinterbliebenen, wenn gefalleneSoldaten zu beklagen sind? Auch hier müssen wir alsGesellschaft und als Deutscher Bundestag die richtigenEckpunkte und Rahmenbedingungen setzen, damit El-tern und Familien die Bundeswehr als attraktiven Arbeit-geber ansehen und ihre Kinder ermuntern, den Dienst ander Waffe für das Vaterland aufzunehmen.Die Diskussionen, die wir in den letzten Wochen füh-ren, führen bestimmt nicht dazu, dass die Streitkräfte at-traktiver werden. Diese Diskussionen führen bestimmtnicht dazu, dass junge Männer und Frauen sich aufgeru-fen fühlen, diesem Land zu dienen. Ich persönlich – undich denke, ich spreche auch im Namen meiner Fraktionund unseres Koalitionspartners – bin stolz auf unsereStreitkräfte, auf das, was sie jeden Tag dort, wo wir siehinschicken, leisten. Deshalb ist es notwendig, dass wirdie Tür öffnen und entsprechende Möglichkeiten schaf-fen, damit die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeberwird. Auch wir als Parlament müssen unseren Beitragdazu leisten. Das ist eine gesellschaftliche Herausforde-rung und nicht alleine die Herausforderung an einen Mi-nister. Du lieber Gott! Wer als einzelne Person kann einesolche Reform stemmen?
Das ist unser aller Aufgabe. Es ist eine gesellschaftlicheAufgabe.
Wenn wir wollen, dass die Bundeswehr zur Freiwilli-genarmee wird, dann müssen wir alle auch dazu beitra-gen, dass das Ansehen der Bundeswehr gesteigert undihre Zukunft gesichert wird, damit junge Männer undFrauen mit Freude Dienst an der Waffe tun. Wir alsFDP-Fraktion werden Sie, Herr Minister zu Guttenberg,nach Kräften dabei unterstützen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Buchholz
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung plant, das Wehrpflichtgesetz zu ändern,und will damit die rechtliche Umwandlung der altenWehrpflichtigenarmee in eine Armee aus Zeit- und Be-rufssoldaten vollenden. Deswegen wird die Wehrpflichtausgesetzt. Die Linke ist gegen jede Form von Zwangs-diensten – das betrifft auch die Wehrpflicht.
Schon die Aussetzung der Wehrpflicht befreit jährlichTausende junger Männer von einem erzwungenen Mili-tärdienst. Das begrüßen wir, auch wenn wir eigentlichdie Abschaffung der Wehrpflicht wollen.
Aber wir können dieses Gesetz nicht ohne den eigent-lichen Zweck bewerten, zu dem die Bundesregierungdas Gesetz ändern möchte. Herr zu Guttenberg hat kei-nen Zweifel daran gelassen: Es geht darum, die Bundes-wehr schlagkräftiger und einsatzfähiger zu machen.Aber mich wundert doch, dass in dieser Debatte nochkeiner davon gesprochen hat, dass drei Soldaten, die sichin einem dieser Einsätze befunden haben, am letztenFreitag getötet wurden.
Herr zu Guttenberg bringt zu Ende, was in den 90er-Jahren unter der Kohl-Regierung begann: Damals wurdedie Absicherung des Zugangs zu Rohstoffen und Absatz-märkten offiziell zur Aufgabe der Verteidigungspolitikerklärt. Seitdem haben Minister von CDU/CSU und SPDdie Bundeswehr in zahllosen Umstrukturierungen Schrittfür Schritt zu einer Einsatzarmee umfunktioniert. Heutegilt der Krieg nicht mehr als letztes Mittel zur Landes-verteidigung – Krieg ist Dauerzustand. Die Linke ist ge-gen diese Kriege.
Wehrpflicht ist Zwang. Aber Zwang wird nicht nurdurch eine gesetzliche Wehrpflicht ausgeübt. Wo Armutherrscht, herrscht Zwang, Zwang, seine soziale Not zuüberwinden. Das wollen Sie ausnutzen. Schon heute die-nen in Auslandseinsätzen überproportional viele Solda-ten aus strukturschwachen Regionen. 2009 stammteetwa die Hälfte der Soldaten aus Ostdeutschland. DiesesUngleichgewicht verstärkt sich im Einsatz, wie man anden Dienstgraden erkennen kann: Während 62 Prozentder Mannschaftsdienstgrade aus Ostdeutschland kom-men, sind nur 16 Prozent der Stabsoffiziere und 0 Pro-zent der Generäle aus dem Osten.
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10432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Christine Buchholz
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Alle drei Bundeswehrsoldaten, die am 23. Juni 2010bei einem Feuergefecht getötet wurden, kamen aus Ost-deutschland. Einer von ihnen hatte einen Migrationshin-tergrund; über einen weiteren sagen seine Freunde, dasser nur zur Bundeswehr gegangen ist, weil er keine an-dere Arbeit gefunden hat.
Das ist aber kein spezifisch ostdeutsches Problem.Von 328 Hamburgern, die Anfang 2007 ihren freiwilli-gen Dienst antraten, waren 107 zuvor arbeitslos. Siemeldeten sich freiwillig und sahen die Bundeswehr alsSprungbrett, das sie aus der eigenen Misere herauskata-pultiert. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bun-deswehr stellt fest – ich zitiere –:Je höher die Arbeitslosigkeit, desto größer ist dasInteresse an einer beruflichen Tätigkeit bei derBundeswehr.Das Verteidigungsministerium will nun – ich zitiere –„künftig verstärkt auch junge Menschen mit unterdurch-schnittlicher schulischer Bildung beziehungsweise ohneSchulabschluss personalwerblich“ ansprechen. Sie zie-len besonders auf Soldaten für Auslandseinsätze und be-sonders auf untere Dienstgrade im Heer. In zunehmen-dem Maße bekommen wir amerikanische Verhältnisse.Im Klartext heißt das: Die Armen werden zum Kanonen-futter. Diese Entwicklung machen wir nicht mit.
Glücklicherweise lehnen rund 80 Prozent der Men-schen in Deutschland die deutsche Beteiligung am Kriegin Afghanistan ab. Um trotzdem genügend Rekruten fürden Krieg zu finden, unternimmt die Bundesregierunggroße Anstrengungen. Die Bundeswehr schließt Abkom-men mit Arbeitsagenturen und richtet dauerhafte Vertre-tungen in Jobcentern ein. Gestern wurde im Verteidi-gungsausschuss eine großangelegte Werbekampagne insogenannten jugendaffinen Medien angekündigt. Ge-nannt wurden unter anderem Jugendsender, die Bild undwww.bild.de.Die Bundeswehr setzt außerdem fast 100 hauptamt-liche und 300 nebenamtliche sogenannte Jugendoffiziereein. Diese haben im Jahr 2009 in über 4 000 Vorträgenweit mehr als 100 000 Schüler angesprochen. Mittler-weile haben die Wehrbereichskommandos in siebenBundesländern Abkommen mit den Kultusministerienabgeschlossen, die den Zugang der Jugendoffiziere zuden Schulen ermöglichen.
Die Bundeswehr druckt Unterrichtsmaterialien und bie-tet Seminare für Lehrpersonal an. Die Zahl der teilneh-menden Referendarinnen und Referendare wuchs von 50im Jahr 2003 auf über 1 000 im Jahr 2009.Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Entwurfdes Wehrrechtsänderungsgesetzes sieht vor, dass dieKreiswehrersatzämter zu Rekrutierungsbüros umfunk-tioniert werden sollen. Sie sollen alle Personen anschrei-ben, die in einem Jahr 18 Jahre alt werden, um ihnen dieVorzüge der Bundeswehr als Arbeitgeber deutlich zumachen. Diese Werbung für den Kriegsdienst lehnen wirab.
Die richtigen Maßnahmen im Interesse sowohl derSoldaten als auch der vielen jungen perspektivlosenMenschen lauten: nicht Kriegseinsätze, sondern Abzugder Bundeswehr aus Afghanistan, ein Ende der Ausland-seinsätze und ein Programm, das ausreichend zivile Aus-bildung und Arbeitsplätze schafft. Das ist die Perspek-tive, für die die Linke steht.
Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Malczak für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „EineFrage der Ehre“: So wirbt das Wachbataillon der Bun-deswehr in Berlin in der U-Bahn um Nachwuchs. In derTat, mit der Aussetzung der Wehrpflicht ist eine ent-scheidende Frage verbunden: Wer kommt zukünftig zurBundeswehr – sind es die Menschen mit dem Charakterund den Fähigkeiten, die wir uns dort wünschen? Mit derAntwort auf diese Frage wird die Bundeswehrreform,deren zentraler Baustein die Aussetzung der Wehrpflichtist, scheitern oder gelingen.Um diese Herausforderung zu bewältigen, müssen dieMenschen in der Bundeswehr ihrem Dienstherrn abervertrauen können. Sie müssen glauben können, dass erweiß, was er tut, und dass er zu dem steht, was er sagt.Herr Minister zu Guttenberg, wie die Menschen Ihnenjetzt noch vertrauen sollen, weiß ich wirklich nicht.
Was Sie gestern hier abgeliefert haben, war alles andereals eine Sache der Ehre.Im System Guttenberg hat eine Aussage wenig Wert.Sie sagen selbst: Ihre Maßstäbe sind Klarheit und Wahr-heit. Allerdings hat Ihre Klarheit ein sehr begrenztesHaltbarkeitsdatum, und Ihre Wahrheit von heute ist IhreUnwahrheit von morgen.
Im System Guttenberg war ein Tanklasterbombarde-ment an dem einen Tag unvermeidlich und am anderenTag ein Fehler.
Der Kapitän der „Gorch Fock“ wird an dem einen Tagnicht vorverurteilt, am nächsten entpflichtet und amübernächsten aus Fürsorge beschützt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10433
Agnes Malczak
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An dem einen Tag sparen Sie durch die Bundeswehr-reform Milliarden; am anderen Tag brauchen Sie zusätz-liche Milliarden, um die Reform durchführen zu können.Im System Guttenberg halten Sie an dem einen Tag ander Wehrpflicht fest und schaffen sie am nächsten Tagab.
Das Wort gilt im System Guttenberg nichts. Stattdes-sen gilt das Vorrecht des Verteidigungsministers, einenBetrug zu begehen, ohne die Konsequenzen zu tragen.Schneiderhan, Wichert, Schatz: Bei anderen sind Siesehr schnell dabei, Konsequenzen zu ziehen, nur bei sichselbst nicht.
Sie kleben bis zur maßlosen Selbsterniedrigung an Ih-rem Amt. Ihr Schauspiel seit dem letzten Mittwoch warziellos und würdelos. Für mich war der vorläufige Gipfelder Unverschämtheiten gestern erreicht, als Sie IhrenUmgang mit Fehlern noch als Vorbild verkaufen woll-ten.
Frau Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerksam ma-
chen, dass wir heute einen anderen Tagesordnungspunkt
behandeln.
Ich komme noch darauf zu sprechen, warum das mit-einander zusammenhängt. Der Minister hat beschlossen,es auszusitzen; dann muss das jetzt auch ausgehaltenwerden.Wie sollen Ihnen die Menschen in der Bundeswehrnoch vertrauen? Wie sollen sie Ihnen noch folgen? Dassdie Wehrpflichtarmee sicherheitspolitisch die falscheWehrform ist, war nämlich schon lange klar. Seit Jahrenfordern wir Grünen die Abschaffung der Wehrpflichtund die Einführung eines freiwilligen Wehrdienstes.Auch hier haben Sie abgekupfert. Aber anders als bei Ih-rer Doktorarbeit kritisieren wir Sie hier nicht für dieAussetzung der Wehrpflicht, wohl aber für die Umset-zung.
Ihre Einsicht in die Notwendigkeit, die Wehrpflichtabzuschaffen, beruht eben nicht auf sicherheitspoliti-schen Überlegungen. Ihre Entscheidung für die Freiwil-ligenarmee ist keine aus Überzeugung, sondern eine ausGeldnot. Statt von Anfang an das Richtige zu tun, habenSie mit der Wehrdienstverkürzung auf sechs Monate einJahr verplempert. Diese Zeit fehlt Ihnen heute.Lieber Herr Gabriel, die Reform zu verschieben, kannauch keine Lösung sein; denn sie kommt eher zu spät alszu früh.Bei dem gesamten Umbauprozess haben Sie, HerrMinister, das Pferd von hinten aufgezäumt. Wenn maneinen grundlegenden Wandel vornimmt, sagt einem dochder gesunde Menschenverstand, dass man zuallererstüberlegen muss, welches Ziel man erreichen will. Dergesamte bisherige Prozess der Bundeswehrreform folgtkeiner Logik. Wenn Sie logisch und überlegt vorgegan-gen wären, hätten Sie zuallererst die Frage beantwortet,welche Aufgaben und Grenzen das Militärische in derAußen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zukünftighaben soll. Doch diese Frage haben Sie sich nicht einmalgestellt. Damit machen Sie den zweiten Schritt vor demersten.
Ein weiterer Schritt eines solchen Reformprozessesist die Frage der Kosten und der verfügbaren Finanzmit-tel. Ganz Musterknabe haben Sie bei den Verhandlungenüber das Sparpotenzial bei der Bundeswehr vollmundigEinsparungen in Höhe von rund 8 Milliarden Euro inden nächsten Jahren versprochen. Nun fordern Sie sogarmehr Geld für die Bundeswehrreform, können aber auchauf wiederholte Nachfragen nicht sagen, wie viel genau.Der letzte Schritt einer solchen Reform ist die Umset-zung. Mit dieser haben Sie jetzt allerdings schon begon-nen, noch ehe das Gesetz das Parlament überhaupt er-reicht hat. Um Ihre volltönenden Ankündigungen wahrzu machen, musste die Aussetzung der Wehrpflicht nunim Hauruckverfahren erfolgen. Im Dezember haben Sie,Herr Verteidigungsminister, bereits die Anweisung er-teilt, wonach in dieser Woche die letzten Wehrpflichti-gen ihren Dienst angetreten haben.An dieser Stelle möchte ich allen jungen Menschendanken, sowohl denen, die in den letzten JahrzehntenWehrdienst und Zivildienst geleistet haben, als auch denvielen, die sich für ein Freiwilliges Soziales, Ökologi-sches oder Kulturelles Jahr entschieden haben.
Doch selbst mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorge-legt haben, sind noch lange nicht alle Herausforderungenrund um die Aussetzung der Wehrpflicht geregelt. Vonder Nachwuchsgewinnung über die Ausbildung bis zurVerwendung der freiwilligen Wehrdienstleistenden sindnoch unzählige Fragen offen, die beantwortet werdenmüssen.Unzählige Beispiele zeigen, dass nicht nur das Wortdes Herrn Doktor zu Guttenberg, sondern auch das Wortdes Verteidigungsministers zu Guttenberg nichts wertist, zum Schaden für die Bundeswehr, die bis heute nichtweiß, ob all Ihre großartigen Vorschläge überhaupt nurim Ansatz finanzierbar sind und ob Sie diese auch mor-gen noch vertreten.
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10434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Agnes Malczak
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In den vergangenen Tagen wurde aus den Reihen derUnion immer wieder gesagt, Sie würden Ihr Amt als Ver-teidigungsminister so gut führen, dass man Ihnen persön-liche Verfehlungen nachsehen müsse. Die derzeit größteHerausforderung für die Bundeswehr – die Reform eben-dieser – ist nur ein Beispiel dafür, dass diese Verteidi-gungslinie – verzeihen Sie mir das Zitat – „abstrus“ ist.Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, Sie sindein Pfuscher. Sie haben nicht nur bei Ihrer Doktorarbeitgepfuscht. Sie sind gerade dabei, die Aussetzung derWehrpflicht und die ganze Bundeswehrreform zu ver-pfuschen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir haben im Grunde über eine Viel-zahl von Themen zu diskutieren, die alle miteinander ver-bunden sind: die Diskussion über die SicherheitspolitikDeutschlands in Fortsetzung des Weißbuches 2006, diePriorisierung der Rüstungsvorhaben, die Konsolidierungdes Bundeshaushalts, die Strukturreform der Bundeswehrund die Standortentscheidungen. Heute stehen auf unse-rer Tagesordnung zwei Gesetzentwürfe, die vor allem fürjunge Menschen in unserem Land und ihr Verhältnis zurGesellschaft eine ganz neue Chance darstellen: das Wehr-rechtsänderungsgesetz und das Gesetz zur Einführung ei-nes Bundesfreiwilligendienstes. Zu all dem haben Siewenig gesagt, Herr Gabriel und Frau Malczak.
Sie sind stillos und haben heute einfach das Thema ver-fehlt.
Zurück zum eigentlichen Thema. Soldatin oder Soldatsoll künftig nur werden, wer sich freiwillig dafür ent-scheidet. Ergänzend dazu wollen wir mit dem Bundes-freiwilligendienst eine weitere Möglichkeit schaffen,sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Es gab noch nieso viel Freiwilligkeit in Deutschland. Die Aussetzungder Wehrpflicht ist für viele von uns, insbesondere in derCDU/CSU, eine schwierige, wenn nicht gar schmerz-hafte Entscheidung gewesen. Ich selbst habe wie vieleandere hier im Haus Wehrdienst geleistet, und zwar ausGewissensgründen. Die Wehrpflicht hat sich bewährt.Das Bild des Staatsbürgers in Uniform wird mit einerWehrpflicht gut deutlich. Arme und reiche, gebildeteund bildungsferne Menschen mit und ohne Migrations-erfahrung leisten gemeinsam Wehrdienst. Viele jungeMenschen haben durch den Wehrdienst einen unmittel-baren Eindruck von der Bundeswehr gewinnen könnenund sind nicht auf die oft verzerrten Darstellungen in denMedien angewiesen, die von extremen Einzelfällen be-richten. Aber auch viele Mütter, die Olivzeug und Fleck-tarn gewaschen haben, und viele Freundinnen, die amWochenende gewartet haben, haben sich eng mit derBundeswehr verbunden. Ich möchte allen, die Wehr-dienst geleistet haben, und auch allen Familienangehöri-gen ganz herzlich dafür danken.
Wenn wir uns nun von dieser langjährigen und be-währten Institution trennen, macht sich Wehmut breit beivielen in Deutschland, aber zu meiner Überraschungauch bei der taz; von ihr hätte ich es am wenigsten er-wartet. Die taz hat in einem Bericht geschrieben, dieWehrpflicht sei ein Mittel gegen schlechten Korpsgeistund Abschottung; von daher sei die Aussetzung zu be-dauern. Das ist sicherlich berechtigt, weil sich der Wehr-dienst, den ich übrigens nicht als Zwangsdienst, FrauBuchholz, sondern als Pflichtdienst bezeichnen würde,in der Vergangenheit zweifellos bewährt hat. Aber ge-rade das Bewährte des Wehrdienstes bzw. der Wehr-pflicht wollen wir behalten: den Staatsbürger in Uni-form, das Prinzip der Inneren Führung, die Offenheit derBundeswehr für alle gesellschaftlichen Schichten unddie verantwortungsvollen Entscheidungen über Einsätzeim Ausland.Art. 12 a des Grundgesetzes schränkt die Grundrechteein. Das bedarf einer starken Begründung. Wir könnenfeststellen, dass die Gründe, die vor rund 200 Jahrendie preußischen Heeresreformer um Scharnhorst undGneisenau dazu bewogen haben, eine allgemeine Wehr-pflicht einzuführen, und die Gründe, die vor rund 50 Jah-ren zur Wiedereinführung der Wehrpflicht geführt ha-ben, heute so nicht mehr vorliegen. Die Bedrohungslagehat sich geändert. Mittlerweile haben wir es verstärkt mitEinsätzen zur internationalen Krisen- und Konfliktbe-wältigung und einem neuen Typus militärischer Aufga-ben zu tun. Europa ist enger zusammengewachsen. Erb-feinde gibt es nicht mehr. Zum ersten Mal in unsererGeschichte sind wir nur von Freunden und Verbündetenals Nachbarn umgeben.
Für uns bleibt der Grundsatz der wehrhaften Demo-kratie, unabhängig von der Wehrform. Es bleibt auch dieVerantwortung der ganzen Gesellschaft für die Sicher-heit unseres Landes und den Frieden in der Welt. Dieskann nicht auf einige wenige delegiert werden. Die Wahlzwischen den verschiedenen Wehrformen, also die Wahlzwischen Wehrpflichtarmee und Freiwilligenarmee, isteine staatspolitische Ermessensentscheidung, bei der derGesetzgeber neben sicherheits- und verteidigungspoliti-schen Aspekten haushalts-, wirtschafts- und gesell-schaftspolitische Gesichtspunkte einbeziehen muss.Außerdem geht es heute – viele Vorredner haben dar-auf hingewiesen – nicht um die Abschaffung, sondern
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10435
Markus Grübel
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um die Aussetzung der Wehrpflicht. Der Blick in die Ge-schichte, auch in die unseres Landes, zeigt, wie schnellsich die sicherheitspolitische Lage ändern kann; das giltauch für gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Darumkommt es zu einer Aussetzung und nicht zu einer Ab-schaffung der Wehrpflicht. Ebenso wie Art. 12 a Grund-gesetz bleibt das Wehrpflichtgesetz als solches bestehenund garantiert damit die Rekonstitutionsfähigkeit derWehrpflicht.Zwei Wege ermöglichen, den Wehrdienst als Pflicht-dienst wieder einzuführen: automatisch bei Feststellungdes Spannungs- oder Verteidigungsfalls und einfachge-setzlich, wenn das heutige Gesetz wieder abgeändertwird, zum Beispiel, wenn die Bundeswehr ihren Bedarfnicht anders decken kann. Eine wichtige Herausforde-rung wird sein, dass wir viele junge Menschen für eineLaufbahn bei der Bundeswehr gewinnen. Dabei müssenwir die geeignetsten Bewerber auswählen können. DieseAufgabe ist und wird nicht einfach. Wichtig sind dierichtigen ideellen und materiellen Anreize.Das Maßnahmenpaket – 82 Maßnahmen! – zur Stei-gerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehrwurde bereits ausgearbeitet. Herr Gabriel, ich werfe Ih-nen nicht vor, dass Sie diese Details vielleicht nicht ken-nen.
Ich unterstreiche: Es gibt bereits 82 Maßnahmen, durchdie die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werdenkann.
Dieses Maßnahmenpaket muss nun priorisiert und in derTat finanziell unterlegt werden.Damit die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv ist,braucht es interessante Arbeitsplätze mit vielfältigenFortbildungsmöglichkeiten und Qualifizierungen, dieauch zivil genutzt werden können. Auch soziale Rah-menbedingungen sind für die Attraktivität eines Berufsentscheidend. Dazu zählen die Vereinbarkeit von Dienstund Familie, die Kinderbetreuung, anständige Rahmen-bedingungen für Fernpendler, auch richtige Standortent-scheidungen. Aus strukturpolitischen Gesichtspunktenwird oft auf die Standorte im ländlichen Raum verwie-sen. Wir brauchen aber auch Standorte in Ballungsräu-men. Für viele Soldatinnen und Soldaten und ihre Ange-hörigen ist es wichtig, in einem Ballungsraum stationiertzu sein, weil dort zum Beispiel der Ehemann oder dieEhefrau die Möglichkeit hat, berufstätig zu sein, weilKinder dort zur Schule gehen können etc.Neben einer erfolgreichen Personalgewinnung ist dieBundeswehr auch in Zukunft auf die Reservisten ange-wiesen. Wichtig ist daher, dass wir zukünftig stärker dasPotenzial der Reservisten ausschöpfen. Die Aufforde-rung des Reservistenverbandes „Tu was für dein Land!“möchte ich ergänzen: Tu etwas für dein Land, tu etwasfür dich – als Freiwilliger!
– Herr Gabriel, es ist richtig: Ich komme aus einem Bal-lungsraum in der Nähe von Stuttgart.
Aber die drei Standorte in meinem Wahlkreis und auchsämtliche Standorte in allen umliegenden Wahlkreisensind im Grunde längst aufgelöst.
Daher habe ich hier keine eigenen Interessen.Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kol-legen, das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 ist Teil einerumfassenden Reform der Bundeswehr, deren Ziel es ist,dafür zu sorgen, dass unsere Bundeswehr ihre Aufgabenkünftig gut erfüllen kann.Herzlichen Dank.
Ulrich Meßmer ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kolle-gin Hoff, ich will deutlich sagen: Vertrauen herstellen istja wohl etwas, was man – nicht nur in dieser Situation –nicht in erster Linie von der Opposition fordern kann;vielmehr ist das Herstellen von Vertrauen in die Hand-lungsfähigkeit einer Regierung zuallererst Aufgabe derRegierung und der beteiligten Personen. Wir äußern hierdie Sorge darüber, ob dies in Zukunft gegenüber denSoldatinnen und Soldaten noch gewährleistet werdenkann, vor allen Dingen aber gegenüber einer jungen Ge-neration, für die der Dienst in der Bundeswehr auchdank der in Angriff genommenen Gesetzesvorhaben at-traktiv werden soll.
Wir haben daran einige Zweifel.Eines möchte ich gleich klarstellen: Die Soldatinnenund Soldaten im Einsatz werden sich auch in Zukunftdarauf verlassen können, dass wir das, was für den Ein-satz erforderlich ist, mittragen. Das war in der Vergan-genheit so. Das war nicht nur das Verdienst des jetzigenMinisters, bei dem man nicht weiß, wie lange er nochMinister ist, sondern das war auch das Verdienst diesesParlaments. Wir werden dafür sorgen, dass dies auch inZukunft der Fall sein wird.
Zweite Bemerkung: Mit Blick auf den notwendigenKonsens hinsichtlich des Systems der Freiwilligkeit undauf die Frage, wie man das Modell bekannt machen
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10436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Ullrich Meßmer
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kann, reicht es nicht, allein auf die Initiative „Tu was fürdein Land!“ und auch darauf hinzuweisen, dass man dasals Parlament gemeinsam machen will. Wir vermissenAussagen dazu, wie die Opposition dort konkret einge-bunden werden soll.Wir haben mehrfach angeregt und gefordert – auchich habe das von dieser Stelle aus schon getan –, einenUnterausschuss „Attraktivität der Bundeswehr“ und ei-nen Unterausschuss „Strukturreform der Bundeswehr“einzurichten. Das ist ignoriert worden. Ich weiß nicht,warum, aber es ist ignoriert worden.Es reicht nicht aus, sich hinsichtlich der Freiwilligkeitdarauf zu berufen, dass man einen Teil der Vorschlägeder SPD dankenswerterweise in die 82 Punkte aufge-nommen hat, die angesprochen worden sind. Ich meinevielmehr, wir hätten ein Recht darauf, darüber zu disku-tieren und dies insgesamt zu gewichten.Letzter Punkt: Das System der Freiwilligkeit wirdohne finanzielle Unterfütterung langfristig nicht funktio-nieren. Wir bleiben dabei – mein Kollege Gabriel hat ge-rade schon darauf hingewiesen –: Wenn eine Armee imWettstreit mit anderen Einrichtungen und Betrieben at-traktiv für junge Menschen bleiben will, dann ist es not-wendig, glaubwürdig deutlich zu machen, was derDienst in der Bundeswehr für junge Menschen und derenFamilien bedeutet, und die Maßnahmen entsprechend fi-nanziell zu unterlegen.Ich prophezeie schon an dieser Stelle, dass es sich mitden Ankündigungen zum Sparhaushalt wahrscheinlichgenauso wie mit dem Doktortitel verhält: Das Sparziel inHöhe von 8,3 Milliarden Euro wird zwar groß angekün-digt, aber dann verabschiedet man sich Schritt für Schrittdavon.Ich sage schon jetzt: Wer nicht daran denkt, dass auchein Freiwilligendienst eine Anschubfinanzierung braucht– wir rechnen mit einer Größenordnung von 1 MilliardeEuro –, und das im Haushalt nicht abbildet, der wirdauch in dieser Frage ein Desaster erleben. Wir möchtendas vermeiden.Wir bieten abschließend an, darüber zu reden, wassinnvoll und notwendig ist. Das bedeutet aber auch – HerrMinister Schäuble ist gerade hier –, dass sich das imHaushalt wiederfinden muss. Wir können den Soldatenund den jungen Menschen nicht sagen: „Wir tun etwasfür euch“, und gleichzeitig darauf hinweisen, dass wirkein Geld haben. Das wird nicht funktionieren, undschon gar nicht mit Sozialdemokraten.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Spatz für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Zunächst einmal sind wir froh darüber, dass eine
über zehn Jahre alte Forderung der FDP, nämlich die
Aussetzung der Wehrpflicht, jetzt endlich realisiert wer-
den kann.
Wir haben sehr viel Verständnis dafür, dass sich der eine
oder andere damit schwergetan hat; denn die Wehr-
pflicht hat in der Zeit, in der sie gegolten hat, in
Deutschland und auch in weiten Teilen Europas ihren
Dienst für die Sicherheit, aber auch für die gesellschaft-
liche Kohärenz in den Ländern geleistet.
Es besteht die Gefahr, dass mit dem Wegfall dieses
Pflichtdienstes der Pflichtgedanke überhaupt infrage
steht. Deshalb ist es wichtig, dass wir eine Kultur der
Freiwilligkeit befördern, wie es unter anderem vom
Bundeswehrverband, aber auch von weiten Teilen der
sozialen und ökologischen Verbände und Einrichtungen
zum Ausdruck gebracht worden ist.
Es hat Zeit gebraucht, Frau Malczak, jeden mitzuneh-
men; das ist richtig. Aber ich halte das für keine ver-
geudete Zeit. Im Gegenteil: Wenn wir es schaffen – wir
haben es bereits geschafft –, dass sehr viele gesellschaft-
liche und parlamentarische Kräfte diesen Umbau jetzt
gestalten, dann ist das ein Fortschritt und kein Rück-
schritt. Es wird denjenigen helfen, die in der Bundes-
wehr davon betroffen sein werden.
Genauso wird es – das möchte ich gerade in Ihre Rich-
tung, Frau Malczak und Herr Gabriel, sagen – in einer
Debatte um den Bundesminister helfen, in der die Oppo-
sition natürlich das Recht hat, Fragen zu stellen. Wenn
wir in der Auseinandersetzung einen Stil pflegen, der
dem, was wir wollen, nämlich die Attraktivität zu stei-
gern, nicht Hohn spricht, dann können Sie Ihre Fragen
stellen
und Ihre Diskussionsbeiträge machen, wie Sie das
möchten, allerdings in einer Art und Weise, die der Be-
deutung des Themas gerecht wird, das heute Morgen auf
der Tagesordnung steht, nämlich der größte Umbau in
der Geschichte der Bundeswehr.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja, gerne.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10437
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Wenn ich mich in den Reihen der Koalition um-
schaue, könnte man glatt meinen, dass das nicht die
größte Reform ist, die im Bereich des Bundesministers
der Verteidigung stattfindet.
Wie interpretieren Sie das als Koalitionsabgeordnete? Ist
das ein Signal, dass sich die Koalition eigentlich bereits
vom Verteidigungsminister verabschiedet hat? Im Ple-
num hat sie es bereits getan. Wir würden im Moment
jede Abstimmung gewinnen.
Herr Kollege Beck, ich verstehe, dass Sie sofort ver-
suchen, Ihre Schlüsse zu ziehen. Ich bedauere wirklich,
dass bei der Fachdebatte heute in allen Parteien – auch
bei Ihnen – weniger Kollegen anwesend sind, als das
gestern der Fall war.
Wenn wir in Bezug auf die Bundeswehr vom Einsatz her
denken, müssen wir auch von den Soldaten her denken.
Deshalb ist das Thema „Attraktivitätssteigerung“ mit
den 82 vorgelegten Punkten ein richtiger Ansatz.
Zwei Themen will ich allerdings noch ansprechen, die
in der Debatte eine Rolle spielen und die der Klarstel-
lung bedürfen: Erstens. Das Argument „Leichter einsetz-
bar, weil keine Wehrpflichtarmee“ trägt überhaupt nicht.
Der Bundestag wird auch in Zukunft bei jeder Entschei-
dung sehr genau darauf achten, wo, in welchem Umfang
und mit welchen Einsatzregeln die Bundeswehr einge-
setzt wird. Alles andere ist nicht möglich; wir werden
keine Freiwilligen bekommen, die sich für irgendwelche
politischen Abenteuer zur Verfügung stellen.
Zweitens. Das Thema „Sparen“: Es ist wohlfeil von
der Opposition, mehr Geld zu fordern. Lassen Sie sich
aber gesagt sein: Wenn Sie das Thema „Ganzheitliche
Sicherheit“ ernst nehmen, dann wird Ihnen nicht entgan-
gen sein, dass wir auch Geld brauchen, um zivile Kapa-
zitäten aufzubauen. Dann wird Ihnen auch nicht entgan-
gen sein, dass wir gerade in Nordafrika wirtschaftlich
gefragt sein werden, um auf zivile Art und Weise Stabili-
tät zu erzeugen.
Wenn Sie die Situation ganzheitlich sehen, dann können
Sie nicht einfach die Einsparungsziele gegen das auf-
rechnen, was wir vermeintlich an militärischer Sicher-
heit gewinnen. Deshalb gibt es in ganzheitlichem Sinne
keine Sicherheit nach Kassenlage.
Was die Bundeswehr im Einsatz benötigt und was wir
für die Attraktivitätssteigerung brauchen, wird sicher
auch von der Regierung und den Parteien der Koalition
zur Verfügung gestellt werden.
Danke schön.
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der Minister der Verteidigung hat im März vergan-genen Jahres gesagt: „Mit mir ist eine Abschaffung derWehrpflicht nicht zu machen.“ Im Mai letzten Jahres hater noch einmal begründet, warum die Wehrpflicht si-cherheitspolitisch notwendig ist. Im November hat erdann dargelegt, warum sie sicherheitspolitisch nichtmehr begründbar ist.Die Frage lautet also: Was hat sich sicherheitspoli-tisch zwischen Mai und November letzten Jahres verän-dert? Die Antwort lautet: Nichts. Es hat allerdings etwasanderes gegeben, und zwar die Euro-Krise und denzweiten Teil des Bankenrettungspakets. Dies ging mas-siv zulasten der öffentlichen Kassen. Es war der stummeZwang des allzu knappen Geldes, das Sie zu Eingeständ-nissen geführt hat, die man aus ideologischen Gründenlange abgeblockt hat. Das geschah leider zulasten Zehn-tausender junger Männer, die den Dienst an der Waffenicht enthusiastisch geleistet haben.
„Sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen“ be-deutet, dass es keine direkte militärische BedrohungDeutschlands gibt, und das auf absehbare Zeit. Das sa-gen Sie selber. Es handelt sich um Zeiträume von deut-lich mehr als fünf Jahren. Man hätte die Sache abergleich konsequent anpacken müssen. Das heißt: DieWehrpflicht abschaffen statt sie nur auszusetzen.
Die Frage ist jetzt: Was kommt danach? Das fragensich auch Tausende junger Männer und Frauen, die jetztzum Glück anfangen können, zu studieren. Sie fragensich: Sind entsprechende Vorkehrungen an den Hoch-schulen getroffen worden? Aber da passiert nichts. Hiermüsste viel mehr investiert werden, um entsprechendeBedingungen zu schaffen. Das tun Sie aber nicht. Das
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10438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Paul Schäfer
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nenne ich chaotische Politik. Das hat mit Stringenznichts zu tun.
Sie wollen jetzt den Zwangsdienst Wehrpflicht durcheinen sogenannten freiwilligen Militärdienst ersetzen.Wenn man sich das näher anschaut, stellt man fest, dasssich dieser nicht so sehr von dem derzeit schon bestehen-den Institut der freiwillig länger dienenden Rekruten un-terscheidet. Die neuen Freiwilligen sollen nur ein biss-chen mehr Geld bekommen und müssen noch nicht anden Militäreinsätzen im Ausland teilnehmen.Was an dieser neuen Konstruktion stört, ist, da es sichja doch um eine Vorentscheidung für den Soldatenberufhandelt, dass Sie dieses jetzt mit dem ehrenamtlichenfreiwilligen Engagement junger Menschen assoziierenbzw. verknüpfen. Hinzu kommt wohl noch, dass dasnoch ein bisschen patriotisch verklärt wird. Aber dass essich eigentlich um etwas anderes handelt, wird darandeutlich, dass es keine Gleichstellung mit dem Freiwilli-gen Sozialen Jahr oder dem Freiwilligen ÖkologischenJahr gibt. Diejenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ machen,bekommen roundabout 400 Euro als Kostenerstattungund Taschengeld. Der anderen Gruppe wollen Sie1 100 Euro zahlen. Und wieso darf der Bundesministerder Verteidigung alle, die bald die Volljährigkeit errei-chen, anschreiben und zur Musterung einladen, die Fa-milien- und Jugendministerin das aber nicht für die Frei-willigendienste tun? Das ist doch der Unterschied. Wennman das schon so ins Gesetz schreibt, dann muss gelten:Gleiches Recht für alle.
Dann brauchen wir gleiche Bezahlung und gleiche Ver-günstigungen. Daran werden wir Sie messen, ob Sie dasmachen.Ein Weiteres möchte ich noch klarstellen: Wir wollen– Sie werben ja jetzt viel –, dass Sie die Jugendlichen of-fen und ehrlich darüber informieren, was sie erwartet,damit sie sich mit Krieg und dessen Folgen auseinander-setzen können und nicht nur mit dem Argument geködertwerden, es handle sich um einen spannenden Beruf in ei-nem Hightech-Dienstleistungsunternehmen. Das wollenwir nicht.Sie bauen dieses Gesetz ja ein in die Neuausrichtungder Bundeswehr. Das ist gewissermaßen der erste Schrittdazu. Dazu können wir nur sagen: Die Gesamtrichtungstimmt nicht. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Siehätten mit einer seriösen Bilanz der bisherigen Ausland-seinsätze der Bundeswehr beginnen müssen, um darausSchlüsse zu ziehen, ob wir uns künftig an solchen Mili-tärinterventionen beteiligen oder nicht. Dann wäre manmöglicherweise darauf gekommen, dass Afghanistan,und nicht nur Afghanistan, für künftige Bundeswehrein-sätze keine Blaupause sein kann und sein darf.
Sie aber wollen den Auftrag an die Truppe in der Hin-sicht nicht nur fortschreiben, sondern auch noch ver-schärfen. So habe ich Sie verstanden, Herr Bundesminis-ter. Denn wer sagt, die Sicherung der Rohstoffquellen seiauch unter militärischen Gesichtspunkten zu sehen, undwer der Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen notfallsmit militärischer Gewalt das Wort redet, der verwechseltoffensichtlich das Jahr 2011 mit 1911. Aber dahin wol-len wir nicht zurück.
Wenn schon, dann wollen wir höchstens zurück zu einerKultur strikter Zurückhaltung und zu einer Bundeswehr,die sich strikt am Zweck der Verteidigung orientiert. Einsolcher Kurswechsel ist angesagt, nicht Ihre Bundes-wehrreform!Danke.
Der Kollege Jürgen Trittin ist der nächste Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehörezu denen, die in den 70er-Jahren des letzten Jahrhundertsdas zweifelhafte Vergnügen hatten, auch wenn das le-bensgeschichtlich durchaus eine Bereicherung war, so-wohl ein halbes Jahr in der Bundeswehr gedient wieauch nach erfolgter Anerkennung als Kriegsdienstver-weigerer meinen Zivildienst gemacht zu haben.
Wenn heute die Entscheidung getroffen wird, die Wehr-pflicht auszusetzen, kann ich dazu nur sagen: Eine sol-che Entscheidung kommt in meinen Augen zehn Jahrezu spät.
– Sie kommt wenigstens, aber sie kommt übrigens auchnicht mutig. Mutig, Herr Minister zu Guttenberg, wärees gewesen, die Wehrpflicht tatsächlich abzuschaffen.
Die Feststellung, die Sie getroffen haben, nämlichdass wir seit Jahren von Freunden umgeben sind, gilt imGrunde genommen seit 1989. Sie haben 20 Jahre ge-braucht, aus dieser Erkenntnis Schlussfolgerungen zuziehen.Angesichts der Tatsache, dass jetzt die Bundeswehrumgebaut werden soll, hätte diese Gesellschaft nebenden notwendigen Debatten darüber, was das an Geldkostet und was das mit Blick auf Standorte an schmerz-haften Entscheidungen zur Folge hat, doch eigentlicheine große Debatte darüber verdient, zu welchem Zweckwir uns als Gesellschaft bewaffnete Streitkräfte in die-sem Lande halten. Neben der guten Nachricht, dass wiraus dem Zeitalter der Blockkonfrontation heraus sind,gibt es auch eine unpopuläre Botschaft. Denn es ist so,dass auf diesem Globus weiterhin globale Risiken zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10439
Jürgen Trittin
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Staatszerfall und zum Zerfall von Gesellschaften führen.Es ist daher eine der zwingendsten und dringendstenAufgaben der Weltgemeinschaft, dieser Entwicklungentgegenzutreten. Bestandteil der Maßnahmen, dem ent-gegenzuwirken, ist zwar im Wesentlichen ein zunehmen-der Einsatz von zivilen Kräften, aber dazu gehört auchdie Beteiligung von Militär.Die Botschaft, die Sie eigentlich aussenden müssen,wäre: Daran wird sich Deutschland leider auch künftigbeteiligen müssen. Dafür brauchen wir hochqualifizierte,gut ausgebildete und gut ausgerüstete Soldatinnen undSoldaten. – Das ist eine unpopuläre Botschaft. Da kannman, Herr Minister, auch einmal Mut beweisen.
Die Frage ist aber, ob Sie dazu überhaupt noch in derLage sind. Nimmt Ihnen angesichts des beispiellosenSchlingerkurses, den Sie in der Sache bei diversen Zwi-schenfällen in der Bundeswehr, aber auch in der Frageder Wehrpflicht an den Tag gelegt haben, überhauptnoch irgendjemand diese unpopuläre und schwierigeBotschaft ab?
Es gibt allerdings – damit will ich schließen –
eine Konstante in Ihrem politischen Wirken. Sie habenimmer darauf geachtet, die Unterstützung der Bild-Zei-tung, der Bild am Sonntag und von Bild.de zu haben
– Nein, ich rede insbesondere von diesen dreien. – Sie ha-ben heute Morgen unterschlagen, dass im Onlineforumvon Bild.de von den 640 000 Leuten, die abgestimmt ha-ben, 55 000 Ihren Rücktritt gefordert haben, Herr Minis-ter.
Der Unterstützung dieser Zeitung konnten Sie sich im-mer sicher sein.Jetzt finde ich es hochinteressant, an wen die Auf-träge gehen sollen, mit denen um Freiwillige geworbenwerden soll, nämlich ausschließlich an Bild, BamS undBild.de.
Eine Bundeswehrreform, die auf einem schmutzigenDeal mit der Springerpresse beruht, wird und kann nichtgelingen.
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen, we-
nigstens einen Satz zu dem Thema zu sagen, von dem
die Opposition meint, sie müsse es weiter strapazieren:
Getretener Quark wird breit, nicht stark.
Es ist wirklich schade, dass das wichtige Thema der
Bundeswehrreform – das vorliegende Gesetz ist viel-
leicht das wichtigste Gesetz im Zusammenhang mit der
Bundeswehr, das wir in dieser Legislaturperiode verab-
schieden – von Ihnen missbraucht wird, um eine Debatte
zu führen, die eigentlich gestern, wie ich finde, ihren
Abschluss gefunden hat.
Sie erweisen der Bundeswehr keinen guten Dienst, wenn
Sie auf diese Weise fortfahren.
Herr Gabriel, Sie haben dem Minister unterstellt, er
würde hier die Bundeswehrreform unstrukturiert darstel-
len. Ich kann nur feststellen, dass der Minister bei sei-
nem Amtsantritt vor 15 Monaten gesagt hat:
Ich werde innerhalb des Ministeriums eine Studie über
die vorhandenen Reformbedürfnisse anfertigen lassen. –
Diese Studie hat er fristgerecht vorgelegt. Das war das
Wieker-Papier. Er hat dann gesagt: Wir bilden eine ex-
terne Kommission – das war die Weise-Kommission –,
sie wird ihre Ergebnisse bis zum Herbst vorlegen. – Sie
hat ihre sehr guten Ergebnisse im letzten Herbst vorge-
legt. Dann hat er angekündigt, dass er bis Ende Januar
einen Vorschlag für die Struktur des Ministeriums und
der nachgeordneten Behörden vorlegen wird. Er hat uns
das Papier auf den Tag genau Ende Januar präsentiert.
Weiter hat er angekündigt, einen entsprechenden Attrak-
tivitätskatalog für die Bundeswehr vorzulegen. Er liegt
dem Verteidigungsausschuss seit 14 Tagen vor.
Jetzt hat er angekündigt, zum 1. Juli ein Gesetz vorzule-
gen, die Wehrpflicht auszusetzen. Sie sehen am Zeitplan,
dass das entsprechend möglich ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage derKollegin Malczak?
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10440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Bitte, Frau Malczak.
Herr Kollege Hardt, können Sie mir, wenn das alles
so strukturiert abgelaufen ist, vielleicht noch mal erklä-
ren, was denn jetzt eigentlich der Sinn der Verkürzung
des Wehrdienstes auf sechs Monate war und warum das
dann vor dem Papier der Weise-Kommission als Maß-
nahme ergriffen wurde?
Das hat unheimlich viel gekostet. Es hat auch die Bun-
deswehr sehr strapaziert, das jetzt so schnell umzuset-
zen. Vielleicht können Sie mir einfach noch mal den
Sinn erklären, warum man „W 6“ gemacht hat, um dann
ein paar Monate später die Wehrpflicht auszusetzen.
Das kann ich Ihnen genau sagen: Durch die Entschei-dung, auf „W 6“ zu gehen, gibt es für die Wehrdienst-leistenden zu den Einberufungsterminen, die jetzt zwi-schen dieser Umstellung und der entsprechendenAussetzung der Wehrpflicht liegen, mehr Wehrgerech-tigkeit.
Das war eines der gravierendsten Probleme. Ich glaube,dass es ein vernünftiger Schritt war, das so zu machen.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das, was zum1. Juli vorliegen wird – jetzt möchte ich zum Themakommen, nämlich zur Aussetzung der Wehrpflicht –, ei-ner der entscheidendsten Schritte der Bundeswehrreformsein wird, weil es natürlich in Bezug auf die Gewinnungvon Zeit- und Berufssoldaten sowie von freiwillig Wehr-dienstleistenden besondere neue Anforderungen an dieBundeswehr stellt.Zur Aussetzung der Wehrpflicht gibt es, wie ich finde,verfassungsrechtlich keine Alternative. Die einzig zuläs-sige Begründung, um die Wehrpflicht aufrechtzuerhal-ten, wäre, dass die Wehrpflichtigen einen unverzichtba-ren Beitrag zur Verteidigung unseres Landes leisten. Daskönnen wir heute in dieser Form nicht mehr nachweisen.Sich auf den Aspekt zu stützen, dass es gesellschaftspo-litisch durchaus erwünscht ist, dass junge Menschen et-was für unsere Gemeinschaft tun, ist eben verfassungs-rechtlich nicht haltbar. Dies schmerzt insbesondere vielevon uns Christdemokraten. Diese Möglichkeit wollenwir durch die Einführung des Bundesfreiwilligendiens-tes bzw. durch den Freiwilligendienst bei der Bundes-wehr erhalten.In der Bundeswehr haben 8 427 288 Wehrpflichtigegedient. Wenn man denen persönlich die Hand schüttelnwollte, wäre man sechs Monate lang Tag und Nacht da-mit beschäftigt. Deswegen möchte ich auch im Namendes Bundestages all denen herzlichen Dank sagen, dieWehrdienst geleistet haben. Ich möchte auch ausdrück-lich denen Dank sagen, die im Zivildienst oder im zivi-len Katastrophenschutz ihren Dienst geleistet haben. Daswar auch ein Pflichtdienst, aber es war keinesfalls einDienst, der nicht auch mit dem Herzen gemacht wurde.Ich finde, es ist bei dieser Gelegenheit auch angemessen,das gleichermaßen zu würdigen.
Was ist jetzt zu tun, damit der Übergang von derWehrpflicht zur Freiwilligenarmee gelingt? Erstens müs-sen die Rahmenbedingungen für den Dienst in der Bun-deswehr attraktiv gestaltet sein. Das gilt für Sold undPrämien, es gilt aber auch für andere Faktoren wie dieVereinbarkeit von Familie und Dienst, die Frage derLaufbahnstrukturen und natürlich das weite Feld derAus- und Weiterbildung in der Bundeswehr.Jeder Soldat, der länger in der Bundeswehr dient,sollte eine seiner Eignung und Neigung entsprechende,auch zivil nutzbare Ausbildung erhalten. Das fängt mitdem Schulabschluss an und geht weiter bis zum Diplomoder Master für diejenigen, die sich als Offizier längerverpflichten. Ich glaube, die Bundeswehr hat hier bereitsden richtigen Weg eingeschlagen. Ich finde all das, wasin dem Attraktivitätssteigerungspapier zu diesen Punk-ten steht, richtig.Zweitens geht es natürlich jetzt um die Gewinnungvon Personal für die Bundeswehr durch Herstellung vonTransparenz und Klarheit über die Rahmenbedingungen.Im Augenblick haben wir zwar bei den Zeit- und Berufs-soldaten eine zufriedenstellende Bewerberquote, aberwir haben im Bereich der freiwillig Wehrdienstleisten-den deutlich weniger Neueinstellungen, als eingeplantwar. Das ist im Augenblick noch kein akutes Problem,aber es geht darum, dass wir jetzt auch durch zügige Be-ratung des Gesetzentwurfes die Rahmenbedingungen soklarmachen, dass jeder, der bei der Bundeswehr anfängt,auch weiß, was er davon hat.Ich füge hinzu: Es ist wichtig, zu betonen, dass alleLeistungen, die wir mit diesem Gesetz beschließen wer-den, auch auf diejenigen Anwendung finden, die sich be-reits heute zu einer Unterschrift entscheiden. Es wärewirklich schade, wenn junge Männer und Frauen alleindeshalb eine Verpflichtung bei der Bundeswehr nichteingehen, weil sie die Befürchtung haben, dass dann be-stimmte Vergünstigungen möglicherweise bei ihnennicht Anwendung finden.Drittens. Es ist mindestens genauso wichtig, dass dieÄnderung der Wehrform zumindest in der Übergangs-phase nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Die Stei-gerung der Attraktivität der Bundeswehr kostet Geld,selbst wenn die Zahl der Soldaten deutlich abnehmenwird. Hier gilt das Wort von Minister und Bundeskanzle-rin, dass die Zukunft leistungsfähiger Streitkräfte nichtallein von finanziellen Erwägungen abhängig gemachtwerden kann. Die Parteitage von CDU und CSU habensich dazu entsprechend geäußert. Wer in der Bundes-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10441
Jürgen Hardt
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wehr dient oder dort zukünftig dienen möchte, soll wis-sen, dass er in der Truppe eine individuelle, gute Zu-kunftsperspektive erhält; das hat eben auch mit Geld zutun.Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung desWehrrechts ist ein zentraler Baustein der Bundeswehrre-form. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werdenzügig über ihn beraten und damit eine rasche Beschluss-fassung vor Ostern ermöglichen. Wir wollen einen er-folgreichen Start für unsere neue Bundeswehr.Danke schön.
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-
Fraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Mit der heutigen ersten Lesung des Wehrrechtsände-rungsgesetzes vollziehen wir den ersten parlamentari-schen Schritt der größten Reform der Bundeswehr seitdem Ende des Kalten Krieges. Damals, vor gut20 Jahren, standen noch die Panzer des Warschauer Pak-tes an unserer Ostgrenze; wir mussten ständig in derLage sein, einen direkten Angriff auf unser Territoriumabzuwehren. Diese Gefahr besteht Gott sei Dank nichtmehr.Die Welt ist aber seit dieser Zeit nicht nur friedlichergeworden: Es gibt neue, sich ständig wandelnde, zumgroßen Teil asymmetrisch gelagerte Bedrohungen unse-rer Freiheit und Sicherheit. Wir begegnen der veränder-ten Sicherheitslage mit einer breiten Palette an zivilenund diplomatischen Mitteln. Es treten aber immer wie-der Situationen ein, in denen wir gezwungen sind, dieBundeswehr als letztes verfügbares Mittel und als Teilder internationalen Gemeinschaft in einen Einsatz zuentsenden. Wir haben letzten Freitag wieder auf traurigeWeise erfahren müssen, wie gefährlich solch ein Einsatzsein kann.Wir stehen bei der Mandatierung der Einsätze in derVerantwortung, die Bundeswehr dafür optimal aufzustel-len und auszurüsten. Gemessen an dem, was unsere Sol-daten heute im Einsatz leisten müssen, haben wir diesesZiel trotz zahlreicher Anstrengungen in den vergangenenJahren noch nicht vollständig erreicht. Von dieser Ver-antwortung getragen haben wir uns im letzten Jahr ent-schieden, die Bundeswehr neu zu strukturieren, sie ins-gesamt zu verkleinern und dafür die Soldaten besserauszurüsten sowie ihren Dienst attraktiver zu gestalten.Ein Baustein der Reform ist die Aussetzung derWehrpflicht, über die wir heute hier im Parlament disku-tieren. Wir haben uns diesen Schritt nicht leicht ge-macht; er ist nicht nur von dieser Reform getrieben. DieWehrpflicht hat sich in den letzten 55 Jahren in vielerleiHinsicht bewährt. Wir stehen aber gegenüber den jungenMännern, die wir zu diesem Pflichtdienst heranziehen, inder Verantwortung, immer wieder neu zu hinterfragen,ob ihr Dienst tatsächlich noch sicherheitspolitisch be-gründet werden kann oder nicht. Eine solche Begrün-dung können wir heute nicht mehr zweifelsfrei geben.Wir vollziehen jetzt den für uns schweren, aber konse-quenten Schritt der Aussetzung der Wehrpflicht.Ein solcher Grundrechtseingriff kann eindeutig nurmit einer sicherheitspolitischen Begründung legitimiertwerden. Ich betone das deshalb, weil die Einführung ei-ner allgemeinen Dienstpflicht für mich persönlich dienäherliegende Antwort gewesen wäre. Ich musste abernach zahlreichen Diskussionen einsehen, dass dies we-der unsere Verfassung noch das Völkerrecht zulassen.Dass diese Debatte heute keine allzu großen Wellenschlägt, haben wir in erster Linie unserem Minister Karl-Theodor zu Guttenberg zu verdanken. Er hat es mit sei-ner Persönlichkeit und seiner Überzeugungskraft im ver-gangenen Jahr geschafft, die Menschen innerhalb undaußerhalb der Bundeswehr für diese Reform zu gewin-nen.Meine Damen und Herren von der Opposition, bei derReform liegen wir inhaltlich nicht weit auseinander. Ge-rade deswegen müssten Sie die Leistung des Ministersanerkennen.
Stattdessen sind Ihre heutigen Debattenbeiträge geprägtvon einer überhöhten Selbstgerechtigkeit und der offe-nen Genugtuung, endlich etwas gefunden zu haben, mitdem Sie hoffen, ihm persönlich schaden zu können.
Überlegen Sie selbstkritisch, ob Sie jemanden in IhrenReihen haben, dem die Vermittlung dieser Reform auchnur annähernd in dieser Form gelungen wäre.
Es mag Sie politisch bzw. wahltaktisch stören, dassKarl-Theodor zu Guttenberg ein hohes Maß an Ver-trauen in der Bevölkerung genießt, aber Tatsache ist: Ineinem solchen schwierigen Reformprozess einen sol-chen Minister an der Spitze des Bundesverteidigungsmi-nisteriums zu haben, ist ein Glücksfall für unser Landund unsere Bundeswehr.
Täuschen Sie sich nicht: Die Menschen in unserem Landunterscheiden sehr genau, welcher Beitrag der Sachedient und bei welchem Beitrag es nur darum geht, je-mandem persönlich zu schaden.
Das hätte ich Herrn Trittin – leider hat er die Debattenicht bis zum Ende verfolgt – gerne persönlich gesagt.
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10442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dr. Reinhard Brandl
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Er hat es in seinem Beitrag fast geschafft, nur zur Sachezu sprechen. Aber am Ende ist er wieder abgerutscht aufein Niveau der Unterstellungen und der Verleumdung.
Das war schade;
denn die Sache ist viel wichtiger als ein Hinweis auf dieZustimmungswerte einer bestimmten Person.Die Reform, die wir in den nächsten Wochen im Bun-destag besprechen, wird unsere Parlamentsarmee überJahrzehnte hinweg prägen. Wir haben dabei als die heutein der Verantwortung stehenden Parlamentarier den Auf-trag, die Bundeswehr der Zukunft mitzugestalten unddafür zu sorgen, dass sie die Gesellschaft auch in Zu-kunft angemessen repräsentiert und sich nicht von ihrabkoppelt. Die Menschen werden uns als Koalition, aberauch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,daran messen, ob wir dieser Verantwortung gerecht wer-den. Heute sind Sie es zumindest nicht geworden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf der Drucksache 17/4821 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – AndereVorschläge dazu liegen mir nicht vor. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKorrektur der Überleitung von DDR-Alters-sicherungen in bundesdeutsches Recht– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGerechte Alterseinkünfte für Beschäftigteim Gesundheits- und Sozialwesen der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGerechte Lösung für rentenrechtliche Situa-tion von in der DDR Geschiedenen– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGerechte Versorgungslösung für Ballettmit-glieder in der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERegelung der Ansprüche der Bergleute derBraunkohleveredlung– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBeseitigung von Rentennachteilen für Zeitender Pflege von Angehörigen in der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenrechtliche Lösung für Land- undForstwirte, Handwerkerinnen und Hand-werker, andere Selbständige sowie derenmithelfende Familienangehörige aus derDDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenrechtliche Anerkennung von zweitenund vereinbart verlängerten Bildungswegensowie Forschungsstudien und Aspiranturenin der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenrechtliche Anerkennung von DDR-Regelungen für ins Ausland mitgereiste Ehe-partnerinnen und Ehepartner sowie von imAusland erworbenen Ansprüchen– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenrechtliche Anerkennung aller freiwil-ligen Beiträge aus DDR-Zeiten– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10443
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Befristetes System „sui generis“ für die Be-seitigung des Versorgungsunrechts bei denZusatz- und Sonderversorgungen der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEVertrauensschutz für Versorgungsberech-tigte der DDR mit einem Ruhestandsbeginnbis zum 30. Juni 1995 schaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERegelung der Ansprüche und Anwartschaf-ten auf Alterssicherung für Angehörige derDeutschen Reichsbahn der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERegelung der Ansprüche und Anwartschaf-ten auf Alterssicherung für Angehörige derDeutschen Post der DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAngemessene Altersversorgung für Profes-sorinnen und Professoren neuen Rechts,Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienstund weitere Beschäftigte universitärer undanderer wissenschaftlicher Einrichtungen inOstdeutschland– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAngemessene Altersversorgung für Beschäf-tigte des öffentlichen Dienstes der DDR, dienach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAngemessene Altersversorgung für Angehö-rige von Bundeswehr, Zoll und Polizei, diemit DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990ihre Tätigkeit fortgesetzt haben– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEEinheitliche Regelung der Altersversorgungfür Angehörige der technischen Intelligenzder DDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEWertneutralität im Rentenrecht auch fürPersonen mit bestimmten Funktionen in derDDR– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerbesserung der Versorgung der im Bei-trittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 Geschie-denen– Drucksachen 17/1631, 17/3871, 17/3872, 17/3873,17/3874, 17/3875, 17/3876, 17/3877, 17/3878,17/3879, 17/3880, 17/3881, 17/3882, 17/3883,17/3884, 17/3885, 17/3886, 17/3887, 17/3888,17/4195, 17/4769 –Berichterstattung:Abgeordnete Silvia Schmidt
Beide Fraktionen haben namentliche Abstimmungverlangt. Deshalb werden wir nach der Aussprache zu-nächst über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke na-mentlich auf einem Stimmzettel abstimmen. Anschlie-ßend erfolgt die namentliche Abstimmung mit derüblichen Stimmkarte über die Beschlussempfehlung zudem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wirwerden also zwei getrennte Abstimmungsgänge durch-führen.Auch für diese Aussprache sind nach einer interfrakti-onellen Vereinbarung 90 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-neten! In diesem Tagesordnungspunkt geht es um ge-rechte Alterseinkünfte für Beschäftigte in der DDR. DieAntragsteller führen auf Drucksache 17/1631 zumSchluss aus:20 Jahre nach Herstellung der Einheit ist es an derZeit, Regelungen zu treffen, die den sozialen Frie-den zwischen Ost und West befördern. Dazu gehörtunabdingbar auch die Angleichung des Renten-werts Ost an West …Wenn man über die Rente in Ost und West redet, dannlohnt es sich, gelegentlich noch einmal darüber nachzu-denken, woher wir bei diesem Thema kommen. Die
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10444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Eckhardt Rehberg
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Mindestrente betrug 1983 in der DDR 270 Mark. Dassind Almosen.
1984 gab es 300 Mark Mindestrente,
nach 45 Arbeitsjahren gab es 370 Mark. Bei einem Brut-todurchschnittslohn 1984 von 1 080 DDR-Mark erhieltein Rentner also ein Almosen von einem Drittel seinesletzten Bruttodurchschnittslohnes.
Wenn ich heute über Durchschnittsrenten von über1 000 Euro rede, dann wird deutlich, dass dies die Er-folgsgeschichte der deutschen Einheit, der Erfolg derletzten zwei Jahrzehnte ist.
Neben der Rente für die Masse der Beschäftigten inder DDR gab es 63 Zusatzversorgungssysteme und vierSonderversorgungssysteme. In diesen 63 Zusatz- bzw.vier Sonderversorgungssystemen wurde das Rentenni-veau dann auf 90 Prozent bis 100 Prozent des letztenNettolohnes angehoben. Es ist aber ganz bemerkenswert,für wen das galt: Es gab vier Sonderversorgungssystemefür die Nationale Volksarmee, für die Volkspolizei, fürdie Zollverwaltung und für das MfS. Zusatzversorgungs-systeme gab es für die technische Intelligenz, für haupt-amtliche Mitarbeiter des Staatsapparates usw.Meine Damen und Herren von den Linken, besonderspervers war die Einführung der Freiwilligen Zusatzren-tenversicherung 1971. Man merkte, dass die normaleRente so niedrig war, dass sie im Alter nicht mehr zumLeben reichte. Wer dann mehr Rente haben wollte imreal existierenden Sozialismus, der musste sich privatzusätzlich versichern. Das muss man sich einmal auf derZunge zergehen lassen.Viele haben außerdem vergessen, wie es chronischKranken ergangen ist. Sie hatten einen gesetzlichenKrankengeldanspruch von 300 DDR-Mark ab der sieb-ten Krankheitswoche, wenn sie nicht freiwillig zusatz-versichert waren. Lassen Sie sich bitte einmal auf derZunge zergehen, was das zu DDR-Zeiten für chronischKranke bedeutet hat.Bereits an diesen wenigen Beispielen wird der Unter-schied zwischen dem werteorientierten System der sozi-alen Marktwirtschaft und dem ideologiebehafteten Sys-tem des Sozialismus deutlich. Das ist ein Kernpunkt.
Die Rentengeschichte der letzten zwei Jahrzehnte istmehr als eine Erfolgsstory. Aus meiner Sicht haben wirviel zu wenig kommuniziert, dass wir die ostdeutschenLöhne auf den Durchschnittslohn West angehoben haben.Wir haben 1990 mit dem Faktor 3 begonnen und sindheute bei einer Aufwertung um knapp 19 Prozent. Bei-spielsweise bekommt heute ein Arbeitnehmer in Rostock,der 10 Euro brutto verdient, eine Aufwertung von1,90 Euro und erhält das Rentenwertäquivalent einesBruttolohns von 11,90 Euro, obwohl er nur einen Renten-beitrag für 10 Euro bezahlt. Dieses haben viele aus demBlick verloren, wenn sie leichtfertig darüber reden, dasswir den Rentenwert Ost an West angleichen müssen.
Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften solche Ver-einbarungen schließen, wie in den letzten Wochen zumBeispiel für den Bereich der Zeitarbeit – branchenbezo-gener Mindestlohn Ost: 6,89 Euro, branchenbezogenerMindestlohn West: 7,79 Euro, Differenz: 90 Cent –,kann man aus Sicht der Arbeitgeber vielleicht sagen: Da-für habe ich Verständnis. Aus Sicht der Gewerkschaftenmuss man aber sagen: Dafür habe ich überhaupt keinVerständnis. Ich habe gar kein Verständnis dafür, dassdiese Schere in 2013 nicht deutlich, sondern lediglichgeringfügig zusammengeht. Dann sinkt die Differenzvon 90 Cent auf 79 Cent. Das heißt, solange zwischenArbeitgebern und Gewerkschaften keine in Ost und Westgleichen branchenspezifischen Mindestlöhne vereinbartwerden, brauchen wir uns des ganzen Komplexes Ren-tenwert Ost/West bzw. Aufwertung der Löhne erst garnicht anzunehmen.Ich will noch einen Punkt ansprechen, weil immerwieder beklagt wird, dass keine Rentengerechtigkeit her-gestellt wurde. Die Punkte, die Sie in Ihren 19 Anträgenanführen, haben aus meiner Sicht nichts im Rentenrechtzu suchen. Allein zwischen 2001 und 2010 haben Bundund Länder rund 34 Milliarden Euro in die Abgeltungder Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorungssys-temen stecken müssen. Pro Jahr sind das etwa 4 Mil-liarden Euro; das müssen Sie sich einmal auf der Zungezergehen lassen. Angesichts dieser Tatsache könnenSie von den Linken nicht sagen, dass für die Beschäf-tigten in der DDR keine Rentengerechtigkeit herge-stellt wurde.
Lassen Sie mich auch noch anmerken, dass die Zahlenfrappierend sind. Rentenentgeltpunkte ≥ 1 – Durchschnitts-lohn oder mehr – haben im Jahr 2009 55 Prozent der Män-ner im Westen, 50 Prozent der Männer im Osten, 16 Pro-zent der Frauen im Westen und 14,4 Prozent der Frauenim Osten erworben. Das Beeindruckende ist für mich– das ist für mich ein Maßstab für Gerechtigkeit –, dass imOsten 38 Prozent der Männer und Frauen zusammen eineMonatsrente ≥ 1 050 Euro erreicht haben. Im Westen sinddas nur 32 Prozent. Wenn jemand sagt, dass die Rentne-rinnen und Rentner im Osten, gleich ob Bestands- oderZugangsrentner, benachteiligt werden, muss ich sagen:Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Den Rentnernaus dem Osten ist mehr als Gerechtigkeit und Solidaritätwiderfahren. Die Überleitung in das Rentensystem ist eineErfolgsgeschichte der deutschen Einheit. Meine Damenund Herren von der Linken, das lassen wir uns von Ihnennicht kaputt- und auch nicht kleinreden.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10445
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Ich erteile das Wort der Kollegin Silvia Schmidt für
die SPD-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Sehr verehrter Herr Rehberg, ichhabe eine Korrekturanmerkung: Die männlichen Zu-gangsrentner im Osten haben seit 2008 5 Euro wenigerals die Zugangsrentner West. Die Schere geht auch indiesem Bereich immer weiter auseinander.Als Willy Brandt gesagt hat: „Jetzt wächst zusam-men, was zusammengehört“, waren wir alle, glaube ich,voller Freude. Wir wussten aber auch, dass das ein lan-ger und schwieriger Weg wird, dass das eine Herausfor-derung für unser Land ist. Gerade das Rentenüberlei-tungsgesetz ist – ich glaube, darin sind wir uns alle einig –eine einmalige historische Leistung. Das war ein großerErfolg. Das können wir alle hier feststellen.
Dieser Prozess des Zusammenwachsens ist aber nochnicht beendet, weder gesellschaftlich noch konkret imRentenrecht. Deshalb ist eine Angleichung der Renten-systeme, die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU undFDP versprochen wurde, eine wichtige, aber bestimmtkeine einfache Herausforderung. In der letzten Legisla-turperiode haben auch wir das versucht. Das haben wirgesagt, und natürlich sind wir das auch angegangen. Dadieses große, schwierige und komplexe Thema abernicht so leicht zu stemmen ist, sind wir keinen großenSchritt weitergekommen.Es gibt Fragen, die wir sehr schnell klären können.Ich könnte mir vorstellen, dass Kindererziehungszeitenim Osten wie im Westen gleich bewertet werden. ImWesten führen sie zu einem monatlichen Zahlbetrag inHöhe von 27,30 Euro, in den neuen Bundesländern zueinem monatlichen Zahlbetrag von 24,13 Euro. DieWehrpflichtzeiten führen zu einem monatlichen Zahlbe-trag von im Osten ungefähr 12 Euro, im Westen 15 Euro.Dieser Unterschied ist gesellschaftspolitisch nicht mehrzu halten; denn diese Lebensphasen sind in Ost wie Westeigentlich identisch. Hier könnten wir sehr schnell ein-schreiten.Die Väter des deutschen Einigungsvertrages sind voneiner weitaus schnelleren Angleichung der Lebensver-hältnisse ausgegangen. Aber wir alle wissen: Die An-gleichung vor allen Dingen der Löhne und damit auchdes Rentenwertes Ost/West ist seit einem Jahrzehnt zumStillstand gekommen. Es gibt regionale Unterschiede.Einige Regionen in den neuen Bundesländern, zum Bei-spiel das Umfeld von Berlin, die Potsdamer Region, ste-hen sehr gut da. Es gibt natürlich auch Regionen in denalten Bundesländern, die schlecht dastehen, zum Bei-spiel das Saarland. Das alles ist uns bekannt.Trotzdem liegen die Löhne in den neuen Bundeslän-dern durchschnittlich 20 Prozent unterhalb der Löhne inden alten Bundesländern. Das muss man einfach zurKenntnis nehmen. 40 Prozent der Ostdeutschen arbeitenim Niedriglohnbereich. Niedriglohnbereich bedeutet:Trotz Arbeit leben sie an der Armutsgrenze. Auch das istein Tatbestand. Im Land Sachsen-Anhalt existieren34 Tarifverträge, die einen Bruttolohn von weniger als7,50 Euro vorsehen. Das heißt, die Erwerbstätigen inSachsen-Anhalt und auch in Mecklenburg-Vorpommernarbeiten teilweise zu einem Hungerlohn. Da ist die Al-tersarmut im Grunde vorprogrammiert. Das heißt, wirbrauchen hier einen gesetzlichen Mindestlohn, was übri-gens unter anderem auch Jens Bullerjahn, der stellvertre-tende Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, eindeutigfordert.
Die Anträge der Fraktion Die Linke werden regelmä-ßig zu den Wahlkämpfen eingereicht,
und Sie lassen namentlich über diese Anträge abstim-men; das ist natürlich legitim. Diese Anträge zeigen aberauch deutlich Ihren Populismus und eine gewisse Häme.
Ich habe deutlich gemacht: Es ist kein leicht zu lösendesProblem, es ist ein komplexer Tatbestand. Wir alle wis-sen, dass das für die Bürger teilweise nicht nachvollzieh-bar ist. Wir dürfen auch den Anspruch der Solidarität fürdie Rentnerinnen und Rentner in den alten Bundeslän-dern nicht vergessen.
Niemand wird Anträgen zustimmen, durch die die da-mals Staatsnahen begünstigt werden sollen. Das wäreeine Missachtung der DDR-Flüchtlinge.
Das kann man mit aller Sachlichkeit feststellen. MancheFlüchtlinge haben ihr Leben geopfert, andere sind unterschweren Repressalien in die alten Bundesländer ge-flüchtet. Das war kein Spaziergang, und das war auchkeine freiwillige Übersiedlung. Auch das sollten Sie zurKenntnis nehmen.
Noch zu einer Tatsache – es ist vorhin schon ange-sprochen worden –, die man vielleicht am persönlichenBereich darstellen kann. Die Mindestrente lag bis 1983bei ungefähr 165 Mark Ost. Man sagt: Etwa 30 MarkMiete mussten gezahlt werden, mehr Kosten habe es
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10446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Silvia Schmidt
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nicht gegeben. Nein, das war nicht so. Wenn Sie auf demLand gewohnt haben, mussten Sie Kohlen dazukaufen.Energie, Wasser usw., das alles musste bezahlt werden.Jeder Rentner, der noch krauchen konnte – das sage ichso bitterböse –, hatte noch einen kleinen Garten, damit erzusätzliche Lebensmittel hatte; denn der Konsum warauch nicht gerade voll.
Das muss man sagen; ich kenne das zum Beispiel vonmeinen Großeltern. Wir haben dort gelebt. Damit willich nichts verklären.Durch die Beitragsbemessungsgrenze von 600 Marksollten höhere Renten vermieden werden. Glauben Sietatsächlich, dass viele Ostrentner dieses Problem nichtsehen? Sie haben hart gearbeitet, 35 bis 45 Jahre einge-zahlt, aber sie konnten nicht mehr erreichen.Festzuhalten ist, dass die DDR besonders in der In-dustrie die Menschen rigoros ausgebeutet hat. Viele inmeinem eigenen Wahlkreis, im Mansfelder Land– Stichworte: Kupfer- und Silberhütte –, leiden nochheute unter den schrecklichen Umwelt- und Gesund-heitsbedingungen der DDR-Wirtschaft. Ich komme ausdem Gesundheitswesen. Ich weiß, wovon ich spreche.Wir werden uns heute aus Sympathie für einige Per-sonengruppen mit bestimmten Härtefällen enthalten.
Dabei geht es um die Personengruppe im Gesundheits-wesen, die helfenden Familienmitglieder, zum Beispielin der Landwirtschaft, die Balletttänzer, die Bergleute– in der Carbochemie wird es hoffentlich demnächsteine Einigung geben –, die pflegenden Familienangehö-rigen usw. Diese Probleme sind aber nicht rentensyste-matisch bedingt. Diese Probleme sind einheitsbedingt.Das muss jeder zur Kenntnis nehmen.Mit Zusatzversorgungen und Sondersystemen er-kaufte man sich die politische Gefolgschaft bestimmterGruppen; das wurde vorhin schon angesprochen. Siewurden ungefähr 1970 eingeführt. Sie bilden ein kom-plexes Geflecht. Kaum jemand durchblickt es noch, aberjeder hat einen eigenen Anspruch.Dem mittleren medizinischen Personal wurden mitder 1,5-Regelung, dem Steigerungsbetrag von 1,5 beider Altersversorgung, Versprechungen gemacht.
Ich selber komme aus dem Gesundheitsbereich. Ichweiß, was man mir gesagt hat. Ich weiß auch, wie hochmein Lohn war. Das alles waren Versprechungen. Nie-mand wird doch behaupten, dass die DDR diesen Ver-sprechungen nachgekommen wäre. Man hatte nämlichgar kein Geld dafür, diese sogenannten Sondersystemezu bedienen.
Wir wissen: Rentnerinnen und Rentner haben An-spruch auf die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung, unab-hängig von staatlichen Systemen und unabhängig davon,wo sie gelebt und gearbeitet haben. Wir wissen auchganz genau: Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeitenentstehen, zum Beispiel bei den pflegenden Angehöri-gen. Auch wenn es seit 1996 die Pflegeversicherunggibt, existieren auch hier Härtefälle. Was die Geschiede-nen betrifft, würden wir sehr gern dem Antrag der Grü-nen folgen. Eine Bundesratsinitiative und eine gemein-same Lösung sind wichtig.Es liegen viele Vorschläge, die geprüft werden müs-sen, auf dem Tisch. Wir reichen diese Vorschläge an dieAlterssicherungskommission im Willy-Brandt-Hausweiter. Wir werden mit den betroffenen Personengrup-pen reden.
Wir werden alle Probleme noch einmal aufgreifen. Wirfordern ein Mindesteinkommen, das heißt einen Min-destlohn, der gesetzlich festgeschrieben wird. Wir for-dern auch eine Rente nach Mindesteinkommen, damitdie Lebensarbeitszeit gewürdigt wird.
Im Rahmen eines Rentenüberleitungsabschlussgesetzes,das wir schon in der letzten Legislaturperiode in Angriffgenommen haben, wollen wir diese ungelösten Fragenaufgreifen.Wir fordern eine Härtefallregelung und einen Fonds,für den jährlich ungefähr 500 Millionen Euro zur Verfü-gung stehen; wir werden hierfür ein Konzept erarbeiten.
Wir fordern die Vollendung der sozialen EinheitDeutschlands durch rentensystematische Angleichun-gen. Wir fordern Maßnahmen, die Altersarmut ver-hindern, und, wie bereits erwähnt, einen gesetzlichenMindestlohn. Wir fordern eine Höherbewertung beschäf-tigungsloser Zeiten und geringer Verdienste ab sofortund rückwirkend, und das für das gesamte Bundesgebiet.Ich glaube, wenn wir gemeinsam über diese Fragendiskutieren, können wir im Hinblick auf Härtefälle ver-nünftige Lösungen finden. Das ist nicht ganz einfach,sondern relativ kompliziert. Das können wir aber nur ge-meinsam schaffen. Populismus ist hier fehl am Platz.
Ich sage noch einmal: Es ist schwierig, dieses komplexeSystem zu durchschauen. Aber all die Rentner und Rent-nerinnen, deren Einkommen unterhalb der Armuts-grenze liegt, haben unsere Solidarität verdient.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10447
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren dieses Thema heute nicht zum ersten Malund, wie ich vermute, auch nicht zum letzten Mal.
Ich halte es für notwendig, in meinem Debattenbeitragzu diesem Thema immer zunächst darauf hinzuweisen,dass die Überführung des Rentenrechts der DDR in dasSGB VI eine große und herausragende Leistung der Po-litik und der Mitarbeiter der Deutschen Rentenversiche-rung war. Das war einmalig und ist – das kann man sofesthalten – im Großen und Ganzen gelungen.Es ist nicht überraschend, dass bei einem so großenProjekt nicht jedes Anliegen zu jedermanns Zufrieden-heit erfüllt werden konnte. Insofern steht das Renten-recht vielleicht auch stellvertretend für das gesamte Pro-jekt deutsche Einheit.Die Linke legt zu diesem Thema regelmäßig – undauch regelmäßig unveränderte – Anträge vor.
– Das müssen dann aber marginale Unterschiede sein.Aber Herr Gysi wird bestimmt gleich erläutern, wo diegroßen Fortschritte in Ihren Anträgen sind.
Ich glaube, insgesamt gesehen kann man sagen: Das istdas alte Muster, das da durchscheint, auch bei den jetztvorgelegten Anträgen.
Sie bleiben hartnäckig bei Ihren Lösungsvorschlägen,obwohl in den letzten Jahren in Anhörungen und Aus-schussdiskussionen mehrfach nachgewiesen worden ist,dass sie falsch sind. Wir hatten dem schon in 2008 einenkreativen Vorschlag entgegengestellt, und zwar wolltenwir ein Nachversicherungsangebot unterbreiten, wassystemgerecht gewesen wäre und immer noch ist, neueUngerechtigkeiten vermeidet und allen Betroffenen dieChance gibt, ihre Situation zu verbessern.
Ähnliches hat sich bewährt, als 1992 die Rentenberech-nung nach Angestelltenversicherungsgesetz in dasSGB VI überführt worden ist. Wo unsere Vorschlägesystemgerecht und überzeugend sind, liegen die Schwä-chen Ihrer Anträge: Sie schaffen neue Ausnahmetatbe-stände, neue Ungerechtigkeiten und Systemwidrigkei-ten.Ich weise noch einmal darauf hin: Im Mai 2009 gabes in der Anhörung ein klares Ergebnis. Die Sachver-ständigen empfahlen keine Korrektur der geltenden Ge-setze. Sie machten deutlich, dass jede Nachjustierung zuneuen Ungleichbehandlungen – also zu Ungerechtigkei-ten – führt. Betroffene dürfen nicht bessergestellt werdenals vergleichbare Rentner in den alten Bundesländern.
Betroffene dürfen auch nicht bessergestellt werden alsandere Versicherte in den neuen Bundesländern. Diesebeiden Maximen spielen für uns eine wichtige Rolle.
Wir haben nun einmal die paradoxe Situation, dassein Teil der Betroffenen fordert, das frühere DDR-Rechtnicht mehr wirken zu lassen, und ein anderer Teil for-dert, dass die Ansprüche nach dem früheren Recht kom-plett anerkannt werden. Diesen Gegensatz kann man ein-fach nicht auflösen; das leisten auch Ihre Anträge nicht.Was mich stört an Ihrem Antragskonvolut, an diesemPaket, ist, dass Sie versuchen, uns neben 18 anderenGruppen mal eben auch Angehörige des Ministeriumsfür Staatssicherheit und des Amtes für Nationale Sicher-heit der DDR unterzuschieben. Wir bleiben dabei: FürMfS-Angehörige darf nicht mehr als das frühere Durch-schnittsentgelt für die Rentenberechnung angesetzt wer-den. Diese Entscheidung haben wir getroffen, und sie istausdrücklich und mehrfach vom Bundesverfassungsge-richt bestätigt worden. Das will ich hier sehr deutlich sa-gen.
Sie machen es sich zu einfach. Sie listen alle denkba-ren Gruppen Betroffener auf und vermischen dabei Pri-vilegierte, auch Verantwortliche aus DDR-Zeiten mitMenschen, die ganz einfach – ich sage es einfach einmalso – Pech mit ihrem DDR-Schicksal hatten.
Sie versuchen, sich als Fürsprecher aller möglichenGruppen aufzuspielen, die sich benachteiligt fühlenkönnten. Aber dabei übersehen Sie Folgendes: Teil derGerechtigkeit, in die auch alle anderen einbezogen wer-den müssen, ist, auch die Situation und Befindlichkeitderjenigen zu berücksichtigen, die für Ihre großzügigenLösungsvorschläge am Ende mitbezahlen sollen undmüssen.Ich will hier festhalten: Ohne deutsche Einheit undAnpassung des Rentenrechts hätte kein DDR-Rentnerauch nur annähernd den Lebensstandard erreichen kön-nen, den er heute hat.
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10448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Dazu fehlen angemessene Worte Ihrerseits. Vielleicht,Herr Gysi, ringen Sie sich in Ihrer jetzt folgenden Rededazu durch.
Stattdessen erinnert Frau Bunge im Dezember bei derletzten Debatte und auch heute wieder per Zwischenrufan die 30 Mark Miete für eine DDR-Zweiraumwohnung.Frau Bunge, man muss doch sehen, wie das damals inLeipzig war!
Da sind Wohnungen „freigewohnt“ worden – das Wortkennt man in den alten Bundesländern gar nicht. Dasheißt, man ist aus der nassen Dachgeschosswohnungeine Etage tiefer gezogen, weil es da gerade noch tro-cken war. So war das doch damals!
Wie war denn die Versorgung mit Obst und Gemüse fürRentner? Wie war es denn, wenn man freitags um18 Uhr im HO-Laden noch ein viertel Pfund Bauch-fleisch haben wollte? Das war damals einfach nicht ver-fügbar.
Das sind die Unterschiede im Vergleich zu heute. Heutekönnen sich Rentner auch in den neuen Bundesländernall das leisten.
Und wo Sie sich schon so viel Mühe gemacht haben,Herr Gysi, für alle Gruppen, die Ihnen eingefallen sind,Anträge zu schreiben: Wo ist Ihr Antrag, das DDR-Un-recht an den Flüchtlingen, sofern sie ihre Flucht überlebthaben, wiedergutzumachen? Da ist Fehlanzeige bei Ih-nen, und das ist nicht in Ordnung!
Stattdessen brandmarken Sie das Rentenrecht als „Ren-tenstrafrecht“, weil es Privilegien für SED- und Stasi-bonzen beschränkt. Was ist denn das für ein Weltbild,das hinter Ihren Anträgen steht, meine Damen und Her-ren?
Wir bleiben bei unserem Vorschlag zum Nachversi-cherungsangebot. Wir glauben, dass eine Nachversiche-rung auf freiwilligem Weg die richtige Lösung ist. Siebietet die Chance, nicht in das SGB VI übertragene oderaus anderen Gründen ausgeschlossene Rentenansprüchegeltend zu machen. Ich wiederhole: Die Höhe der Bei-tragsentrichtung ist an dem auszurichten, was zu DDR-Zeiten zur Erlangung eines vergleichbaren Anspruchshätte aufgewendet werden müssen. Diese Lösung ver-meidet Willkür und erreicht größtmögliche Gerechtig-keit.
Weil das auch in anderen Redebeiträgen betontwurde, will ich zum Schluss sagen: Neben den heute hiervorliegenden Fragen sehe ich auch die Angleichung desRentenrechts Ost an das Rentenrecht West als eine großeHerausforderung an. In dem Koalitionsvertrag ist diesfür diese Wahlperiode zugesichert. Deswegen machenwir uns in diesem Jahr ernsthaft an die Arbeit.
– Herr Strengmann-Kuhn, Sie wissen: Im letzten Jahrwaren wir sehr damit beschäftigt, Baustellen aus der rot-grünen Ära abzubauen: durch die Jobcenterreform,durch die Reform in Bezug auf die Hartz-IV-Regelsätze.Das haben wir in dieser Woche abgeschlossen. Jetzt ge-hen wir an neue Baustellen heran. Das werden wir tun,und zwar gerne, und wir hoffen auf Ihre Mitarbeit.Einstweilen bedanke ich mich für Ihre Aufmerksam-keit. Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müs-sen uns erst einmal darüber verständigen, worüber wirhier reden und um welche Anträge es geht.
Sie haben hinsichtlich der Flüchtlinge ja völlig recht.Wir haben auch mit ihnen gesprochen. Sie wollen gerne,dass alle drei Oppositionsfraktionen gemeinsam einenAntrag für sie stellen, um nicht in irgendeiner Form ver-einnahmt zu werden.In Bezug auf die Verfolgten in der DDR haben Sieauch recht. Wir haben aber immer weiter gehende An-träge gestellt, als Sie je beschlossen haben – gerade fürdie Verfolgten in der DDR. Das ist die Wahrheit, die Sienicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Ferner versuchen Sie auf eine polemische Art undWeise, gegen die Rentnerinnen und Rentner aus dem Os-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10449
Dr. Gregor Gysi
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ten zu polemisieren. Das können wir nicht im Geringstenakzeptieren.
Ich sage Ihnen: Es ist und bleibt ein Verhängnis, dass es20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit nochimmer keine gleichen Renten für gleiche Lebensleistun-gen in Ost und West gibt.Natürlich brauchen wir eine Angleichung der Renten-werte, werter Herr Rehberg, und zusätzlich eine Höher-bewertung der Einkommen im Osten, solange für die-selbe Arbeit in längerer Arbeitszeit weniger verdientwird als im Westen. Das akzeptieren auch alle Menschenin den alten Bundesländern.
Im Übrigen hat die Bild-Zeitung immer völlig un-recht, wenn sie sagt, die gesetzliche Durchschnittsrenteim Osten liege höher als im Westen.Erstens wird ein Ehepaar betrachtet und vergessen, zuerwähnen, dass die meisten Frauen in der DDR berufstä-tig waren, während viele Frauen in der alten Bundesre-publik – gerade ältere – nicht berufstätig waren. Esmacht eben einen Unterschied, ob man zwei Renten odernur eine Rente hat.
Zweitens. Sie erwähnen nicht, dass es im Osten keinePensionen gibt. Ein Professor für Gerichtsmedizin be-zieht im Westen immer eine Pension, im Osten aber einegesetzliche Rente. Natürlich ist sie höher als andere Ren-ten. Deshalb ist der Vergleich des Durchschnitts völligabsurd. Das passt überhaupt nicht.
Es wird auch vergessen, zu erwähnen, dass alle Be-triebsrenten im Osten gestrichen worden sind, währendes sie im Westen noch gibt. Außerdem gab es im WestenLebensversicherungen, mit denen man für das Alter eingewisses Vermögen ansparen kann. Solche Regelungengab es in der DDR gar nicht.
– Ja, natürlich. Bestreite ich, dass das ein Nachteil ist? –Deshalb leben die Rentnerinnen und Rentner im Ostenalleine von gesetzlichen Renten. Das nehmen Sie bisheute nicht zur Kenntnis.
Herr Kolb, Sie haben ja gerade geredet, und ich muss Ih-nen sagen: Ich muss Sie irgendwann einmal zum Esseneinladen, um Ihnen den Osten zu erklären. Sie habenwirklich überhaupt keine Ahnung. Ich lade Sie großzü-gig ein.
Jetzt komme ich zu den einzelnen Anträgen.Die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesenin der DDR haben für ihre besonders schwere körperli-che und psychische Belastung einen höheren Satz fürihre Renten zuerkannt bekommen, weil ihr Verdienstviel zu niedrig war. Warum erkennen Sie diesen Zusatz-anspruch der Betroffenen bis heute nicht an? Es gibtkeine Erklärung dafür. Sie hatten einen höheren Renten-spruch. Der ist aberkannt worden.Die geschiedenen Frauen bekamen in der DDR kei-nen Versorgungsausgleich. Die Bundesregierung erklärtuns, man habe nach Lösungen gesucht und keine gefun-den.
Wir haben einen Antrag vorgelegt, der zwei Variantenenthält, wie man diesen geschiedenen Frauen rechtlichsauber entgegenkommen kann. Sie sagen dazu nur Nein.Warum? Erklären Sie das den geschiedenen Frauen imOsten!
Wir haben einen Antrag zu den Balletttänzerinnenund Balletttänzern vorgelegt. Sie bekamen eine berufs-bezogene Zuwendung bei der Rente. Diese ist zum1. Januar 1992 von Ihnen ersatzlos gestrichen worden.Warum? Erklären Sie das den relativ wenigen Balletttän-zerinnen und Balletttänzern!
Herr Kollege Gysi, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schaaf?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Gysi, ich will Ihren Redefluss ungernunterbrechen. Aber wenn Sie Personengruppen in derDDR nennen und sagen: „Da brauchen wir eine Lö-sung“, dann kann es durchaus sein, dass das auch Wech-selwirkungen für den Westen hat. Was die Geschiedenenangeht, gab es vor 1977 auch in der BRD keinen Versor-gungsausgleich.
Wenn Sie jetzt einen fiktiven Versorgungsausgleich fürGeschiedene in der DDR fordern, meinen Sie dann auch,dass es einen fiktiven Versorgungsausgleich für Geschie-dene in der BRD vor 1977 geben muss? Nur dann wärees gerecht. Alles andere wäre völlig ungerecht und ein-seitig.
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10450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Anton Schaaf
(C)
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Dazu müssten Sie sich bekennen und auch sagen, werden fiktiven Versorgungsausgleich bezahlen soll, den Siefordern. Vielleicht die Beitragszahlerinnen und Beitrags-zahler, die damit nun wirklich nichts zu tun haben? Wersoll das, was Sie fordern, bezahlen?
Hier kriegt man schon für die Frage Beifall. Ichdachte, den gibt es für die Antwort.
Warten Sie doch ab! Ich wollte dazu noch Folgendessagen:Erstens können wir uns darauf verständigen, dass esauch für die entsprechenden Personengruppen aus denalten Bundesländern einen Ausgleich geben muss. Heutegeht es um einen Antrag, der den Osten betrifft.Zweitens soll das Vorhaben nicht aus Beiträgen, son-dern aus Steuern finanziert werden.
– Ja, warten Sie ab. Wenn wir in Deutschland nur denSteuerdurchschnitt der 15 alten EU-Mitgliedsländer er-reichen würden, dann hätten wir jährlich Mehreinnah-men von 120 Milliarden Euro. Davon wäre das allesfinanzierbar.
Jetzt komme ich zu einer weiteren Gruppe, nämlichzu den 500 Bergleuten der Braunkohleveredlung inBorna/Espenhain, die derartig schwere gesundheitlicheBelastungen hatten, dass sie einen Rentenanspruch wieBergleute unter Tage erwarben. Das ist von Ihnen ab-erkannt worden. Warum? Erklären Sie das diesen500 Menschen!
Wer in der DDR Angehörige pflegte und dafür Pfle-gegeld erhielt, erwarb dafür Rentenanwartschaften.Diese haben Sie bis zum 31. Dezember 1996 anerkannt.Diejenigen, die danach in Rente gegangen sind, bekom-men dafür nichts mehr. Erklären Sie jemandem, der imDezember 1996 in Rente gegangen ist, dass er anders alsderjenige, der im Januar 1997 in Rente gegangen ist, da-für eine Rente bekommt! Das ist indiskutabel.
Davon sind, um zu einer weiteren Kritik zu kommen,auch die Eltern von impfgeschädigten Kindern betroffen,die ihre Kinder jahrelang gepflegt haben und Rentenan-wartschaften erwarben, die Sie nicht mehr anerkennen,und zwar im Unterschied zu Westdeutschen, bei denendiese Zeiten anerkannt werden.In der DDR gab es bis 1961 private Land- und Forst-wirte. Es gab immer private Handwerker und andereSelbstständige sowie deren mithelfende Familienange-hörige. Sie unterlagen in der DDR nicht immer einerVersicherungspflicht, erwarben aber auch in diesen Zei-ten einen Rentenanspruch. Nach 1990 wurden die Zeitenihrer Selbstständigkeit weiterhin rentenwirksam aner-kannt, und zwar wiederum bis zum 31. Dezember 1996.Wer aber etwas jünger war und danach in Rente ging,bekam für die Zeit als Selbstständiger oder als mithel-fende Ehefrau keine Rente mehr zuerkannt.Wozu gibt es eigentlich die FDP, wenn Sie sich nichteinmal mehr um die privaten Handwerker und derenEhefrauen kümmern? Das alles muss die Linke machen,weil Sie nicht einmal diese Art der Interessenvertretungorganisieren.
Es gab Personen, die auf dem zweiten Bildungswegoder mit längeren Studiengängen verlängerte Ausbil-dungszeiten hatten. Das galt auch für die Spitzensportler.Diese verlängerten Ausbildungszeiten wurden renten-wirksam anerkannt. Sie haben auch das anerkannt, wie-derum bis zum 31. Dezember 1996. Wer danach in Renteging, bekam die verlängerten Ausbildungszeiten nichtmehr anerkannt. Warum bestrafen Sie immer die Jünge-ren? Ich kann das nicht nachvollziehen.Ins Ausland mitgereiste Ehepartnerinnen und Ehe-partner von dort Berufstätigen, die selbst nicht beruflichtätig waren, erwarben dennoch Rentenansprüche. Auchdiese Ansprüche haben Sie für Personen anerkannt, diebis zum 31. Dezember 1996 in Rente gingen. Denjeni-gen, die danach in Rente gingen, haben Sie die Anerken-nung versagt. Wieder eine Bestrafung der Jüngeren ohnejede Erklärung.
Dann gab es Versicherte in der DDR, die ihre Er-werbstätigkeit unterbrachen, zum Beispiel wegen Kin-dererziehung. Es handelt sich dabei überwiegend umHausfrauen und nur um ganz wenige Hausmänner. Diesekonnten in dieser Zeit „Marken kleben“. Deshalb erwar-ben sie weiterhin Anwartschaften auf Rente. Das habenSie einfach gestrichen. Warum? Erklären Sie doch ein-mal den Hausfrauen, die jahrelang „Marken geklebt“ ha-ben, warum Sie ihnen diese Jahre nicht anerkennen unddas einfach gestrichen haben! Das ist nicht nachvollzieh-bar. Das ist grob ungerecht. Die meisten Betroffenen er-halten heute Grundsicherung.
– Auch Sie haben wirklich keine Ahnung. Aber Sie ladeich nicht zusätzlich zum Essen ein. Einer reicht mir.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10451
Dr. Gregor Gysi
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Kommen wir zum Versorgungsunrecht. In der DDRgab es – damit haben Sie recht – Zusatzversorgungen fürwissenschaftliche, pädagogische, medizinische, techni-sche und künstlerische Intelligenz sowie im öffentlichenDienst. Außerdem gab es Sonderversorgungssysteme fürsämtliche Sicherheitsorgane, Armee, Polizei, Staats-sicherheit etc. Die hier erworbenen Ansprüche wurdenzu großen Teilen nicht mehr anerkannt. Warum richtenSie nicht wenigstens ein befristetes Versorgungssystemsui generis ein, das die Ansprüche aus der Zusatzversor-gung der DDR wenigstens einigermaßen wahrt?Für solche Personen, die einem Zusatz- oder Sonder-versorgungssystem der DDR angehörten, werden dieAnsprüche bis zum 30. Juni 1995 nur unvollständig,aber immerhin teilweise anerkannt. Wer allerdings da-nach in Rente ging, bekommt aus diesem System garnichts mehr. Erklären Sie den Jüngeren, warum die einenschlimmere Verbrecher sind als die anderen! Das könnenSie doch auch nicht erklären. Bloß weil jemand ein Jahrjünger ist, bekommt er gar nichts mehr aus dem Sonder-versorgungssystem, ganz abgesehen davon, dass es so-wieso falsch ist, Biografien bei der Rente zu bewerten.
Aber weshalb versagen Sie diesem Personenkreis bisheute den Vertrauensschutz?Dann gab es Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn,die eine spezielle Altersversorgung hatten. Diese galt– das ist interessant – von 1856 bis 1945. Sie wurdedann von den Sowjets ausgesetzt und 1956 wieder einge-führt. Sie haben das bis 1996 anerkannt. Wer aber ab1997 in Rente ging, dem wird das nicht mehr anerkannt.Erklären Sie das den Reichsbahnerinnen und Reichsbah-nern!
Eine ähnliche Regelung gilt für die Angehörigen derDeutschen Post. Dort haben Sie dieselbe Entscheidunggetroffen.Dann gibt es Professorinnen und Professoren neuenRechts, Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienst so-wie Beschäftigte in universitären und wissenschaftlichenEinrichtungen. Sie erhalten wesentlich geringere Alters-bezüge als ihre Kolleginnen und Kollegen in den altenBundesländern. Besonders benachteiligt sind diejenigen,die zwischen 1995 und 2005 in Rente gingen. Die Ursa-che sind verspätete Verbeamtung und Aufnahme in dieVersorgungsanstalt des Bundes und der Länder. Warumbehandeln Sie diese Personen nicht nach dem seit 1990geltenden Recht? Sie hätten sie von Anfang an in die Al-tersvorsorge einbeziehen müssen.Auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes inder DDR, die nach 1990 ihre Tätigkeiten im öffentlichenDienst fortsetzen konnten, die Sie also übernommen ha-ben, sind in ihrer Altersversorgung schlechter gestellt,weil auch bei ihnen die Verbeamtung und die Aufnahmein die Versorgungsanstalt des Bundes und der Ländererst 1997 erfolgten. Weshalb verschließen Sie sich bisheute einer Regelung, die die Beschäftigten des öffentli-chen Dienstes schon ab 1990 vollständig in die schon da-mals geltende Altersversorgung einbezieht?Dann gibt es Angehörige der Bundeswehr, des Zollsund der Polizei, die ihre Tätigkeit nach 1990 fortsetzten,die Sie also übernommen haben. Diese sind gegenüberihren westdeutschen Kolleginnen und Kollegen eben-falls schlechter gestellt, weil ihre in der DDR erworbe-nen Anwartschaften nicht vollständig anerkannt und be-rücksichtigt werden. Warum verweigern Sie hier dieÜbernahme?Des Weiteren gibt es keine einheitlichen Regelungenfür Angehörige der technischen Intelligenz. Lassen Siemich als Beispiel die Ingenieurinnen und Ingenieurenennen, die zu DDR-Zeiten eine spezielle Zusatzversor-gung hatten. Bis heute sind bestimmte Berufsabschlüssenicht anerkannt. Wenn der Betreffende Chemiker, dieBetreffende Physikerin oder der Betreffende Mathemati-ker war, werden die Ansprüche nicht anerkannt. Wenndie Betreffenden in landwirtschaftlichen Produktionsge-nossenschaften, Produktionsgenossenschaften des Hand-werks, beim Konsum oder bei der Interflug tätig waren,bekommen sie keine Zusatzversorgung. Dann gibt eseine Stichtagsregelung, die absurd ist. Danach muss dieIngenieurin oder der Ingenieur bis zum 30. Juni 1990 ineinem volkseigenen Betrieb gearbeitet haben. Wenn derBetrieb zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Volkseigentumwar, sondern schon umgewandelt war, bekommen dieBetreffenden keine Rente. Erklären Sie einer Ingenieurinoder einem Ingenieur, weshalb sie oder er die Rente ver-liert, bloß weil der Betrieb nicht mehr Volkseigentumwar, sondern sich in Privatbesitz befand. Das ist gera-dezu absurd, selbst aus kapitalistischer Sicht, finde ich.
Herr Gysi, bedenken Sie: Ihre Redezeit ist abgelau-
fen.
Außerdem gibt es Personen mit herausgehobenen Po-sitionen im Partei- und Staatsapparat. Sie wurden frühernach der Einkommenshöhe beschnitten; jetzt werden siewegen ihrer Tätigkeit beschnitten. Ich sage noch einmal:Strafrecht hat im Rentenrecht nichts zu suchen. Deshalbmuss das weg.In Ihrem Koalitionsvertrag steht – damit schließe ich –:Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli-ches Rentensystem in Ost und West ein.Wenn Sie das wirklich wollen, dann müssen Sie heuteallen Anträgen zustimmen. Eines sage ich Ihnen auch:Es stimmt, in jeder Legislaturperiode kommen wir wie-der mit diesen Anträgen. Es ist ein Glück, dass es dieLinke gibt, die diese Ungerechtigkeit immer wieder an-spricht. Sie würden das nie auf die Tagesordnung setzen.
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10452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
(C)
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Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Streng-mann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Gysi, was Sie vernachlässigen, ist: Die DDRgibt es nicht mehr.
Das System, in das eingezahlt worden ist, war nicht diegesetzliche Rentenversicherung, sondern das DDR-Ren-tensystem.
Dadurch wurden keine Ansprüche in der gesetzlichenRentenversicherung aufgebaut. Es ist in der Tat einegroße Leistung gewesen, trotzdem die DDR-Rente indas Gesamtrentensystem zu überführen.
Dass dies gelungen ist, liegt an der Umlagefinanzierung.
Nur durch sie war dies möglich.
Insofern kann man nicht sagen, dass jegliche Zusatzver-sorgung übernommen werden musste. Es war ein kom-plett anderes System.Es ist klar: Wenn man zwei Systeme zusammenführt,dann gibt es immer einzelne Fälle, in denen sich Men-schen benachteiligt fühlen oder tatsächlich benachteiligtsind. Für die Betroffenen haben wir großes Verständnis.Es ist aber falsch, den ganzen Prozess 20 Jahre spätervon vorne zu beginnen und alles neu zu überlegen. Des-wegen halten wir die Generalüberholung, wie Sie sie mitIhren 19 Anträgen vorschlagen, für falsch.Wir meinen aber nicht, dass man alles beiseiteschie-ben und dagegen stimmen sollte, wie das die Koalitions-fraktionen machen. Wir wollen vielmehr genau hin-schauen. Dabei müssen nach unserem Dafürhalten vorallen Dingen zwei Kriterien erfüllt sein:Erstens. Die Gruppen, bei denen etwas getan werdenmuss, sind besonders benachteiligt worden.Zweitens. Es muss gewährleistet werden – darauf hatder Kollege Schaaf in seiner Zwischenfrage schon hin-gewiesen –, dass keine weiteren Ungerechtigkeiten ent-stehen, etwa in der Form, dass Ostrentner anders alsWestrentner behandelt werden. Das heißt, es muss sichum eine Benachteiligung gegenüber Westrentnern han-deln, die gegebenenfalls ausgeglichen werden muss.Wenn man diese beiden Kriterien zugrunde legt, kom-men wir zu dem Ergebnis, dass nur bei einer sehr kleinenAnzahl von Gruppen Bedarf besteht, nachzujustieren.Darüber hinaus mag es einzelne Härtefälle geben. Daherfinde ich den Vorschlag der SPD, einen Härtefallfondseinzurichten, durchaus sympathisch. Ich bin auf den ent-sprechenden Antrag gespannt. Gegebenenfalls kann manihm zustimmen. Man müsste sich die Kriterien, den Um-fang und die Finanzierung genau anschauen. Dass ganzeGruppen benachteiligt sind, ist häufig gar nicht unbe-dingt der Fall. Diese Behauptung ist zu grob, und es wirdalles über einen Kamm geschoren.Es gibt tatsächlich einige wenige Gruppen, bei denenes Nachjustierbedarf gibt. Deswegen haben wir einenAntrag zur Verbesserung der Versorgung Geschiedenergestellt. Wir hoffen, dass dieser Antrag eine Chance hat,angenommen zu werden. Grundlage dieses Antrags istnämlich ein Beschluss des Bundesrates, in dem die Grü-nen bekanntlich nicht die Mehrheit haben. Der Bundes-rat hat am 24. September letzten Jahres beschlossen– ich zitiere –: Der Bundesrat bittet die Bundesregierungnachdrücklich, eine befriedigende Lösung für die imBeitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 geschiedenenEhegatten herbeizuführen. – Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von CDU/CSU und FDP, insbesondere die Ab-geordneten aus Ostdeutschland, haben gleich die Mög-lichkeit, mit dafür zu sorgen, dass auch der Bundestagdie Bundesregierung auffordert, eine Lösung herbeizu-führen. Wir haben den Beschluss des Bundesrates ein-fach kopiert und dabei lediglich das Wort „bitten“ durchdas Wort „auffordern“ ersetzt. Aber wir sagen wenigs-tens, woher die Kopie kommt.
– Insofern ist das kein Plagiat, sondern wir haben daskorrekt zitiert.
Um es Ihnen besonders leicht zu machen, haben wir so-gar eine identische Begründung verwendet.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-tionen, tun Sie es Ihren Landesregierungen nach undstimmen Sie unserem Antrag zu!Die Partei Die Linke beschäftigt sich wieder einmalmit der Vergangenheit, nämlich mit der Situation vonvor 20 Jahren und mit dem, was damals bei der Renten-überleitung vielleicht schiefgelaufen ist oder nicht. Des-wegen möchte ich die restlichen anderthalb Minutenmeiner Redezeit nutzen, um nach vorne zu gucken.Im Koalitionsvertrag steht, es solle ein einheitlichesRentenrecht geben. Ich habe gerade durch einen Zwi-schenruf nachgefragt, wann da endlich etwas passiert.Sicherlich gibt es beim zuständigen Bundesministeriumeine Rentenabteilung; sie hat sich sicherlich nicht nurmit Hartz IV befassen müssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10453
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Aber bisher gibt es da noch keine Initiative. Wenn in die-ser Legislaturperiode tatsächlich noch etwas passierensoll, dann wird die Zeit dafür langsam knapp; denn dieRentenversicherung braucht für eine solch umfangreicheReform Zeit, um das zu implementieren.Wir finden, dass es über 20 Jahre nach der deutschenEinheit endlich Zeit ist, dass der Rentenwert in beidenLandesteilen identisch ist und die Rente identisch be-rechnet wird. Das heißt, wir wollen ein einheitlichesRentenrecht für Ost und West.Wir wollen auch, dass in beiden Landesteilen dergleiche Lohn zu einem gleichen Rentenanspruch führt.Wir werden den Menschen in Ostdeutschland gerecht,wenn wir sagen, ihr Lohn ist genauso viel wert wie imWesten und nicht 20 Prozent weniger.
– Herr Birkwald, zu Ihrem Zwischenruf. Ich finde nicht,dass man alle Ungerechtigkeiten dieser Welt im Renten-recht lösen muss. Wir müssen in Ost und West in der Tatzu einer gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit kommen.Natürlich brauchen wir einen flächendeckenden Min-destlohn, der in Ost und West gleich hoch ist, um da eineUntergrenze zu finden. So muss man an die Lösung ge-hen.Sie fordern ja auch nicht, dass Frauen für ihren Lohnhöhere Rentenansprüche bekommen sollen, weil Frauen25 Prozent weniger verdienen als Männer. Dazu sagenwir: Wir brauchen die gleiche Bezahlung von Männernund Frauen und keine höheren Renten für Frauen wegengeringerer Löhne.
So muss man darangehen. Man darf nicht alles im Ren-tenrecht regeln.
Stattdessen wollen wir eine Untergrenze, eine Garan-tierente für Ost und West einführen. Jetzt sind die Ren-ten im Osten höher. Wenn man jedoch alles zusammen-zählt, sieht man: Die Einkommenssituation im Osten istjetzt schlechter als im Westen – anders als vor 20 Jahren,als die Rentner im Osten die Gewinner der deutschenEinheit waren. Mit einer solchen Garantierente schaffenwir tatsächlich einen Schutzwall gegen künftige Alters-armut, von der der Osten besonders betroffen sein wird.Aber Altersarmut gibt es, wie gesagt, nicht nur im Osten.Wir sollten viel mehr gesamtdeutsch denken, als das dieLinke in ihren Anträgen tut.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Man könnte geradezu das Lied „Alle Jahre wieder“ an-stimmen – wenn es nicht noch zehn Monate bis Weih-nachten wären –; denn alle Jahre wieder bekommen wirungefähr die gleichen Anträge vorgelegt, Anträge, überdie wir schon zigmal beraten haben,
zu denen wir mehrmals Fachexperten angehört habenund die zu einem Großteil im Petitionsausschuss desDeutschen Bundestages behandelt worden sind. Es istschon verwunderlich, dass das Urteil der Rentenexpertenzu den vorgelegten Anträgen offensichtlich von einerFraktion permanent nicht zur Kenntnis genommen wird.
Ich möchte Herrn Professor Ruland, immerhin Vorsit-zender des Sozialbeirats, aus dem Jahr 2009 – damalshaben wir unsere letzte Anhörung zu diesem Themadurchgeführt – zitieren. Er hat damals festgestellt: Es hatzu der grundsätzlichen Regelung im Rentenüberleitungs-gesetz keine Alternative gegeben.
Er führt dazu weiter aus: Bei der Rentenüberleitungmussten ja in sehr kurzer Zeit sehr verschiedene Systemezusammengeführt werden. Das Problem lag darin, dasses in der damaligen Situation außerordentlich schwerwar, einen Überblick darüber zu bekommen, welche Re-gelungen galten und welche Sondersysteme existierten.Man hat in dieser Zeit fast täglich neue Sondersystemeentdeckt. Viele davon waren nicht einmal rechtlich kodi-fiziert, dafür gab es kein Gesetz. Im Einigungsvertrag istdie Schließung der Sonderversorgungssysteme bis zumDezember 1991 festgelegt worden. Eine Regelung, diedas rückgängig machte, stünde nicht in Übereinstim-mung mit dem Einigungsvertrag.
Das ist das Problem.
Mit den Anträgen, die heute wieder zur Abstimmunggestellt werden, wird folgender Fakt vernebelt: Die Ren-tenüberleitung im Zuge der deutschen Einheit war, istund bleibt die größte sozialpolitische Solidarleistung derDeutschen, die es je gegeben hat.
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10454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Peter Weiß
(C)
(B)
Hätten wir diese Rentenüberleitung nicht vorgenommen,dann würde heute der größte Teil der Rentnerinnen undRentner im Osten Deutschlands in Armut leben. Das istdie Wahrheit. Vor diesem Schicksal haben wir sie mit derRentenüberleitung bewahrt.In diesem Zusammenhang möchte ich einen kurzenBlick in die Vergangenheit werfen:
Gerade einmal 30 bis 40 Prozent des durchschnittlichenArbeitseinkommens wurden in der ehemaligen DDR alsRente ausgezahlt. Wenn wir dieses System beibehaltenhätten, könnte die Mehrheit dieser Rentnerinnen undRentner nicht von dem Geld existieren. Sie würden inAltersarmut leben.
Mit der Rentenüberleitung haben wir dafür gesorgt, dassdie Rentnerinnen und Rentner in der ehemaligen DDRim ersten Jahr der Wiedervereinigung rund 35 Prozenteiner Westrente erhielten; das war schon wesentlichmehr als das, was ihnen in der DDR ausgezahlt wordenwäre. Mittlerweile haben wir für die Rentnerinnen undRentner in den neuen Bundesländern ein Rentenniveauin Höhe von 89 Prozent einer Westrente erreicht.Die Rentenüberleitung hat für eine Sicherheit im Al-ter gesorgt, die sich viele Rentnerinnen und Rentner so-wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu DDR-Zei-ten überhaupt nicht hätten vorstellen können. Es istdeshalb gegenüber der großartigen Solidarleistung, dieim Wesentlichen von den Beitragszahlerinnen und Bei-tragszahlern erbracht wird, ungerecht, dass die Linkejetzt verschiedene Sondersysteme aus alten DDR-Zeitenwieder öffnen will.Ich persönlich verstehe, dass sich diejenigen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, denen in der ehemali-gen DDR in Form eines Sondersystems eine Leistungs-zusage gemacht worden ist, ungerecht behandelt fühlen,weil sie aus diesem Sondersystem jetzt keine Leistungerhalten. Aus Sicht dieser Menschen ist damit eineRechtsposition aufgegeben worden, die sie vermeintlichhatten. Unser gesamtdeutsches Rentensystem kennt aberaus guten Gründen keine Sonderregelungen. UnsereRente ist lohn- und beitragsbezogen, und das gilt für allePersonengruppen.
Damit ist unser Rentensystem ein Rentensystem, dasGleiches gleich behandelt. Es ist insofern gerecht, weilnicht danach unterschieden wird, in welchem Beruf einArbeitnehmer beschäftigt war. Die Lohn- und Beitrags-bezogenheit der Rentenversicherung ist die Grundlageder Solidarität und der Gerechtigkeit in unserem gesamt-deutschen Rentensystem.
In der Anhörung hat der Vertreter des Deutschen Ge-werkschaftsbundes ausdrücklich auf einen Punkt hinge-wiesen, der auch schon angesprochen worden ist. DieFrage, ob ein Bürger der ehemaligen DDR die aus einemSonderversorgungssystem zugesagte Leistung je einge-löst bekommen hätte, wird von den Linken klugerweisegar nicht beantwortet. Es ist offenkundig, dass einebankrotte DDR den betreffenden Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern die zugesagten Leistungen nie undnimmer als Rente hätte auszahlen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die Ko-alition aus CDU/CSU und FDP, wollen ein gesamtdeut-sches einheitliches Rentensystem. Im Gegensatz zudem, was der Kollege Gysi vorgetragen hat, ist zu sa-gen: Wer ein einheitliches, gesamtdeutsches Rentensys-tem will – dieses wird ja von allen Beitragszahlerinnenund -zahlern akzeptiert, weil es gerecht ist –, der darfSonderversorgungssysteme und Sonderregelungen nichtneu auflegen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ottmar Schreiner von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill zunächst als Vorbemerkung sagen, dass die Renten-überleitung in den frühen 90er-Jahren, aus meiner Sichtjedenfalls – ich war damals von sozialdemokratischerSeite gemeinsam mit Regine Hildebrandt und RudolfDreßler beteiligt –, einen herausragenden Beitrag zumsozialen Frieden im vereinigten Deutschland geleistethat.
Das kann man sagen, wohl wissend, dass es in der Folgezu einer Reihe von Härtefällen und einer Reihe von Wi-dersprüchen gekommen ist, die zum allergrößten Teil an-gesichts der enormen Komplexität des Themas und an-gesichts der Eile, in der das Thema damalsparlamentarisch abgearbeitet werden musste, nicht ver-meidbar waren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10455
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– Bitte? Ich habe nicht ganz verstanden, was Sie gesagthaben.
Wollen Sie eine Frage stellen? Das geht ja schon frühlos.
Die Zwischenfrage ist bereits genehmigt.
Herr Schreiner, ich habe eine sehr hohe Achtung vor
Ihnen, weil ich weiß, dass Sie damals, als im Deutschen
Bundestag in Bonn über die Rentenüberleitung beraten
wurde – ich habe dabei in der hinteren Reihe gesessen –,
a
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Seehofer, wie war das in
der DDR? Muss man heute diese Regelung so fällen? –
Da hat Herr Seehofer häufig gesagt: Nein, man muss das
nicht so machen; das ist Ihre politische Entscheidung. Es
waren dann nicht Sie, sondern andere, die gesagt haben:
Nein, das muss man so machen, weil das Privilegien des
Ostens waren. Dieses Argument kam vor allen Dingen
von der CDU- und FDP-Seite. Können Sie bestätigen,
dass es damals so war,
dass Sie dies hinterfragt haben und auch nicht mit allem
einverstanden waren?
Nein. Ich habe eben ganz bewusst gesagt, dass dasThema damals eine ganze Menge Konfliktstoff in sichbarg. Dieser besteht zum Teil, wie man an der heutigenDebatte sieht, bis in die Gegenwart. Das ist angesichtsder enormen Komplexität und des hohen Schwierigkeits-grads, zwei in Teilen sehr unterschiedliche Rentensys-teme zusammenzubringen, auch nicht verwunderlich.Das geschah übrigens in der Regel auf der Basis derwestdeutschen gesetzlichen Rentenversicherung, ob-wohl auch einige von uns der Meinung waren, manmüsse einige damals im DDR-Rentensystem vorhandeneAnsätze, die durchaus mit dem westdeutschen Systemzusammenführbar gewesen wären, stärker berücksichti-gen. Das gilt insbesondere für die Verankerung von Min-destrenten im System; das ist nicht in dem Maße erfolgt,wie wir uns das vorgestellt hatten. Das ist ein Beispiel;ich könnte Ihnen eine Fülle von weiteren Beispielen nen-nen.All das hält mich nicht davon ab, in der Gesamtbe-wertung zu sagen: Die Zusammenführung der Systemeauf der Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherungstellt einen großartigen Beitrag zur Wahrung des sozia-len Friedens im gemeinsamen Deutschland dar, zumalwir Anfang der 90er-Jahre große Probleme auf dem ost-deutschen Arbeitsmarkt mit denkbar unkalkulierbarenFolgen hatten. Insofern war die Rentenversicherung einStabilisierungsfaktor. Das sollte sie auch zukünftig blei-ben.
Wenn man sich die Anträge der Linkspartei anschaut,so stellt man fest: Diese sind seit geraumer Zeit, auchwenn es kleine Korrekturen gibt, im Wesentlichen un-verändert. Ich habe mir das Protokoll der Anhörung vom30. April 2009 durchgelesen. Diese ist jetzt knapp zweiJahre her. Auf diese umfängliche Anhörung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales komme ich gleich zu-rück.Zunächst einmal möchte ich aber sagen, worum esgeht, weil diese Debatte für viele außerhalb des Parla-ments völlig unverständlich ist. Es geht im Kern um dieProbleme, die bei der Überführung der sogenannten Zu-satz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligenDDR in die gesetzliche Rentenversicherung entstandensind. Nach meinen Zahlen gab es in der ehemaligenDDR etwa 61 dieser Zusatz- und Sonderversorgungssys-teme, die teilweise außerordentlich unterschiedlich aus-gestaltet waren. Es gab Systeme mit einer Beitrags-pflicht, und es gab Systeme ohne Beitragspflicht. Esbestand also eine extrem unübersichtliche Situation, wasdie Gesamtheit dieser Zusatz- und Sonderversorgungs-systeme anbelangte.Daraus mussten sich Probleme ergeben, weil natür-lich Kernelemente der gesetzlichen Rentenversiche-rung, in die diese Sondersysteme überführt worden sind,zu beachten waren. Darunter fielen die starke Beitrags-abhängigkeit der Leistungen und die Begrenzung derAnwartschaften entsprechend der Beitragsbemessungs-grenze. Es war völlig klar, dass Besonderheiten der sozi-alrechtlichen Absicherung in der DDR nicht in demMaße berücksichtigt werden konnten, wie das für einigeBeteiligte wünschenswert gewesen wäre. Ebenso warklar, dass es sozialpolitisch nicht in jedem Fall unbe-denklich war, so zu handeln, weil damals die DDR-Bür-ger wesentliche Entscheidungen in ihrem privaten undberuflichen Leben mit Blick auf rentenrechtliche Rah-menbedingungen getroffen hatten. Eine Reihe von soge-nannten Härten wurde in der Folge durch die Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts ausgeglichen. Ichsage hier in aller Klarheit für die SPD: Falls dennoch ineinzelnen Bereichen Unterversorgung aufgrund der da-maligen Maßnahmen besteht, sind wir gerne bereit, denHandlungsbedarf zu prüfen und die Probleme sehrschnell abzuarbeiten.
Was bei der Anhörung aufgefallen ist, ist Folgendes:Es ist von den Vertretern der Linkspartei gesagt worden,die Sachverständigen, die sich damals gegen die Vor-schläge der Linkspartei ausgesprochen haben, seien dieSachverständigen der anderen Fraktionen. Da machenSie es sich viel zu einfach. Der Deutsche Gewerkschafts-bund, die Sozialverbände und die Deutsche Rentenversi-
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10456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Ottmar Schreiner
(B)
cherung sind keine Organisationen von irgendwelchenFraktionen in diesem Haus. Das sind unabhängige Orga-nisationen, die sich eine Einflussnahme strikt verbittenwürden.Ich habe mir die Mühe gemacht, mir die schriftlichenErklärungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes undder Sozialverbände, in Sonderheit die des Sozialver-bands Deutschland e. V., entlang dieser Anhörung etwasgenauer anzuschauen. Sie werden so gut wie keinen ein-zigen Vorschlag der Linkspartei finden, der von diesenVerbänden nicht deutlich kritisiert worden ist.
Es ist bedauerlich, dass die Linkspartei letztlich keinender Kritikpunkte, die von den Gewerkschaften und denSozialverbänden angesprochen worden sind, aufgenom-men hat und in veränderte Vorschläge einfließen ließ.Ich will einmal versuchen, das am Beispiel von zweiBereichen deutlich zu machen. Der erste Bereich – erwurde bereits vom Kollegen Gysi angesprochen – be-trifft die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwe-sen der ehemaligen DDR, die besonders schlecht bezahltworden sind. Offenkundig war es als eine Entschädigungfür die sehr schlechten Löhne gedacht, für diese Be-schäftigten im DDR-Rentenrecht einen Steigerungsfak-tor von 1,5 einzuführen. Jedweder Steigerungsfaktor wardem westdeutschen Rentenrecht völlig fremd.
– Bei der Knappschaft gibt es andere Regelungen; aberes gibt keine Steigerungsfaktoren, die generell in der ge-setzlichen Rentenversicherung wirken. Das bundesdeut-sche Recht kennt diese Steigerungsbeträge nicht.Ein anderes Problem betrifft die Frage, ob die niedri-gen Löhne im Gesundheitsbereich der ehemaligen DDRheute rentenrechtlich noch korrigierbar sind und korri-giert werden sollten. Wenn man das macht, KollegeGysi, dann muss man konsequenterweise hinzufügen,dass es damals auch in Westdeutschland Niedriglohnsek-toren gab, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie heute.Man müsste also auch für diese Bereiche im Nachhineineine spürbare Verbesserung bewerkstelligen, weil mansich ansonsten dem berechtigten Vorwurf aussetzte: Fürdie einen tut ihr was, und die anderen lasst ihr links,rechts oder sonst wo liegen. – Das ist politisch nichtdurchzuhalten.
Das zweite Beispiel, das ich im Zusammenhang mitIhren Anträgen nennen will, bezieht sich auf die Beseiti-gung von Rentennachteilen für Zeiten der Pflege von Fa-milienangehörigen in der ehemaligen DDR. Das ist fürmich ein besonders beeindruckendes Beispiel, weil ichimmer zu denen gehört habe, die der Meinung waren,dass wir notwendige Pflegezeiten entsprechend honorie-ren müssen. Es gibt auch aktuell eine Debatte darüber,das verstärkt zu tun; das ist nichts Neues. Nur muss mandann natürlich konsequenterweise dazusagen, dass wirim bundesdeutschen Recht 1992 zum ersten Mal eineAnrechnung von Pflegezeiten hatten und dass die vonIhnen begehrte Anerkennung auf Zeiten fällt, in denenwestdeutsche Versicherte, die notwendige Pflegediensteleisteten, keinerlei rentenrechtliche Ansprüche erwer-ben konnten. Wenn man diese Zeiten anerkennen würde,müsste man es für alle machen. Es macht keinen Sinn,eine isolierte Ostregelung zu forcieren, weil das in wei-ten Teilen des Westens auf großes Unverständnis stoßenwürde.
Herr Kollege Schreiner, der Herr Kollege Gysi würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Das abzulehnen, wäre jetzt wirklich merkwürdig. –
Bitte.
Herr Schreiner, es geht doch um folgendes Problem:
Den Krankenschwestern etc. in der DDR war das doch
versprochen worden,
weil sie zu geringe Löhne bekamen. – Moment! Das
habe ich doch gesagt. – Deshalb war ihnen bei der Rente
ein Erhöhungsfaktor versprochen worden. Das war et-
was, worauf sie sich bei der Arbeit verlassen hatten.
Aber dann streichen Sie den Erhöhungsfaktor und sagen,
dass das westdeutsche Recht dies nicht kenne. So be-
kommt man doch keine Vereinigung hin. Auch bei der
Pflege hatten sie sich darauf verlassen, dass diese Zeiten
als Rentenanwartschaftsjahre gelten. Aber dann sind sie
einfach gestrichen worden. Verstehen Sie? Da ist doch
Vertrauen verloren gegangen. Diese Menschen sagen:
Ich habe immer gearbeitet, und das war mir zugesichert.
Dann kommt die deutsche Einheit, und dann wird dieser
Faktor gestrichen.
Kollege Gysi, wir sind im Kern in dieser Frage nichtso furchtbar weit auseinander. Wir sind in der Frage aus-einander, ob dieser Stabilisierungsfaktor, der nur imDDR-Recht galt und vermutlich auch nur für ganz we-nige Bereiche – mir ist nicht klar, ob dies außerhalb desGesundheitswesens noch für irgendeinen anderen Sektorgalt –, der Logik nach in die Konstruktion der gesetzli-chen Rentenversicherung mit Beitrags- und Lohnbezo-genheit, mit Beitragsbemessungsgrenze usw. hineinpasst.Es bleibt aber das Kernproblem einer rentenrechtlichenBesserstellung von Leuten im Osten wie im Westen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10457
Ottmar Schreiner
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die in schlecht bezahlten Niedriglohnsektoren gearbeitethaben, und Lösungsversuche stoßen bei der SPD aufausgesprochen große Sympathien.
Ich will dazu einen Kollegen der CDU zitieren, undzwar den Kollegen Karl-Josef Laumann. Er ist inzwi-schen Fraktionsvorsitzender der CDU im nordrhein-westfälischen Landtag und gleichzeitig Chef der Christ-lich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Ich schätzeden Kollegen Laumann sehr. Er hat vor kurzer Zeit dieEinführung der Rente nach Mindesteinkommen gefordert.Er sagte, ein Durchschnittsverdiener müsse 27 Jahre indie Rentenkasse einzahlen, um die Grundsicherung zubekommen.
Das sei nicht leistungsgerecht. Wer Jahrzehnte einge-zahlt habe, müsse mehr bekommen als jemand, der nieBeiträge überwiesen habe. Dazu kann ich nur sagen:Bravo! Das ist völlig richtig. – Der Grundsatz „Leistungmuss sich lohnen“ ist doch das Mantra, das die FDP pau-senlos vor sich herträgt. Der Grundsatz „Arbeit musssich lohnen“ muss für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer und auch später bei der Rente gelten. Das istdoch völlig unbestritten.
Die Bekämpfung drohender Altersarmut, und zwarnicht erst die im Jahr 2030 drohende Altersarmut, ist– über die 19 Anträge der Linkspartei hinaus – die ei-gentliche Herausforderung. Ich zitiere aus Welt Onlinevon gestern Morgen:Altersarmut wächst in Berlin rapide.In Berlin leben immer mehr ältere Menschen, unddie Älteren werden immer ärmer. Im Jahr 2009 wa-ren in der gesamten Stadt mehr als 57 500 Men-schen darauf angewiesen, zusätzlich zu ihrer Renteeine Leistung der Sozialhilfe vom Staat zu bekom-men.Die Rentenarmut wächst rapide. Das ist mit Ergebnis ei-ner Politik, die den Niedriglohnsektor – prekäre Be-schäftigungsverhältnisse – systematisch ausgeweitet hat.
– Es mag sein, dass auch wir da beteiligt waren.
Ich sage Ihnen nur: Wer erkannt hat, dass das ein Fehlerwar, und ihn korrigieren will, ist mir tausendmal lieberals Leute, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, wieSie, Herr Kolb.
Ich sage Ihnen nochmals: Der beste Beitrag zur Be-kämpfung drohender Altersarmut ist es, Menschen füranständige Arbeit anständig zu entlohnen. Das gilt fürOstdeutschland, aber auch für Westdeutschland. Wirwissen aus den Zahlen, die wir haben, dass in absehbarerZeit 30 bis 40 Prozent der Männer in Ostdeutschlandeine Rente unterhalb der Grundsicherung erwartet. Beiden Frauen sind die Zahlen noch deutlich höher. Wirkennen Zahlen aus Westdeutschland, nach denen sich dieSituation dort nicht ganz so dramatisch darstellt, wir esaber auch dort mit wachsender Altersarmut zu tun be-kommen.Es ist kein Leben in Würde, wenn Menschen, diejahre- und jahrzehntelang in die Rentenversicherung ein-gezahlt haben, im Alter von der Sozialhilfe leben müs-sen. Deshalb besteht hier dringender Reformbedarf, weitüber die 19 Einzelpositionen aus den Anträgen der Lin-ken hinaus.
Wir von der SPD haben uns vor einiger Zeit dazu ent-schieden, eine Kommission mit dem vorrangigen Zieleinzusetzen, Vorschläge für die Bekämpfung der drohen-den Altersarmut zu entwickeln.
Bei der einen oder anderen Frage werden die Probleme,die von der Linken dargestellt worden sind, mit aufge-griffen; das liegt auf der Hand.Lassen Sie mich zum Abschluss eine Bemerkung zueinem Thema machen, das in keinem unmittelbaren Zu-sammenhang zu dem steht, worüber wir heute beraten.Gleichwohl bin ich der Meinung, dass dieses Thema füralle Mitglieder des Hohen Hauses beschämend ist. Esgeht um die Art und Weise, wie wir in den letzten Jahrenund Jahrzehnten rentenpolitisch mit ehemaligen DDR-Flüchtlingen umgegangen sind. Das ist wahrlich keinRuhmesblatt der deutschen Rentenpolitik.
Hier geht es zu erheblichen Teilen um Menschen, die beiGefahr für Leib und Leben die damalige DDR verlassenhaben. Es waren Menschen, die teilweise mit erhebli-chen Repressalien fertigwerden mussten und sich ent-schieden hatten, das Land zu verlassen. Die ehemaligenDDR-Flüchtlinge sind durch die Überleitungsgesetzge-bung Anfang der 90er-Jahre deutlich schlechter gestelltworden. Vorher sind sie nach dem sogenannten Fremd-rentengesetz behandelt worden und hatten sich – ähnlichwie andere aus der ehemaligen DDR – auf den Fortbe-stand dieser Regelung zu ihren Renten verlassen. Dasind sie bitter enttäuscht worden. Teilweise mussten siemit Einkommensminderungen von mehreren HundertEuro rechnen. Ich glaube, es stünde dem ganzen Hausgut an, bei dieser Frage alsbald zu einer vernünftigenLösung zu kommen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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10458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Ottmar Schreiner
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Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Gysi, Sie haben Ihre Redezeit bedauerli-cherweise nicht dafür genutzt, uns deutlich zu machen,worin sich die Anträge in diesem Jahr von den Anträgenvor zwei Jahren unterscheiden.
Insofern können Sie in der Tat nicht damit rechnen, dassIhre Anträge, die die gleichen wie vor zwei Jahren sind
und damals von der großen Mehrheit des Hauses abge-lehnt wurden, jetzt von der Mehrheit dieses Hauses an-genommen werden.
Für uns gilt in der Tat: Leistung muss sich lohnen. Das,was Sie vorgelegt haben, ist aber keine parlamentarischeLeistung. Deshalb wird die große Mehrheit dieses Hau-ses Ihre Anträge auch in diesem Jahr ablehnen.
Zweiter Punkt. Herr Gysi, Sie wollten in Ihrer Rede,soweit ich ihr folgen konnte,
an vielen Einzelbeispielen deutlich machen, warum dieÜberleitung der Renten, so wie sie geschehen ist, unge-recht sein soll. Die meisten Beispiele bezogen sich aufdie Frage von Fristen und Stichtagen. Nun ist es aberWesen des Gesetzgebungsprozesses, dass wir mit Stich-tagen und Fristen arbeiten müssen. Es gäbe keine Wei-terentwicklung des Rechts, wenn wir nicht Stichtage undFristen setzen und diese dann auch anerkennen würden.Wenn wir dies nicht täten, würde nämlich immer altesRecht gelten und neues Recht nicht möglich sein.Sie haben in Ihrer Rede versucht, die grundsätzlichrichtige Entscheidung zur Rentenüberleitung anhand ei-ner Fülle von Einzelbeispielen zu kritisieren.
Sie versuchen nach wie vor, das Vertrauen in diesegrundsätzliche Entscheidung zu erschüttern. Ich möchtedazu etwas Grundsätzliches sagen. Die Redner haben indieser Debatte, aber auch schon in den vergangenen Jah-ren immer wieder darauf hingewiesen: Man muss fest-stellen, dass es eine Herkulesaufgabe und eine Meister-leistung gesetzgeberischer, aber auch finanzieller Artwar, zwei ganz unterschiedliche Rentensysteme zusam-menzuführen.
Dass die Grundsatzentscheidung, das DDR-Rentensys-tem in das bundesdeutsche Rentenversicherungssystemzu überführen, richtig war, bestreitet niemand. Auch na-tionale und internationale Gerichte bestätigen seit Jah-ren, dass die Grundsatzentscheidung, im wiedervereinig-ten Deutschland ein einheitliches und gemeinsamesbeitrags- und lohnbezogenes Rentenrecht einzuführen,richtig war.
Die Alternative wäre gewesen, dass bestimmte Ein-zelregelungen des DDR-Rechts in das Sozialgesetz-buch VI hätten übertragen werden müssen, obwohl diesin vielen Fällen nicht passt und den Grundsätzen desSozialgesetzbuchs VI widerspricht. Durch eine solcheÜbertragung von Einzelregelungen des DDR-Rentensys-tems in das bundesdeutsche Rentenrecht wäre es imÜbrigen zu neuen Ungerechtigkeiten gekommen. Bei ei-nem so komplexen Projekt wie der Überführung zweierso komplexer Systeme zu einem gemeinsamen SystemEinzelfallgerechtigkeit herzustellen, ist unmöglich.
Wir müssen selbstverständlich auch beachten, dass dieUmsetzung dessen, was in manchen Anträgen gefordertwird, bedeuten würde, dass wir Privilegien einzelner Be-rufsgruppen in der DDR gegenüber anderen Berufsgrup-pen in der DDR in unser heutiges gesamtdeutsches Ren-tenrecht übernähmen.Wir sollten festhalten: Die Integration des Rentensys-tems der DDR in das Rentensystem der Bundesrepublikist wahrlich eine große Leistung. Dadurch ist dafür ge-sorgt, dass Millionen von Menschen im Alter einen Le-bensstandard haben, der ihnen durch das DDR-Renten-system nicht gewährt worden wäre.
Unbestritten gehören die Rentnerinnen und Rentner derehemaligen DDR in ihrer Gesamtheit zu der Gruppe, diefinanziell gesehen am meisten von der Einheit profitierthat.
Schon zweieinhalb Jahre nach der deutschen Einheithatte sich der Wert der Rentenzahlungen für das Gebietder ehemaligen DDR mehr als verdreifacht. Das ver-deutlicht die große Leistung, die damals insgesamt er-bracht worden ist. Ohne die Überleitung der Renten wür-den die Rentnerinnen und Rentner im Osten derRepublik heute fast alle in Armut leben.
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Pascal Kober
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Trotzdem sehen wir als FDP durchaus Handlungsbe-darf. Die FDP tritt dafür ein – Herr Kolb hat es schonausgeführt –, dass wir den Menschen über eine günstigeNachversicherungslösung auf freiwilliger Basis einePerspektive geben, um manche individuellen Härten ab-zumildern.
Vorredner heute und in vergangenen Debatten zu diesemThema haben stets betont, wie schwierig eine gerechteLösung ist.
Im Koalitionsvertrag haben FDP und CDU/CSU festge-halten, dass wir das Rentensystem von Ost und Westvereinheitlichen werden. Persönlich habe ich die Hoff-nung, dass wir im Zuge dieses Verfahrens zahlreicheEinzelfragen der Rentenüberleitung erneut behandelnund abschließend beantworten können.
Wir können bei diesem Thema keine Einzelfallge-rechtigkeit schaffen, auch wenn das wünschenswertwäre. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Linken,machen es sich bei diesem Thema wieder einmal viel zueinfach. Die Lösung des Problems liegt für Sie darin,einfach allen Forderungen einzelner Berufsgruppen pau-schal und vollkommen nachzugeben. Dies kann aberwieder zu neuen Ungerechtigkeiten zwischen den ver-schiedenen DDR-Erwerbsbiografien und den daraus re-sultierenden Rentenansprüchen führen. Wir dürfen nichtversuchen, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen; denndas würde zu neuen Ungerechtigkeiten führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, mansollte bei diesem Thema vielleicht auch darüber nach-denken, dass heutzutage viele Menschen aus der ehema-ligen DDR eine geringere Rente erhalten, weil ihnen auspolitischen Gründen durch das System der DDR einebessere Ausbildung oder bessere Berufschancen unter-sagt oder vorenthalten wurden.
Das muss man in diesem Zusammenhang ansprechen,auch wenn wir die Ungerechtigkeit des DDR-Systemsnicht durch unser Rentenrecht im Nachhinein rückgän-gig machen können. Ich persönlich finde das schmerz-lich, kann an dieser Stelle aber nur in Erinnerung rufen,wo die Zuständigkeiten für dieses Unrecht liegen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion gerierensich heute wieder einmal als Rächer der Enterbten undtun so, als ob sie die Einzigen wären, die sich um dieRentnerinnen und Rentner im Osten kümmern.
Vergessen wird, wie die Lage der Rentnerinnen und Rent-ner in der DDR war. Zu Beginn der Debatte wurden schoneinige Zahlen genannt; ich möchte noch einige nennen.Anfang der 60er-Jahre lag das Rentenniveau bei etwa27 Prozent des Bruttoarbeitseinkommens. Von 1972 biszum Ende des Jahrzehnts stieg die Mindestrente von160 Mark auf 270 Mark. 1989 beschloss die SED, denMindestsatz von 300 Mark auf 330 Mark anzuheben. ImJuni 1990 betrug die durchschnittliche Ostrente 475 DDR-Mark. Vier Jahre später lag sie bei 1 200 D-Mark.
– Durchschnittlich.Es ist beschämend, wie die Menschen in der DDR be-handelt wurden. Zahlreiche Rentnerinnen und Rentnerwaren aufgrund des geringen Rentenniveaus gezwun-gen, nach Eintritt in das Rentenalter weiter zu arbeiten.Man sollte sich genauso vor Augen halten, unter wel-chen Bedingungen die Menschen gelebt und gearbeitethaben.Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, habenzum Beispiel auch einen Antrag für die Bergleute ausder Braunkohleveredelung eingebracht. Ich komme ausdem Süden von Leipzig, einer Landschaft, die früher– auch jetzt noch – stark von der Braunkohleindustriegeprägt war. Ich weiß, wie die Lebensbedingungen undArbeitsbedingungen der Menschen dort waren. Es wurdein den Betrieben keinerlei Rücksicht auf die Menschengenommen.
Deshalb können Sie sich doch jetzt hier nicht als Retterdarstellen.
Die SED war doch damals dafür zuständig.
Die Betriebe wurden bankrottgefahren, und jetzt stellenSie sich so hin, als seien Sie überhaupt nicht schuldig.
– Die DDR existiert zum Glück nicht mehr.
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10460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Monika Lazar
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Nach der Ablehnung Ihrer Anträge im Jahr 2009 ha-ben Sie im Bundestagswahlkampf ein Flugblatt ge-macht.
Die Kolleginnen und Kollegen der ostdeutschen Länderkönnen sich sicherlich gut daran erinnern. Ich habe diesächsische Version davon mitgebracht.
– Bitte nicht vorher lachen. – Wissen Sie, Kolleginnenund Kollegen von der Linken, wer genauso gestimmt hatwie Sie? Henry Nitzsche, ehemaliger Rechtsausleger derCDU, später fraktionsloser Abgeordneter im DeutschenBundestag und jetzt im nationalkonservativen Lager inSachsen unterwegs. Sind das wirklich Ihre Mitstreiter?
– Wir sehen das Problem durchaus differenziert. MeinKollege hat schon gesagt, dass wir bei einigen in denAnträgen angesprochenen Punkten durchaus Verände-rungsbedarf sehen.Die DDR-Geschiedenen sind bereits angesprochenworden. Ihr Verein ist sehr aktiv, und ich persönlich habeauch sehr gute Kontakte und unterstütze ihn. Die DDR-Geschiedenen haben – das richtet sich an die Kollegin-nen und Kollegen von den Regierungsfraktionen – übri-gens auch Beistand von europäischer Ebene bekommen.Sie klagen jetzt beim Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte, und auch der CEDAW-Ausschuss, alsoder UN-Überprüfungsausschuss zur Bewertung der Dis-kriminierung der Frauen, will sich der Sache annehmen.Wir hatten schon in der letzten Wahlperiode einen An-trag dazu eingebracht. Heute steht ein Antrag zur Ab-stimmung, der – mein Kollege hat das schon angedeutet –vom Bundesrat übernommen wurde. Wir würden unswirklich sehr freuen, wenn insbesondere für dieseGruppe Abhilfe geschaffen wird. Es gibt eine Rege-lungslücke, und wir müssen einer größeren Gruppe Be-troffener gerecht werden und sollten nicht erst auf dieeuropäische Rechtsprechung warten.Eine langfristige Lösung ist, wie viele Rednerinnenund Redner zu Recht schon gesagt haben, mit den Anträ-gen der Linksfraktion natürlich nicht zu erreichen. Wirmüssen uns gemeinsam mit allen Fraktionen bemühen,endlich ein einheitliches Rentensystem zu schaffen.Viele Bundesregierungen in der Vergangenheit habensich das schon vorgenommen. Bisher ist es leider nichtgeglückt. Wir sind sehr gespannt, was die aktuelle Bun-desregierung vorlegen wird. Vielleicht schaffen wir es jain dieser Wahlperiode, zu einem einheitlichen System zukommen, das diesen Namen auch verdient.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
– Das ist zu spät. Ich habe Herrn Straubinger schon auf-
gerufen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte eine Vorbemerkung machen: Das Renten-überleitungsgesetz war und ist für die Menschen in derehemaligen DDR ein großer Erfolg. Es gibt ihnen einematerielle Sicherheit im Alter, die in der DDR nie mög-lich war und nie möglich gewesen wäre. Trotz aller Son-derversicherungssysteme und Zusatzsysteme wäre diesematerielle Sicherheit für die Menschen in der ehemali-gen DDR nie erreicht worden.
Auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten hat dasRentenüberleitungsgesetz einen großen Beitrag geleistet.Es hat nämlich – das ist die soziale Komponente – zumZusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands, vonOst und West, beigetragen. Hinter diesem Erfolg stehendie Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die Steu-erzahler in unserem Land, die die Grundlage dafürschaffen, dass die Leistungen, die den Menschen überdas Rentensystem zuteilwerden, erbracht werden kön-nen.Natürlich ist es immer möglich, für Verbesserungenfür vermeintlich Benachteiligte einzutreten, wie dieFraktion Die Linke dies heute wieder darzustellen ver-sucht. Damit will sie sich in der Öffentlichkeit bei Perso-nenkreisen, die sie begünstigen will, anbiedern. DieseMenschen sollen glauben, dass die Linke die aus ihrerSicht berechtigten Ansprüche hier einbringt. Ich möchteschon herausstellen, dass es in der DDR aufgrund einesUnrechtssystems zu diversen Sonderzulagen und Son-derzusagen gekommen ist. Ich habe mir berichten lassen,dass die Menschen in der ehemaligen DDR es ebenfallsals große Ungerechtigkeit empfunden haben, dass die In-telligenzrente wesentlich höher war, die Beitragszahlun-gen dafür niedriger. Das können wir in einem bundes-deutschen Rentensystem nicht fortführen.
Das Rentenüberleitungssystem ist gelungen, und deshalblehnen wir Ihre Anträge zu den einzelnen Bereichen ab.Es ist entscheidend, dass wir der Öffentlichkeit unserRentensystem erklären. Wir müssen immer wieder sa-gen, dass Beitragszahlungen die Grundlage dieses Sys-tems sind und Ansprüche auf diese Art und Weise erwor-ben werden. In der ehemaligen DDR gab es den von derLinken heute so sehr bekämpften Niedriglohnsektor. Erwurde so begründet: Ihr bekommt zwar jetzt niedrigeLöhne, aber dafür später eine höhere Rente. Die Leis-tung der Arbeit sollte sozusagen erst in der Zukunft be-lohnt werden. Auch das ist ein eigenartiges System ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10461
Max Straubinger
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wesen. Wir kämpfen dafür, dass der entsprechende Lohnsofort ausgezahlt wird. Wir verweisen nicht auf die Zu-kunft.
Auch daran wird die Ungerechtigkeit des DDR-Systemsdeutlich. Diese Ungerechtigkeit wollen Sie, verehrteKolleginnen und Kollegen von der Linken, im deutschenRentensystem fortführen. Auch deshalb lehnen wir dieseAnträge ab.
Heute wurde wieder vorgetragen, dass es zukünftigmehr Altersarmut geben würde. Natürlich gilt es, das zubeachten, und natürlich lohnt es sich auch, sich damitauseinandersetzen. Ich möchte aber daran erinnern: Ichkomme aus einem Landstrich, in dem die Löhne nachdem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich niedrig waren. Erist ausschließlich landwirtschaftlich geprägt, ohne indus-trielle Arbeitsplätze. In Niederbayern fand der Auf-schwung erst in den 70er-/80er-Jahren statt. Letztendlichwürde das bedeuten, dass in diesem Landstrich alleMenschen der Altersarmut anheimgefallen sind, weil inden Jahrzehnten nach dem Krieg nur geringe Löhne er-wirtschaftet werden konnten. Es gab Perioden, in denenin einzelnen Landkreisen eine Arbeitslosigkeit von40 Prozent und mehr geherrscht hat, insbesondere imWinter, weil mit der Landwirtschaft viele Saisonberufeverbunden sind. Trotzdem hat unser Rentensystem es zu-stande gebracht, dass wir keine höhere Altersarmut zuverzeichnen haben als vielleicht das Ruhrgebiet. Daszeigt sehr deutlich, dass die beste Grundlage gegen Al-tersarmut in unserem Land Arbeitsplätze sind. Es lohntsich, hier dafür einzutreten.
Geringere Rentenansprüche sind oft verbunden mithoher Arbeitslosigkeit, wie sie zum Beispiel in der Ver-gangenheit bei Rot-Grün geherrscht hat. Damals gab es5 Millionen Arbeitslose, heute sind es nur noch 3 Millio-nen Arbeitslose; aber auch das sind 3 Millionen Arbeits-lose zu viel. Deshalb ist es hier mitentscheidend, nichtbessere Versprechungen gegenüber den Menschen zumachen, sondern daran zu arbeiten, dass wir Arbeits-plätze, dass wir sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse haben, durch die die Menschen hoheRentenansprüche erwerben.Ein Letztes, verehrte Damen und Herren. KollegeSchreiner hat auf ein Problem hingewiesen, das mit demFremdrentengesetz und den Flüchtlingen aus der ehema-ligen DDR und der damit verbundenen Bewertung dieserZeiten zu tun hat. Wir haben entsprechende Petitionenim Bundestag. Es gilt, diese Petitionsverfahren abzuwar-ten. Ich glaube nicht, dass wir dies so einfach lösen kön-nen. Wir müssen aufpassen, dass wir keine neuen Tatbe-stände der möglichen Ungerechtigkeit schaffen. Deshalbgilt für uns, dies alles sehr sachgerecht zu beurteilen,aufzunehmen und natürlich auch in einem parlamentari-schen Verfahren darüber zu diskutieren. Hier sind alleeingeladen, weiterhin, wenn es notwendig und möglichist, an gerechten Lösungen in unserem Rentensystemmitzuarbeiten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Heinrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin sehr dankbar, dass ganz am Anfangder Debatte ein Kollege von mir, Herr Rehberg, mit fol-gender Frage begonnen hat: Woher kommen wir? In derganzen Debatte sind wir immer wieder zu dieser Fragezurückgekehrt. Wo beginnt denn die Überleitung, die imTitel dieser Debatte steht? Ich möchte den Bogen span-nen. Bei einer Überleitung denkt man an eine Brücke.Wenn es ein Woher gibt, dann muss es auch ein Wohingeben. Ich bin dankbar, dass Sie, Frau Lazar, gesagt ha-ben: Wir wollen eine Perspektive, wohin das führen soll.Zu den Anträgen von Ihnen, von den Linken, ist vielgesagt worden, nicht erst heute und, wie Kollege Kolbgesagt hat, wahrscheinlich nicht zum letzten Mal. Die19 Anträge sind unseres Erachtens nicht im ureigenstenInteresse der Gruppen, für die Sie hier sprechen. DasVorgehen wird kaum einer der Gruppen – manche sagenuns das sogar – gerecht. Da wird instrumentalisiert, undes riecht nach seltsamen Motiven. Herr Gysi, wenn Siehier sagen, dass der Grund, keinen Antrag bezüglich derFlüchtlinge zu stellen, der ist, dass diese gern gemein-sam etwas machen wollen, dann muss ich darauf hinwei-sen, dass ich das auch schon von anderen Gruppen ge-hört habe. Diese dürften Sie dann auch nicht vertreten.Am Ende kann die Linke letztlich allen diesen Grup-pen sagen, dass sie sich für sie eingesetzt hat. FrauSchmidt, Sie haben vollkommen recht: Das ist ein Stückweit Populismus. Wir hören – wir haben miteinanderdarüber gesprochen – aus den Gruppen andere Einstel-lungen dazu. Es ist inzwischen zur Genüge gesagt wor-den, dass es eine große gesellschaftliche Leistung ist, dieihresgleichen sucht. Die Komplexität der Lösung, diedann noch nötig sein kann, kommunizieren Sie nicht,weil es viel zu schwierig ist, das in drei Sätzen zu sagen.Herr Schreiner, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Dasind die 63 Zusatz- und Sonderversorgungssysteme. Daist die juristische Realität, die vielem davon im Wegsteht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfas-sungsmäßigkeit bestätigt. Die UN-Menschenrechtskom-mission ist damit befasst worden und hat dem Ganzenstattgegeben. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt:Das ist so nicht widersprüchlich. Es gibt die Grundsätzedes Bundessozialgerichts und rentenrechtliche Regelun-gen im SGB. So viele Dinge muss man dazusagen, wennman solche einfachen Forderungen – polemisch, wie ichmeine – nutzen möchte.
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10462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Frank Heinrich
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Auch die Fachleute, die auch Sie in den Anhörungengehört haben, waren eindeutig. Dazu gab es Bedingun-gen und Prinzipien, über die wir nicht einfach springendürfen: Der Gleichheitsgrundsatz – wir haben hier vonOst und West gesprochen – muss auf beiden Seiten ge-währleistet sein – Herr Schaaf, das haben Sie in IhrerZwischenfrage erwähnt –, der Grundsatz der Lohn- undBeitragsbezogenheit ist ein hohes Gut in unserem Land,die Systematik der auch schon vorher bestehendenRechtsverordnungen und die Vorgaben im Einigungsver-trag, darüber können wir uns nicht einfach hinwegset-zen. Ich halte es für polemisch, dass Sie das einfach tunund so einfach kommunizieren wollen.Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Wie ernst neh-men Sie dieses Anliegen tatsächlich? Wenn einzelnekleine Nachbesserungen nötig sind, dann sind wir bereit,daran mitzuarbeiten. Die meisten der Forderungen sindallerdings realitätsfern, insbesondere wenn Sie – da binich mir mit den Kollegen von der SPD einig – Anträgefür Personengruppen mit großer Nähe zum Staat, wieman das allgemein sagen kann, formulieren.Eines noch ganz persönlich zur Debattenkultur, zurpolitischen Auseinandersetzung. Sie stellen sich hier hinund fordern, dass wir alle gemeinsam so entscheiden sol-len – als ob Sie diese Anliegen vertreten! Ich verstehenicht, dass sich, seit ich der Sprecher bzw. der Berichter-statter meiner Fraktion im Bundestag zu diesem konkre-ten Thema bin, nicht einer von Ihnen mit mir zusammen-gesetzt und gesagt hat: Das Anliegen ist uns so wichtig,dass wir hier gemeinsam etwas bewegen sollten. – KeinVersuch Ihrerseits, Gespräche dieser bilateralen Art zuführen. Das ist bei den anderen Fraktionen anders gewe-sen. Ob das wirklich ein Anliegen um der Sache willenist, möchte ich zumindest bezweifeln.Ein zweiter Gedanke. Nachdem ich die Frage gestellthabe, inwiefern es Ihnen hier um Quantität – 19 Anträge –anstatt um Qualität geht, stellt sich auch die Frage nachdem Wort „gerecht“. In all Ihren Anträgen kommt dasWort „gerecht“ vor.
Durch die Wende – das haben Sie an keiner Stelle ver-schwiegen; das habe auch ich in meinen Reden hier ex-plizit gesagt – sind Ungerechtigkeiten passiert – Sie ha-ben das von uns an verschiedenen Stellen gehört –:durch Stichtage – Herr Kober hat das gesagt –, durchFristenregelungen. Und doch sind wir in unseremRechtssystem an diese Regeln gebunden. Welche Ge-rechtigkeit spielen wir gegen welche aus? Generationen-gerechtigkeit? Einzelfallgerechtigkeit? Wir brauchenRechtssicherheit für die kommenden Generationen.Gestern telefonierte ich mit einer Frau in ungefährmeinem Alter. Sie sagte mir in etwa Folgendes: Egal wiewir in dieser zugegebenermaßen verfahrenen und teil-weise ungerechten Situation entscheiden, wir werdenwegen der Komplexität immer wieder neue Ungerech-tigkeiten schaffen. – Gestern fiel in einem weiteren Ge-spräch auch der Begriff der Minimalstungerechtigkeit,die wir anstreben. Ich glaube, wir sind mit den momenta-nen Möglichkeiten nah an sie herangekommen. Wir wol-len schauen – das ist unsere Haltung als Koalition; dasist deshalb auch im Koalitionsvertrag verankert –, dasswir so nah wie möglich an die Grundsätze der Gerechtig-keit herankommen. Aber da gibt es die Grenze des Ein-zelfalls. Diese Grenze kann das Gesetz nicht überwin-den, schon gar nicht bei einem so starken Bruch in derdeutschen Geschichte, einschließlich der Fehler, dieauch noch danach – wohlgemerkt: danach – gemachtwurden. Ich denke, an der Minimalstungerechtigkeitsind wir nahe dran.Jetzt gibt es noch Möglichkeiten des Weiterdiskutie-rens. Sie von der Opposition redeten vorhin von einerFondslösung, die die größten Schwierigkeiten und diegrößten Schärfen, die durch die Gesetze passiert sind,auszugleichen versucht. Wir setzen uns da zusammen;das haben wir schon vereinbart. Wie diese Fondslösungaussehen könnte und ob es eine Fondslösung gebenwird, kann ich noch nicht sagen.Insgesamt betrachtet unterstreiche ich noch einmal:Es war eine gewaltige gesellschaftliche Leistung, das hatsich immer wieder gezeigt; das haben auch Sie an einerStelle in Ihrem Antrag – fairerweise muss ich das sagen –geschrieben. Aber die wirtschaftlichen Fehler von vorder Wende, die sich in unzähligen Lebensläufen, in diewiderrechtlich eingegriffen wurde, niedergeschlagen ha-ben, kann man heute trotz aller rechtmäßigen Bestrebun-gen nicht einfach ausgleichen. Ungerechtigkeit kannman nicht gegen Gerechtigkeit aufwiegen, auch ein de-mokratischer Rechtsstaat kann das nicht.
Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Ende.
Unser Anliegen: Woher, wohin? Wohin wollen wir?
Wir wollen zu einem einheitlichen Rentenrecht kom-
men. Dazu haben wir uns bekannt, deshalb werden
wir uns auch mit Ihnen auseinandersetzen; Herr Streng-
mann-Kuhn, Herr Schaaf, Sie haben darauf hingewiesen.
Wir unterstützen dieses Bestreben. Allerdings dürfen be-
stimmte Gruppen nicht erneut benachteiligt werden. Wir
gehen das an; wir werden in diesem Jahr damit begin-
nen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Ta-gesordnungspunkt die Kollegin Maria Michalk von derCDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10463
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Normalerweise bin ich eine begeisterte Anhängerin derVolksweisheit: Wiederholung ist die Mutter des Er-folgs. – Aber die Rentenantragsserie der Linken zeigtganz deutlich, dass dieser Ansatz dann nicht stimmt,wenn bei der Lösung des Grundproblems einfach an derfalschen Stelle angesetzt wird.Sie fordern mit Ihren Anträgen – dabei hangeln Siesich an den einzelnen Sachverhalten entlang, und daszum wiederholten Male – eine gründliche Überprüfungund Korrektur der Rentenüberleitung. Das – das ist inder Debatte sehr deutlich geworden – ist nach fast20 Jahren der Überleitung in eine beitrags- und lohnbe-zogene Rentensystematik einfach der falsche Ansatz. Siekönnen noch so viele Anträge stellen, Sie werden nie-mals unsere Zustimmung dazu bekommen.
Denn Politik ist nicht, das Wünschenswerte zu formu-lieren und die anderen für die Umsetzung bezahlen zulassen. Das war gelegentlich – nach Gutsherrenart – dieMethode der alten SED-Regierung. Unser Prinzip heißt,das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu verglei-chen, sich am Realistischen zu orientieren und das danndurchzusetzen.
Die politische Grundsatzentscheidung war damals aufdem Weg zur deutschen Einheit richtig. Wir müssen unsnoch einmal in Erinnerung rufen: Das Rentenniveau lagdamals bei 40 Prozent; und jetzt liegt es bei 88, 89 Pro-zent. Wer meint, das sei keine besondere Leistung, derverkennt die gesamtdeutsche Solidarität, für die ich michhier noch einmal ausdrücklich bedanken möchte.
Ich verkenne natürlich auch nicht, dass es bei Stich-tagsregelungen, die im politischen Geschäft normal undmanchmal nicht abwendbar sind, auch Einzelschicksalegibt, die einem in der Seele leidtun. Aber im Osten – daswar dort die Realität – gab es ein System ohne rote Li-nie. Herr Gysi, es wird Ihnen nicht gelingen, die Grund-sätze des Einigungsvertrages durch die Hintertür aufzu-heben.
Ich nenne einmal das heute schon mehrfach ange-führte Beispiel der Krankenschwester. Ich frage mich:Wieso mussten in den meisten Fällen die Frauen zu ei-nem so niedrigen Lohn diese ganz schwere Arbeit ver-richten? Es gab damals noch keine Pflegebetten oderBadewannen mit Lift. Erinnern Sie sich an die damali-gen Zustände: Das war eine äußerst schwere Arbeit inSchichten. Die meisten Frauen haben nebenbei Kindererzogen, und wenn es ganz dicke kam, dann hatten Sieauch noch einen Mann, der sie betrogen hat. Dann habensie oft, wissend, dass es keinen Versorgungsausgleichgibt, der Scheidung zugestimmt, weil das für sie der bes-sere Weg für die Zukunft war.Wer meint, man könne jedes Einzelschicksal mit ei-nem Grundsatzsystem korrigieren, der verkennt, was Po-litik leisten kann. Wir bemühen uns in unseren Diskussi-onen durchaus, Brüche zu erkennen und Lösungen zufinden. Ich halte in diesem Zusammenhang nichts davon,immer nur Durchschnittszahlen zu zitieren. Sie sind in-terpretationswürdig; in manchen Statistiken werden Be-rufsgruppen involviert – zum Beispiel Ingenieure oderÄrzte –, die nach heutigem Recht eigene Versorgungs-werke haben. Insofern kann man nicht jede Statistik kor-rekt miteinander vergleichen. Das führt zu einem fal-schen Ansatz.Uns ist wichtig, dass man jetzt nicht so tut, als ob wirmit unseren vielfältigen Bemühungen in diesem komple-xen Prozess der Überführung dieses Wirrwarrs von Ren-tensondersystemen Probleme verursacht hätten. Dazu istes aufgrund des Systems gekommen, das diejenigen zuvertreten haben, die die Anträge stellen. Es geht nicht,dass Sie erst die Sozialsysteme an die Wand fahren,quasi das Haus anbrennen und sich jetzt wiederholt zumFeuerwehrmann aufspielen. Das funktioniert nicht.
Deshalb sage ich es noch einmal ganz konkret: Dasswir uns bemühen, merken Sie doch; das war auch in derrot-grünen Regierungszeit so. Als es zum Beispiel umdas Problem ging, eine Regelung für die geschiedenenEhefrauen zu finden, hat es eine interministerielle Ar-beitsgruppe gegeben. Von den Anhörungen der Expertenwurde schon gesprochen. Auch die Länder waren an die-ser Abstimmung und an der interministeriellen Arbeits-gruppe beteiligt. Sie haben eben kein Ergebnis vorlegenkönnen, das politisch diskutiert und beschlossen werdenkonnte, weil es neue Ungerechtigkeiten bedeutet hätte.Deshalb ist die Lösung nicht so einfach.Ich sage Ihnen – ich habe von diesem Pult aus ja wie-derholt zu diesem Thema gesprochen –:
Wir erkennen, dass sich das Prinzip „Wer arbeitet, sollmehr Lohn haben als jemand, der nicht gearbeitet hat“im Grunde genommen in der Rente widerspiegeln muss.Klar haben wir die Grundsicherung im Alter. Das ist einRechtsanspruch. Aber wir sind uns einig: Es ist nicht ge-rade sehr bequem, das zu beantragen. Ich kenne vor allenDingen viele Frauen, die sich schwertun, diesen Antragzu stellen. Ich sage aber immer wieder: Das ist einRechtsanspruch.Die Kommission, deren Einsetzung wir in unseremKoalitionsvertrag beschlossen haben, wird dieses Ge-samtbild betrachten, weil das dann nicht mehr alleinenur ein ostdeutsches Problem ist. Ich bitte Sie herzlich,dafür Verständnis zu haben, dass wir bei unserer Grund-satzhaltung bleiben, weil sie von Fachexperten, in vielenAnhörungen und von Gerichten bestätigt worden ist. Ar-beitsminister aller Couleur in diesem Haus haben keinePatentlösung vorlegen können. Das ist der Beweis dafür,
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Maria Michalk
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dass das ein sehr schwieriger Prozess ist, dem wir unsstellen werden. Darüber freue ich mich.Wir werden hier wiederholt darüber diskutieren, abernicht auf der Grundlage Ihrer Anträge, sondern wir ge-hen das Gesamtpaket an.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich Ih-nen noch einige Hinweise zum Abstimmungsverfahrengeben.Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass eine grö-ßere Zahl von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-nung von Mitgliedern der SPD-Fraktion vorliegt, die wirzu Protokoll nehmen.1)Wir kommen zunächst zur namentlichen Abstimmungüber die 19 Anträge der Fraktion Die Linke zu Korrektu-ren bei der Überleitung der Alterssicherungen der DDRin das bundesdeutsche Recht. Bitte beachten Sie: Abge-stimmt wird über die Anträge selbst und nicht über dasVotum der Beschlussempfehlung. Es ist vereinbart, dieinsgesamt 19 namentlichen Abstimmungen auf einemStimmzettel durchzuführen. Die Stimmzettel erhaltenSie, falls noch nicht geschehen, von den Plenarassisten-ten hier im Saal. Schreiben Sie bitte zunächst Ihren Na-men und die Bezeichnung Ihrer Fraktion deutlich inDruckbuchstaben auf den Stimmzettel. Stimmzettel ohneNamensangabe sind ungültig. Der Ausschuss für Arbeitund Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/4769 unter den Buchstaben a bis sdie Ablehnung der Vorlagen. Auf dem Stimmzettel fin-den Sie unter Ihrem Namen eine Auflistung der 19 abzu-stimmenden Anträge. Sie können über jeden einzelnenAntrag mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ abstimmen.Einzelne Abstimmungen mit mehr als einem oder kei-nem Kreuz sind ungültig. Sie können die Stimmzettelauf Ihrem Platz ankreuzen. Nachdem Sie den Stimmzet-tel ausgefüllt haben, werfen Sie ihn in eine der aufge-stellten Urnen.Bevor wir nun zur Abstimmung kommen, möchte ichSie an die unmittelbar folgenden zwei namentlichen Ab-stimmungen mit der üblichen Stimmkarte erinnern.Zunächst folgt die Abstimmung über die 19 Anträgeder Fraktion Die Linke. Ich bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, die Plätze einzunehmen. – Sind an al-len Wahlurnen die notwendigen Schriftführer? – Das istder Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die19 Anträge der Fraktion Die Linke. Ich bitte, die Stimm-zettel einzuwerfen.Ich will daran erinnern, dass die Namen auf denStimmzetteln eingetragen sein müssen; sonst ist derStimmzettel ungültig.1) Anlagen 2 bis 4Gibt es noch Mitglieder des Hauses, die ihren Stimm-zettel nicht eingeworfen haben? – Das scheint nicht derFall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen.Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, sichwieder auf ihre Plätze zu begeben, damit man den Über-blick behalten kann.Da die vollständige Auswertung der Stimmzettel ei-nen erheblichen Zeitbedarf erfordert, werden die Schrift-führerinnen und Schriftführer zunächst noch kein zah-lenmäßiges Ergebnis ermitteln können, sondern nachSichtung der Stimmzettel feststellen, ob die Anträge an-genommen oder abgelehnt wurden. Das vorläufige Er-gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-ben.2)Bevor wir zu der namentlichen Abstimmung über dieBeschlussempfehlung zu dem Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen kommen, weise ich vorsorglichdarauf hin, dass wir unmittelbar nach dieser namentli-chen Abstimmung bei den Beratungen ohne Ausspracheeine weitere namentliche Abstimmung zu Tagesord-nungspunkt 34 b vorzunehmen haben. Ich bitte Sie also,den Saal nach dieser namentlichen Abstimmung nicht zuverlassen.Jetzt setzen wir die Abstimmungen fort. Der Aus-schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unterBuchstabe t seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/4195 mit dem Titel „Verbesserung derVersorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar1992 Geschiedenen“. Wir stimmen nun über denBuchstaben t der Beschlussempfehlung zu der Vorlagevon Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.Hier wird wie üblich über die Beschlussempfehlungund nicht über den Antrag abgestimmt, damit es hierkein Missverständnis gibt.Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer dievorgesehenen Plätze eingenommen? – Das ist der Fall.Dann eröffne ich die Abstimmung.Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimmkarte nochnicht eingeworfen? – Wenn das nicht der Fall ist, dannschließe ich den Wahlgang und bitte, auszuzählen. DasErgebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-ter bekannt gegeben.3) Wir setzen die Beratungen fort.Ich darf zunächst einmal darum bitten, dass sich dieKolleginnen und Kollegen wieder zu ihren Plätzen bege-ben, damit wir die Beratungen vernünftig fortsetzen kön-nen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 fsowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 k auf:33 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesZehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-2) Ergebnis Seite 10471 C3) Ergebnis Seite 10471 C
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Immissionsschutzgesetzes – Privilegierung desvon Kindertageseinrichtungen und Kinder-spielplätzen ausgehenden Kinderlärms– Drucksache 17/4836 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 1. Juli 2010 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und den VereinigtenArabischen Emiraten zur Vermeidung derDoppelbesteuerung und der Steuerverkürzungauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen– Drucksache 17/4806 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-schleunigung der Zahlung von Entschädi-gungsleistungen bei der Anrechnung desLastenausgleichs und zur Änderung des Auf-bauhilfefondsgesetzes
– Drucksache 17/4807 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 20. August 2009 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Schwei-zerischen Eidgenossenschaft über die Wehr-pflicht der Doppelstaater/Doppelbürger– Drucksache 17/4810 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschusse) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSUund FDPEinvernehmensherstellung von Bundestag undBundesregierung zur Ergänzung von Art. 136des Vertrages über die Arbeitsweise der Euro-päischen Union hinsichtlich der Ein-richtung eines Europäischen Stabilitätsmecha-nismus
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenhei-ten der Europäische Union– Drucksache 17/4880 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten SteffenBockhahn, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Beh-rens, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKeine weiteren Einlagerungen ins Zwischenla-ger Nord
– Drucksache 17/4848 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Ko-enigs, Renate Künast, Claudia Roth ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBerichte zur NS-Vergangenheit des Bundesmi-nisteriums für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz veröffentlichen– Drucksache 17/4696 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten StephanKühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAltschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungs-unternehmen neu ausrichten– Drucksache 17/4698 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Werner Simmling, ErnstBurgbacher, Sibylle Laurischk, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDPAnwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintal-bahn– Drucksache 17/4861 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteKumpf, Christian Lange , Rainer Ar-
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nold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDAusbau der Rheintalbahn als Modell für Bür-gernähe, Lärm- und Landschaftsschutz– Drucksache 17/4856 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDTierheime entlasten – Einheitliche Regelungenschaffen– Drucksache 17/4851 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Haushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDTierschutzgesetz ändern – Kennzeichnung vonPferden tierschutzgerecht ausgestalten– Drucksache 17/4850 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzg) Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterGloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDReformprozesse in Nordafrika und Nahostumfassend fördern– Drucksache 17/4849 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDzum Entwurf eines Beschlusses des Europäi-schen Rates zur Änderung des Vertrags überdie Arbeitsweise der Europäischen Union hin-sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für dieMitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist– Ratsdok. 17629/10 –hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenhei-ten der Europäischen UnionHerstellung des Einvernehmens bezüglich derErgänzung von Art. 136 AEUV zur Einrich-tung eines Europäischen Stabilitätsmechanis-mus verantwortlich gestalten– Drucksache 17/4881 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussi) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, AndrejHunko, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEzum Entwurf eines Beschlusses des Europäi-schen Rates zur Änderung des Vertrags überdie Arbeitsweise der Europäischen Union hin-sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für dieMitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist– Ratsdok. 17629/10 –hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Art. 23 Abs. 3 desGrundgesetzes– Drucksache 17/4882 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussj) Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHerstellung des Einvernehmens zwischenBundestag und Bundesregierung zur Ände-rung des Art. 136 des Vertrages über die Ar-beitsweise der Europäischen Union hinsicht-lich eines Stabilitätsmechanismus für dieMitgliedstaaten, deren Währung der Euro isthier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenhei-ten der Europäischen Union– Drucksache 17/4883 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussk) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusTressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung ge-setzlich fixieren– Drucksache 17/4855 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 h auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich weise darauf hin, dass wir zu Tagesordnungs-punkt 34 b namentlich abstimmen werden. Bitte bege-ben Sie sich erst an die Urnen, wenn zur namentlichenAbstimmung aufgerufen wird.Tagesordnungspunkt 34 a:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEinsetzung eines Gremiums gemäß § 16 des Re-strukturierungsfondsgesetzes– Drucksache 17/4859 –Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/4859? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist ein-stimmig angenommen. Damit ist das Gremium gemäߧ 16 des Restrukturierungsfondsgesetzes eingesetzt.Tagesordnungspunkt 34 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkel-mann, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKeine Privatisierung von Äckern, Seen undWäldern– Drucksachen 17/239, 17/587 Buchstabe b –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BrackmannCarsten Schneider
Otto FrickeRoland ClausAlexander BondeDer Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/587, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/239 ab-zulehnen.Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, wieder ihre Plätzean den Urnen einzunehmen. Wir stimmen auch diesmalüber die Beschlussempfehlung ab. Die Beschlussemp-fehlung lautet, den Antrag der Fraktion Die Linke abzu-lehnen. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das istder Fall. Ich eröffne die Abstimmung.Gibt es noch Mitglieder, die ihre Stimmkarte nichteingeworfen haben? – Das scheint nicht der Fall zu sein.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit derAuszählung zu beginnen.1)Ich bitte darum, jetzt wieder die Plätze einzunehmen,damit wir mit den Abstimmungen fortfahren können.Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 34 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 218 zu Petitionen– Drucksache 17/4711 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 218 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 34 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 219 zu Petitionen– Drucksache 17/4712 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 219 ist angenommenmit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 34 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 220 zu Petitionen– Drucksache 17/4713 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 220 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Frak-tion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undBündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 34 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 221 zu Petitionen– Drucksache 17/4714 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 221 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion,1) Ergebnis Seite 10473 D
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bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Ent-haltung der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 34 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 222 zu Petitionen– Drucksache 17/4715 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 222 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Oppositionsfraktionen.Tagesordnungspunkt 34 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 223 zu Petitionen– Drucksache 17/4716 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 223 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmender SPD-Fraktion und des Bündnisses 90/Die Grünenund Enthaltung der Fraktion Die Linke.Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undFDPEskalation der Gewalt in LibyenEs gibt eine Änderung in der Rednerreihenfolge. DieAussprache soll eröffnet werden von StaatsministerDr. Werner Hoyer.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wenn wir in diesen Tagen auf Libyenschauen, dann sehen wir dort genau das Gegenteil des-sen, was wir als human, ethisch und verantwortbar be-zeichnen und anstreben. Wir sehen Verwüstung, Ver-zweiflung, Verletzte und unzählige Tote.Das Bild ist natürlich nicht komplett. Der Informati-onszugang ist begrenzt. Es ist wieder einmal eine Situa-tion, in der wir uns bewusst machen können, welche Be-deutung eine freie, überall tätig sein dürfende Presse füruns hat. Wir sehen Menschen, die gezielt ermordet wer-den, weil sie ihre Freiheit und ihre Würde zurück-erlangen wollen.Wir sehen einen Diktator, der nach 40 Jahren Herr-schaft nicht davor zurückschreckt, mit offen kommuni-ziertem Vernichtungswillen gegen das eigene Volk vor-zugehen. Wir sehen einen Diktator – hier liegen dieUnterschiede zu den anderen Ereignissen der letztenWochen –, der sich zu einer Zeit, wo sich andere kon-struktiv in den Nahost-Friedensprozess eingebracht ha-ben, für einen anderen Weg entschieden hat. Wir seheneinen Diktator, der unverhohlen auf das Instrument derErpressung setzt – nicht erst jetzt. Ich wiederhole diesdeshalb, weil wir Europäer uns bewusst sein müssen, umwas für ein Regime es sich hier handelt. Wir alle habendie letzte Rede Gaddafis im Fernsehen gesehen. Sie warnicht nur bizarr und schockierend, sie weckte auch deut-liche Zweifel an seinem Realitätssinn.
Aber das macht es gerade so gefährlich. Die Lage vorOrt bleibt unübersichtlich. Wir schauen daher äußerstbesorgt und angesichts des Vorgehens des Regimes sehrempört auf die Lage in Libyen.Anders als in Ägypten sind in Libyen die Vorausset-zungen für den Sieg der Freiheit ungleich schwerer. Dasliegt am Regime. Das liegt natürlich aber auch an denschwierigen tribalen Strukturen des Landes. Es ist ge-wissermaßen eine Parallele zu dem, was wir in den 90er-Jahren im früheren Jugoslawien gesehen haben, wo alleethnischen Konflikte plötzlich wieder hochkamen undvirulent wurden, nachdem die Eisdecke des Kommunis-mus weggezogen worden war. In Libyen ist unter demWüstensand vieles verborgen geblieben, was es an triba-len Konflikten gegeben hatte, bis Gaddafi vor mehr als40 Jahren die Macht übernahm.Meine Damen und Herren, unsere erste Sorge gilt na-türlich den deutschen sowie den europäischen und nicht-europäischen Staatsangehörigen. Viele der ursprünglichüber 600 deutschen Staatsangehörigen konnten das Landinzwischen verlassen. Die Evakuierungsmaßnahmenlaufen weiterhin auf Hochtouren. Zusätzliche Kapazitä-ten wurden sowohl kommerziell als auch seitens derBundeswehr bereitgestellt. Ich bedanke mich bei derBundeswehr ebenso wie bei der Lufthansa für die her-vorragende Zusammenarbeit. Wir konnten Deutscheauch auf anderem Wege, per Schiff und auf dem Land-weg, aus dem Land herausholen. Wir danken unserenPartnern, die in ihre Evakuierungsbemühungen auchdeutsche Staatsbürger einbezogen haben, so wie wir esumgekehrt selbstverständlich auch getan haben.Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenministerhaben von Anfang an die Gewaltanwendung des liby-schen Regimes mit deutlichen Worten verurteilt und einsofortiges Ende der Gewalt gefordert. Europa hat sichinzwischen deutlich positioniert. Als derjenige, der amSonntag und am Montag die Verhandlungen fürDeutschland im Rat geführt hat, sage ich: Ich hätte mirgewünscht, Europa wäre schneller, deutlicher und ge-schlossener gewesen.
Ich bin mir der Probleme der Südländer der Europäi-schen Union selbstverständlich bewusst, und wir habenauch keinen Nachholbedarf an Solidarität. Aber das darfnicht dazu führen, unsere eigenen Werte zu verraten. Wirmüssen hier in dieser Angelegenheit klar Position bezie-
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Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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hen. Wir haben das im Außenministerrat am Montag,wie ich finde, noch nicht endgültig befriedigend getan.Mittlerweile hat das Politische und SicherheitspolitischeKomitee der Europäischen Union nachgelegt, sodass wirdamit jetzt ganz zufrieden sein können. Aber es ist schonbemerkenswert, dass der Weltsicherheitsrat der Verein-ten Nationen, der nicht zuletzt auf deutsches Betreibenhin zusammengetreten ist, in dieser Frage eine klarerePositionierung vorgenommen hat. Wir werden den Welt-sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch noch an man-chen Stellen brauchen.Außenminister Westerwelle hat früh auf die Notwen-digkeit von Sanktionen hingewiesen, sollte das Systemseinen Kurs der Gewalt gegen die eigene Bevölkerungweiterverfolgen. Das ist leider der Fall.
– Nein. Es gibt hier gar keinen Zweifel, dass dann, wenndiese Gewaltexzesse weitergehen – und sie gehen weiter –,an Sanktionen kein Weg vorbeiführt. Diese kann man al-lerdings nicht einmal eben aus dem Ärmel ziehen. WennSie zum Beispiel Asset Freeze machen wollen, müssenSie schon sehr präzise die Konten, deren Inhaber undden strafrechtlich relevanten Vorwurf definieren. Mankann sich also nicht überschlagen; aber an Sanktionengeht kein Weg vorbei.Morgen wird sich auch der Menschenrechtsrat derVereinten Nationen mit dem Thema Libyen befassen,das ja pikanterweise Mitglied des Menschenrechtsratesder Vereinten Nationen ist.Meine Damen und Herren, wir dürfen über die eska-lierende Lage in Libyen die Situation und die Entwick-lung in den anderen Ländern der Region nicht vernach-lässigen. Diese ist – das müssen wir uns immer wiederklarmachen – in jedem der betroffenen Länder anders.Wir haben kein geschlossenes, homogenes Bild für dieProblemlagen in den nordafrikanischen und arabischenLändern. Aber eines ist völlig klar: Die EuropäischeUnion muss ihre Nachbarschaftspolitik neu kalibrieren,
und zwar gilt das für die Mittelmeerpolitik ebenso wiefür die Politik gegenüber dem Osten; denn die Diskus-sion, die wir jetzt über Gaddafi und andere „nette“ Men-schen führen, haben wir vor wenigen Wochen auch überLukaschenko geführt. Das Grundproblem bleibt.
Daraus müssen wir die entsprechenden Konsequenzenziehen.Wir haben seitens der Bundesregierung in der letztenWoche konkrete Vorschläge für eine Neuausrichtung derPolitik der Europäischen Union vorgelegt. Dadurch, aberauch bereits durch frühere deutsche Beiträge zu den Dis-kussionen um Tunesien und Ägypten ist es uns gelun-gen, den Entscheidungsfindungsprozess in der Europäi-schen Union nachhaltig zu prägen. Auch da muss einBewusstseinswandel stattfinden. Wir können es unsnicht mehr leisten, dass es in der Europäischen UnionLänder gibt, die aufgrund ihrer geografischen Positionie-rung in Europa entweder nur nach Süden oder nur nachOsten blicken. Als Mitglied der großen EuropäischenUnion und auch des Binnenmarktes der EuropäischenUnion ist eben auch Finnland ein Mittelmeerland. Wirmüssen auch diejenigen, die weit vom Mittelmeerbe-reich entfernt sind, mit in die Verantwortung nehmen;genauso geht auch das, was in Weißrussland passiert,einen Portugiesen etwas an. Wir als Deutsche sind dieje-nigen, die es sich aufgrund ihrer zentralen Lage – geo-grafisch, politisch und auch wirtschaftlich – am allerwe-nigsten leisten können, den Blick nur auf den Süden odernur auf den Osten zu verengen. Deswegen werden wirauch hier eine engagierte Führungsrolle wahrnehmen.
Es geht jetzt im Kern darum, Ländern wie Ägyptenund Tunesien eine Transformationspartnerschaft anzu-bieten. Wir müssen bei der Gratwanderung zwischenOwnership, die wir immer in den Vordergrund rückenmüssen, und Verteidigung der eigenen Werte insbeson-dere demokratische und rechtsstaatliche Transformati-onsprozesse gezielter unterstützen. Es kann nicht imSinne des Erfinders sein, dass am Ende eines rein forma-len Wahlprozesses entweder diejenigen, die jetzt schonrecht gut organisiert sind, wieder die alten Strukturen be-festigen oder diejenigen, die aufgrund ihrer bisherigenOrganisation in der Opposition einen riesigen Vorteil ge-genüber anderen haben, am Ende des Tages sagen: Jetzthaben wir die Wahlen gewonnen; das waren auch dieletzten Wahlen, die in diesem Land stattgefunden haben.Das ist die Lehre, die wir aus den Erfahrungen mit Alge-rien in den 90er-Jahren gezogen haben. Deswegen müs-sen wir uns so stark einbringen und Angebote bei derEntwicklung des rechtsstaatlichen und verfassungsrecht-lichen Rahmens für die beteiligten Länder machen.Meine Damen und Herren, seien wir aber auch ehr-lich:
Die Menschen in Tunesien, in Ägypten und in anderenLändern haben nach Freiheit gerufen, nach Partizipation,nach Würde; aber sie haben auch nach Brot gerufen.Wenn keine Verbesserung der sozialen und ökonomi-schen Lage erreicht wird, kann der ganze Prozess, deruns mit so viel Mut und so viel Freude ausgestattet hat,auch schnell in sich zusammenbrechen. Deswegen müs-sen wir auch ökonomisch handeln. Das heißt, wir müs-sen sehen, wann und wie – möglichst schnell, sofern ver-antwortbar – der Tourismus wieder in Gang gesetztwerden kann. Dass das gegenwärtig nicht möglich ist, istein riesiger Verlust für ein Land wie Tunesien.
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10470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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Aber wir müssen auch – das müssen wir in der Euro-päischen Union klar durchdeklinieren – unsere Märkteöffnen.
Ich erinnere mich an entsprechende Vorgänge aus den90er-Jahren. Damals wurde gesagt: Wenn wir den Men-schen in Nordafrika keine Perspektive bieten können,weil wir beispielsweise noch nicht einmal ein paar Ton-nen Dosentomaten aus Marokko in die EuropäischeUnion importieren wollen, dann werden wir unglaub-würdig. – Auch bei diesem Thema muss sich daher et-was ändern.Die Migrationsfrage wird uns sehr beschäftigen. Siehat bisher, seien wir ehrlich, eine überschaubare Dimen-sion. Die Bilder sind furchtbar. Sie sind deshalb sofurchtbar, weil man relativ schlecht vorbereitet war undweil man die Lager zwischenzeitlich geschlossen hatte.Wenn ich die Gesamtzahl der Flüchtlinge mit der Zahlvon Asylbewerbern, die es in Deutschland im Jahr 2010gab, vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Situationnicht so dramatisch ist. Aber dies kann sich ändern,wenn wir es nicht schaffen, den Menschen vor Ort wie-der eine Perspektive zu bieten. Das kann sich ändern,wenn die Gewaltexzesse weitergehen. Am Ende des Ta-ges werden wir es an Solidarität sicherlich nicht fehlenlassen. Aber gegenwärtig ist all das, was angesichts die-ser Situation gefordert wird, ein bisschen übertrieben.Wir haben eine klare Aufgabe. Das Fenster der Frei-heit ist geöffnet. Ob es möglicherweise vorzeitig wiedergeschlossen wird, wird von den Menschen in den betrof-fenen Ländern abhängen. Ich möchte aber nicht, dass wiruns eines Tages den Vorwurf machen müssen, dass wirden Menschen nicht genügend geholfen haben, die Mög-lichkeit der Freiheit zu nutzen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das friedliche Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürgerin vielen arabischen Staaten ist das, was man historischwohl als Meilenstein bezeichnen wird. Es wurden Dikta-toren gestürzt, die 30 oder 40 Jahre lang an der Machtwaren und ihr Volk geknechtet haben.Als Ben Ali stürzte und Mubarak aufgab, waren dieanderen arabischen Autokraten in den Nachbarländernrelativ ruhig. Nur der libysche Revolutionsführer al-Gaddafi hat sich geäußert. Er hat öffentlich den Sturzdieser Diktatoren bedauert und riet zur Übernahme sei-ner „Herrschaft der Massen“-Doktrin, die er in seinemGrünen Buch beschrieben hat. Auch in anderen Länderngibt es grüne Bücher. Ich nenne beispielsweise Turk-menistan. Dort jedenfalls hat derjenige, der ein grünesBuch herausgegeben hat, sicherlich Schwierigkeiten,was seine geistigen Kapazitäten anbelangt.Menschenrechtsverletzungen zeichnen alle diese Re-gime aus bzw. haben sie ausgezeichnet: Tunesien, Ägyp-ten und auch Libyen. Wir sehen die Bilder aus Libyen.Der besagte Diktator lässt die protestierenden Massenbeschießen. Er lässt den Aufstand blutig niederschlagenoder versucht es zumindest. Er hat angeblich die eigeneLuftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt und lässt dieAufständischen bombardieren oder von eigens ange-heuerten afrikanischen Söldnern jagen. Die Zahlen wi-dersprechen sich zwar etwas, aber wir können davonausgehen, dass in den letzten Tagen zwischen 600 und2 000 Menschen bei diesem Aufstand ums Leben ge-kommen sind. Ich denke, das wird leider noch nicht dasEnde sein.Wie war die Situation in Libyen? Wichtige Grund-rechte wurden missachtet. Es gab kein Recht auf freieMeinungsäußerung. Opposition war ein Fremdwort. Alldas rächt sich jetzt. Die Aufständischen und all diejeni-gen, die für ihre Rechte kämpfen, werden wohl in dennächsten Wochen und Monaten die Schwierigkeit haben– das könnte in den anderen Ländern besser funktionie-ren –, sich eine Plattform für einen eigenen Staat zuschaffen.Wir müssen uns aber auch mit der Frage beschäftigen,warum es so viele Flüchtlinge aus diesen Ländern gibt.Die Flüchtlingssituation hat gravierende Ausmaße ange-nommen. Die Menschen fliehen auf der einen Seite indie Nachbarländer. Die Nachbarländer haben aber diebereits von mir beschriebenen Probleme. Sie werdenwohl nicht in der Lage sein, diese Flüchtlinge vernünftigaufzunehmen.Auf der anderen Seite gibt es die Flucht nach Europa.Da frage ich mich, ob es sich jetzt nicht rächt, dass dieEU mithilfe von Gaddafi bisher versucht hat, sich dieseFlüchtlinge vom Hals zu halten.
Sie werden die Möglichkeit, die sich ihnen nun bietet,ergreifen und über das Mittelmeer fliehen. Sie werden,wie gesagt, auch versuchen, in die anderen Länder zufliehen. Sie versuchen, auch vor der wirtschaftlich desas-trösen Situation in ihrem Land zu fliehen.Ich kann Ihnen, Herr de Maizière, nicht recht geben,wenn Sie sagen: „Wir können nicht alle armen Afrikanernach Europa lassen.“ – Ich denke, wir müssen unsererVerantwortung gerecht werden, die wir deshalb haben,weil sich die EU eben bisher die Menschen mithilfe vonGaddafi vom Hals gehalten hat. Dieser Verantwortungmüssen wir gerecht werden, und wir müssen dafür sorgen,dass auf der einen Seite in den Nachbarländern Strukturenentstehen, die es den Flüchtlingen, soweit es in dieser Si-tuation irgend möglich ist, ermöglichen, ein menschen-würdiges Leben zu führen. Auf der anderen Seite müssen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10471
Angelika Graf
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Abgegebene Stimmen: 577;davonja: 312nein: 264enthalten: 1JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersKarl-Theodor Freiherr zuGuttenbergOlav GuttingFlorian HahnHolger HaibachDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeJulia KlöcknerAxel KnoerigJens KoeppenDr. Kristina SchröderDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachEndgültiges Ergebnis Klaus Brähmig Eberhard Gienger Franz-Josef Holzenkampwir auch innerhalb Europas SoItalien – üben. Martin SchuFraktion im Europäischen Pschen Länder massiv dazu anerhalb Europas zu üben; deallein Italien die Last der Vorgenblick erleben.Wir müssen die Bürgerinnten jetzt unserer Unterstützuder Marshallplan, den GünteSteinmeier angeregt haben, iser Marshallplan ist etwas, wWir müssen aber akut etwasder Flüchtlinge tun. Wir müsbei der Demokratisierung dieDie Demokratisierung diesezum Erfolg und zu mehr Ruhzu einer vernünftigen regionahört auch, dass wir die Wirtsonen existieren, anerkennen;beit werden weiterhin aus LibRaum fliehen. Das ist etwas,schenrechtsratssitzung gemechen sollten. Ich denke, es istbyen dabei ist.
Vizepräsidentin Gerda HBevor ich dem nächsten Rich Ihnen kurz die von dSchriftführern ermittelten Echen Abstimmungen mittezum Ergebnis der Abstimmuder Fraktion Die Linke zu Kvon DDR-Alterssicherungenauf den Drucksachen 17/163Die Auszählung der nameneine Mehrheit von Nein-Stimdie Anträge abgelehnt. Das dmentlichen Abstimmungen wschen Bericht veröffentlicht.1
asselfeldt:edner das Wort erteile, willen Schriftführerinnen undrgebnisse der namentli-ilen. Ich komme zunächstngen über die 19 Anträgeorrekturen der Überleitung in bundesdeutsches Recht1 und 17/3871 bis 17/3888.tlichen Abstimmungen hatmen ergeben. Damit sindetaillierte Ergebnis der na-ird später im Stenografi-) LINKE]: Ich wolltechreiben!)rgebnis der namentlichenhlussempfehlung des Aus-ales zum Antrag der Frak- Es ging dabei um die Ver-r im Beitrittsgebiet vor demn. Abgegebene Stimmen:mt, mit Nein 264. Es gabssempfehlung ist damit an-
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10472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtDr. Gerd MüllerStefan Müller
Nadine Schön
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsDaniela LudwigThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelReiner DeutschmannPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Hans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathySiegmund EhrmannKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagPeter FriedrichMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne Kastner
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10473
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(C)
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Ulrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerChristine LambrechtRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingFranz Thönnesatrin Kunertren Laybine Leidiglph LenkertKornelia MöllerWinfried HermannPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton HofreiterSven-Christian KindlerDr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzNun zum Ergebnis der nüber die Beschlussempfehluses zu dem Antrag der Fraktitisierung von Äckern, Seen uRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Dagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta Krellmannamentlichen Abstimmungng des Haushaltsausschus-on Die Linke „Keine Priva-nd Wäldern“. AbgegebeneWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeEkin DeligözKatja DörnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusStimmen: 578. Mit Ja habenEs gab 196 Enthaltungen. Aulung ist damit angenommen.Ute KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerEnthaltenCDU/CSUManfred Kolbe313 gestimmt, mit Nein 69.ch diese Beschlussempfeh-Christian Lange Wolfgang Tiefensee Niema Movassat Maria Klein-SchmeinkDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicKCaSaRa
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10474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(C)
(B)
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 578;davonja: 313nein: 69enthalten: 196JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersKarl-Theodor Freiherr zuGuttenbergOlav GuttingFlorian HahnHolger HaibachDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeJulia KlöcknerAxel KnoerigJens KoeppenDr. Kristina SchröderManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtDr. Gerd MüllerStefan Müller
Nadine Schön
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsDaniela LudwigThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelReiner DeutschmannPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto Fricke
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10475
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Dr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Hans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHans-Christian StröbeleNeinDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine ZimmermannEnthaltenCDU/CSUJosef GöppelSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathySiegmund EhrmannKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagPeter FriedrichMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz Thönnes
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10476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(C)
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h in den letzten Tagen sehrHerr Staatsminister, Siesehr unvollständiges Lage-musste zunächst der Schutzhen Bürger in Libyen sein.t deshalb der Bundesregie- Amt, dass sie in dieser kürzester Zeit deutschese haben ausfliegen lassen.den Tod mehrerer Hunderts klebt Blut an den Händenarf nicht ohne Folgen blei-ionen gegen die Regierungss hier mit einer Stimme[Bremen] [BÜNDNISIran sitzt da auch!)Der UNO-Sicherheitsratdie libysche ZivilbevölkerungRegimes geschützt werdenDeutschland und andere EU-fen und eine Dringlichkeitssiein Mandat der Vereinten NaLibyen zu unterbinden, mitgebracht werden sollen. Die Sgesagt worden, was dafür tsollte ohnehin selbstverständEs gibt unterschiedliche Zalingssituation. Der Rote Halschen, die ins benachbarte Thilft uns nicht weiter, wenn wreden. Um diese zu verhinderder Migration in Afrika – das90/DIE GRÜNEN]:muss darüber beraten, wie vor Söldnern des Gaddafi-kann. Wir erwarten, dassStaaten die Initiative ergrei-tzung beantragen. Nötig isttionen, um die Flüge nachdenen Söldner in das Landperrung der Konten – es istechnisch erforderlich ist –lich erfolgen.hlen hinsichtlich der Flücht-bmond meldet 5 700 Men-unesien geflohen seien. Esir Flüchtlingsströme herbei-n, müssen wir die Ursachen ist zu Recht von Herrn Ho-
Es ist völlig inakzeptabel, dass vor allem ein EU-Landaus falsch verstandener Partnerschaft zu Libyen die EUam dringend erforderlichen Handeln hindert und damitzugleich eine Ignoranz der brutalen Menschenrechtsver-letzungen zum Ausdruck bringt.
Am kommenden Montag beginnt die nächste Sit-zungsperiode des UN-Menschenrechtsrates. Es ist fürmich ein völlig unerträglicher Gedanke, dass Libyendann wieder in diesem Gremium sitzt, und dies im Bei-sein von Lady Ashton, die ihre Teilnahme angekündigthat. Herr Staatsminister, ich erwarte, dass Lady Ashtonfür die EU die geeigneten Worte findet. Ich bin dankbar,dass sich die Bundesregierung im Vorfeld der Sitzungdes UN-Menschenrechtsrates dafür starkmacht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10477
Dr. Andreas Schockenhoff
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(B)
yer und von meiner Vorrednerin gesagt worden – kurz-fristig wie auch langfristig bekämpfen. Wir müssen da-für sorgen, dass den Menschen in ihrer Heimat stabileVerhältnisse und wirtschaftliche Perspektiven gebotenwerden. Wir brauchen natürlich auch eine Stärkung dereuropäischen Grenzschutzorganisation FRONTEX, abernicht, um die Menschen draußen zu halten
– nein –, sondern um den Menschen dort, wo sie sind,eine echte Lebensperspektive zu geben.
Die CDU/CSU-Fraktion kann Innenminister de Maizièrenur zustimmen: Wir sollten keine Flüchtlingsströme or-ganisieren, sondern Aufbauhilfe leisten und Lebenspers-pektiven in den Heimatländern bieten.
Bei aller Tragik müssen wir die Ereignisse auch alseine Chance begreifen und beherzt agieren. Ich unter-stütze ausdrücklich die Initiative der Bundesregierung,den betroffenen Ländern eine Transformationspartner-schaft anzubieten.
– Wir brauchen uns nicht gegenseitig Vorwürfe zu ma-chen. – Natürlich müssen wir die Nachbarschaftspolitikder Europäischen Union im Süden wie im Osten völligneu überdenken und uns fragen, was wir falsch gemachthaben und warum wir erst dann reagieren, wenn esbrennt.Die Europäische Union darf universelle Menschen-rechte nicht nur predigen; sie muss vielmehr für diejeni-gen einstehen, die die Geltung dieser Rechte für sich ein-fordern. Es wird uns in der Europäischen Union aufDauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarnschlecht geht.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke für
die Fraktion Die Linke.
Schönen Dank, Frau Präsidentin! – Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Ich finde, im ganzen Hause mussKlarheit darüber bestehen, dass wir fordern und nichtbitten, dass die Gewalt gegen Demonstranten in Libyensofort und endgültig eingestellt wird.
Das ist die erste Forderung. Da kann es überhaupt keinVertun geben. Wir müssen dem libyschen Staat, der Fa-milie Gaddafi und ihm selbst deutlich machen, dassnichts, aber auch gar nichts diese Orgie der Gewaltrechtfertigen kann und dass wir uns als deutsches Parla-ment schützend an die Seite der Demonstranten stellen.Das ist zwar eine symbolische Geste, aber solche sym-bolischen Gesten sind in bestimmten Situationen poli-tisch außerordentlich wichtig.
Ich sage genauso klar: Wer in der jetzigen Situationanfängt, mit dem Gedanken an militärische Maßnahmenzu spielen und in der Öffentlichkeit über den Einsatz vonMilitär zu spekulieren, der hilft der Familie Gaddafi beider Durchsetzung ihrer Gewaltpolitik.
Das schafft ein Klima, das nicht mehr zu steuern ist. Ichhalte auch nichts von der Debatte, Flugverbotszonen ein-zurichten. Wenn man sie einrichtet, hat man immer dasProblem, sie gewaltsam durchsetzen zu müssen. Damitbefindet man sich mitten in einer militärischen Ausein-andersetzung. Das Militär ist in der jetzigen Situationdas schlechteste Mittel, das man anbieten oder mit demman drohen kann. Das muss völlig klar sein.
Ich mache Ihnen zwei andere Vorschläge. Ich würdemich freuen, wenn wir uns demnächst mit Anträgen zudiesem Thema befassen könnten. Ich möchte unbedingt,dass sich die Europäische Union und auch Deutschlandselbst für Flüchtlinge aus dem gesamten arabischenRaum öffnen
und in der jetzigen Situation FRONTEX nicht verstär-ken. Vielmehr muss man sich jetzt zurücknehmen. Daswäre ein erster Vorschlag. Vielleicht können wir uns dar-auf einigen. Das wäre eine konkrete Hilfe für die Men-schen, nicht ausreichend, aber immerhin eine Hilfe.Mein zweiter Vorschlag: Lassen Sie uns gegenüber allenStaaten der Europäischen Union, aber auch in unseremeigenen Land dafür eintreten, dass die Waffenlieferun-gen sofort eingestellt werden, und zwar endgültig.
Vor diesem Problem kann man sich nicht drücken. Überalles andere reden Sie, aber über solche Probleme redenSie nicht. Das hat Ursachen.Ich möchte über einen weiteren Punkt diskutieren. Ichfrage mich: Machen Sie sich eigentlich Gedanken darü-ber, wie gering die Europäische Union und auch unserLand in den arabischen Ländern angesehen sind? Ma-chen Sie sich keine Gedanken darüber, dass man dort be-merkt, dass unsere Politik mit doppelten Standards ar-beitet?
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10478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Wolfgang Gehrcke
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Ich habe mich gefragt, warum gerade jetzt, nach-dem vieles passiert ist, eine kritische Abrechnung mitMubarak beginnt. Zuvor haben alle geschwiegen. Ichfrage mich, warum Gaddafi gerade jetzt – zu Recht, dasmöchte ich betonen – angegriffen wird, obwohl manvorher mit ihm zur Abwehr der Flüchtlingsströme pak-tiert hat. Das ist doch die Realität. Glauben Sie nicht,dass das die Menschen nicht spüren?
Ich war dieser Tage in Ägypten und anderen arabischenLändern. Auf der Straße spürt man, dass die EuropäischeUnion, unser Land und auch unsere Bundesregierungkeine Glaubwürdigkeit mehr besitzen. Ich bin der Auf-fassung, wir müssen unsere Nahostpolitik, unsere Politikgegenüber den arabischen Ländern grundsätzlich korri-gieren.Herr Hoyer hat recht: Es gibt unterschiedliche Ursa-chen für die Proteste, aber es gibt auch vergleichbare.Ich möchte Ihnen einige nennen. Erstens. In allen Bewe-gungen erleben wir sehr stark, dass speziell junge Men-schen soziale Rechte einfordern. Die soziale Entwurze-lung ist eine der Ursachen der Proteste. Wenn man dienicht bekämpft, wird man keine demokratische Entwick-lung befördern können. Ein zweiter Punkt, der eine Rollespielt, ist der Wunsch nach wirklicher Demokratie, dasheißt, die klare Ablehnung kleptokratischer Regime indiesen Ländern. Ein dritter Punkt hat etwas mit Würdezu tun. Wenn Menschen über lange Zeit entwürdigt wor-den sind, hat das politische Auswirkungen und Nachwir-kungen. Das ist in vielen Ländern identisch.
Entwürdigung muss gestoppt werden.
Wir haben allen Anlass, uns selbstkritisch mit diesemThema auseinanderzusetzen. Warum gehen wir denselbstkritischen Auseinandersetzungen aus dem Weg,wenn wir uns wirklich ändern wollen? Das ist nichtglaubwürdig, das hat keinen Effekt, und das stärkt De-mokratien nicht, sondern schwächt Demokratien.Es ist falsch, den Ägypterinnen und Ägyptern, diesich selbst befreit haben, jetzt zu sagen: Wenn es umeine Verfassung und den Aufbau von Demokratie geht,dann stehen wir euch zur Verfügung. Ihr könnt von unslernen. – Umgekehrt ist es richtig: Wir können von vie-len Ägypterinnen und Ägyptern sowie Libyerinnen undLibyern lernen, die ihren Kopf für die Demokratie– nicht für weise Ratschläge – hingehalten haben.Schönen Dank.
Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen der Kollege Hans-Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das „liebe“ sage ich heute aus voller Überzeugung, weilich den Eindruck habe, dass wir uns im Grunde weitge-hend einig sind bei der Beurteilung der Situation Nord-afrikas, insbesondere derjenigen Libyens.
In Nordafrika gibt es – ich habe einmal nachgezählt –ein Dutzend Länder, in denen die Bevölkerung tage-,manchmal wochenlang für Demokratie, für Freiheit, fürMenschenrechte, für Würde, aber auch für Brot und Ar-beit auf der Straße ist. Das zeigt uns, dass auch Völker,die islamisch geprägt sind, sehr wohl etwas von friedli-cher Revolution verstehen und eine friedliche Revolu-tion machen können, und zwar ohne unsere Anleitung.Und das ist gut so.
Nun stellen wir bezüglich Libyens leider fest, dassdas Volk auf der Straße ist und sich bemüht, diesen Dik-tator loszuwerden, dieser aber zurückschlägt und dasVolk unterdrückt. Die Krone der Unterdrückung und Re-pression ist der kaum für möglich gehaltene Umstand,dass er sein eigenes Volk aus Flugzeugen der Luftwaffebombardieren und beschießen lässt und dass er Söldneraus anderen afrikanischen Staaten einfliegen und seinVolk zusammenschießen lässt.Auch ich sitze, wie wahrscheinlich viele von uns,abends vor dem Fernseher oder vor dem Radio und hörewie vor gut 20 Jahren die Nachrichten und frage mich:Klappt es? Ist er bald weg? So war es in Bezug aufÄgypten, wo es die ganze Nacht darum ging: GehtMubarak jetzt, oder geht er nicht? So ist es jetzt wiederbezüglich Libyens, nur dass die Situation für die Bevöl-kerung dort noch viel dramatischer und schlimmer ist,weil Menschen getötet werden, und zwar nicht Hun-derte, sondern – wenn die Meldungen stimmen – bereitsüber 2 000.Das ist unerträglich. Die internationale Gemeinschaft,die UNO und Europa müssen klar sagen, dass das Mord-taten sind. Sie müssen die Fakten benennen und dürfenes nicht dabei bewenden lassen, vielmehr müssen sieauch Konsequenzen ziehen und Sanktionen verhängen.
Zunächst fragen wir uns natürlich: Was hat Europa da-mit zu tun, was haben wir damit zu tun, dass das Gaddafi-Regime so reagieren kann? Wir müssen uns daran erin-nern, dass der Diktator Gaddafi mit seinem Hofstaatnoch vor wenigen Wochen und Monaten in Europa ho-fiert worden ist. Er durfte seine Zelte auf großen Plätzen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10479
Hans-Christian Ströbele
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in europäischen Hauptstädten aufschlagen. Alle warenstolz, wenn sie mit ihm eingeladen wurden.
Damit haben wir nicht etwa lediglich auf das falschePferd gesetzt; wir haben vielmehr wieder einmal denFehler gemacht, den wir in vielen Ländern der Welt– nicht nur in Nordafrika – machen: Wir haben auf Po-tentaten gesetzt, weil wir dachten, Stabilität sei wichtigerals Menschenrechte. Das darf nicht wahr sein. So kanndas nicht weitergehen.Wir haben an Libyen sogar Technologien geliefert,mit denen die Machthaber jetzt die Handys abschaltenund den Zugang zum Internet sperren können. Wir habenPolizeihilfe geleistet. Europa hat über 100 000 Kalasch-nikows geliefert. Wir müssen es uns eine Lehre sein las-sen, dass solche Unterstützungsleistungen, dass solcheHilfen für Militär und Polizei, die als Unterdrückungs-instrumente fungieren, gegen die Bevölkerung einge-setzt werden, wie es jetzt in Libyen der Fall ist.Es reicht nicht aus, dass wir sagen: Wir verurteilendas, wir stehen an der Seite der Bevölkerung, die auf dieStraße geht und der Ermordung droht. Wir müssen etwastun.
Sanktionen sind erforderlich, und zwar zunächst gegenden Clan von Gaddafi. Sie dürfen nicht ausreisen. Wennsie ausreisen wollen, müssen sie festgehalten und festge-setzt werden. Sie müssen vor den Internationalen Straf-gerichtshof gestellt werden. Das müssen wir ganz offen-siv fordern. Diese Verfahren müssen wir einleiten.
Wir müssen die Konten sperren. Wir müssen ihre Ver-mögen einfrieren. All das kann jetzt auf den Weg ge-bracht werden, damit es irgendwann in den nächsten Ta-gen oder Wochen umgesetzt werden kann.Wir müssen aber auch den Soldaten Zuflucht gewäh-ren, die ihre Flugzeuge nach Europa bringen wollen, umihre Bevölkerung nicht bombardieren zu müssen. DiesenPiloten und den Kapitänen und Matrosen, die mit Schif-fen unterwegs sind, müssen wir Asyl anbieten. Darüberhinaus müssen wir den Menschen helfen, die jetzt in Li-byen verfolgt werden. Ich meine die Tunesier und Ägyp-ter, die ermordet werden, deren Frauen vergewaltigt wer-den, die verfolgt werden, die in Nachbarländer fliehen.Diesen Menschen müssen wir helfen. Gerade Länderwie Tunesien und Ägypten müssen wir unterstützen, da-mit sie diesem Flüchtlingsstrom einigermaßen Herr wer-den können. Sie müssen in die Lage versetzt werden, dieFlüchtlinge zu humanitären Bedingungen unterzubrin-gen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Letzter Satz. – Damit nicht genug: Das Volk in Li-
byen erwartet von uns ganz konkrete Unterstützung. Wir
sollten medizinische, humanitäre Hilfe anbieten, und wir
sollten in den Gebieten, die bereits befreit sind, eine sol-
che Hilfe bereits jetzt anbieten. Das ist möglich. Das
kann auf den Weg gebracht werden.
Ich habe heute in der Zeitung gelesen, –
Herr Kollege, keinen neuen Anlauf, bitte.
– dass deutsche Kriegsschiffe unterwegs sind. Sie
sollten der Bevölkerung in den befreiten Gebieten so
helfen. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Daran müssen wir
arbeiten.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die gesamte arabische Welt befindet sich derzeit inAufruhr. Der Funke, der sich in Tunesien entzündete, istauf Ägypten, Algerien, die Golfregion und andere arabi-sche Länder und nun auch auf Libyen übergesprungen.Ich glaube allerdings nicht, dass man angesichts derEntwicklung in der arabischen Welt von einem Domino-effekt sprechen kann. Zu unterschiedlich sind Ausgangs-lage, aktuelle Situation und Perspektiven in den einzel-nen Ländern. Libyen ist kein historisch gewachsenerStaat. Die Revolten in Tunis und Kairo stellten nie dieEinheit des jeweiligen Landes infrage. In Libyen verhältsich das anders. Außerdem gibt es kein homogenesStaatsvolk. Deshalb drohen alte Stammeskonflikte jetztwieder aufzubrechen. Anders als in Ägypten und Tune-sien sind keinerlei Ansätze für eine Zivilgesellschaft undnicht einmal rudimentäre demokratische Strukturen zuerkennen. Es gibt keine politische Landschaft und vor al-lem niemanden, der das Land auf Anhieb repräsentierenoder in einer Übergangsphase regieren könnte. Auch istdas libysche Militär, anders als beispielsweise in Ägyp-ten, kein stabilisierender Faktor. Die Armee ist vielmehrgespalten. Deshalb ist die Zukunft Libyens ungewiss.Aber nicht nur in den genannten Punkten unterschei-den sich die aktuellen Vorgänge in Libyen von den Vor-
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10480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dr. Wolfgang Götzer
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gängen in der übrigen arabischen Welt. Vor allem diebrutale Gewalt, mit der Gaddafi sein eigenes Volk nie-dermetzeln lässt, ist ohne Beispiel. Hunderte von Men-schen – wahrscheinlich muss man inzwischen von Tau-senden sprechen, darunter auch Ausländer – sind in denletzten Tagen gewaltsam ums Leben gekommen, nurweil sie für Freiheit, Menschenrechte und ein Leben inWürde auf die Straße gegangen sind. Viele Tausendesind auf der Flucht. Während eines bizarren Sekunden-auftritts droht der Diktator seinem eigenen Volk sogarmit Bürgerkrieg und spricht in einer theatralisch-grotes-ken Ankündigung von seiner Bereitschaft zum Märtyrer-tod.Bei dem Vorgehen des Regimes gegen die Demon-stranten handelt es sich mittlerweile längst nicht mehr nurum die leider allzu bekannten Menschenrechtsverletzun-gen, die in Libyen seit nunmehr 42 Jahren zum Alltag ge-hören. Die wenigen Bilder, die wir aus dem isoliertenLand bekommen, zeigen eine Reaktion des Regimes, dienur noch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit be-zeichnet werden kann. Dieses barbarische Vorgehen ge-gen das eigene Volk ist weltweit schärfstens verurteiltworden. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammen-hang die Reaktion der Arabischen Liga, die Gaddafi un-missverständlich aufgefordert hat, die Gewalt einzustel-len, so wie es bereits zu einem frühen Zeitpunkt dieBundeskanzlerin und der Bundesaußenminister getanhaben. Die Bundesregierung gehört damit zu den Ersten,die in der internationalen Staatengemeinschaft klar Posi-tion gegen den libyschen Despoten und sein Regime be-zogen haben.Oberste Priorität muss nun für uns haben, alle sichnoch in Libyen befindenden Deutschen sicher außerLandes zu bringen. Des Weiteren darf es keinen Zweifelan der gemeinsamen Haltung der EU gegenüber der liby-schen Regierung geben.
– Ja, ja. – Auch wenn die Interessenlage in der EU viel-schichtig ist, muss Europa, wenn es um die elementars-ten Menschenrechte geht, mit einer Stimme sprechen.Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Staatsminister Hoyer,dass man da schon früher hätte mehr erwarten können.Es ist Zeit, dass es jetzt zu einer gemeinsamen Haltungder EU kommt.Sollte Gaddafi weiterhin mit brutaler Gewalt sein Re-gime aufrechterhalten wollen – leider sind keine Anzei-chen dafür erkennbar, dass er umdenkt –, müssen Sankti-onen folgen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Libyen imChaos versinkt. Für Deutschland, die EU und die ge-samte westliche Welt ist es von elementarer Bedeutung,Libyen bei der Ingangsetzung eines Demokratisierungs-prozesses zu unterstützen und zu verhindern, dass eszum Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen wird.Auch die nachhaltige Eindämmung der Flüchtlings-ströme – nicht nur aus Libyen – liegt im klaren Interessealler EU-Länder. Das wird aber nicht funktionieren,wenn sich Europa abschottet, sondern nur, wenn wir da-bei behilflich sind, dass die Probleme in Nordafrikaselbst gelöst werden.
– Hilfe zur Selbsthilfe.
– Das heißt, es sollte keinen unbegrenzten Zufluss vonFlüchtlingen geben, Herr Kollege – das hat KollegeSchockenhoff vorhin bereits angesprochen –,
sondern wir müssen vor Ort für bessere Lebensbedin-gungen, für bessere politische und wirtschaftliche Be-dingungen sorgen.Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Vorgängein der arabischen Welt haben inzwischen – da stimmeich dem Bundesaußenminister zu – die Dimension einerZeitenwende, einer historischen Zäsur angenommen.Auch wenn der Westen wenig Einfluss auf die weitereEntwicklung der Ereignisse hat, kommt es jetzt daraufan, klar Position zu beziehen und ebenso besonnen wieentschlossen zu agieren.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! In der Tat, wir sind Zeugen einer dramatischen,furchtbaren und mörderischen Entwicklung in Libyen,und wir fordern, ich glaube, als gesamter DeutscherBundestag: Das muss sofort beendet werden. Wir brau-chen einen Gewaltverzicht.
Wir müssen eine friedliche Entwicklung in Libyen ein-fordern und diese nach unseren Möglichkeiten unterstüt-zen.Ich warne ein bisschen davor, auf die Posen vonGaddafi hereinzufallen. Er ist voll zurechnungsfähig. Erist verantwortlich für die Taten, und er muss dafür aucheinstehen. Wenn ihn das eigene Volk oder die eigenenInstitutionen nicht zur Rechenschaft ziehen, dann mussder Internationale Strafgerichtshof handeln, dann müs-sen die Möglichkeiten, die wir in der internationalen Ge-meinschaft in den letzten Jahren gegen die Verletzungder Menschenrechte entwickelt haben, sofort genutztwerden. Ich hoffe, dass die Bundesregierung dies im Si-cherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10481
Dr. Rolf Mützenich
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Ich bin der festen Überzeugung, dass das, was inner-halb der Europäischen Union in den letzten Tagen unter-nommen worden ist, in die richtige Richtung geht. Ichwill das auch an die Adresse der Bundesregierung sagen.Ich glaube, Sie haben diesmal schneller, umfassenderund deutlicher reagiert. Im Gegensatz zu den Erfahrun-gen im Zusammenhang mit Tunesien und Ägypten istdie Rolle Deutschlands in der Europäischen Union zur-zeit vorbildhaft. Aber das heißt auch, Herr KollegeSchockenhoff: Sie müssen mit Ihrem ParteifreundBerlusconi
über die Sonderrolle Italiens sprechen.
Zumindest müssen Sie versuchen, ihn mithilfe der Kon-takte, über die Sie aus der Vergangenheit vielleicht nochverfügen, zu überzeugen; ich glaube, alles andere gingein genau die falsche Richtung. Wenn man das nicht aufParteiebene machen will, dann muss es letztlich die Bun-deskanzlerin in ihren Konsultationen mit dem Regie-rungschef tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine bestimmte De-batte, vor der ich ein bisschen warnen möchte, solltenwir in Deutschland nicht befördern.
Ich habe wirklich Verständnis für die herrschende Skep-sis, auch für die der Menschen in Deutschland, die vordieser Entwicklung natürlich Angst haben; das ist garkeine Frage. Wir wissen noch nicht, was in allen Einzel-heiten auf uns zukommt. Aber ich finde, wir Politikerin-nen und Politiker dürfen die Situation nicht dramatisie-ren. Wir dürfen auch nicht die falschen Maßstäbeanlegen.Ein Beispiel ist die Diskussion über die Flüchtlinge.Ich bin der festen Überzeugung, Libyen und seine Nach-barländer werden an den Grenzen viel größere Problememit Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen haben, als es inEuropa jemals der Fall sein wird. Auch das gehört zumBild der Lage. Wir müssen bei diesem Thema alle Mög-lichkeiten, die wir in unserer Geschichte entwickelt ha-ben, nutzen, auch in Sachen Toleranz.Insbesondere finde ich, dass wir ein vollkommen fal-sches Bild von den Menschen zeichnen, die zurzeit ver-suchen, in ihrer Region, in ihren Ländern neue Gesell-schaften aufzubauen. Sie demonstrieren doch nicht, umfliehen zu können. Sie wollen in ihren Ländern bleiben.Sie wollen sich selbst ermöglichen, in ihrem Land zu le-ben. Darin müssen wir sie auch von hier aus unterstüt-zen, und wir dürfen nicht dramatisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass dieChancen überwiegen, sowohl für die Region als auch fürEuropa. Junge Frauen und Männer, Arbeiterinnen undArbeiter, gut ausgebildete Menschen haben ihr Schicksalin die Hand genommen. Sie stehen für Modernisierungund Mobilität und auch für ein anderes Bild einer islami-schen Gesellschaft. Die Demonstranten haben nicht ge-sagt, der Islam sei die Lösung für ihre Probleme, sondernsie wollen eine moderne, mobile, demokratische, freieGesellschaft.Ich finde, Europa muss signalisieren, dass wir dieseBestrebungen unterstützen und sie als Chance begreifen.So hat es auch Europa geschafft, nach dem ZweitenWeltkrieg eine friedliche Entwicklung in unserer Regioneinzuleiten. Setzen wir doch ein positives Signal! Dasheißt natürlich auch, dass man ehrlich sein muss. Wirwerden in der Europäischen Union eine neue Flücht-lingspolitik brauchen. Ich begrüße das, was Herr Staats-minister Hoyer hierzu für die Bundesregierung erklärthat.Wir müssen uns klar darüber sein, dass wir den Men-schen bestimmte Möglichkeiten eröffnen und ihnen ei-nen temporären Aufenthalt anbieten müssen. Auch dieFrage des politischen Asyls wird in diesem Zusammen-hang eine Rolle spielen. Wir werden im Ausbildungssek-tor Hilfe leisten müssen. Insbesondere die Abschottungder Europäischen Union im Agrarsektor muss beendetwerden. Hier geht es um genau das, was Sie eben gesagthaben. Wir unterstützen das.
Wir haben die Chance, in dieser Region eine stabili-sierende Rolle zu spielen. Insbesondere wird es aber aufdie Länder selbst ankommen. Ich hoffe, dass die Türkeieine Menge wird bewegen können. Wenn es dann nochgelingt, dazu beizutragen, dass Ägypten als stabiles, frei-heitliches Land in dieser Region einen Stabilitätsankerbildet, werden davon auch Europa und die Menschen,die hier leben, profitieren können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der vorletzten Sitzungswoche haben wir uns mit Tu-nesien beschäftigt, in der letzten Sitzungswoche mitÄgypten, und heute befassen wir uns mit Libyen. Mankönnte die Frage stellen: Womit beschäftigen wir uns inder nächsten Plenarwoche?
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10482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dr. Rainer Stinner
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– Es kann so sein; aber wir wissen es noch nicht. Wiralle wissen nicht, wie sich die Situation entwickelt. Wiralle wissen auch nicht, was am Ende des Tages bei denReformprozessen herauskommt.
In den Ländern, mit denen wir uns bisher beschäftigthaben, herrscht eine vergleichbare Situation: Die Leute,die normalen Menschen, haben es gewagt, auf die Straßezu gehen. Ich finde es unglaublich mutig, dass es Men-schen in Libyen heutzutage immer noch wagen, auf dieStraße zu gehen, obwohl sie dort abgeschossen werden –so muss man das sagen. Wir können uns vor diesem Mutder Bevölkerung in Libyen nur verneigen und sie mitden allerbesten Wünschen begleiten.
Auf der einen Seite gibt es also etwas Vergleichbares,auf der anderen Seite gibt es aber auch große Unter-schiede. Das müssen wir, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, zur Kenntnis nehmen und auch sehr deutlich sagen.Wir können die Situation in Libyen nicht mit der in Tu-nesien oder Ägypten vergleichen. Während wir in Ägyp-ten und Tunesien wenigstens eine Chance haben undStrukturen erkennen können, in die sich etwas hineinent-wickeln kann, gibt es dafür in Libyen nach meinem Da-fürhalten bisher nicht den geringsten Ansatzpunkt. Dasist ein großer Unterschied. Von daher sage ich auch: Wasda passiert, ist hochriskant. Wir wissen nicht, wie dasEnde aussieht. Wir können nur unterstützen, wo wir kön-nen.Libyen ist also anders. Deshalb finde ich es auch rich-tig, dass die Reaktion der Bundesregierung auf die Situa-tion in Libyen anders ist als im Fall von Ägypten undTunesien. Wir müssen uns den Situationen, die wir vor-finden, anpassen. Ich finde es sehr richtig, dass die Bun-desregierung bzw. der Außenminister als erster europäi-scher Führer deutliche Worte gefunden hat. Das warvöllig richtig. In Libyen wird auf der Straße geschossen,und Libyens Führer hat zum Bürgerkrieg aufgerufen; dasist in Ägypten und Tunesien nicht passiert. Das ist einevöllig andere Situation, und es bedarf auch anderer Ge-genmaßnahmen. Es gibt eventuell die Möglichkeit, ge-gen Libyen Sanktionen zu verhängen, wobei das viel-leicht zum Teil nur von symbolischer Bedeutung ist.Ich möchte aber sehr deutlich sagen, dass ich großeProbleme damit habe, wenn Politiker in Deutschland,vor allem aber auch im Ausland in diesem Zusammen-hang von Völkermord sprechen und daran entsprechendeKonsequenzen knüpfen. Das Wort „Völkermord“ bein-haltet erstens, dass eine bestimmte Situation vorherr-schen muss, die nach meinem Dafürhalten – aber ich binkein Völkerrechtler – heute in Libyen trotz der furchtba-ren Ereignisse immer noch nicht besteht. Wenn der Ter-minus „Völkermord“ verwendet wird, bedeutet daszweitens, dass unmittelbar und notwendigerweise Kon-sequenzen gezogen werden müssen. Herr Asselborn hatdas gestern Morgen in Deutschland gefordert. Ich hättemir gewünscht, dass er auch gesagt hätte: Wir Luxem-burger sind bereit, heute Nachmittag ein Bataillon derluxemburgischen Armee in Marsch zu setzen. – Denndas wäre die Konsequenz. Wer A sagt, von Völkermordspricht und sagt, man müsse etwas dagegen tun, dermuss auch B sagen und erklären, woher er die Soldatennehmen will. Ich sage hier und heute deutlich: Ich binnicht bereit, darüber nachzudenken, Bundeswehrsolda-ten nach Libyen zu schicken. Das wäre aber die Konse-quenz, wenn man von Völkermord spricht; das müssenwir sehr deutlich sagen.Aber wir müssen aus dieser Situation auch etwas ler-nen. Wir müssen bereit sein, zu erkennen, dass wir ers-tens von der Region nicht genug gewusst haben und unszweitens nicht genügend – wir haben ja auch andereBaustellen – darum gekümmert haben. Wir müssen dar-aus lernen, wie wir in Europa vorgehen. Dazu möchteich sagen – als Abgeordneter kann man ja deutlichersprechen als die Regierung –: Für mich ist es völlig inak-zeptabel, wie die italienische Regierung bisher mit demThema umgegangen ist.
Das müssen wir als Abgeordnete deutlich zum Ausdruckbringen. Ich kann die Bundesregierung nur ermutigenund ermuntern – diese Unterstützung soll sie mitneh-men, und dazu hat sie, jedenfalls von mir und meinerFraktion, auch das Mandat –, in der Europäischen Unionin Freundschaft, aber auch in Klarheit dafür zu sorgen,dass die Mittelmeerpolitik nicht von einem Klub vonLändern dominiert wird, die ihre eigenen Interessen– historische Bindungen usw. – verfolgen. Dafür ist dasThema für uns alle in Europa zu wichtig. Hier muss Eur-opa an einem Strang ziehen, und Deutschland ist beson-ders gefordert.Ich bin besonders froh darüber, dass die Bundesregie-rung die ersten wichtigen und richtigen Maßnahmenschnell ergriffen hat. Zunächst einmal ging es darum, indem Chaos in Libyen dafür zu sorgen, dass Deutscheund andere Staatsbürger in Sicherheit gebracht werden –Leib und Leben retten. Das hat die Bundesregierung ef-fektiv und effizient gemacht. Das war hervorragend. Ichglaube, ich kann im Namen aller sprechen, wenn ich denDeutschen, die vor Ort, aber auch in Deutschland dazubeigetragen haben, dass das schnell möglich war, aus-drücklich Dank und Anerkennung ausspreche. HerrStaatsminister, bitte übermitteln Sie das Ihren Mitarbei-tern!
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-schluss sagen: Wir sind politisch gefordert. Wir sind zu-nächst gefordert, die wichtigen Dinge, die jetzt, in dieserWoche und in diesen Tagen, anstehen, anzugehen. Dannsind wir mittelfristig politisch gefordert, eine neue Mit-telmeerpolitik in Europa zu entwickeln. Daran müssenwir arbeiten. Dazu muss Deutschland einen wichtigenBeitrag leisten. Wir dürfen dieses Thema nicht nur eini-gen wenigen Staaten überlassen. Deutschland muss seine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10483
Dr. Rainer Stinner
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Rolle spielen, und wir, das Parlament, werden die deut-sche Bundesregierung mit Kräften unterstützen.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Johannes Selle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In die-
sen Tagen erleben wir einmal mehr, wie viele Opfer es
kosten kann, wenn ein Diktator nicht aufgeben will. Man
kann bei der Fülle von Einzelinformationen nicht mehr
erkennen, ob 600, 1 000 oder bereits 2 000 Tote zu be-
klagen sind. Wer in die Menge schießt, hat jeden An-
spruch auf Respekt verloren.
Er kämpft für niemanden mehr als für sich selbst.
Eine unübersehbare Zahl von brutalen Bildern kann man
im Netz finden – auch von toten Soldaten, die auf Befehl
Gaddafis getötet wurden, weil sie nicht auf Landsleute
schießen wollten. Wenn Soldaten durch ins Land geholte
Söldner ersetzt werden, dann hat der Diktator allein da-
durch sein Recht verloren, das Volk zu vertreten.
Er kämpft bis zum letzten Blutstropfen um seine
Herrschaft und sein Einkommen. Dabei hat er durch die
Arroganz der Macht schon lange den Blick für die Reali-
tät verloren. Das bedeutet, er nimmt nicht mehr wahr,
dass er ohne die Zustimmung des Volkes handelt. Von
auf das Wohl des Volkes ausgerichteter Politik kann
schon lange keine Rede mehr sein.
Wenn man in dieser Zeit die Zeitungen liest, dann
sieht man, dass jetzt viele nationale und internationale
Vergehen aufgelistet werden, die einen erschaudern las-
sen. Es war bekannt, wes Geistes Kind das Regime ist,
und es fühlt sich nachträglich nicht gut an, für die Stabi-
lität so manchen anderen europäischen Wert vernachläs-
sigt zu haben. Jetzt aber ist die Zeit für klare Worte ge-
kommen. Es reicht nicht, das Ende der Gewalt zu
fordern, sondern es muss die Verurteilung der Verant-
wortlichen verlangt werden.
Es wird ohnehin nicht mehr möglich sein, politisch
mit diesem System zu verhandeln. Alles, was für ein
schnelles Ende getan werden kann, muss auch schnell
getan werden. Dieses System darf durch nichts mehr
Zeit gewinnen, auch damit das libysche Volk in der ver-
bleibenden Zeit nicht das Nachsehen hat und weiter be-
trogen wird. Wenn wir das Regime zögerlich verurteilen,
werden wir auf zögerliches Vertrauen der Bevölkerung
beim Neubeginn treffen. Bei diesem Neubeginn sollten
wir bereit sein, finanzielle Unterstützung und vor allem
Unterstützung beim Aufbau eines pluralen demokrati-
schen Systems zu leisten.
Jede Opposition wurde brutal unterdrückt. Es gibt
keine geübten Strukturen. Wenn wir nicht zu einer geeig-
neten Unterstützung gelangen, werden vom Chaos nicht-
plurale Kräfte profitieren. Auch dafür gibt es Beispiele.
In der taz habe ich gelesen, dass islamische Führer ge-
sagt haben, es bestehe die Pflicht der Muslime, gegen die
libysche Führung aufzubegehren. Die arabische Welt
wird nicht mehr so sein, wie sie war. Das ist die Chance,
über die Selbstbestimmung der nordafrikanischen Völ-
ker und die geografische Nähe zu einer echten und engen
Zusammenarbeit zu kommen. Darüber sollten wir hier
noch oft reden.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!Wir sind uns darüber einig, dass die Gewaltherrschaft inLibyen ein Ende haben und die Herrschaft von Gaddafiüberwunden werden muss. Das ist eine Riesenhürde.Wir haben eben gehört, welche nächsten Schritte zu ge-hen sind.Ich möchte an dieser Stelle einmal betrachten, wie esdenn eigentlich einem Volk ergeht, das aufbegehrt undwohl einen Neubeginn haben möchte, und welche Vor-aussetzungen dafür vorhanden sind.Ich betone ausdrücklich, dass vor Ort keine Entwick-lung ohne eine gute Regierungsführung stattfinden kann.An dem Beispiel dieses Landes wie auch anderer Ländersehen wir, wie wichtig es ist, hier zu ganz neuen demo-kratischen Strukturen zu kommen.Dabei stellt sich die Frage: Kann man mit der Ent-wicklungszusammenarbeit in Libyen die neuen Struktu-ren, die hoffentlich demokratischer Natur sind – wirmüssen das weiter beobachten –, unterstützen? Ein Blickauf die derzeitige Situation zeigt: Bisher war Libyenkein Partnerland bei der Zusammenarbeit in der Ent-wicklungspolitik.Es gab zwei kleine regionale Projekte, die über dieGesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ver-wirklicht wurden. Aber diese Projekte erfolgten in regio-nalem Zusammenhang und gegen Bezahlung, also nichtdurch Einsatz von Steuermitteln. Das war und ist derzeitnicht unbedingt erforderlich, weil Libyen über großeErdölvorkommen und damit auch sehr viele eigene Res-sourcen verfügt.
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10484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Gudrun Kopp
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Wenn aber die derzeitigen Strukturen überwundensein sollten und sich abzeichnet, dass es in Libyen demo-kratische Strukturen und Kräfte gibt, die den Neuaufbauwollen, wie wir uns das vorstellen, stellt sich die Frage,ob wir dann helfen können. Ich verweise darauf, dass dasBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
drei Fonds für Nordafrika und Nahost aufgelegt hat, zudenen ich einige Details nennen möchte. Es gibt einenDemokratiefonds, einen Bildungsfonds und einen Wirt-schaftsfonds. Der Demokratiefonds ist mit 3,25 Millio-nen Euro ausgestattet, die für den Aufbau und die Unter-stützung der politischen Stiftungen, die Akademie derDeutschen Welle, die Gründung von Parteien und dieOrganisation von Wahlen bestimmt sind. Der Bildungs-fonds mit einem Umfang von 8 Millionen Euro hat dieQualifizierung von jungen Menschen insbesondere imberuflichen Bereich im Blick. Der Wirtschaftsfonds miteinem Umfang von 20 Millionen Euro soll dieser Regionhelfen, die Perspektiven zu verbessern und insbesonderedurch die Gründung von Kleinstunternehmen und mittel-großen Unternehmen mithilfe von MikrofinanzierungArbeitsplätze zu schaffen.Es gibt also einen breiten Rahmen. Wir müssen sehen,wie sich die Dinge weiterentwickeln.Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, dass diewestlichen Länder möglicherweise von außen diktierenwollen, was demnächst vor Ort in den genannten Län-dern in Nordafrika und im Nahen Osten passiert. Viel-mehr muss der Neubeginn von innen heraus vor Ort ge-staltet werden. Die Menschen vor Ort müssen einePerspektive haben, damit sie Arbeitsplätze finden, dortbleiben können und eine Zukunft haben. Ich glaube, dasist für uns eine sehr wichtige Aufgabe.
Wir brauchen zudem sehr individuelle, maßgeschnei-derte Hilfen und Unterstützung. Auch dafür gibt es keineAllgemeinlösung.Zum Schluss möchte ich einen Punkt betonen. DerKollege Stinner sprach von einer neuen Mittelmeerpoli-tik, die wir brauchen. Das ist sehr richtig. Denn die Kräf-teverhältnisse und die Verhältnisse überhaupt haben sichvollkommen geändert. Im Bereich einer neuen Mittel-meerpolitik müssen wir aber den Fokus insbesondere aufdie ländliche Entwicklung richten. Für die ländliche Ent-wicklung und den Agrarsektor ist es absolut notwendig,dass die EU-Agrarsubventionen im Export gestrichenwerden
und die Länder eine Chance haben, in Zukunft weiteragieren zu können, um den Aufbau voranzutreiben, stattweiter den Mangel zu verwalten.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Günter Gloser für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wer auf seine eigene Bevölkerung schießenlässt, wer Söldner anwirbt, um Menschen töten zu las-sen, wer unzählige Menschen auf dem Gewissen hat,wer seine eigene Bevölkerung als Ratten tituliert, der hatwahrlich keinen Schutz verdient.
Schutz verdient haben aber die vielen mutigen Men-schen in Libyen, die auf die Straße gegangen sind.
Es gibt auch keinen Streit über die Analyse. Alle ha-ben gesagt, welche Verhältnisse in Libyen herrschen,auch im Vergleich zu Ländern wie Ägypten, Tunesienoder anderen in der Golfregion. Es ist daher wichtig,jetzt ein Zeichen zu setzen. Manchmal habe ich den Ein-druck, wir haben immer noch nicht richtig verstanden,was eine, zwei oder drei Flugstunden vom europäischenKontinent entfernt passiert. Angesichts dieser Umbruch-phase wäre es wichtig gewesen, dass die EuropäischeUnion, abgesehen von der vielbeschworenen einenStimme, zumindest gesagt hätte: Wir setzen uns mittel-fristig zusammen und beraten über die Konsequenzenaus einem solchen Umbruch. – Aber ich kann nicht se-hen, dass man das macht.Verschiedene Redner haben bereits Kritik an der Vor-gehensweise geübt. Herr Staatsminister Hoyer, es istvollkommen richtig, was Sie gesagt haben. Ich glaube,Sie können die breite Unterstützung des Hauses für IhreVorschläge bekommen. Aber das, was am Montag aufeuropäischer Ebene herausgekommen ist – Sie haben anden entsprechenden Sitzungen teilgenommen; ich zitiereSie jetzt nicht –, ist ein schwaches Bild.
Wenn ein Regierungschef den Eindruck erweckt – ich zi-tiere nur aus einer Zeitung, mit einer Fußnote versehen –,dass er sich als Schutzmacht für Herrn Gaddafi geriert,und sagt, man könne keine Sanktionen verhängen, weilsonst möglicherweise Flüchtlinge zu uns kämen, dannkann ich als Reaktion nur sagen: Das ist nicht die euro-päische Politik, auf die wir uns vor vielen Jahren ver-ständigt haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10485
Günter Gloser
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Bevor ich auf die Binnenwirkung in unserem Land zusprechen komme, darf ich mit Einverständnis der FrauPräsidentin aus der Berliner Erklärung zum 50. Jahrestagder Europäischen Union zitieren:Wir leben und wirken in der Europäischen Unionauf eine einzigartige Weise zusammen. Dies drücktsich aus in dem demokratischen Miteinander vonMitgliedstaaten und europäischen Institutionen. DieEuropäische Union gründet sich auf Gleichberech-tigung und solidarisches Miteinander. So ermögli-chen wir einen fairen Ausgleich der Interessen zwi-schen den Mitgliedstaaten.Wenn das so ist, dann müssen wir uns auch in derFlüchtlingspolitik gegenseitig helfen.
Es hat doch keinen Sinn, dass manche auf der Einhal-tung jedweder bürokratischen Regelung, die im Rahmenvon Dublin II getroffen wurde, bestehen. Da wir geradeüber Flüchtlingspolitik reden: Herr Staatssekretär Berg-ner, ich bin Ihnen dankbar, dass jetzt auch das Innenmi-nisterium vertreten ist. Sonst hätte ich das negativ ange-merkt. Schließlich geht es auch um eine Aufgabe IhresMinisteriums.Ich möchte einen Aspekt nennen, über den wir uns,glaube ich, einig sind. Es ist sicherlich kein Wider-spruch, wenn gesagt wird: Auf der einen Seite müssendie Länder ihre Aufgaben machen. Auf der anderenSeite müssen wir dafür sorgen, dass die Wirtschaft wie-der in Schwung kommt und dass Demokratie und Frei-heit herrschen. Das bestreitet niemand. Aber, liebe Kol-leginnen und Kollegen, kann man ernsthaft annehmen,dass die betreffenden Länder dies alles allein schulternkönnen, sodass wir uns nicht um Flüchtlingspolitik undMigrationsfragen wie Arbeitsmigration und Bildungsmi-gration kümmern müssen? Das alles muss doch imGleichklang geschehen. Ich finde es fatal, wenn einoberster Polizeifunktionär nach den ersten Flüchtlings-bewegungen nach Lampedusa sagt: Wir müssen Europazur Festung ausbauen. – Das kann nicht die richtige Ant-wort der Europäischen Union auf die aktuellen Fragensein.
Ich wünsche und hoffe, dass in diesen Stunden Sank-tionen gegen Gaddafi und seine Clans verhängt werden.Herr Staatsminister Hoyer, ich war gestern etwas über-rascht – weil das sozusagen Ihre eigene politische Fami-lie betrifft –, als ich die Meldung von Reuters gelesenhabe, wonach Herr Brüderle gesagt hat: Sanktionen ste-hen aktuell nicht an. – Das finde ich angesichts der Tat-sache, dass Ihr Außenminister zuvor in Kenntnis dessen,was am Montag in der Europäischen Union passiert ist,etwas anderes gesagt hat, nicht gut. Die Vielstimmigkeitin der Regierung sollte ein Ende haben.Ich möchte am Schluss ausdrücklich den Kolleginnenund Kollegen, die vor Ort in den deutschen Botschaften,in verschiedenen Vertretungen und Institutionen tätigsind, Dank für ihr Engagement und ihre Arbeit sagen.
Ich glaube, sie haben keine einfache Aufgabe. Das, wasin den letzten Tagen in Libyen passiert ist, ist nicht ver-gleichbar mit der Situation in anderen Ländern. Auchdeshalb bitte ich, Dank auszurichten.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fischer das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Libyen befindet sich in einem Kontext mit Tunesien,Ägypten, den MENA-Staaten insgesamt. Trotzdem istjedes Land unterschiedlich. Wie wir sehen, könnten dieAuswirkungen in Tunesien, Ägypten und Libyen nichtunterschiedlicher sein. Wir sehen, dass die Rebellion inTunesien und Ägypten gegen die eigenen Regierungenin weiten Bereichen Früchte getragen hat. Wir sehenaber auch, dass es für die Menschen in Libyen, wo derMachthaber auf die eigene Bevölkerung schießt, im Au-genblick keinerlei Perspektiven gibt.Es gibt immer noch Diktatoren, die ihre Völker inGeiselhaft nehmen: Castro, Ahmadinedschad, Baschir,Kim Jong-il und einige andere. Der MassenmörderGaddafi zeigt jetzt, dass es noch schlimmer geht: brutaleUnterdrückung seit 40 Jahren, Mord, Inhaftierung, Iso-lierung, Folterung. Man nimmt den Menschen ihreWürde. Man gibt ihnen keinerlei Chance zur Teilhabe.Viele Menschen leben unterhalb des Existenzminimums.Wie wir vom ehemaligen Justizminister Libyens hören,war der Massenmörder Gaddafi am Mord von Lockerbiedirekt beteiligt: Er hat ihn befehligt. Dies ist jetzt inSchweden bekannt geworden. Er hat den Abschuss desPanAm-Jumbos 103 am 21. Dezember 1988, bei dem259 Fluggäste und 11 Bewohner Lockerbies ums Lebenkamen, zu verantworten.Ich danke ausdrücklich unserem Außenminister, aberauch Herrn Staatsminister Hoyer und Herrn Niebel dafür,dass man sofort gehandelt hat, dass man sofort Gesprächein den entsprechenden Nachbarländern von Libyen geführtund aufgezeigt hat, dass man denen, die dort rebellieren,Chancen gibt, damit man dort Perspektiven sieht. Ich bindankbar, Herr Hoyer, dass Sie mir eben, als ich Sie kurzgefragt habe, bestätigen konnten, dass es vollkommenklar ist, dass diese Bundesregierung den Menschen in
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10486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Hartwig Fischer
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Libyen sofort, wenn wir die Chance haben, Hilfestellungzu geben, medizinische Hilfe und Nothilfe zukommenlässt – direkt oder über NGOs –, damit sich die Situationfür die Menschen nicht über Wochen oder Monateschlecht darstellt. Wir sind dankbar, dass das Versor-gungsschiff „Berlin“ und die Fregatten „Brandenburg“und „Rheinland-Pfalz“ bereits auf Kurs gegangen sindund dass weitere Menschen mit dem Airbus der Bundes-wehr zurückgeführt werden können, wie bereits gesternAbend geschehen.Herr Gehrcke, ich muss kurz auf Sie eingehen, weilSie kritisiert haben, dass in der Vergangenheit Gesprächemit Mubarak und anderen dort auf höchster Ebene statt-gefunden haben.
– Doch, auch Gespräche. Wir können es im Protokollnachlesen. – Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dassgerade in der Vergangenheit Männer wie Herr Gloser,aber auch Ihr Kollege Aydin als Verantwortliche in denParlamentariergruppen bei allen Gesprächen dabei wa-ren, die dort geführt wurden – daran waren Kollegen ausallen Fraktionen beteiligt – und in denen die menschen-unwürdigen Zustände in den einzelnen Staaten, das Un-terdrücken der Bevölkerung, die Inhaftierung von Men-schen, die Sperrung der Kontakte zu diesen Menschengrundsätzlich thematisiert worden sind. Ich lege daraufWert, weil es eine der Hauptaufgaben unserer Parlamen-tariergruppen ist, Brücken zu schlagen, damit es denMenschen in ihren Ländern besser gehen kann.
Ich sage ebenfalls ganz deutlich: Wenn wir den Men-schen Perspektiven geben wollen, dann müssen sie nach-haltig sein. Dazu gehört, die Märkte zu öffnen. Das müs-sen wir in dem einen oder anderen Fall, etwa wenn esum die Landwirtschaft geht, auch dann tun, wenn wir imeigenen Land Gegenwind verspüren. Nur nachhaltigeEntwicklung, gerade im Maghreb, wird den Menschenvor Ort helfen und ihnen die Chance geben, in ihrenLändern Perspektiven zu finden.
Dazu gehört, dass es zu Einigkeit in der EuropäischenUnion kommt. Es gibt derzeit ein klares Auseinander-klaffen zwischen den Nordländern und den Südländernin der Europäischen Union, weil die Interessenlagen un-terschiedlich sind. Es ist entscheidend, dass wir bei denGesprächen in den nächsten Tagen und Wochen eine ge-meinsame Linie finden werden.Wir brauchen eine begleitende Partnerschaft für dieseLänder und auch für Libyen, sobald sich dort die ent-sprechenden Gesprächspartner zeigen. Wir braucheneine nachhaltige Partnerschaft. Das heißt, wir dürfendiese Länder, wenn sie aus dem medialen Fokus wiederverschwunden sind, nicht vergessen, wie es bei anderenLändern in der Vergangenheit passiert ist. Ich will da garkeine Regierung in der Vergangenheit ausnehmen.Eine Bitte habe ich noch: Ich glaube nicht, dass es an-gehen kann, dass bereits am Freitag der Menschen-rechtsrat tagt und Libyer aus der derzeitigen Regierungam Tisch sitzen. Libyen muss vom Menschenrechtsratsuspendiert werden. Gaddafi muss vor den Internationa-len Gerichtshof gezogen werden.Ich danke Ihnen.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a bis c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung eines Bundesfreiwilligendienstes– Drucksache 17/4803 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussSportausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-thee Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Miriam Gruß, FlorianBernschneider, Heinz Golombeck, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPFür eine Stärkung der Jugendfreiwilligen-dienste – Bürgerschaftliches Engagement derjungen Generation anerkennen und fördern– Drucksache 17/4692 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger AusschussSportausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldKoch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEJugendfreiwilligendienste weiter ausbauenstatt Bundesfreiwilligendienst einführen– Drucksache 17/4845 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10487
Vizepräsidentin Petra Pau
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SportausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Dr. Kristina Schröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Wehrpflicht geht und mit ihr auch der Zivildienst.Wie schwer der Abschied fällt, merken viele von Ihnenzurzeit in ihren Wahlkreisen. Viele kranke, ältere und be-hinderte Menschen sind in Sorge, weil sie die Arbeit derZivis als große Hilfe empfunden haben. Viele sozialeEinrichtungen befürchten, dass sie nicht mehr all das an-bieten können, was aus Pflege Fürsorge macht: Zeit,Hilfe und Zuwendung über das medizinisch Notwendigehinaus.Die spürbare Wehmut in den Wochen des Abschiedsist aber auch eine große, eine schöne Anerkennung fürall das, was junge Männer in den letzten 50 Jahren inmehr als 37 000 Einrichtungen in Deutschland geleistethaben. Sie haben mit dem Zivildienst über die Jahre hin-weg ein dicht geknüpftes Netz der Fürsorge gespanntund es zu einem tragenden Pfeiler für den Zusammenhaltder Gesellschaft gemacht. Gerade deshalb haben wirjetzt die Chance, diesen Dienst weiterzuentwickeln zueinem freiwilligen Angebot, das Männern und Frauen je-den Alters offensteht, zu einem Angebot, das Menschendavon überzeugt, sich Zeit für Verantwortung zu neh-men, und zu einem Angebot, das Jung und Alt verbindet.Mit dem Bundesfreiwilligendienst haben wir dafür dieVoraussetzungen geschaffen.Der Bundesfreiwilligendienst ist der Nährboden füreine neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland, für einUmfeld, in dem sich jüngere und ältere Menschen beteili-gen wollen und aus eigener Motivation heraus aktiv wer-den können.Kurz die Eckpunkte: Der Bundesfreiwilligendienststeht Männern und Frauen jeden Alters offen. Die Frei-willigen sind gesetzlich sozialversichert. Sie erhalten einTaschengeld, das in Ost und West die gleiche Ober-grenze hat. Der Einsatz soll zwischen 6 und 24 Monatebetragen, in der Regel Vollzeit. Bei den über 27-Jährigenist eine Teilzeit von mehr als 20 Wochenstunden mög-lich. Die Einsatzbereiche werden auf Sport, Integration,Kultur, Bildung, Zivil- und Katastrophenschutz ausge-dehnt.Unser Ziel für den neuen Bundesfreiwilligendienstsind 35 000 Freiwillige pro Jahr. Das ist zwar ein ehrgei-ziges Ziel, aber ich bin optimistisch, dass wir dieses Zielerreichen werden. Optimistisch stimmt mich zum Bei-spiel, dass schon im Moment 30 000 junge Männer inDeutschland die Möglichkeit nutzen, ihren Zivildienstfreiwillig zu verlängern. Das ist eine Möglichkeit, diewir erst ganz aktuell geschaffen haben.Viele Menschen im Ruhestand sind Gott sei Dank sofit und wollen etwas von ihrer Lebenserfahrung und ih-rem Wissen weitergeben. Auch in anderen Lebensab-schnitten sind Auszeiten, zum Beispiel in Form von Sab-baticals, attraktiv. Die Bereitschaft, sich zu engagieren,ist also vorhanden.Gleichzeitig werden das Freiwillige Soziale Jahr unddas Freiwillige Ökologische Jahr ausgebaut. Insgesamtfördert der Bund die Freiwilligendienste künftig mitmehr als 350 Millionen Euro im Jahr. Gemeinsam mitden Trägern und den Verbänden bin ich davon über-zeugt, dass das vorliegende Gesetz die Freiwilligen-dienste in Deutschland insgesamt stärken wird.
Die Opposition wird dennoch zum x-ten Mal die an-geblichen Doppelstrukturen kritisieren.
Da Ihnen jetzt wahrscheinlich auch wieder nichts ande-res einfällt als die scheinheilige Frage, warum wir nebendem FSJ und dem FÖJ noch einen Bundesfreiwilligen-dienst brauchen, will ich Ihnen das ganz präzise beant-worten: Wir brauchen ihn, weil die Länder schlicht nichtbereit sind, für den Ausbau der Freiwilligendienste300 Millionen Euro auszugeben.
Der Bund hingegen ist dazu bereit. Wir investieren dasGeld in die Engagementförderung. Damit sind wir dieBundesregierung, die wie keine Bundesregierung zuvorso viel Geld in den Ausbau des bürgerschaftlichenEngagements in Deutschland steckt.
Vor uns liegt eine gewaltige Gemeinschaftsaufgabe.Wir müssen dafür werben, dass sich möglichst vieleMänner und Frauen, jüngere und ältere, in einem Frei-willigendienst engagieren. Dafür brauchen wir passge-naue Angebote sowie Tätigkeiten, die attraktiv und sinn-voll sind. Wir brauchen aber auch mehr Anerkennungfür gesellschaftliches Engagement in Deutschland.Im Januar dieses Jahres habe ich Vertreter der Bun-desländer, der kommunalen Spitzenverbände, der Hoch-schulrektorenkonferenz, der Wirtschaftsverbände undviele andere an einen Tisch geholt, um darüber zu bera-ten, wie wir die Anerkennungskultur in Deutschlandstärken können. Wir waren uns darüber einig, dass eineuniforme Anerkennung nicht weiterhilft. Es mag bei-spielsweise für den einen oder anderen eine super Sachesein, den Freiwilligendienst als Wartezeit für einen Stu-dienplatz anrechnen zu lassen. Das bringt aber demjeni-gen relativ wenig, der im Ruhestand vielleicht noch ein-mal für ein Jahr in einer Kita aushelfen möchte. Deshalb
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10488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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brauchen wir ein ganzes Bündel unterschiedlicher An-reize, mit denen die jeweiligen Zielgruppen angespro-chen werden sollen. Dafür müssen wir gemeinsam sor-gen.Ich persönlich finde es wichtig, dass wir dabei ganzbesonders junge Menschen mit Migrationshintergrund inden Blick nehmen. Ich könnte mir beispielsweise vor-stellen, bei Doppelstaatlern mit den jeweiligen Her-kunftsländern darüber zu verhandeln, ob dort von derWehrpflicht abgesehen werden kann, wenn in Deutsch-land ein Bundesfreiwilligendienst absolviert wurde. Da-bei denke ich vor allem an junge Männer mit türkischemMigrationshintergrund. Bei der Wehrpflicht gibt es mo-mentan bereits ähnliche Absprachen. Es wäre sehr gut,wenn wir das auf den Bundesfreiwilligendienst übertra-gen könnten. Mit Sicherheit ist nichts so wirksam für dieIntegration wie ein Bundesfreiwilligendienst. DieserDienst bringt mehr als so manche staatliche Maßnahme.
– Entschuldigung, Ihr Zwischenruf zeugt davon, dassSie leider relativ wenig Ahnung haben.In Deutschland gibt es allein aufgrund des Options-modells sehr viele junge Männer mit doppelter Staats-angehörigkeit, die noch Zeit haben, sich für eine Staats-bürgerschaft zu entscheiden. Die Möglichkeit, hier inDeutschland einen Bundesfreiwilligendienst zu absolvie-ren, kann dabei ein wichtiges Entscheidungskriteriumsein.Wenn Sie den Geist des Zivildienstes erhalten undauch weiterhin ein Netz der Fürsorge und der Hilfe in Ih-rem Wahlkreis haben wollen, dann helfen Sie mit, eineneue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland zu etablie-ren. Sagen Sie Ja zum Bundesfreiwilligendienst. Über-zeugen Sie gemeinsam mit mir die Menschen in unseremLand davon, dass es sich lohnt, sagen zu können: Ichhabe gedient.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Griese hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In diesem Land engagieren sich sehr viele Menschen eh-renamtlich. Ohne sie wären unsere Städte und Gemein-den ärmer. Sehr viele Jugendliche in unserem Land ma-chen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein FreiwilligesÖkologisches Jahr. Wir gehen von etwa 35 000 Jugendli-chen im Jahr aus. Leider wird nur ein Teil von ihnendurch den Bund gefördert. Der Bedarf ist noch viel grö-ßer. Es sind etwa doppelt so viele Jugendliche, die sichum einen Platz bewerben. Bei den Auslandsdiensten undin der Kultur – wir haben das gestern Abend noch ein-mal bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- undJugendbildung sehr deutlich gehört – sind es sogar nochviel mehr. All diese Jugendlichen wollen sich im Rah-men des FSJ oder FÖJ in den Bereichen Soziales, Sport,Kultur oder Ökologie engagieren. Dazu kommen nochdie Jugendlichen bei „weltwärts“ in der Entwicklungs-politik.Deshalb möchte ich zuallererst – ich hoffe auch, dassich das in Ihrer aller Namen tun kann – all denen danken,ob Alt oder Jung, ob im FSJ oder in den vielen Einrichtun-gen der Wohlfahrtsverbände, in Initiativen und Kirchen-gemeinden, in der Nachbarschaftshilfe, in der Telefon-seelsorge, in Umweltverbänden, in Kitas und Schulen, inBehinderteneinrichtungen und Obdachlosenunterkünf-ten, die sich freiwillig engagieren und die einen so wich-tigen Beitrag leisten. Ihnen allen ein herzliches Danke-schön dafür!
Sie, liebe Frau Ministerin, haben mit dem Zivildienstangefangen. Ich will ausdrücklich zum FSJ, zum Frei-willigen Sozialen Jahr, etwas sagen; denn das hat in denletzten Jahren großen Zuspruch erfahren und es ist einebewährte, langfristig erprobte Form des freiwilligen En-gagements Jugendlicher. Es ist auch deshalb so gut, weiles im Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenle-ben die Möglichkeit gibt, sich persönlich oder beruflichneu zu orientieren, sich auszuprobieren, Fähigkeiten ein-schätzen zu lernen. Von diesem Engagement profitierennatürlich nicht nur die Jugendlichen, sondern die Gesell-schaft insgesamt. Es ist die Chance, sich um Mitmen-schen zu kümmern, einander zu begegnen, und für viele,mit denen man spricht, die dieses Jahr gemacht haben,war das auch ein Jahr, in dem sich ihr Berufswunsch ent-wickelt hat. Gerade junge Männer kommen häufig erstdadurch auf die Idee, in soziale Berufe zu gehen. WennSie sich mit ehemaligen Zivis oder FSJlern unterhalten,sehen Sie oft, wie ihre Augen glänzen, wenn sie von die-ser Arbeit und von den Menschen erzählen, die ihnen an-vertraut sind.Der Freiwilligendienst bietet auch eine Chance, weilJugendliche dort unabhängig vom Elternhaus mit Men-schen aus anderen gesellschaftlichen Schichten zusam-menkommen. Wir haben ja nun leider eine viel zu früheSelektion im Bildungswesen. Deshalb ist auch das eineganz wichtige Sache. Mit dem Wegfall des Wehr- undZivildienstes wird jetzt ein Feld geräumt, wo sich Men-schen begegnen können.Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es sowichtig, jetzt die Chance richtig zu nutzen und im Zugeder Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes at-traktive und gut ausgestattete Freiwilligendienste konse-quent zu stärken. Die SPD-Fraktion hat der Bundesre-gierung ihren konstruktiven Beitrag dazu angeboten. Wirstehen für eine einheitliche Lösung im Interesse der jun-gen Menschen, die diese Freiwilligendienste machenwollen, bereit.
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Kerstin Griese
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– Danke.Die Bundesregierung hat diese Chance ja bisher nichtergriffen, sondern will weiterhin – auch wenn Sie esnicht mehr hören können – neben den bewährten, beste-henden Freiwilligendiensten einen neuen Bundesfreiwil-ligendienst installieren. Wir alle kennen die juristischeDebatte dazu. Wir sagen aber noch einmal ausdrücklich:Wir halten diese Doppelstruktur weiterhin nicht für einegute und richtige Lösung; denn sie wird mehr Bürokratieund Kosten verursachen.Wenn Sie mit den Trägern des FSJ sprechen – vielevon uns tun das; einige haben das gerade auch gesternAbend wieder getan –, erleben Sie da sehr viel Verunsi-cherung. Nach einer ersten Phase, die durchaus vonFreude darüber geprägt war, dass es mehr Mittel, wennauch leider nicht alle, die durch den Wegfall des Zivil-dienstes frei werden, für das freiwillige Engagementgibt, gibt es jetzt sehr große Verunsicherung darüber, wiediese neuen Bundesfreiwilligendienste organisiert wer-den sollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung hat es mit ihrem Hin und Her wirklich geschafft,alle zu verunsichern: erstens die jungen Menschen, diewissen wollten, wie es bei ihnen biografisch weitergeht,zweitens die Menschen in den Einrichtungen, die ihreZivis und FSJler zu schätzen wissen, drittens die Träger,die qualifizierte Angebote machen wollen und Planungs-sicherheit brauchen. Wir haben jetzt in kurzer Zeit vonfünf verschiedenen Modellen gehört: von der Verkür-zung des Zivildienstes, von der freiwilligen Verlänge-rung, von der Abschaffung, von der Aussetzung und nunvom neuen Bundesfreiwilligendienst.Hier muss man auch feststellen dürfen: Der Zeitplanist nicht optimal, und die Einrichtungen wissen immernoch nicht, worauf sie sich ab dem 1. Juli einlassen kön-nen. Deshalb wird es auch schwierig sein, genügendMenschen zu finden, obwohl wir ausdrücklich sagen:Wir wollen viel dafür tun, damit sich junge Menschen indiesem neuen Bundesfreiwilligendienst engagieren.Es besteht weiterhin die Gefahr einer Zweiklassenge-sellschaft zwischen denen, die im FSJ sind, und denen,die im neuen Bundesfreiwilligendienst sind.
Sie wissen, dass die SPD in ihren Regierungsjahrenauf den Ausbau des FSJ gesetzt hat. Da können Sie si-cherlich kritisieren, dass das noch nicht genug war. Daswürde ich auch selbstkritisch annehmen; denn gerade dieJugend- und Familienpolitiker wollten gerne mehr. Da-bei waren Sie, liebe Frau Kollegin, allerdings auch nichtimmer hilfreich. Aber wir haben auf den Ausbau des FSJgesetzt. Wir haben den Zivildienst zum Lerndienst wei-terentwickelt. Wir haben die generationsübergreifendenFreiwilligendienste erfunden. Auch das ist, wie ichglaube, eine wichtige Sache, die Sie ja auch teilweisefortgesetzt haben. Ich denke, darauf hätte man mehr auf-bauen müssen.Wir wünschen uns auch eine sinnvolle Fortsetzungdes freiwilligen Engagements für Ältere. Ich glaube im-mer noch, es braucht unterschiedliche Konzepte, jenachdem, ob man einen Dienst für Jugendliche anbietet,die sich in einer Phase der beruflichen und biografischenOrientierung befinden, oder ob man neue Möglichkeitendes freiwilligen Engagements für Ältere schaffen will.Dieser muss im Hinblick auf die Begleitung anders aus-sehen.
Das Jahr 2011 – viele wissen es noch gar nicht – istvon der Europäischen Union zum „Europäischen Jahr derFreiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürger-schaft“ – in der EU-Sprache, ein etwas sperriger Titel –erklärt worden. In Deutschland werden sich zahlreichezivilgesellschaftliche Akteure unter dem Motto „Freiwil-lig. Etwas bewegen!“ engagieren. Die Rahmenbedingun-gen sollen – das hat die EU so vorgeschlagen – in diesemJahr verbessert werden. Die Freiwilligenorganisationensollen gestärkt werden. Das freiwillige Engagement sollmehr anerkannt werden, und die Menschen sollen für dieBedeutung der Freiwilligentätigkeiten sensibilisiert wer-den.Ich möchte ausdrücklich den Appell an die Bundes-regierung richten: Nutzen Sie diese Chance! Wir brauchenein klares Auftreten der Bundesregierung beim Einsetzenfür die Ziele des Europäischen Jahres der Freiwilligentä-tigkeit. Die Zuständigkeit ist ja in Ihrem Haus, Frau Mi-nisterin, und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft derFreien Wohlfahrtspflege angesiedelt. Ich appelliere wei-terhin an Sie: Begreifen Sie dieses Europäische Jahr derFreiwilligentätigkeit als Chance, das freiwillige Engage-ment europaweit zu unterstützen! Zeigen Sie etwas mehrHerzblut! Denn es ist eine große Chance, die wir alle er-greifen sollten. Wir brauchen in Deutschland bessereStrukturen zur Förderung des freiwilligen Engagements.Vielen Dank.
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Bun-desfreiwilligendienst und dem Antrag der Koalitions-fraktionen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendiensteberaten wir heute nicht mehr und nicht weniger als eineder größten engagementpolitischen Reformen, die es je-mals in Deutschland gegeben hat.Bereits im Koalitionsvertrag zwischen Union undFDP haben die Förderung des bürgerlichen Engage-ments sowie der quantitative und qualitative Ausbau derFreiwilligendienste breiten Raum eingenommen. Ich er-
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Florian Bernschneider
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innere an die bisherigen Schritte: Die Neuregelung des§ 14 c Zivildienstgesetz, aber auch die im Oktober 2010vorgelegte erste Nationale Engagementstrategie warenerste wichtige Maßnahmen, die wir heute mit den vorlie-genden Anträgen und dem Gesetzentwurf fortschreiben.Damit – es wurde gerade angesprochen – ist diesesEuropäische Jahr der Freiwilligentätigkeit mehr als eineWorthülse. Diese Koalition tut alles dafür, dieses Euro-päische Jahr mit Leben zu erfüllen. Ich glaube, wir ge-hen da mit gutem Beispiel für die anderen europäischenLänder voran.
Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und damit auchmit der Aussetzung des Zivildienstes geht diese Koali-tion einen mutigen Schritt, zu dem bisherige Regierun-gen leider nicht bereit waren. Wir gehen den Schritt wegvon Pflichtdiensten hin zur Freiwilligkeit. Das ist auchrichtig so. Denn es ist doch absurd, dass wir so langedarüber diskutiert haben, ob wir einen Pflichtdienstbrauchen. Dabei war doch klar, dass sich jeden Tag dreijunge Menschen auf einen Platz bewerben, um sich frei-willig engagieren zu können. Wir mussten zwei von ih-nen eine Absage erteilen, weil eben geförderte Plätzenicht in genügender Anzahl zur Verfügung standen.Ich möchte ein besonderes Beispiel herausheben, weilimmer gefragt wird: Gibt es überhaupt genug junge Men-schen, die sich freiwillig engagieren wollen? Allein imFreiwilligendienst „kulturweit“ des Auswärtigen Amteshaben sich auf 300 Plätze 2 000 junge Menschen bewor-ben. Das macht uns allen deutlich, dass es genug jungeMenschen gibt, die freiwillig tätig werden wollen.
In diesem Punkt gebe ich Ihnen durchaus recht, FrauKollegin Griese: Nach den Diskussionen um die Verkür-zung der Dauer der Wehrpflicht und des Zivildienstes,die wir geführt haben, mag man vielleicht sagen: Dahätte man auch gleich auf Wehrdienst und Zivildienstverzichten können. – Als Liberaler würde ich das durch-aus unterschreiben. Aber manchmal ist es in einer Koali-tion so, dass erst jemand für einen kleinen Schritt kämp-fen muss, um dann gemeinsam einen großen Schritt zugehen. Wenn man sich diesen großen Schritt anschaut,nämlich der Wechsel weg von Pflichtdiensten hin zurFreiwilligkeit, den wir gehen wollen, und wenn man sichvergegenwärtigt, wie kleinteilig mittlerweile die Kritikder Opposition an dem Gesamtkonzept ist, dann wirddeutlich, dass wir unsere Arbeit in den letzten Wochenund Monaten sehr gut erledigt haben.
Ich möchte noch einmal an den Anfang dieser Dis-kussion erinnern. Damals standen wir vor der Frage: Wiekönnen wir eigentlich all das Gute, das der Zivildienstgebracht hat, nämlich das Engagement junger Männerfür unsere Gesellschaft und auch die Entwicklungschan-cen junger Männer zu fördern, beibehalten, wenn wirden Wehrdienst und den Zivildienst aussetzen? Damalswar das Konzept vom freiwilligen Zivildienst im Ge-spräch. Da gab es vonseiten der Opposition, aber auchvon der FDP – das wissen Sie – die Befürchtung, dassein solcher freiwilliger Zivildienst die bisherigen durch-aus guten Dienste – das Freiwillige Soziale Jahr und dasFreiwillige Ökologische Jahr – in ihrer Existenz bedro-hen könnten. Aber wenn Sie heute sehen, was wir Ihnenhier vorlegen – den Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilli-gendienst und den Antrag der Koalitionsfraktionen zurStärkung der Jugendfreiwilligendienste –, dann wird,glaube ich, klar, dass sich diese Befürchtungen längst inLuft aufgelöst haben. Wir nutzen die Fördermöglichkei-ten des Bundes hinsichtlich der bisherigen Jugendfreiwil-ligendienste, die – das mag einem gefallen oder nicht –zu einem Großteil in der Zuständigkeit der Länder lie-gen, endlich voll aus. Wir fördern trotz angespannterHaushaltslage – auch das muss man einmal herausstel-len – all jene Plätze für ein FSJ und FÖJ, für die seit lan-gem zwar Bedarf besteht, für die aber bisher keine Re-gierung das nötige Geld hatte.
Wir erhöhen die Förderung für die Bildungsarbeit von72 Euro auf 200 Euro. In diesen Tagen, in denen auchviel über die Teilhabechancen junger Menschen disku-tiert wird, möchte ich – auch weil es ein Herzensanlie-gen der FDP war – noch einmal sagen, dass für all dieje-nigen jungen Menschen, die es bisher nicht immer ganzleicht im Leben hatten und die besonderen pädagogi-schen Förderbedarf aufweisen, noch einmal 50 Euro zu-sätzlich investiert werden.Sie sehen also: Bevor wir überhaupt angefangen ha-ben, darüber zu diskutieren, ob wir eine zweite Säulebrauchen, haben wir uns erst einmal um das Wichtigegekümmert, nämlich die bestehenden Jugendfreiwilli-gendienste zu stärken, ihnen die Stärke zu geben, die sieseit langem verdient haben.Dann kann immer noch die Befürchtung bestehen,dass das nicht ausreicht, dass sie trotzdem in eine Kon-kurrenzsituation geraten. Deswegen haben wir – das er-kennen Sie, wenn Sie das Gesetz sehen – das Kopp-lungsmodell eingeführt, was auch wirklich garantiert,dass beide Dienste nur stark sein können, wenn sie mit-einander und nicht gegeneinander arbeiten.Einen Unterschied gibt es, dass sich nämlich im Bun-desfreiwilligendienst auch Ältere engagieren können.Das geht in den Jugendfreiwilligendiensten nicht. Aberich erinnern daran: Wir sind mitten im demografischenWandel. Wir haben immer mehr Ältere, die aber immergesünder und fitter sind. Deswegen ist es auch gut, dasswir gerade diesen die Möglichkeit geben, sich dauerhaft– und nicht nur mit Projekten – in einem Freiwilligen-dienst zu engagieren.Wenn die Regierungsfraktionen von zwei starkenSäulen sprechen, dann gehört es wohl auch zum alltägli-chen politischen Hickhack, dass die Opposition eher vonDoppelstrukturen spricht. Ich kann auch gut verstehen,dass man aufseiten der Opposition eher geneigt ist, dieGrenzen, die uns nun einmal durch die unterschiedlichenZuständigkeiten von Bund und Ländern vorgegebensind, zu übergehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10491
Florian Bernschneider
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Aber ich möchte noch einmal daran erinnern: Doppel-strukturen sind doch überhaupt nicht Kern des Problems.Was haben wir denn bisher? Wir haben den Zivildienstund die Jugendfreiwilligendienste. Um es ganz deutlichzu sagen: Wir haben häufig zwei junge Menschen in der-selben Einrichtung, die teilweise genau die gleichenAufgaben übernehmen, jedoch mit völlig anderen Rah-menbedingungen. Das ist der Status quo, an dem Sie alsRot-Grün auch nie etwas getan haben. Deswegen sindnicht die Doppelstrukturen Kern des Problems, sondernes geht darum, dass zukünftig, wenn zwei junge Men-schen freiwillig tätig sind, diese auch die gleichen Rah-menbedingungen vorfinden.
Nichts anderes tun wir jetzt. Sie haben die gleiche An-zahl an Urlaubstagen, die gleiche Anzahl an Arbeitsstun-den. Sie haben das gleiche pädagogische Rahmenpro-gramm und am Monatsende auch das Gleiche in derTasche.In Bezug auf das Kindergeld wird immer wieder einPunkt angesprochen, über den man zu Recht diskutierenkann: Ist es gut so, wie es jetzt gelöst ist?
Ich sage auch im Namen der FDP, dass man über dieseFrage durchaus diskutieren kann, dass man darübernachdenken kann, ob man zu einer besseren, zu einer op-timalen Lösung kommen kann. Ich bin auch zuversicht-lich, dass uns das vielleicht noch gelingen wird.In der Anhörung mit den Experten haben wir jetzt dieChance, diese Detailfragen zu diskutieren. Ich würde miraber wirklich wünschen, dass die Opposition – geradeSPD und Grüne – nicht länger diese Detailfragen nutzt,um ihre Fundamentalkritik an diesem wirklich gutenKonzept zu begründen, sondern dass sie endlich anfängt,sich konstruktiv einzubringen. Tun Sie uns, tun Sie sich,aber tun Sie vor allem den freiwillig Engagierten undden Einrichtungen vor Ort den Gefallen, diese Diskus-sion endlich konstruktiv zu führen.Mit dem vorliegendem Antrag der Koalitionsfraktio-nen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste und mitdiesem Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst ha-ben wir alle hier im Haus die Chance, endlich den Wegfür Freiwilligkeit anstelle von Pflichtdiensten freizuma-chen. Ich glaube, das ist etwas, was viele von uns unter-schreiben wollen. Also tun wir es. Begleiten Sie uns da-bei.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Dittrich hat für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Wenn in diesem Jahr der letzte Zivi geht,dann muss der neue Bundesfreiwilligendienst diesePlätze ersetzen. Die Entscheidung, den Dienst mit derWaffe zu verweigern, war eine politische Entscheidungfür den Frieden. Den Kriegsdienstverweigerern wurde esnicht leicht gemacht. Mit Bedacht wurden ihnen dieschwersten Arbeiten im sozialen Bereich zugewiesen,gewissermaßen zur Abschreckung. Jetzt fehlen mindes-tens 40 000 Billigarbeitskräfte in der Pflege. Geradediese Lücke soll der neue Bundesfreiwilligendienst aus-gleichen.
Die Heimleiter freuen sich auf die neuen Freiwilligen;denn sonst wäre die soziale Arbeit nicht gewinnbringendzu verrichten. Abgesehen davon halten wir es für richtig,soziale Arbeit nicht profitorientiert zu organisieren, son-dern sie staatlicherseits zu unterstützen.Wer hat den Bundesfreiwilligendienst eigentlich er-funden? Die Bundeswehr.
Damit Sie merken, dass wir hier keine Märchenstundeabhalten, zitiere ich kurz aus dem Bericht der Struktur-kommission der Bundeswehr, veröffentlicht imOktober 2010, Seite 28. Dort empfiehlt die Kommission,einen… freiwilligen, bis zu 23-monatigen Dienst einzu-führen, der allen erwachsenen Bürgerinnen undBürgern offen steht und ihnen die freie Wahl desEngagements bietet. Die Möglichkeiten können vonder Pflege und Betreuung
hilfe bis hin zum militärischen Dienst in der Bun-deswehr reichen.Die Linke ist als einzige Fraktion gegen den neuenBundesfreiwilligendienst,
weil damit die Strukturen beibehalten werden, die eineWiedereinführung der Wehrpflicht und der Ersatzdiensteermöglichen – das wurde bereits heute Morgen in derDebatte zum Wehrrechtsänderungsgesetz vermutet –,falls sich zu wenige Soldaten freiwillig für die Bundes-wehr melden.Seit wann plant ein Verteidigungsministerium die so-zialen Belange der Bundesrepublik mit? Seit wann giltder Leitspruch der Bundeswehr „Tu was für dein Land!“auch für das Familienministerium? Die soziale undpädagogische Arbeit soll nun in die Form eines militäri-schen Dienstes gegossen werden. Aus Zwang folgtnichts Gutes.
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10492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Heidrun Dittrich
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Herr Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesa-gentur für Arbeit, hat an der Strukturreform der Bundes-wehr mitgearbeitet. Auch er verfügt über eine Offiziers-ausbildung. Er war sich nicht zu schade, die passendenArbeitskräfte dafür vorzuschlagen, nämlich die Migran-tinnen und Migranten, die arbeitslosen Jugendlichen, dieFrauen und die älteren Arbeitskräfte sowie die Frührent-nerinnen. Übrigens wird der Freiwilligendienst bei derBundeswehr mit 1 100 Euro vergütet, der Freiwilligen-dienst im sozialen Bereich mit ungefähr 500 Euro. Derlebende Mensch ist also nur die Hälfte wert.
Um die große Arbeitslosigkeit zu verdecken, werdendie genannten Personenkreise gezielt für den Bundes-freiwilligendienst angeworben. So sieht also die genera-tionen- und nationenübergreifende Integration in den Ar-beitsmarkt aus, und zwar im untersten Niedriglohn-sektor.
Diese Menschen fallen natürlich aus der Arbeitslosensta-tistik heraus. Die Bundesregierung bekämpft nicht dieArmut, indem sie Arbeitsplätze schafft, sondern die Ar-men. Von Anerkennung – davon hat die Ministerin ge-sprochen – und Teilnahme an Gemeinschaftsaufgabenkönnen sich die Menschen nichts kaufen, von dem gutenGehalt, das ihnen ein Arbeitsplatz bietet, schon.
Der Geist des Zivildienstes war der eines Zwangs-dienstes; wir halten ihn nicht für erhaltenswürdig. Dennwas kommt beim Bundesfreiwilligendienst heraus? Eineungeheuerliche Benachteiligung von Frauen. Berufe inder Alten- und Krankenpflege oder Sozialarbeit werdenzu 80 Prozent von Frauen ausgeübt. Auch in den Frei-willigendiensten sind seit jeher mehr als 70 Prozent derAktiven Frauen; die Tendenz ist steigend. Gerade jungeFrauen werden auf dem Arbeitsmarkt noch mehr be-nachteiligt, weil frauenspezifische Arbeitsplätze im sozi-alen und pflegerischen Bereich durch den Einsatz vonFreiwilligen vernichtet werden. Es ist nicht nur eineschlechte Nachricht, sondern ein Skandal, was Sie denFrauen kurz vor dem Internationalen Frauentag am8. März zumuten.
Der Staat soll in die staatliche Fürsorge investierenund darf sich im sozialen Bereich nicht aus der Verant-wortung zurückziehen. Sonst treffen wir auf solche An-zeigen von älteren Menschen: „Jung gebliebene Früh-rentnerin sucht älteren Herrn, um häusliche Pflegearbeitzu leisten.“ Die Frührentnerin will also ihre geringeRente aufstocken, und das als Ungelernte in der Pflege,ohne Anspruch auf Mindestlohn. Das ist erzwungeneFreiwilligkeit durch Armut und weniger durch eigeneMotivation, wie die Ministerin Schröder eben meinte.Freiwillige werden benutzt, um qualifizierte Fachkräftezu ersetzen, und das, obwohl schon jetzt ein Mangel anausgebildeten Pflegefachkräften besteht. Statt Jugendli-che zu qualifizieren, sollen sie ohne Mindestlohn imPflegebereich arbeiten; denn es herrscht Pflegenotstand.Die Behinderten und Kranken haben aber das Recht aufeine menschenwürdige Pflege. Unqualifizierte Kräftesind mit der Betreuung von Schwerstkranken oft über-fordert.Im geplanten Bundesfreiwilligendienst sollen sichFreiwillige aller Generationen von 16 bis 70 Jahren demFreiwilligendienst verpflichten. Das ist ein schöner Wi-derspruch. Was denn nun: freiwillig oder dienstver-pflichtet? CDU/CSU und FDP weisen in ihrem Antragdarauf hin – ich zitiere –:… dass ein abgeleisteter Freiwilligendienst ein be-sonders positives Merkmal im Lebenslauf ist.Eine Ausbildung als Krankenschwester bzw. Kranken-pfleger erhalten also jene Personen, die einen Freiwilli-gendienst abgeleistet haben?Wir lehnen den Bundesfreiwilligendienst ab und for-dern ein besseres FSJ und FÖJ im sozialen Bereich.Beim Freiwilligen Sozialen Jahr darf es sich nur um eineberufliche Orientierung beim Übergang von der Schulezur Ausbildung handeln. Es soll kein Ersatz für sozial-versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse sein. Wirmöchten auch keine Ausweitung des Niedriglohnbe-reichs. Wir fordern in unserem Antrag Mitbestimmungs-möglichkeiten von Jugendlichen und Mindeststandards.
Die Trägervielfalt in den 16 Bundesländern soll erhal-ten werden, aber nicht zum Nachteil der Jugendlichen.Eine angemessene Aufwandsentschädigung ist zu ge-währleisten. Ein Abbruch bzw. ein Wechsel in einen an-deren Bereich darf nicht zum Nachteil im Lebenslaufwerden. Deshalb möchten wir ein verbessertes Gesetzzum Ausbau der Jugendfreiwilligendienste bis 27 Jahreund lehnen den Bundesfreiwilligendienst ab.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Gehring das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich kehre jetzt zurück zum Thema unserer Debatte,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10493
Kai Gehring
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nämlich zum Thema Freiwilligendienste und bürger-schaftliches Engagement. Ich kann der Koalition nichtdie Kritik ersparen,
dass man ihrem Gesetzentwurf zur Einführung einesBundesfreiwilligendienstes deutlich anmerkt, dass er un-ter erheblichem Zeitdruck entstanden ist. Es wurde of-fenkundig mit heißer Nadel gestrickt. Jedenfalls ist dabeikeine langfristig tragfähige Lösung herausgekommen,sondern Flickschusterei.
Das ist allerdings auch kein Wunder, da die Bundesre-gierung völlig überstürzt und planlos handeln mussteund gehandelt hat. Minister Guttenberg preschte bei derWehrpflicht mit einem wahren Zickzackkurs voran, derabstrus gewesen ist. Die Wehrpflicht war vor kurzemnoch konservativer Markenkern der Union,
dann wurde sie von neun auf sechs Monate verkürzt.Jetzt ist die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen.Ministerin Schröder war lange Zeit Zaungast, anstatt denAusstieg aus dem Zivildienst aktiv, schrittweise und ver-lässlich zu gestalten. An dieser Stelle hilft keine Weh-mut, sondern wir müssen beherzt anpacken und überle-gen, wie wir so schnell wie möglich Alternativen auf-bauen können.
Minister Rösler müsste angesichts seiner mangelndenAktivität zur Bekämpfung der Pflegemisere und zur Be-kämpfung des Fachkräftemangels im Sozialbereich ei-gentlich „Tu-nix-Minister“ heißen.
Hier fehlen Initiativen vollständig. Frau MinisterinSchavan hat am Kabinettstisch offensichtlich viele Mo-nate geschlummert; denn nach wie vor ist keine Vor-sorge dafür getroffen worden, dass 150 000 junge Män-ner ein Jahr früher einen Ausbildungs- oder Studienplatzbrauchen. Deshalb stelle ich fest: Der Gesetzentwurf isteinfach schlecht gemacht.
So sehr wir als Grüne den Ausstieg aus den Pflicht-diensten begrüßen und den Ausstieg aus den Pflicht-diensten für überfällig und richtig halten, so klar kritisie-ren wir die schlechte Umsetzung der Koalition. Ihnenfehlt eine konsistente Gesamtstrategie. Sie stehen füreine schlechte Umsetzung.
Für uns sind Freiwilligendienste und das Jugend-engagement für eine aktive Bürgergesellschaft ein Wertan sich. Der Ausbau der Freiwilligendienste ist seit vie-len Jahren überfällig. Wir haben das in den letzten Jah-ren gebetsmühlenartig vorgetragen und immer wiederAnträge und Initiativen aus der Opposition heraus undvorher im Regierungshandeln eingebracht, um die Quan-tität, Qualität und Attraktivität von Freiwilligendienstendeutlich zu steigern.
Dass Sie sich dem fünf Jahre lang verweigert haben,rächt sich heute. Heute rächt es sich, dass die Freiwilli-gendienste von zwei CDU-Jugendministerinnen überJahre hinweg systematisch vernachlässigt wurden.
Es ist bedauerlich, dass Frau Schröder den Bundesfreiwilli-gendienst jetzt zu einer Art Lückenbüßer für den wegfallen-den Zivildienst degradiert. Das klappt allein rechnerischnicht, weil wir im vergangenen Jahr 90 000 Zivildienstleis-tende hatten, Sie aber nur 35 000 Freiwilligendienstleis-tende anstreben.
Wenn es darum geht, Zivildiensttätigkeiten wirklichzu ersetzen, dann muss Herr Rösler etwas tun. Es mussvor allem darum gehen, dass im Sozial- und Pflegebe-reich mehr fair bezahlte Beschäftigungsverhältnisse ge-schaffen werden.
Die Pflege muss attraktiver werden, und sie muss besserbezahlt werden. Das ist eine Hausaufgabe dieser Bun-desregierung.Unser Kernkritikpunkt am Bundesfreiwilligendienstbleibt: die Doppelstruktur. Sie bekommen es nicht hin,die bewährten Freiwilligendienste deutlich auszubauen,sondern bauen einen staatsfixierten Bundesdienst alsKonkurrenz zu den bewährten Freiwilligendiensten FSJ,FÖJ etc., die von zivilgesellschaftlichen Trägern organi-siert werden, auf. Diese Doppelstruktur ist einfach in-effizient, teuer und nichts anderes als eine Not- undÜbergangslösung. Jedenfalls ist sie nicht der großeWurf, als den Sie sie heute verkaufen wollen.
Sie hätten sich schon vor Jahren mit den Ländern undmit den Trägern zusammensetzen und nach Lösungensuchen können. Jetzt ist nichts anderes als eine Arbeits-beschaffungsmaßnahme für das Bundesamt für den Zi-vildienst herausgekommen.
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10494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Kai Gehring
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Die Aussetzung der Pflichtdienste hätte als Chancegenutzt werden können, die Zivildienstbürokratie abzu-bauen und bei den 52 Kreiswehrersatzämtern, die ihrehistorischen Aufgaben erfüllt haben, erheblich einzuspa-ren. Die Mittel, die an dieser Stelle hätten eingespartwerden können, hätten in die Konversion und die Frei-willigendienste investiert werden können. Dass selbstdie FDP diese Chance auf Bürokratieabbau nicht er-kennt, wundert mich sehr. Sie müssen die Zivilgesell-schaft fördern und nicht bürokratische Strukturen.
Frau Schröder, Sie haben sich heute selbst sehr dafürgelobt, dass Sie so viel investieren. Ich möchte Sie aberdarauf hinweisen, dass im bisherigen Zivildiensthaushaltcirca 600 Millionen Euro enthalten waren, in Ihrenneuen Bundesfreiwilligendienst aber nur 350 MillionenEuro investiert werden. Mich würde interessieren, wodie anderen 250 Millionen Euro geblieben sind.
Dienen die jetzt der Haushaltskonsolidierung? Könnendie nicht genutzt werden für die Bekämpfung der Pflege-misere oder für Qualitätsverbesserungen?
Frau Schröder, Sie haben sich auch unheimlich dafürgelobt, dass Sie den Bundesfreiwilligendienst für neueGruppen öffnen, ja sogar für Frauen. Was ist denn daranneu? Die bestehenden Freiwilligendienste sind natürlichfür alle Geschlechter und für alle Generationen offen ge-wesen,
weil es auch den bewährten Freiwilligendienst aller Ge-nerationen gegeben hat.
Es wäre eine sinnvolle Perspektive gewesen, den be-währten Freiwilligendienst aller Generationen weiterauszubauen. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass IhreDoppelstruktur nicht notwendig ist.Bei dem weiteren Gesetzgebungsverfahren und in derPraxis des neuen Bundesfreiwilligendienstes wird essehr wichtig sein, dass die Arbeitsmarktneutralität ge-währleistet wird. Das müsste auch in Ihrem Interessesein; denn es darf nicht sein, dass Bundesfreiwilligen-dienstleistende reguläre Arbeitskräfte ersetzen, insbe-sondere dadurch, dass ein neues öffentlich-rechtlichesDienstverhältnis geschaffen wird.
Der Freiwillige schließt künftig ja keinen Vertrag mit derEinrichtung vor Ort, sondern mit dem Bundesamt fürden Zivildienst oder wie auch immer es künftig heißenwird. Dabei ist es ganz wichtig, dass reguläre Jobs nichtbedroht werden, damit das ohnehin sehr niedrige Lohn-niveau bei sozialen Dienstleistungen nicht noch stärkerunter Druck gerät. Das müssen wir uns in den nächstenMonaten und Jahren sehr genau anschauen, damit Ar-beitsmarktneutralität gewährleistet wird und wir keinneues Niedriglohnverhältnis schaffen.Ganz wichtig ist es mir, die bestehende Ungleichbe-handlung bei den Freiwilligendiensten zu beheben. AlleFreiwilligendienstleistenden brauchen gleiche Bedin-gungen und gleiche Qualitätsstandards. Deshalb hättenSie den ersten Schritt zuerst machen müssen und nichtden zweiten oder dritten. Sie hätten jetzt den Entwurf ei-nes Freiwilligendienststatusgesetzes vorlegen müssen, indem Sie klar hätten definieren müssen, was der Freiwil-ligendienst ist, und zwar in Abgrenzung zu Ausbildung,Praktika und Arbeitsverhältnissen.
Kollege Gehring, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. – In diesem Gesetz hätten
auch Sozialversicherungsfragen gelöst werden müssen.
Dieses Gesetz ist jetzt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschoben worden. Das wird sich sicherlich rächen.
Finanzieren Sie nicht Bürokratie, sondern sorgen Sie
dafür, dass die Zivilgesellschaft gestärkt wird und die
bestehenden Freiwilligendienste deutlich ausgebaut wer-
den. Das wäre das Gebot der Stunde, nicht dieser Ge-
setzentwurf.
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Bär.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr KollegeGehring, ich muss mit Ihrer falschen Rechnung anfan-gen. Sie haben davon gesprochen, dass wir jetzt90 000 Zivildienstleistende haben und in Zukunft35 000 Freiwilligendienstleistende haben wollen. DieseRechnung könne nicht aufgehen. Zur Wahrheit gehörtaber auch, dass der Zivildienst gegenwärtig für ein hal-bes Jahr geleistet wird. Wir stellen uns vor, dass diese35 000 ihren Dienst für ein Jahr bis hin zu zwei Jahrenleisten. Deshalb kann man die Zahlen nicht miteinandervergleichen.
– Nein, zusätzlich. Jetzt haben wir sechs Monate. Wirwollen, dass die Dauer des Dienstes in Zukunft verlän-gert werden kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10495
Dorothee Bär
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Deshalb werden wir in Zukunft mehr Dienstleistende ha-ben. Der Kollege Gehring hat die Rechnung falsch auf-gemacht. Ich bitte ihn, das noch einmal nachzurechnen.
Uns wurde die Aufgabe gestellt, den Zivildienst neuzu regeln. Wir haben es uns nicht ausgesucht, dass wiruns anderthalb Jahre lang nur mit dem Zivildienst be-schäftigt haben. Natürlich wäre es auch uns recht gewe-sen, wenn wir den Zivildienst in seiner jetzigen Formhätten erhalten können. Mit der Aussetzung der Wehr-pflicht mussten wir aber auch den Zivildienst zum 1. Juli2011 neu regeln. Wir wissen, dass die ersten anerkanntenKriegsdienstverweigerer ihren Dienst am 10. April 1961angetreten haben. Insofern ist es in diesem Jahr genau50 Jahre her, dass die ersten jungen Männer auf dieseWeise unserem Land gedient haben. Am 10. April 2011werden wir dieses Jubiläum also noch begehen, für dieZeit nach dem 1. Juli 2011 müssen wir uns aber einneues Modell überlegen.Zwar war der Zivildienst in erster Linie als Wehrer-satzdienst vorgesehen, aber er war natürlich wesentlichmehr. Dieser Dienst war nicht nur für die Gesellschafteine ungeheure Bereicherung, sondern auch für die jun-gen Männer selbst; das stellt man fest, wenn man sichmit den Zivildienstleistenden unterhält. Dieser Dienststellte aber auch eine Bereicherung für kranke Men-schen, für Menschen mit Behinderungen und für alteMenschen dar. In dieser Zeit wurden Vertrauensverhält-nisse aufgebaut, von denen viele auch in der Zeit nachdem aktiven Zivildienst fortgeführt wurden. Weil wirdiesen – ich sage das in Anführungszeichen – positiven„Nebeneffekt“ hoch schätzen, weil diese Zivildienstleis-tenden die Welt menschlicher gemacht haben, wollenwir dafür Sorge tragen, dass es auch nach dem 1. Juli2011 mit diesem Erfolgsmodell weitergeht.Wenn ich mit einem Zivildienstleistenden gesprochenhabe, hatte ich noch nie das Gefühl, dass er nach seinemZivildienst nicht glücklicher war als vorher. Schließlichsind Bindungen entstanden, und er hat fürs Leben ge-lernt. Dies ist natürlich ein Dienst für das Land – daranfinde ich überhaupt nichts verwerflich, ganz im Gegen-teil –, aber man leistet den Dienst auch für sich selbst.Man hat die Chance, in einem unbekannten Bereich Er-fahrungen zu sammeln, sich weiterzuentwickeln und dieeigene Persönlichkeit zu formen.Der Zivildienst war auch wichtig für die Stärkung desEhrenamtes. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ausdem Erleben im sozialen Bereich, zum Beispiel beim Ro-ten Kreuz oder bei den Hilfsdiensten, entwickelte sich oftein lebenslängliches Engagement. Diejenigen, die Zivil-dienst geleistet haben, haben sich in der Folge häufig vielstärker ehrenamtlich engagiert als Jugendliche, die die-sen Dienst nicht geleistet haben.Mehrfach ist gesagt worden, ein einheitlicher Dienstsei besser. Wir haben lange überlegt, ob es möglichwäre, Dienste zusammenzulegen. Das gehört zur Wahr-heitsfindung dazu. Aus finanzverfassungsrechtlichenGründen ist das aber nicht möglich, weil der Bund nureine eingeschränkte Förderkompetenz für die von denLändern verwalteten Jugendfreiwilligendienste hat. Andieser Stelle muss man auch sagen, dass die Länder nichtbereit waren – ich betone: leider –, die Verwaltung ihresErfolgsmodells künftig einfach an den Bund abzutreten.Weil das nicht möglich war, haben wir jetzt diese Lö-sung gefunden und entwickeln dieses Erfolgsmodell. Esist kein Konkurrenzmodell; das behaupten Sie. Vielmehrhaben wir ein gutes Nebeneinander entwickelt.
Sehr positiv ist – das muss man in den Mittelpunktstellen –, dass dieser Dienst nicht nur jungen Männernzur Verfügung steht, sondern Männern und Frauen glei-chermaßen. Ich sehe da überhaupt keine Benachteili-gung für Frauen, ganz im Gegenteil.
– Natürlich ist das neu. – Er ist auch nicht nur für jungeMenschen, sondern für junge und für ältere Menschen,für Männer und für Frauen. Er ist für alle Altersbereicheoffen.Wir haben in Gesprächen mit der Bundesregierung er-reicht, dass der neue Bundesfreiwilligendienst keineKonkurrenz ist; denn die Förderpauschalen werden an-gehoben. Sie werden von monatlich knapp 73 Euro auf200 Euro bzw. bei Jugendlichen mit besonderem Förder-bedarf auf 250 Euro erhöht. Die Förderung wird auf allebesetzten Plätze sämtlicher – auch der regionalen – Trägerausgeweitet. Auch das ist ein Verdienst. An dieser Stellebin ich unseren Haushältern dankbar.
Wir werden diese Dienste nebeneinanderstellen. Wirmüssen jetzt natürlich – da sind wir alle gefordert – mitden Ländern darüber sprechen, was die Länder zum Bei-spiel hinsichtlich der Anrechnung von Wartesemestern,der Anerkennung des Dienstes als Praktikum und der fi-nanziellen Ermäßigung für kulturelle Veranstaltungen, inkommunalen Einrichtungen und im öffentlichen Nahver-kehr leisten können. Vieles davon liegt nicht in derKompetenz des Bundes; das ist für uns als Bundespoliti-ker natürlich bedauerlich. Aber ich bin sicher: Wenn wiruns alle gemeinsam hinter diesen Dienst stellen, wennwir dies jetzt alle gemeinsam anpacken und versuchen,35 000 junge und auch ältere Menschen zu erreichen,wenn wir mit Begeisterung für diesen Dienst werben unddie Kommunen und die Länder mit ins Boot holen, dannwird dies tatsächlich ein Erfolgsmodell. Deswegen ladeich alle ein, hier mitzumachen. Sie sollten nicht stolzdarauf sein, dass Sie es ablehnen; das ist peinlich.
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10496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dorothee Bär
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Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal: Es ist gut, dass es hier im Haus mittler-weile einen breiten Konsens gibt, dass wir mehr aufFreiwilligkeit setzen sollten und die Pflicht zum Wehr-dienst und auch zum Zivildienst abschaffen sollten. Dasist zu loben. Da darf man ohne Umschweife sagen: Nach50 Jahren Zivildienst und Wehrpflicht ist es eine histori-sche Leistung, dass wir nun hier in diesem Hohen Hauseeinen breiten Konsens darüber haben, die Wehrpflichtabzuschaffen bzw. auszusetzen und bei der Bundeswehr,aber auch bei anderen Diensten auf Freiwilligkeit zu set-zen. Das ist in Ordnung.
Wir dürfen dies aber nicht aus dem Grund tun, dassdie Wehrgerechtigkeit nicht mehr gegeben war. Das ist jaeiner der Gründe, der immer genannt wird. Wir dürfen eserst recht nicht aus finanziellen Gründen tun und sagen:Wir haben haushaltspolitische Herausforderungen undwollen an einigen Stellen sparen. Der Wegfall des Zivil-dienstes und die Wehrdienstreform hängen natürlich engmit der Abschaffung der Wehrpflicht zusammen, und dieAnkündigung, die Wehrpflicht abzuschaffen, erfolgtegleich nach der Haushaltsklausur der Bundesregierung.Das sind falsche Gründe für die Abschaffung der Wehr-pflicht. Vielmehr gibt es grundsätzliche Erwägungen, diedagegen sprechen, Menschen für ein Jahr oder mehrereMonate zu verpflichten, einen Dienst zu tun. Das ist dereigentliche Grund, warum wir die Wehrpflicht ablehnen.So ein historischer Schnitt stellt natürlich eine großeHerausforderung an die Gesellschaft und an den Staat ansich dar. Was machen wir danach? Eben wurde von Ih-nen, Herr Bernschneider, gesagt, dass wir eine histori-sche Engagementreform auf den Weg bringen, indemwir den Bundesfreiwilligendienst einführen. Ich glaube,eine historische Engagementreform sieht ganz andersaus und besteht nicht einfach nur aus der Einführung ei-nes zusätzlichen Freiwilligendienstes. Eine historischeEngagementreform bedarf auch einer Verbesserung derRahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engage-ments insgesamt.
Ihre einzige Antwort auf den Wegfall des Zivildiens-tes ist der Bundesfreiwilligendienst.
In dem Gesetzesvorhaben, über das wir heute diskutie-ren, und auch in anderen Gesetzesvorhaben findet sichkeine weitere Maßnahme zur Stärkung des bürgerschaft-lichen Engagements. Sie verweisen natürlich auf die En-gagementstrategie. Aber auch hier muss ich darauf hinwei-sen: Das ist eine Auflistung mehrerer Projekte, die schonseit Jahren laufen; etwas Neues ist aber nicht dabei. AlsZweites wird immer erwähnt: Wir stärken auch FSJ undFÖJ. – Ja, aber am Jugendfreiwilligendienstegesetz ändernSie gar nichts. Das Einzige, was Sie getan haben, ist, dassSie angekündigt haben, die Pauschalen zu erhöhen. Mehrwird in diesem Bereich nicht getan.
Gesetzlich tun Sie an dieser Stelle nichts. Es wird nachwie vor jedes Jahr vom Haushalt abhängig sein, wie FSJund FÖJ finanziell ausgestattet sind. Das ist wirklichkeine historische Leistung.
Zu einem Gesamtkonzept, das, wie gesagt, nicht vor-liegt, würde auch gehören, dass neben der Stärkung derFreiwilligendienste – unser Vorschlag ist, lieber FSJ undFÖJ weiter zu stärken – auch darauf zu achten ist, wel-che Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Zivildienstvielleicht auch im Rahmen sozialversicherungspflichti-ger Jobs verrichtet werden können. Das versäumen Sie.
Sie wollen in Ihrem Gesetz festschreiben, dass sämtlicheZivildienstplätze einfach anerkannt werden; das soll auchfür Bundesfreiwilligendienstplätze gelten. Sie haben aberkein Programm, wie an dieser Stelle – das müssten Sie ei-gentlich gemeinsam mit Herrn Rösler tun – mehr sozialver-sicherungspflichtige Jobs entstehen können. Keine Ant-wort, kein Gesamtkonzept!Natürlich müssen wir uns auch mit dem Freiwilligen-dienstestatusgesetz beschäftigen; es ist schon angespro-chen worden. Es gibt die Ankündigung, dass wir darüberreden werden. Aber dazu liegt nichts vor. Auch das wäreBestandteil einer sogenannten historischen engagement-politischen Leistung gewesen.Man muss sich das sportliche Tempo vor Augen hal-ten. Es ist natürlich so, dass die meisten großen Ver-bände sagen: Okay, wenn der Bundesfreiwilligendienstkommt, dann beteiligen wir uns aktiv daran. – Das istauch in Ordnung. Aber waren Sie einmal vor Ort und ha-ben mit Verantwortlichen in den Einrichtungen gespro-chen? Die Einrichtungen sind total ins Schwimmen ge-kommen. Je kleiner eine Einrichtung ist, desto mehr kamsie ins Schwimmen. Sie wissen nicht, woran sie sind:erst die Verkürzung des Zivildienstes, dann die Ankündi-gung, dass der Zivildienst wegfällt, dann ein Bundesfrei-willigendienst, dann eine angebliche Stärkung des Frei-willigen Sozialen Jahres – aber nichts Konkretes, nichtsFestes. Die Einrichtungen geraten immer mehr insSchwimmen. Bis zum 1. Juli dieses Jahres soll dasGanze umgesetzt sein. Ich frage Sie, ob Sie sich daswirklich gut überlegt haben.
Meine Damen und Herren, wenn man von einer histo-rischen engagementpolitischen Leistung spricht, dannhätte man auch eine breite Debatte führen müssen, nichtnur hier im Haus, sondern vor allen Dingen mit der Zi-vilgesellschaft. Auch das haben Sie versäumt. Sie haben
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10497
Sönke Rix
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keine breite Debatte mit der Zivilgesellschaft geführt:Wie gehen wir damit um, dass der Zivildienst wegfällt?Welche Chancen ergeben sich daraus? Der Bundesfrei-willigendienst soll nicht nur ein Lückenbüßer für den Zi-vildienst sein. Wir wollen eine Gesamtlösung. Sie habenes versäumt, darüber einen Dialog mit der Zivilgesell-schaft zu führen. Das kreiden wir Ihnen natürlich an.Über Ihre angeblich großen Taten beim FSJ habe ichschon gesprochen. Es gab nur eine Pauschalerhöhung,aber keine weiteren Veränderungen im Jugendfreiwilli-gendienstegesetz.
Wo bleiben denn die weiteren Anerkennungsmöglich-keiten? Wo bleibt die wirkliche Stärkung der jungenMenschen, die diesen Dienst machen?
Dazu haben Sie nichts vorgelegt.Sie sagen immer, unsere Kritik an den Doppelstruktu-ren sei Detailkritik. Gut, vielleicht ist das ein Detail; dasmag sein. Aber ich glaube, ich habe gerade deutlich ge-macht, dass es noch viel gravierendere Probleme gibt,zum Beispiel das Fehlen eines Gesamtkonzeptes. Natür-lich sind aber auch die Doppelstrukturen ein Problem.
Sie kündigen immer wieder an: Jemand, der den Bun-desfreiwilligendienst macht, soll genauso behandelt wer-den wie jemand, der ein FSJ oder ein FÖJ macht. Das istaber nicht der Fall. Sie glauben das vielleicht manchmal.Aber ich sage Ihnen: Das ist schon bei der Kindergeld-zahlung nicht der Fall. Das zeigt sich auch bei der Aus-zahlung des Taschengeldes an die Leistenden: Die einenbekommen es vom Bund, die anderen von den Trägern,die Höhe ist variabel.
Hier gibt es keine Gleichbehandlung. Die Betroffenenwundern sich, warum jemand, der in der gleichen Ein-richtung einen Dienst macht, ein anderes Taschengeldbekommt. Diese Doppelstruktur bleibt vorhanden. Siekönnen sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Das istunser Hauptkritikpunkt, den wir nach wie vor vortragen.Hinzu kommen finanzielle Probleme. Es wird immernoch argumentiert: Das ist finanzverfassungsrechtlichproblematisch. Deshalb können wir nicht ausschließlichauf FSJ und FÖJ setzen. – Gleichzeitig kündigen Sie an,die Mittel zu erhöhen. Gleichzeitig kündigen Sie auchan, für mehr Anerkennung der Freiwilligendienstleisten-den und der Jugendfreiwilligendienste sorgen zu wollen.Aber wenn das verfassungsrechtlich bedenklich ist, wa-rum tun Sie es dann trotzdem? Wenn man Ihrer Logikfolgen würde, dann müsste man sagen: FSJ und FÖJkönnen wir gar nicht mehr durchführen, weil wir das ei-gentlich gar nicht dürfen. – Das passt einfach nicht zu-sammen.Kurz und bündig zusammengefasst: Legen Sie einGesamtkonzept vor! Der Zivildienst kann nicht einfachnur durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden,vielmehr brauchen wir ein gesamtgesellschaftlichesKonzept. Nutzen Sie die Chancen beim Wegfall des Zi-vildienstes und lösen Sie diese Doppelstrukturen auf!Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Grübel für die Unionsfrak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute Morgen haben wir über die Aussetzung der Wehr-pflicht beraten. Infolge der Aussetzung der Wehrpflichtkommt es auch zur Aussetzung des Zivildienstes. Wirantworten darauf mit dem Bundesfreiwilligendienst undmit einer Stärkung der anderen Jugendfreiwilligen-dienste. Darin steckt eine Chance, darin steckt aber aucheine große Herausforderung. Sie von der Opposition ha-ben viel kritisiert, aber keine gangbare Alternative auf-gezeigt.
Wir können positiv anmerken: Es gab noch nie soviele Möglichkeiten für Freiwillige in Deutschland, wiees künftig geben wird, und es gab noch nie so viel Geldfür Freiwillige im Bundeshaushalt, wie es künftig gebenwird. Die Frau Ministerin hat vorhin darauf hingewie-sen. Es gibt neue Einsatzbereiche: Soziales, Kultur,Sport, Ökologie, Integration, Zivil- und Katastrophen-schutz.
– Soziales und Ökologie ja, aber gab es zum Beispiel einFSJ im Bereich Integration?
– Nein, das ist neu, Sönke Rix.Das Nebeneinander wurde angesprochen: Der Bundnimmt künftig 350 Millionen Euro und die Länder neh-men 12 Millionen Euro in die Hand. Über den Europäi-schen Sozialfonds fließen 8 Millionen Euro. Vor diesemHintergrund ist es doch klar, dass der Bund die Verant-wortung behalten will. Hätten wir die Mittel an die Län-der übertragen, dann würde ich auch für die CDU-ge-führten Länder nicht meine Hand ins Feuer legen, dasssie diese 350 Millionen Euro nicht nehmen und anderewichtige Aufgaben – Polizei, Schule, Kinderbetreuung,innere Sicherheit, Hochschulen – daraus finanzierenwürden. Ich bin mir sicher, dass nur ein Bruchteil tat-sächlich bei den Einrichtungen, Trägern und Freiwilli-gen, bei den Freiwilligendiensten ankommen würde.Deshalb war dieser Weg richtig.
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10498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Markus Grübel
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Wir stärken die klassischen Jugendfreiwilligen-dienste: das FSJ, das FÖJ. Wir hatten die Anzahl derPlätze auf 25 000 gedeckelt, jetzt wollen wir 35 000,möglicherweise sogar noch mehr Plätze fördern. Früherwurden die Plätze mit 72 Euro im Monat gefördert,künftig sind es 200 Euro im Monat. 50 Euro kommennoch hinzu, wenn ein besonderer pädagogischer Betreu-ungsbedarf besteht. Es gibt das Kopplungsmodell.Zugegeben, es gibt Unterschiede beim Kindergeld,die sich aber begründen lassen. Beim Jugendfreiwilli-gendienst bleibt der Unterhaltsbedarf bei den Eltern be-stehen, deshalb wird in dieser Zeit auch Kindergeldgezahlt. Beim Bundesfreiwilligendienst werden Ta-schengeld, Unterkunft, Verpflegung, Dienstbekleidungund Sozialversicherung bezahlt. Daher entfällt der Un-terhaltsbedarf bei den Eltern, sodass kein Kindergeldausgezahlt wird. Es gibt keine Ost-West-Unterschiedebei der Taschengeldobergrenze – darauf hat die Opposi-tion früher hingewiesen.Der Bundesfreiwilligendienst ist arbeitsmarktneutral.Er darf nicht zu einem Wegfall oder einer Verdrängungvon regulärer Arbeit führen. Aber in einem positivenSinne ist er gleichzeitig auch nicht arbeitsmarktneutral:Junge Menschen erwerben soziale Kompetenz, die sie invielfältigen Berufsfeldern einsetzen. Das ist zwar nichtarbeitsmarktneutral, aber gut. Auch die Berufswahl wirdbeeinflusst. Menschen kommen in Berufsfelder, die siesich vorher kaum vorstellen konnten. Durch den Freiwil-ligendienst sind sie plötzlich an Pflegeberufen und vie-len anderen sozialen Berufen interessiert. Mehr Männerkommen in klassische Frauenberufe. Zum Beispiel kom-men auch mehr junge Menschen in die Pflege, was dortgut tut. So betrachtet ist der Bundesfreiwilligendienst inder Tat nicht arbeitsmarktneutral, aber diese Auswirkun-gen sind trotzdem sehr positiv.Es gibt keine Umsatzsteuerpflicht beim Leistungsaus-tausch zwischen Bund und Einsatzstellen. Auch das istimmer wieder angesprochen worden. Der Bundesfrei-willigendienst ist ein Lerndienst; ich verweise auf dieSeminarangebote und die pädagogische Begleitung. Wirwollen einen „Bundesfreiwilligendienst plus“ ermögli-chen, der zwei Jahre dauert: Wir wollen eine Verknüp-fung des Bundesfreiwilligendienstes mit einem Schulab-schluss, einen Bundesfreiwilligendienst, ein FreiwilligesSoziales Jahr plus Realschulabschluss für diejenigen, dieihn nicht auf dem ersten Bildungsweg gemacht haben.Wir arbeiten an einem Freiwilligendienstestatusge-setz, das wir noch in dieser Wahlperiode verabschiedenwollen. Diese Arbeit machen wir gründlich. Sie sagenbeim Freiwilligendienstestatusgesetz, es sollte schnellergehen; husch, husch! Andererseits beklagen Sie, das eszu schnell geht. So richtig recht kann man es euch auchnicht machen.
Gute Informationen und Werbung für diesen Freiwil-ligendienst sind jetzt in der Tat wichtig. Es ist eine großeHerausforderung, 35 000 überwiegend junge Menschenfür ein Jahr Freiwilligenarbeit zu begeistern. Ab Maiwird es Informations- und Werbekampagnen dazu ge-ben. Die Information der Einsatzstellen findet ja schonjetzt statt. Neu ist: Auch die über 27-Jährigen sind ange-sprochen. Der Bundesfreiwilligendienst soll auch für er-wachsene und ältere Menschen gelten – 20 Stunden dieWoche.Künftig sparen wir auch Ressourcen. Wir sparen zumBeispiel beim Bundesamt für den Zivildienst. Von früher1 000 Stellen wird nur ein Teil für den Bundesfreiwilli-gendienst gebraucht. Auch im Bereich der Kreiswehrer-satzämter können wir sparen. Deren Anzahl wird von52 auf 20 reduziert. Insgesamt heißt das, dass 6 000 Mit-arbeiter der Bundesverwaltung umgesetzt werden müs-sen. Auch hier tut sich also etwas.Ich fasse zusammen. Wir schaffen einen deutlich bes-seren Rahmen für die Freiwilligenarbeit in Deutschland,und ich fordere alle auf, auch die Opposition, sich hiernicht zu verweigern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir reden über den neuen Bundesfreiwilligendienst,aber auch über einen deutlichen Ausbau der Jugendfrei-willigendienste. Herr Kollege Rix, das hätten Sie ge-merkt, wenn Sie unseren Antrag ein bisschen ausführli-cher studiert hätten.
Ich glaube, das muss man an dieser Stelle sagen;
denn das, was wir hier machen – vielleicht ist Ihnen auchdas noch nicht bewusst –, geht nicht nur weit über dashinaus, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben ha-ben,
sondern auch weit über das hinaus, was Sie in den letz-ten Jahren zu diesem Thema formuliert haben.
Wir machen hier etwas, was Sie sich in der Vergangen-heit in Ihren kühnsten Träumen nicht haben vorstellenkönnen; das muss man deutlich sagen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10499
Dr. Peter Tauber
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An dieser Stelle beziehen wir uns natürlich auf dieAussetzung der Wehrpflicht. Deswegen darf ich hier ei-nige Sätze dazu sagen: Wir setzen die Wehrpflicht aus si-cherheitspolitischen Gründen aus. Für uns als Union wa-ren die Wehrpflicht und der Zivildienst immer auchAusdruck unserer Überzeugung als Bürgerinnen undBürger, dass unser Gemeinwesen nur funktioniert, wennalle bereit sind, mehr zu tun, als nur Steuern zu zahlenund wählen zu gehen. Dieses Symbol, das die Wehr-pflicht und der Zivildienst darstellten, entfällt nun.Ich glaube, es ist gut, dass wir etwas Neues schaffen,um jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, in unse-rem Land Verantwortung für unsere Gesellschaft zuübernehmen. Genau das machen wir durch den Bundes-freiwilligendienst. Die Länder alleine – das ist deutlichgeworden – können das gar nicht leisten. Deswegen istes gut, dass wir einen Großteil der Mittel, die wir bisherfür den Zivildienst aufgewendet haben, künftig für denBundesfreiwilligendienst zur Verfügung stellen.
Ich glaube, dass das auch deswegen richtig ist, weil– das wird durch die Zahlen deutlich – 90 Prozent derje-nigen, die derzeit freiwillig dienen – in welcher Formauch immer, ob im FSJ oder im FÖJ –, danach zu derÜberzeugung kommen, dass es sich lohnt, sich in dieserGesellschaft ehrenamtlich zu engagieren. Ein übergroßerTeil sagt, sie wollen dieses Engagement, in welcherForm auch immer, fortsetzen.Deswegen wollen wir an sehr vielen Stellen neueMöglichkeiten dafür schaffen, dass junge Menschen sichausprobieren und mit ihren Fähigkeiten, Neigungen undInteressen im Bereich der Integration, des Sports oderauch der Kultur und eben nicht nur im sozialen Bereich,auf den wir die Debatte in den letzten Minuten aus mei-ner Sicht zu sehr verengt haben, einbringen. Wir schaf-fen dafür die Rahmenbedingungen. Wir geben so vielGeld für die Freiwilligendienste wie noch nie aus: fürden neuen Bundesfreiwilligendienst, aber auch für diebestehenden Strukturen.Wir schaffen in diesem Modell zwei stabile Säulen.Wir lösen die Konkurrenz, von der Sie dauernd reden,auf. Wenn Sie die Diskussion wirklich verfolgt haben,dann wissen Sie, dass es am Anfang eine unheimlichgroße Skepsis bei Trägern und Einrichtungen darübergab, wie das funktionieren wird. Wenn Sie die letztenStellungnahmen gelesen haben, dann wissen Sie auch,dass die Vorbehalte zum Teil gänzlich verschwunden,zum Teil deutlich leiser geworden sind.
Über die Stellen, wo es noch hakt, werden wir in dennächsten Jahren weiter reden müssen. Denn wir schaffenhier ja etwas fundamental Neues. Es hätte Ihnen gut an-gestanden, mitzumachen, statt danebenzustehen und nurzu meckern. Diese Chance haben Sie eben gerade ver-passt.
Ich persönlich finde es schade, weil wir auch in denBerichterstattergesprächen gemerkt haben, dass wir insehr vielen Punkten eigentlich in dieselbe Richtung ge-hen wollen. Dort haben Sie Ihre Bedenken auch nicht solaut vorgetragen wie eben. Vielleicht liegt es an der Öf-fentlichkeit und an der Kulisse hier; das weiß ich nichtgenau.
Es bleibt dabei: Wir haben noch nie so viel Geld fürFreiwilligendienste zur Verfügung gestellt. Wir habendie Begrenzung bei der Förderung der Plätze aufgeho-ben. Länder und Kommunen sind aufgefordert, ihr Enga-gement ebenfalls fortzusetzen und weiter zu steigern,statt sich zurückzuziehen. Wir erweitern die Einsatzbe-reiche und kommen damit den Interessen und Fähigkei-ten der jungen Menschen viel weiter entgegen.Wir wollen eine attraktive Werbekampagne machen,um aufzuzeigen, welche Möglichkeiten junge Menschenkünftig haben. Wir wollen auch eine andere Anerken-nungskultur, die deutlich über das hinausgeht, was esbisher gibt.Sie wissen, dass wir das nicht alleine in diesem Ho-hen Hause entscheiden können, sondern dass wir mitvielen reden müssen. Ich bin der Ministerin dankbar,dass sie schon entsprechende Gespräche geführt hat.
Das wird eine Daueraufgabe bleiben, weil wir ständigfragen müssen, welche Zertifizierung, Anerkennung undQualifizierung jemand aus seinem Einsatzbereich mit-nehmen kann. Das muss ihm für seinen weiteren Le-bensweg bescheinigt werden.Das ist nicht allein in unseren Gremien und in derDiskussion zu erreichen. Wir müssen mit Einsatzstellen,Trägern, Ländern und Kommunen reden.
Dazu haben Sie nach wie vor die Möglichkeit. Ich würdemich freuen, wenn Sie mitmachen.Frau Kollegin Dittrich, ich habe mir lange überlegt,ob ich auf Ihre Rede eingehen soll,
auch weil Sie wieder dieselbe Platte aufgelegt haben wieimmer. Ich habe daran gedacht, das vorzulesen, was diejunge Frau aus den neuen Bundesländern, über die Sieausführlich gesprochen haben, nach Ihrer Rede auf mei-nem Facebook-Profil gepostet hat. Ich lese es aber nichtvor, weil ich dann für die Formulierung der jungen Frauzu Recht einen Ordnungsruf der Präsidentin bekommenwürde. Sie können es aber nachlesen. Ich glaube, dashilft Ihnen ein bisschen.Ansonsten bleibt es dabei: Es ist richtig, junge Men-schen für ein Engagement für unser Land zu begeistern.
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Dr. Peter Tauber
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„Tu was für dein Land! Tu was für dich!“ ist die richtigeBotschaft. Vielleicht bekommen Sie noch die Kurve undmachen mit. Sonst machen wir das in der christlich-libe-ralen Koalition, und es wird gut.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4803, 17/4692 und 17/4845 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Missbrauch der Leiharbeit verhindern
– Drucksachen 17/4189, 17/4756 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Beate Müller-Gemmeke
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsge-
setzes – Verhinderung von Missbrauch der Ar-
beitnehmerüberlassung
– Drucksache 17/4804 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur strikten Regulierung der Arbeitnehmer-
überlassung
– Drucksache 17/3752 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Verabredet wurde, hierzu eine Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf einesErsten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetzes vor. Ich möchte einige Bemerkungen zuden wesentlichen Inhalten machen.Der Gesetzentwurf enthält Regelungen, in denen dieVorgaben der sogenannten europäischen Leiharbeits-richtlinie umgesetzt werden. Es war das erklärte Ziel derMinister Müntefering und Scholz bei den Beratungenüber diese Richtlinie, den Kernbestand der deutschenRegelungen zur Zeitarbeit bzw. zur Arbeitnehmerüber-lassung auch durch die Richtlinie unangetastet zu lassen.Dieses von der Großen Koalition insgesamt getrageneVorhaben ist erfolgreich abgeschlossen worden. Das,was an Umsetzungsbedarf in nationales Recht gleich-wohl besteht, wird mit diesem Gesetzentwurf geregelt.Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf eine Regelungvor, die vermeidet, dass die Zeitarbeit als Drehtür zurAbsenkung von Arbeitsbedingungen missbraucht wird.Nachdem ein eklatanter Fall von Missbrauch im letztenJahr öffentlich geworden ist,
hat die Bundesregierung sehr sorgfältig geprüft, welchergesetzliche Änderungsbedarf besteht angesichts des Um-standes, dass dankenswerterweise die Tarifvertragspar-teien auf die Situation reagiert und in den Tarifverträgenentsprechende Änderungen vorgesehen haben. Die Bun-desregierung ist nach sorgfältiger Überprüfung zu demErgebnis gekommen, dass gleichwohl ergänzender ge-setzlicher Handlungsbedarf besteht; denn es geht hierum Fälle, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern gekündigt wurde, um sie dann als Zeitarbeitneh-mer in ihrem ehemaligen Unternehmen zu schlechterenBedingungen wieder zu beschäftigen. Ich sage für dieBundesregierung ganz klar: Wer Zeitarbeit in dieserForm zur Lohndrückerei missbraucht, der diskreditiertund missbraucht ein gutes Instrument der Arbeitsmarkt-politik.
Das ist mit der Bundesregierung nicht zu machen.
Die Zeitarbeit hat in den letzten Jahren einen wichti-gen Beitrag dazu geleistet, den Arbeitskräftebedarf vonUnternehmen flexibel zu decken,
Beschäftigungspotenziale in den Unternehmen zu er-schließen und Wirtschaftswachstum schneller in mehrBeschäftigung umzusetzen. Man darf nie vergessen, dassZeitarbeit gerade Geringqualifizierten und Langzeitar-beitslosen eine Chance auf Beschäftigung bietet. Etwazwei Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerwaren unmittelbar vor ihrer Beschäftigung in der Zeitar-
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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beit nicht beschäftigt. Ein Drittel der Zeitarbeitskräftehat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das heißt,das Instrument bietet Chancen; die wollen wir nutzen.Missbrauch gilt es mit aller Schärfe zu verhindern.
Die positiven Beschäftigungseffekte werden auchdurch den aktuellen Boom in der Zeitarbeitsbranche be-legt. Der bereits seit April 2009 zu verzeichnende An-stieg der Zahl der Zeitarbeitnehmer hat sich auch im Jahr2010 fortgesetzt. Gleichwohl dürfen wir nicht vergessen,über welche Dimensionen wir reden. Ende Juni 2010 lagder Anteil der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitneh-mer an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigtenbei 2,6 Prozent. Unter den offenen Stellen ist der Anteilder Zeitarbeit deutlich größer; da liegt er bei knapp ei-nem Drittel. Das heißt zweierlei: Die Zeitarbeit spieltnicht die überragende Rolle bei der Schaffung von Ar-beitsplätzen. Arbeitsplätze werden nicht überwiegend inder Zeitarbeit geschaffen. Aber gleichzeitig reden wirüber ein Segment, das so groß ist, dass man sehr behut-sam über Änderungen reden und sie so justieren sollte,dass die Menschen faire Arbeitsbedingungen haben,dass aber die Zeitarbeit als Jobmotor nicht abgewürgtwird. Genau das ist es, worum es uns mit diesem Gesetzgeht.
Ich bin froh, dass es gelungen ist, auch im Rahmendes Vermittlungsverfahrens zum Sozialgesetzbuch II ge-meinsam mit der sozialdemokratischen Opposition zuVereinbarungen zu kommen, genauso wie beim Arbeit-nehmerüberlassungsgesetz, dessen Regelungen betref-fend die Löhne geändert werden sollen. In diesem Fallhilft sozusagen das Hartz-IV-Vermittlungsverfahren, umFehler zu korrigieren, die damals die Regierung Schrö-der bei Hartz I gegen die Stimmen der Opposition
gemacht hat.
Ich stelle fest, dass diese Regelungen seinerzeit gegendie Stimmen der damaligen Opposition beschlossenworden sind.
Es bedurfte bei diesem nicht zustimmungspflichtigenGesetz nicht der Zustimmung der Opposition. – Ichstelle fest: Der Kollege Heil bezeichnet das als Lüge. Esist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten. Ich rede hierüber Tatsachen.
Wenn wir über Hartz IV reden, Herr Kollege:
Das war ein zustimmungspflichtiges Gesetz.
Es hat auch die Zustimmung des Bundesrates gefunden,die Regelung zur Arbeitnehmerüberlassung nicht; daswar ein anderes Gesetz.
Ich bitte Sie, das noch einmal zu prüfen, damit wir beider Wahrheit bleiben.
Ich finde es gleichwohl wichtig, dass wir uns geradeim Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit den Her-ausforderungen stellen, die dort bestehen. Arbeitnehmer-freizügigkeit ist richtig. Es ist ein selbstverständlicherBestandteil eines freien Europas, dass Menschen in ei-nem anderen Land nicht nur Urlaub machen können,sondern auch arbeiten dürfen.Arbeitnehmerfreizügigkeit darf aber nicht für Lohn-drückerei missbraucht werden. Darum geht es uns.
Deswegen ist es wichtig, dass wir auch im Hinblick aufdie uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit in derEuropäischen Union für die sensible Branche der Zeitar-beit zu Regelungen kommen, durch die eine Lohnunter-grenze festgelegt ist. Diese Lohnuntergrenze gilt dannauch für all diejenigen, die zu uns kommen und in derZeitarbeitsbranche tätig sein wollen. Es ist gut, dass imRahmen des angesprochenen Vermittlungsverfahrenshierüber ein Konsens erzielt worden ist. Wir wollen eineLohnuntergrenze in der Zeitarbeit, die tariflich verein-bart ist und die für alle in der Zeitarbeit Beschäftigten imInland und im Ausland gilt.Ich bin dankbar, dass die Koalitionsfraktionen Ent-sprechendes im Zuge des weiteren Gesetzgebungsver-fahrens einbringen wollen. Ich habe die SPD bisher soverstanden, dass sie dabei mitmachen will. Ich hoffe,dass das keine unzutreffende Einschätzung ist. Ich findenämlich, es ist wichtig, dass wir gemeinsam dafür sor-gen,
dass die Zeitarbeit denjenigen Menschen Chancen gibt,die sie brauchen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen,
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dass die Menschen, die in der Zeitarbeitsbranche tätigsind, fair bezahlt werden, dass es dort faire Löhne undfaire Arbeitsbedingungen gibt.
Es muss dort gute Aufstiegschancen geben. Dazu leistenwir auch mit diesem Gesetzentwurf einen Beitrag.Herzlichen Dank.
Hubertus Heil hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Brauksiepe, wissen Sie, warum Olaf Scholz amSonntag in Hamburg gewonnen hat?
Dafür, dass er die absolute Mehrheit geholt hat, gibt esviele gute Gründe. Der Hauptgrund ist, dass er glaub-würdig – das ist der Unterschied zu Ihnen – dafür einge-standen ist, dass man wirtschaftlichen Erfolg nicht gegensoziale Gerechtigkeit ausspielen darf.
Gleiches muss für die Zeit- und Leiharbeitsbranche gel-ten.Zeit- und Leiharbeit können – so war es gemeint, alsdas Arbeitnehmerüberlassungsgesetz novelliert wurde –ein wirtschaftlich vernünftiges Instrument zur Abde-ckung von Auftragsspitzen in Unternehmen sein. HerrStaatssekretär, trotz vieler warmer Worte sage ich Ihnen:Wir dürfen nicht zulassen, dass Zeit- und Leiharbeit wei-terhin das größte Scheunentor für Lohndumping inDeutschland sind. Sie tun bisher nichts dagegen.
Zur Wahrheit gehört, dass wir Ihnen in den Verhand-lungen einen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeits-branche abringen mussten. Da verbiegen Sie hier dieWahrheit. Das, was Sie in den Verhandlungen angebotenhaben, haben wir nicht zugelassen; wir haben vielmehretwas anderes durchgesetzt. Sie wollten nicht einmal ei-nen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeitsbranche.Sie wollten, dass es einen Mindestlohn in dieser Branchenur in der verleihfreien Zeit gibt.Sie haben uns dann angeboten, dass man einen soge-nannten Referenzlohn für die Einsatzzeit bildet, von demnach unten abgewichen werden könnte. Zu Deutsch:Diese Koalition, bestehend unter anderem aus HerrnKolb, der Frau von der Leyen in Geiselhaft genommenhat, wollte, dass Leiharbeitnehmer, wenn sie nicht arbei-ten, möglicherweise mehr Geld bekommen, als wenn siearbeiten. Das ist leistungsfeindlich; das ist schwachsin-nig. Deshalb haben wir gegen Ihren Widerstand im Vor-feld des 1. Mai einen gesetzlichen Mindestlohn im Ar-beitnehmerüberlassungsgesetz für die Zeit- und Leih-arbeitsbranche durchgesetzt, der nicht abgesenkt werdenkann. Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt, nichtSie!
Jetzt haben Sie eine „Lex Schlecker“ vorgelegt. Wirwerden sie benutzen, um den Mindestlohn vor dem1. Mai durchzusetzen; so viel Zustimmung ist da. Aberam wesentlichen Punkt, nämlich an dem Grundsatz„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Stamm- undLeihbelegschaften“, geht diese Koalition kalt vorbei.Ich habe am späten gestrigen Abend ferngesehen: dasNachtmagazin in der ARD.
– Nein, bei denen darf man nicht schlafen. Da muss manaufpassen, Fritz Kuhn. Das weißt du auch. Wir habenwenig Zeit gehabt zum Schlafen. Wir haben gearbeitetund gemeinsam in diesem Bereich viel erreicht. – In die-ser Sendung wurde ein Bericht über eine Stamm- undeine Leihbelegschaft gezeigt. Es wurde sehr eindrucks-voll beschrieben, wie sich zwei Kollegen, die dieselbeQualifikation haben und dieselbe Tätigkeit ausüben– der eine gehört zur Stammbelegschaft, der andere zurLeihbelegschaft –, fühlen. Der Verdienstunterschiedliegt bei 900 Euro. Mit anderen Worten: Der Arbeitneh-mer der Stammbelegschaft bekommt 900 Euro mehr alsder Leiharbeitnehmer, obwohl sie dieselbe Tätigkeit aus-üben und dieselbe Qualifikation haben. Der Zeitarbeit-nehmer hat im Übrigen auch weniger Urlaub. Der einefühlt sich entwürdigt, weil er für die gleiche Leistungnicht den gleichen Lohn bekommt. Der andere, der Kol-lege aus der Stammbelegschaft, sagt: Ich habe Angst,dass ich demnächst durch Zeit- und Leiharbeiter ersetztwerde. Das ist die Realität in Deutschland.
Wir haben in diesen Verhandlungen gesagt: Wir wol-len gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dann hat die FDPgesagt: nach neun Monaten. – Dazu muss man wissen,dass 30 Prozent der Leih- und Zeitarbeitnehmer wenigerals drei Monate arbeiten. Die FDP, die CDU und dieBundesministerin wollten dann, dass nach neun Mona-ten gar nicht Equal Pay – gleicher Lohn für gleiche Ar-beit – gilt, sondern sie wollten das umdefinieren und dieZuschläge, die vor allen Dingen in der Industrie 30 Pro-zent der Lohnbestandteile ausmachen, herunterdrücken.Herr Brauksiepe, ich weiß nicht, welchen Einfluss Sieals Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales tatsächlich haben,
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Hubertus Heil
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aber Sachkenntnis gibt es in Ihrem Ministerium. DieWahrheit ist: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter IhresHauses kennen die Situation offensichtlich besser alsFrau von der Leyen und Sie. Das ist der Skandal: DasBundesministerium für Arbeit und Soziales ist im Be-reich des Missbrauchs der Zeit- und Leiharbeit imwahrsten Sinne des Wortes kopflos. Das ist eineSchande!
Die gute Nachricht ist, dass wir in den Verhandlungenmit Ihnen für 1,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, darunter 900 000 Beschäftigte in der Zeit-und Leiharbeit, einen Mindestlohn durchgesetzt haben.Das ist gut, das ist wichtig, und das ist richtig. Genausorichtig und gut ist, dass wir uns beim Thema Equal Paynicht auf einen faulen Kompromiss einlassen. Die deut-sche Sozialdemokratie wird nicht eher ruhen, als bis wirden Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ fürdie Menschen in Deutschland durchgesetzt haben, undzwar für Männer und Frauen, auch in der Zeit- und Leih-arbeit.
Ich will Ihnen sagen, warum ich das nicht nur für so-zial geboten halte: Es stört den Betriebsfrieden, wennKollegen unterschiedlich behandelt werden, obwohl siedas Gleiche leisten. Das ist leistungsfeindlich.Auch wirtschaftspolitisch ist es vernünftig, dass wirdie Zeit- und Leiharbeit auf das konzentrieren, was öko-nomisch gemeint ist, nämlich um Auftragsspitzen in Un-ternehmen abzudecken, aber nicht, um Lohndumping zuermöglichen. Das ist auch aus Gründen der finanzpoliti-schen Solidität des Haushalts notwendig.Vor allen Dingen in der Zeit- und Leiharbeit gibt esimmer mehr Menschen, die Vollzeit arbeiten, die jedenTag schuften, die morgens in die Fabrik gehen, die sichanstrengen und mühen, aber die sich dann, weil es zumLeben nicht reicht, ergänzendes Arbeitslosengeld II vomAmt abholen müssen. Das verantwortet die schwarz-gelbe Koalition. Wir werden darum kämpfen, das zu än-dern. Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Ich sage Ihnen noch etwas: Ein fauler Kompromiss,der so tut, als würde er das Problem des Missbrauchsvon Zeit- und Leiharbeit in Deutschland bekämpfen, istmit uns nicht zu machen. Sie haben sich seit Jahren ge-gen die Einführung von Mindestlöhnen gewehrt. Wir ha-ben die Mindestlöhne Branche für Branche gegen denschwarz-gelben Widerstand durchkämpfen müssen. Wirsind jetzt in drei Branchen zum ersten Mal einen großenSchritt vorangekommen.Wir werden Sie treiben, und wir werden nicht ruhen,bis Equal Pay auch für die Zeit- und Leiharbeit durchge-setzt wird. Da wird es kein Gepfusche an dem Begriffgeben, was „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ meint. Indieser Hinsicht ist das Arbeitnehmerüberlassungsgesetzin seiner Definition des § 3 ziemlich klar. Darin steht:„… wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich desArbeitsentgelts“. Das ist übrigens auch das, was in derRichtlinie steht. Sie versuchen, da herumzudoktern undso zu tun, als ginge es nur um den Stundenlohn und nichtum die Zuschläge, die es in der Industrie gibt.Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor in der Hoff-nung, dass wir in den Verhandlungen zu Ihrem vorlie-genden Gesetzentwurf auch im Bereich Equal Pay nochzu Fortschritten kommen. Ich bin mir da nicht ganz si-cher, weil wir erleben müssen, dass die FDP in der Sozi-alpolitik Frau von der Leyen offensichtlich an der Leineführt.
Das ist nicht gut für Deutschland, aber in diesem Bereichist es offensichtlich so.Ich sage Ihnen: Wir wollen gleichen Lohn für gleicheArbeit. Wir brauchen einen Mindestlohn, den wir schongegen Sie durchgesetzt haben. Wir brauchen ein Syn-chronisationsverbot, um Drehtüreffekte zu vermeiden,und zwar nicht nur bei Schlecker.Herr Brauksiepe, es ist sowieso ein Ding der Unmög-lichkeit, dass Frau von der Leyen erst jetzt – sie ist fastanderthalb Jahre im Amt – beim Thema Schlecker ge-merkt hat, dass es einen Missbrauch von Zeit- und Leih-arbeit gibt. So viel Ignoranz gegenüber den hart arbei-tenden Menschen in Deutschland ist nicht zu akzep-tieren.
Herr Kollege!
Deshalb werden wir kämpfen und dafür sorgen, dass
dieses Gesetz im Interesse der arbeitenden Menschen
besser wird.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Thema Zeitarbeit wird in der letzten Zeit sehr häufigdiskutiert. Herr Kollege Heil, Sie haben heute eine Redenach altem Muster gehalten. Ich glaube, es ist jetzt aberan der Zeit, verbal abzurüsten. Wenn wir morgen in Bun-destag und Bundesrat die Beschlüsse zu Hartz IV fassenund anschließend im Arbeitnehmerüberlassungsgesetzdas normieren, was wir in den Verhandlungen im Ver-mittlungsausschuss gemeinsam verabredet haben, dannhaben wir einen Rahmen für die Zeitarbeit in Deutsch-
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10504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dr. Heinrich L. Kolb
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land geschaffen, der zum einen Missbrauch verhindertund der zum anderen dieses Instrument auch in Zukunfteinsatzfähig erhält. Das ist uns wichtig, und das ist auchrichtig so.
Herr Heil, wir wollen Zeitarbeit. Sie ist für uns einwichtiges und gutes arbeitsmarktpolitisches Instrument.Wir wollen, dass Zeitarbeit möglich ist, weil mit ihr eineIntegrationsleistung erbracht wird und weil sie vielen zu-vor arbeitslosen Menschen, auch Langzeitarbeitslosen,dazu verholfen hat, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzu-kehren. Dieses Instrument wollen wir uns nicht kaputt-machen lassen. Deswegen haben die FDP und die Unionin den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss auch sohart gekämpft.
Wir wollen gleichwohl, dass Missbrauch verhindertwird. – Der Kollege Gabriel möchte eine Zwischenfragestellen.
Und Sie möchten die gerne zulassen, Herr Kolb?
Ja, sicher. Ich bin schon ganz wild darauf.
Vielen Dank, dass Sie sozusagen als Leiharbeiter
meine Arbeit übernommen haben.
Herr Gabriel, bitte.
Ich möchte Sie fragen, ob es zutrifft, dass Sie uns in
den nächtlichen Verhandlungen am 20. Februar ungefähr
drei Stunden lang Ihre Version von Equal Pay wie folgt
erklärt haben: Gleichen Lohn für gleiche Arbeit für
Leiharbeitnehmer und Festangestellte soll es sofort ge-
ben – so war Ihre Vorstellung –, wenn der Lohn geringer
ist als im Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche. Wenn der
Lohn höher ist als der in der Zeitarbeitsbranche, soll das
Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ allerdings
erst nach neun Monaten gelten. Ich würde gerne von Ih-
nen wissen, ob Sie diese Position, die Sie uns stunden-
lang weismachen wollten, immer noch aufrechterhalten.
Herr Kollege Gabriel, Sie wissen, dass wir uns auf ei-nen Kompromiss verständigt haben. Wir stehen zu die-sem Kompromiss. Ich will aber gerne, weil Sie gefragthaben, die Gelegenheit nutzen, noch einmal deutlich zumachen, worum es uns eigentlich geht.
– Das will ich doch. – Es ist ja nicht so, wie Sie behaup-ten, dass der Mindestlohn in diesem Bereich etwasNeues wäre. Es ist vielmehr so, dass es schon heute für98 Prozent der Zeitarbeiter einen tariflichen Mindest-lohn sowohl für die Verleihzeit als auch für die verleih-freien Zeiten gibt. Der tarifliche Mindestlohn gilt vomersten Tag an, ganz gleich, ob die Zeitarbeiter ausgelie-hen sind oder nicht.
– Ich beantworte doch gerade die Frage. – Herr Gabriel,Sie können bestätigen, dass ich in den Verhandlungenimmer darauf hingewiesen habe, dass nach der Logikdes Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Equal Pay danngilt,
wenn nicht durch einen Tarifvertrag davon abgewichenwird. Es ging um die Frage: Soll es in Unternehmen, dienicht tarifgebunden sind
– das ist der Punkt; Herr Gabriel bestätigt es mir –, mög-lich sein, dass ein Tariflohn der Einsatzbranche gezahltwerden kann, der unter der Lohnuntergrenze der Zeitar-beit liegt?
– Dafür waren wir.
Wir haben aber auch festgestellt: Die praktische Rele-vanz dieses Bypasses – wenn ich das einmal so sagendarf – ist nicht sonderlich hoch. Das ist eine ordnungspo-litische Grundsatzfrage. Wir haben in den Verhandlun-gen am Ende deutlich gemacht, dass wir einen wichtigenKompromiss, den wir im Bereich Hartz IV anstreben,nicht an dieser Frage scheitern lassen werden.Noch einmal: Entscheidend war, dass wir heute schonpraktisch flächendeckend einen Mindestlohn für deutscheZeitarbeiter haben. Deswegen ist es falsch, wenn der Kol-lege Heil sagt, dass wir für 1,2 Millionen Menschen neueMindestlöhne schaffen würden. Das kann man so nicht sa-gen, weil es für 900 000 Zeitarbeiter schon einen Mindest-lohn gibt. Dazu kommen 20 000 Menschen aus dem Be-reich der Aus- und Weiterbildung sowie 170 000 Menschenaus dem Bereich des Wach- und Sicherheitsgewerbes;das ergibt für mich 190 000.Es stellt sich aber die Frage, was im Zuge der Freizü-gigkeit nach dem 1. Mai dieses Jahres mit den Zeitarbei-tern passiert, die aus dem Ausland nach Deutschlandkommen. Welchen Lohn werden diese Menschen be-kommen? Da ist jetzt über diese Lohnuntergrenze, dieeine absolute sein soll, sichergestellt, dass ein bestimm-ter Lohn nicht unterschritten werden kann. Auch polni-sche, lettische, litauische Zeitarbeiter werden nach dem1. Mai, wenn sie nach Deutschland kommen, mit Löh-nen, die mindestens dieser Lohnuntergrenze entspre-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10505
Dr. Heinrich L. Kolb
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chen, bedient werden. Diese Verabredung haben wir ge-meinsam getroffen. Dazu stehen wir auch.Damit will ich zu einem zweiten Thema kommen,Herr Kollege Heil: Equal Pay. Nachdem ein großes deut-sches Einzelhandelsunternehmen Anfang letzten Jahresdamit angefangen hatte, die Stammbelegschaft zu entlas-sen und sie als Zeitarbeiter zurückzuholen, haben Kol-lege Schiewerling und ich gleichlautend, am selben Tagund unabgesprochen – da sind wir uns sehr einig – ge-sagt: Das machen wir nicht mit. Diese Drehtür werdenwir relativ schnell wieder schließen. – Die Tarifpartnerhaben das dann sogar selbst getan, was ich gut finde.Darüber hinaus hat die FDP auch früh, nämlich im Früh-sommer letzten Jahres, gesagt: Weil es für die deutschenZeitarbeiter ja längst einen Mindestlohn gibt, ist die vielwichtigere Frage die nach dem Equal Pay. – An dieserStelle würde ich gerne eine Zwischenfrage des KollegenHeil zulassen, Frau Präsidentin, wenn es geht.
Ich unterbreche Sie so ungerne im Redefluss, Herr
Kolb. Deshalb wollte ich warten, bis Sie Luft holen.
Bitte schön, Herr Heil.
Lieber Kollege Kolb, nachdem Sie Sigmar Gabriel
bestätigt haben, dass Sie unter Mindestlohn einen Lohn
verstehen, von dem man noch nach unten abweichen
kann, hätte ich eine Frage zu dem Thema, was Sie unter
Equal Pay verstehen.
Entspricht es den Tatsachen – ich kenne Sie als einen
wahrhaftigen Menschen,
der zu seiner Überzeugung steht, auch wenn sie nicht
meine ist –, dass Sie erstens versucht haben, den Equal-
Pay-Begriff, worunter wir weitgehend gleiche Arbeits-
bedingungen inklusive gleiches Entgelt verstehen, wie
es jetzt auch im AÜG steht, umzudefinieren, und zwei-
tens nicht bereit waren, Equal Pay vor einer Einarbei-
tungszeit von mindestens neun Monaten zuzulassen?
Auf Deutsch: Sie wollten, dass es neun Monate lang kei-
nen gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt und nach den
neun Monaten auch keinen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit. Wir reden ja hier vom Gehalt der Stammbeleg-
schaften im Vergleich zu Leihbelegschaften. Entspricht
es den Tatsachen, dass Sie im Gespräch mit mir und der
SPD in den Verhandlungen gesagt haben: „Man muss
den Equal-Pay-Begriff ändern, und erst nach neun Mo-
naten sollen die Menschen gleichen Lohn für gleiche Ar-
beit bekommen“? Ja oder nein? Das ist eine Ja-oder-
Nein-Frage.
Das kann man ein bisschen ausführlicher beantwor-
ten.
Nein, das ist eine einfache Frage.
Sie stellen die Fragen, ich liefere die Antworten. Ichbin der Meinung, dass man darauf etwas ausführlicherantworten muss, und ich will es gerne tun.Ich will zunächst darauf hinweisen, dass die FDP,wenn ich mich recht erinnere, als eine der ersten Fraktio-nen in diesem Hause im Frühsommer letzten Jahres ge-sagt hat: Es geht nicht in erster Linie um Mindestlohn,sondern um Equal Pay, also um die Heranführung derEntlohnung der Zeitarbeiter an die der Stammbelegschaf-ten. Das war uns wichtig. Wir haben aber auch immer ge-sagt: Diese Heranführung muss auf der Zeitschiene erfol-gen. Das ist der eine Teil Ihrer Frage gewesen.Equal Pay ab dem ersten Tag, was Sie nachdrücklichund massiv gefordert haben, wäre aus unserer Sicht dasEnde der Zeitarbeit in Deutschland.
– Nein, Herr Heil. Wenn Sie hier schon aus den Verhand-lungen des Vermittlungsausschusses und seiner Arbeits-gruppen berichten,
dann muss man hier auch sehr deutlich darauf hinwei-sen, dass Sie in einer Sitzung unmissverständlich gesagthaben: Wir wollen Equal Pay ab dem ersten Tag.
Sie haben hinzugefügt: Wenn wir das nicht bekommen,machen wir überhaupt keinen Abschluss.
Am Ende haben wir trotzdem einen Abschluss hinbe-kommen, was ich auch richtig finde.Sie haben sich bewegt, wir haben uns bewegt, und wirsind am Ende trotzdem nicht zusammengekommen, HerrHeil. Das bedaure ich, weil es schöner gewesen wäre,wenn man nach außen hin hätte signalisieren können:
Politik ist sich in diesem Bereich einig.Wir haben immer gesagt: Equal Pay, also gleiche Ent-lohnung für Stammbelegschaften und Zeitarbeiter, mussauf der Zeitschiene erfolgen.
Nicht die FDP hat im Vermittlungsausschuss und in derArbeitsgruppe Angebote gemacht, sondern die Koalitionhat Angebote gemacht. Das ist doch wahr, Herr KollegeHeil; da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. HerrKollege Schiewerling hat für die Koalition zunächst an-
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10506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dr. Heinrich L. Kolb
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geboten, Equal Pay nach zwölf Monaten festzuschrei-ben, und dann haben wir als Koalition gesagt: Wir kön-nen uns Equal Pay auch schon nach neun Monatenvorstellen. – Das gehört noch zur Beantwortung derFrage; Frau Präsidentin, ich finde, er hat sich zu frühhingesetzt.
– Das ist eng an Ihrer Frage, Herr Kollege Heil,
und zwar deswegen, weil es uns darum ging, eine Auf-fangfrist zu schaffen. Im Vorfeld dieser Auffangfrist se-hen wir die Tarifpartner, die Gewerkschaften und die Ar-beitgeber, gefordert. Diese haben uns ja in den Wochenbzw. – das kann man fast so sagen – Monaten dieser Dis-kussion förmlich bombardiert mit Zuschriften des Inhal-tes: Finger weg! Bloß keine gesetzliche Regelung! Lasstuns das doch selbst machen, weil wir näher dran sind.Genau das, Herr Kollege Heil, wollen wir jetzt tun.Darin sind wir uns in der Koalition vollkommen einig.Wir geben den Tarifpartnern zwölf Monate Zeit und sa-gen ihnen: Alle Fragen im Zusammenhang mit diesemThema, dessen Wichtigkeit ihr erkannt habt, werdet ihrjetzt nach Möglichkeit in eigener Verantwortung regeln.Wenn ihr keine Lösung findet, dann müsst ihr euch ge-fallen lassen, dass wir handeln.
– Aber diese Kommission wird eine Empfehlung geben,die umgesetzt werden würde, wenn es notwendig wäre. –Ich bin allerdings sehr zuversichtlich – das wäre auchder richtige Weg –, dass Gewerkschaften und Arbeitge-ber dieses Problem selber lösen und wir ein sehr fein-gliedriges Netz von Vereinbarungen bekommen.Das Problem bei Ihrem Ansatz ist, dass man alleBranchen über einen Kamm scheren würde und dass abdem ersten Tag Equal Pay die Folge wäre. Das ist kon-traproduktiv. Es mag zwar Branchen geben, in denen dasnach einer relativ kurzen Frist möglich ist.
Aber es gibt auch Branchen, in denen die Frist längersein muss.
Diese von uns gewünschte Differenzierung kann nichtder Gesetzgeber liefern. Es ist vielmehr eine Herausfor-derung, der sich letztendlich die Tarifpartner stellenmüssen.Ich will zusammenfassen: In beiden Bereichen gibt esLösungen.
Wir werden mit Ihnen zusammen, Herr Kollege Heil,eine absolute Lohnuntergrenze vereinbaren. Ich hoffe,dass Sie dieser Änderung des Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetzes in der zweiten und dritten Lesung zustim-men werden. Das ist die Nagelprobe für Sie.Wir werden auch am Thema Equal Pay dranbleiben.Wir haben früh erkannt, dass das die eigentliche Heraus-forderung für die Zeitarbeit in Deutschland ist. Die Zeit-arbeiter, die heute durch einen tariflichen Mindestlohngut geschützt sind, interessiert diese Frage. Aber sie istvorrangig von den Tarifpartnern zu beantworten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Jutta Krellmann hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach die-sem Gerede hin und her stellt sich die Frage, wo wirbeim Thema Leiharbeit stehen.
Wir sollen einen Mindestlohn in der Leiharbeit bekom-men, nicht nur in der verleihfreien Zeit; aber vongleichem Lohn für gleiche Arbeit ist keine Rede mehr.Dieses Ergebnis zur Leiharbeit ist der Stand der Ver-handlungen zum Hartz-IV-Regelsatz. Das ist schlicht-weg enttäuschend.
Der beschlossene Branchenmindestlohn in der Leih-arbeit ist ein untaugliches Feigenblatt und wird Lohn-und Sozialdumping weiterhin zulassen. Die Leiharbeits-firmen werden damit geschützt, und eine spürbare Ver-besserung für die Beschäftigten wird es nicht geben. Wirreden über 7,60 Euro im Westen und 6,55 Euro imOsten. Keiner von Ihnen würde für so wenig Geld ir-gendwo arbeiten wollen.
Diese Beträge sind derzeit in Tarifverträgen festgelegt.Das haben die Gewerkschaften in den letzten Jahren ver-einbart, also zu einer Zeit, als Sie die Rahmenbedingun-gen für das Aushandeln von vernünftigen Tarifverträgensystematisch zerstört haben. Die Bundesregierung und„Frau von der Leiharbeit“
legalisieren damit Lohndumping für immer mehr Be-schäftigte. Leiharbeiter bekommen weiterhin nur dieHälfte des Lohnes, den ihre festangestellten Kollegenbekommen, und das bei gleicher Arbeit.Die Zahl der Aufstocker in der Leiharbeit steigt jedesJahr. Im angeblichen Jobwunderland Baden-Württem-berg sind seit Mitte letzten Jahres circa 33 000 neue Ar-beitsplätze entstanden, allein 27 000 davon in der Leih-arbeitsbranche. Das sind 83 Prozent; ich wiederhole:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10507
Jutta Krellmann
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83 Prozent. Ihr Jobwunder basiert also auf Leiharbeit. Eshandelt sich um 27 000 Beschäftigte, die auch in Zu-kunft weniger Geld bekommen als ihre Kolleginnen undKollegen nebenan. Ich sage Ihnen: Diese moderneLohnsklaverei muss endlich aufhören.
Heute ist der Aktionstag der Gewerkschaften gegenLeiharbeit und prekäre Beschäftigung. Die Beschäftig-ten geben sich nicht mit Mindestlösungen zufrieden, unddas zu Recht. Im Moment demonstrieren beispielsweiseBeschäftigte der Firma MetoKote gemeinsam mit Kolle-gen der Firma John Deere in Mannheim vor den Betriebs-toren. Warum? Die Firma John Deere hat einen ganzenProduktionszweig einfach an ihren Zulieferer MetoKoteausgegliedert und beschäftigt jetzt nur noch Leiharbeit-nehmer. Das Schlimmste an der Sache ist: Diese Praxisdes Unternehmens bleibt auch nach dem neuen Gesetz-entwurf der Bundesregierung legal. Wir als Linke unter-stützen die zahlreichen Proteste der Gewerkschaften undder Beschäftigten gegen Unternehmenswillkür und pre-käre Beschäftigung per Gesetz.
Die Bundesregierung legt hier einen Entwurf vor, derfür viele Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmerkeine großen Verbesserungen bringt. Trotzdem stellt sich
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Egal, was Sie
neu regeln, wir werden es unterlaufen. – Dem muss man
doch die Stirn bieten können. Das ist Gesetzesbruch mit
Ansage. Das ist unglaublich.
Das kann die Bundesregierung doch nicht dulden. Wer
darf das wieder ausbaden? Die betroffenen Beschäftig-
ten der Leiharbeit, denen Equal Pay verwehrt wird, und
die Menschen, die mit ihren Steuern Aufstockerleistungen
an Arbeitnehmer in Leiharbeitsfirmen subventionieren müs-
sen, leiden darunter. Leiharbeit bedeutet Unsicherheit für die
Betroffenen und auch weniger Geld, weniger Rechte und
weniger Anerkennung der eigenen Arbeit.
Meine Damen und Herren von der SPD, das Tragi-
sche an diesem Kompromiss ist, dass Sie dazu beigetra-
gen haben und morgen dieser Kuhhandel mit Ihren Stim-
men den Bundestag passieren wird. Das ist äußerst
bedauerlich und aus meiner Sicht eine absolut verpasste
Chance.
Wir wollen eine Lösung bei der Leiharbeit, die den
Beschäftigten wirklich hilft. Der vorliegende Antrag der
SPD hört sich nicht schlecht an, liest sich auch nicht
schlecht, ist aber aus meiner Sicht absolut unglaubwür-
dig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nicht
einmal das Papier wert, auf dem er steht.
Die Linke zeigt, dass es auch anders geht. Wir haben
ein klares Konzept und stehen auch dazu. Unsere zen-
trale Forderung ist: gleiches Geld für gleiche Arbeit von
Anfang an, und ohne Ausnahme.
Wer die Arbeit der Beschäftigten in Deutschland schätzt,
der gesteht den Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeit-
nehmern auch gleichen Lohn zu. Wir wollen die Verleih-
dauer wieder auf maximal drei Monate begrenzen; das
ist ja nichts Neues. Leiharbeit muss wieder ein Thema
für Auftragsspitzen in Unternehmen sein und darf keine
reguläre Beschäftigung ersetzen. Wer ständig die Arbeit
und den Arbeitsplatz wechselt, der hat auch Anspruch
auf eine höhere Bezahlung und verdient mehr Anerken-
nung. Eine Flexibilitätsprämie von 10 Prozent ist an die-
ser Stelle das richtige Zeichen für die Beschäftigten.
Aber auch die Leiharbeitsfirmen müssen endlich Verant-
wortung übernehmen. Deswegen muss das Synchronisa-
tionsverbot wieder eingeführt werden.
Sie dürfen ihre Beschäftigten nicht mehr zwingen, als
Streikbrecher zu fungieren.
Nicht zuletzt ist es notwendig, die Mitbestimmung in-
nerhalb der Betriebe zu stärken; denn nur der Betriebsrat
kann beurteilen und einschätzen, ob Leiharbeit über-
haupt notwendig ist oder für Lohndumping benutzt wird.
Wir waren noch nie so dicht am Kern des Problems
und an einer möglichen Lösung. Die Linke ist damit die
einzige Partei, die zu ihrem Wort steht, weil wir Equal
Pay prinzipiell richtig und wichtig finden.
Deshalb fordere ich als Gewerkschafterin die Abgeord-
neten aller Fraktionen, die wie wir gegen Leiharbeit und
prekäre Beschäftigung sind, auf: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu, damit endlich etwas zugunsten dieser
Kolleginnen und Kollegen passiert.
Beate Müller-Gemmeke hat jetzt das Wort fürBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Heute wird also endlich der Gesetz-entwurf der Regierung in den Bundestag eingebracht.Seit über einem Jahr warten wir schon darauf. Ministerinvon der Leyen hat bereits zwei Anläufe gestartet; diewurden aber immer vom Koalitionspartner, der FDP, ge-stoppt. Die Koalitionsfraktionen sind bei wichtigen sozi-alpolitischen Themen einfach nicht handlungsfähig. Dasist die übliche schwarz-gelbe Chaospolitik; aber das ken-nen wir schon aus dem Vermittlungsausschuss.
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10508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Beate Müller-Gemmeke
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Das, was jetzt vorliegt, kann ich nur als Minimalvari-ante bezeichnen. Die wichtigsten Punkte fehlen, etwadas Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und derMindestlohn. Mit diesem Gesetz bleiben die Leiharbeits-kräfte die Verlierer. Auch der Staat verliert, und zwarSteuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Dafür wer-den die Ausgaben für das aufstockende Arbeitslosen-geld II steigen, und das nur, weil sich die schwarz-gelbeKoalition lieber um Hoteliers und minimale Entlastun-gen, beispielsweise beim Arbeitnehmerpauschbetrag,kümmert.
Ich hoffe nur, dass der Gesetzentwurf im Laufe des Ver-fahrens um den Mindestlohn ergänzt wird. Ich hoffe üb-rigens auch, dass die Arbeitsbedingungen normiert wer-den; hier geht es auch um Arbeitszeiten. Das wärewenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Es ist mir aber immer noch unverständlich, warumsich die FDP so hartnäckig gegen einen Mindestlohn ge-wehrt hat. Der Mindestlohn in der Leiharbeit ist mitBlick auf die ab Mai gewährte Arbeitnehmerfreizügig-keit unerlässlich.
Darüber sind sich mittlerweile alle Branchenverbändeinklusive BDA einig; nur die FDP hat es einfach nichtkapiert.
Mit dem Gesetzentwurf muss auch die EU-Leihar-beitsrichtlinie umgesetzt werden; die Bundesregierungist verpflichtet, sie bis zum Ende des Jahres umzusetzen.Ich finde – das wird Sie kaum überraschen –, dass dergeforderte Gesamtschutz der Leiharbeitskräfte nicht ge-währleistet ist. Laut Richtlinie müssen die Leiharbeits-kräfte zumindest die Arbeitsbedingungen von festange-stellten Beschäftigten erhalten. Sie werden dieserVorgabe mit Ihrem Gesetzentwurf aber nicht im Ge-ringsten gerecht.Auch die hochgelobte sogenannte Schlecker-Klausel istnicht das Papier wert, auf dem sie steht. Es gibt genügendMöglichkeiten, diese Regelung zu umgehen. Beispiels-weise können entlassene Beschäftigte sechs Monate langgeparkt und danach als Leiharbeitskräfte am gleichen Ar-beitsplatz eingesetzt werden; es können aber auch gleichandere Leiharbeitskräfte angefordert werden. Damitbleibt vom Gesetzentwurf bis auf kleine Detailregelun-gen nicht mehr viel übrig. Die Substitution von Stamm-belegschaften ist weiterhin möglich; aber das wollten Sieja auch nicht verhindern.
Nicht nur die im Entwurf enthaltenen Regelungensind problematisch. Entscheidend ist, dass die wirklichwichtigen Verbesserungen fehlen, beispielsweise dieEinführung von Equal Pay und die Wiedereinführungdes Synchronisationsverbots, aber auch mehr Rechte fürBetriebsräte. Das führt dazu, dass die Leiharbeit immersalonfähiger wird und Stammbelegschaften entweder ak-tiv oder schleichend ersetzt werden. Aus regulären Be-schäftigungsverhältnissen werden also Leiharbeitsver-hältnisse. Ich frage mich, wohin das führen soll. FrauConnemann von der CDU/CSU, aber auch Herr Kolbvon der FDP finden das natürlich in Ordnung; denn ihrerMeinung nach gibt es in der Leiharbeit reguläre Beschäf-tigungsverhältnisse. Das stimmt aber nicht.
Ich möchte einmal ausführen, was ich unter regulärerArbeit verstehe und warum ich die Leiharbeit als prekärbezeichne.
Reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind unbefristet.Die Beschäftigten werden entsprechend ihrer Qualifika-tion oder der Art ihrer Tätigkeit bezahlt, und zwar nachdem gleichen Tarifsystem wie alle anderen auch. ImKreis der Kolleginnen und Kollegen haben sie ein stabi-les soziales Umfeld; man kennt sich, sie erhalten Aner-kennung und Wertschätzung. Vor allen Dingen gibt esklare Rahmenbedingungen, das heißt, die Beschäftigtenhaben die Möglichkeit, ihr Leben wirklich zu planen.Jobs in der Leiharbeit sind aber in der Regel befristet,und zwar nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, häu-fig nur für die Dauer des Einsatzes, und können jederzeitvorzeitig gekündigt werden. Wenn der Einsatz zu Endeist, bleibt nur noch der Gang in die Arbeitslosigkeit. Dasnenne ich prekär. Leiharbeitskräfte verdienen 30 bis50 Prozent weniger als regulär Beschäftigte, und zwarunabhängig von ihrer Qualifikation. Von dem Lohn kön-nen sie nicht leben, und darüber hinaus werden sie nochwie Beschäftigte zweiter Klasse behandelt. Auch das be-zeichne ich als prekär.Leiharbeitskräfte werden im Betrieb häufig als Kon-kurrenz angesehen. Sie stehen unter einem deutlich hö-heren Leistungsdruck; denn sie wollen regulär angestelltwerden. Sie müssen sich immer wieder an neue Tätig-keiten gewöhnen; die Umgebung wechselt und natürlichauch die Menschen, die sie um sich herum haben. Aner-kennung, Wertschätzung – Fehlanzeige. Leiharbeits-kräfte leben in Unsicherheit. Eine Lebens- und Familien-planung ist nicht möglich. Auch das bezeichne ich alsprekär.
Alles zusammen zeigt eindrücklich, mit welchen Le-bensbedingungen die Leiharbeitskräfte tagtäglich zukämpfen haben. Hören Sie also endlich auf damit, immerwieder zu behaupten, die Leiharbeit sei eine reguläreund normale Beschäftigungsform. Die Realität sieht an-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10509
Beate Müller-Gemmeke
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ders aus. Die Leiharbeit ist und bleibt unsicher und un-fair.Ich frage die Regierungsfraktionen nochmals: Wo solldas hinführen? In manchen Industriebranchen ist dieLeiharbeit und im Dienstleistungsbereich wird die Leih-arbeit zur Normalität. Jede fünfte Bäckerei, jeder vierteKfz-Betrieb und jedes siebte Bauunternehmen setzt aufLeiharbeit.
Im Gesundheitsbereich nimmt die Leiharbeit dramatischzu. In Banken, Versicherungen, Kitas, Schulen und sogarin den Jobcentern werden Leiharbeitskräfte eingesetzt,wie ich vor kurzem gehört habe und was mich wirklichschockiert hat. Es geht schon lange nicht mehr um Flexi-bilität und um das Abfedern von Auftragsspitzen. Esgeht darum, eine zweite Niedriglohnlinie einzuführen.Es geht um Profit, und es geht um den Wettbewerb umdie niedrigsten Löhne. Diese Tendenz wird mit dem vor-gelegten Gesetzentwurf nicht gestoppt.Ich wiederhole: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft,sondern sozial ist nur, was gute Arbeit schafft.
Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die Ar-beits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessernund Zukunftschancen eröffnen. Um dem gerecht zu wer-den, müssen Sie Ihren Gesetzentwurf gewaltig überar-beiten.Vielen Dank.
Der Kollege Karl Schiewerling hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Zeitarbeit hat sich in derTat von einem Arbeitsmarktinstrument zu einem Wirt-schaftszweig entwickelt, in dem etwa 1 Million Men-schen – Stand heute – beschäftigt sind. Das ist durch dieRegelungen der Hartz-Gesetze möglich geworden, ins-besondere durch die Regelung in Hartz I. Equal Paykann demnach unterlaufen werden, indem die Tarifpart-ner in der Zeitarbeitsbranche von der Möglichkeit Ge-brauch machen, miteinander Tarifverträge abzuschlie-ßen; denn dann gilt Equal Pay nicht. Das hat diedamalige rot-grüne Koalition alleine beschlossen. DasGesetz war nicht mitbestimmungspflichtig durch denBundesrat. Die Union hat dem nicht zugestimmt.
– Ich halte es für wichtig, Herr Kollege Heil, an dieserStelle darauf hinzuweisen, weil Sie den Herrn Staatssek-retär Dr. Brauksiepe als Lügner bezeichnet haben. Mirliegt daran, dass es durch uns richtiggestellt wird.
In der Tat waren zwei Drittel der Menschen, die Zeit-arbeitsverträge neu abgeschlossen haben, vorher arbeits-los.
Sie hatten keine Beschäftigung und sind über diesenWeg in Arbeit gekommen.
Das möchte ich an dieser Stelle konzedieren.Ein weiterer Punkt. Zahlreiche Menschen, die sonstkeine Chance hätten, weil sie geringqualifiziert sind,kommen über den Weg der Leiharbeit in Beschäftigung.
Sie bleiben in einer Größenordnung von etwa 13 bis15 Prozent im ersten Arbeitsmarkt, und dies über einenlängeren Zeitraum. Ich kann das beklagen und sagen:Das ist viel zu wenig, das ist alles vom Teufel. – Ich sageIhnen: Die 15 Prozent, die anschließend im ersten Ar-beitsmarkt bleiben und einer Beschäftigung jenseits derZeitarbeit nachgehen, sind froh, dass sie über diesenWeg in eine solche Situation gekommen sind.
Ich möchte dies nicht kleinreden lassen.Mit Zeitarbeit wird flexibel auf die Anforderungendes Arbeitsmarktes reagiert.
Ich gestehe gerne zu, dass nicht zuletzt durch die Rege-lungen, die wir heute haben, Entwicklungen eingetretensind, die auch aus meiner Sicht nicht alle glücklich sind.Deswegen ist es notwendig, die Dinge zu verändern. Ichsage Ihnen in aller Klarheit: Durch den seit der Neuregu-lierung durch die Hartz-Gesetze im Jahr 2005 verbreite-ten Glauben, alles sei möglich und alles sei machbar inder Wirtschaft – auch bei den Zeitarbeitsfirmen –, hatsich Missbrauch eingeschlichen, der zuletzt in der Situa-tion kulminierte, die wir bei einem großen Discountererlebt haben.Genau in dieser Frage haben wir gehandelt. Wie ha-ben wir gehandelt? Der Kollege Dr. Kolb und ich haben
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10510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Karl Schiewerling
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Anfang letzten Jahres auf das Problem aufmerksam ge-macht.
Wir haben den Tarifpartnern dann Zeit eingeräumt, daszu regeln. Die Tarifpartner haben es nicht zu unserer Zu-friedenheit geregelt. Deswegen machen wir jetzt ein Ge-setz, um den Drehtüreffekt zu unterbinden.
Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass esvielfältige Möglichkeiten gibt, Menschen über die Zeit-arbeit in regulärer Beschäftigung zu beschäftigen. Esgibt aber vielfältige Erscheinungsformen der Zeitarbeit.
In der Stahlbranche haben wir etwa einen Tarifvertrag,der Equal Pay für Zeitarbeiter vom ersten Tag an vor-sieht. Diese Entwicklung begrüßen wir alle miteinander.Das ist eine richtige und gute Entscheidung.
Es gehört allerdings auch zur Wahrheit, dass die Zeitar-beitnehmer, die unter diesem Tarifvertrag offiziell beiEqual Pay anfangen, zunächst in abgesenkten Stufen an-fangen und am Anfang keineswegs dasselbe Gehalt wieihre Kollegen bekommen, weil die Einarbeitungszeit zu-gestanden werden muss.
Mir ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass es un-terschiedlichste Formen und unterschiedlichste Entwick-lungen gibt. Dort allerdings, wo die Zeitarbeit systema-tisch zur Lohndrückerei genutzt wird, wollen wireinschreiten. Das ist richtig.
Wir machen dies mit dem heute in erster Lesung ein-gebrachten Gesetzentwurf. Bis zur zweiten und drittenLesung werden wir das, was im Vermittlungsausschuss-verfahren geklärt worden ist, einbringen,
sodass wir zumindest auf diesem Weg erreichen, dass eseine Lohnuntergrenze gibt, die im Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetz mit den Instrumentarien des Entsendegeset-zes so geregelt wird, dass sie nicht mehr unterlaufenwerden kann.Ich halte diese Dinge, die wir jetzt auf den Weg brin-gen, für einen wichtigen Fortschritt, für eine gute Ent-wicklung und für eine gute Botschaft an die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer.
In dem Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, sindauch die Dinge enthalten, die Europa uns vorschreibt.Wir setzen die europäische Zeitarbeitsrichtlinie eins zueins um.Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hin-weisen, der mir sehr wichtig ist: Keine Branche und keinBetrieb auf dieser Welt wird sich auf Dauer halten kön-nen, wenn sie oder er keine gesellschaftliche Akzeptanzhat. Es wird im Interesse der Zeitarbeitsbranche liegen,ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Genau deswegenist die Entscheidung im Vermittlungsausschuss richtig,
dass die Zeitarbeitsbranche jetzt Zeit hat, gemeinsam mitden Gewerkschaften nach einem Weg zu suchen, wieEqual Pay sichergestellt werden kann. Schaffen sie dasnicht, dann wird es – wie jetzt in dem Fall des großenDiscounters – nach einem Jahr zu einer Regelung durchdie Bundesregierung kommen.
Ich halte das unter ordnungspolitischen Gesichtspunktenfür den richtigen Weg. Glauben Sie mir: Die Tarifhoheitund die Verantwortung der Gewerkschaften sind unssehr wichtig. Im Übrigen –
Herr Kollege Schiewerling, im Übrigen – –
– dann komme ich zum Ende, Frau Präsidentin –
Nicht „dann“. Jetzt.
– könnte ich etwas hinterfotzig darauf hinweisen,
dass wir heute schon Equal Pay vom ersten Tag an haben
könnten, wenn die Gewerkschaften darauf verzichten
würden, Tarifverträge mit der Zeitarbeitsbranche abzu-
schließen. Hätten wir dort keine Tarifverträge, würde
Equal Pay vom ersten Tag an gelten.
Herr Schiewerling!
Ich weiß, wie schwierig das Ganze ist. Ich denke, dass
wir in den weiteren Beratungen alles tun werden, um den
Menschen eine gute Perspektive zu geben.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort demKollegen Hubertus Heil.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10511
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Frau Präsidentin, ich habe um das Wort gebeten, weil
Herr Schiewerling mich aufgrund eines Zwischenrufes,
den ich vorhin gemacht habe, angesprochen hat. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, ein Wort des Bedauerns
auszusprechen, und mich bei dem Herrn Staatssekretär
entschuldigen. Ich habe mich in einem Streit in der Sa-
che dazu hinreißen lassen, das Wort „Lügner“ in den
Mund zu nehmen. Das gehört sich in einer inhaltlichen
Debatte nicht; in anderen Zusammenhängen muss man
auch das aussprechen können. Ich habe mich dazu hin-
reißen lassen, weil ich den Eindruck hatte, dass Sie mit
Ihrem Hinweis auf das Stimmverhalten der CDU/CSU,
der damaligen Oppositionsfraktion, beim Thema Hartz I
insinuieren wollten, dass die CDU/CSU damals gegen
die Liberalisierung von Leiharbeit war. Das ist mir so
nicht in Erinnerung. Deshalb nehme ich den Begriff zu-
rück, die Gesamtdarstellung kritisiere ich aber nach wie
vor. Ich bitte Sie um Entschuldigung.
Anette Kramme hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im Prinzip wissen wir alle in diesem Hausganz genau, dass die Leiharbeit in der jetzigen Ausge-staltung ein Irrweg der deutschen Arbeitsmarktpolitikist.
Leiharbeit hat häufig niedrigste Löhne gezahlt,3,60 Euro sind ein Beispiel aus meinem Wahlkreis.Manchmal sind es 4,00 Euro, manchmal 4,50 Euro. Sehrhäufig sind es Löhne in der Kategorie von 7,00 Eurobzw. 7,50 Euro. Wir wissen auch: Die Arbeitsverhält-nisse sind von kürzester Dauer. 55 bis 60 Prozent allerArbeitnehmer sind kürzer als drei Monate beschäftigt.Wir wissen um die härteren physischen Arbeitsbedin-gungen. Wir wissen um den schlechteren Gesundheits-schutz. Vor allen Dingen haben wir durch eine neueUntersuchung gelernt, dass eine systematische Ausgren-zung von Leiharbeitnehmern in den Betrieben stattfin-det. Das hat selbstverständlich seine psychischen Aus-wirkungen.Über die Jobcenter geben wir immerhin 500 Millio-nen Euro für Aufstockungsleistungen aus. Das ist einSkandal, weil wir damit die Dumpingpolitik der Leih-arbeitsunternehmen finanzieren. Selbstverständlich un-terstützen wir die Leiharbeitnehmer damit, aber wir ge-statten es dadurch einer Branche auch, mit Löhnen zuarbeiten, die unter regulären Bedingungen nicht möglichwären.
Vor allen Dingen wissen wir, dass Leiharbeitsfirmenimmer häufiger als Hilfsmittel dienen, tarifvertraglicheStrukturen in Stammbetrieben zu unterlaufen. Das machtvielen Menschen in dieser Republik Angst. Das gehtweit über das Phänomen hinaus, dass wir circa 1 MillionLeiharbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschlandhaben.Wir müssen von dem Ammenmärchen abrücken, dasHerr Schiewerling am heutigen Tag hier wieder verbrei-tet hat: Es gibt keine positiven Arbeitsmarkteffekte derLeiharbeitspolitik.
Es gibt keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt,
sondern im Regelfall kommt nach drei Monaten dasEnde des Arbeitsverhältnisses. Das ist keine Brücke,sondern allenfalls ein Steg, möglicherweise auch nur einStrohhalm.Der Handlungsbedarf ist unübersehbar. Auch derHandlungsdruck kann nicht übersehen werden. Ich sage,dass wir als SPD durchaus in einer besonderen Verant-wortung sind. Wir haben geholfen, die Büchse der Pan-dora zu öffnen.
Wir wollen aber auch dazu da sein, diese Büchse derPandora wieder zu schließen und zu regulären Bedin-gungen zu kommen.Meine Damen und Herren von der FDP einerseits undvon der CDU/CSU andererseits, wir haben in den letztenWochen hart über die Leiharbeit verhandelt.
Ich kann Ihnen sagen, wie ich das beurteile: Ihr Verhal-ten in den Verhandlungen war schamlos und von Igno-ranz gekennzeichnet.
Wir haben einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohngefordert. Sie haben klipp und klar gesagt, den wollenSie nicht.
In dieser Republik verdienen 23 Prozent aller Arbeitneh-mer weniger als 8,50 Euro pro Stunde.
Fast ein Viertel aller Arbeitnehmer arbeitet unterschlechtesten Arbeitsbedingungen. Wir mussten diesesNein, dieses No-Go hinnehmen, aber wir haben gesagt,dass wir zumindest etwas für den Bereich der Leiharbeit
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10512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Anette Kramme
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(B)
tun müssen. Wir haben deshalb einen Mindestlohn fürdie verleihfreie Zeit und Equal Pay für Verleihzeiten ge-fordert. Sie haben uns dann ein Angebot unterbreitet.Dieses Angebot war von Lächerlichkeit gekennzeichnet.Sie haben Leiharbeit zu Equal-Pay-Bedingungen nachneun Monaten angeboten.
Dabei wissen wir alle: Leiharbeitnehmer sind überwie-gend nur zu drei Monaten in den Betrieben. Was soll die-ses Angebot? Hilfreich war es sicherlich nicht.
Sie haben sich zunächst nicht einmal auf einen Min-destlohn einlassen wollen. Sie haben die feine Differen-zierung getroffen, dass ein Mindestlohn nur für verleih-freie Zeiten gelten soll. Im Übrigen haben Sie von einemsogenannten Referenzlohn gesprochen, der auch hätteunterschritten werden dürfen. Gott sei Dank haben wirdas verhindern können. Dieser Mindestlohn ist jetzt vor-gesehen. Das ist mit Sicherheit ein erster Schritt in dierichtige Richtung.Ihr Arbeitnehmerüberlassungsgesetz enthält einenweiteren wichtigen Schritt, allerdings ist das nur einganz kleiner Schritt.
Sie schließen Fallkonstellationen wie bei Schlecker aus,aber im Prinzip wissen wir alle in diesem Haus, dass wirein weiteres Aufwachsen des Niedriglohnsegments nichtzulassen dürfen. Sie bleiben Ihrem Weg jedoch treu undbetreiben Subventionspolitik zugunsten der Unterneh-men und Arbeitsrechtspolitik gegen Leiharbeitnehmerund Leiharbeitnehmerinnen.
Frau Kollegin, Herr Kolb würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Aber sicher, ja.
Bitte.
Frau Kramme, nachdem Ihnen das alles nicht gefällt,
möchte ich nur gern wissen: Werden Sie am Ende zu-
stimmen, wenn wir jetzt im AÜG das umsetzen, was wir
gemeinsam besprochen haben, oder werden Sie es ableh-
nen?
Wir werden dem Gesamtpaket zustimmen,
und zwar deshalb, weil wir Mindestlöhne für die Leih-
arbeit, einen Mindestlohn für das Bewachungsgewerbe
und einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche
haben werden, weil wir erreicht haben, dass es Schul-
sozialpädagogen gibt etc. Wir wollen den Menschen
diese positiven Leistungen nicht vorenthalten, aber Sie
wissen: Von dem Weg, den wir gehen müssen, gehen Sie
mit uns gemeinsam nur ein kurzes Stück. Das ist zu we-
nig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen glei-
ches Geld für gleiche Arbeit, sonst zerstört Leiharbeit
weitere Normalarbeitsverhältnisse. Es darf keine Ver-
träge von Fall zu Fall mehr geben. Leider müssen wir
immer wieder beobachten, dass Verleiher Leiharbeitneh-
mer nur für kurze Zeiträume beschäftigen. Wenn der
Entleiher den Leiharbeiter nicht mehr braucht, geht da-
mit gleichzeitig die Kündigung einher. Deshalb sollte es
keine Verträge von Fall zu Fall mehr geben. Wir sind
auch der Auffassung, dass ein Leiharbeitnehmer, wenn
er für die Dauer eines Jahres beschäftigt war, das Recht
haben soll, in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen
zu werden.
Wir sagen ganz klar: ein Platz, ein Jahr. Es geht auch da-
rum, die Rechte des Betriebsrates zu stärken. Wir wollen
ein echtes Mitbestimmungsrecht nach § 87 des Betriebs-
verfassungsgesetzes. Betriebsräte sollen mit darüber ent-
scheiden können, ob es Leiharbeitnehmer in ihrem Be-
trieb gibt, wie lange sie beschäftigt werden und in
welchen Bereichen sie eingesetzt werden.
Wenn wir alle in diesem Hause ehrlich miteinander
umgehen, können Sie im Prinzip nichts anderes machen,
als dieser Vorlage zuzustimmen. Dazu fordere ich Sie an
dieser Stelle auf.
Herzlichen Dank.
Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Opposition ist dafür da, die Regierung zu kritisieren.Nur, wenn ich mir das Verhalten von Ihnen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD, in den letzten Mona-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10513
Johannes Vogel
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ten und auch heute wieder anschaue, habe ich das Ge-fühl, Sie kritisieren sich selbst.
Rente mit 67? Das war jemand anderes; das wollen wirnicht mehr. Leiharbeit? Die kennen wir nicht. Was habenwir da gemacht?
Sie kritisieren sich selbst. Der Unterschied zwischen unsund Ihnen ist, dass wir das, was Sie richtigerweise einge-führt haben, erhalten wollen und gemeinsam schauenwollen: Wie können wir Missbrauch wirklich verhin-dern?
Nur, Sie kommen mir vor wie jemand, der, wenn Schim-mel in der Garage ist, das ganze Haus abreißen will. Dasmacht keinen Sinn. Man muss die wirklichen Problemelösen und darf nicht das Gute kaputtmachen.
Zwei Worte dazu. Erst einmal, weil das hier geradewieder falsch dargestellt wurde, zur Frage: Was ist gutan der Zeitarbeit? Die Zeitarbeit ist für Flexibilität da, ja.Aber sie ist auch ein Jobmotor. Sie hilft Menschen ausder Arbeitslosigkeit
– zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Arbeits-losigkeit – und gibt ihnen einen Einstieg in den erstenArbeitsmarkt. Eben wurde gesagt, das sei nicht dauer-haft. Da kann ich nur auf das IAB verweisen. Das IABhat letztes Jahr festgestellt, dass drei Viertel der Lang-zeitarbeitslosen durch die Zeitarbeit dauerhaft in den Ar-beitsmarkt integriert werden.
Das wollen wir nicht wegschmeißen. Sie machen sichdaran schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen von derOpposition.
Jetzt schauen wir einmal auf den echten Missbrauch.
Wegen der angeblichen Bedrohung durch Dum-pinglöhne von ausländischen Leiharbeitern gibt es dajetzt einen Mindestlohn. Den haben wir gemeinsam ver-einbart,
weil wir natürlich nicht wollen, dass das Lohnniveau inDeutschland dort unterschritten wird. Herr Heil, ich är-gere mich wirklich darüber, wie Sie das darstellen, dassSie hier einen Pseudounterschied aufmachen und sagen,wir hätten einen echten Mindestlohn verhindern wollen;auch über die Zwischenfrage Ihres Parteivorsitzendenhabe ich mich eben gewundert.
– Herr Heil, wir zwei saßen in der Unterarbeitsgruppe.
Sie wissen doch ganz genau, über welches Detail wirdiskutiert haben.
Wenn hier, wie eben, aus internen Runden zitiertwird, mache ich es auch. Wir haben die Frage gestellt, obes denn sinnvoll sein kann, wenn wir Equal Pay stärkenwollen, dass jemand in den ersten Monaten als Zeitarbei-ter, wenn er einmal lange in einem Unternehmen ist,mehr verdient und dann ab der Grenze, ab der Equal Payeinsetzt – sagen wir einmal, es wäre nach neun Monaten;was auch immer die Tarifpartner da vereinbaren –, aufeinen niedrigeren Lohn zurückfällt. Wir haben gesagt:Das ist doch absurd. – Herr Heil, Sie wissen genau: Siehaben zugestimmt.
Auch Sie haben gesagt, dass das absurd ist und dass esdas nicht sein kann. Da ist es unredlich, uns hier zu un-terstellen, wir hätten nur einen Pseudomindestlohn ange-boten.
Sie wissen genau, dass wir eine sachgerechte Lösungwollen und hier niemand den Mindestlohn mit Blick aufdas Ausland infrage gestellt hat, liebe Kolleginnen undKollegen. So sieht es aus.
– Wir haben alle gewonnen, wenn die Leute etwas davonhaben.
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10514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Johannes Vogel
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Darum geht es nämlich in der Politik. Da geht es nichtdarum, wer gewonnen hat, sondern darum, dass wir einegute Lösung für die Menschen finden.
Das Problem Mindestlohn haben wir also gelöst. Wirhaben Ihrer Lösung letztlich zugestimmt, weil wir gesagthaben: Da geht es nur um wenige Fälle; daran kann esnicht scheitern. Deswegen finden wir eine gemeinsameLösung.Auch beim Equal Pay werden wir eine gute Lösungfinden.
– Ja. – Wir werden das an die Tarifvertragsparteien über-geben. Wir haben gesagt: Wir können uns nicht auf einevernünftige Lösung einigen. Denn wenn der Gesetzge-ber eine Frist festlegt, dann ist das wie ein grober Keil.Die passt nicht auf alle Probleme für alle Menschen.
Wir haben uns einmal die Praxis angeschaut. Ich nenneIhnen ein Beispiel: Im Unternehmen START ZeitarbeitNRW sitzt die Landesregierung Nordrhein-Westfalen,Ihre Landesregierung, mit im Aufsichtsrat. Die habeneine sehr differenzierte Lösung für Equal Pay gefunden.Da wird schrittweise an Equal Pay angeglichen. Da wirdunterschieden zwischen ungelernten und qualifiziertenArbeitskräften. Das sind sachgerechte Lösungen, die denMenschen wirklich helfen. Solche Lösungen können nurdie Tarifvertragsparteien finden. Deshalb haben wir ge-sagt: Wir wollen Equal Pay. Aber wir wollen eine klugeLösung, die die Zeitarbeit nicht kaputtmacht. Das ist beiden Arbeitgebern und Gewerkschaften richtig aufgeho-ben. Genauso werden wir es deshalb jetzt auch machen,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Heil, als mein letzter Satz: Sie haben eben aufOlaf Scholz verwiesen. Sie haben gesagt – ich habe esmir aufgeschrieben –, die SPD habe in Hamburg Erfolggehabt, weil sie wirtschaftlichen Erfolg und soziale Ge-rechtigkeit zusammenbringen will. Wissen Sie, was? Ichglaube, Sie haben recht. Das war der Erfolg von Olaf Sc-holz. Das Problem ist, dass Sie diesem Anspruch hier imDeutschen Bundestag nicht genügen.
Was wir jetzt mit dieser Lösung machen – ich freuemich, dass Sie ihr zustimmen –,
ist, die Brücke, die die Zeitarbeit in den Arbeitsmarktbildet,
mit einem Geländer zu versehen, damit weniger Men-schen straucheln. Sie wollen sie abreißen.
Da machen wir nicht mit. Insofern freue ich mich, dasswir doch noch eine Lösung gefunden haben, der auchSie zustimmen werden.
Auch bei Equal Pay werden wir über die Tarifvertrags-parteien eine gute Lösung finden. Das ist die beste Lö-sung für die Menschen in diesem Land und auf dem Ar-beitsmarkt.Vielen Dank.
Ulrich Lange hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ziemlich genau vor einem Jahr haben wir an glei-cher Stelle die Causa Schlecker diskutiert. Wir alle wa-ren uns einig, dass wir die Wiederholung eines solchenFalles nicht erleben wollen.Wir haben seither aus der Branche positive Signalebekommen. Die Tarifvertragsparteien haben gehandelt.Aber unsere Ministerin hat schon damals deutlich ge-sagt: Wenn es nicht zu einer wirklich befriedigenden Lö-sung kommt, dann werden wir gesetzgeberisch handeln. –Heute liegt dieser Gesetzentwurf in erster Lesung vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine Lö-sung in Sachen Drehtüreffekt gefunden, die, glaube ich,aus dem Rechtsgedanken der „Zuvor-Arbeitsverhält-nisse“ heraus diese Missbrauchsmöglichkeit sehr wohlschließen wird. – Ich sehe schon Ihr Kopfschütteln, aberwir werden ja sehen. Ich glaube schon, dass wir auf demrichtigen Weg sind.Wir haben aber auch feststellen können, dass die An-kündigung eines Gesetzentwurfes bei den Tarifvertrags-parteien eine enorme – ich sage es ausdrücklich so –pädagogische Wirkung hatte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10515
Ulrich Lange
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Denn daraufhin wurde gehandelt. Ich glaube, die ganzeBranche hat gemerkt, dass es ohne gesellschaftliche Ak-zeptanz nicht möglich ist, Zeitarbeit zu halten.
– Jurist. Dazu werde ich Ihnen auch gleich noch etwaserklären, Herr Heil.
– Ohne. Aber Fachanwalt für Arbeitsrecht. Und zu Ihreretwas missverständlichen Auslegung werde ich Ihnengleich noch etwas sagen.Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf gleichzeitigeine EU-Richtlinie um. Anders als Rot-Grün bei einigenRichtlinien schießen wir dabei nicht über das Ziel hin-aus. Auch darüber haben wir in diesem Haus schon ein-mal diskutiert.
In einem zweiten Schritt – da wird die SPD ja mit insBoot kommen; so habe ich das jetzt auch verstanden –werden wir eine Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit imArbeitnehmerüberlassungsgesetz einführen, und zwar aufAntrag der Tarifvertragsparteien.
– Herr Heil, wenn ich es richtig verstanden habe, dannhaben Sie vorhin von einem „gesetzlichen Mindestlohn“gesprochen. So habe ich es verstanden.
– Ja, bitte.
Herr Heil, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen? –
Und Sie möchten sie gerne zulassen, Herr Lange? – Bitte
schön.
Ich lasse sie zu und freue mich auf die Beantwortung.
Herr Kollege, weil Sie Fachanwalt für Arbeitsrecht
sind, will ich Ihnen das gerne erläutern. Sie werden das
dann auch so sehen.
– Man muss übrigens nicht unbedingt eine Zwischen-
frage stellen, Herr Kollege, man kann auch eine Zwi-
schenbemerkung machen.
Herr Kollege, ich mache es ganz fix, damit wir nicht
so lange brauchen.
Wir wollten den Weg über das Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz gehen, der zur Erstreckung von tarifvertragli-
chen Mindestlöhnen eingeübt ist. Ihre Seite wollte den
Weg über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, sodass
ein Tarifvertrag jetzt nicht klassisch nur erstreckt und zur
Grundlage genommen wird, sondern es wird im AÜG
gesetzlich eine verbindliche Lohnuntergrenze – sprich:
ein Mindestlohn – verankert. Deshalb ist es aus unserer
Sicht ein branchenspezifischer, aber gesetzlicher Min-
destlohn für die Leih- und Zeitarbeitsbranche. Das kön-
nen Sie nicht bestreiten. Wenn wir den Weg über das
Entsendegesetz gegangen wären, dann wäre es ein Bran-
chentarifvertrag gewesen, den wir für allgemeinverbind-
lich erklären. Aber das Rechtsinstrumentarium AÜG
sieht das bisher noch nicht so vor. Nur zur Aufklärung,
okay?
Okay. – Ich darf auch gleich darauf antworten: DasWort „branchenspezifisch“ haben Sie vorhin in IhrenAusführungen, wenn ich richtig aufgepasst habe, nichtverwendet. Sie hatten ganz allgemein vom gesetzlichenMindestlohn gesprochen.
Wir kommen wahrscheinlich am Ende des Tages, wennwir alle zustimmen, in der juristischen Auslegung zu-sammen.Frau Kollegin Kramme, Sie haben gesagt, bei Ihnenim Wahlkreis – ich habe nachgeschaut, Sie kommen überdie Landesliste in Bayern – würde es Zeitarbeit für3,50 Euro die Stunde geben. Das kann ich nicht nach-vollziehen; das kann nur im Zusammenhang mit Tarif-bruch möglich sein.
Aber die richtige Antwort müssen die Tarifparteien ge-ben. Denn auch der 1. Mai – das ist klar – kann einesnicht: das Wertesystem tarifautonomer Regelungen au-ßer Kraft setzen. Darauf möchte ich ganz besonders hin-weisen.Unsere Aufgabe ist es, grenzenlose Lohnunterbietungin einem am Ende grenzenlosen Europa zu verhindern.Das und nicht die Einführung von staatlichen Mindest-löhnen ist die Aufgabe, die wir hier als Gesetzgeber zuleisten haben.
Am Ende des Tages muss es auch wieder über denWeg der Tarifparteien nach einer mehrmonatigen – ichunterstreiche: mehrmonatigen – Einarbeitungszeit glei-chen Lohn für gleiche Arbeit im – jetzt auch wieder –gleichen Land geben.
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Ulrich Lange
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– Ich habe „nach einer mehrmonatigen“ gesagt.
– Sechs, sieben,
acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn. Ich kann weiterzählen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Krell-
mann zulassen?
Nur, wenn dieses Mal die Uhr richtig angehalten
wird. Bitte mir nicht auch noch meine Zeit nehmen.
Die ist auch vorhin angehalten worden, solange Sie
geantwortet haben. – Frau Krellmann, bitte.
Vielen Dank, dass Sie meine Frage zulassen. – Wir
sind uns einig, dass wir über einfache Arbeit reden,
oder?
In erster Linie reden wir aber über einfache Arbeit. Was
glauben Sie, wie lange man braucht, um sich in Dinge
einzuarbeiten? Wissen Sie, dass in so gut wie jedem Ta-
rifvertrag schon heute Regelungen über die Einarbei-
tungszeit enthalten sind? Warum wollen Sie dann noch
eine zusätzliche Regelung haben? Die Tarifvertragspar-
teien haben das doch schon vereinbart, oder?
Frau Kollegin Krellmann, damit geben Sie mir ja ge-
radezu die Antwort. Wir überlassen es den Tarifvertrags-
parteien, weil sie wissen, wie lange man braucht, um
sich einzuarbeiten.
Ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass Sie das, was
ich gerade eben gesagt habe, jetzt bestätigt haben.
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang aber
auch noch einmal ganz klar sagen: Wenn die Tarifver-
tragsparteien zu keinem Ergebnis kommen, dann
schwingen wir schon noch einmal die pädagogische
Keule und dann werden wir auch hier eine gesetzliche
Regelung finden; denn eines muss bitte klar sein: Es
geht hier nicht um eine Schonfrist für die Branche,
sondern es geht ganz klar um eine Handlungsfrist für die
Tarifvertragsparteien. Das möchte ich an dieser Stelle
ganz deutlich unterstreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Idee der seriö-
sen Zeitarbeit
ist weiterhin richtig. Herr Kollege Heil, das haben Sie
damals in rot-grüner Koalition beschlossen, und in dem
AÜG-Bericht, der auch noch unter Olaf Scholz, der
heute ja schon mehrfach lobend erwähnt worden ist, er-
stellt wurde, wird dies unterstrichen.
Sie haben sich – das halten wir Ihnen zugute – der
Verantwortung gestellt. Wir korrigieren heute in erster
Lesung die von Rot-Grün verantwortete schrankenlose
Zeitarbeit und geben der Zeitarbeit gemeinsam mit Ihnen
ein neues Gesicht.
Herr Kollege.
Wir bieten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern mit der Brücke Zeitarbeit eine arbeitsmarktpoli-
tisch faire Chance.
Herzlichen Dank.
Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heutegeht es einmal mehr um die Frage: Was ist gute Arbeit?Am besten kann dies sicherlich Frank-Jürgen Weise be-urteilen. Er ist bekanntlich Chef der Bundesagentur fürArbeit und der Arbeitsmarktexperte in Deutschland.Seine Kompetenz ist über Parteigrenzen hinweg aner-kannt; denn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben ihn 2004 in sein Amt berufen.
Herr Weise wurde nun befragt, ob er den Rekordstandbei der Zeitarbeit für eine gute Sache halte. Seine Ant-wort lautete: Ja, zu arbeiten sei immer besser, als nichtzu arbeiten.
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Gitta Connemann
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Er wurde auch gefragt, ob die Arbeit eine Brücke in denregulären Arbeitsmarkt sei. Seine Antwort lautete wie-der: Ja, die Zeitarbeit sei ein Sprungbrett in einen festenJob. Das Wort von Herrn Weise hat Gewicht – eigent-lich; es sei denn, es passt gerade nicht in Ihr Konzept.
Meine Damen und Herren von der SPD, wenn wir Ih-rem Antrag folgen würden, dann wäre dies das Aus fürdie Zeitarbeit in Deutschland.
Es wäre auch das Ende für den Turbo am Arbeitsmarkt.Denn jede dritte neue Stelle am Arbeitsmarkt kommt ausder Zeitarbeit.
Das hat damit zu tun, dass Flexibilität am Arbeitsmarkterforderlich ist, die nicht grundsätzlich gewährt wird.Deshalb ist Zeitarbeit gefragt.Es wäre aber vor allem ein besonders schwererSchlag für die Schwächsten am Arbeitsmarkt. Denn dieZeitarbeit gibt gerade denen eine Chance, die vorherkeine hatten: Geringqualifizierte, Menschen ohne Schul-bildung oder ohne Ausbildung.
100 000 ehemalige Hartz-IV-Empfänger haben so al-lein im letzten Jahr Arbeit gefunden. Zwei Drittel derneu eingestellten Zeitarbeiter waren vorher arbeitslosoder noch nie beschäftigt. Sie haben jetzt Arbeit, undzwar, Frau Müller-Gemmeke, reguläre Arbeit.
Ich bitte Sie insoweit, einen Blick ins Gesetz zu wa-gen. Denn wenn Sie statt irgendwelcher Unterlagen nurein einziges Mal das Gesetz lesen würden, dann würdenSie feststellen, dass jeder Zeitarbeitnehmer Anspruchauf Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, nach Ent-geltfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Entgeltfort-zahlungsgesetz und übrigens auch auf einen Tariflohnhat. Denn die Tarifbindung liegt in der Zeitarbeit bei98 Prozent.
Es gibt keine andere Branche mit einem vergleichbarenNiveau.Ich bitte Sie, das endlich zur Kenntnis zu nehmen.Denn es sind Tatsachen,
die Herr Weise kennt und die Sie ignorieren, weil sienicht in Ihre Welt passen.
In dieser Welt steht Zeitarbeit für Lohndumping. Ihrvermeintlicher Beleg auch ganz aktuell in den letzten Ta-gen war ein fünfseitiger Newsletter des DGB. Danach istdas durchschnittliche Lohnniveau in der Zeitarbeitsbran-che niedriger als in der Gesamtwirtschaft. Welche Er-kenntnis!
In der Zeitarbeit haben überdurchschnittlich viele Un-gelernte bzw. Hilfsarbeiter einen neuen Job gefunden.
Es braucht keine Weisheit, um zu wissen, dass Hilfsar-beiter nun einmal weniger Geld verdienen als ein Fach-arbeiter.
Frau Kollegin Connemann, würden Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke zulassen?
Ja, sehr gerne.
Bitte schön.
Kollegin Connemann, ich habe eine Nachfrage. Siereden die ganze Zeit davon, dass die Leiharbeitskräfteunqualifiziert sind, zum Teil nie gearbeitet haben undendlich eine Chance brauchen. Nehmen Sie zur Kennt-nis, dass über 60 Prozent der Leiharbeitskräfte eine ab-geschlossene Berufsausbildung haben?
Ich finde es schlimm, dass man bei 1 Million Men-schen, die in der Leiharbeit arbeiten müssen, weil es zur-zeit keine anderen Jobs mehr gibt, so tut, als wenn siealle Probleme, Hemmnisse und keine Qualifikation ha-ben und vielleicht auch noch faul sind. Ich finde es lang-sam unerträglich, dass so über diese Menschen geredetwird.
Das war der erste Punkt.Ich muss noch einen zweiten Punkt ansprechen. Mantut immer so, als wenn es diese 1 Million Arbeitsplätzein der Leiharbeit nicht gäbe, wenn sie nicht so attraktivwäre, wie es jetzt der Fall ist. Dazu frage ich Sie: Ist tat-sächlich die ganze Branche ein Sozialunternehmen, dasnur deshalb Leiharbeitskräfte einstellt, um gute Bedin-gungen zu bieten? Oder geht es um Auftragslagen, so-
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Beate Müller-Gemmeke
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dass die Jobs auch ohne Leiharbeit besetzt werden müss-ten?
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben eben da-
von gesprochen, was Sie unerträglich finden. Ich finde
es unerträglich, von Ihnen ganz bewusst falsch zitiert zu
werden.
Denn ich habe mit keinem Wort meiner Rede – Sie kön-
nen das im Plenarprotokoll nachlesen –
in irgendeinem Zusammenhang gesagt, Zeitarbeitneh-
mer seien faul.
Gerade das finde ich unglaublich. Denn Zeitarbeit-
nehmer sind diejenigen, die eine Chance, die ihnen ge-
boten wurde, ergreifen. Diffamieren Sie nicht immer
diese Personen, die ihre Chance ergreifen!
– Vielleicht hören Sie einfach zu!
Wenn Sie nicht so schreien würden, dann könnte ich die
Frage endlich beantworten.
– Sie dürfen nicht reden. Vielleicht sollten Sie mit Ihrer
Fraktion darüber reden.
Das Zweite ist, dass Sie behaupten, ich hätte gesagt,
60 Prozent hätten keinen Abschluss.
Das ist vollkommen unzutreffend. Ich habe Ihnen ge-
sagt, dass 100 000 Zeitarbeitnehmer im letzten Jahr ei-
nen Job gefunden haben, die zuvor im Hartz-IV-Bezug
gewesen sind; das war meine Formulierung.
Bei diesen 100 000 handelt es sich um Langzeitarbeits-
lose oder solche, die zuvor noch nie eine Beschäftigung
hatten. Ich bitte Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu
nehmen: Zeitarbeit baut Brücken in den ersten Arbeits-
markt.
Sie haben als Letztes gesagt, die Zeitarbeit sei eine
soziale Branche. Das ist sie sicherlich nicht. Die Zeitar-
beit ist eine Wirtschaftsbranche – der Kollege Schiewer-
ling hat darauf zutreffend hingewiesen – wie viele an-
dere,
eine Wirtschaftsbranche, die zum Beispiel an Tarifver-
trägen teilnimmt, eine Wirtschaftsbranche, die Men-
schen einstellt und manchmal auch Menschen entlässt.
Sie befristet allerdings Arbeitsverträge nicht annähernd
in dem Umfang, wie Sie es behaupten. Ein Drittel der
Arbeitsverträge ist befristet, wie in allen anderen Wirt-
schaftsbereichen.
Die Zeitarbeit ist nicht besser als andere Wirtschaftsbe-
reiche, aber sie ist auch nicht schlechter.
Das, was Sie machen, ist eine dauerhafte Diffamie-
rungskampagne auf Kosten von hart wirtschaftenden Be-
trieben und ihren Mitarbeitern.
Das ist offensichtlich Ihr Stil, den ich persönlich wirk-
lich abstoßend finde; das sei an dieser Stelle auch gesagt.
Frau Connemann, es gäbe noch den Wunsch von Frau
Kipping nach einer Zwischenfrage.
Gerne.
Bitte schön.
Frau Connemann, Sie haben hier den Eindruck er-weckt, die Opposition diffamiere Leiharbeiter und Leih-arbeiterinnen, nur weil wir die Bedingungen und die Pra-xis der Leiharbeit als Sklavenarbeit kritisieren.
Ich will an dieser Stelle festhalten, dass das ein ganzhilfloser Dreh Ihrerseits ist, vor der notwendigen Kritikdie Augen zu verschließen. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zunehmen, dass schon beim gestrigen Treffen des Aus-schusses für Arbeit und Soziales mit einer Delegationdes DGB einer Ihrer Kollegen versucht hat, diesen Drehanzuwenden, dass ihm aber vonseiten der DGB-Delega-tion sehr deutlich widersprochen wurde. Betriebsräte,die die Realität der Leiharbeit in ihren Betrieben selbererlebt haben, haben sehr deutlich gesagt: Wir selber be-zeichnen Leiharbeit als Sklavenarbeit, weil wir erleben,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10519
Katja Kipping
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dass sie sowohl für die Betroffenen als auch für dieKernbelegschaft, die dadurch gleichermaßen permanentunter Druck gesetzt wird, eine Belastung ist. Ich bitteSie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Frau Kollegin Kipping, darf ich Ihnen antworten?
Frau Kollegin Kipping, Sie haben mich angespro-
chen, und ich werde Ihnen antworten. Die Tatsache, dass
Sie diffamieren, zeigt allein die Verwendung des Wortes
„Sklavenarbeit“.
Ich finde es unglaublich, dass annähernd 1 Million Men-
schen in diesem Land allein durch diese Bemerkung Ih-
rerseits als Sklaven bezeichnet werden. Das mag viel-
leicht in früheren Zeiten in anderen Teilen dieses Landes
so üblich gewesen sein. Bei uns, in diesem Land, ist das
nicht mehr üblich.
Ich wünsche mir, dass Sie nicht ungeprüft irgendwel-
che Begrifflichkeiten übernehmen, sondern dass Sie sel-
ber Tatsachen und Fakten prüfen. In dem Gespräch, das
Sie gestern mit dem DGB geführt haben, haben Sie si-
cherlich hinterfragt, auf welcher Datengrundlage der be-
sagte Newsletter entstanden ist. Das wird Ihnen der
DGB an dieser Stelle vielleicht auch gesagt haben: Zwi-
schenzeitlich hat der Autor dieses Newsletters – das ist
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachzulesen –
eine methodische Unschärfe eingeräumt und sich dafür
entschuldigt.
Haben Sie danach gefragt?
Haben Sie danach gefragt, dass die Tarife für die Zeit-
arbeit von DGB-Gewerkschaften, unter anderem von
Verdi, abgeschlossen worden sind und dass gemäß die-
sen Tarifverträgen in der Zeitarbeit flächendeckend ein
Grundlohn in Höhe von 7,60 Euro im Westen und ein
Grundlohn in Höhe von 6,65 Euro im Osten gelten?
Bitte, erklären Sie mir, was das mit Zeitarbeit zu tun hat.
Das ist wieder eine reine Diffamierung, für die Sie sich
schämen sollten.
Keiner von uns stellt infrage, dass es schwarze Schafe
in der Zeitarbeitsbranche gibt.
Ja, Firmen wie Schlecker treiben Schindluder mit der
Zeitarbeit. Das, was dort geschieht, ist Schein-Zeitarbeit,
nichts anderes. Deshalb hat die Bundesregierung gehan-
delt, auch auf Intervention unseres sozialpolitischen
Sprechers Karl Schiewerling und von Dr. Kolb.
Zukünftig ist deshalb ein „Schleckern“ in Deutschland
nicht mehr möglich. Im gleichen Gesetzentwurf setzt die
Ministerin die EU-Arbeitsrichtlinie um. Wir tun noch
mehr – auch darauf ist hingewiesen worden –: Wir wer-
den im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Lohnun-
tergrenze verankern. Damit schützen wir die Zeitarbeit
vor ausländischer Billigkonkurrenz;
denn der Tariflohn gilt dann für alle.
Vielleicht erklärt sich dadurch aber auch die Kampa-
gne des DGB. Zukünftig müssen nämlich er bzw. seine
Tochtergesellschaften offen Verantwortung für das über-
nehmen, was er unterschreibt,
übrigens auch für alle Vereinbarungen, die jetzt getroffen
werden, was das Entgelt, Equal Pay oder die Höchst-
überlassungsdauer angeht. Ich bin gespannt, was vorge-
schlagen werden wird.
Der DGB hat heute unter anderem bei VW protestiert.
Ich habe das gesehen.
VW hat inzwischen zwei Zeitarbeitsunternehmen. In die-
sen Zeitarbeitsunternehmen werden mehr als 7 000 Mitar-
beiter innerhalb des Konzerns verliehen.
– Übrigens mit Zustimmung der Gewerkschaft.
Dasselbe Prozedere treffen wir an unter anderem bei
DB Zeitarbeit, Vivento Interim Services, BASF Job-
markt – jeweils mit Wissen und Unterstützung der dorti-
gen Betriebsräte und des DGB.
Frau Kollegin.
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10520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
(C)
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Dies zeigt mir sehr deutlich: Alle, die mit der Frage
„Was ist gute Arbeit?“ befasst sind, sind gut beraten,
sich nicht von Vorurteilen, sondern von Fakten leiten zu
lassen –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
– und Verantwortung zu übernehmen. Wir haben da-
für den Aufschlag gemacht. Stimmen Sie deshalb dem
Gesetzentwurf zu.
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich will deutlich machen, dass ich mich sehr freue,
dass die Kollegen des US-Congress, die unserer Debatte
beiwohnen, eine so lebendige Diskussion erleben konn-
ten. Herzlich willkommen hier bei uns!
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Miss-
brauch der Leiharbeit verhindern“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/4756, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/4189 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zuge-
stimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegenge-
stimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Linke hat sich enthalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4804 und 17/3752 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-
thee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
100 Jahre Internationaler Frauentag
– Drucksache 17/4860 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth , Dr. Sascha Raabe, Lothar Bin-
ding , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gleichberechtigung in Entwicklungsländern
voranbringen
– Drucksache 17/4846 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Frauen verdienen mehr – Gleichstellung ist In-
novationspolitik
– Drucksache 17/4852 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. –
Ich sehe und höre keinen Widerspruch zu der beschlos-
senen Redezeit. Dann werden wir so verfahren.
Besonders willkommen sind uns viele Männer im
Saal.
– Zwar sind Männer bei dieser Debatte willkommen,
aber sie müssen nicht unnötig ausführlich auf sich auf-
merksam machen, indem sie auch noch hin und her lau-
fen. Ich nehme an, dass sie der Debatte folgen wollen,
und zwar in besonderer Weise und mit besonderer Auf-
merksamkeit.
Als Erster gebe ich das Wort der Kollegin Dorothee
Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor92 Jahren und fünf Tagen eine Sozialdemokratin daserste Mal ihre Rede mit den Worten „Meine Herren undDamen“ eröffnet hat, hat das Protokoll „Heiteres Ge-lächter“ vermerkt, weil es eben das allererste Mal war,dass vor 92 Jahren und fünf Tagen eine Frau im Parla-ment das Wort ergriffen hat. Heutzutage lacht bei denAnreden „Meine Damen und Herren“ und „Meine Her-ren und Damen“ kein Mensch mehr. Deswegen müssen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10521
Dorothee Bär
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wir einmal festhalten, was sich in den letzten 100 Jahrenan dieser Stelle entwickelt hat.Wenn wir jetzt nicht 2011, sondern das Jahr 1911 hät-ten, dann wären die meisten von uns nicht hier. Diemeisten, die hier wären, dürften keine Hosen anhaben.Wahlrecht gab es sowieso keines. Wenn überhaupt ein-mal eine Erlaubnis bestanden hätte, dann hätte man sichwahrscheinlich auf seinen Ehemann berufen müssen.Wir müssen also festhalten, dass in den letzten100 Jahren sehr viel passiert ist.Das 100-jährige Jubiläum das Weltfrauentages neh-men wir zum Anlass, zum einen einen historischenRückblick zu machen und zum anderen, um uns zu fra-gen, wo wir heute, im Jahr 2011, gleichstellungspolitischstehen.
Als 1911 der Weltfrauentag ins Leben gerufen wurde,stand eine Hauptforderung im Raum. Diese Hauptforde-rung war ein Wahlrecht für Frauen. Auch das können wiruns heute nicht mehr vorstellen. Daneben gab es die Ab-lehnung des Ersten Weltkrieges. Später wurde dieserFrauentag vor allem durch arbeits- und sozialrechtlicheForderungen getragen.In der DDR wurde dieser Frauentag zunehmend zu ei-ner Art sozialistischem Muttertag.
Die Frauenbewegung in Westdeutschland hat sich bis indie 90er-Jahre überhaupt sehr schwer mit diesem Tag ge-tan. Aber man muss festhalten, dass sich der Weltfrauen-tag in den vergangenen Jahren im wiedervereintenDeutschland eine neue Selbstverständlichkeit gegebenhat.Was vor 100 Jahren die Frage nach dem Stimmrechtfür Frauen war, ist heute für uns die Frage nach der Be-setzung von Frauen in Führungspositionen; denn wirmüssen festhalten, dass Frauen in Führungspositionennach wie vor massiv unterrepräsentiert sind. Wir führendiese Debatte mittlerweile fast jede Woche. Die Zahlenwerden von Woche zu Woche nicht besser. Nur 3,2 Pro-zent der Vorstandssitze in den 200 größten Unternehmenwerden von Frauen besetzt. Keinem einzigen Vorstandin den Top-100-Unternehmen steht eine Frau vor. Selbst-verständlich sehen wir hier einen ganz konkreten Hand-lungsbedarf.
Selbstverständlich widmen wir uns auch dem Thema,was sinnvoll ist, um diese Zustände zu ändern. Wir ha-ben in der Vergangenheit schon öfter über das ThemaQuote gesprochen: Quote ja, Quote nein? Wir ringen ins-gesamt auch in unseren Fraktionen – das ist kein Ge-heimnis – um die Details. Aber wir wissen, dass dasnicht nur ein gesellschaftliches Topthema ist; denn im-merhin haben wir dieses Thema auf die Agenda gebracht –im Gegensatz zu den vorangegangenen Regierungen.
Trotz des gekünstelten Gelächters der Oppositionsfrakti-onen muss man festhalten – dies habe ich schon in mei-ner letzten Rede angesprochen –, dass Ihre Ministerin,eine gewisse Frau Bergmann, an die sich niemand mehrerinnern kann, es nicht geschafft hat, sich durchzusetzen,weil sie von Schröder ohne Ende abgewatscht wurde,und sich auch noch für Sachen entschuldigen und recht-fertigen musste, die sie nicht wollte.
Wir stehen neben dem Thema Quote und neben derGeschlechtergerechtigkeit in diesem Land auch zu ande-ren Themen – auch in unserem Antrag –, nämlich zu derVereinbarkeit von Familie und Beruf, was für uns imVordergrund steht. Was für mich aber noch entscheiden-der ist als die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weildas noch schwieriger durchzusetzen ist, ist die Vereinba-rung von Familie und Karriere. Wir setzen uns für denAusbau der Kinderbetreuung ein. Auch dafür machtdiese Regierung sehr viel. Wir wollen flexiblere Arbeits-zeitmodelle und sagen: Wir wollen auf keinen Fall, dasses in diesem Land mit der übertriebenen Anwesenheits-kultur so weitergeht, die leider Gottes noch immer gilt;denn auch die Qualität steht im Vordergrund, nicht nurdie Quantität.
Wir haben jedes Jahr wieder dieselbe Debatte über dieEntgeltungleichheit. Deshalb haben wir das Logib-Deingeführt. Logib-D stößt nicht nur in Europa auf einganz großes Interesse. So stellen wir Logib-D morgen,am 25. Februar, auf der 55. Frauenrechtskonferenz derVereinten Nationen in New York, die seit Dienstag tagt,einem internationalen Publikum vor, weil jeder von unslernen und wissen möchte, wie wir das Instrument um-setzen.
Wir rollen das gesamte frauenpolitische Feld weiterauf. Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu demwichtigen Thema der Bekämpfung von Gewalt gegenFrauen wollen wir noch weitergehen. Hierzu gehörenhäusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung,aber natürlich auch Bräuche, Riten und Traditionen zumSchaden von Frauen. Hierunter fallen für uns ganz be-sonders die Genitalverstümmelung, die Zwangsehen unddie sogenannten Ehrenmorde. Schätzungen zufolge ha-ben 20 bis 25 Prozent aller Frauen mindestens einmal inihrem Leben körperliche Gewalt erlitten. Deswegen füh-ren wir unser Programm gegen häusliche Gewalt fort.Wir wollen ein bundesweites Hilfstelefon für von Ge-
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Dorothee Bär
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walt betroffene Frauen einrichten. Hierzu haben wir be-reits die nötigen Mittel in den Haushalt eingestellt.
Beim Brückenschlag zum Thema 100 Jahre Frauen-bewegung und 100 Jahre Weltfrauentag sehen wir, dasssich Frauen seit vielen Jahren für ihre Rechte engagie-ren. Vieles ist seitdem besser geworden; das darf manauf jeden Fall festhalten. Trotzdem sind wir noch langenicht am Ziel. Die Frauen haben für ihr Wahlrecht undfür die Zulassung an Universitäten gekämpft. Die Frauenhaben in diesem Hohen Hause dafür gekämpft, dass sieHosenanzüge anziehen dürfen.
Die Frauen mussten gegen unbewusste Rollenbilder an-gehen und sich gegen gläserne Decken durchsetzen. Ichbin mir aber sicher, dass wir gemeinsam weiterkommenkönnen. Dabei würde es helfen, wenn die Debatte vondenselben immer wiederkehrenden reflexhaften Beißre-aktionen der SPD befreit würde und wir alle an einemStrang ziehen könnten.
Dafür wäre ich sehr dankbar.Stellvertretend für alle großartigen Frauen, die sichheute in diesem Hohen Hause befinden, möchte ich einebesondere Frau herausgreifen. Ich darf hoffentlich imNamen aller der Kollegin Katharina Landgraf zu ihremheutigen Geburtstag gratulieren. Liebe Katharina, allesGute!
Das Wort hat Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! 100 Jahre Interna-tionaler Frauentag – in der Tat, welch gleichstellungspo-litische Zeitstrecke. Die Koalitionsfraktionen präsentie-ren uns heute zu diesem Jahrestag einen Antrag, überden sofort abgestimmt werden soll nach dem Motto:heute schnell debattieren, und dann bloß nicht weiterdarüber reden.Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Über diesen Antrag vonUnion und FDP lohnt eine weitere Debatte allerdingsnicht wirklich.
Dieser Antrag enthält genauso wenig Substanz wie dieGleichstellungspolitik der Bundesregierung, nämlich keine.Ein Beleg dafür ist folgendes Zitat aus dem Antrag:Der Internationale Frauentag verpflichtet als Feier-tag der Frauenbewegung dazu, der Lobbyarbeit vonFrauen im politischen Raum Gehör zu schenkenund frauenpolitische Projektarbeit zu stärken.
Ich denke, hier ist kein Kommentar notwendig.Die SPD hingegen meint es mit der Gleichstellungs-politik ernst, so wie bereits vor 100 Jahren. 1911 gingenmehr als 1 Million Frauen auf die Straße und kämpftenfür ihre Rechte, insbesondere für das Recht, zu wählen.Sieben Jahre später führte die Sozialdemokratie unter er-bittertem Widerstand konservativer Kräfte das Frauen-wahlrecht ein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den zurückliegen-den Jahrzehnten hat die Frauenbewegung in Deutschlandin der Tat viel erreicht. Ich glaube, darauf können wirstolz zurückblicken. Aber wir sind gleichstellungspoli-tisch längst noch nicht am Ziel; auch das ist richtig.Frauen und Männer sind zwar juristisch gleichgestellt,nicht aber in der Realität. So gibt es nach wie vor einestrukturelle Benachteiligung von Frauen, insbesondereim Erwerbsleben. Wir suchen Frauen in Führungsetagennoch immer mit der Lupe. Gleicher Lohn für gleiche undgleichwertige Arbeit – Fehlanzeige. Der Anteil vonFrauen im Niedriglohnbereich und in Minijobs ist über-proportional hoch, Teilzeitarbeit ist überwiegend weib-lich. Die Ursachen dafür liegen in veralteten Rollenste-reotypen und auch in der nach wie vor schlechtenVereinbarkeit von Familie und Beruf.Es gäbe also für die Bundesregierung und insbeson-dere für die zuständige Ministerin einiges zu tun; denndie bis jetzt vorhandenen rechtlichen Rahmenbedingun-gen helfen Frauen nicht wirklich weiter. Um Benachtei-ligung abzubauen und eine eigenständige Existenzsiche-rung zu ermöglichen, sind weitere gesetzliche Maß-nahmen unumgänglich. Die Bundesfrauenministerin unddie schwarz-gelbe Koalition verharren jedoch in Lethar-gie. Sie stehen leider für gleichstellungspolitischen Still-stand, Frau Schröder.
Dabei, Frau Ministerin, müssten Sie, nachdem Sie esschon nicht selbst entgegengenommen haben, nur dasaktuelle Gutachten der Sachverständigenkommission fürden ersten Gleichstellungsbericht lesen und entspre-chend handeln. Aber wie im aktuellen Antrag ersichtlichsetzen Sie und die Koalition unbeirrt und ignorant aufFreiwilligkeit, Appelle und Projekte – und das alles vordem Hintergrund, dass selbstverständliche Frauenrechteimmer hart erkämpft werden mussten. Von alleine undmit Freiwilligkeit ging es gleichstellungspolitisch leidernie voran.
Die SPD streitet deshalb für gesetzliche Regelungen.Sie sind wirklich notwendig, um verkrustete Strukturen
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Caren Marks
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aufzubrechen. Wir fordern einen flächendeckenden ge-setzlichen Mindestlohn, da dieser vor allem Frauen zu-gutekäme. Weiter müssen wir für eine Aufwertung vonsogenannten typischen Frauenberufen, beispielsweise inder Altenpflege, kämpfen.Nur durch eine gesetzliche Quote von mindestens40 Prozent wird eine angemessene Vertretung vonFrauen in Aufsichtsräten und Vorständen möglich wer-den.
Dass in den 100 größten Unternehmen in DeutschlandFrauen nur zu 2,2 Prozent in den Vorständen vertretensind, ist nicht nur beschämend. Es ist diskriminierend.
Ein Antrag der SPD zur Quote wird ja morgen diskutiert.Wir fordern endlich gesetzliche Regelungen zurDurchsetzung von Entgeltgleichheit; denn 23 ProzentLohnunterschied sind skandalös. Wir fordern weiterhinfamilien- und geschlechtergerechte Arbeitszeitmodellewie die sogenannte Große Teilzeit für beide Geschlech-ter und auch ein Rückkehrrecht für Eltern von Teilzeit inVollzeit.Außerdem fordern wir die gesetzliche Eingrenzungder Minijobs. Immer mehr Minijobs zulasten guter, dasheißt existenzsichernder Arbeit sind nicht zu akzeptie-ren. Minijobs werden für Frauen zur Armutsfalle, ganzbesonders im Alter.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das allessind konkrete Schritte für die Verwirklichung vonGleichstellung und mehr Geschlechtergerechtigkeit unddamit für mehr Fortschritt in unserem Land. Dieschwarz-gelbe Bundesregierung einschließlich der Kanz-lerin ist jedoch nicht bereit, wirklich aktiv zu handelnund etwas zu ändern.Abschließend möchte ich eine bemerkenswerte Fest-stellung der Sachverständigenkommission für den erstenGleichstellungsbericht der Bundesregierung zitieren:Die Kosten der gegenwärtigen Nicht-Gleichstellungübersteigen die einer zukunftsweisenden Gleich-stellungspolitik bei weitem.
Frau Kollegin.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ob das der
Bundesfinanzminister weiß?
Vielen Dank.
Sibylle Laurischk hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! 100 Jahre Internationaler Frauentag – ein langerWeg von den ersten Forderungen nach dem Frauenwahl-recht über die Kampagne beispielsweise von ElisabethSelbert zur Formulierung der Gleichberechtigung vonFrauen und Männern in Art. 3 Grundgesetz liegt hinteruns Frauen. Der Weg ist nicht zu Ende. Seit 1994 steht inArt. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes Satz 2. Dieser lautet:Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung derGleichberechtigung von Frauen und Männern undwirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteilehin.Auch die Opposition hatte in der Zeit reichlich Gelegen-heit, auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzu-wirken.
Stichworte wie Equal Pay und die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf – anscheinend nur ein Thema fürFrauen und leider immer noch nicht für Männer – be-schreiben noch offene Punkte. Zurzeit wird das Themainsbesondere an der unzureichenden Zahl von Frauen inFührungsgremien der Bundesbehörden oder der Wirt-schaft gemessen. Dies zu ändern, ist Ziel der Koalitionvon FDP und CDU/CSU. Wir setzen auf einen Stufen-plan und den im Mai letzten Jahres überarbeiteten soge-nannten Corporate Governance Codex, der Berichts-pflichten zum Stand der Beteiligung von Frauen enthält.
Die Aussage ist klar: Frauen wollen entsprechend ihrerAusbildung Führungsaufgaben und Verantwortung über-nehmen. Angesichts des demografischen Wandels ist diesauch gar keine Frage mehr. Dieses gesellschaftlich unddamit auch wirtschaftlich gebotene Ziel muss angesteu-ert werden – auch von den Männern.
Das sage ich auch an die Adresse von Herrn Kauder, dermir im Moment den Rücken zuwendet.
Dieses Ziel ist sowohl in der Politik als auch in derWirtschaft umzusetzen. Ich möchte in diesem Zusam-menhang darauf hinweisen, dass sich die FDP, seit weitüber 100 Jahren eine echte Emanzipationsbewegung,
auf ihrem nächsten Bundesparteitag im Mai mit einemSatzungsänderungsantrag der liberalen Frauen, in dem
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Sibylle Laurischk
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eine 40-Prozent-Quote für die Führungsgremien der Par-tei gefordert wird, auseinandersetzen muss.
Die Unternehmen sind ihrerseits aufgefordert, zu han-deln. Sollten wir keine erhebliche Erhöhung des Anteilsvon Frauen in Führungspositionen von Unternehmen bis2013 feststellen können, ist die Einführung einer Quotemeines Erachtens absehbar.
Gleichstellungspolitik ist aber nicht nur ein Themader Bundespolitik, auch Europa fordert dies ein. So istdas Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ inder Strategie für die Gleichstellung von Frauen undMännern 2010 bis 2015 verankert. An der Umsetzungdieser europäischen Strategie müssen wir mit Nachdruckarbeiten. Frauen müssen sich klar darüber sein, dass nurein qualifizierter und ausgeübter Beruf ihrer Altersarmutentgegenwirkt.Trotz des 100. Geburtstages des Internationalen Frauen-tages: Gewalt gegen Frauen und familiäre Gewalt sindnach wie vor Alltag. Verlässlich finanzierte Frauenhäu-ser und Unterkünfte für Frauen in Not gibt es auch nach100 Jahren Gleichstellung noch nicht. In den Kommu-nen kämpfen die Frauen um jeden Cent zur Finanzie-rung. Schutz und Hilfe für gewaltbetroffene Frauen undderen Kinder müssen jedoch flächendeckend vorliegen.Die christlich-liberale Koalition hat jetzt zumindest ei-nen Haushaltstitel geschaffen, um eine bundeseinheitli-che Notrufnummer für gewaltbetroffene Frauen einzu-richten. Unbürokratische Hilfe soll so möglich werden.Ein letztes Stichwort zum Internationalen Frauentag,das Ausländerinnen besonders betrifft: die Bekämpfungder Zwangsheirat. Ein Gesetzentwurf hierzu liegt vor. Esist vorgesehen, die Mindestbestandszeit einer Ehe zurBegründung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts vonzwei auf drei Jahre zu erhöhen. Der Gesetzentwurf hatdas Ziel, Opfer von Zwangsheirat besser zu schützen.Die Erhöhung der Ehebestandszeit steht meines Erach-tens dazu im Widerspruch. Im Koalitionsvertrag heißt eshierzu, die Erhöhung der Ehebestandszeit sei zu prüfen.Meine Herren, meine Damen, ich bitte um Prüfung.Als Liberale bin ich stolz, einer Emanzipationsbewe-gung anzugehören, die weit älter als 100 Jahre ist.100 Jahre Internationaler Frauentag bedeuten 100 JahreRingen um Gleichberechtigung.
Uns Frauen bleibt die Einsicht: Geschenkt wird unsnichts; wir müssen für unsere Rechte immer wieder aufsNeue kämpfen. Wir sollten dies gemeinsam tun. Dannsind wir stark.
Die Kollegin Kipping hat für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!100 Jahre Frauentag – zu den Wurzeln dieses Tages ge-hören auch folgende Etappen: Am 8. März 1857 streikenin New York Textilarbeiterinnen. Am 8. März 1908kommen über 100 streikende Textilarbeiterinnen bei ei-nem Fabrikbrand ums Leben, weil sie während desStreiks in der Fabrik eingeschlossen wurden. Vor100 Jahren wurde der Frauentag in einigen Ländern erst-mals am 19. März begangen. Am 8. März 1917 waren eswieder Textilarbeiterinnen, die in Russland gegen Hun-ger, Krieg und Zarismus streikten. Anknüpfend an dieseArbeitskämpfe wurde der Frauentag von der ZweitenKommunistischen Frauenkonferenz auf Initiative vonClara Zetkin auf den 8. März gelegt.
Betrachten wir die Geschichte des Frauentages, so kön-nen wir festhalten: Der Frauentag ist nicht bei Kaffee-kränzchen entstanden, er ist nicht Blumenrabatten ent-sprungen, sondern er ist aus Kämpfen um Rechteentstanden. Genau an diese Tradition des Frauentagessollten wir anknüpfen.
Die Art, den Frauentag zu begehen, hat sich über dieJahrzehnte verändert, aber an der Notwendigkeit, umFrauenrechte zu kämpfen, hat sich nichts, aber auch garnichts verändert. Kämpfe um Geschlechtergerechtigkeitsind hochaktuell – und das weltweit.
Geschlechterungerechtigkeit hat viele Gesichter. Dasbeginnt damit, dass auf den obersten Etagen der Wirt-schaft faktisch immer noch „oben ohne“ – also ohneFrauen – gilt. Schließlich sind noch nicht einmal10 Prozent aller Aufsichtsratsposten in Frauenhand. Esgeht damit weiter, dass Frauen im Durchschnitt ein Vier-tel weniger verdienen als Männer und dass Frauen über-durchschnittlich stark in Minijobs gedrängt werden. Wirwissen: Auf Minijobs folgen Minirenten. Altersarmut istsomit gerade bei Frauen vorprogrammiert. Hier müssenwir deutlich gegensteuern.
Geschlechterungerechtigkeit geht weiter mit denHartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Das führt zum einendazu, dass Frauen, die womöglich ihr Leben lang ge-wohnt waren, von ihrer eigenen Hände Arbeit zu leben,dann, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren und der Part-ner etwas über den entsprechenden Grenzen verdient,
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Katja Kipping
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sofort in die Position von Taschengeldempfängerinnengedrängt werden. Oder es führt dazu, dass Alleinerzie-hende, die einen neuen Partner kennenlernen, mit diesemfaktisch nicht zusammenziehen können, weil er ansons-ten sofort als Aufstocker in Hartz-IV gedrängt werdenwürde, wenn sein geringes Einkommen auf das Einkom-men des Kindes angerechnet wird.Bei der Geschlechterungerechtigkeit spielt die unge-rechte Verteilung der verschiedenen Tätigkeiten zwi-schen den Geschlechtern eine Schlüsselrolle; denn leiderist es immer noch so, dass vor allen Dingen die Haus-und Familienarbeit den Frauen obliegt. Sie werden eherin die Rolle der Hinzuverdienenden gepresst, währenddie Männer die Rolle des Hauptverdienenden überneh-men. Das Ehegattensplitting zementiert diese überkom-mene alte Arbeitsteilung. Deswegen gehört das Ehegat-tensplitting abgeschafft.
– Frau Bär, Sie sagen, das gehört nicht abgeschafft. Da-mit unterstreichen Sie noch einmal eindeutig, dass Siediese überkommene Arbeitsverteilung zementieren wol-len.
Das Statistische Bundesamt führt aus, dass die Arbeits-verteilung wirklich ungerecht ist. 75 Prozent der Putzarbei-ten und 85 Prozent der Arbeit mit Wäsche werden immernoch von Frauen erledigt. Der Armuts- und Reichtumsbe-richt weist aus, dass von den Müttern mit Kindern absechs Jahren gerade einmal 17 Prozent vollzeiterwerbs-tätig sind. Diese Zahlen zeigen, wie stark die überkom-mene Arbeitsverteilung immer noch unseren Alltag be-stimmt.Um Missverständnisse zu vermeiden: Mir geht esnicht darum, Männer oder Frauen mit den angeblichenSegnungen der Erwerbsarbeit zwanghaft zu beglücken.Aber meine Kritik an dieser Verteilung setzt dann an,wenn Menschen – vor allen Dingen Frauen – von der Er-werbsarbeit – entweder aufgrund von überkommenenGeschlechterrollen oder aufgrund eines Mangels an Ki-taplätzen – sozusagen weggedrängt werden. Das ist füruns als Linke nicht hinnehmbar.
Doch reden wir anlässlich einer Debatte über denFrauentag nicht nur über Probleme, sondern auch überPerspektiven, die Mut machen. Für mich ist die von derFeministin Frigga Haug entwickelte Vier-in-einem-Pers-pektive Mut machend und ermunternd. Diese geht davonaus, dass es vier gleichwertige Tätigkeitsbereiche gibt:erstens die Erwerbsarbeit; zweitens die Sorgearbeit, auchbekannt als Reproduktionsarbeit oder Haus- und Famili-enarbeit; drittens die Weiterentwicklung bzw. die Wei-terbildung, auch vorstellbar als Muße; viertens die Poli-tik, die in einer Demokratie nicht nurBerufspolitikerinnen und Berufspolitikern obliegensollte.
Zunehmend begeistern sich Frauen für einen solchenAufbruch in ein Leben im Viervierteltakt, in dem eineArbeitswoche aus vier gleichen Teilen besteht: ein Vier-tel Erwerbsarbeit, ein Viertel Sorgearbeit, ein ViertelWeiterentwicklung und Muße sowie – um das Ganzevollständig zu machen – ein Viertel Politik. Eine konse-quente Arbeitszeitverkürzung für Männer und Frauengleichermaßen wäre die Grundlage für einen Aufbruchin ein solches Leben im Viervierteltakt.
Kämpfen wir nicht nur am Frauentag, sondern an al-len Tagen im Jahr konsequent und engagiert dafür, dassdie Erwerbsarbeitszeit verkürzt wird und die vorhande-nen Tätigkeitsfelder gerecht zwischen den Geschlech-tern verteilt werden. Das heißt, dass ein Großteil derprestigeträchtigen Jobs von Männer- in Frauenhandwechseln muss; im Gegenzug würde man gerne Sorgear-beit abgeben. Kämpfen wir dafür, dass die Bedarfsge-meinschaft auf den Prüfstand kommt. Kämpfen wir fürgleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Kämpfen wirfür globale soziale Rechte, und sorgen wir dafür, dassaus den Chefsesseln Sitzgelegenheiten werden, die min-destens zu 50 Prozent von Frauen besetzt sind.Danke schön.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Deligöz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Bär, wenn ich die Entwicklung der Debattenverfolge, höre ich durchaus Zwischentöne aus IhrerFraktion: Offenbar nehmen Sie die Frauenpolitik zuneh-mend ernst. Ich hätte aber gern, dass das durch Taten be-stätigt wird. Wenn ich mir Ihren Antrag durchlese undmir das Verhalten Ihrer Ministerin in den vergangenenWochen anschaue, dann muss ich feststellen: An dem,was Sie zu tun gedenken, ist nicht einmal im Ansatz zuerkennen, dass Sie Frauenpolitik ernst nehmen.
Stattdessen streiten sich zwei Ministerinnen in der Öf-fentlichkeit. Die Kanzlerin kommt in Basta-Manier,zieht darunter einen Strich und zieht sich auf die Positionzurück, dass der Wirtschaft „noch einmal die Chance ge-geben werden“ solle, auf der Grundlage von Absichtser-klärungen „freiwillig zu Fortschritten zu kommen“.Jetzt ist es so: Sie kreiden uns an, dass wir vor zehnJahren, unter der rot-grünen Regierung, über freiwilligeVereinbarungen geredet haben; das sei zu wenig gewe-sen.
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Ekin Deligöz
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Warum machen Sie genauso weiter, wenn es angeblichschon vor zehn Jahren falsch war? Dann ändern Sie esdoch!
Wenn es ein Fehler war, dann muss man es jetzt ändern.Kreiden Sie es uns nicht an, sondern machen Sie esheute anders!Noch eines: Es hat mich schon gestört, dass Sie eben„eine gewisse Frau Bergmann“ gesagt haben. Ihre Re-gierung hat Frau Bergmann zur Beauftragten in einemsehr wichtigen Themengebiet benannt, nämlich bei derAufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern.Sie hat in dieser Gesellschaft einen wirklich wichtigenAuftrag.
Jetzt sprechen Sie, Frau Bär, aber von „Frau Bergmann,an die sich niemand mehr erinnern kann“, so als ob sieunwichtig sei. Wie ernst nehmen Sie diesen Auftrag,wenn Sie Frau Bergmann dermaßen degradieren? Wieernst nehmen Sie denn dieses Thema?
Mit diesen Fragen sollten Sie sich einmal selber befas-sen.Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Sie sagen in IhremAntrag, dass sich die Herausforderungen aus dem ErstenGleichstellungsbericht ergeben würden. Da schlucke ichganz schön. Brauchen wir denn in diesem Parlamentwirklich Berichte, die erst von den Ministerien und derRegierung abgenommen werden müssen, bevor sie vor-gelegt werden, um zu wissen, wie es Frauen in diesemLand geht? Müssen wir es erst schriftlich vorliegen ha-ben? Müssen wir einem Bericht entnehmen, was in die-sem Land zu tun ist?
Was noch viel schlimmer ist: Dieser Bericht liegt eigent-lich schon vor; der Sachverständigenrat hat ihn bereitsim Januar vorgelegt.
Nur haben Sie, Frau Ministerin, den Bericht noch nichtabgenommen, sondern gerade einmal Ihren Staatssekre-tär hingeschickt, um ihn abnehmen zu lassen; dann ha-ben Sie ihn sofort wieder in die Schublade verbannt.
Jetzt sagen Sie: Wir warten einmal, was die Ministeriendazu sagen. – Was ist denn das für ein Selbstverständnisvon einer Frauenministerin? Wenn es nichts mit IhremSelbstverständnis zu tun hat, dann seien Sie zumindestso ehrlich, zu sagen, dass Ihnen schlicht und einfach dieErgebnisse nicht gefallen. In dem Bericht steht nämlich,dass noch viel getan werden muss, um echte Chancenge-rechtigkeit in diesem Land zu schaffen. Dieser Befundgefällt Ihnen nicht. Da ist es viel geschickter, den Be-richt in der Schublade verschwinden zu lassen, anstattihn uns vorzulegen und im Parlament darüber zu debat-tieren. Sie müssen schon ehrlich sagen, was Sie mit demBericht machen.Jetzt komme ich zum 100. Internationalen Frauentag.Ja, richtig: Viele Frauen haben gekämpft und sind aufdie Straße gegangen. Diesen Frauen sind wir etwasschuldig; wir müssen ihre Erbschaft antreten.
Das, was die Frauen geschaffen haben, verpflichtet.Wenn wir aber in dem Tempo, das die Regierung geradean den Tag legt, weitermachen, dann sind wir in weiteren100 Jahren nicht viel weiter. Dann bleiben wir auf derStelle stehen. In 100 Jahren drehen wir uns dann um undsind dankbar, dass es vor 200 Jahren wenigstens ein paarFrauen gegeben hat, die aktiv geworden sind.Ich sage Ihnen aber auch, was mich an der Diskussionin Deutschland insgesamt stört. Wir haben in den letztenTagen viel gelesen; viele Bücher sind veröffentlicht wor-den. In all diesen Debatten reden wir immer über dasTrennende zwischen den Frauen: Es werden die Frauenmit Kindern gegen die ohne Kinder ausgespielt, Haus-frauen gegen Berufstätige, Junge gegen Alte, Frauen mitMännern gegen solche ohne Männer, man spricht vonfreiwilligen Annäherungen oder aber von einer Ver-pflichtung. Ich finde, wir sollten heute hier im Bundes-tag den Mut haben, all diese Debatten hinter uns zu las-sen; denn konzentrieren müssen wir uns auf die heutigenund künftigen Rahmenbedingungen. Konzentrierenmüssen wir uns auf das, was das Parlament, die Politikmachen kann, um die Dinge zu verändern und um dieseszu Land gestalten.Ich spreche noch einmal die zehn Jahre Erfahrung mitder Selbstverpflichtung an. Wenn die Politik es nichtwagt, konkrete Schritte und Vorgaben zu machen, wirdsich in diesem Land nichts, aber auch rein gar nichts än-dern. Wir sind in der Verantwortung, angesichts dieser100 Jahre Frauentag etwas zu ändern.
Frau Allmendinger – viel zitiert, heute hier noch nicht –sagt: Frauen wollen Kinder und Karriere. Sie wollen al-les. Sie sind auf dem Sprung. Sie wollen erwerbstätigsein. – Die Zahl der Erwerbstätigen ist eindeutig gestie-gen, und zwar kontinuierlich. Gleichzeitig gibt es auchdie bittere Wahrheit: Das Arbeitsvolumen nimmt ab und37 Prozent – nur 37 Prozent – der Frauen in diesem Landhaben einen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob.84 Prozent der Teilzeitstellen sind von Frauen besetzt.
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Ekin Deligöz
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Es gibt noch eine Zahl, die mich selber ehrlich gesagterschreckt hat, sodass ich zweimal nachschauen musste:Lediglich 25 Prozent der Frauen in diesem Land erzie-hen minderjährige Kinder. 75 Prozent der Frauen habenentweder keine Kinder mehr im Haushalt oder habenvolljährige Kinder. Trotzdem wird auf dem Arbeitsmarktein Argument immer gegen sie verwendet. Die Unter-nehmen und auch die FDP sagen nämlich: Frauen kön-nen gar nicht in die Führungsetagen, weil ihnen die Ver-einbarkeitsfrage im Weg steht. – Das mag für 25 Prozentgelten. Warum sind die anderen 75 Prozent dann abertrotzdem nicht vertreten? Warum muss man sie danntrotzdem mit der Lupe suchen? Da kann doch das Argu-ment der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf nichtgelten.
Noch eines: Sie, Frau Ministerin, glorifizieren in derheutigen Ausgabe der Zeit die Ehe. Das kann jeder hal-ten, wie er will. Das ist eine private Sache. Das Steuer-recht und das Sozialversicherungsrecht in Deutschlandsind aber doch auf der Grundlage gestaltet, dass Frauenzu Hause bleiben und eben nicht erwerbstätig sind.
Es führt de facto zur Benachteiligung von Frauen. So-lange das so ist, sind wir in der Pflicht, das infrage zustellen. Wenn die politischen Strukturen Frauen benach-teiligen, dann müssen sie geändert werden. Das gilt auchund gerade für die ehebezogenen Leistungen.
Was müssen wir tun, Frau Ministerin? Zu tun gibt esviel: Gleichstellungsgesetz, Quote, gleicher Lohn fürgleichwertige Arbeit, eine Weiterentwicklung des Ehe-gattensplittings zu einer Individualbesteuerung. DieListe ist lang. Vor allem aber brauchen wir endlich eineFrauenministerin, die auch zur Frauenpolitik steht.
Politik muss meines Erachtens ermutigen. Sie, Frau Mi-nisterin, entmutigen Frauen. Politik muss gestalten. Sieaber schieben auf. Das ist zu wenig. Dies gilt insbeson-dere angesichts der Verpflichtung gegenüber all denFrauen, die vor 100 Jahren auf die Straße gegangen sind.
Das Wort hat die Bundesministerin Dr. KristinaSchröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der 100. Weltfrauentag ist für meine Generation ein Tag,um Danke zu sagen, Danke für all das, was Generationenvon Frauen vor uns erkämpft haben:
das Frauenwahlrecht, die formale rechtliche Gleichstel-lung von Mann und Frau, Selbstbestimmung und Unab-hängigkeit – Dinge, die für uns heute ganz selbstver-ständlich sind. Deshalb ist der 100. Weltfrauentag einFeiertag weiblicher Emanzipation, und zwar nicht nurvon traditionellen Rollenmustern, sondern junge Frauenemanzipieren sich auch von manchen Vorkämpferinnenweiblicher Emanzipation.
Viele Frauen meiner Generation haben es satt, sich vonanderen Frauen sagen zu lassen, wie man als emanzi-pierte Frau zu leben hat.
Wir wollen Wahlfreiheit. Wir wollen uns für Lebens-modelle entscheiden können, und zwar auch für solche,die nicht den Vorstellungen anderer Frauen entsprechen,ohne dafür wahlweise als egoistisch oder feige hinge-stellt zu werden.
Deshalb sollte von der heutigen Debatte vor allenDingen auch einmal folgendes Signal ausgehen: Respektvor privaten Lebensentscheidungen statt Diffamierungvon bestimmten Rollenmodellen.
Dafür müssen wir uns nur auf etwas verständigen, waseigentlich selbstverständlich ist: Gleichberechtigung istnicht Gleichschaltung und Gleichsetzung. Gleichberech-tigung berücksichtigt die Verschiedenartigkeit von Män-nern und Frauen.
– Sie fragen mich, woher ich das habe? Das sage ich Ih-nen: Die Frauenrechtlerin Helene Weber hat diesenSatz 1949 vor dem Deutschen Bundestag gesagt,
und zwar kurz nachdem sie im Parlamentarischen Rat alseine von vier Frauen den wohl revolutionärsten Grund-satz unseres Grundgesetzes erkämpft hat: „Männer undFrauen sind gleichberechtigt.“Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unse-rer Gesellschaft zu fördern – nicht im Sinne von Gleich-setzung, von Ergebnisgleichheit, sondern von Chancen-gleichheit –, das bleibt unsere gemeinsame Aufgabe,liebe Kolleginnen und auch liebe Kollegen.
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10528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Da ist viel zu tun. Frauen sind in Führungspositionenkaum vertreten. Wir alle sind uns einig, dass sich das än-dern muss. Das fängt bei den Arbeitszeiten und bei derArbeitskultur an. Unsere Arbeitswelt ist gerade in denFührungsetagen auf Männer oder – ich sage es allgemei-ner – auf Menschen zugeschnitten, die familiäre Verant-wortung delegieren können
oder die von vornherein auf Familie verzichten.Eine 70-Stunden-Woche nach dem Prinzip „Karrierewird nach Feierabend gemacht“ bezahlen diejenigen miteingeschränkten Karrierechancen, die nach Feierabenddie Kinder bettfertig machen.
Frauen erwarten deshalb zu Recht mehr von uns alslächerliche Überbietungswettbewerbe der Oppositionnach dem Motto: Wer fordert die höchste Quote?Frauen erwarten vielmehr, dass wir bei den Ursachenungleicher Chancen ansetzen und dass wir ihre Bedürf-nisse in den Blick nehmen.
Wenn Frauen Teilzeit arbeiten, um Zeit für Familie zuhaben – gestern konnten wir in einer Allensbach-Studielesen, dass 59 Prozent der unter 45-Jährigen in Deutsch-land dieses Modell für das optimale halten –, dann sinddiese Frauen doch nicht feige. Das ist eine selbstbe-wusste Entscheidung, die wir genauso respektieren undermöglichen müssen wie diejenige, ganz auf den Berufzu setzen oder ganz für die Familie da zu sein.
Nicht die Frauen müssen sich also ändern. Ändernmuss sich unsere Arbeitswelt.
Die windelweiche Selbstverpflichtung unter der rot-grü-nen Bundesregierung 2001 war doch ein Rohrkrepierer.Es gab viel joviales Schultergeklopfe, aber keine Inhalte.Aber so war Gerhard Schröder eben.
Ich setze deshalb auf gesetzliche Regelungen.
Erstens. Ich will Unternehmen gesetzlich verpflich-ten, sich konkrete Zielvorgaben für den Vorstand und fürden Aufsichtsrat zu setzen.
Diese Zielvorgaben können die Unternehmen – andersals es bei Ihrer Selbstverpflichtung der Fall war – nichtignorieren.
Zweitens. Die Unternehmen werden auch gesetzlichverpflichtet, diese Zielvorgaben transparent zu machen.Da wird es ruck, zuck Rankings geben. Diese Zielvorga-ben müssen vor der Belegschaft, vor dem Betriebsrat,vor einer kritischen Presse und vor der Öffentlichkeit ge-rechtfertigt werden.
Drittens. Ich will Sanktionen, wenn die eigenen Ziel-vorgaben nicht eingehalten werden,
zum Beispiel die Anfechtbarkeit von Aufsichtsratswah-len.
Immer mehr Unternehmen haben sich gerade in denletzten Wochen und Monaten selbst solche Zielvorgabengesetzt. Das ist nicht mehr nur die Telekom. In den letz-ten Monaten sind BMW, Daimler, Bosch, Eon, Merckund Airbus hinzugekommen. Es geht also, meine Damenund Herren.Union und FDP setzen auf eine Politik der fairenChancen, die allen Frauen zugutekommt. Diese Politikhat die Union in den letzten Jahrzehnten geprägt. Es wareine unionsgeführte Bundesregierung, bei der es dieerste Frau in einem Bundeskabinett gab: ElisabethSchwarzhaupt.
Es war die Union, die vor 25 Jahren das Frauenressorteingerichtet hat. Es war die Union, die die Anerkennungvon Kindererziehungszeiten bei der Rente durchgesetzthat,
die einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatzeingeführt hat,
die die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs-kosten und haushaltsnahen Dienstleistungen durchge-setzt hat, und es war die Union, die den Ausbau der Kin-derbetreuung auf den Weg gebracht hat.
Jetzt geht es darum, die Jungen und die Männer stärkereinzubeziehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10529
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Wenn wir Frauen zu fairen Chancen verhelfen wollen,dann müssen wir auch Männern die Chance geben, sichvon Rollenmustern zu lösen und auf Partnerschaft zu set-zen.
Auch das hat schon Helene Weber gesagt:Es gibt in der Politik wie überall zwischen Mannund Frau eine Partnerschaft.Auf diese Partnerschaft sollten wir bauen. Das muss einegleichberechtigte Partnerschaft werden.
Frau Ministerin, Sie können natürlich weiterreden,
aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass das zulas-
ten der Redezeit Ihrer Kolleginnen und Kollegen geht.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Ich komme zum Schluss. – Setzen wir auf diese Part-
nerschaft und schaffen wir die Voraussetzung für Wahl-
freiheit und selbstbestimmte Entscheidungen von Män-
nern und Frauen. Wir werden das ebenso packen wie die
Frauen, die vor 100 Jahren das Wahlrecht erkämpft ha-
ben: mit Selbstbewusstsein, mit Stolz und mit einer ge-
sunden Portion Sturheit.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Roth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin, die Leidenschaft Ihres Vortrags
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eigentlichum Wichtiges geht, nämlich um die Frage, wie die Bun-desregierung, das Parlament, von mir aus fraktionsüber-greifend, Rahmenbedingungen schaffen kann, damit diesicher schon gut fortgeschrittene Gleichberechtigung inDeutschland noch besser wird.
Das heißt, es geht um Fortschritt und nicht um Pause. Esgeht nicht darum, hier zu sagen, was wir alles schon er-reicht haben, Frau Ministerin.
Vor 100 Jahren haben 1 Million Frauen dafür ge-kämpft, dass das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Da-mals hat sich die Sozialdemokratie das Frauenwahlrechtauf ihre Fahnen geschrieben. Es bedurfte auch noch ei-ner Revolution im wahrsten Sinne des Wortes, ehe dasFrauenwahlrecht 1919 eingeführt wurde.
Das ging nicht nach dem Motto: Schauen wir mal, wirmachen mal eine Quote, und dann gucken wir mal, ob esgeht oder nicht. Nein, wir haben Rahmenbedingungengesetzt. Die Rahmenbedingung war die Einführung desFrauenwahlrechts. Dafür sind wir dankbar, und daraufsind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenstolz.
Ich will mich jetzt nicht nur zu dem Thema Wahlfrei-heit einlassen. Es gilt: Wahlfreiheit setzt voraus, dassdas, was wir wählen wollen, auch wählbar ist. Es kannaber nicht von Wahlfreiheit gesprochen werden, wenndie Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht vorhan-den ist.
Das ist eine Binsenweisheit.
Ich will auf den Antrag der SPD zu sprechen kom-men. Wir nehmen diesen 100. Geburtstag zum Anlass,um nicht nur über Deutschland und die Frauenpolitik inDeutschland zu reden, sondern auch über die Frage derGleichstellung der Frauen in der Welt, vor allem in Ent-wicklungsländern. Deshalb ist das Ministerium für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hier jaauch vertreten. Es geht vor allen Dingen darum, dass wirdie Unterdrückung der Frauen dort überhaupt erst einmalwahrnehmen. Sie haben wirklich noch einen langen Wegvor sich. Ich weiß das, wir alle wissen das. Es geht in derEntwicklungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes auchdarum, dass über das Leben von Millionen von Frauen inden Entwicklungsländern entschieden wird.Eine Zahl ist mir heute ganz wichtig: 75 Prozent derunbezahlten Arbeit in diesen Ländern übernehmen dieFrauen. Wenn die Frauen nicht bereit wären, diese unbe-zahlte Arbeit zu erledigen, würden diese Länder ganzanders dastehen. Diese Situation der Frauen muss sichaber ändern. Es ist unsere Aufgabe, dies im Rahmen derEntwicklungspolitik zu unterstützen.
Die Armut ist weiblich; dies ist auch bei uns so, aber vorallen Dingen dort. Es geht darum, den Frauen in diesenLändern beispielsweise die Möglichkeit zu eröffnen,nicht nur einen Schulabschluss, sondern auch einen Uni-
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10530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Karin Roth
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versitätsabschluss zu erreichen, auch und gerade umweiterzukommen.Es ist wichtig, dass auch die Vereinten Nationen fest-gestellt haben, dass die Gleichberechtigung der Frauen– das gilt auch für uns – ein zentrales Thema ist und diesoziale Lage der Frauen, insbesondere in den Entwick-lungsländern, dadurch verbessert wird. Frauen sind derMotor für wirtschaftliches Wachstum und für sozialeVerantwortung. Das gilt natürlich auch bei uns, aber vorallen Dingen in Entwicklungsländern. Die Frauen, diesich dort engagieren, sind ehrgeizig und übernehmenVerantwortung.Interessant ist, dass die Quotenregelungen in diesenLändern – Frau Ministerin, jetzt hören Sie einmal zu –
dazu geführt haben, dass Frauen in den Parlamenten inAfrika vertreten sind, zum Beispiel in Angola, Burundi,Tansania und Uganda mit über 30 Prozent. Ruanda hatmit über 56 Prozent die weltweit höchste Frauenquoteim Parlament. Das kam nicht einfach nur so, sondernwurde durch eine Frauenquote in den entsprechendenWahlgesetzen erreicht.
Insofern sollten wir uns hier in Deutschland nichtsvormachen: Ohne Frauenquote in den Unternehmenwerden wir die Gleichberechtigung nicht erreichen. Daswissen wir im Grunde alle. Die Schonfrist ist zu Ende.Nach zehn Jahren der Selbstverpflichtung der Unterneh-men ist jetzt Schluss. Ich hoffe, dass das Thema morgennoch einmal einen besonders prominenten Part be-kommt.
Wir sind der Meinung: Die Frauen in den Entwick-lungsländern setzen auf uns als Vorbild. Dass wir in denParlamenten so gut vertreten sind, ist ja auch ein Ergeb-nis der Frauenquote in den Parteien.
Diejenige Partei, die noch keine Frauenquote hat, über-legt sich ja zurzeit, eine einzuführen. Das wissen wir.
Wir wollen Sie ermuntern: Führen Sie die Frauenquoteein!Entscheidend für uns Frauen, die etwas bewegen wol-len – Frau Ministerin, natürlich gemeinsam mit denMännern, partnerschaftlich sowieso –, ist, dass wir dieentscheidenden Prioritäten setzen und Strukturen schaf-fen.
Kollegin Roth, achten Sie bitte auf die Zeit.
– Danke. – In der Entwicklungspolitik, Frau Staats-
sekretärin, brauchen wir natürlich weiterhin Genderpoli-
tik. Wir brauchen weiterhin die Zielgrößen und die ent-
sprechende Finanzierung. Wir brauchen im Entwick-
lungsbereich die Unterstützung der Frauenpolitik und
der Frauenorganisationen in diesen Ländern. Das ist zen-
tral. Das gilt im Übrigen auch für die Bekämpfung von
Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel sexualisier-
ter Gewalt gegen Frauen. Dies muss ein Ende haben. Da-
für müssen wir eintreten.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Bracht-Bendt
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!1911 zogen in Berlin die Frauen auf die Straße, um fürdas Frauenstimmrecht zu kämpfen. Auch 100 Jahre nachEinführung des Internationalen Frauentages sind Frauenhäufig schlechter gestellt als die Männer. Frauen sind invielen Ländern bis heute die Schwächsten der Gesell-schaft. Unter dem Vorwand der Tradition werden Mäd-chen von Bildung ausgeschlossen. Weltweit sind 12 Mil-lionen Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder,Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung.In Deutschland ist die Gleichheit von Männern undFrauen in Art. 3 des Grundgesetzes verankert. Dennoch– das wissen wir alle – sind wir noch nicht am Ziel; ichsage als Stichwort nur Entgeltgleichheit bzw. Entgeltun-gleichheit. Deshalb ist der Internationale Frauentag einguter Anlass, um Probleme beim Namen zu nennen.
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. In den letzten15 Jahren ist die Zahl der Familienernährerinnen deut-lich gestiegen. Im Westen stieg die Zahl von 6,3 auf9,5 Prozent, im Osten von 10,4 sogar auf 13,1 Prozent.
Viele Frauen werden nicht freiwillig zu Hauptverdiene-rinnen; Sie haben recht. Sie werden es, wenn zum Bei-spiel plötzlich der Mann arbeitslos wird. Hinzu kommtdie steigende Zahl der Alleinerziehenden. Deshalb wer-den Fragen der Einkommens- und Aufstiegschancen vonFrauen immer bedeutender. Obwohl in Deutschland51 Prozent der Hochschulabsolventen Frauen sind, be-trägt der Verdienstunterschied 23 Prozent. In Europa ha-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10531
Nicole Bracht-Bendt
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ben wir damit die rote Laterne; da gibt es nichts zu be-schönigen.
Die Ursachen sind vielfältig. Deshalb muss an ver-schiedenen Stellen – ich sage: an verschiedenen Stellen –angesetzt werden.
Es beginnt bei der Berufsauswahl; das liegt mir beson-ders am Herzen. Hier dominieren immer noch traditio-nelle Bilder. Jungen lernen Kfz-Mechatroniker und In-dustriemechaniker, Mädchen werden Verkäuferin, Fri-seurin oder Bürokauffrau. Aber leider entscheiden sichMädchen oft für Berufe, die von vornherein eine Ein-bahnstraße sind. Damit verbunden sind häufig ein niedri-ges Einkommen und wenige Aufstiegsmöglichkeiten.Wir müssen die Ausbildung von Frauen in technischenFächern fördern.
Es reicht nicht, wenn einmal ein Berufsberater in dieSchule kommt. „Fit machen fürs Leben“ muss in derSchule immer wieder Thema sein.Eine andere Frage lautet: Warum bekommt ein Kfz-Mechatroniker mehr Gehalt als eine Altenpflegerin? Aufdiese Frage weiß ich keine Antwort. Die Unterbewer-tung von sozialen Berufen zu beenden, ist für mich eingesellschaftliches Anliegen. Das müssen wir in Angriffnehmen. Ich bin froh, dass Gesundheitsminister Röslerin der Pflege einen Schwerpunkt setzt.
Ein anderer Grund, warum Frauen statistisch gesehenweniger verdienen als Männer, sind die Erwerbsunter-brechungen; sie wurden schon mehrmals angesprochen.Anders als in Frankreich und Skandinavien steigen vieleFrauen in Deutschland mehrere Jahre aus dem Berufsle-ben aus, um sich ganz der Erziehung der Kinder zu wid-men. Viele Frauen arbeiten Teilzeit – wir hörten vorhin:84 Prozent –, und zwar nicht, weil sie dazu gedrängtwerden, sondern weil viele Frauen Teilzeit arbeiten wol-len – ich wiederhole: arbeiten wollen. Das muss klarge-stellt sein.Jeder Monat, den eine Frau im Beruf aussetzt, bedeu-tet Abstriche bei der Rente. Ich glaube, dass viele Frauendie Änderungen im Unterhaltsrecht nicht kennen. Vordem Hintergrund, dass jede zweite Ehe geschieden wird,ist eine längere Auszeit aus dem Beruf gefährlich. Des-halb wird das erfolgreich gestartete Aktionsprogramm„Perspektive Wiedereinstieg“ von großer Bedeutung sein.Altersarmut von Frauen ist für mich ein Schreckge-spenst. Gleichstellungspolitik muss darauf abzielen, so-ziale Risiken in den Lebensläufen und Erwerbsbiogra-fien zu erkennen, und eine Bandbreite von Möglich-keiten bereithalten. Im Mittelpunkt muss der Abbau vonStereotypen bei Bildung, Ausbildung und Beschäftigungstehen.Gleichstellungspolitik für heute und morgen mussVielfalt bedeuten. Familienfreundliche Personalpolitikin Unternehmen – sie wurde schon mehrmals angespro-chen – muss Hand in Hand gehen mit ganz unterschiedli-chen Möglichkeiten, das Berufsleben individuell zu ge-stalten. Bei der Gleichstellungspolitik müssen wir alleran: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Aber wir wol-len keine Ergebnisgleichheit.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Ziegler für die SPD-Frak-
tion – wenn der Kollege Wunderlich sie bitte vorbeilässt.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Männer stehen unseben doch öfter einmal im Weg.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die franzö-sische Regierung gilt ja nicht unbedingt als Hort linkenSektierertums. Und doch hat gerade Frankreich unterseinem konservativen Präsidenten Sarkozy beschlossen,dass bis 2017 40 Prozent der Aufsichtsrats- und Verwal-tungssitze mit Frauen besetzt sein müssen. Damit hatFrankreich das nachvollzogen, was Norwegen bereitsvor Jahren erfolgreich eingeführt hat, nämlich gesetzli-che Quotenregelungen, um den Stillstand in SachenGleichstellung endlich zu überwinden. Das ist natürlichim Interesse der Frauen, aber – seien wir ehrlich – auchim Interesse der Unternehmen selbst.Wir wissen genauso wie die Franzosen und die Nor-weger, dass freiwillige Maßnahmen nahezu wirkungslossind. Wir haben es mehrfach betont: Das, was wir uns er-hofft haben, ist seit zehn Jahren nicht in dem Maß einge-treten, wie wir es uns vorgestellt haben. Die Menschensehen das und ziehen ihre Schlüsse daraus. Ich freuemich, dass auch die FDP-Frauen zum Teil ihre Schlüssedaraus gezogen haben. Wir werden also immer mehr.Wir werden Zeugen eines gesellschaftlichen Bewusst-seinswandels. Immer mehr Frauen und Männer sagen:Wir brauchen keine freiwilligen Maßnahmen, sondernverbindliche gesetzliche Regelungen.Was aber tut unsere Ministerin Schröder? Einzig beiihr und bei der Bundesregierung zeichnet sich leider kei-nerlei Erkenntnisgewinn ab. Sie verkündet immer wie-der unverdrossen, wiederum ein Gesetz vorlegen zu wol-len, mit dem sie erneut auf Freiwilligkeit bei denUnternehmen setzt. Als mögliche Sanktion hebt sie denZeigefinger –
mehr ist nicht. Das kann nicht sein. So viel Naivität kön-nen wir nicht mehr zulassen.
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10532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dagmar Ziegler
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Um die Gleichstellung endlich voranzutreiben, brauchtes die ganze Frau.Ihre Kollegin von der Leyen ist da von einem anderenKaliber; das haben wir in den letzten Wochen erlebt. Umvon ihren Versäumnissen bei Hartz IV abzulenken, hatsie flugs eine 30-Prozent-Quote für Frauen in Aufsichts-räten gefordert. Leider ist sie dann von unserer Bundes-kanzlerin Merkel zurückgepfiffen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bär, das Ver-sagen der Frauenministerin kommt uns teuer zu stehen.Denn wenn Frauen weiterhin vergebens auf gleiche Teil-habe in Wirtschaft und Gesellschaft warten müssen,
dann schwindet das Vertrauen in unsere demokratischenInstitutionen. Die Bemerkung bzw. Unterstellung derMinisterin, wenn sich Frauen für Teilzeit entschieden,dann sei das frei gewähltes Schicksal, fand ich ziemlichvermessen. Das ist für viele Frauen purer Hohn.
Der Schaden, den Ihre Untätigkeit anrichtet, lässt sichauch konkret in Cent und Euro beziffern.
Denn Frauen, die man mit Niedriglöhnen abspeist – FrauBär, davon haben Sie sicherlich noch nichts zu spürenbekommen –, sind später häufig von Altersarmut betrof-fen. Auch die Vernachlässigung unserer gut ausgebilde-ten weiblichen Fachkräfte in der Wirtschaft bedeutet fürdiese Wirtschaft Milliardenverluste. Man muss sich ein-mal hinsetzen und die Fakten genau anschauen.
Die Kosten für eine aktive und wirkungsvolle Gleich-stellungspolitik wären sehr viel geringer. Deshalb kannich Ihnen wirklich nur noch einmal ins Stammbuchschreiben: Lesen Sie das Gutachten! Ziehen Sie für denersten Gleichstellungsbericht kluge Schlüsse aus demGutachten, und lassen Sie es nicht in der unteren Schub-lade verschwinden! Wir befürchten allerdings, dass ge-nau das passiert. Deshalb bleibt unseren Frauen wohl nurübrig, auf die nächste Wahl zu warten. Ich verleihe abermeiner Erwartung und Hoffnung trotzdem noch einmalAusdruck und sage: Es gibt viele Frauen in der Koaliti-onsfraktion, die so denken wie wir. Lassen Sie uns docheinfach einmal gemeinsam eine Initiative starten!
Die Kollegin Fischbach hat für die Unionsfraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich glaube, Frau Marks, wir haben heuteeine Chance verpasst; das haben Sie gerade wieder be-legt. Wenn unsere Mütter und Großmütter das ThemaFrauen und Gleichberechtigung vor 100 Jahren so ange-gangen hätten, dann hätten sie es, glaube ich, nicht ge-schafft, dass Frauen heute gleichberechtigt, selbstbe-wusst und eigenverantwortlich leben können.
Aber sie haben eines besser gemacht als wir. Dass wirdas heute in dieser Debatte zum Teil nicht hinbekommenhaben, stimmt mich etwas traurig; ich hätte die Chancegern genutzt. Anstatt dass wir uns an den Stellen, an de-nen wir gemeinsam etwas erreichen können, gemeinsamauf den Weg machen, schaffen wir es immer wieder, unsgegenseitig – –
– Sehen Sie, das ist genau der Punkt, Frau Humme: Einbisschen mehr Ruhe, den anderen ausreden lassen, ihnrespektieren, auch seine Entscheidung respektieren,
das wäre ein guter Weg.Frau Marks, Sie haben gesagt, von alleine gehegleichstellungspolitisch nichts voran; da haben Sie recht.Aber es geht auch nichts voran, wenn wir die Männernicht mitnehmen.
– Nicht „die Armen“, Frau Roth, das ist genau falsch.Das ist genau der Punkt, der uns alle Möglichkeiten, diewir haben, kaputtmacht.Wir brauchen Mehrheiten. Wenn die Männer nicht mit-ziehen, können wir uns so weit aus dem Fenster lehnen,wie wir wollen. Wir müssen die Männer mitnehmen.Das haben unsere Großmütter und Mütter früher auchgeschafft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10533
Ingrid Fischbach
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Sie haben die Männer überzeugt, dass es richtig war.Wir wollen das ja nicht, weil wir angeblich bessersind, sondern wir haben andere Dinge zu bieten; dennwir sehen die Dinge anders.
Wir gehen aufgrund unserer Entwicklung und Ge-schichte pragmatischer an die Dinge heran und treffenEntscheidungen anders. Deswegen ist es wichtig, dasswir davon überzeugen, dass dann, wenn Frauen mitmi-schen – an allen Stellen und in allen Bereichen –, bessereErgebnisse erzielt werden. Das gilt genauso für Auf-sichtsräte und Vorstände. Alle Unternehmen, die Frauenin der Führungsriege haben, schreiben bessere Ergeb-nisse.
Ich finde es wirklich schade, dass wir diese Chanceheute vertun.
Es ist ein 100. Geburtstag. An dieser Stelle sollte mandoch wirklich einmal schauen, was wir gemeinsam aufden Weg bringen können, und nicht immer dazwischen-rufen.
Es gibt Forderungen, die wir gemeinsam durchsetzenmüssen. Es ist für mich und für viele junge Frauen nichthinnehmbar, dass Frauen in Deutschland bei gleicherAusbildung und gleichwertiger Arbeit heute noch23 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kol-legen.
Lassen Sie uns doch einmal an die Ursachen herange-hen, gemeinsam Grenzen überschreiten und sagen: Daswollen wir jetzt verändern; das ist unsere Aufgabe, diewir gemeinsam angehen. – Ich glaube, hierfür brauchenwir bei unseren Kollegen gar keine große Überzeu-gungsarbeit zu leisten.
Vielleicht müssen wir vermehrt bei den Gewerkschaf-ten Überzeugungsarbeit leisten, die die Löhne ja auchausverhandeln. Wenn ich mir die dortigen Vorstandsrie-gen anschaue, dann muss ich ganz ehrlich sagen: Für Ta-rifabschlüsse sind vorrangig Männer verantwortlich.
– Sie handeln doch die Tarifverträge aus. Da müssen Siehier nicht den Kopf schütteln.
– Aber Boni und Sonderzahlungen. Haben Sie schoneinmal an Verhandlungen teilgenommen? Wer denktdenn daran, dass Frauen andere Erwerbsbiografien oderauch Erwerbsbrüche in ihrer Biografie haben?
Hier muss man doch ansetzen und dafür sorgen, dass dieSituationen anders bewertet werden.
Wie wird denn Teilzeitarbeit bei uns bewertet? Auchhier müssen wir etwas tun. Sie sehen es doch: Sie reagie-ren genau so, wie man nicht reagieren sollte.
– Das ist genau der Punkt. Wenn man die Gewerkschaf-ten auch einmal in die Pflicht nimmt, dann sagen Sie:Die haben nichts damit zu tun, das müssen die Unterneh-men machen. – Ich möchte, dass sich die Gewerkschaf-ten nach 100 Jahren auch den Frauenfragen verpflichtetfühlen.
Sie können 100-mal dagegenrufen; das nützt nichts. Dassind diejenigen, die verhandeln.Ich wünsche mir, dass auch in den GewerkschaftenFrauen an der Spitze sind. Für andere Bereiche werdenentsprechende Forderungen aufgestellt. Warum nicht inBezug auf die Gewerkschaften? Wir müssen mit bestemBeispiel vorangehen. Wir als CDU/CSU-Fraktion kön-nen das.Die Frau Ministerin hat noch einmal deutlich gemacht– dafür bin ich sehr dankbar –, welche gleichstellungs-politischen Erfolge unter einer CDU/CSU-Bundesregie-rung erzielt wurden.
Es gab Zeiten – das geben wir ehrlich zu –, in denen dasnicht das große Thema war. Da hatten wir andere Pro-bleme, die wir lösen mussten, und das Thema trat etwasin den Hintergrund. Das bedeutet aber nicht, dass wir dasSchiff nicht wieder gemeinsam in Fahrt und auf den Wegbringen können.Ich finde, wir haben eine gute Chance, gemeinsam fürVerbesserungen zu sorgen, damit die Grundsatzarbeit,die unsere Mütter und Großmütter geleistet haben, nichtumsonst war. Lassen Sie uns die Arbeit fortführen.Ich möchte mit einem Auszug aus der Stellungnahmedes Katholischen Frauenbundes in Deutschland schlie-ßen, der zu seinem 100. Geburtstag geschrieben hat:Heute nutzen wir die Möglichkeiten unserer Zeit,um einen Neuaufbruch zu schaffen – mit dem Ge-
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10534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Ingrid Fischbach
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wicht der hundertjährigen Geschichte im Gepäck,mit dem Wind der hundertjährigen Geschichte imRücken. Morgen werden unsere Töchter dort dasfortsetzen, wozu heute die Zeit für Veränderungennoch nicht reif war. Sie werden dies tun, wenn wirmutig auch für jene Forderungen eintreten, dienicht selbstverständlich Beifall finden.Dazu lade ich Sie herzlich ein.
Das Wort hat die Kollegin Schön für die Unionsfrak-tion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die ungarische Schauspielerin Zsa Zsa Gaborhat einmal gesagt: Wenn ein Mann zurückweicht, weichter zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser An-lauf nehmen zu können.
Das ist ein schönes und passendes Zitat, wenn wir indiesen Tagen den 100. Geburtstag des Weltfrauentagsfeiern. Es ist ein Tag mit einer beeindruckenden undwechselvollen Geschichte. Diese Geschichte haben wirim Antrag der Regierungskoalition bewusst in den Vor-dergrund gestellt.Liebe Kollegin Marks, Sie haben diesen guten Antrageben kritisiert. Ich frage mich, warum die Oppositions-parteien nicht selber einen Antrag zum 100. Jahrestagvorgelegt haben.
Die Grünen haben einen Antrag vorgelegt, der aberauf einen speziellen Teil des ganzen frauenspezifischenSpektrums reduziert ist. Das finde ich sehr schade.Wir erinnern in unserem Antrag an die Genese derFrauenbewegung, an ihren unterschiedlichen Verlauf inOst und West – die Kollegin Bär hat das dargestellt –und auch an die weltweite Bedeutung dieses Tages. Wirerinnern an all die Verbesserungen für Frauen und andiejenigen, die dazu beigetragen haben.Wir definieren in unserem Antrag aber auch zukünf-tige Herausforderungen. Denn 100 Jahre Weltfrauentagsind nicht nur ein Grund zum Feiern, sondern in ersterLinie Ansporn und Verpflichtung für die nächsten100 Jahre.
Ich will kurz auf die Herausforderungen eingehen. Ichsehe die Hauptherausforderung derzeit darin, in unserenAnstrengungen nicht nachzulassen. Denn gerade weilschon so vieles erreicht wurde, scheint das Thema vorallem junge Menschen nicht sonderlich zu interessieren.Studien bestätigen das.Fragt man 20-jährige Frauen und Männer nach ihrerMeinung zur Gleichstellung, wie es in der Sinus-Studieder Fall war, so stellt man fest, dass sie ganz selbstver-ständlich davon ausgehen, dass sie gleiche Chancen ha-ben. Bei genauer Nachfrage werden die Unterschiede imRollenverständnis und in den Lebensentwürfen jedochsehr wohl erkennbar. Dabei wird deutlich: Gleichberech-tigung ist noch längst nicht in allen Köpfen angekom-men. Das ist aber notwendig. Denn nur dann, wenn sichim Denken etwas ändert, wird sich auch in der Praxis et-was ändern. Umgekehrt gilt: Nur dann, wenn sich in derPraxis etwas tut, wird sich auch im Denken etwas än-dern.Dass es in der Praxis Nachholbedarf gibt, ist deutlichgeworden. Die einzelnen Punkte sind heute Nachmittagoft genug genannt worden: Frauen in Führungspositio-nen, in der Wissenschaft und in den Hochschulen, in denMedien, sowohl aktiv als auch passiv – das ist noch nichtangesprochen worden –, aber auch die politische Partizi-pation auf allen Ebenen. In all diesen Bereichen schlum-mern noch große Potenziale. Dabei geht es nicht darum,wie Herr Ackermann vielleicht glaubt, etwas farbigerund schöner zu machen, sondern es soll schlicht und ein-fach fairer und besser gemacht werden.
Das Thema ist nach wie vor aktuell. Es besteht nachwie vor Handlungsbedarf, was das Denken und die Pra-xis angeht. Ich wünsche mir, dass der Weltfrauentag indiesen Tagen dem Ganzen neuen Schwung gibt, undzwar mit Ihrer aller Unterstützung.Wir sollten am 8. März unser Augenmerk allerdingsnicht nur auf die Frauen als Gestalterinnen richten, son-dern auch auf die Verbrechen, die ihnen angetan werden.Tagtäglich werden Frauen misshandelt, missbraucht undzum Verkauf ihres Körpers gezwungen. Um diesenFrauen zu helfen, gibt es viele Hilfsorganisationen undAngebote. Ich denke, auch der 100. Weltfrauentag isteine gute Gelegenheit, um all den Menschen, die sich fürdiese Frauen einsetzen, ein Wort des Dankes zu sagen.
Auch auf internationaler Ebene bestehen noch großeHerausforderungen. Weltweit werden Frauen als Mittelder Kriegsführung vergewaltigt. Bei Kriegen und Kata-strophen sind gerade Frauen die Hauptleidtragenden.Man muss aber auch sehen, dass es gerade die Frauensind, die in von Kriegen und Naturkatastrophen zerrütte-ten Ländern die Gesellschaft zusammenhalten. Es sinddie Frauen, die Aufbauarbeit, Versöhnungs- und Zu-kunftsarbeit leisten. Es sind starke Frauen in den Ent-wicklungsländern und Krisenregionen, die am heutigen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10535
Nadine Schön
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Tag besonders unseren Respekt und unsere Solidaritätverdienen.Gerade in diesen Tagen haben wir es tagtäglich vorAugen: In Tunesien, Ägypten und Libyen werden wirZeugen einer nie für möglich gehaltenen Demokratisie-rungsbewegung. Dabei marschieren häufig die Frauenvorweg. Es sind mutige Frauen, denen am Weltfrauentagunsere Solidarität gilt.
Ich freue mich, dass wir in diesen Tagen und auch zu-künftig intensiv über diese Themen diskutieren können.Ich bin stolz darauf, den 100. Jahrestag des Weltfrauen-tags mit Ihnen und all den Frauenverbänden und -organi-sationen sowie den Gleichstellungsbeauftragten, die indiesen Tagen in Berlin tagen, und natürlich mit allenFrauen feiern zu können. Ich sage: Happy Birthday, aufdie nächsten 100 Jahre und darauf, dass wir Frauen indiesen 100 Jahren noch oft zurückweichen, allerdingsnur um Anlauf zu nehmen!Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/4860 mit dem Titel „100 Jahre Internationaler Frau-
entag“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4846 und 17/4852 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Bettina Herlitzius, Friedrich Ostendorff,
Undine Kurth , weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge-
setzes zur Änderung des Baugesetzbuchs –
Beschränkung der Massentierhaltung im Au-
ßenbereich
– Drucksache 17/1582 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/4724 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir später na-
mentlich über diesen Gesetzentwurf abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich würde gern die Aussprache eröffnen, werde das
aber erst tun, wenn all diejenigen, die an dieser Debatte
teilnehmen wollen, einen Sitzplatz gefunden haben und
alle anderen ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales
fortsetzen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Götz für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Jahrwollen wir das Baugesetzbuch anpassen und die Baunut-zungsverordnung ändern. Dabei geht es vor allem da-rum, den Klimaschutz stärker zu verankern, den Vorrangder Innenentwicklung zu stärken und die Genehmi-gungsverfahren weiter zu entbürokratisieren. Das istnichts Neues, sondern steht so in der Koalitionsvereinba-rung. Es macht allerdings wenig Sinn, Woche für Wochejede einzelne Bestimmung im Baugesetzbuch oder in derBaunutzungsverordnung kleckerweise hier im Plenumauf die Tagesordnung zu setzen.
Es ist purer Aktionismus, wenn die Grünen ständigneue Einzelanträge zum Bauplanungsrecht produzieren.Heute ist es der Außenbereich nach § 35 des Baugesetz-buches. Einmal geht es um die Spielhallenproblematik inder Baunutzungsverordnung, ein anderes Mal um Kin-derlärm in Wohngebieten.
Hierzu ändern wir übrigens gerade das Bundes-Immissi-onsschutzgesetz. Außerdem haben wir erklärt, dass wirzusätzlich die Baunutzungsverordnung ändern werden,um Rechtssicherheit zu schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ma-chen Sie konstruktiv mit, wenn wir wie vorgesehen dasBauplanungsrecht insgesamt novellieren! Lassen Sieeinfach diese Spielchen mit Einzelanträgen! Sie verwir-ren damit nur die Leute vor Ort, die mit dem Baugesetz-buch wirklich arbeiten müssen.
Das Gesetzgebungsverfahren für das gesamte Bau-und Planungsrecht wird gründlich vorbereitet. Ich be-grüße, dass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
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10536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Peter Götz
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Stadtentwicklung das Deutsche Institut für Urbanistikdamit beauftragt hat, eine Reihe von Expertengesprä-chen mit dem Titel „Berliner Gespräche zum Städte-baurecht“ durchzuführen. Auf diesem Weg konntenfrühzeitig Erfahrungen von Experten, und zwar aus derWissenschaft und der Praxis vor Ort, gewonnen werden.Es war auch selbstverständlich, dass die kommunalenSpitzenverbände ebenso frühzeitig in dieses Verfahreneingebunden waren. Die durchgeführte Auswertung isteine ausgezeichnete Grundlage für die anstehende No-vellierung des Baugesetzbuchs und der Baunutzungsver-ordnung.
Diese Auswertung bestätigt nochmals, dass sich dasgeltende Bau- und Planungsrecht dem Grunde nach be-währt hat. Es wird in den Städten und Gemeinden in ho-hem Maße akzeptiert. Deshalb sind – auch das sage ichan dieser Stelle – revolutionäre Veränderungen nicht zuerwarten. Vielmehr wird es im Wesentlichen darum ge-hen, die bestehenden Planungsinstrumente weiterzuent-wickeln und fortzuschreiben. Dabei ist auch klar, dasswir die Belange des Klimaschutzes und die Anpassun-gen an den Klimawandel als dauerhafte Zukunftsaufgabeder Städte und Gemeinden stärker verankern werden.Klimaschutz hat vor allem eine städtebauliche Dimen-sion. Ihm können die Gemeinden bei ihren Vorgaben zurörtlichen Bodennutzung Rechnung tragen.Wir wollen im Bau- und Planungsrecht den Bereichder Entwicklung von Windenergie an Land angemessenregeln. Dies entspricht übrigens den Grundzügen unse-res bereits beschlossenen Energiekonzepts. Konkret gehtes dabei um die Absicherung des Ersatzes alter durchneue Windenergieanlagen. Davon sind sowohl Anlagenim Bebauungsplangebiet als auch im Außenbereich be-troffen. Wenn wir über Änderungen in Bezug auf denAußenbereich nachdenken, sind wir ganz schnell bei derprivilegierten landwirtschaftlichen Nutzung, mit der wiruns ebenfalls auseinandersetzen müssen.Wir wissen sehr wohl, dass die Ansiedlung von Anla-gen der Intensivtierhaltung im planungsrechtlichen Au-ßenbereich in bestimmten Regionen stark zugenommenhat. Dies führt vor Ort zu entsprechenden Nutzungskon-flikten in den Gemeinden. Deshalb war dieses Problemauch Thema der eingangs von mir zitierten „BerlinerGespräche zum Städtebaurecht“. Dort war man überwie-gend der Auffassung, dass die Kommunen nach der gel-tenden Rechtslage über eine Reihe von bauplanungs-rechtlichen Steuerungsinstrumenten verfügen, um mitden Nutzungskonflikten umgehen zu können.Die Kommunen haben heute einen ganzen Instrumen-tenkasten, aus dem sie das Passende für ihre Gemeindeauswählen können, von der Aufstellung eines einfachenBebauungsplanes für den Außenbereich nach § 30 Bau-gesetzbuch über die Aufstellung mehrerer Bebauungs-pläne, die den Außenbereich der Gemeinde ganz oderteilweise erfassen, bis zur Ausweisung von Sondergebie-ten in Bebauungsplänen für gewerbliche Tierhaltungsbe-triebe. Im letztgenannten Fall würde außerhalb dieserGebiete in der jeweiligen Gemeinde der gesamte Privile-gierungstatbestand nicht mehr greifen. Das heißt, ein ge-plantes Bauvorhaben muss unter Hinweis auf das Son-dergebiet nicht mehr genehmigt werden.Es gibt also vor Ort viele Möglichkeiten, mit dieserProblematik umzugehen. Sie muss allerdings auch ge-nutzt werden. Die Entscheidung darüber treffen nichtwir hier in Berlin, sondern ausschließlich die Gemeindenin Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten,
und das ist auch in Ordnung. Sie tun dies im Rahmen ih-rer kommunalen Planungshoheit.
Meines Wissens sind zum Beispiel im LandkreisEmsland gegenwärtig mehrere Gemeinden dabei, mitden Instrumenten der geltenden Bauleitplanung die Ent-wicklung größerer Anlagen zur Haltung von Tieren zusteuern.
Unabhängig davon werden wir dieses Thema mit in dieBeratungen zum Baugesetzbuch aufnehmen, und wer-den, wenn notwendig, auch eine Lösung finden. Es istunsere politische Aufgabe, im parlamentarischen Ver-fahren das Für und Wider sorgfältig abzuwägen. Ichkann Ihnen versichern: Das werden wir auch tun.
Wichtig ist uns, dass wir uns nicht nur mit dem Au-ßenbereich beschäftigen, sondern auch mit der Innenent-wicklung. Innenstädte und Ortskerne sind die Schlüsselfür eine gute Stadtentwicklung. Dort findet die Identifi-kation der Bürgerinnen und Bürger statt. Innenstädte undOrtskerne dienen der Versorgung und sind der kulturelleund gesellschaftliche Mittelpunkt – auch wenn Ihnen dasoffensichtlich nicht gefällt. Urbanität und Baukultur set-zen den qualitativen Anspruch für eine positive und at-traktive Kommune, in der man gerne lebt. Unser Ziel ist,diese Entwicklung im Inneren zu stärken und die Neu-inanspruchnahme von Flächen auf der grünen Wieseweitgehend zu vermeiden.2006 haben wir mit dem Gesetz zur Erleichterung vonPlanungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städteeine Reihe von Instrumenten für die Stärkung der Innen-entwicklung geschaffen. Nun wollen wir sowohl imBaugesetzbuch als auch in der Baunutzungsverordnungweitere Verbesserungen für die Kommunen im Interesseder Kommunen vornehmen. Schließlich wollen wir Pla-nungs- und Genehmigungsverfahren weiter beschleuni-gen. Das wird zu Kostenentlastungen führen.Beim Bau- und Planungsrecht hat sich seit Jahrzehn-ten bewährt, notwendige Änderungen sorgfältig vorzu-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10537
Peter Götz
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bereiten. Dies ist durch die frühzeitige Einbindung vonExperten und Kommunen geschehen. Die im Novembervergangenen Jahres vorgestellten Ergebnisse der Gesprä-che zum Städtebaurecht sind eine ausgezeichnete Grund-lage, auf der aufgebaut werden kann. Im Namen derCDU/CSU-Bundestagsfraktion danke ich dafür Baumi-nister Dr. Peter Ramsauer und allen daran Beteiligten.
– Man kann auch jemandem danken, der nicht hier ist,Herr Kollege.Im Planungsrecht ist es eine gute Tradition, mit aus-gewählten unterschiedlichen Städten, Gemeinden undKreisen zur Vorbereitung des Gesetzgebungsverfahrensdie Auswirkungen der beabsichtigten Änderungen inPlanspielen zu erproben. Das ist besser als irgendwelcheSchnellschüsse.Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir das Bau- undPlanungsrecht nicht gestückelt, sondern im Zusammen-hang beraten und in diesem Jahr zum Abschluss bringen.Das ist für die, die in den Kommunen damit arbeitenmüssen – davon bin ich fest überzeugt –, der bessereWeg. Deshalb lehnen wir den Einzelantrag zu § 35 desBaugesetzbuches ab.Ich lade alle Fraktionen dazu ein, aktiv an der Weiter-entwicklung des Baugesetzbuches und der Baunutzungs-verordnung mitzuwirken. Dann werden wir gemeinsamein gutes Ergebnis erzielen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieZahl der Vegetarier in Deutschland hat sich in den letz-ten zwei Jahrzehnten vervielfacht. Sicherlich ist es dieAufgabe der Ernährungsforschung, herauszufinden, wo-ran das liegt. Es ist nicht auszuschließen, dass es nichtnur an dem einen oder anderen Essen liegt, das einemeinfach nicht schmeckt, sondern auch an dem Wissendarüber, wie Tiere gehalten werden. Wer kennt nicht dieBerichte über die Haltungsbedingungen von Geflügel,Schweinen und anderen Tieren zur Nahrungsproduktion,und wer war davon nicht schon einmal schockiert undabgestoßen?Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch-land fragen immer kritischer danach, wie Tiere gehaltenund wie Fleisch und Geflügel produziert werden. DieseFragen drängen sich auf. Die Bundespolitik darf nichtwegschauen, insbesondere deshalb nicht, weil immerwieder Lebensmittelskandale öffentlich werden.
Wer Fleisch und Geflügel in Deutschland isst, soll alsVerbraucher nicht nur sicher sein, dass es nicht verseuchtoder vergiftet ist, sondern auch wissen, dass die Tiereartgerecht gehalten werden. Dafür setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion ein.Nach unserer Auffassung stehen nicht zuletzt tier-schutzrechtliche Regelungen im Mittelpunkt der Be-trachtungen. Sie können und müssen weiter verbessertwerden. Eine baurechtliche Regelung allein löst das Pro-blem nicht.
Beispielsweise bedarf die Tierschutz-Nutztierhaltungs-verordnung dringend einer Überarbeitung. Das habenauch Fachgespräche am heutigen Tage noch einmal be-legt. Das ist seit langem eine Forderung von uns. DieseForderung muss erfüllt werden.Bereits seit mehreren Jahren entstehen immer mehrund immer größere Tiermastanlagen in Deutschland;weitere sind geplant und stehen vor der Realisierung.Wir alle kennen die Probleme im Land Niedersachsen.Dort werden mehr als 5 Millionen Puten, also etwa zweiDrittel der Puten in Deutschland, gehalten. Dort werden57 Millionen Hühner – das sind 50 Prozent der Masthüh-ner in Deutschland – gehalten. Die riesigen und immergrößer werdenden Anlagen müssen kontrolliert und bes-ser überwacht werden. Dazu gehört auch – das fordernwir ebenso – die Einführung eines Tierschutz-TÜV;denn wir als Verbraucher wollen, dass Tiere ordentlichund artgerecht gehalten werden.
Zur Wahrheit gehört auch: Die Tierproduktion ist eingewaltiger Markt mit hohen Umsätzen und vielen Ar-beitsplätzen. Es liegt an uns, einen Weg zu finden, umTierschutz und Nahrungsmittelproduktion in Einklangzu bringen.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Ge-setzentwurf vorgelegt, der eine Lösung dieser Problema-tik im Baugesetzbuch sucht. Beabsichtigt ist eine Rege-lung, nach der künftig für Massentieranlagen imAußenbereich keine Privilegierung mehr möglich seinsoll.
Der Gesetzentwurf greift allerdings – hier verweise ichauf meine Eingangsausführungen – die Problematik derMassentierhaltung nur einseitig auf.
Fragen des Tierschutzes, der Kontrollen und derHygiene werden nicht thematisiert. Dazu gibt es in die-sem Gesetzentwurf keine Lösungsansätze.
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Es greift aber zu kurz, sich dem Thema lediglich bau-rechtlich zu nähern.
Der Gesetzentwurf enthält zudem eine juristische Un-schärfe, die in der Rechtsanwendung eher zur Verwir-rung führt, als dass damit Klarheit geschaffen wird. Wasmeinen Sie denn mit dem Satz:Ein Vorhaben, das der Tierhaltung dient und nichtnach Satz 1 Nr. 1– des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch –zugelassen werden kann, ist in der Regel auch nichtnach Satz 1 Nr. 4 zulässig.Was bedeutet diese Regelung? Diese Formulierung öff-net der subjektiven Auslegung Tür und Tor und führtnicht dazu, dass die von vielen nachvollziehbar kriti-sierte Massentierhaltung im Außenbereich beendet wird.Ihr Gesetzentwurf spricht in der Überschrift selbst le-diglich von einer Beschränkung der Massentierhaltungim Außenbereich. In der Begründung zum Gesetzent-wurf wird dann auch richtigerweise ausgeführt – ich zi-tiere –,dass die vorgeschlagene Regelung nicht zu einemTotalverbot der Massentierhaltung führt. Vielmehrkann diese auch in Zukunft insbesondere dort zuläs-sig sein, wo die Gemeinden entsprechende bauleit-planerische Entscheidungen treffen.Das ist aber bereits nach geltender Rechtslage weitestge-hend möglich.
Die Zielgenauigkeit und die praktische WirksamkeitIhres Vorschlages zur Ergänzung des § 35 Abs. 1 Bauge-setzbuch werden nicht nur von Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion hinterfragt, sondern auch von unab-hängigen Fachexperten. Hinzu kommt: Die Positionender Länder sind in dieser Frage ebenfalls unterschied-lich. In einigen Ländern werden hygienerechtliche Vor-schriften diskutiert und in den Bundesrat eingebracht;hier erinnere ich an den Vorschlag von Nordrhein-West-falen. Andere Länder lehnen eine Änderung des § 35Baugesetzbuch hinsichtlich der Problematik der Massen-tierhaltung im Außenbereich jedenfalls zum gegenwärti-gen Zeitpunkt ab.In der Tat gibt es auch heute schon baurechtlicheMöglichkeiten, um die Ansiedlung von gewerblichenTierhaltungsanlagen zu steuern. Hierzu gehören die Auf-stellung von Bauleitplänen oder die Ausweisung von ge-eigneten Standorten für solche Anlagen im Flächennut-zungsplan.Im Kern geht es aber nicht darum, Anlagen generellzu verhindern, sondern Standorte dort zu planen, wo sieverträglich sind. Das muss der baurechtliche Ansatzsein. Diesem baurechtlichen Ansatz verschließt sich dieSPD-Bundestagsfraktion nicht. Darüber hinaus – daswill ich noch einmal unterstreichen – bedürfen tier-schutzrechtliche Regelungen, insbesondere das Tier-schutzgesetz und weitere Verordnungen, in unterschied-lichen Bereichen einer dringenden Klarstellung.
Die Widersprüche, die hier existieren, müssen gelöstwerden. Das ist aber mit einer Änderung des § 35 Bau-gesetzbuch nicht möglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, esgibt auch nicht die Alternative, Tierhaltungsbetriebe stattim Außenbereich im Innenbereich anzusiedeln. Das ist,so denke ich, auch nicht streitig. Diese Alternative stelltsich nicht; denn schon zur Vermeidung von Verkehr istes notwendig, Tierhaltungsanlagen in der Nähe vonlandwirtschaftlichen Betrieben anzusiedeln, in denenFutter produziert und Gülle unschädlich abgefahren wer-den kann.Ich möchte auf Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvom Bündnis 90/Die Grünen, zugehen und Sie zu einerDiskussion einladen, in der es darum geht, wie wir einbesseres Steuerungsinstrument im Planungsprozess fürdie Errichtung von Anlagen der Massentierhaltung fin-den können.
– Wir wollen nicht jahrelang diskutieren. Eine solcheRegelung muss kommunalfreundlich sein und darf dieMöglichkeiten der Gebietskörperschaften nicht überstei-gen.
Eine solche Regelung, wie ich sie hier angemahnthabe, muss kommunalfreundlich sein, und sie muss so-wohl baurechtliche Aspekte lösen wie auch Erforder-nisse der spezialgesetzlichen Regelungen einbeziehen.Die SPD-Bundestagsfraktion enthält sich bei der Ab-stimmung über diesen Gesetzentwurf,
weil mit diesem Gesetz die Balance zwischen den not-wendigen Verbesserungen im Tierschutz und den Mög-lichkeiten zur Lebensmittelproduktion nicht hergestelltwird. Der Gesetzentwurf enthält Unschärfen – ich hattedarauf hingewiesen – mit dem Begriff „in der Regel“,mit denen wir dem Lösungsziel nicht näher kommen.
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Hans-Joachim Hacker
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Damit ist das Thema aber für uns längst nicht beendet.Die Diskussion über die baurechtlichen Aspekte mussfortgesetzt werden.Ich greife an dieser Stelle das Ergebnis der BerlinerGespräche zur Novelle des Baugesetzbuches auf; HerrGötz, Sie hatten das schon angesprochen. Das wird inder SPD-Bundestagsfraktion ernsthaft diskutiert. Wirwerden die Vorlagen in den weiteren Diskussionsprozesseinfließen lassen. Unter den Experten gab es bei dieserDiskussion zum Thema Massentierhaltung keine einheit-liche Auffassung dahin gehend, dass eine Änderung des§ 35 Baugesetzbuch notwendig ist. Die Experten habengesagt, das bedarf einer ernsthaften Prüfung. Ich sage esnoch einmal: Die SPD-Bundestagsfraktion verschließtsich solchen Überlegungen nicht. Wir müssen aber justi-ziable Regelungen finden, die nicht zu mehr Unklarheitführen, als bisher besteht, und es den Kommunen ermög-lichen, hier effektiver zu arbeiten.
Der Ort für weitere Diskussionen sind die Beratungenüber die bevorstehende Novelle des Baugesetzbuches.Herr Scheuer, ich fordere Sie als Staatssekretär auf, dieErkenntnisse aus den genannten Berliner Gesprächenund aus weiteren Expertengesprächen, die Sie in IhremHause ja durchgeführt haben, dem Parlament zugänglichzu machen. Wir wollen, dass wir jetzt zu konkreten Lö-sungen kommen.Ich plädiere dafür, dass wir darüber eine sachlicheDiskussion führen – hier in Berlin, aber auch in denWahlkreisen. Damit meine ich insbesondere, dass wirdiese Diskussion fair führen und in den Wahlkreisen denBürgerinnen und Bürgern nicht mehr versprechen alsdas, was wir hier schon gemeinsam als richtig erkannthaben und als Lösungsmöglichkeit ansehen.
Notwendig ist, alle Fragen zur Änderung des Bauge-setzbuches wie in den letzten Jahren oder gar Jahrzehn-ten im Paket zu beleuchten, und nicht, über Einzelan-träge oder einzelne Gesetzentwürfe das Thema zuzerfasern. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion steheneiner Diskussion über die Massentierhaltung, ihrer Be-grenzung und rechtlichen Reglementierung – das will ichnoch einmal unterstreichen – offen gegenüber, meinenaber auch, dass weitere Regelungen in § 35 – ich denkeinsbesondere an Abs. 1 Nr. 6 über Biogasanlagen – ebensoin die Prüfung einbezogen werden sollten. Ich lade Siezu einer solchen Diskussion ein.Ich glaube, die Begründung, warum wir uns bei derAbstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten – da-bei haben wir uns ja insbesondere auf die juristischenUnschärfen bezogen –, ist überzeugend rübergekommen.Ich werbe auch bei den Grünen um Verständnis
und bitte sie, sich auf den Weg der Diskussion mit denanderen Fraktionen in diesem Haus zu begeben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Petra Müller für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ihrem Gesetz-entwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, erzeugen Sie zunächst einen Widerspruch:einen Widerspruch zwischen dem landwirtschaftlichenRaum einerseits und der industriellen Fleischproduktionauf der anderen Seite. Hier eine krasse Grenze zu kon-struieren, macht für uns Liberale keinen Sinn. Pflanzli-cher Anbau, Tierhaltung, traditioneller extensiver Bau-ernhof oder Intensivtierhaltung – das alles sind wichtigeund notwendige Bestandteile einer modernen und diffe-renzierten Landwirtschaft.
Wir Liberale stehen zu allen,
zu den Unternehmen, zu den Einzelbauern, zu den Ange-stellten und auch zur modernen intensiven Tierhaltung.Diese ist notwendig,
weil der Fleischkonsum in Deutschland seit den 50er-Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Gleichzeitig ist dieFleischwarenindustrie ein erfolgreicher mittelständi-scher Wirtschaftszweig. Mit Ihrer grünen Propagandazum „traditionellen kleinbäuerlichen Betrieb“ ist keinesvon beidem machbar:
Weder die Erzeugung sozialverträglich preiswerter Le-bensmittel noch ein Wirtschaftszweig mit 85 000 Be-schäftigten in der Fleischproduktion ist damit möglich.
Für beides steht die christlich-liberale Koalition. Wir set-zen uns für jeden Arbeitsplatz in diesem Berufszweigein.
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10540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Petra Müller
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Worum geht es in Ihrem Gesetzentwurf? Sie wollendie Abschaffung der Intensivtierhaltung durch die Hin-tertür Baugesetzbuch erreichen.
Denn eines ist klar: Ihr Vorschlag macht Genehmigun-gen fast unmöglich. Sie gefährden Arbeitsplätze im Mit-telstand, und Sie sorgen dafür, dass in Deutschland dieLebensmittelversorgung keinerlei Perspektive hat. Daswerden wir nicht zulassen.
– Super!Aus Sicht der Stadtplanung sind Eingriffe in Geneh-migungsverfahren nicht notwendig. Die Kommunen ha-ben heute schon Möglichkeiten, die Errichtung von Tier-haltungsanlagen zu beeinflussen: entweder auf dem Wegder Bauleitplanung oder durch das Versagen des Einver-nehmens im Rahmen des Genehmigungsverfahrens.Gerade von dem zweiten Fall fühlen sich viele Kom-munen abgeschreckt, weil sie Haftungsprobleme sehen.Dieses Problem ist bekannt und nicht neu. Hier würdeich mit Ihnen gemeinsam eine Lösung suchen. Der Kol-lege von der SPD hat schon angedeutet, dass er diskussi-onsbereit ist.
– Danke, ich weiß. Aber er hat sich umgedreht und hörtmir im Moment nicht zu. Das finde ich nicht nett. Einschöner Rücken kann zwar entzücken, aber nicht immer.
Wir können in diesem Hause zum Beispiel über stär-ker spezifizierte Planungsvorbehalte bei der gewerbli-chen Tierhaltung diskutieren. Wir können auch über Zu-rückstellungen nach § 15 Abs. 3 Baugesetzbuch undüber die Verlängerung der Jahresfrist nachdenken. Alldas können wir sicher tun.
Wenn Sie Tierschutz wollen, dann muss es konsequenteRegeln, hohe Standards und Kontrollen geben. Da kön-nen wir zusammenarbeiten. Aber städtebaulich mithilfedes Baugesetzbuches Tierethik zu steuern, das kannnicht sein.
Sie können damit keinen Skandal wie den Dioxinskandalverhindern.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen, Sie müssen sich in die Pflicht neh-men lassen.
Genehmigungsverfahren sind vor allem dazu da, Pro-jekte, Investitionen und unternehmerisches Handeln zuermöglichen, nicht zu verhindern.
Ich muss noch eines sagen: Packen Sie bitte die Fach-politiker aus und die Wahlkämpfer ein. Sie sind eineVerhinderungspartei. Deshalb lehnt die FDP Ihren Ge-setzentwurf ab.
Das Wort hat nun Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Dann läute ich jetzt mal die Rundeder Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aus dem Aus-schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz ein.
Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurfvon Bündnis 90/Die Grünen zu dem Bereich Massentier-haltung. Sie wollen eine Einschränkung der Privilegie-rung von forstwirtschaftlichen und landwirtschaftlichenBetrieben.
Ihre Intention ist vollkommen nachvollziehbar. Ichmöchte ganz klar sagen, dass wir von der Linken dieseIntention unterstützen.
Ich muss aber dennoch einschränkend sagen, dass ichIhren Gesetzentwurf als Etikettenschwindel empfinde;denn er hält nicht das, was er verspricht. Im Titel IhresGesetzentwurfs steht unter anderem „Beschränkung derMassentierhaltung im Außenbereich“. Damit ergibt sichfür mich schon die erste ungeklärte Frage: Was ist Mas-sentierhaltung? Wir haben derzeit keine klare Definitionfür Massentierhaltung. Diesen Begriff müssen wir aber
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klären, wenn wir diesbezüglich etwas ändern wollen. Siedrücken sich in Ihrem Gesetzentwurf aber um die Defi-nition des Begriffs Massentierhaltung.
Sie sprechen nur davon, dass die Tierhaltung „ihrer Pro-duktionsweise nach eine landwirtschaftstypische“ seinmuss. Aber was bedeutet das genau?
Ich gebe ein Beispiel. Ist ein Ökobetrieb mit 30 000 Le-gehennen in einer Stallanlage – solche Anlagen gibt esschon, zum Beispiel im brandenburgischen Wittstock –schon eine Massentierhaltung, die man aber akzeptierenkönnte, weil sie unter ökologischen Gesichtspunkten be-trieben wird?In vielen Regionen gibt es eine sehr große Anzahllandwirtschaftlicher Betriebe mit nach heutigen Maßstä-ben intensiver Tierhaltung – allerdings in kleiner Dimen-sion. Ein weiteres Beispiel: In einem Dorf in Westfalengibt es zehn Betriebe mit jeweils 2 000 Mastschweinen.In dem Ort gibt es dann 20 000 Mastschweine. Nach An-nahme der Grünen fällt das wohl nicht unter Massentier-haltung, da es sich um einzelne landwirtschaftliche Be-triebe – aber in einem einzigen Ort – handelt.
Wenn es nur ein Betrieb mit 20 000 Schweinen wäre,wäre das Massentierhaltung, obwohl die Zahl derSchweine in beiden Fällen gleich wäre.
Wir müssen die Massentierhaltung definieren, um sievor Ort regeln und verbieten zu können. Es ist aber füruns von der Linken nicht nur eine rein quantitativeFrage, sondern auch eine qualitative Frage.
Deshalb geht das meiner Ansicht nach nicht über dasBaurecht, sondern zum Beispiel über Regelungen zuEmissionen, zu Haltungsformen der Tiere, zu ökologi-schen und kulturellen Auswirkungen und auch zu denArbeitsbedingungen.
Industrielle Tierhaltung ist keine Frage des Baugesetz-buches, sondern Ergebnis eines marktradikalen Denkensund eines Willens zur Profitmaximierung des Kapitals.
Produktionskosten werden – auf Kosten der Tiere, derUmwelt und des Menschen – auf das absolute Minimumgedrückt. Deshalb ist auch die Linke gegen die Industri-alisierung und Konzentration von Tierhaltung.
Ihr Antrag taugt aber nicht, das zu verhindern; dennSie täuschen das nach außen nur vor. Selbst Sie schrei-ben in der Begründung:Hinzuweisen ist darauf, dass die vorgeschlageneRegelung nicht zu einem Totalverbot der Massen-tierhaltung führt.Und weiter:Vielmehr kann diese auch in Zukunft insbesonderedort zulässig sein, wo die Gemeinden entspre-chende bauleitplanerische Entscheidungen treffen.Diese Feststellung beschreibt für mich aber schon dasnächste gravierende Problem, das ich in diesem Antragsehe. Sie wollen den Gemeinden bei der Ansiedlung vongroßen Einheiten der Tierhaltung mehr Spielraum ein-räumen. Dabei verkennen Sie allerdings meiner Mei-nung nach folgende Gefahr: Wie wollen Sie denn ver-hindern, dass sich Betriebe, deren Bauten man imAußenbereich dann nicht mehr haben will, in Gewerbe-und Industriegebieten ansiedeln? Angesichts der chro-nisch leeren Kassen der Kommunen bin ich mir sicher,dass sich genügend Gemeinden finden werden, die nochIndustrie- oder Gewerbegebiete haben, in denen Platzist.Die Massentierhaltung insgesamt können wir dadurchaber nicht verhindern. Das Einzige, was eventuell pas-siert, ist, dass die Genehmigungsverfahren länger dau-ern; aber es wird eben nicht verhindert. Statt im Bau-recht sind unserer Meinung nach rechtliche Regelungenim Bereich der Bürgerbeteiligung, des Naturschutzesund vor allem des Emissionsschutzes gefragt, um kon-zentrierter industrieller Tierhaltung ein Ende zu setzenund unsere Nahrungsmittelproduktion wieder enger andie Natur zu koppeln.
Was noch viel entscheidender ist: Wir brauchen– zum Nutzen für Tiere, Umwelt und Menschen – einengrundlegenden Ideologiewechsel in der Agrarpolitik.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Friedrich Ostendorff fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der § 35 des Baugesetzbuches mit der Privile-gierung der Landwirtschaft im Außenbereich ist ein sehrgutes planerisches Instrument. Er schützt den Außenbe-reich vor Zersiedelung und planloser Bebauung. Es gibtjedoch durch den Ausnahmetatbestand in Abs. 1 Nr. 4seit 1983 unter anderem die Möglichkeit der gewerbli-chen Tierhaltung – nur darum geht es – ohne Flächen-
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Friedrich Ostendorff
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bindung. Dies führte in den letzten Jahren oftmals zukrassen Fehlentwicklungen
beispielsweise durch Schweinemäster, die ihre Flächenhinsichtlich der Anzahl der Schweine bis zum Letztenausgereizt haben. Als Bauernhof unterliegen sie der Flä-chenbindung.Sie bauen – oftmals viele Hundert Meter vom Hofentfernt in die freie Landschaft – 40 000er-Hühnchen-ställe – 22 Hühnchen, je 1,6 Kilogramm schwer, auf ei-nem Quadratmeter – und weitere Schweineställe nach§ 35 Abs. 1 Nr. 4 gewerblich expansiv obendrauf. Allein900 dieser 40 000er-Hühnchenställe sind bundesweitnoch in der Planung. Die Nr. 4 des § 35 Abs. 1 Bauge-setzbuch wurde 1983 nicht für solche Massenställegeschaffen, sondern für Anlagen, die nur in atypischenFällen – wie Kompostanlagen – in den Außenbereich ge-hören. Herr Hacker, wir brauchen deshalb eine Ände-rung des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch, um klarzustellen,dass die gewerbliche Massentierhaltung nicht zu den pri-vilegierten Vorhaben beim Bauen im Außenbereich ge-hört.
Drei Motive leiten unseren Antrag:Erstens. Massentierhaltungen haben nichts mit Bau-ernhöfen zu tun.
Diese Anlagen ohne eigene Futterfläche und ohne eigeneFläche für Gülle- und Mistverbringung dürfen im Au-ßenbereich nicht genehmigungsfähig sein. Tierhaltungmuss an die Fläche des Bauernhofes gebunden sein.
Zweitens. Die Riesenställe sind eine erhebliche Be-lastung für Tier, Umwelt und Natur und zerstören ganzeLandschaften.Drittens. Die Großtierhaltungsanlagen produzierenmassive Ammoniakemissionen, Ausscheidungen wieBioaerosole und Gerüche. Sie beeinträchtigen die Le-bensqualität und Gesundheit der Anwohner und Nach-barn.Herr Götz, die Bürgerinnen und Bürger wollen dasnicht mehr hinnehmen. Sie engagieren sich landauf,landab in Hunderten von Bürgerinitiativen. Während derGrünen Woche haben über 20 000 Menschen ihren Pro-test auf einer vom Netzwerk „Bauernhöfe statt Agrar-fabriken“ organisierten Demo unter dem Motto „Wir ha-ben es satt!“ nach Berlin getragen. Hier sind wir allegemeinsam gefordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bürgerinnen undBürger wollen wissen, wie wir den Fehlentwicklungenauf dem Lande begegnen wollen. Wenn wir jetzt nichtdie Bremse ziehen, wird die freie Landschaft, die wir fürdie Artenvielfalt und Naherholung so schätzen und brau-chen, zum landwirtschaftlichen Gewerbegebiet.Herr Götz, die Kommunen sind absolut machtlos: Esgibt keine Regelungsmechanismen für die Kommunen.Die Werkzeuge der Kommunen sind stumpf, ihre An-wendung ist aufwendig und kostenintensiv.
In der letzten Woche konnte ich im münsterländischenBillerbeck mit der Baudezernentin und der Bürgermeiste-rin sprechen. Wir haben uns angesehen, was es bedeutet,in Billerbeck Gewerbebetriebe anzusiedeln, und welchePlanungsprozesse dabei in Gang gesetzt werden: bürger-freundlich, langfristig angelegt, mit allen abgestimmt.Bei der Massentierhaltungsanlage, die 300 Meter von derMolkerei entfernt steht, hat die Kommune keine Mög-lichkeit, einzugreifen.
Die Anlage steht im Landschaftsschutzgebiet, oben aufdem Berg; jeder in der Gemeinde sieht sie, denn sie istvon überall einzusehen. Hier ist die Kommune machtlos;der Investor hat die Planungshoheit, niemand sonst. HerrGötz, dieser Zustand ist unhaltbar. Wir müssen diesenWildwuchs beenden.
Wir liegen doch bei der Beurteilung der Lage garnicht weit auseinander. Staatssekretär Ferlemann hat hierin der Antwort auf unsere Frage bestätigt, dass § 35Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch „nach der Rechtsprechungdes Bundesverwaltungsgerichts eher eng auszulegen“ist. Ministerin Aigner kritisiert die Fehlentwicklung imländlichen Raum. Staatssekretär Peter Bleser hat in derNeuen Osnabrücker Zeitung vom 12. Februar Nachdenk-lichkeit hinsichtlich der Konzentration der Schweine- undHähnchenmast gezeigt. Viele von uns haben sich zuHause klar positioniert. Wir müssen doch jetzt nur das,was wir zu Hause erklären, mit der Gesetzeslage imBund in Einklang bringen. Das kann doch nicht soschwer sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ver-suchen, so wie das Parlament der Niederlande gemein-sam vorzugehen. Das niederländische Parlament hat vorwenigen Tagen einen Baustopp für industrielle Massen-tierhaltungsanlagen beschlossen. Intensive Viehhaltungals ein System organisierter Verantwortungslosigkeitsolle abgeschafft werden – so das niederländische Parla-ment. Der Beschluss wurde mit großer Mehrheit gefasst;auch die Sozialdemokraten in den Niederlanden habenzugestimmt.
Lassen Sie uns durch eine kleine Weiterentwicklungdes Baugesetzbuches eine wichtige Weichenstellung fürdie weitere Entwicklung des ländlichen Raumes vorneh-men, für den Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft, füreine nachhaltige regionale Entwicklung, für den Erhaltder Landschaften und der Lebensqualität im ländlichenRaum.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10543
Friedrich Ostendorff
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Die Bürgerinnen und Bürger draußen erwarten unserHandeln; sie werden es uns danken.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Max Lehmer für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben bei der Entwicklung der Landwirtschaft klareZiele:
Wir wollen die Entwicklungsmöglichkeiten unsererlandwirtschaftlichen Betriebe erhalten. Wir wollen einestarke und wettbewerbsfähige Land- und Ernährungs-wirtschaft in Deutschland erhalten und sie weiterentwi-ckeln. Wir wollen auch in Zukunft eine durch bäuerlicheund unternehmerische Betriebsstrukturen gestaltete flä-chendeckende Landbewirtschaftung.
Wir wollen ausdrücklich keine Großinvestoren in dertierischen Veredelung haben.
Dafür müssen wir aber auch die entsprechenden Ent-scheidungsspielräume für wirtschaftliche Betriebsfor-men erhalten. Die Entwicklung bleibt nicht stehen, HerrKollege Ostendorff.
Nur so können sich die Landwirte am Markt behauptenund die aufgrund des weltweiten Bevölkerungswachs-tums steigende Nachfrage nach Lebensmitteln decken.Herr Ostendorff, mit den Systemen, von denen Sie re-den, können wir nicht einmal ansatzweise den Bedarf inDeutschland decken. Ich habe nachgeschaut: Der Beitragder Biolandwirtschaft bei Rindfleisch beträgt 4,5 Pro-zent, bei Schweinen unter 1 Prozent.
– Hören Sie doch einmal zu, Herr Kollege. – Bei derEierproduktion sind es 3,5 Prozent und bei der Milch2 Prozent. Sie sind weit davon entfernt, wenigstens dieMenschen in unserem Land mit Lebensmitteln zu ver-sorgen.
Sie müssen bei der Wahrheit bleiben und die Dinge sonehmen, wie sie sind. Unverhältnismäßige Einschrän-kungen der Grundstückseigentümer und der Betriebsin-haber in ihrem Grundrecht auf Eigentum und freies Un-ternehmertum sind hier kontraproduktiv und abzu-lehnen. Das Vorhaben der Opposition, vor allen Dingender Grünen, ist allzu leicht zu durchschauen. Hier geht esnicht um Korrektur oder Beseitigung von Fehlentwick-lungen; die sehen wir auch in manchen Punkten. Bei Ih-rer beabsichtigten Beschränkung der sogenannten Mas-sentierhaltung – die muss erst einmal definiert werden;das sagte die Kollegin schon – geht es um die Verhinde-rung der weiteren positiven Entwicklung eines wichtigengroßen Wirtschaftsbereiches im ländlichen Raum.
Der gesamte Gesetzentwurf ist von einer ungerecht-fertigten Übertreibung und Polemik gekennzeichnet.Dies zeigt sich nicht nur an der Verwendung des Begriffs„Massentierhaltung“, der schon an sich unsachlich undabwertend ist, sondern auch an der Beschwörung des– so heißt es im Text – unrealistischen Szenarios einerflächendeckenden industriellen Fleischproduktion imAußenbereich.Lassen Sie mich das anhand von Zahlen erläutern: ImDurchschnitt gibt es in Deutschland 337 Schweine proBetrieb. Je nach Bundesland schwankt die durchschnitt-liche Anzahl an Schweinen pro Betrieb zwischen 80 undetwa 1 000 Stück. Damit liegt Deutschland zwar knappüber dem europäischen Schnitt, aber noch weit hinter denNiederlanden – diese Zahlen haben Sie richtig zitiert – mit1 340 Schweinen pro Betrieb und Dänemark mit knapp2 000 Schweinen pro Betrieb.
Auch bei der Legehennenhaltung sind die in Deutsch-land durchschnittlich in einem Betrieb gehaltenen Hen-nen mit 700 Stück pro Betrieb zwar mehr als im europäi-schen Durchschnitt. Dennoch ist die Zahl der Lege-hennen pro Betrieb – Frau Höhn, hören Sie zu – in sechsanderen EU-Ländern erheblich größer als bei uns, näm-lich in Belgien, Dänemark, Finnland, den Niederlanden,Schweden und Großbritannien.
In den Niederlanden werden im Schnitt sogar über25 000 Legehennen pro Betrieb gehalten. Darum neh-men sie dort jetzt Änderungen vor. Sie liegen aber umden Faktor 40 über unseren durchschnittlichen Betriebs-größen.
Diese Zahlen zeigen, dass es sehr große lokale und re-gionale Unterschiede gibt. Wir müssen dabei auch be-
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Dr. Max Lehmer
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rücksichtigen, dass unsere Landwirte im internationalenWettbewerb stehen und die tierische Erzeugung an die50 Prozent des Produktionswertes der deutschen Land-wirtschaft ausmacht. Die Tierhaltung erfolgt dabei fastausschließlich in familiengeführten Betrieben. Das istbitte unbedingt festzuhalten.
Tierhaltung in größeren Beständen kann darüber hin-aus nicht gleichgesetzt werden mit einer nicht artgerech-ten Haltung; das tun Sie immer wieder. Die Beschrän-kung bestimmter Haltungsformen in Deutschland führtzudem oft nur dazu – das bitte ich zu bemerken –, dassdie Produktion ins Ausland verlagert wird. Dort könnenwir die Haltungsbedingungen nicht mehr kontrollieren.Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Legehennenhaltung.Die Entwicklung zeigt, dass seit dem Verbot der Käfig-haltung in Deutschland der Selbstversorgungsgrad mitEiern von 70 Prozent auf unter 55 Prozent gesunken ist.Die Haltung in dieser Produktion ist nicht tiergerechter.Das Gegenteil ist der Fall; das bitte ich zu berücksichti-gen.
Ich verschweige nicht, dass es auch in DeutschlandStrukturen gibt, die wir kritisch beobachten müssen.
Obwohl die Strukturen in weiten Bereichen in Ordnungsind, ist es uns bewusst, dass es in einigen Regionen Ent-wicklungen gibt, bei denen Stallbauvorhaben an dieGrenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz stoßen; das istrichtig. Darauf wollen und werden wir reagieren; das hatHerr Götz schon gesagt. Wir werden aber nicht mit pau-schalen Verboten reagieren. Die helfen hier nicht weiter.
Wir wollen im Rahmen der im Koalitionsvertrag ver-einbarten Novelle zum Baugesetzbuch eine ergebnisof-fene Diskussion über die zukünftige Steuerung der Be-triebsentwicklung im Außenbereich führen. Es machtkeinen Sinn, jetzt den Teilbereich der Tierhaltung in grö-ßeren Beständen vorab ohne ausreichende Prüfungreglementieren zu wollen.Außerdem, Herr Ostendorff, haben Behörden und Ge-meinden bereits nach geltendem Recht – ich bin selbstseit 35 Jahren in Kommunalparlamenten tätig – vielfäl-tige planerische Möglichkeiten, die Genehmigung ge-werblicher Tierhaltungsanlagen sozial- und umweltver-träglich zu steuern. Beispiele sind die Aufstellung vonFlächennutzungs- oder Bebauungsplänen. Insbesonderedurch positive Planung können die Verantwortlichen vorOrt die Zulässigkeit von Vorhaben der gewerblichenTierhaltung beeinflussen.Darüber hinaus darf eine Genehmigung auch bei pri-vilegierten Vorhaben ohnehin nur dann erfolgen, wennöffentliche Belange nicht entgegenstehen. Über all diesebereits bestehenden Möglichkeiten sollten die Kommu-nen verstärkt informiert werden.Wir müssen dafür sorgen, dass eine geradezu offen-sichtliche Tatsache weiterhin fest im Bewusstsein veran-kert bleibt: Die Landwirtschaft ist nicht Gegner des länd-lichen Raumes, sondern eine tragende Säule für dieErwerbsmöglichkeiten und die Wertschöpfung im ländli-chen Raum sowie die Erzeuger hochwertiger Nahrungs-mittel. Zur Landwirtschaft gehören aber auch gewerbli-che Tierhaltungsbetriebe.Wenn durch den Gesetzentwurf der Grünen Entwick-lungsmöglichkeiten durch Verbote eingeschränkt wer-den, gefährdet das den ländlichen Raum als Produktions-standort sowie Arbeitsplätze, und zwar nicht nur in denLandwirtschaftsbetrieben, sondern auch in den vor- undnachgelagerten Bereichen, die im ländlichen Raum er-hebliche Arbeitsplatzpotenziale beinhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu-sammenfassen: Im vorliegenden Gesetzentwurf ist dieThematik völlig überzeichnet. Es wird sogar die Be-fürchtung geäußert, dass sich der Außenbereich – ich zi-tiere – „… nahezu flächendeckend in einen Standort derindustriellen Fleischproduktion“ verwandelt. Dies istkeineswegs der Fall. Außerdem ist die vorgeschlageneRegelung sehr pauschal und nicht ausreichend geprüft.Im Rahmen der bevorstehenden Novelle zum Baurechtwerden wir uns der Thematik sach- und fachgerecht um-fassend annehmen und gewiss auch passende Lösungenfinden.Vielen herzlichen Dank.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der § 35 des Baugesetzbuches ist zweifelloskein ganz einfacher Paragraf.
Er leidet darunter, dass er im Grunde genommen einebundesrechtliche Regelung beinhaltet, die vor Ort in völ-lig unterschiedlichen Situationen anzuwenden ist. Der§ 35 des Baugesetzbuches ist ein guter Paragraf,
weil er genau das schützt, was Sie, lieber Kollege Osten-dorff, im Grunde genommen im Sinn haben, nämlich dietraditionelle bäuerliche Landwirtschaft. Aber das, wasSie in Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen, bedeutet ge-rade das Ende der bäuerlichen Landwirtschaft,
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– nein, nicht der gewerblichen –, weil Sie die Entwick-lung eines landwirtschaftlichen Betriebes unmittelbar anFläche binden.
Dazu ist ein einigermaßen aufwachsender Milchvieh-betrieb heute aber gar nicht in der Lage, weil er aufgrundder schlechten Milchpreise und der explodierendenFrachtkosten nicht die Fläche erwerben kann, die erbraucht, um auf dem Milchmarkt einigermaßen vernünf-tig zurechtzukommen.
Mit der Regelung, die Sie vorschlagen, öffnen Sie ge-nau den Anlagen Tür und Tor, die Sie scheinbar nichtwollen; denn diese Betriebe werden in die Vorrangge-biete gehen, die die Kommunen werden ausweisen müs-sen,
– Herr Ostendorff, hören Sie doch zu –, um die Säule derintensiven Produktion in Deutschland zu sichern. Ver-schiedene Kollegen haben schon gesagt, dass es nichtnur gilt, träumerische Ökolandwirtschaft zu realisieren,sondern dass es gilt, alle Säulen agrarischer Produktionzu realisieren:
die ökologische, die konventionelle, die regionale undnatürlich auch die intensive.Kollege Ostendorff, ich bin von der fachlichen SeiteIhres Antrags sehr enttäuscht, das will ich ganz deutlichsagen. Dieser Antrag beinhaltet einen fundamentalenFehler. Er setzt Massentierhaltung mit Qualzucht gleichund sagt im Grunde genommen: Alle, die heute gegendiesen Antrag sind, stimmen dafür, dass Tiere in Ställengequält werden.
Ihnen geht es überhaupt nicht um die Sache. Bei diesemAntrag geht es Ihnen allein um eine populistische Bot-schaft.
Sie springen damit auf einen Zug auf. Das halte ich fürdie Produktionssituation in der Landwirtschaft insge-samt für gefährlich.
– Frau Höhn, es wäre schön, wenn Sie das im Ausschusszur Kenntnis bringen würden.Ich komme aus einer Region, in der es sehr viel Inten-sivhaltung gibt. Ich will gerne sagen: Wir sind an derGrenze angekommen. Darüber sind wir uns alle einig.Nur, wissen Sie, woran das liegt? Wir waren zu dumm,um es einmal ganz ehrlich zu sagen. Als ich in denKreistag kam, habe ich gesagt: Wir müssen unsereRäume besser ordnen. Aber nein, die Räume solltennicht geordnet werden. Wenn Sie das kommunale Instru-mentarium, das es heute schon gibt,
– Entschuldigung, ich habe davon Ahnung, Sie nicht –,
für die regionale Raumordnung und die kommunale Pla-nung nutzen, wenn Sie Keimgutachten, Brandschutzgut-achten und die gute fachliche Praxis bei Filteranlagennutzen, haben Sie mit diesem Sachverhalt überhauptkein Problem. Wir müssen das endlich anpacken undumsetzen. Dann können wir eine tierschutzgerechte in-tensive Haltungsform auch zukünftig in Deutschlandrealisieren.
Ihr Antrag taugt nichts, und das wissen Sie genau. Ih-nen geht es nur um Stimmung, und das ist schlecht fürjemanden, der sonst so tut, als ob er Ahnung hätte.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderungdes Baugesetzbuchs – Beschränkung der Massentierhal-tung im Außenbereich. Der Ausschuss für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/4724, den Gesetzentwurf derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1582abzulehnen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurfauf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen na-mentlich ab.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle vorgese-henen Plätze von den Schriftführern besetzt? – Das istder Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihreStimme abgegeben? – Das ist offensichtlich der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben. Inzwischen setzen wir die Bera-tung fort.1) Ich bitte die lieben Kolleginnen und Kolle-
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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gen, Platz zu nehmen, damit der kommende Redner auchGehör finden kann.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe-auftragtenJahresbericht 2010
– Drucksache 17/4400 –Überweisungsvorschlag:VerteidigungsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demWehrbeauftragen des Deutschen Bundestages, HellmutKönigshaus.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bitte erlauben Sie mir eine kurze Vorbemer-kung, bevor ich zum Jahresbericht komme. Wir werdenmorgen in Regen drei unserer Soldaten, die in Afghanis-tan Opfer eines hinterhältigen Anschlages wurden, ge-denken. Ich habe mit zweien von ihnen erst vor wenigenWochen in Afghanistan gesprochen wie auch mit einigender jetzt Verwundeten. Ich bin daher in diesen Tagen mitmeinen Gedanken vor allem bei den Hinterbliebenen,den Verwundeten und ihren Angehörigen. Ich wünscheden Verwundeten natürlich eine baldige Genesung.Ereignisse wie dieses erinnern uns immer wieder da-ran, welche Risiken unsere Soldatinnen und Soldaten imEinsatz auf sich nehmen. Gerade im Angesicht diesestragischen Ereignisses möchte ich all denen, die jetzt lei-den, mein tief empfundenes Mitgefühl aussprechen. Ichmöchte den Kameradinnen und Kameraden der Gefalle-nen und Verwundeten, die auch nach diesem tragischenGeschehen weiter treu ihren Dienst und ihren Auftragausführen, dafür meinen besonderen Dank und meineAnerkennung aussprechen.
Vor dem Hintergrund solchen Leides, vor dem Hinter-grund von Tod und Verwundung können Sie sicher nach-vollziehen, weshalb ich mich als Wehrbeauftragter sonachdrücklich um Ausbildung, Ausstattung und Ausrüs-tung, und zwar vor, nach und bei dem Einsatz, kümmere.Es ist unsere gemeinsame Pflicht, ohne Rücksicht aufKosten oder sonstige Belange die Sicherheit unserer Sol-datinnen und Soldaten auf das bestmögliche Niveau zubringen.1) Ergebnis Seite 10548 CDieser Jahresbericht ist natürlich nicht nur den Solda-tinnen und Soldaten im Einsatz gewidmet, sondern allenAngehörigen der Bundeswehr. Sie nehmen eine für dieGesellschaft unverzichtbare und leider immer noch vielzu wenig gewürdigte Aufgabe wahr. Auch ihnen geltenmein Dank und meine Anerkennung. Mit der sehr früh-zeitigen Befassung mit diesem Jahresbericht macht die-ses Hohe Haus deutlich, dass es den Streitkräften und ih-ren Anliegen eine herausragende Bedeutung beimisst.Das ist, wie ich weiß, ein wichtiges Signal für dieTruppe.Der Jahresbericht enthält keine Anmerkungen zu denzuletzt in der Öffentlichkeit diskutierten aktuellen Ereig-nissen, die beispielsweise unter den Stichworten „GorchFock“ oder Feldpost erörtert wurden. Er behandelt ebennicht jene Vorgänge, deren Bedeutsamkeit sich erst imlaufenden Jahr zeigte, auch wenn sie sich bereits im ver-gangenen Jahr, im Berichtsjahr, zutrugen.Dennoch will ich hier einige Worte zum Thema„Gorch Fock“ anfügen, weil die öffentliche Diskussiondazu Veranlassung gibt. Viele in der öffentlichen Mei-nung und in den Medien sahen bereits in der Befassungmit den Vorgängen einen unzulässigen Angriff auf diehergebrachten Traditionen der Marine. Darum aber gehtes hier ganz gewiss nicht. Tradition kann Gemeinschaftstiften und Werte vermitteln. Tradition findet aber dortihre Grenzen, wo Rechte von Soldatinnen und Soldatenverletzt werden. Allein der Rückzug auf Tradition istkeine gelebte Innere Führung.
Das Grundgesetz und die Grundsätze der InnerenFührung werden nicht durch die Tradition begrenzt, son-dern umgekehrt. Genau um eine solche Grenzziehunggeht es hier. Angehörige der Ausbildungscrew der„Gorch Fock“ haben von ihrem Recht Gebrauch ge-macht, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden, weilsie sich in ihren Rechten verletzt sahen. Ihr Vorbringen,das aus meiner Sicht von Gewicht ist, habe ich meinemgesetzlichen Auftrag entsprechend an das Parlament undan den Bundesminister der Verteidigung herangetragen.Damit ist natürlich keine abschließende Wertung ver-bunden und schon gar keine Vorverurteilung. Aber es istnatürlich Anlass, in eine Prüfung der Praxis der Segel-ausbildung auf dem Schiff im Allgemeinen und des Füh-rungsverhaltens Einzelner im Besonderen einzutreten.Ich würde es begrüßen, wenn die pflichtgemäße Er-füllung meines gesetzlichen Auftrages nicht in den Ver-dacht parteipolitischer Motive gerückt würde. Als Wehr-beauftragter des gesamten Deutschen Bundestages binich von der Verfassung zum Schutz der Rechte der Sol-daten und zur Unterstützung der parlamentarischen Kon-trolle der Streitkräfte berufen. Ich darf und werde michniemals instrumentalisieren lassen, schon gar nicht par-teipolitisch.
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Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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Meine Damen und Herren, der Jahresbericht 2010 hatdrei Schwerpunkte. Besonders eingehend behandelt erdas Thema „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“. Da-neben widmet er sich, wie schon in den Jahren zuvor,eingehend den Einsätzen und den fortbestehenden Pro-blemen im Bereich des Sanitätsdienstes. Mängel undDefizite in der Ausbildung und Ausrüstung reichen vonden Defiziten bei der einsatzvorbereitenden Ausbildungüber Mängel bei der persönlichen Ausstattung bis hinzur Frage nach Bewaffnung und Eignung des eingesetz-ten Gerätes. Verbesserungen in diesem Bereich sind un-verkennbar. Sie dürfen aber nicht über noch bestehendeMängel und Defizite hinwegtäuschen. Ich werde Siehierzu demnächst erneut in einem Sonderbericht näherunterrichten.Zu den Problemen im Einsatz gehört allerdings auchder Aspekt der Fürsorge. Insbesondere die Einsatzdauerund die Verlässlichkeit der Einsatzplanung, die Kommu-nikation mit der Heimat sowie die Betreuung und Ver-sorgung während des Einsatzes und nach dem Einsatzsind Stichworte, die die Problemfelder leider noch im-mer kennzeichnen.Meine Damen und Herren, Sie haben heute Vormittagin erster Lesung die Aussetzung der Wehrpflicht beraten.Gerade jetzt wird die Verbesserung der Attraktivität desDienstes in den Streitkräften besonders dringlich. At-traktivität schließt übrigens die Frage nach der Absiche-rung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten imEinsatz, aber auch ihrer Familien ein. Hier gibt es weißGott noch viel zu tun, insbesondere bei der Versorgungder Hinterbliebenen.Ich bin sehr dankbar, dass der Deutsche Bundestagnoch bestehende Versorgungslücken schließen will; dasist Beschlusslage. Es ist zu wünschen – das ist nämlichnoch nicht gesichert –, dass die Bundesregierung hierzudie notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen vorbe-reitet. Darüber hinaus muss natürlich auch der täglicheDienst mit den Erwartungen und Bedürfnissen der Fami-lien in Einklang gebracht werden. Insbesondere eine hei-matnahe Stationierung und Ausbildung ist zu fordern.Wir müssen die Chance der Strukturreform unbedingtnutzen, einzelne Truppengattungen regional zu konzen-trieren, um den Umfang des Wochenendpendelns zumDienstort – nur als Stichwort genannt – und lehrgangsbe-dingter Trennungen von der Familie so weit wie möglichzu reduzieren.Ein besonders dringendes Problem ist dabei übrigensnach wie vor die Kinderbetreuung. Ich begrüße es, dasshierzu erste Maßnahmen ins Auge gefasst sind. Es wirdjetzt aber darauf ankommen, dass sie auch schnell umge-setzt werden. Denn die Vereinbarkeit von Familie undDienst ist keine Frage von ein bisschen mehr oder weni-ger Fürsorge, sondern dieser Anspruch ist uns vomGrundgesetz aufgegeben: „Ehe und Familie stehen unterdem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Dasgilt natürlich erst recht dann, wenn der Staat selbst derDienstherr ist. Ich wiederhole das immer wieder. Ichglaube, es ist auch wichtig, sich immer wieder daran zuerinnern, wenn es um die konkrete Umsetzung geht.
Besondere Aufmerksamkeit benötigt auch weiterhinder Sanitätsdienst. Der Mangel an Ärzten und Pflegeper-sonal konnte noch nicht ausgeglichen werden. Ich habeauch schon darüber gesprochen, als wir den Jahresbe-richt 2009 erörtert haben. Ja, es hat in diesem Bereichzwar Verbesserungen gegeben, aber wir sind noch langenicht am Ziel. Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonalkonnte nicht ausgeglichen werden. Seit mehreren Jahrenkann der Sanitätsdienst seinen Auftrag nicht mehr ohneRückgriff auf zivile Ressourcen erfüllen. Das macht mirSorge; das wird in der Zukunft ein immer drängenderesProblem werden. Wenn die Streitkräfte vom Einsatz hergedacht werden, dann muss der Sanitätsdienst in derLage sein, die sanitätsdienstlichen Leistungen aus eige-ner Kraft zu erbringen.Damit an dieser Stelle kein falscher Eindruck ent-steht: Unsere Streitkräfte sind insgesamt in einer gutenVerfassung. Wenn es gelingt, die Bundeswehr zu einerneuen Struktur zu führen, die sie noch leistungsfähiger,aber auch noch lernfähiger macht und die auch eine Feh-lerkultur herbeiführt, dann hat sie eine gute Zukunft.Lassen Sie mich an dieser Stelle abschließend nochDank sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inmeinem Amt, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inden beteiligten Partnerdienststellen, im Ministerium, inden militärischen Strukturen. Einen letzten Dank möchteich auch an den Minister richten – an einem Punkt hat erdas wirklich verdient –:
Immer dann, wenn es um problematische Einzelfällegeht, ist er jederzeit ansprechbar, insbesondere auchohne Kamera und ohne Presse
– dann sagt er sicher auch die Wahrheit –,
und kümmert sich um diese konkreten Fälle. Für dieseForm der Empathie muss man ihm, glaube ich, danken.Die Betroffenen haben das immer sehr geschätzt.
Damit möchte ich die Vorstellung meines Jahresbe-richts beenden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich Ih-nen, sehr geehrter Herr Königshaus, und Ihren Mitarbei-
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10548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Katja Keul Manfred Behrens zu Guttenberg Dr. Norbert LammertMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigHolger HaibachJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakMemet KilicSven-Christian KindlerVeronika BellmannDr. Christoph BergnerOlav GuttingFlorian HahnKatharina LandgrafUlrich LangeBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Markus GrübelManfred GrundMonika GrüttersKarl-Theodor FreiherrGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelUlrike HöfkenDr. Anton HofreiterDorothee BärThomas BareißHermann GröheMichael Grosse-BrömerBettina KudlaDr. Hermann Kuesterinnen und Mitarbeitern imfür die Vorlage des Berichtsdanken.
n, ich darf Ihnen zunächstrerinnen und Schriftführern ErgebnisMarkus KurthUndine Kurth
Agnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUIlse AignerPeter Aumerermittelte Ergebnis der naüber den Gesetzentwurf deGrünen zur Änderung des Bkung der Massentierhaltung igeben: abgegebene Stimmestimmt 65, mit Nein 291. EsGesetzentwurf ist damit abgedavonja: 65Michael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannThomas DörflingerMarie-Luise DöttEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard Grindelmentlichen Abstimmungr Fraktion Bündnis 90/Dieaugesetzbuchs – Beschrän-m Außenbereich – bekanntn 534. Mit Ja haben ge-gab 178 Enthaltungen. Derlehnt.Ansgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJulia KlöcknerAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger Kruse
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10549
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Dr. Michael LutherKarin MaagAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtDr. Gerd MüllerStefan Müller
Nadine Schön
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsDaniela LudwigThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckPatrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDHolger OrtelFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelReiner DeutschmannPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Heinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Oliver LuksicGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Hans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
EnthaltenSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertElvira Drobinski-WeißSebastian EdathySiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagPeter FriedrichMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Rolf HempelmannGustav HerzogPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Anette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichManfred NinkHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian Pronold
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10550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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chen. Dieser erste von Ihnenbesticht durch seine übersicdem Leser leichter macht. Dges Detail. Zwar verfassen SDeutschen Bundestages IhreParlamentarier – ich hoffe, dbotenen Sorgfalt seiner Lektlich wirkt er auch in die weiist schließlich wünschenswerMenschen für den Zustand dren; denn der interessierte unist ebenso wie der uniformider Truppe eine wesentlicheankerung der Streitkräfte in deine Gesellschaft, die Anteilhalb der Bundeswehr geschiund Klagen der Soldaten, diGesellschaft in den Einsatz gsellschaft, der die BundesweFremdkörper betrachtet,
ehr wollen, die sich geradeg zur Freiwilligenarmee ste-swegen ist jedes Detail wich-muss, indem etwa mit Einzebericht operiert wird, Pauschzungen gefällt werden oderKörpergewicht einer tödlich vkutiert. Dadurch werden in enötigem Umfang die Familiedaten belastet, die sich ErmitAls Abgeordnete des Deutsnatürlich ein Recht auf Informder Parlamentsarmee Bundeswdas Verteidigungsministeriumauftragten. Das gilt zwar nichnarproblem und jeden Dienstuden Bericht des Wehrbeauftrache Gesamtschau vollzogen wgende Vorfälle, über die wir sund unmittelbar informiert weUmwegen über die Presse. AlEinzelplan 02 muss ich sagedass ich mir gelegentlich eingewünscht hätte.Diese Medaille hat aberSeite. Die Politik sollte auchund die zuständigen Ermittlheiten aus dem Feldjäger-alurteile über Marinebesat-ganz Deutschland über daserunglückten Kadettin dis-rheblichem und völlig un-n von Opfern und von Sol-tlungen ausgesetzt sehen.chen Bundestages haben wiration über die Vorgänge inehr, und zwar sowohl durch als auch durch den Wehrbe-t für jedes einzelne Diszipli-nfall – wofür es schließlichgten gibt, in dem eine jährli-ird –, aber für schwerwie-chnellstmöglich, vollständigrden müssen, also nicht aufs Berichterstatterin für denn, Herr Wehrbeauftragter,e noch frühere Einbindungnatürlich noch eine anderedie Disziplinarvorgesetztenlungsbehörden ihre ArbeitKönigshaus, einmal ein ganz schlichtes Lob ausspre- sche Ziele, für die Auflage oder für die Quote noch zu-sätzlich auf den Betroffenen herumgetrampelt werdenund Kollegen! Sehr geehrter Wehrbeauftragter! Vorwegmöchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, lieber Herr cher Debatten muss die Frage erlaubt sein, ob für politi-Dr. Sascha RaabeMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenWerner Schieder
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Dagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenNun können wir in der Debatte fortfahren. Ich erteile deWort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe KolleginnenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn Wunderlichr Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion dastig, durch das die Beschäftigung mit der Truppe erleich-tert wird.Meine Damen und Herren, andererseits gibt es Gren-zen dafür, wie viele Details aus aktuellen Vorgängen indie Öffentlichkeit getragen werden. Angesichts kürzli-
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Anita Schäfer
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machen lassen, bevor öffentliche Urteile abgegeben wer-den, auch wenn der mediale Druck groß ist, wobei ichmir von Medienseite ebenfalls etwas mehr Zurückhal-tung wünschen würde.So viel zum Formalen; nun komme ich zum Inhalt.Meine Damen und Herren, in dem Bericht wird aufdrei Schwerpunkte hingewiesen, die gegenüber den Vor-jahren gleich geblieben sind. Bei diesen sehen wir erneuteiniges an Schatten, aber mittlerweile auch einiges anLicht.Erstens: die Attraktivität des Dienstes und die Verein-barkeit von Familie und Dienst. Gerade mit Blick auf dieNachwuchswerbung für eine künftige Freiwilligenar-mee, so stellt der Wehrbeauftragte richtig fest, stelle sichdie Frage der Attraktivität in allen Bereichen. Der Ent-wurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes, den wir heuteMorgen in erster Lesung behandelt haben, bildet hier dieGrundlage für weitere Verbesserungen. Ich begrüße essehr, dass der Bundesverteidigungsminister bereits ange-kündigt hat, 200 weitere Eltern-Kind-Arbeitszimmereinrichten zu wollen.Das Programm des Ministeriums zur Attraktivitäts-steigerung enthält viele weitere wertvolle Anregungen.Es liegt an uns, diese umzusetzen. Durch das Reformbe-gleitgesetz, das bald vorliegen wird, wird uns die Mög-lichkeit dazu gegeben. Wir von der Union haben bereitseine interne Unterarbeitsgruppe eingerichtet, die sich mitder Verbesserung der Attraktivität des Dienstes bei derBundeswehr befasst,
nicht zuletzt hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Fami-lie.Der zweite Punkt sind die fortbestehenden Problemeim Sanitätsdienst. Hier geht es insbesondere um den er-heblichen Mangel an Fachpersonal. Die dagegen ergrif-fenen Maßnahmen werden erst mittel- bis langfristigvollständig umgesetzt werden können. Das ist umsowichtiger, als die Bundeswehr weiterhin im Wettbewerbmit dem zivilen Gesundheitssektor steht.Drittens können wir bei den Auslandseinsätzen erneutkonstatieren, dass sich die Ausrüstungssituation laufendverbessert. So ist die früher stets kritisierte Ausstattungmit geschützten Fahrzeugen und Bewaffnung in Afgha-nistan mittlerweile zufriedenstellend. Aber noch immersehen die Soldaten dieses Gerät vielfach erst im Einsatz-land. Deswegen müssen und deswegen werden wir un-sere Anstrengungen in diesem Bereich fortsetzen.Bei einem anderen leidigen Thema zeichnet sichebenfalls eine Verbesserung ab: Der neue Rahmenver-trag zur Betreuungskommunikation sichert einen Verbin-dungsumfang, der den gestiegenen technischen Mög-lichkeiten und Anforderungen entspricht, sodassbeispielsweise trotz des erheblich gestiegenen Kontin-gentumfangs künftig wieder das Skypen, also die Video-telefonie, nach Hause möglich wird. Zudem erhält jederSoldat pro Woche 30 Freiminuten zum Telefonierennach Hause, und zwar zusätzlich zum Auslandsverwen-dungszuschlag, der eigentlich Belastungen wie die teureKommunikation aus dem Einsatz bereits berücksichtigt.
Der Hinweis des Wehrbeauftragten auf Ausbildungs-mängel gerade beim Gebrauch von Schusswaffen er-scheint vor dem Hintergrund der derzeit öffentlich dis-kutierten jüngsten Vorfälle bei der Bundeswehrbesonders prägnant. Ausdrücklich betont der Bericht dieNotwendigkeit drillmäßigen Übens. Eigentlich eineSelbstverständlichkeit: Nur ständige Wiederholung gibtbeim Umgang mit gefährlichem Gerät und bei dem Aus-üben gefährlicher Tätigkeiten die notwendige Sicherheit.Das steht im Gegensatz zu der medialen Kritik an militä-rischem Drill, die etwa in der Berichterstattung über dieVorgänge auf der „Gorch Fock“ zu lesen war. DieserDrill ist kein Selbstzweck, sondern dient der Vorberei-tung der Soldaten auf einen Dienst, in dem sie das Ge-lernte buchstäblich im Schlaf beherrschen müssen.Selbstverständlich findet dies aber seine Grenzen an denGrundsätzen der Inneren Führung, des Strafrechts undder Menschenwürde.Ich möchte zum Schluss noch ein aktuelles Ereignisansprechen. Am vergangenen Freitag erreichte uns er-neut eine schlimme Meldung aus Afghanistan. Ein An-greifer in afghanischer Armeeuniform erschoss heimtü-ckisch drei Bundeswehrsoldaten innerhalb einesBeobachtungspostens und verwundete sechs weitere,zwei davon schwer. Leider ist das in der Berichterstat-tung quasi nur als Fußnote erwähnt worden. Es war of-fenbar wichtiger, über andere Fußnoten zu debattieren.Ich möchte den Angehörigen der drei Gefallenen andieser Stelle unser Mitgefühl und Beileid aussprechen,besonders angesichts der schweren Stunden, die ihnenmorgen mit dem Abschiednehmen bei der Trauerfeierbevorstehen. Zudem wünsche ich den Verwundeten einerasche und vollständige Genesung. Es ist besonders bit-ter, dass dieser Angriff im Rahmen der Ausbildung fürdie afghanischen Sicherheitskräfte geschah, die in weni-gen Jahren die Verantwortung für ihr Land übernehmensollen, damit wir uns zurückziehen können.Unsere Soldaten kämpfen dort in einem Konflikt, indem sich der Gegner an keinerlei Regeln des Völker-rechts hält, während wir diese peinlich genau befolgenund bereits beim bloßen Verdacht auf Verstöße staatsan-waltschaftliche Ermittlungsverfahren einleiten und Un-tersuchungsausschüsse einrichten, wie es die Pflicht ei-nes Rechtsstaates ist. Dennoch erfüllen unsere Soldatendort weiter den gefährlichen Auftrag, den wir ihnen ge-geben haben, auch um die Sicherheit Deutschlands zugewährleisten. Dafür verdienen sie unseren Dank, unse-ren Respekt und unsere volle Unterstützung.Ich wünsche mir, dass sich das in der öffentlichen De-batte noch stärker zeigt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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10552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Evers-Meyer
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch meine Fraktion möchte den Familien und Angehö-rigen der gefallenen Soldaten in Afghanistan sagen, dasswir mit ihnen fühlen in dem Wissen, dass in dieser Situa-tion nichts ihren Schmerz stillen kann und nichts ihremSchmerz gerecht wird. Den verwundeten Soldaten wün-schen wir baldige und vollständige Genesung. All unse-ren Soldaten im Einsatz wünschen wir, dass sie heil undgesund zurückkommen.
Ich danke dem Wehrbeauftragten und seinen Mitar-beitern für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Geradein letzter Zeit haben wir erfahren müssen, dass wir mehrwertvolle Informationen von ihm bekommen als von un-serem Verteidigungsminister.
Aus dem Bericht des Wehrbeauftragten geht erfreu-lich klar hervor, dass die Bundeswehr nicht genug fürSoldatinnen und Soldaten und deren Familien tut. DieVereinbarkeit von Familie und Dienst ist ein „zentralerAttraktivitätsfaktor“; so steht es im aktuellen Bericht desWehrbeauftragten. Das kann ich hier und heute nur nocheinmal mit Nachdruck unterstreichen. Wenn die Bundes-wehr zukünftig ohne Wehrpflichtige auskommen muss,dann gilt das umso mehr. Die bessere Vereinbarkeit vonFamilie und Dienst ist nicht nur eine wesentliche Er-leichterung für Soldatinnen und Soldaten und ihre Fami-lien, sondern ist auch ein ganz wichtiges Argument fürjunge Leute, wenn sie vor der Entscheidung für oder ge-gen die Bundeswehr als Arbeitgeber stehen.Vor vier Jahren hat die Bundeswehr eine Teilkonzep-tion zum Thema „Familie und Dienst“ vorgelegt. In derFolge gab es sogar einige hoffnungsvolle Pilotprojekte.Aber insgesamt ist eigentlich viel zu wenig passiert. Eingroßes Problem ist die Kinderbetreuung. Es gibt genaueinen einzigen Betriebskindergarten der Bundeswehr,und der ist ausgerechnet in Bonn, und zwar im Verteidi-gungsministerium. Das ist sicherlich gut und richtig fürdie Mitarbeiter im Ministerium. Aber das ist natürlichweit entfernt von einem ernstzunehmenden Betreuungs-angebot für die Truppe. Auch wenn man den Grundsatzverfolgt, dass man zuerst die Kooperation mit Kinderta-gesstätten vor Ort sucht, bleibt das Problem, dass derSoldatenberuf und seine besonderen Anforderungeneben nicht mit den Öffnungszeiten eines kommunalenKindergartens in Einklang zu bringen sind. Deswegen istganz klar: Bundeswehr und Verteidigungsministeriummüssen die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausbauenund zu einem Teil ihres Attraktivitätsportfolios machen.
Natürlich kostet das auch Geld. Bisher gilt, dass Kin-derbetreuung kein zusätzliches Geld kosten darf. Abermit diesem Ansatz wird es bestimmt nicht gehen. Wennwir eine Bundeswehr wollen, die als Arbeitgeber wirk-lich attraktiv ist, dann werden wir alle miteinander soehrlich sein müssen und das dann auch so sagen. Ge-nauso sage ich, dass nicht alles, was zur Familienfreund-lichkeit beiträgt, letztendlich mehr Geld kostet. Bei-spielsweise leiden Soldatinnen und Soldaten darunter,dass bei der Personalerfassung oft nicht berücksichtigtwird, dass der Partner oder die Partnerin auch Soldat ist.Die Folge ist dann, dass bei Versetzungen eben nicht be-dacht wird, welche Verwendung für den Partner einge-plant ist. Das könnte man zum Beispiel durch einen Ein-trag in die Personaldaten verhindern. Ähnliches gilt fürdie Planung von Fortbildungen. Hier könnte die Bundes-wehr recht kurzfristig ihren guten Willen zeigen und un-termauern.Kommen wir jetzt zum Thema Auslandseinsätze.Noch wichtiger wird die Frage der Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf, wo Soldatinnen und Soldaten in denEinsatz gehen. Der Bericht des Wehrbeauftragten räumtdiesem Punkt zu Recht besonders viel Platz ein. Dasfängt an bei der Einsatzdauer. Im Jahr 2010 gab es eineschleichende Verlängerung der Afghanistan-Mandateüber die eigentlich vorgesehenen vier Monate hinaus. ImJanuar dieses Jahres ging ein Kontingent nach Afghanis-tan, dessen Soldaten schon vor der Abreise gesagtwurde, dass sie für sechs Monate eingesetzt seien, man-che sogar noch länger. Wir haben das hier vor einigenWochen schon einmal angesprochen. Ich will es trotz-dem wiederholen: Das schadet unseren Soldaten, weildie Anfälligkeit für psychische Erkrankungen mit jedemzusätzlichen Tag im Einsatz steigt.
Der Wehrbeauftragte hat auch dazu im letzten Jahr ei-nige Berichte bekommen. Es ist ebenfalls nicht einzuse-hen, dass auf einmal die breite Masse der Soldatinnenund Soldaten zu Spezialisten geworden ist, für die wireine längere Einsatzdauer eigentlich vorgesehen haben.Das sollten und sollen wirklich Ausnahmen bleiben.Sonst müssen Sie so ehrlich sein und begründen, warumganze Kontingente ein halbes Jahr und länger in den Ein-satz gehen.Was bei diesen Einsätzen oft unter den Tisch fällt: Dielange Abwesenheit hat spürbare Folgen für die Familien.Da fehlt die Mama oder der Papa einfach mal für ein hal-bes Jahr, und zwar nicht, weil er mit einem Schirmchen-drink auf den Malediven sitzt, sondern weil er in einengefährlichen Einsatz geht. Das zehrt an den Nerven derAngehörigen. Es ist nicht in Ordnung, dass sich vieleSoldatinnen und Soldaten und ihre Familien nicht mehrauf das Wort ihres Dienstherrn verlassen können, wennes um die Länge ihres Auslandseinsatzes geht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10553
Karin Evers-Meyer
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Verschlimmert wird das noch durch eine undurchsich-tige Einsatzplanung. Im Bericht ist von Fällen zu lesen,in denen es keine rechtzeitige Information über verscho-bene In- und Out-Termine gab. Das betraf übrigens auchKontingente für das Kosovo, bei denen in der zweitenSeptemberwoche noch nicht feststand, wann in der zwei-ten Monatshälfte die Rückflüge stattfinden sollten. Dassdie Soldaten dann nach ihrer Ankunft in Deutschlandnoch durch die halbe Republik reisen müssen, um zu ih-rem Heimatstandort zu kommen, das komplettiert dasBild eines Arbeitgebers, der solche Fragen offensichtlichnicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit behandelt.Das sind natürlich Kleinigkeiten im Vergleich zu Todund Verwundung im Einsatz. Aber es sind wichtigeDinge, die nicht nur das Leben der Soldatinnen und Sol-daten erleichtern, sondern auch der Bundeswehr helfen;denn sie erhält als Gegenwert zufriedenere Mitarbeiter,die sich wertgeschätzt fühlen. Die Bundeswehr sollte da-her nicht den Fehler begehen, Dinge wie Familienbe-treuung und Fürsorge während eines Auslandseinsatzesals Sozialdudelei zu verniedlichen. Ich glaube, vielegroße Unternehmen in Deutschland haben mittlerweilegelernt, dass das ein großer Fehler ist. Die meisten habendazugelernt, und das Verteidigungsministerium solltesich diesem Lernprozess anschließen.
Ein weiterer Punkt in dieser Reihe ist das Thema„Kommunikation aus dem Einsatzland“. Wir haben unsim Ausschuss wiederholt damit beschäftigt. Im Vergleichzu dem, was unsere Partnernationen den Soldatinnen undSoldaten anbieten, befindet sich unsere Bundeswehr im-mer noch im letzten Jahrtausend. Neue Mobilfunkver-träge sollen bis Mitte des Jahres stehen. Aber es istschon jetzt abzusehen, dass auch diese Verträge nichtausreichen werden.
Es ist doch eigentlich ganz einfach: Dinge wie Skypegehören heute einfach zur Alltagskommunikation, be-sonders wenn man über Tausende von Kilometern kom-munizieren muss. Das sollte sich auch in den Vertrags-anforderungen niederschlagen; es fehlt aber bisher. Ichbitte, das noch einmal zu überprüfen. Alles andere führtdoch nur zu unnötiger Frustration. Unsere Soldatinnenund Soldaten warten dringend auf eine Verbesserung undvertrauen auf die Ankündigung des Ministeriums. Wennes entgegen dieser Ankündigung bis Mitte des Jahres im-mer noch keine Lösung für die Kommunikation aus denEinsatzgebieten gibt, dann wird dieses Vertrauen ver-schenkt.Das führt mich zum nächsten Schwerpunkt im Jahres-bericht, zum Thema „Verlässlichkeit und Qualität“. Wirhaben heute Vormittag über den Entwurf zum Wehr-rechtsänderungsgesetz 2011 beraten. Zum 1. Juli 2011soll die Wehrpflicht wegfallen. Was mir bei der Diskus-sion bisher zu kurz kommt, ist die Frage, wie die Bun-deswehr in Zukunft eigentlich den Nachwuchs gewinnenwill, den sie braucht. Die Bundeswehr wird sich nachdem Wegfall der Wehrpflicht doch viel intensiver alsbisher um Nachwuchsgewinnung kümmern müssen. Daswird für die Truppe zu einer wirklichen Herausforderungwerden.Die Nachwuchsgewinnung wird durch den demogra-fischen Wandel noch erschwert. Unsere Bundeswehrwird in Zukunft also viel mehr mit der freien Wirtschaftum gute Köpfe konkurrieren müssen. Wenn ich mir dieÄußerungen aus der Bundeswehrführung der letztenTage dazu vergegenwärtige, dann bin ich skeptisch, obdas schon überall erkannt worden ist. Ich glaube wirk-lich, dass es ein falsches Signal ist, wenn die Bundes-wehrführung davon spricht, in Zukunft vor allem Ge-ringqualifizierte ansprechen zu wollen. Umgekehrt wärees richtig: Sie sollten den Anspruch haben, die wirklichgut Qualifizierten anzuwerben. Dazu braucht man natür-lich auch eine entsprechende finanzielle Ausstattung. InZukunft steigen also die Anforderungen an eine effizi-ente Nachwuchsgewinnung.Die Bundeswehr hat bei einer Stärke von rund185 000 Mann einen jährlichen Regenerationsbedarf von10 000 Kurzzeitdienern und 17 000 Zeit- und Berufssol-daten. Wenn wir für die Zeit- und Berufssoldaten einVerhältnis von drei Bewerbern auf eine Stelle und fürKurzzeitdiener ein Verhältnis von zwei zu eins ansetzen,dann können wir feststellen, dass die Bundeswehr jähr-lich mehr als 70 000 Bewerber benötigt.Legt man die Ausgaben anderer Armeen für dieNachwuchswerbung zugrunde, müsste die Bundeswehrkünftig pro Jahr deutlich über 1 Milliarde Euro aufwen-den, um neue Kräfte anzuwerben. Wie diese wirklichbeträchtliche Summe von über 1 Milliarde Euro im Ver-teidigungshaushalt aufgebracht werden soll, ist noch im-mer nicht klar.Auch die geplante Reduzierung der Zahl der Kreis-wehrersatzämter macht uns große Sorgen. Damit sinkendie Chancen der Bundeswehr, auch in der Fläche präsentzu sein.Natürlich spielt die Bezahlung eine wichtige Rolle;aber das ist nicht das Einzige. Fairness, Transparenz undVerlässlichkeit dürfen nicht auf der Strecke bleiben.Dazu gibt es ein paar negative Beispiele: Die verspro-chene Sonderzahlung, die Weiterzahlung des Weih-nachtsgeldes, ist nicht erfolgt. Das hat unsere Soldatensehr enttäuscht. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage wei-terkommen.Mir ist sehr wichtig, zu sagen, dass meine Fraktion er-wartet, dass uns hinsichtlich der Vorkommnisse auf demSchulschiff „Gorch Fock“ möglichst bald ein vollständi-ger Bericht vorliegt. Wir erwarten mit Ungeduld die Er-gebnisse der angekündigten Untersuchung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Schnurr fürdie FDP-Fraktion.
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10554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich darf im Namen der FDP-Fraktion zu Beginn meinerAusführungen und meiner Berichterstattung zum Jahres-bericht des Wehrbeauftragten zum Ausdruck bringen,dass auch unsere Gedanken bei den Hinterbliebenen derbei den tragischen Ereignissen der letzten Woche in Af-ghanistan Gefallenen sind. Wir hoffen, dass die Verwun-deten schnellstmöglich genesen. Wir senden von dieserStelle – ich glaube, ich tue das auch im Namen des gan-zen Hauses – die besten Wünsche.
Der Wehrbeauftragte hat dem Parlament Ende Januardieses Jahres den Jahresbericht für 2010 vorgelegt. Erhat die Erkenntnisse, die er im Jahr 2010 bei unter-schiedlichsten Truppenbesuchen, bei Gesprächen, bei di-versen anderen Gelegenheiten mit den Soldatinnen undSoldaten sowie Angehörigen der Bundeswehr, aber auchmit unterschiedlichen Institutionen gewonnen hat, indem Jahresbericht gebündelt und ihn dem DeutschenBundestag sehr zeitnah übergeben. Ich glaube, es ist dererste Bericht, der dem Deutschen Bundestag so zeitnahübergeben wurde. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür,dass wir die Gelegenheit haben, ebenfalls zeitnah überdiesen Bericht zu diskutieren.Herr Minister, ich setze auch in diesem Zusammen-hang auf die Offenheit Ihres Hauses, darauf, dass Sie denInhalt des Berichts nicht nur prüfen werden, sonderndass Ihr Haus die Stellungnahme zu diesem Bericht nachMöglichkeit zeitnah dem Parlament übermittelt, damitwir dann hier über die Konsequenzen, die aus dem Jah-resbericht 2010 resultieren, angemessen diskutieren kön-nen.Sie, Herr Königshaus, nehmen Ihre verantwortungs-volle Aufgabe als Wehrbeauftragter sehr ernst. Dieszeigt sich insbesondere dadurch, dass Sie den Verteidi-gungsausschuss im Jahr 2010 bereits zweimal unterrich-tet haben. Es ist gut, zu wissen, dass Sie uns nicht nur amEnde des Jahres mit dem komprimierten Jahresberichtinformieren, sondern dass Sie die Mitglieder des Vertei-digungsausschusses auch regelmäßig über Ergebnisseund Ereignisse unterrichten, die sich in der Truppe ab-spielen.Auch der 52. Jahresbericht legt viele Missstände dar,die jedoch zum Teil – das ist das Positive daran – wiederabgestellt sind. Der Jahresbericht 2010 hat im Wesentli-chen drei Schwerpunkte: die Vereinbarkeit von Familieund Dienst, die Situation in den Auslandseinsätzen und,damit verbunden, die Ausrüstung der Soldaten sowie dieProbleme im Sanitätsdienst.Im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Dienstbesteht Nachholbedarf. In der Kinderbetreuung gibt eszwar erste Erfolge; ein flächendeckender großer Durch-bruch ist aber noch nicht erzielt worden. Es ist darübernachzudenken, ob beispielsweise eine Kinderbetreuungan den Universitäten und an den Bundeswehrschulensinnvoll erscheinen würde. Nachzudenken ist auch überweitere Betriebskindergärten, insbesondere vor dem Hin-tergrund, dass der Frauenanteil in der Truppe mittlerweilebei knapp 9 Prozent liegt. Wir wollen diesen Anteil auf15 Prozent steigern. Deswegen ist es begrüßenswert, dassder Bundesminister im letzten Jahr angekündigt hat, an200 Standorten weitere Eltern-Kind-Arbeitszimmer ne-ben denen zu schaffen, die bereits existieren. Das ist einerster Schritt in die richtige Richtung. Ich bin mir sicher,dass es nicht der letzte Schritt sein wird.
Wenn wir über die Auslandseinsätze und die vorhan-dene Ausrüstung sprechen, dann dürfen wir nie verges-sen, dass Ausbildung und Ausrüstung die höchste Priori-tät haben müssen. Die haben sie auch. Das Training mitden Handwaffen und den Fahrzeugen kann nicht oft ge-nug unter harten Bedingungen erfolgen, damit die Solda-tinnen und Soldaten dieses Material im Einsatz auch inschwierigen Situationen sicher beherrschen. Das ist einganz wichtiger Punkt.Wir sind hier auf dem richtigen Weg, wenngleich esnoch viel zu tun gibt. Deswegen ist es eine richtige Ent-scheidung gewesen, im Verteidigungsministerium eineAd-hoc-Arbeitsgruppe zu gründen, die aus den Erfah-rungen im Einsatzkontingent Ausrüstungsmängel identi-fiziert, damit diese dann abgestellt werden können. Es istauch richtig, dass wir als Parlamentarier den Haushalts-ansatz für den einsatzbedingten Sofortbedarf im Jahr2011 auf 300 Millionen Euro angesetzt haben, der un-mittelbar unseren Soldatinnen und Soldaten in den Aus-landseinsätzen zugutekommt.
Dass das richtig war, sehen wir daran, dass sich die An-zahl der geschützten Fahrzeuge insbesondere in Afgha-nistan maßgeblich erhöht hat.Ein wichtiger Punkt, der nicht nur im letzten Berichterwähnt wurde, sondern auch immer wieder im Ge-spräch mit den Soldaten ein Soft Skill ist, ist die Mög-lichkeit der Kommunikation mit der Heimat. Der ehema-lige Anbieter hat einiges geleistet, wenngleich wir unsalle erhofft haben, dass die Möglichkeiten der Soldatin-nen und Soldaten, mit ihren Angehörigen in Deutschlandzu kommunizieren, besser werden. Deswegen ist es rich-tig und gut, dass nicht nur eine Ausschreibung stattge-funden hat, sondern dass auch die Entscheidung getrof-fen wurde, einen neuen Anbieter zu suchen und diedamit verbundenen Leistungen für die Soldatinnen undSoldaten im Auslandseinsatz wesentlich zu verbessern.Hierzu gehört nicht nur, dass mehr Computerarbeits-plätze und höhere Geschwindigkeitsraten für Telefonieund Internet zur Verfügung stehen, sondern auch, dassdas Ministerium zugesagt hat, den Soldatinnen und Sol-daten 30 Telefonfreiminuten in der Woche zur Verfü-gung zu stellen. Das sind erste Schritte, um die Attrakti-vität der Bundeswehr zu steigern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10555
Christoph Schnurr
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Der Sanitätsdienst ist selber zum Patienten geworden.Das hat der Wehrbeauftragte bereits angeführt. Auchhier haben wir mit einem erhöhten Mittelumfang die Tal-fahrt beenden können. Im letzten Jahr fehlten noch rund600 Ärzte. Mittlerweile hat sich diese Zahl auf 360 redu-ziert. Wir konnten sogar 85 Seiteneinsteiger aus derfreien Wirtschaft für die Bundeswehr gewinnen.Wir müssen neue Anreize schaffen. Angesichts derHerausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, insbe-sondere der Umstrukturierung der Bundeswehr, müssenwir die Bundeswehr noch attraktiver machen. HerrWehrbeauftragter, ich wünsche Ihnen für die Arbeit indiesem Jahr, die sicherlich vor dem Hintergrund derStrukturreform und der Aussetzung der Wehrpflicht,aber auch vor dem Hintergrund der bestehenden Ein-sätze äußerst interessant werden wird, alles Gute.Am Ende meiner Rede – Frau Präsidentin, ich sehedas Licht – möchte ich den Soldatinnen und Soldaten imAuslandseinsatz, aber auch ganz bewusst deren Fami-lien, Angehörigen und den Freunden der Soldaten sowieden Soldatinnen und Soldaten in Deutschland danken.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu-nächst einmal möchte ich meinen Dank an den Wehrbe-auftragten für diesen wertvollen Bericht und seine wich-tige Arbeit aussprechen. Solange es eine Bundeswehrgibt, ist die Institution des Wehrbeauftragten in jedemFall sinnvoll und notwendig.
Der Bericht zeigt aber auch, warum die Vorstellung einerBundesrepublik ohne Armee so attraktiv ist. Ein Teil deraufgeführten Missstände und Exzesse wie Bedrohungvon Untergebenen oder gar Körperverletzung oder ent-würdigende Behandlung ist wohl eher ein Zerrbild alsein Spiegel der Gesellschaft.
Da helfen die jährlichen Berichte, wenigstens die Pro-bleme der real existierenden Bundeswehr zu beschrei-ben.Wie wichtig die Arbeit des Wehrbeauftragten als An-walt der Soldatinnen und Soldaten ist, zeigten die letztenMonate schmerzlich. Besorgte Bundeswehrangehörigehaben sich über die Feiertage an mein Büro und wohlauch an viele andere Abgeordnete gewandt. Die Anlässesind in der Zwischenzeit hinlänglich bekannt, aber nochlange nicht aufgeklärt: geöffnete Briefe, lebensgefährli-che Missstände auf der „Gorch Fock“ und Waffenspielein Afghanistan. Das alles beunruhigte Soldaten, langebevor es die Bild-Zeitung aufgriff. Meinen Brief mit derBitte um Aufklärung beantwortete das Verteidigungsmi-nisterium erst gut einen Monat später. Auch die erste Sit-zung des Verteidigungsausschusses in diesem Jahr trugkaum zur Klärung bei. Dort erzählte der StaatssekretärKossendey, der Soldat sei in Afghanistan beim Waffen-reinigen gestorben.Auch der Minister redet zwar gerne mit ausgewähltenMedien, nimmt aber seine Auskunftspflichten gegenüberAbgeordneten nicht allzu ernst.
Ohne einen Wehrbeauftragten wären dem Verteidigungs-ausschuss wohl wieder einmal wesentliche Informatio-nen vorenthalten worden. Eine wirkliche parlamentari-sche Kontrolle der Armee ist so kaum möglich.
Ich bin dankbar für das Korrektiv des Wehrbeauftragten.Doch eigentlich ist es Aufgabe des Ministeriums, allewesentlichen Informationen zur Verfügung zu stellen.Stattdessen wird vertuscht und verschleiert. So kann dasnicht weitergehen.
Der größte und gewichtigste Teil der Probleme derSoldatinnen und Soldaten bezieht sich auf die Ausland-seinsätze der Bundeswehr und ganz speziell auf denKriegseinsatz in Afghanistan. Der Bericht des Wehrbe-auftragten macht sichtbar, was es konkret bedeutet, dassDeutschland eine „Armee im Einsatz“ hat. Die verfah-rene Lage in Afghanistan wird überdeutlich. Wir könnennachlesen, dass die „Intensität der Einsätze kontinuier-lich zugenommen“ hat, dass Soldaten „nahezu täglich inFeuergefechte verwickelt“ sind, dass sie „durch zuneh-mend militärisch organisierte Hinterhalte und Angriffebedroht“ sind. So steigt die Zahl der Soldatinnen undSoldaten ständig, die dies nicht mehr verkraften. Im Jahr2010 wurden 40 Prozent mehr posttraumatische Erkran-kungen festgestellt als im Vorjahr. Das ist nur die Spitzedes Eisberges; die Dunkelziffer ist hoch. Diese Erkran-kungen, aber auch die immer häufigeren und immer län-geren Kriegseinsätze belasten auch die Angehörigen.Deshalb wenden sich auch immer mehr Familienangehö-rige an den Wehrbeauftragten.In dem Bericht des Wehrbeauftragten wird auch sehrdeutlich, dass es der Bundesregierung mehr um militäri-sche Interessen als um die Soldatinnen und Soldatengeht. So dauern die Versorgungsverfahren zur Anerken-nung von posttraumatischen Erkrankungen sehr lange,und nur etwa ein Drittel der Anträge auf Wehrdienstbe-schädigung im Falle von PTBS wurde anerkannt. Das istzynisch.
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10556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Inge Höger
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Es kann nicht sein, dass Soldaten und ihre Angehörigenden Preis für die Kriegspolitik der Regierung zahlen unddann auch noch mit den Folgen alleingelassen werden.
Kriege ohne Traumatisierung gibt es nicht; das gilt fürSoldaten ebenso wie für die Zivilbevölkerung – ein wei-terer Grund, warum die deutsche Kriegsbeteiligung soschnell wie möglich beendet werden muss.
Es gibt nur einen wirklichen Schutz für die Soldatin-nen und Soldaten: Das ist ein Ende dieses Krieges. Inden letzten zwölf Monaten starben elf deutsche Soldatenin Afghanistan. Etwa 70 wurden verletzt. Jeder Einzelnevon ihnen ist einer zu viel.
Die Mehrheit in diesem Haus hat es in der Hand, we-nigstens weitere Opfer zu verhindern. Holen Sie dieBundeswehr zurück! Beenden Sie diesen Kriegseinsatz!
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidi-gung, Freiherr zu Guttenberg.
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesmi-nister der Verteidigung:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Höger, das war wieder einmal eine bemer-kenswerte Rede,
die Sie mit den Worten „solange es eine Bundeswehrgibt“ eingeleitet haben.
Ich kann nur sagen: Solange es die Linke gibt, wird esauch die Bundeswehr geben.
Gott sei Dank ist das der Fall.
Ich darf auch Ihr hartes Urteil über das Ministerium,das letztendlich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterund alle Soldaten trifft, mit Nachdruck zurückweisen.Das haben sie nicht verdient. Ein solches Urteil sollteman nicht fällen.
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten Herrn Kö-nigshaus ist „den Soldatinnen und Soldaten der Bundes-wehr sowie ihren Angehörigen gewidmet“. Weiter heißtes im Vorwort:Sie nehmen eine für die Gesellschaft unverzicht-bare und viel zu wenig gewürdigte Aufgabe wahr.Das ist, wenn man so will, der Schlüsselsatz in IhremJahresbericht, der auch das gesamte Spannungsfeld auf-zeigt, in dem wir uns immer wieder befinden und dasletztlich auch bei den Soldaten sowie bei den Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr vorzufindenist. Ich kann daher nur das unterstreichen, was Sie mitdiesem Satz zum Ausdruck bringen, nämlich dass immernoch viel zu wenig gewürdigt und wahrgenommen wird,was an Dienst für unser Land – auch fern davon – geleis-tet wird. Daher haben unsere Soldaten Dank und nichtein solches Pauschalurteil verdient.
Diese klare Aussage wird dann mit vielen Beispielenuntermauert. Ich will dem Wehrbeauftragten für seineTätigkeit danken. Er macht meinen Dienst nicht immerruhiger; das liegt aber in der Natur der Sache. Ich glaube,dass wir eine sehr gute Form gefunden haben, die Pro-bleme aufzugreifen, anzugehen und zu bearbeiten. Ichbin überzeugt von der Richtigkeit der Einrichtung desAmts eines Wehrbeauftragten, weil es unsere Arbeit er-gänzt und weil wir Dinge oftmals erst über den Wehrbe-auftragten erfahren. Deshalb ist es eine wichtige und fürSie, Herr Königshaus, oft auch eine hoch emotionale Ar-beit, die sicherlich nicht immer ganz einfach ist. Uns eintdas Ziel, dass wir die Sorgen, die Nöte und die Hoffnun-gen der Soldatinnen und Soldaten nicht nur ernst neh-men, sondern sie aufgreifen und unsere Bemühungenletztlich in Ergebnisse münden lassen. Wir wollen einklares Bild zeichnen, das die Realitäten wiedergibt.Wenn Vorwürfe von Soldaten kommen oder Vorwürfeüber einzelne Soldaten uns erreichen – manchmal errei-chen sie uns erst über die Medien –, dann gehen wir ver-nünftig und ruhig damit um und versuchen, Abhilfe zuschaffen.Die Einrichtung des Wehrbeauftragten macht sicht-bar, wie eng der Dienst in unseren Streitkräften an dasGrundgesetz gebunden ist. Der jährlich vorgelegte Be-richt ist immer auch willkommener Anlass, die Fragenach dem Zustand und nach dem inneren Gefüge unsererStreitkräfte zu stellen.Die teilweise eher laute öffentliche Diskussion übereinzelne Missstände der letzten Monate darf uns aller-dings nicht den Blick auf eine Sache verstellen: Es istmir wichtig, dass wir keine voreiligen Schlüsse über dieinnere Gesamtlage der Bundeswehr ziehen. Wir müssenuns immer wieder deutlich machen, dass es sich umFehlverhalten Einzelner handelt und dass das nicht denZustand der gesamten Bundeswehr widerspiegelt.
Es ist und bleibt ein gefährlicher Dienst, den unsereSoldatinnen und Soldaten in unserem Auftrag leisten.Morgen Nachmittag – darauf wurde von fast allen Red-nern hingewiesen – kommen wir zusammen, um in Re-gen der drei in der vergangenen Woche gefallenen Sol-daten zu gedenken. Herr Königshaus, Sie haben mit zweider gefallenen Soldaten noch gesprochen. Ich selbst wareinen Tag vor diesem schrecklichen Vorfall in dem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10557
Bundesminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
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OP North. Ich habe dort Soldaten getroffen und mit ih-nen gesprochen. Dieser Vorfall hat mich daher in beson-derer Weise erschüttert. Wir denken an HauptfeldwebelGeorg Missulia, wir denken an den StabsgefreitenKonstantin Menz und an den Hauptgefreiten GeorgKurat, alle aus der 4. Kompanie des Panzergrenadierba-taillons 112 in Regen. Wir sind mit unseren Gedankenund Gebeten bei ihnen, bei den Angehörigen, insbeson-dere aber auch bei den Verwundeten. Es waren zehn Ver-wundete an diesem Tag. Es gab zwei unterschiedlicheVorfälle. Wir wünschen uns baldige und beste Genesunggerade für die Verwundeten.
Die öffentliche Anteilnahme ist in den letzten einein-halb bis zwei Jahren sehr gewachsen. Das ist trotz derSchrecklichkeit der Vorfälle ein positives Zeichen, dadie Menschen aufnehmen und wahrnehmen, was unsereSoldaten leisten. Es zeigt, dass die Menschen in unseremLand hinter unseren Soldaten stehen. Ohne diesen Rück-halt könnten die Soldatinnen und Soldaten ihren Dienstauch gar nicht in dieser Weise leisten.Wenn wir heute über diesen Bericht diskutieren, de-battieren wir immer über Verantwortung, über die Ver-antwortung des Dienstherrn, über meine Verantwortungund die Verantwortung, die wir alle gegenüber der Bun-deswehr und den Soldaten haben. Gleichwohl dürfen wiruns auch durch Vorfälle wie am vergangenen Freitag,durch Rückschläge, gerade was den Einsatz in Afghanis-tan betrifft, nicht entmutigen lassen. Wegen eines sol-chen Vorfalls dürfen wir unseren afghanischen Partnernnicht generell misstrauen. Auch das ist ein wichtigerPunkt. Wenn wir jetzt ein pauschales, generelles Miss-trauen gegenüber unseren afghanischen Partnern an denTag legen würden, wäre das ein gänzlich falscher Schritt.Es entspricht unserer Verantwortung, dass wir an unsererStrategie des Aufbaus der afghanischen Sicherheits-kräfte und der engen Kooperation mit ihnen festhalten.Der Wehrbeauftragte kennt die Sorgen und Nöte un-serer Soldaten von vielen Reisen und Besuchen. ZuRecht betont er in seinem Bericht die Bedeutung undNotwendigkeit der Solidarität und Unterstützung der Ge-sellschaft. Neben den Auslandseinsätzen liegen weitereSchwerpunkte des Berichts auf der Situation des Sani-tätsdienstes und vor allem auf der Attraktivität desDienstes in der Bundeswehr, insbesondere bei der Ver-einbarkeit von Familie und Beruf. Diese Anregungen– allesamt wertvolle Anregungen – werden bei der be-vorstehenden Neuausrichtung der Bundeswehr in unsereÜberlegungen mit einfließen. Sie sind teilweise schonBestandteil dessen, was konzeptionell vorliegt, was es anÜberlegungen gibt und worüber in den nächsten Wochenzu entscheiden ist. Deshalb verbessern wir mit einemMaßnahmenpaket die Attraktivität des Dienstes in derBundeswehr insgesamt.Dort, wo in dem Bericht auf bestehende Mängel hin-gewiesen wird, gehen wir den Einzelfällen konsequentnach. Wir werden, wo immer es möglich ist, auch Ab-hilfe schaffen. Insbesondere die Kritik an Ausrüstungund Ausbildung der Streitkräfte nehme ich außerordent-lich ernst. Es wurde im letzten Jahr einiges erreicht, frag-los in den letzten Monaten. Der Bericht würdigt dasauch; aber wir können es nicht dabei belassen. WeitereVerbesserungen müssen folgen, und sie werden auch fol-gen. Wir haben uns dem mit aller Kraft anzunehmen.Wir alle sind dabei in der Pflicht, ein jeder an seinemPlatz: der Wehrbeauftrage, Sie, liebe Kolleginnen undKollegen des Deutschen Bundestages, der Bundesminis-ter der Verteidigung und das Bundesministerium derVerteidigung. Vergessen wir nicht: Es geht um die Si-cherheit unseres Landes, es geht um unsere Soldatinnenund Soldaten. Von daher sage ich dem Wehrbeauftragtennoch einmal Danke. Wir alle müssen weiterhin die Kraftaufbringen, gemeinsam an der Aufarbeitung dessen zuarbeiten, was an Missständen gegeben ist. Wir müssenaber auch das aufgreifen, was in der Breite an Positivemin der Bundeswehr vorzufinden ist.Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Omid
Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirtrauern um die getöteten Soldaten. Wir fühlen mit denAngehörigen. Wir wünschen den seelisch wie körperlichVersehrten schnellstmögliche und vollständige Gene-sung. Wir danken denjenigen, die wir als Parlament inden Einsatz geschickt haben.
Der Vorfall, der uns morgen nach Regen führen wird,zeigt nicht nur, wie gefährlich dieser Einsatz ist, sondernauch unsere Verantwortung als Parlament. In diesem Zu-sammenhang möchte ich auch Ihnen, Herr Wehrbeauf-tragter, und Ihrem Stab herzlich danken. Sie üben einewichtige Hilfsfunktion aus, damit wir eine Parlamentsar-mee haben können. Herzlichen Dank dafür.
Sie sind als Institution nicht nur international einma-lig, sondern gerade in diesen Zeiten deswegen besonderswichtig, weil es irgendeine Person geben muss, denendie Soldaten in diesen Zeiten tatsächlich vertrauen kön-nen. Herr Minister, wenn Sie dem Wehrbeauftragten hierdanken, ihn an anderer Stelle aber eine wandelnde Defi-zitanalyse nennen, ist das nicht nur ein unfreundlicherAkt, sondern auch ein Zeugnis dafür, dass Sie die Ein-maligkeit und Wichtigkeit dieser Institution nicht erfassthaben. Natürlich macht er Ihnen Arbeit. Aber die Tatsa-che, dass Sie ihn als Klotz am Bein empfinden, zeigt,dass es Ihnen nicht darum geht, die Verhältnisse zu ver-bessern, sondern darum, einen bequemen Job machen zukönnen.
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10558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Omid Nouripour
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So geht es nicht.Die Vorfälle auf der „Gorch Fock“ und bei der Feld-post sind nur zwei Beispiele für eine viel zu zäh verlau-fende Aufklärungsarbeit. Das hat etwas mit Ihrem Kri-senmanagement zu tun, Herr zu Guttenberg. Am Fall der„Gorch Fock“ erkennt man exemplarisch, wie viele Ha-ken Sie geschlagen haben: Freitagvormittag haben Siesich jede Vorverurteilung verbeten. Freitagnachmittagwurde der Kommandant geschasst.
– Nein, habe ich nicht. – Am Samstag war von einerSuspendierung die Rede. Am Montag haben Sie danngesagt, Sie hätten die Abkommandierung nur befohlen,um ihn zu schützen. Ich glaube, dass das sowohl derKommandant als auch die Stammbesatzung der „GorchFock“ anders empfunden haben und es bis heute tun.Herr Minister, an dieser Stelle haben Sie wiederum denÜberblick verloren.
Lassen Sie mich auf zwei Punkte aus dem Bericht desWehrbeauftragten eingehen, zum einen auf den direktenDraht der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatzzu ihren Familien; das ist von fast allen Rednern ange-sprochen worden. Die Kollegin Evers-Meyer hat völligzu Recht gesagt, dass die Situation bisher desolat war.Der alte Vertrag – ich weiß, dass Sie das nicht zu verant-worten haben – war alles andere als gut. Das Problemist: Der neue Vertrag ist es auch. Ich will ein paar Bei-spiele nennen: Höchstens ein Drittel der Soldatinnen undSoldaten wird skypen können, was gerade in Zeiten, indenen man sich nicht so ganz auf die Feldpost verlassenkann, wahnsinnig wichtig ist.
Die Peak-Zeiten, also die Hochzeiten, in denen dieRechner tatsächlich benutzt werden, nämlich nach demAbendessen, werden bei der Bereitstellung der Kapazitä-ten nicht wirklich berücksichtigt. Besonders witzig ist:Der Vertrag ist so gestrickt, dass die Gebühren für dieSoldatinnen und Soldaten im Einsatz steigen, wenn daseintritt, was die Bundesregierung verspricht, nämlichdass bereits zum Ende des Jahres Soldatinnen und Solda-ten abgezogen werden und das Kontingent verkleinertwird. Der Vertrag wurde ohne jeden Überblick abge-schlossen. Es wäre schön, wenn Sie bei der Lösung sol-cher Probleme einmal mit dem Wehrbeauftragten redenund ihm zuhören würden.Das zweite Beispiel: Vereinbarkeit von Familie undBeruf. Natürlich ist die Vereinbarkeit von Familie undBeruf einer der zentralen Bausteine im Hinblick auf dieAttraktivität der Bundeswehr, gerade wenn die Wehr-pflicht ausgesetzt wird. In dieser Situation stellen Siesich hin und sagen: Ich mache etwas dafür; denn ichwerde 200 zusätzliche Eltern-Kind-Zimmer bereitstel-len. – Das zeigt, wie kurzsichtig Ihre Überlegungen sind.Ich habe viele Kasernen besucht. Die dortige Angebots-situation ist ambivalent. Viele Menschen wissen nicht sogenau, was sie mit den Eltern-Kind-Zimmern machensollen. Die Bundeswehr braucht – wie der Rest der Ge-sellschaft – echte Betreuungsangebote. Allerdings ist andieser Front bisher Fehlanzeige.Uns wurde ein Katalog mit Vorschlägen vorgelegt,wie die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werdenkann. Dabei war auch von Inländern ohne deutschenPass die Rede. Herr Wehrbeauftragter, in diesem Zusam-menhang möchte ich eine Bitte wiederholen: Ich glaube,dass es den Realitäten und den Veränderungen unsererGesellschaft entspräche, wenn Sie sich in Ihrem nächs-ten Bericht mit der Situation der Menschen mit Migrati-onshintergrund in der Bundeswehr beschäftigen würden;denn sie haben, wie Sie dann erfahren würden, nicht nureigene Probleme, sondern bringen auch eigene Erfahrun-gen mit. Es ist sinnvoll, sich mit dieser Thematik zu be-schäftigen.Nach dem Katalog mit Vorschlägen, der uns vorgelegtwurde, soll es möglich sein, Menschen ohne deutschenPass bei der Bundeswehr zu beschäftigen. Ich sprechehier von Inländern ohne deutschen Pass; damit wird derUnterschied zu Söldnern deutlich. Herr Minister, wir ha-ben erfahren, dass Sie das abgelehnt haben; Sie wollendas nicht. Mein Verdacht ist: Sie verfallen hier einer Lo-yalitätsparanoia und sind nicht imstande, zu erkennen,dass wir hier über die Kinder dieses Landes reden; dagibt es keine Schwierigkeiten mit der Loyalität.Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren Punktansprechen, nämlich das von Ihnen beschriebene Part-nering. Natürlich müssen wir in dieser Situation in ersterLinie von den Afghanen fordern, dass sie das Vertrauenwieder herstellen; sie müssen uns erklären, wie sie dasmachen wollen. Da ist einiges zu tun. Es geht nicht da-rum, die Intensität der Ausbildung der afghanischen Sol-daten durch die Bundeswehr grundsätzlich infrage zustellen. Die Frage ist nur, ob man das ganze Konzept fürsakrosankt erklären sollte, ob man also sagen sollte: So,wie es ist, ist es richtig; alles andere machen wir nicht.Ich glaube, dass die Verunsicherung in der Truppe vielzu groß ist, um einfach zu sagen: Alles bleibt so, wie esist; es gibt keinerlei Überprüfung des Konzepts. Sie soll-ten da besser zuhören, um auch bei diesem Thema denÜberblick zu behalten.Danke für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4400 an den Verteidigungsausschuss vor-geschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Dann ist die Überweisung so beschlossen.
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten ChristineLambrecht, Sören Bartol, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDMaklerkosten gerecht verteilen– zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner,Ingrid Hönlinger, Volker Beck , weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENBestellerprinzip in die Mietwohnungsver-mittlung integrieren– Drucksachen 17/3212, 17/4202, 17/4614 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jan-Marco LuczakChristine LambrechtDr. Stefan RuppertJens PetermannIngrid HönlingerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sindSie, wie ich sehe, einverstanden.Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debattenicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Saa-les führen, können wir mit der Aussprache beginnen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion dasWort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir haben heute Abend zwei An-
träge abschließend zu beraten: den Antrag der SPD-
Fraktion, die Maklerkosten gerecht zu verteilen, und den
Antrag über die Einführung eines Bestellerprinzips. Las-
sen Sie mich zu Beginn eines feststellen: Wir brauchen
weder den einen noch den anderen Vorschlag; denn die
derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind völlig ausrei-
chend.
Zum einen haben wir einen Grundsatz in unserem Zi-
vilrecht, der sich klar durch alle Regelungen zieht. Es
handelt sich dabei um den Grundsatz der Vertragsfrei-
heit. Die Menschen sollen, weil wir ihnen vertrauen,
dass sie ihre Dinge am besten selbst regeln können, ihre
Verträge selber schließen und die Preise, die im Rahmen
der Verträge zu verabreden sind, selber aushandeln kön-
nen. Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, darüber zu
befinden, wie das, was die Parteien aushandeln, gerecht
verteilt werden soll. Das ist der erste Punkt: Wir brau-
chen Vertragsfreiheit und keine Verteilung im Zivilrecht.
Schon aus diesem Grund ist das, was Sie vorschlagen,
meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, abzulehnen.
Wenn man Ihren Antrag im Detail liest, wird sichtbar,
wie suspekt er ist. Wir machen hier ein Recht für Groß-
städte, das auch für alle anderen Bereiche in Deutsch-
land gilt. Wenn es in einer Großstadt aus verschiedenen
Gründen zu einer Wohnungsnot kommt, die zu Markt-
verschiebungen führt, dann heißt das nicht, dass bei-
spielsweise wir in Mecklenburg-Vorpommern dieselbe
Situation haben. In Mecklenburg-Vorpommern ist es
eher so, dass Vermieter Schwierigkeiten haben, Mieter
für ihre Wohnungen zu finden. Dort müssen die Mieter
nichts bezahlen, weil der Markt dafür sorgt, dass der
Vermieter die Maklerkosten trägt. Der Mieter hat eine
wesentlich bessere Verhandlungsposition. Sie aber wol-
len die Kosten des Maklers zur Hälfte auf den Mieter
übertragen. Es ist völlig falsch, zu versuchen, ein Recht
aufgrund Gerechtigkeits- und Verteilungserwägungen zu
verschieben, nur weil man etwas, was in München,
Stuttgart oder Berlin gilt, auch auf das – ich darf das so
salopp formulieren – platte Land übertragen möchte.
Dritter Punkt. Das, was Sie wollen, ist bereits gesetz-
lich geregelt. Wir haben das Wohnraumvermittlungsge-
setz. Darin ist auch enthalten, was die Grünen wollen. In
diesem Gesetz steht, dass ein Makler bei der Wohnraum-
vermittlung nur dann tätig werden darf, wenn er vom
Vermieter einen Auftrag hat. Das ist das Bestellerprin-
zip. Außerdem ist darin eine Begrenzung der Makler-
courtage festgeschrieben, und zwar auf zwei Mieten. In-
sofern wurde mittels dieses Gesetzes reagiert, um
ungerechte Marktentwicklungen zu verhindern, die für
Verbraucher belastend sein können. Das ist ein weiterer
Punkt, der es nicht sinnvoll erscheinen lässt, auch nur
annähernd über das, was Sie hier vorschlagen, nachzu-
denken.
– Nachdenken schadet nie, Herr Kollege Danckert. Aber
manchmal ist es auch sinnvoll, nachzudenken, bevor
man einen Antrag vorlegt.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen
keine Bevormundung im deutschen Recht. Unser deut-
sches Recht, insbesondere unser Zivilrecht, gründet auf
Vertragsfreiheit. Die Menschen sind in der Lage, ihre
Verträge selbst auszuhandeln. Sie sollen das nach den
vorhandenen Marktsituationen auch selbst tun. Aus den
genannten Gründen lehnen wir Ihre Vorschläge ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Lamb-recht für die SPD-Fraktion.
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10560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ahrendt, wenn Sie sagen, wir brauchen dieses Ge-
setz nicht, weil die Menschen das alles selbst regeln kön-
nen, dann mag das vielleicht für Menschen wie Sie gel-
ten, für die zwei Wohnungsmieten Maklergebühr keine
große Rolle spielen. Aber für eine ganze Reihe von
Menschen, die auch bedingt durch die Anforderungen
der Arbeitswelt häufiger umziehen müssen und viel-
leicht nicht über das Einkommen eines Bundestagsabge-
ordneten oder eines Anwalts verfügen, spielt es eine
ganz große Rolle, ob sie jedes Mal diese Maklergebühr
bezahlen müssen oder nicht. Deshalb glaube ich sehr
wohl, dass dieses Thema hierher gehört.
Ich will das mit einigen Zahlen belegen. Wir haben in
Deutschland circa 23 Millionen Mietverhältnisse. Bei ei-
ner Umzugsquote von 11 Prozent – sie ist so hoch auf-
grund der Anforderung, dass die Menschen flexibel sein
und den Wohnort wechseln müssen, wenn sie woanders
einen Arbeitsplatz bekommen können – haben wir jedes
Jahr 2,3 Millionen neue Mietverhältnisse. Davon ist fast
die Hälfte, nämlich 1 Million, mit Maklergebühren be-
legt, Tendenz steigend.
Angesichts dessen können Sie hier doch nicht sagen, das
spiele alles keine Rolle, die Menschen müssten diese
Verträge mit Maklerkosten ja nicht abschließen. Denn
die Realität ist eine andere. Es ist nicht so, dass nur in
Großstädten wie Berlin, Hamburg, München, Stuttgart
und Frankfurt die Situation vorherrscht, dass die Men-
schen gar keine andere Möglichkeit mehr haben, an ge-
eigneten Wohnraum zu kommen, als durch Verträge, die
über Makler abgewickelt werden,
sondern das gibt es durchaus auch in ganz anderen Be-
reichen.
Beispielsweise findet man in einem riesigen Ballungsge-
biet wie der Rhein-Main-Region so gut wie keine Woh-
nung mehr, wenn man keinen Makler einschaltet.
Jetzt kann man natürlich sagen, man habe doch die
Freiheit, einen Vertrag zu schließen, bei dem Maklerge-
bühren anfallen, oder es zu lassen. Das bedeutet aber
nichts anderes, als sich zu entscheiden, ob man eine
Wohnung bekommt oder nicht. Das ist eine ziemlich
zynische Auslegung der Vertragsfreiheit.
Deswegen ist es dringend erforderlich, das von Ihnen
eben angeführte, nach dem Wohnraumvermittlungsge-
setz geltende Bestellerprinzip kritisch zu hinterfragen.
Sie selbst haben gesagt, dass der Makler nur dann tätig
werden darf, wenn der Vermieter ihn beauftragt. Aber
was geschieht denn dann? Die Kosten der Beauftragung
werden auf denjenigen abgewälzt, der den Wohnraum
anmietet. Der Vermieter bestellt – da haben Sie recht –,
aber bezahlen muss dann alleine der Mieter. Das hat
nichts mehr mit dem Bestellerprinzip zu tun, und deswe-
gen wollen wir einen fairen Ausgleich bei dieser Belas-
tung erreichen.
Ich sehe durchaus ein, dass auch ein Mieter etwas da-
von hat, wenn ein Makler eingebunden wird, denn
selbstverständlich koordiniert dieser Besuchs- und Be-
sichtigungstermine usw. Deswegen ist uns der Antrag
der Grünen zu weitgehend, nach dem allein der Vermie-
ter oder Verkäufer die Maklergebühren tragen soll.
Wir wollen einen Ausgleich, weil beide davon profi-
tieren und weil es in der jetzigen Situation, die sich noch
dramatisch verschlechtern wird – vielleicht nicht in je-
dem Ort Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch in
Kleinstädten und Dörfern, beispielsweise in der Rhein-
Main-Region –, schwierig ist, an bezahlbaren und akzep-
tablen Wohnraum zu kommen.
Für Sie mag das vielleicht nicht von Belang sein, aber
für eine ganze Menge Menschen ist es sehr wohl wich-
tig, ob sie zusätzlich zu Umzugs- und Renovierungskos-
ten auch noch Maklergebühren zu entrichten haben,
wenn sie umziehen und ein neues Mietverhältnis einge-
hen müssen. Springen Sie deshalb über Ihren Schatten,
und unterstützen Sie unseren Antrag! Das würde zeigen,
dass Sie die Lebensrealität der Menschen durchaus
wahrnehmen.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Jan-Marco Luczak.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Ich will gar nicht lange um denheißen Brei herumreden: Auch die Union wird diese bei-den Anträge, die von SPD und Grünen vorgelegt wur-den, ablehnen. Ich will Ihnen gerne erläutern, warum dasso ist: Ihre Anträge gehen erstens von falschen Annah-men aus, sie sind zweitens zum Teil kontraproduktiv,und drittens sind sie vom ganzen Ansatz her auf staatli-che Interventionen ausgelegt und damit ordnungspoli-tisch verfehlt.
Zunächst einmal zu den falschen Annahmen. Ich binselber gerade erst vor kurzem in Berlin umgezogen. Ichhabe durchaus lange nach einer Wohnung suchen müs-sen. Deswegen habe ich mich recht intensiv mit dem Im-mobilienmarkt in Berlin, also in einer großen Stadt, wieSie das in Ihrem Antrag schreiben, auseinandergesetzt.
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Dr. Jan-Marco Luczak
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Ich kann Ihnen also aus persönlicher Erfahrung – derUmzug liegt erst einige Monate zurück – berichten.
Nach meiner Erfahrung ist das ganz eindeutig: Hier inBerlin haben Sie keinerlei Probleme, eine Wohnung zufinden, die gänzlich ohne Provision vergeben wird. – DaSie dazwischenreden, sage ich: Es mag sein, dass es dar-auf ankommt, wo man sucht.
Dazu muss man aber sagen, dass man in seiner Freiheitnicht beschränkt ist, sich auf ein bestimmtes Gebiet zubeschränken.Der Bundestag hat sich vor knapp anderthalb Jahren,zu Beginn der 17. Legislaturperiode, neu zusammenge-setzt. Ich gehe davon aus, dass auch einige Kollegen vonder SPD-Fraktion sich eine neue Wohnung in Berlin ge-sucht haben, auch wenn aufgrund des Wahlergebnissesvermutlich mehr von Ihnen aus Berlin weggezogen alszugezogen sind. Das war ja auch nicht schlecht so.
– Ja, finde ich auch. – Jedenfalls dürften Sie in der Sachekeine anderen Erfahrungen gemacht haben als ich.In Ihrem Antrag behaupten Sie aber das kompletteGegenteil. Dort sagen Sie nämlich, dass Makler „regel-mäßig“ eingeschaltet werden. Das entspricht nicht mei-ner Erfahrung.
Ich bin nun ein bisschen verwirrt. Die Kollegin Lamb-recht hat nämlich in einer früheren Debatte zu diesemThema zu Protokoll ausgeführt, dass im Bundesdurch-schnitt lediglich bei der Hälfte der Neuvermietungen einMakler eingeschaltet wird. Was gilt denn nun? Wird erregelmäßig eingeschaltet, in der Hälfte der Fälle odernoch seltener? Sie scheinen sich bei Ihren Zahlen selbernicht so ganz sicher zu sein.
Ich glaube eigentlich nicht, dass Sie unter kollektivemGedächtnisschwund leiden.
Deswegen glaube ich, dass Sie Ihre Erfahrungen zurück-stellen, um politisches Kapital aus der Sache zu schla-gen. Das hat mit politischer Seriosität an dieser Stelleaber nur noch recht wenig zu tun.
Zugegebenermaßen mag die Wohnungsmarktsituationin Berlin anders sein als in anderen Regionen. Das mussman sich schon genau anschauen. In den neuen Bundes-ländern gibt es zum Beispiel aufgrund der demografi-schen Entwicklung, wohl auch, weil viele Menschen inwirtschaftlich besser aufgestellte Regionen ziehen, Ge-biete, in denen nach wie vor ein hoher Wohnungsleer-stand herrscht. Dort gibt es so wenig Nachfrage, dass dieVermieter im Grunde gezwungen sind, einen Makler ein-zuschalten, wenn sie ihre Wohnung schnell wieder ver-mieten wollen. Weil die Nachfrage in diesen Gebieten sogering ist, zahlt fast immer der Vermieter die Provision.Sonst würde er seine Wohnung nämlich überhaupt nichtvermieten können. Dort herrscht also eine Situation, diedie Grünen mit ihrem Antrag letztlich erreichen wollen.Der Markt hat an dieser Stelle sozusagen das Besteller-prinzip durchgesetzt.Anders ist das zum Beispiel in Baden-Württembergund Nordrhein-Westfalen. Soweit dort überhaupt eineProvision verlangt wird – das ist sehr unterschiedlich –,ist es vollkommen üblich, dass die Maklercourtage zwi-schen Mieter und Vermieter gleichmäßig aufgeteilt wird.
Dort herrscht also eine Situation, die die SPD mit ihremAntrag herbeiführen möchte. Einer gesetzlichen Rege-lung, eines staatlichen Eingriffs hat es in beiden Fällennicht bedurft.Bei den regionalen Unterschieden, die ich hier geradeaufgezeigt habe, muss man auch beachten, dass es inner-halb der Regionen ganz unterschiedliche Marktsegmentegibt. Die Höhe der Maklerkosten ist sehr unterschied-lich. Es gibt große und kleine Wohnungen. Es gibt ehereinfach ausgestattete Wohnungen, und es gibt Wohnun-gen mit gehobener Ausstattung. Es gibt Wohnungen, dievon Kleinvermietern angeboten werden, und es gibtWohnungen, die von Wohnungsgesellschaften angebo-ten werden. Manchmal ist die Nachfrage groß, manch-mal ist sie gering. Manchmal wird eine Provision ver-langt und manchmal eben nicht. Wenn man sich dasgenau anschaut, stellt man also fest, dass sich die Situa-tion bezüglich der Maklerprovisionen für Mietwohnun-gen in Deutschland regional ausgesprochen unterschied-lich darstellt und entwickelt hat.
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Im Übrigen ist die Wohnungssituation keineswegs sta-tisch, sondern es gibt durchaus Veränderungen. Aufdiese Veränderungen kann der Markt – Angebot undNachfrage – am flexibelsten, am schnellsten und damitauch am besten reagieren.Man muss sich verdeutlichen – das hat Kollege Ah-rendt hier schon angesprochen –, was mit Ihren beidenAnträgen verfolgt wird. Es handelt sich dabei um einenganz erheblichen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Par-teien. Es müsste schon bedeutende Gründe geben, um ei-nen solchen Eingriff in ein immerhin auch grundrecht-lich, nämlich durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzesgeschütztes Recht zu rechtfertigen. Solche Gründe kannich aber nicht erkennen. Im Gegenteil: Man sieht an denregionalen Unterschieden, dass der Markt tatsächlichfunktioniert und den unterschiedlichen GegebenheitenRechnung trägt.Schauen wir einmal weiter: Ihr Antrag blendet völligdie Entwicklungen und Veränderungen aus, die auf demImmobilienmarkt durch neuere technische Entwicklun-gen entstehen, zum Beispiel das Internet. Es gibt diversePlattformen. Ich nenne nur das Beispiel Immobilien-scout. Dort findet man 1,2 Millionen Immobilienange-bote, sowohl Miet- als auch Kaufwohnungen, und zwarpro Monat.
Diese Internetportale ermöglichen es sowohl Miet- alsauch Kaufinteressenten, sich schnell und unkomplizierteinen Angebotsüberblick zu verschaffen und eine geeig-nete Immobilie auszusuchen.Wer keine Maklercourtage zu zahlen bereit ist, kanndie entsprechenden Angebote mit einem einfachen Klickaussortieren. Er klickt einfach an, dass er nur die Ange-bote sehen möchte, bei denen keine Provision zu zahlenist. Kein Problem, dann bekommt er auch nur diese an-gezeigt. Vor allen Dingen können auch Vermieter undVerkäufer mit nur wenigen Klicks ihre Immobilien sel-ber in diesen Portalen einstellen. Dazu brauchen sie kei-nen Makler.Allein durch diese in den letzten Jahren stark zuneh-mende Anbahnung und Abwicklung von Vertragsver-hältnissen über das Internet gibt es immer weniger Not-wendigkeit, überhaupt einen Makler einzuschalten.Wenn man in die Zukunft denkt, geht Ihr Antrag tenden-ziell ohnehin ins Leere. Sie schreiben an anderer Stellein Ihrem Antrag ja auch selbst, dass die Anbahnung desVertrages häufiger direkt über den Vermieter oder denVerwalter erfolgt. In diesen Fällen wäre es ohnehin un-zulässig, eine Maklerprovision zu verlangen. Das ist jaauch richtig. Aber Sie nehmen das nicht zum Anlass, Ih-ren Antrag einmal kritisch zu hinterfragen, sondern Sieignorieren diese Tatsache einfach. Da muss ich wiedersagen, dass Sie mit diesem Antrag Schaufensterpolitikbetreiben.Das vermeintliche Problem, das Sie mit Ihrem Antragaufgreifen, ist also, wenn es überhaupt je eines war, inden letzten Jahren deutlich kleiner geworden. Es wird inZukunft noch kleiner werden. Damit schwindet zugleichdie Rechtfertigung für diesen erheblichen Eingriff in diePrivatautonomie, den Sie hier vornehmen wollen. Damitwir uns richtig verstehen: Ich bin bestimmt niemand, derimmer sagt, der Markt regelt alles.
An bestimmten Stellen ist es durchaus richtig, dass mangesetzgeberisch tätig wird, aber an dieser Stelle, wenn esum die Maklerprovision geht, zeigen uns die tatsächli-chen Gegebenheiten: Der Markt funktioniert. Deswegenist es ordnungspolitisch völlig verfehlt, hier staatlich in-tervenieren zu wollen.
Meine Damen und Herren von der SPD und von denGrünen, eines kommt noch hinzu. Ihr Antrag ist – selbstwenn man Ihr Anliegen teilen würde – in der Sache so-gar kontraproduktiv. Denn Sie lassen außer Acht, dass esnicht nur Außenprovisionen – über diese reden Sie hier –,sondern auch Innenprovisionen gibt.
Bei diesen geht es darum, dass ein Vermieter einen Mak-ler mit der Vermittlung beauftragt, aber die Provisionselber, also im Innenverhältnis, zahlt. Dazu schreibenSie in Ihrem Antrag, dass man auch hier hälftig teilenmüsse.
Das würde ja in der Konsequenz dazu führen, dass derMieter, der vorher möglicherweise überhaupt keine Pro-vision zahlen musste, auf einmal die Hälfte zahlen muss.Ich glaube, da geben Sie ihm Steine statt Brot. Das ha-ben Sie bestimmt nicht damit gewollt. Das scheint erneutdeutlich zu machen, dass Sie Ihren Antrag offensichtlichnicht bis zu Ende gedacht haben.Wir haben bislang nur von Mietern und Vermieterngesprochen, aber der Antrag der SPD ist durchaus wei-tergehend. Es geht nicht nur um Miete, sondern Sie wol-len ja auch bei Kaufimmobilien die Provision reglemen-tieren. Da wird es nun ganz absurd. Jeder Verkäufermöchte für seine Immobilie natürlich einen bestimmtenKaufpreis erzielen. Wenn Sie jetzt aber den Verkäufergesetzlich zwingen, die Hälfte der Provision selbst zu
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Dr. Jan-Marco Luczak
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zahlen, dann kann man sich doch an drei Fingern abzäh-len, was dann passieren wird. Selbstverständlich wirdder Verkäufer den zu tragenden Provisionsteil, also dieHälfte, schlicht auf den Kaufpreis aufschlagen. Zumin-dest würde das jeder wirtschaftlich denkende Mensch sotun. Eine Entlastung für den Käufer erreichen Sie damitalso keineswegs. Im Gegenteil: Sie würden letztlich nureine Kostenspirale in Gang setzen, die für alle Beteilig-ten zu einer Erhöhung der Kosten führt. Deswegen istIhr Antrag an dieser Stelle absolut kontraproduktiv.Es gibt – zugegebenermaßen – vielleicht einen, dersich darüber freuen würde. Das ist nämlich der Maklerselber, weil sich die Provision nach dem Kaufpreis rich-tet. Er kriegt dann, wenn der Kaufpreis deswegen höherist, auch eine höhere Provision. Auch die Notare werdendas vielleicht ganz nett finden, weil sich auch deren Ge-bühren nach dem Kaufpreis richten. Aber ich glaube, IhrAntrag ist nicht so zu verstehen, dass Sie den Maklernund den Notaren hier etwas Gutes tun wollen, sondernSie wollten eigentlich Mieter und Käufer entlasten. Dasist wieder einmal ein Beispiel dafür: Sie haben an dieserStelle nicht bis zum Ende gedacht.Ihnen geht es vor allen Dingen um die Mieter, jeden-falls in Ihrer Antragsbegründung. Da heißt es immer nur:Im Übrigen gilt das entsprechend auch für Kaufimmobi-lien. – Aber vornehmlich fokussieren Sie sich auf dieMieter. Da verhält es sich im Kern auch nicht anders.Natürlich wird sich ein Vermieter, wenn er jetzt dieHälfte der Provision zahlen muss, auch fragen: Wiekriege ich diese Provision wieder herein? Das heißt, erwird tendenziell eine höhere Miete verlangen, um dasGeld über die Zeit wieder hereinzubekommen. Das führtaber dann dazu, dass ein Mieter nicht nur einmal mit ei-ner Provision belastet wird, sondern dauerhaft über einehöhere Miete.Meine Damen und Herren, auch die von mir sonstsehr geschätzten Kolleginnen und Kollegen von denGrünen haben ihren Antrag, so scheint mir, nicht ganzbis zum Ende gedacht.
Sie schreiben nämlich in Ihrem Antrag, dass gerade inZeiten eines flexibilisierten Arbeitsmarktes, wo Arbeit-nehmer häufig umziehen müssen, die Maklercourtageein Preissteigerungsfaktor sei, der wirtschaftlich einespürbare und eine extreme Belastung darstelle. MeineDamen und Herren, das ist schlichtweg falsch. Sie soll-ten bei Ihren Anträgen auch einmal ein Stück weit überden Tellerrand schauen.
Wenn Sie auch einmal andere Rechtsgebiete in den Blickgenommen hätten, dann hätten Sie nämlich festgestellt,dass man die Maklerkosten, die beruflich veranlasst sind– wenn man also beruflich bedingt umziehen musste –,steuerlich absetzen kann. Insofern findet an dieser Stellegar keine Belastung der Mieter statt. Insofern geht IhrArgument an dieser Stelle auch völlig ins Leere.Ich komme zum Schluss. Meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD,normalerweise erwarte ich von Ihnen eigentlich keinVerständnis. Da aber die Anträge, die Sie uns hier vorle-gen, die tatsächlichen Gegebenheiten verkennen, ihr in-haltliches Ziel zum Teil sogar konterkarieren, also indieser Hinsicht nicht zu Ende gedacht sind, und auchordnungspolitisch insgesamt verfehlt sind, werden Sie,glaube ich, vielleicht doch Verständnis dafür haben, dassdie Union diesen Anträgen beim besten Willen nicht fol-gen kann.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Jens Petermann für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Worum geht es bei diesen Anträgen im Kern? Esgeht um soziale Gerechtigkeit bei der Anbahnung einesMietverhältnisses; so könnte man das Thema der De-batte überschreiben. Übrigens wird diese Debatte auf-merksam verfolgt. Das haben mir Zuschriften bereitsnach der ersten Lesung gezeigt. Die Leute schauen also,was wir hier treiben; das finde ich sehr interessant. SPDund Grüne haben mit ihren Anträgen zu einem großenSprung angesetzt. Ob auch das Ziel damit erreicht wird,das wird sich zeigen.Zur Ausgangslage. In Großstädten und Ballungsräu-men mit geringen Leerständen erfolgt die Vermittlungvon Wohnraum meist über einen Makler, der vom Eigen-tümer beauftragt wird. Der potenzielle Mieter hat beiderartigen Angeboten regelmäßig keinen Verhandlungs-spielraum. Entweder zahlt er die Provision, oder er istaußen vor. Gerade der stark zunehmende Flexibilisie-rungsdruck in unserer Gesellschaft führt zu einem rapi-den Anstieg der Umzugsraten. Kollegin Lambrecht, Siehatten die Zahlen geschildert; sie sind insoweit auch va-lide.Die angespannte finanzielle Situation der Betroffenenwird durch diese Praxis noch verstärkt und führt nichtselten zu einer weiteren Verschuldung. Das trifft übri-gens verstärkt auch auf Studentinnen und Studenten zu,die es doppelt so hart trifft, wenn sie auf den privatenWohnungsmarkt angewiesen sind. Beispielsweise in derbeliebten Thüringer Universitätsstadt Jena werden vonprivat überwiegend Wohnungen über Makler angeboten.Zu den ohnehin schon überdurchschnittlich hohen Mie-ten kommen neben den üblichen Kautionen noch dieProvisionen, sodass ein Student, ohne auch nur einenTag studiert zu haben, bereits mit 2 000 Euro in Vorkasse
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Jens Petermann
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gegangen ist, ohne überhaupt eine möblierte Unterkunftzu bekommen; Geld, das übrigens oft nur geborgt ist.Man kann also durchaus von einer sozialen Schief-lage sprechen, derer wir uns annehmen müssen und an-nehmen sollen. Hier wird auch das Verständnis vonsozialer Politik sehr deutlich. Ich sage Ihnen: Der Woh-nungsuchende ist eindeutig in der schwächeren Positionund bedarf unseres besonderen Schutzes.
Die Verhandlungsmacht liegt bei knappem Wohn-raum immer beim Vermieter. Damit kommt das im Bür-gerlichen Gesetzbuch geschützte Privatrechtsverhältnisauf Augenhöhe, Kollege Ahrendt, zunehmend abhanden.Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie versuchthaben zu erläutern. Wir müssen also den Mieter, aberauch den Käufer vor einer Abwälzung der Maklerkostenschützen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen setzt denrichtigen Schwerpunkt.
Er stellt eine konsequente Umsetzung des Bestellerprin-zips dar, indem der Besteller der Maklerleistung diese al-lein zu zahlen hat. Allerdings ist der Immobilienkauf au-ßen vor geblieben. Wenn Sie diesen Punkt noch mitaufgenommen hätten, wäre Ihr Antrag perfekt gewesen.
Meine Damen und Herren der Koalition, wenn das,was Sie meinen, eine Einschränkung der Privatautono-mie und der Vertragsfreiheit ist, dann ist dies jedenfallsan dieser Stelle gerechtfertigt. Worum es geht, hat be-reits Rousseau erklärt – den haben Sie beim Studiumvielleicht auch einmal kennengelernt –:
Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist esdie Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, dasbefreit.
Das Gesetz soll also den Schwächeren schützen. Demsind wir verpflichtet. Darum ist die hier geforderte Rege-lung unseres Erachtens auch zulässig.Das gesamte Wohnraummietrecht kennt Regelungenmit Einschränkungen für den Eigentümer. Kein Menschkäme auf die Idee, die gesetzlichen Kündigungsfristenfür Mietwohnungen mit dem Argument der Einschrän-kung der Privatautonomie zu streichen,
jedenfalls nicht in einem sozialen Rechtsstaat. Ich denke,die Koalition geht davon aus, dass wir einen solchen ha-ben. Zeigen Sie doch einfach einmal Ihre soziale Seite,sofern davon noch etwas vorhanden ist!
Blenden Sie die unsoziale Lobbypolitik aus, damit Stu-dierwillige nicht auf der Strecke bleiben, nur weil sienicht von wohlhabenden Eltern abstammen und sich einesolche Wohnung nicht leisten können! Die Linke sagt:Wer die Musik bestellt, soll sie auch bezahlen.
Das gilt auch für Maklerkosten.Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Wagner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich habe es zur Kenntnis genommen, Herr Kollege.Wir wollen aber auch noch steigerungsfähig sein.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie ha-ben es schon in anderen Reden gehört: Die Grünen wol-len, dass die Umlagefähigkeit von Maklerkosten gestri-chen und ein konsequentes Bestellerprinzip in dasGesetz zur Regelung der Wohnungsvermittlung integriertwird. Unser Antrag zielt darauf ab, den im Dienstleis-tungssektor übrigens eigentlich absolut üblichen Markt-mechanismus auch für die Maklerprovision einzusetzen.Ich habe von Ihnen bisher noch nie gehört, dass das Be-stellerprinzip falsch wäre, aber hier ist es ganz offen-sichtlich fehl am Platz.Sie wissen, wenn jemand in unserem Land eineDienstleistung bestellt, dann zahlt er diese in der Regelauch. Das Bestellerprinzip wird auch der Unterschied-lichkeit unserer Wohnungsmärkte, die Sie zu Recht be-nannt haben, am ehesten gerecht. Die Situation sieht inKassel in der Tat anders aus als in Frankfurt. Sie sieht inNordrhein-Westfalen auch anders aus als im GroßraumStuttgart. Im Übrigen ist der Hauptnutzer der Leistungnatürlich in erster Linie der Eigentümer, also der Ver-mieter. Er ist deswegen in aller Regel auch derjenige, derbestellt. Denn für den Mieter ist es im Grunde genom-men vollkommen gleichgültig, ob er mit dem Hausei-gentümer, mit dem Hausverwalter – was zunehmend derFall ist – oder mit einem Makler die Verhandlungen undGespräche führt und die Wohnungsbesichtigung durch-führt. Er hat nichts davon. Und wenn er etwas davon hatund selber bestellen will, dann soll er es auch bezahlen.Das ist, denke ich, die richtige Herangehensweise.Im Übrigen stellt die Maklerprovision insbesonderein angespannten Mietwohnungsmärkten einen nicht zuunterschätzenden Preissteigerungsfaktor dar. Zum Bei-
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Daniela Wagner
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spiel sind die Mieten in den Jahren von 2005 bis 2011 inHamburg um 22 Prozent und in Berlin um 20 Prozentgestiegen. Ganz interessant ist in diesem Zusammen-hang das Frühjahrsgutachten des Jahres 2011, das dieseZahlen darstellt und gleichzeitig feststellt, dass dieseMietsteigerungen keineswegs auf Qualitätssteigerun-gen, zum Beispiel durch umfassende Sanierungen, zu-rückzuführen sind. Das heißt, diese Mietsteigerungen er-geben sich aus den jeweiligen Wohnungsmärkten.Deswegen wollen wir insbesondere auf diesen schwerangespannten Wohnungsmärkten die Mietwohnungsu-chenden, die Mieterpartei bei der Maklerprovision etwasentlasten.
Sie haben auch im Ausschuss schon die Einwände er-hoben, das würde gegen die Privatautonomie und dieVertragsfreiheit verstoßen. Das verstehe ich nun über-haupt nicht. Es ist schon jetzt so, dass es natürlich auchin diesem Geschäft begrenzende Regeln gibt. Nach dem,was Sie sagen, wäre es auch ein Eingriff in die Vertrags-freiheit, wenn man diese Gebühren begrenzt; denn mankann nicht versuchen, beliebig hohe Maklergebührenvon jemandem abzupressen, selbst dann nicht, wennman den Eindruck haben kann, dass er genug Geld hat.Deswegen sage ich Ihnen: Wir greifen keineswegs indie Vertragsfreiheit ein. Nein, im Gegenteil: Wir schla-gen sogar vor, den schwächeren Marktteilnehmer mit ei-nem klassischen Marktmechanismus – wer bestellt, be-zahlt – auf geschicktere Art und Weise erfolgreicher zuschützen und dem stärkeren Marktteilnehmer unter Um-ständen mehr abzuverlangen. Das soll sich aber jeweilsim Einzelfall regulieren. Wer bestellt, bezahlt!
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
gen! Mein Auftrag von der Fraktion war, nachdem
meine Christine Lambrecht alles Wesentliche zu dem
Antrag von unserer Fraktion gesagt hat, auf die Argu-
mente einzugehen, die aus dem Kreis der Kollegen hier
gekommen sind.
Eines ist mir besonders aufgefallen, das ist die Tatsa-
che, dass hier ein Kollege von der CDU/CSU gespro-
chen hat, der Kollege Luczak, der nicht nur Rechts-
anwalt, sondern nach der App, die man vom Bundestag
aufs iPhone geliefert bekommt, auch Inhaber der Firma
Luma Hausverwaltung ist. Ich finde es allerdings sehr
interessant, dass er sich hier als Experte auf diesem zu-
gegeben sehr schwierigen Terrain bewegt, eine Propa-
gandarede für die Hausverwaltungen hält und sich damit
ganz in der Nähe der Vermieter befindet.
Möglicherweise gibt es an dieser Stelle einen Interessen-
konflikt.
Die jetzige Situation muss meines Erachtens dringend
geändert werden. Momentan beauftragen die Vermieter
den Makler, und es wird ein Vertrag zulasten Dritter ge-
schlossen. Das ist eine sehr unfaire Regelung. Deshalb
liegen heute hier zwei Anträge vor, die beide in die rich-
tige Richtung gehen.
Zum einen wird in dem Antrag der Grünen ganz klar
gesagt: Wer den Auftrag erteilt, soll am Ende auch be-
zahlen. Wir sagen an dieser Stelle: Der erste Schritt muss
sein, dass es einen fairen Kompromiss zwischen Vermie-
ter und Mieter gibt. Beide haben einen Nutzen von die-
ser Sache.
Deshalb haben sie sich den Betrag für den Makler ge-
recht zu teilen.
Diese beiden Anträge gehen also in die richtige Rich-
tung. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, unseren An-
trag zu unterstützen, damit wir für die Mieter, die in al-
lererster Linie die Zeche bezahlen müssen, an dieser
Stelle eine Erleichterung schaffen. Durch diesen Antrag
kommt es zur Entlastung der Mieter, die bei der Beschaf-
fung von Wohnraum in eine schwierige Situation gera-
ten. Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/4614.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/3212 mit dem Titel„Maklerkosten gerecht verteilen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FraktionDie Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Ent-haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/4202 mit dem Titel „Besteller-prinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist ebenfalls angenommen, und zwar mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke.
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zurFörderung der Nutzung von Energie aus erneu-
– Drucksachen 17/3629, 17/4233 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 17/4895 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchDorothee MenznerHans-Josef Fell– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/4896 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard Schulte-DrüggelteSören BartolHeinz-Peter HausteinMichael LeutertSven-Christian KindlerHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stundezu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einverstanden.Dann können wir so verfahren.Die Aufmerksamkeit für die Redner scheint gesichertzu sein. Damit eröffne ich die Aussprache. Als ersteRednerin hat das Wort für die Bundesregierung FrauParlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche.
Ka
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der sperrige Titel „Europarechtsanpassungsgesetz Er-neuerbare Energien“ beschreibt nur unzureichend,worum es heute Abend geht. Dahinter verbirgt sich:Deutschland ist vorbildlich, wenn es um die Förderungerneuerbarer Energien geht.
Unser nationales Recht entspricht bereits weitgehenddem, was die Europäische Union mit ihrer Erneuerbare-Energien-Richtlinie vorgibt. Mit dem Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz und dem Erneuerbare-Energien-Wärmege-setz haben wir die Weichen richtig gestellt, übrigens invorbildlicher Art und Weise zuallererst in Baden-Württemberg. Das Land ist bundesweit Vorreiter, wennes darum geht, erneuerbare Wärme zu fördern.
Beide Gesetze sind die zentralen Säulen für eine Ent-wicklung der erneuerbaren Energien in Deutschland, dieweltweit Anerkennung findet und inzwischen mehr als340 000 Arbeitsplätze bei uns geschaffen hat.Wenn wir heute das EuroparechtsanpassungsgesetzErneuerbare Energien beschließen, geht es darum, deneingeschlagenen Weg konsequent weiter zu beschreiten.Ich möchte zwei Punkte aus dem Gesetzentwurf nennen,die mir besonders wichtig sind.Erstens. Wir wollen den Wärmemarkt durch eine Vor-bildfunktion bei den öffentlichen Gebäuden stärken. DieRichtlinie der Europäischen Union sieht vor, dass abdem nächsten Jahr alle bestehenden öffentlichen Ge-bäude eine Vorbildfunktion für die Nutzung erneuerbarerEnergien übernehmen müssen, wenn sie grundlegend re-noviert werden.Dies ist ein wichtiger Schritt, die Nutzung erneuerba-rer Wärme weiter voranzubringen. Es geht darum, dieVorbildfunktion öffentlicher Gebäude zu stärken, wennbeispielsweise ein Rathaus oder das Landratsamt vor Ortdurch Solarthermie oder aus einem lokalen Biomasse-heizkraftwerk beheizt wird. Dies kann andere dazu er-muntern, ebenfalls auf erneuerbare Energien umzustei-gen. Natürlich steigt der Anteil erneuerbarer Energien ander Wärmeversorgung, wenn die öffentliche Hand kon-sequent erneuerbare Energien nutzt.Wir nehmen bei dieser Vorbildfunktion aber auchRücksicht auf die finanzielle Situation der Städte undGemeinden. Für überschuldete Gebietskörperschaftensehen wir eine Ausnahmeregelung vor. So verhindernwir, dass Kommunen überfordert werden, und so habenwir einen guten Kompromiss zwischen den kommunalenInteressen und dem Klimaschutz gefunden.Zweitens wollen wir die Kosten der Förderung für dieStromverbraucher im Rahmen halten. Wenn die Kostender Förderung eines erneuerbaren Energieträgers nichtmehr in einem vernünftigen Verhältnis zu seinem Anteilam Gesamtstromaufkommen der erneuerbaren Energienstehen, wenn es also zu einer deutlichen Überförderungkommt, dann gefährdet das die allseits große Akzeptanzfür die erneuerbaren Energien und das Erneuerbare-En-ergien-Gesetz insgesamt. Das kann niemand wollen.Deshalb nehmen wir heute eine erneute Anpassungder Photovoltaikförderung vor, indem wir die Degres-sion teilweise vom 1. Januar 2012 auf den 1. Juli diesesJahres vorziehen. Die Degression in diesem Jahr kann inder Summe bis zu 24 Prozent – je nach Zubauraten – be-tragen. Dieser Schritt war zwingend erforderlich. Wirverhindern so eine unverhältnismäßige Belastung derStromverbraucher durch zu stark steigende EEG-Kosten.Es ist erstaunlich, aber auch gut, dass dieser Schrittdiesmal auch von denen akzeptiert wird, die bei der An-passung vor gut einem halben Jahr noch den Niedergang
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Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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der deutschen Photovoltaikindustrie prophezeit haben.Dafür gab es damals keinen Anlass. Es war ein Stückweit Panikmache zulasten der Verbraucherinnen undVerbraucher. Wir müssen in diesem Jahr auf jeden Fallerneut korrigieren. Auch in Zukunft kann es hier zu wei-teren Anpassungen kommen, wenn sich die Schere zwi-schen sinkenden Anlage- und Modulkosten sowie denVergütungssätzen weiter öffnen sollte.Mit der Begrenzung des Grünstromprivilegs ab dem1. Januar 2012 auf 2 Cent je Kilowattstunde schränkenwir Mitnahmeeffekte zulasten der Stromverbraucher ein.Auch das ist ein Beitrag zur Kostenbegrenzung.Beide Maßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen,sind unverzichtbar und dringend notwendig.
Sie konnten nicht bis zur großen EEG-Novelle 2012warten, die Ende des Jahres in Kraft treten soll. Wir ver-bessern so die Kosteneffizienz des EEG und gebenAnreize für Innovationen. Mit der EEG-Novelle 2012werden die nächsten Schritte folgen. Wir wollen dieErfolgsgeschichte des Erneuerbare-Energien-Gesetzesfortschreiben. Wir wollen die erneuerbaren Energien inDeutschland weiter fit für die Zukunft machen undbauen dabei auf Ihre Unterstützung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dirk
Becker.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ja, Frau Staatssekretärin, es geht hier im We-
sentlichen um die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude
bei unserem Bestreben, den Anteil der erneuerbaren
Wärme bis zum Jahr 2020 in Deutschland von derzeit
7 auf 14 Prozent zu steigern, und zwar im Gesamtkon-
text der Klimaschutzpolitik in der EU und in Deutsch-
land. Warum eine Vorbildfunktion? Wir werden bis zum
Jahr 2015 die Einsatzpflicht im Hinblick auf die erneuer-
bare Wärme für alle Gebäude beschließen und ausgestal-
ten. Wichtig ist, dass wir schon heute sagen, wie man in
den Gebäuden auf allen staatlichen Ebenen die vorgege-
benen Ziele erreichen kann, wie es gelingen kann, erneu-
erbare Wärme einzusetzen. Da stellt sich in der Tat die
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was versteht man eigent-lich unter einer Vorbildfunktion? Über diese Fragestel-lung wird in diesen Tagen auf unterschiedlichen politi-schen Ebenen diskutiert. Keine Sorge, es gelingt mirauch bei diesem Thema, deutlich zu machen, dass dieVorbildfunktion nicht gewahrt wird.
Der Normalfall für den Einsatz erneuerbarer Energienist doch wohl dann gegeben, wenn die alte Heizungsan-lage ausfällt, wenn sie kaputt ist, wenn sie sozusagen fäl-lig ist und sowieso repariert werden muss. Aber genaudiesen Tatbestand lassen Sie nicht zu. Sie verkomplizie-ren das Ganze. Zusätzlich müssen nämlich 20 Prozentder Gebäudehülle erneuert werden, und das innerhalb ei-nes Zeitraums von zwei Jahren. Das heißt, für jeden, dererneuerbare Wärme nicht einsetzen will, wird es nachder Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs leicht, dieEinsatzpflicht zu umgehen. So dienen Sie dem Klima-schutz nicht. Mit Vorbildfunktion hat das rein gar nichtszu tun.
Sie begründen Ihr Vorgehen zum Teil mit der Rück-sicht auf die finanzielle Situation der Kommunen. Andieser Stelle bin ich bei Ihnen: Wir dürfen die Kommu-nen, die in einer schwierigen finanziellen Lage sind,nicht überfordern. Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen der Regierungskoalition, da gibt es auch andere In-strumente. Man sollte den Kommunen ihre Steuerein-nahmen lassen, anstatt unsinnige Steuergeschenke zumachen, mit der Folge, dass den Kommunen Geld fehlt.
– Wir haben diese Steuergeschenke nicht beschlossen.Unsere Fraktion hat zusammen mit den anderen Fraktio-nen in dieser Woche die Bürgermeister der Großstädteangehört. Ihre Fraktion hat das als einzige nicht getan.Tun Sie jetzt nicht so, als wären Sie eine Kommunalpar-tei.
Der entscheidende Punkt ist in der Tat die finanzielle Si-tuation der Kommunen.Allerdings: Ist es denn richtig, hier nur einen Umge-hungs- und Ausnahmetatbestand herzustellen, die Kom-munen aber dauerhaft in der Falle zu belassen, hoheBrennstoffkosten tragen zu müssen – wir erleben geradedie Entwicklung des Ölpreises –, anstatt ihnen über denkommunalen Klimaschutz, über ein umfangreichesMarktanreizprogramm Wege zu eröffnen, Investitionenzu tätigen, die sie nachhaltig entlasten? Das wäre derrichtige Weg gewesen.
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Es wirdseit langem darüber gestritten, wie man Biogas, Bio-methan am sinnvollsten einsetzt. Wir haben in der Gro-ßen Koalition die Pflicht zum Einsatz von Biomethan imNeubaubereich ganz bewusst an die Nutzung derKraft-Wärme-Kopplung gebunden. Warum? Weil wirgesagt haben: Biogas ist eben kein erneuerbares Abfall-produkt, nicht irgendein Produkt, das einfach so da ist,sondern ein wertvolles Gut. Wir erleben doch zurzeit,
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Dirk Becker
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wie über Biogas auf unterschiedlichsten Ebenen disku-tiert wird und welche Akzeptanzprobleme damit verbun-den sind. Auch um die Akzeptanz des Biogases nachEffizienzkriterien auszurichten, müssen wir bei der Ver-wendung von Biomethan darauf achten, dass es so effizi-ent, so klimaverträglich wie möglich eingesetzt wird.
Dieser Einsatz ist eben nicht die schlichte Verwertung inder Therme, sondern die Verwertung bei der Kraft-Wärme-Kopplung. Wenn eine Vorbildfunktion der öffentlichenGebäude angestrebt wird, dann muss das Effizienzkrite-rium gerade in diesem Bereich vorbildlich berücksichtigtwerden. Daher muss es hier bei der KWK-Verpflichtungbleiben, und es darf nicht der Verbrennung in derTherme der Vorrang gegeben werden.
Frau Reiche, ich will noch auf die Themen PV undGrünstromprivileg – auch Sie haben sich dazu geäußert –eingehen. Dabei geht es nicht um die ureigenen Rege-lungstatbestände des EuroparechtsanpassungsgesetzesErneuerbare Energien; wir regeln diese Bereiche mit derVerabschiedung dieses Gesetzentwurfes mit. Ich sageganz klar: Ja, auch wir wollen die Absenkung der PV-Vergütung im Markt. Warum? Weil die Marktentwick-lung hier weitere Vergütungsabsenkungen zulässt. Es istein Erfolg, dass die Kosten durch die Nutzung erneuer-barer Energien wesentlich schneller als geplant gesun-ken sind. Das hilft uns allen. Die Zubauzahlen und dieEntwicklungszahlen machen uns stolz. Es zeigt sich,dass das EEG das richtige Instrument ist und im Kerndaher so bleiben muss, wie es ist.
An einer Stelle haben wir eine andere Auffassung.Wir glauben, dass es der falsche Weg ist, wieder mit ei-nem unterjährigen Schritt nur für 2011 dieses Preissen-kungspotenzial abzuschöpfen. Wir hätten uns vielmehrgewünscht – auch für alle Investoren, für alle Anleger –,über zwei Jahre Verlässlichkeit im Markt zu haben, in-dem wir jährlich in vier Absenkungsschritten bis zum1. Januar 2013 dazu kommen, dass der Strom aus großenPV-Anlagen günstiger ist als der Strom aus Offshore-windparks. Wir hätten damit Verlässlichkeit und Plan-barkeit. Wir glauben, das wäre besser gewesen.Jetzt ist wieder nicht klar, was zum 1. Januar 2012kommt. Herr Fuchs sagt, dass es noch einmal einen kräf-tigen Schlag werde geben müssen. Wichtig wäre hier ge-wesen, auch um unterjährig keine neue Marktüberhit-zung zu provozieren, dass man dem Markt längerfristig,für zwei Jahre, Sicherheit gegeben hätte. Wir haben Ih-nen das angeboten, aber Sie haben sich jetzt auf einenanderen Vorschlag verständigt.Wichtig bleibt für mich, dass wir, wenn wir dann imRahmen der EEG-Novelle über das Thema PV reden,auch noch andere Aspekte berücksichtigen wie zum Bei-spiel die Frage, dass man auch regional nach Sonnenein-strahlung prüft. Möglicherweise könnte man hier PV-Anlagen fördern.Letzter Punkt: das Grünstromprivileg. Frau Reiche,an diesem Punkt darf ich der Koalition zunächst einmalsagen: Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Sie von Ihremursprünglichen Vorhaben, was die Neuregelung desGrünstromprivilegs anbelangt, abgewichen sind undjetzt sagen: Wir machen jetzt einen klaren Schritt – dassind die 2 Cent –, aber die Neuausrichtung erfolgt mitder Novelle zum 1. Januar 2012. – Das ist richtig undwichtig, um nicht in bestehende Verträge einzugreifen.Aber eines müssen wir schon jetzt wissen: Wir müs-sen den Stromhändlern frühzeitig sagen, wie es in 2012weitergeht. Wir können damit nicht bis irgendwann nachder Sommerpause warten; denn es geht darum, auch fürden Strombezug aus erneuerbaren Energien im Jahr2012 Verlässlichkeit herzustellen. Von daher die Bitte anSie im Ministerium, möglichst frühzeitig gerade dasThema Grünstromprivileg zu regeln, einen Vorschlag zuunterbreiten und dabei nicht nur die schlichte Absen-kung auf 2 Cent zu prüfen, sondern auch die wichtigeFrage zu klären, wie sich die Reststrommenge zusam-mensetzen soll. Wir schlagen vor, die Reststrommengeganz klar mit dem Gütesiegel „Ökostrom“ oder „KWK-Strom“ zu versehen.Das sind nur einige Punkte. Alles Weitere werden wirim Rahmen der EEG-Novelle diskutieren.Noch einmal: Vorbildfunktion – gerade der Wärmebe-reich ist der schlafende Riese, wie Herr Röttgen gesagthat – in diesem Bereich sieht deutlich anders aus.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derTat: Wir setzen mit dem Europarechtsanpassungsgesetzeine Richtlinie für die Vorbildfunktion öffentlicher Ge-bäude im Wärmemarkt um und stellen gleichzeitig dieWeichen dafür, dass es im Bereich der erneuerbarenWärme weiter vorangeht. Wir wissen, wir sind inDeutschland ziemlich gut, was erneuerbare Energienbeim Strom angeht, und wir sind ziemlich schlecht,wenn es um die Wärme und um den Verkehr geht. Dasmuss sich ändern; denn wir haben bei der erneuerbarenWärme große Potenziale, nicht nur an CO2-Einsparung,sondern auch an kostengünstiger CO2-Einsparung. Dasmüssen wir mit unseren Förderinstrumenten stärker um-setzen und heben.Es macht einen Unterschied, ob die FDP regiert odernicht. Das zeigt sich beispielsweise beim Thema Biogas.
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Michael Kauch
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Seit vielen Jahren war es unser Anliegen, dass wir mehrTechnologieoffenheit in das Wärmegesetz bekommen.
Es ist unser Anliegen, dass wir diese Form von erneuer-barer Wärme nicht weiter so diskriminieren, wie es diealte Regierung gemacht hat.
Die Vorgabe, die Sie beim Biogas machen und dieHerr Becker hier angesprochen hat, nämlich das Biogassei zu wertvoll, um es zu verheizen – im Übrigen nicht inder Therme; hier ist von effizientester Technik die Rede;das ist der Brennwertkessel –, müssten Sie mit der glei-chen Logik auch beim russischen Erdgas machen. Dennes geht nicht um die Frage, welches Molekül – egal obein Biogasmolekül oder ein Erdgasmolekül – gerade inder ineffizienten Anlage ankommt. Das können Sie amSchluss im Gasnetz ohnehin nicht mehr unterscheiden.Vielmehr geht es darum, dass wir die Produktion und dieVerwendung effizient machen, aber bitte nicht nur beidenen, die Biogas verkaufen wollen, sondern auch beidenen, die Erdgas verkaufen. Wir stehen hier insgesamtvor einer Effizienzfrage.
Wir haben auf die Argumente reagiert, dass nämlichder Einsatz von Biogas in der Tat eine sehr kostengüns-tige Lösung ist – was grundsätzlich für die Verbrauchererst einmal nichts Schlechtes ist –, dass man hier hoheAnfangsinvestitionen spart und dass wir deswegen beimBiogas auch etwas anspruchsvoller sein können als beianderen Formen erneuerbarer Wärme. Deshalb habenwir vorgesehen, dass das Biogas dort, wo die Solarther-mie nur 15 Prozent der Wärme erbringen muss, 25 Pro-zent erbringen muss. Das macht es gerade noch wettbe-werbsfähig, ermöglicht aber dem Bauherrn, selbst zuentscheiden, welche Technologie er wählt. Ich möchtedie Entscheidung, was für die Menschen gut ist, nichtimmer Beamten und Politikern überlassen. Sie sollenselbst entscheiden, welche Technologie sie einsetzenwollen.
Meine Damen und Herren, wir haben mit diesem Ge-setz vernünftige Regelungen für die Kommunen ge-schaffen, insbesondere für diejenigen, die überschuldetsind. Das sage ich als jemand, der aus einem Wahlkreiskommt, der sich seit Jahren in der Haushaltssicherungbefindet, wo sich die SPD-Kommunalführung trotzdemimmer wieder schicke Leuchtturmprojekte gönnt, für dieenergetische Sanierung der Schulen aber kein Geld hat.Das ist nämlich auch die Wahrheit bei den ach so armenKommunen.
Für bestimmte Prestigeprojekte ist immer Geld da. Fürdie energetische Sanierung von Schulen fehlt es dann.Deswegen haben wir gesagt: Die Verwaltung darf nichteinfach unter dem Tisch entscheiden, das Gesetz fallenzu lassen, weil man ja so überschuldet ist. Stattdessenhaben wir geregelt, dass der Rat der Stadt als das demo-kratische Gremium entscheiden muss. Er muss sagen:Liebe Bürger, uns ist das Prestigeprojekt wichtiger, alserneuerbare Wärme in die Gebäude zu bekommen. Dasbedeutet für die Kommunen einen politischen Druck. Siesollen nicht so verfahren, wie es ihnen von Herrn Beckerunterstellt wird, nämlich zu versuchen, diesem Gesetzauszuweichen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Ja, klar.
Bitte sehr.
Sie tun mir ja so leid. – Ich bin glücklicherweise ein
Vertreter einer Stadt, die noch nicht im Haushaltssiche-
rungskonzept ist, aber da sie vor einiger Zeit kurz davor-
gestanden hat, haben wir uns natürlich mit den Regula-
rien eines Haushaltssicherungskonzepts sehr genau
auseinandergesetzt. Teilen Sie meine Auffassung, dass
eine Stadt wie die Ihre, die im Haushaltssicherungskon-
zept ist, gar keine freiwilligen Prestigeprojekte beschlie-
ßen kann, weil die Kommunalaufsicht ihr das als Aus-
gabe verbietet?
Lieber Herr Kelber, ich kann Ihnen ein klassischesBeispiel aus der Stadt Dortmund nennen, die seit unge-fähr 50 Jahren von der SPD geführt wird.
– Auch nach einem Haushaltsbetrug wiedergewählt. –Ich kann Ihnen sagen, dass beispielsweise der U-Turm,das Museum, das Dortmund für die „KulturhauptstadtEuropas 2010“ neu gebaut hat, ein sehr schönes Museumist. Dem Radeberger-Konzern – das ist wohlgemerkteine Tochtergesellschaft von Oetker, also nicht geradeein armes Unternehmen – wurde in diesem Zusammen-hang für 35 Millionen Euro die städtebauliche Verant-wortung abgenommen. Das hat der Regierungspräsidentsanktioniert. Es ist also durchaus möglich, Prestigepro-jekte zu bauen und dafür die Schulen nicht energetischzu sanieren. Das zeigt leider die Realität in unseren Städ-ten, gerade auch im Ruhrgebiet, wo die SPD herrscht.
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Michael Kauch
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Wenn Sie sagen, die Koalition tue nichts für die Kom-munen, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dass al-leine mit dem Hartz-IV-Kompromiss auf Initiative vonUnion und FDP die Kommunen schrittweise bis zumJahr 2014 um 3,5 Milliarden Euro jährlich durch dieÜbernahme der Grundsicherung im Alter entlastet wer-den.
Hier sind es wieder besonders die Städte mit einerschwierigen Sozialstruktur, die davon profitieren. Be-haupten Sie also nicht, Sie seien die Kommunalpartei.Wir tun etwas für die Kommunen. Wir entlasten sie.
Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Gesetzfür die erneuerbaren Energien auch noch andere wich-tige Dinge erreicht. Wir tun das, was wir immer gesagthaben, nämlich die erneuerbaren Energien aufzubauen,die Verbraucher dafür aber nur so viel zahlen zu lassen,wie es unbedingt nötig ist.
Sie von der SPD und Sie von den Grünen haben im letz-ten Jahr Zeter und Mordio geschrien, als wir 15 Prozentbei der Photovoltaik abgesenkt haben. Sie haben gesagt,der Markt bricht zusammen, die Photovoltaikindustriegeht pleite.
Nichts davon ist passiert. Die Werte liegen um mehr alsdas Doppelte über dem Zielkorridor. Wir liegen bei7 000 Megawatt. Sie hatten unter Gabriel noch1 900 Megawatt als Ziel.
Die Photovoltaik boomt, und zwar trotz der Kürzungen.
Deswegen sind wir verpflichtet, die Einsparungen, dieder Weltmarkt hergibt, auch an die Verbraucher weiter-zugeben.
Sie haben die Leute im letzten Jahr hinters Licht geführt,und wir hatten recht mit unserer Politik.
Als Letztes, meine Damen und Herren, möchte ich sa-gen: Wir haben der Bundesregierung mit einem Ent-schließungsantrag auch eine Aufgabe mitgegeben. Wirwollen das nationale EEG erhalten, aber wir wollenebenso Brücken zu einem europäischen Strombinnen-markt auch für die erneuerbaren Energien bauen, undzwar unter anderem deswegen, damit wir Projekte wieDesertec an den deutschen Markt anbinden können. Des-halb haben wir der Bundesregierung gesagt: Bis Mitte2012 erwartet der Deutsche Bundestag ein Gesamtkon-zept für flexible Kooperationsmechanismen in der EU.Das öffnet die Märkte anderer europäischer Länder. Wirwerden das in dieser Wahlperiode abschließen und denInvestoren einen klaren Rahmen geben.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die Energiepolitik der schwarz-gelben Koalition er-scheint mir einmal mehr wie eine Slalomfahrt bei Nebel.Eigentlich haben wir es hier mit der Anpassung nationa-len Rechts an europäische Vorgaben zu tun, aber – das istschon angesprochen worden – ganz verschämt und fastnebenbei werden die Vergütungen für Photovoltaikstromweiter abgesenkt und ein erster Schritt zur Eliminierungdes Grünstromprivilegs gemacht. Das hat mit Europa-recht überhaupt nichts zu tun. Man hätte das hier nichteben einmal so nebenbei abhandeln müssen.
Aber wir Parlamentarier sind es ja schon fast gewohnt,da wir uns immer öfter Ad-hoc-Aktionen gefallen lassenmüssen. Das ist allerdings das Gegenteil von dem, wasIhr Umweltminister immer propagiert, nämlich Pla-nungssicherheit für die Akteure.Gezielte Falschinformationen schüren Ängste bei derBevölkerung, zum Beispiel davor, dass erneuerbare En-ergien den Strompreis verteuern würden. Ich merke, dassdiese Angst teilweise sogar bis in die eigenen Reihengeht.Tatsache ist aber, dass der weitaus größte Teil desStrompreises auf die Erstellung von Strom und nicht aufdas EEG bzw. staatliche Abgaben oder Steuern zurück-zuführen ist. Diese machen den geringsten Teil desStrompreises aus. Tatsache ist auch, dass der Strompreisan der Börse in den letzten zwei Jahren um 1,5 Cent jeKilowattstunde gesunken ist – also von wegen steigendeStrompreise. Tatsache ist auch, dass in den letzten bei-den Jahren die großen Stromversorger jeweils circa35 Milliarden Euro an Gewinnen eingefahren haben. Dableibt also das Geld. Darauf ist die Kostensteigerung zu-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10571
Dorothee Menzner
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rückzuführen und nicht darauf, dass wir erneuerbare En-ergien so stark ausgebaut haben.
Oder haben Sie eine Mitteilung Ihres Stromlieferantenbekommen mit dem Inhalt: „Wir freuen uns, Ihnen mit-teilen zu können, dass der Strompreis gesunken ist unddass wir, obwohl es mehr erneuerbare Energien im Netzgibt, den Preis nicht anheben müssen“? Nein, das findetnicht statt. Erhöhungen werden sofort an den Kundenweitergegeben, aber keine Preissenkungen.Was passiert denn nun praktisch? Stück für Stückwird mittels Ad-hoc-Aktionen das EEG in seine Einzel-teile zerlegt. Für dieses Jahr ist jedoch die Vorlage einesErfahrungsberichts über das EEG angekündigt. Diesenauszuwerten und daraus Schlüsse zu ziehen, ist mit unsdurchaus machbar. Natürlich kann man darüber reden,ob die Photovoltaikförderung weiterhin auf diesem ho-hen Niveau bleiben muss, aber bitte nach Evaluierungund nicht vor Vorlage der Ergebnisse. So weiß doch keinMensch, was demnächst kommt.Wenn Sie das umsetzen, was in Ihrem Koalitionsver-trag steht, wird die Einspeisevergütung in wenig mehrals zwei Jahren um 40 oder gar 50 Prozent abgesenkt.Das ist ein Nachsteuern im Hauruckverfahren. Das sorgtnicht für Verlässlichkeit. Das kaschiert die Probleme, dieSie eigentlich haben. Das eigentliche Problem ist näm-lich, dass Sie den Einfluss auf die Höhe des Stromprei-ses und auf die Stromwirtschaft längst verloren haben,dass Sie sich von den großen EVUs auf der Nase herum-tanzen lassen, dass Sie die erneuerbaren Energien gegenandere Energien ausspielen und den Lobbyisten derStromwirtschaft die Gewinne hinterherwerfen. Ihre Poli-tik hat den Namen Verbraucherschutz nicht verdient, unddas ist mit uns nicht zu machen.
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Josef Fell für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Regierungsfraktionen betonen immer wieder– Frau Staatssekretärin Reiche hat es vorhin ausdrück-lich getan –, dass sie hinter dem Ausbau der erneuerba-ren Energien stünden. Das Europarechtsanpassungsge-setz wäre nun eine gute Gelegenheit, dies auch wirklichunter Beweis zu stellen. Aber anstatt eines großen Wur-fes haben Sie die Vorgaben der EU verwässert und eineVielzahl von Ausnahmeregelungen gestreut. Dies istwirklich kein Hinter-den-erneuerbaren-Energien-Stehen.Ich nenne beispielsweise den Wärmebereich. Es wäreschön gewesen, wenn Sie die Gesetzesnovelle nun ge-nutzt hätten, um den Wärmesektor einmal richtig voran-zubringen und die EU-Vorgaben auch für den Altbau-sektor endlich umzusetzen, damit wir dort eineBauverpflichtung bekommen.
Nichts davon ist zu sehen.Herr Kauch, Ihre Umsetzung ist auch nicht technolo-gieoffen. Noch immer wird die Windenergie im Wärme-gesetz diskriminiert. Dafür haben Sie das Biogas in dieWärmenutzung aufgenommen, womit verhindert wird,dass innovative Technologien tatsächlich auf den Marktkommen; denn das wirkt sich auf die Bestände der Ther-men aus. Das ist keine innovative Technologie.
Insofern wurde eine große Chance für den Ausbau desWärmesektors vertan und die Technologie eben nichtnach vorne getrieben.
Statt dass sich die Regierungsfraktionen endlich ge-gen die Kampagne der Energiekonzerne und des BDEWstellen, bleiben die dreisten Verleumdungen gegen dieerneuerbaren Energien als Strompreistreiber unwider-sprochen. Sie sollten endlich Gesetze verabschieden, dieeinen Missbrauch verhindern. Anstatt den Ökostroman-teil zu erhöhen, setzen Sie einen Deckel und lassen sogardie EEG-Umlagebefreiung für Atomstrom zu. Das istein Beleg, dass Ihnen der Atomstrom wichtiger ist alsder Ökostrom. So haben Sie das Grünstromprivileg nichtoptimal umgesetzt und haben keinen optimalen Zustanderreicht.
Zur Photovoltaik. Wir sind fraktionsübergreifend derMeinung, dass die Photovoltaikvergütung in dem Um-fang gesenkt werden sollte, wie dies ohne Probleme fürdie Photovoltaikbranche möglich ist. Darin sind wir unsin der Tat einig. Aufgrund der – von Schwarz-Gelb ab-gelehnten – Markteinführung der Photovoltaik durch dasrot-grüne EEG ist eine industrielle Erfolgsgeschichteentstanden, die wohl keine Parallele in der weltweitenIndustriegeschichte hat. Die Produktionskosten befindensich sensationell im steilen Sinkflug. Folglich ist es einrichtiger Schritt, weitere marktabhängige Vergütungsab-senkungen noch in diesem Jahr vorzunehmen. Aber stattaus der Vergangenheit zu lernen, wiederholen Sie genauden Fehler des letzten Jahres und konzentrieren die Ab-senkung auf ein einziges Datum. Ein neuer Schlussver-kaufseffekt ist ebenso zu befürchten wie daraus resultie-rende Attacken der erbitterten Photovoltaikgegner inIhren Reihen. Ich kann nur an Sie appellieren: Wenn imJuni der Markt wieder explodiert, dann geben Sie sichbitte selbst die Schuld und nicht der Solarbranche. Ge-stehen Sie dann endlich Ihren Fehler ein.
Die Photovoltaik ist eine wichtige Zukunftstechnolo-gie. Die chinesische Regierung hat das begriffen undvergibt zinsgünstige Kredite. Allein die Kredite an zweichinesische Solarunternehmen sind höher als die ge-
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Hans-Josef Fell
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samte deutsche EEG-Vergütung für Photovoltaik. DieBundesregierung redet stattdessen lieber die Nutzungder Solarenergie schlecht, redet von hohen Kosten undüberlässt den Chinesen einen der größten Exportmärkteder kommenden Jahre. Ich würde mich freuen, wenn ir-gendein Vertreter der Koalition endlich einmal das WortIndustriepolitik in den Mund nehmen würde, wenn esum erneuerbare Energien geht, und wenn nicht immernur von der Strompreistreiberei gesprochen werdenwürde.
Meine Damen und Herren, Sie haben mit der zusätzli-chen Absenkung der Solarvergütung und auch mit derKorrektur beim Grünstromprivileg – ich erwähnte esschon – wenigstens einige Trippelschritte in die richtigeRichtung gemacht. Das sehen wir ein. Wir werden des-wegen Ihr Gesetz nicht ablehnen, sondern uns enthalten.Aber wir hätten uns eine wesentlich bessere Umsetzungmit größeren Chancen gewünscht. Uns ist auch klar: Sie,meine Damen und Herren von Union und FDP, habenmit dem Nichtergreifen wichtiger neuer Maßnahmen er-neut bewiesen, dass Sie die Blockierer für einen schnel-len Transformationsprozess unserer Energiewirtschafthin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien sind. IhreAtomwünsche blockieren dies einfach.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSachverständigen haben uns in der Anhörung zu diesemGesetzesvorhaben bescheinigt: Deutschland ist bei derUmsetzung dieser Erneuerbaren-Energien-Richtlinieweit fortgeschritten. Ob es das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist, das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, dieBiokraftstoffförderung oder auch die Nachhaltigkeits-verordnungen – wir sind europaweit vorbildhaft. Daherbedurfte es lediglich einiger kleinerer Anpassungen imRahmen des EEG und auch des EEWärmeG, um dieseEG-Richtlinie umzusetzen. Beim EEG handelt es sichum kleine Anpassungen beim Herkunftsnachweisregis-ter. Das ist ein elektronisches Register für die Herkunfts-nachweise für Strom aus erneuerbaren Energien. Dassoll demnächst beim UBA geführt werden. Weiterhingeht es um Informationspflichten bei einem Netzan-schlussbegehren für EEG-Anlagen. Das soll konkreti-siert, klargestellt und auch zügiger ausgestaltet werden.Das alles sind kleine Schritte, die wir aufgrund dieserRichtlinie noch gehen mussten.Wir haben dann allerdings noch zwei Bereiche – dashaben auch verschiedene meiner Vorredner gesagt – imRahmen des EEG novelliert, bevor wir dann im Sommerdieses Jahres die große Novelle in Angriff nehmen wer-den. Es geht auf der einen Seite um die Neuregelung derPhotovoltaikvergütung, und auf der anderen Seite gehtes um das Grünstromprivileg.Die große Akzeptanz in der Bevölkerung für erneuer-bare Energien ist ein großes Pfund, mit dem wir wuchernkönnen, da auch wir als Parlament insgesamt den Aus-bau der erneuerbaren Energien wollen. Nichts anderessieht auch das Energiekonzept der Bundesregierung vor.Deshalb müssen wir mit dieser Akzeptanz auch sehrsorgsam umgehen und schauen, dass wir die Bürgerin-nen und Bürger, die Stromkunden, die über die Strom-preise letztendlich auch die Kosten für die erneuerbarenEnergien aufzubringen haben, nicht überfordern.
Deshalb ist es doch vernünftig – wenn wir im BereichPV insgesamt 17 000 Megawatt installierter Leistunghaben, von denen mehr als 7 000 im Jahr 2010 installiertworden sind –, dass wir jetzt schon bezüglich der Vergü-tung des PV-Stroms nachsteuern. Ich glaube, es istdurchaus erträglich, was wir da – für Dachanlagen zum1. Juli und für Freiflächenanlagen zum 1.September –vorgesehen haben. Das ist aber auch noch von derMarktentwicklung in den Monaten März, April und Mai2011 abhängig. Diese Regelung findet auch in der Bran-che weite Akzeptanz. Deshalb kann ich, ehrlich gesagt,einige Angriffe aus der Opposition überhaupt nichtnachvollziehen. Es ist doch kein Qualitätszeichen, dassPV-Strom so teuer wie möglich ist, sondern im Gegen-teil, es ist ein Qualitätszeichen, dass er so preisgünstigwie möglich ist.
Bei der Frage des Grünstromprivilegs haben wir auchschon einmal eingegriffen; denn letztendlich könnennach derzeitiger Regelung Energieversorgungsunterneh-men von der Zahlung der EEG-Umlage ausgenommenwerden, wenn sie mindestens 50 Prozent erneuerbarenStrom am Markt vertreiben. Dann sind auch die restli-chen 50 Prozent des sogenannten grauen Stroms von derEEG-Umlage befreit. Das führt aber eben auch dazu,dass diejenigen, die dann noch als Umlagezahler blei-ben, entsprechend mehr Umlage bezahlen müssen.Aufgrund der preislichen Entwicklung in diesem Jahrschien es geraten, dass wir diese Regelung schon vorzei-tig in Angriff nehmen, bevor wir uns, wie gesagt, imSommer an eine Neuregelung begeben, um Mitnahmeef-fekte zulasten der nichtprivilegierten Stromversorger zuverhindern. Aber eines muss ganz klar sein: Die Frage,wie wir erneuerbare Energien besser in den Markt bzw.ins Netz integrieren, wird die zentrale Frage sein, die wirim Rahmen der EEG-Novellierung gemeinsam zu disku-tieren haben. Es wird vorrangig nicht darum gehen, ob eshier einen etwas höheren Bonus und da ein bisschen we-niger Vergütung gibt – wie auch immer – oder welcheDegressionsschritte gewählt werden. Letztendlich müs-sen wir einen qualitativen Schritt in die richtige Rich-tung machen: Die erneuerbaren Energien müssen er-wachsen werden; sie müssen sich dem Markt noch mehr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10573
Dr. Maria Flachsbarth
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stellen und müssen ernstzunehmende Wettbewerber wer-den. Dabei stellen wir die Bedeutung des EEG überhauptnicht infrage.
Jetzt eine Bemerkung zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz. Wir haben da tatsächlich eine Tür geöff-net: Das Ordnungsrecht schreibt jetzt vor, dass bei einergrundlegenden Sanierung von Bestandsgebäuden der öf-fentlichen Hand Anlagen zur Nutzung erneuerbarer En-ergien mit installiert werden.
Hier geht es um die Vorbildfunktion der öffentlichenHand. Wir wissen aber, wie es unseren Kommunen der-zeit geht: Ihre Finanzen sind, um es zart auszudrücken,sehr knapp gestrickt. Deshalb haben wir Härtefallrege-lungen vorgesehen:
Bei akuter Haushaltsnotlage tritt die Nutzungspflichtnicht ein. Allerdings konnten wir im Rahmen der parla-mentarischen Beratungen Verfahrensregeln durchset-zen, dass die Räte diese Problematik in aller Offenheitthematisieren und darüber abstimmen müssen, damit derBürger darüber informiert ist, wofür in seiner Stadt, inseiner Kommune Geld ausgegeben wird und wofürnicht.Ich bin sicher, dass wir einen ausgewogenen Entwurfeines Europarechtsanpassungsgesetzes vorgelegt haben,mit dem wir unsere Klimaschutzziele in einem ehrgeizi-gen, aber dennoch realistischen Rahmen umsetzen. Ichbitte um Ihre Zustimmung.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung der Richtlinie zur Förderung der Nutzungvon Energie aus erneuerbaren Quellen. Der Ausschussfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4895, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung – Drucksachen 17/3629 und 17/4233 – in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linkebei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-genommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit angenommen.
Uns liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsord-nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4895 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koa-litionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthal-tung der Fraktion Die Linke angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/4897. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist damit abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joa-chim Hacker, Dagmar Ziegler, Petra Ernstber-ger, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDZivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heidenach Abzug der Bundeswehr– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. KirstenTackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Jan van Aken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFriedliche Zukunft der Kyritz-RuppinerHeide und Interessen der Region sichern– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaBehm, Undine Kurth , AgnesMalczak, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit er-halten – Voraussetzungen für eine chancen-reiche Regionalentwicklung schaffen– Drucksachen 17/1961, 17/1972, 17/1989, 17/4276 –Berichterstattung:Abgeordnete Anita Schäfer
Michael GroschekElke HoffPaul Schäfer
Agnes Malczak1) Anlage 24
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor sechs Wochen hat der offizielle Auflö-sungsappell des Bundeswehrstandortes Wittstock statt-gefunden. Die letzten Soldaten werden bis zum 30. Sep-tember 2011 abziehen. Damit endet die militärische Nut-zung der Kyritz-Ruppiner Heide. Drei verschiedeneBundesregierungen haben den Bedarf gesehen, das ehe-mals sowjetische Übungsgelände weiter zu nutzen, wennauch in erheblich geringerem Umfang als vormals dieRote Armee. Zudem wäre mit zahlreichen Einschrän-kungen zugunsten der Anwohner und nicht mit scharferMunition geübt worden. Dieser Bedarf hat sich in denletzten Jahren geändert.Was sich nicht geändert hat, ist die Notwendigkeit fürein umfassendes Training unserer Soldaten, gerade fürdas Zusammenwirken von Luft- und Bodenstreitkräften.Der gegenwärtige Einsatz in Afghanistan unterstreichtdiese Notwendigkeit. Aber der damalige Verteidigungs-minister Jung ist zu dem Schluss gekommen, dass hier-für künftig auf den Luft-Boden-Schießplatz Wittstockverzichtet werden kann. Der durch seinen Nachfolgerangestoßene Umbau der Bundeswehr, der mit einer Re-duzierung einhergeht, bestätigt dies im Nachhinein.
– Ich meine Freiherrn zu Guttenberg.Eines muss klar sein: Die Ausbildung für alle Einsatz-arten, auch unter mitteleuropäischen Bedingungen,bleibt unverzichtbar. Wir sind daher aufgefordert, dieseauch nach dem Verzicht auf Wittstock sicherzustellen.Das bedeutet im Sinne der Lastenteilung im Bündnisauch weiterhin Übungsbetrieb in Deutschland. Wederkönnen wir Deutsche die damit einhergehende Belastungeinfach vollständig auf unsere Partner abwälzen, nochkönnen wir uns in ein Luftschloss zurückziehen und alleÜbungsplätze schließen, wie es im Antrag der Linkeneinmal mehr durchklingt.
Für die Stadt Wittstock
war die mit dem Schießplatz verbundene Garnison überviele Jahre lang eine Grundlage für stabile und sichereArbeitsplätze, die nicht der Abhängigkeit von verschie-densten Faktoren unterlagen und deren Zahl mit der ur-sprünglich geplanten Nutzung noch erheblich angewach-sen wäre. Für die Region geht es nun darum, eine zivileNachnutzung zu finden, die diese Pläne kompensiert.Mittlerweile sind die ersten Schritte für eine Konversiondes Truppenübungsplatzes Kyritz-Ruppiner Heide ein-geleitet. Gegenwärtig befasst sich eine Arbeitsgemein-schaft unter Beteiligung des Landes Brandenburg undder Bundesanstalt für Immobilienaufgaben mit diesemThema.
Deren zweite Sitzung soll im Frühjahr stattfinden. EinGutachten zur Weiterverwertung, insbesondere im Hin-blick auf die Munitionsbelastung, befindet sich derzeitim Zulauf. – Herr Hacker, zuhören!
Insofern sind zahlreiche Forderungen der vorliegendenOppositionsanträge bereits überholt.Bei allen vorangegangenen Differenzen besteht keinZweifel daran, dass jetzt allen Beteiligten daran gelegenist, sobald wie möglich zu einer Abgabe der Liegen-schaft zu gelangen. Vor Oktober ist damit jedoch nichtzu rechnen. Zusätzlich wird die notwendige Altlastensa-nierung dazu beitragen, dass die zivile Nutzung der Ky-ritz-Ruppiner Heide erst in einiger Zeit realisiert werdenkann. Für die Nutzung durch die Bundeswehr wurde einfinanzieller Bedarf von rund 220 Millionen Euro ermit-telt. Eine zivile Nutzung setzt aber ganz andere Stan-dards voraus. Hier muss man von einer deutlich höherenKostenbelastung ausgehen.Was die in allen drei Anträgen geforderte teilweiseoder vollständige Eingliederung der Kyritz-RuppinerHeide in das nationale Naturerbe betrifft, das in unseremKoalitionsvertrag mit 25 000 Hektar festgeschrieben ist:Für tragfähige Entscheidungen müssen der Bund, dieLänder und die Bundesanstalt ausreichend Zeit für dieKlärung noch offener Fragen haben.
Daher werden voraussichtlich zunächst 12 000 Hektar indiesem Projekt für die Kyritz-Ruppiner Heide reserviert.Nach Auswertung der derzeitigen Gespräche wird mandann sehen, welche Flächen entsprechend überführt wer-den können.
Sosehr ich der Region eine touristische Weiterentwick-lung durch die Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide wün-sche: Quasi im Schnellwaschgang, wie die drei vorlie-genden Anträge dies suggerieren,
wird man dies nicht erreichen können.Viel wichtiger ist es, hierfür eine sichere rechtlicheund finanzielle Basis zu schaffen. Zeitliche und inhaltli-che Festlegungen, wie sie ganz konkret in den Anträgen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10575
Anita Schäfer
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gefordert werden, sind aber derzeit nicht glaubhaftmachbar. Der Antrag der Linken taugt schon wegen dererwähnten sicherheitspolitischen Luftschlösser darinnicht als Grundlage.
Bei dem Antrag der Fraktion der SPD ist zwar anzu-erkennen, dass man sich bei ihm sehr viel mehr umSachlichkeit bemüht hat, gleichwohl ist auch er abzuleh-nen.
Denn ihm ist mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen und dem Antrag der Linken gemein, dass er vor allennotwendigen Prüfungen weitgehende Festlegungen desBundes fordert.
– Ich warte darauf. Ich bin auf die Rede gespannt.Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker
von der SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir heuteerst zu vorgerückter Stunde über eine so wichtige The-matik für den Landkreis Ostprignitz, für die RegionKyritz-Ruppiner Heide sprechen. Wenn ich Ihre Rederichtig verstehe, Frau Schäfer, dann hätten Sie dem SPD-Antrag eigentlich zustimmen können; denn genau das,was Sie hier vorgetragen haben, haben wir in unseremAntrag gefordert. Genau das war Gegenstand unseresAntrages. Wir haben unseren Antrag mit dem LandBrandenburg abgestimmt, und wir haben auch den Bundnicht über Gebühr in die Verantwortung drängen wollen,weil der Bund nur bestimmte Aufgaben hat. Er hätteaber gemeinsam mit dem Land und natürlich auch mitden Akteuren vor Ort dieses Verfahren gestalten können.„Die Heide ist frei!“ – dieser Aufkleber ist auf Schil-dern in vielen Orten im Norden Brandenburgs zu lesen,mit denen sich Bürgerinnen und Bürger in diesen Städtenund Gemeinden in der Ostprignitz gegen den geplantenLuft-Boden-Schießplatz der Bundeswehr zur Wehr ge-setzt hatten. Dieser Aufkleber ist Ausdruck des jahrelan-gen und am Ende erfolgreichen Bemühens von Bürgeri-nitiativen, aber auch der Bemühungen aus dempolitischen Bereich; wir haben das Thema in den letztenJahren zum Teil auch hier im Bundestag begleitet.Wir wollen, dass für diese Region eine Perspektivezur Entwicklung des sanften Tourismus geschaffen wird.Mit der Entscheidung des Bundesverteidigungsministe-riums vom Juli 2009, den Luft-Boden-Schießplatz auf-zugeben, haben sich für die Region neue Chancen für diezivile Nutzung und natürlich auch für den Naturschutzeröffnet.
Damit endet die Verantwortung der Bundeswehr undder Bundesregierung aber nicht; denn nach einer jahr-zehntelangen militärischen Nutzung müssen deren Fol-gen bewältigt werden. Munition und andere Altlastenmüssen beseitigt werden, um die Heide nicht nur von dermilitärischen Nutzung zu befreien, sondern um sie vorallen Dingen für die Menschen in der Region, aber auchfür Besucher aus Nah und Fern zu öffnen.
Für diese strukturschwache Region können Potenzi-ale für den sanften Tourismus, aber auch für Windparksund andere erneuerbare Energien erschlossen werden.Genau dies ist Gegenstand des Antrages der SPD-Bun-destagsfraktion, liebe Kollegin Schäfer. Der zentrale Ge-danke ist der Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Nut-zung und Naturschutz.Die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide kann aber nurgemeinsam mit den Menschen in dieser Region gestaltetwerden. Die Bürgerinitiativen waren erfolgreich. Jetztmüssen sie auch an der Zukunftsplanung für diese Re-gion beteiligt werden. Die SPD-Fraktion hat deswegenin ihrem Antrag gefordert, die lokalen Akteure mit ein-zubeziehen. Unsere Forderungen richten sich aber auchganz klar an den Bund. Er ist in der Pflicht, mit seiner ei-genen Koordinierungsstelle für Konversionsfragen anNachnutzungskonzepten zu arbeiten und die Altlasten zubeseitigen. Das kann nicht allein Angelegenheit des Lan-des Brandenburg sein. Ich habe gehört – Frau Schäfer,Sie sind ja auch dafür –, dass das im gegenseitigen Ein-vernehmen zwischen dem Bund und dem Land Branden-burg geschehen soll. Die Entwicklung der Kyritz-Ruppi-ner Heide war seit Jahren ein parteiübergreifendesAnliegen. Nach Vorlage der auf der Tagesordnung ste-henden Anträge gab es Bemühungen, einen fraktionsü-bergreifenden Antrag zu entwickeln. Ein solcher Antrag– das muss hier gesagt werden – ist am Starrsinn derUnionsfraktion im vorigen Jahr gescheitert.
Er ist, um das konkret zu benennen, am Starrsinn derLandesgruppe Brandenburg der CDU/CSU-Fraktion ge-scheitert, die nicht bereit war, einen solchen fraktionsü-bergreifenden Antrag zu gestalten. Frau Behm, ich ent-sinne mich noch gut an unsere Gespräche. Wir hätten dashier gemeinsam gestalten können. Frau Schäfer, wir wa-ren auch bereit, auf die Belange und Forderungen IhrerFraktion einzugehen.
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Hans-Joachim Hacker
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Wir haben aber nicht ein Signal bekommen, dass Siezum Zusammenwirken bereit sind.Wenig hilfreich – auch das muss an dieser Stelle ge-sagt werden – war der Antrag der Linken. Sie haben vonvornherein reine Kritik an der Bundeswehr geübt. Siehaben mit dieser blassen Kritik
von vornherein einen Kompromiss ausgeschlossen. Daswar offenbar Ihre Absicht.
Sie wollten sich vermutlich vor Ort entsprechend präsen-tieren. Sie haben nichts dazu beigetragen, dass wir hiereinen fraktionsübergreifenden Kompromiss erreichen.
– Sie haben einen Antrag gestellt, der von vornhereinnicht kompromissfähig war, Frau Tackmann. Lesen Siedoch Ihren eigenen Antrag!
Wir sagen klar: Wir wollen einen Nutzungsmix. Ne-ben Flächen für die touristische Nutzung soll es unterNaturschutz gestellte Flächen geben, aber auch Flächenfür die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen. Alleindieser Mix kann die Region voranbringen.Wenn der Antrag heute nochmals von der Koalitionabgelehnt wird, wenn nochmals der Versuch unternom-men wird, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sagenwir: Frau Schäfer, diese Fahnenflucht kann nicht erfolg-reich sein. „Die Heide ist frei“ bedeutet eben nicht, dassdie Bundesregierung und die Bundeswehr frei von Ver-antwortung sind. Die Heide ist erst dann frei, wenn siefrei von Munition und Altlasten ist, wenn Tier undMensch das Gelände gefahrlos betreten können
Sie haben gleich die Chance dazu.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Spatz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Hacker, dass wesentliche Forderungen, die in IhremAntrag stehen, bereits jetzt in der Umsetzungsphasesind, ist kein Grund dafür, dem Antrag zuzustimmen;
das ist vielmehr ein Beleg dafür, dass die Koalition unddie Bundesregierung in Partnerschaft mit den lokalenund den Landesautoritäten auch ohne Ihren Antrag hand-lungsfähig sind.
Bundesminister Jung hat entgegen dem, was vomVerteidigungsministerium jahrelang als notwendig er-achtet worden ist, auf die Nutzung verzichtet. Wir sindfroh darüber. Als neuer Abgeordneter kann ich dem vor-behaltlos zustimmen. Andere Kollegen, die jahrelang dieandere Richtung vertreten haben, haben sich damit einbisschen schwerer getan. Auch das sei hier einmal er-wähnt.Natürlich muss jetzt durch die BImA in Partnerschaftmit den lokalen und Landesgebietskörperschaften einNachnutzungskonzept gefunden werden. Seit dem5. November 2010 gibt es einen Lenkungskreis, dem dieBetroffenen angehören. Unter Leitung der BImA undBeteiligung des Landes Brandenburg, des Landkreisesund des Bundesministeriums der Verteidigung wird einabgestimmtes Konversionskonzept gesucht. Eines istaber schon klar: Die weitgehenden Festlegungen, dievon diesem Lenkungskreis getroffen werden, sind fürden Bund ein bisschen schwierig; denn die Kosten derDekontaminierung sind natürlich noch nicht genau zubeziffern. Schließlich geht es hier nicht um ein kleinesAreal, sondern um ein Riesenareal. Natürlich muss manerst einmal wissen, über welche Größenordnung manverhandelt, bevor man letztendlich Festlegungen trifft.
Die Einbindung der lokalen Autoritäten ist, wie ge-sagt, gewährleistet. Auch wir sind für ein gemischtesNutzungskonzept. Die Einbeziehung der Kyritz-Ruppi-ner Heide in das nachhaltige Energiekonzept für Bran-denburg ist vorgesehen. Ferner ist eine touristische Ent-wicklung vorgesehen. Auch die Stiftung „NationalesNaturerbe“ und ähnliche Dinge sollen eine Rolle spielen.Ein großes, einheitliches Konzept ist auch aus unsererSicht relativ unwahrscheinlich.Im Übrigen sind wir dafür, dass verschiedene Eigen-tumsformen in diesem Gebiet möglich sind; auch privateInvestoren sollen erlaubt sein. Deswegen ist es nichtvertretbar, dass, wie von Linken und Grünen gefordert,bereits zum jetzigen Zeitpunkt private Investoren gene-rell ausgeschlossen werden. Wer in anderen Städten lebt– auch in meiner Heimatstadt Würzburg gibt es ein gi-
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Joachim Spatz
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gantisches Konversionsprogramm –, der weiß, dass dasnur mit privaten Investoren funktionieren kann. Andern-falls ist es für die beteiligten Kommunen überhaupt nichtzu stemmen.
Das ist Fakt. Natürlich kann man sich die Welt schönma-len, aber mit Realität hat das dann nichts zu tun.Zu den Linken kann man in dem Fall keine ernstzu-nehmende Stellungnahme abgeben. Es ist wie bei jedemThema, das mit der Bundeswehr zu tun hat – wir habendas heute bei der Wehrrechtsreform gesehen –: An al-lem, was eine funktionierende Armee benötigt, in die-sem Fall die Möglichkeit, Luft-Boden-Übungen durch-zuführen, wird Generalkritik geübt. Dies wird auch ananderer Stelle kritisiert. Das geht natürlich überhauptnicht. Sie verabschieden sich völlig von der seriösenDiskussion über den vorliegenden Fall, die Umnutzungder Kyritz-Ruppiner Heide, und üben Generalkritik ander Bundeswehr. Damit haben Sie ein Stück weit – dagebe ich dem Kollegen von der SPD recht – die Anträgeder anderen Oppositionsparteien kontaminiert. Das sageich ganz deutlich.
– Ja, in der Tat, kontaminiert mit Ihrer Fundamentalkri-tik an der Bundeswehr und ihren Übungsmöglichkeiten.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollen für die Zu-kunft bei der Bundeswehr bestimmte Fähigkeiten erhal-ten. Dazu gehören Luftfähigkeiten. Das betrifft auch dieanderen Übungsplätze, die Sie apostrophiert haben. Wirwollen diese erhalten und nicht schließen. Wir achtendarauf, dass auch bei diesen Übungsplätzen ein ausge-wogenes Verhältnis zwischen militärischen Notwendig-keiten und den berechtigten Interessen der Anwohner er-halten bleibt. Wie gesagt: Dieser Fundamentalkritikkönnen wir uns nicht anschließen.Wir wünschen, dass die Kooperation zwischen Land,Bund und Kommune in unserem konkreten Fall zu einerpositiven Entwicklung vor Ort führt.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgeht heute Abend nicht um irgendwelche 12 000 Hektarmärkischen Boden; vielmehr geht es bei der Kyritz-Rup-piner Heide um ein Symbol für eine lebendige Bürgerde-mokratie. Der Verzicht auf das Bombodrom war formaleine Entscheidung von Regierenden; aber erzwungenwurde sie durch ein breites überparteiliches Bündnis inder Region mit überregionaler Unterstützung.
Die Bürgerinitiativen „Freie Heide“ und „Freier Him-mel“ waren neben „Pro Heide“ und vielen anderen Initi-ativen Motor dieses Widerstandes. Die Linke war immeran ihrer Seite. Wir haben gemeinsam gekämpft, auchwenn die Ziele im Einzelnen unterschiedlich waren: ge-gen Kriegsübungen, gegen Naturzerstörungen oder ein-fach nur gegen die Blockade der regionalen Wirt-schaftspotenziale. Fast 20 Jahre lang hat die Bundeswehrversucht, eine Nutzung des Geländes als Bombodrom zuerzwingen, und zwar gegen eine übergroße demokrati-sche Mehrheit in der Region und mit rechtsstaatswidri-gen Mitteln, wie in dem Urteil des Oberverwaltungsge-richts Berlin-Brandenburg festgestellt wird. Am Endewar es die Hartnäckigkeit des politischen und juristi-schen Widerstands, die zum Erfolg geführt hat.
Das sollte auch denen Mut machen, die in Nordhorn undSiegenburg für die Schließung von Übungsplätzenkämpfen.Wieso erzähle ich das? Weil die Bundespolitik gegen-über der Region in ganz besonderer Verantwortung steht,nach diesem sehr langen, sehr steinigen Weg zu einerfriedlichen Zukunft in der Kyritz-Ruppiner Heide zukommen.
Angesichts des breiten überparteilichen Bündnisses vorOrt wäre es ein wichtiges Signal gewesen, einen gemein-samen überfraktionellen Gruppenantrag zu erarbeiten.Das ist leider gescheitert – das wurde hier schon gesagt –,aber es ist nicht an den Linken gescheitert.
In unserem Antrag haben wir ausdrücklich den Dis-kussionsstand in der Region aufgegriffen, weil uns dasbesonders wichtig ist. Unsere Kernforderungen lauten:Erstens. Wir fordern den rechtssicheren und unum-kehrbaren Verzicht auf eine militärische Nutzung desGeländes und die Streichung aus dem Standortkonzept.Es gibt nach wie vor viel Misstrauen in der Region. Ichfinde, dass man hier wirklich eine klare Entscheidungtreffen muss.
Zweitens. Wir fordern einen Zeitplan für den Abzugder Bundeswehr. Es wurde hier schon gesagt: Der Abzughat bereits begonnen.Drittens. Wir fordern die Übernahme aller Verpflich-tungen nach Art. 14 Grundgesetz durch den EigentümerBund. Das heißt, er muss dieses Eigentum zum Gemein-
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Dr. Kirsten Tackmann
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wohl verwenden. Dazu müssen die Region und die Lan-desregierung eng in alle Entscheidungen einbezogenwerden. Das ist mit der Schaffung verschiedener Ar-beitsgremien unterdessen auf den Weg gebracht worden.Allerdings wurde der Antrag der Linken zur finanziellenUnterstützung der Kommunalen ArbeitsgemeinschaftKyritz-Ruppiner Heide durch den Bund abgelehnt. Ichfinde, das ist nicht richtig.
Viertens fordern wir, unverzüglich mit einer nut-zungsorientierten Kampfmittel- und Altlastenbeseiti-gung zu beginnen und sie bedarfsgerecht zu finanzieren.Niemand will die gesamte Heide sofort beräumen; aberes sollte zumindest bedarfsgerecht und nutzungsorien-tiert geschehen.
Das ergibt sich nach Auffassung der Linken vor allenDingen daraus, dass der Bund nach jahrzehntelangerBlockade der Region zur Wiedergutmachung aufgefor-dert ist.
Es ist auch inakzeptabel, dass für diese Beräumung nachwie vor kein Geld zur Verfügung steht und auch nicht inAussicht gestellt wurde.Unsere fünfte Forderung lautet, auf die Privatisierungder gesamten Fläche zu verzichten; das wurde bereits be-tont. Ich finde, das ist richtig.Sechstens. Dem Naturschutz soll auf dem Gelände einbesonderer Stellenwert eingeräumt werden. Dazu solldie Option der Aufnahme des Geländes in das NationaleNaturerbe ernsthaft geprüft werden.
Über das Nationale Naturerbe gibt es sehr intensive Dis-kussionen, nicht nur in der Region, sondern auch darüberhinaus. Als Linke teilen wir ausdrücklich die Positionder Kommunalen Arbeitsgemeinschaft Kyritz-RuppinerHeide. Das heißt, wir könnten uns die Aufnahme in dasNationale Naturerbe vorstellen, wenn dabei eine sanftetouristische Nutzung möglich bleibt.Bei dieser Frage gehen aber zwei Dinge ganz be-stimmt nicht:Erstens. Diese Entscheidung darf nicht über die Re-gion und die Landesregierung hinweg entschieden wer-den, schon gar nicht im Haushaltsausschuss des Bundes-tages.Zweitens. Die bereits für das Nationale Naturerbevorgesehenen 25 000 Hektar an anderen Orten müssenum die Kyritz-Ruppiner Heide aufgestockt werden. Siedarf nicht Bestandteil dieser 25 000 Hektar sein; denndiese 25 000 Hektar stehen bereits in einer Liste undwurden nach einem Kompromiss verteilt. Sie müssenabsolut „on top“ kommen; sonst geht das gar nicht.
Ich denke, dass die Linke einen sehr wichtigen Antragvorgelegt hat, der von der Region, von denen, die dieKyritz-Ruppiner Heide freigekämpft haben, in ganz gro-ßer Breite befürwortet wird. Schon der Respekt vor die-ser Bewegung sollte Sie eigentlich dazu bringen, denAntrag zu unterstützen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dass der Weg in die zivile Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide ein langer und steiniger werden würde,das ahnte man seit langem, ist doch das Gelände, dasAnfang der 50er-Jahre zwangsenteignet worden ist, vonden Sowjets genutzt worden, um diverse international imEinsatz befindliche militärische Geräte, unter anderemBomben, zu prüfen und zu testen; daher kam auch derName „Bombodrom“. Dass aber so schwer eine Eini-gung darüber zu erzielen ist, wie mit den kostenträchti-gen Altlasten auf der einen Seite und den verständlichenAnsprüchen der Region und der Anrainer auf der ande-ren Seite umzugehen ist, das ist in der Tat ein Trauer-spiel.Das Bemühen um einen Gruppenantrag blieb erfolg-los – es ist hier schon erwähnt worden –, weil sich dieUnion sperrte. Das ist ein Armutszeugnis, wird doch denMenschen vor Ort von allen Parteien – ich wiederhole:von allen Parteien – immer wieder versprochen, dass siesich für eine zivile Nutzung des Geländes einsetzen.
Die Bevölkerung in den 14 Anliegergemeinden hatim Übrigen schon 1990, als die Sowjets abzogen, Plänezur Nutzung der Heide gemacht. So wurde damals bei-spielsweise ein Wegenetz für die touristische Erschlie-ßung konzipiert. Diese Pläne wurden aber zu Makulatur,als die Bundeswehr 1992 ankündigte, das Gelände alsTruppenübungsplatz nutzen zu wollen, und zwar alsLuft-Boden-Schießplatz.Nun ist die Heide frei. Doch noch immer gibt es poli-tisches Gezerre um Zuordnung, Zuständigkeit und Ver-antwortung. Man könnte vom Glauben abfallen. Dennam 11. November des vergangenen Jahres hatte derHaushaltsausschuss des Bundestages mit der Mehrheitder Regierungskoalition beschlossen, die Kyritz-Ruppi-ner Heide in das Nationale Naturerbe zu übertragen, undzwar nicht, wie wir es in unserem Antrag fordern, zu-sätzlich zu den im Koalitionsvertrag von CDU, CSU undFDP vereinbarten 125 000 Hektar. Die 13 000 Hektarsollten vielmehr auf die sogenannte zweite Tranche von25 000 Hektar, die noch nicht übertragen worden sind,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10579
Cornelia Behm
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angerechnet werden. Nicht einmal mit den eigenenFachpolitikern hatten die Haushälter das abgesprochen.Ich habe danach mit ihnen geredet: Die eigenen Leutewaren entsetzt.Da blockiert der Bund mit seinen Schießplatzplänenerst 17 Jahre lang die Entwicklung einer Region,
verbrennt Tausende Euro in zig verlorenen Gerichtspro-zessen – Steuergelder und Geld der klagenden Kommu-nen –, und dann versucht er, sich auf Kosten von zahlrei-chen anderen Regionen in Deutschland, die daraufwarten, dass wertvolle Naturschutzflächen durch denStatus Nationales Naturerbe dauerhaft geschützt werden,der Verantwortung für die Heide zu entledigen.
Ist denn hier kein Bewusstsein dafür vorhanden, dass derBund in der Bringpflicht ist?Diese sogenannte zweite Tranche darf nicht beschnit-ten werden. Ich fordere Sie auf, liebe Kolleginnen undKollegen aus Union und FDP – ich richte mein Wort ins-besondere an die Haushälter –: Nehmen Sie den Be-schluss des Haushaltsausschusses zurück! BeschließenSie meinetwegen eine dritte Tranche, die nur natur-schutzfachlich wertvolle ehemalige Militärflächen ent-hält. Im Zuge der Reform der Bundeswehr wird zusätz-lich zur Kyritz-Ruppiner Heide noch eine ganze Mengean Flächen anfallen. Aber stellen Sie endlich die Wei-chen für eine zivile Nutzung des ehemaligen Bombo-droms!
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst einmal zu den Regelkreisläufen,über die wir heute zu sprechen haben: Das Gelände, überdas wir heute sprechen – ein naturbelassenes Gebiet –,ist der Natur für eine besondere staatliche Aufgabe ent-zogen worden. Heute sind wir in der glücklichen Lage,dass diese militärische Nutzung aufgegeben werdenkann. Deswegen ist es doch geradezu ein Gebot derNachhaltigkeit, in einem solchen Moment zu sagen: Wirmüssen das, was wir der Natur vor einiger Zeit vorüber-gehend entzogen haben, der Natur auch wieder zuführen.Genau dieses Ziel verfolgen wir mit Blick auf die Zu-kunft der Kyritz-Ruppiner Heide.
Von daher ist diese neue Nutzung ein Glücksfall fürNatur und Mensch gemeinsam. Wir befinden uns glück-licherweise überhaupt nicht auf dem Weg zu einem„Heide 21“,
sondern Bund und Land, Kreis, BImA und die betroffe-nen Menschen vor Ort sind mittlerweile in sehr kon-struktiven Gesprächen über die Zukunft der Kyritz-Rup-piner Heide. Das sollten wir alle begrüßen
und nicht das Gegenteil davon tun. Die Gespräche brau-chen Zeit; denn es soll einen gesellschaftlichen Konsensüber die Zukunft dieser Fläche geben.
– Dagegen steht eben nicht der Haushaltsausschuss. DerHaushaltsausschuss hat etwas beschlossen, weil es fürbestimmte große Entscheidungen nur ganz bestimmteZeitfenster gibt. Es handelt sich hier nicht um ir-gendeine zusammenhängende Fläche mit einer Größevon 11 900 Hektar, sondern um eine Fläche, von derüber 9 000 Hektar als FFH-Gebiet ausgewiesen sind unddie damit allerhöchsten Naturschutzwert hat. Der Haus-haltsausschuss hat diese Fläche nur im Gesamtzusam-menhang gesichert, um sie nicht zerbröseln zu lassen.Denn wir machen Umweltschutz nach Umweltgesichts-punkten und nicht nach Länderquoten.
Deswegen haben wir auch keine Chancen für die Zu-kunft „gebaut“; denn wir wissen, dass in allen Ländernhochwertigste Umweltflächen angeboten werden undzur Verfügung stehen. Das Stichwort ist ja schon gefal-len. Man mag zu gegebener Zeit über eine dritte Tranchereden können;
aber heute ist es erst einmal an der Zeit, das zu entschei-den, was wir entscheiden können, nämlich diese zusam-menhängende, höchst wertvolle Naturschutzfläche dau-erhaft für den Naturschutz zu sichern. Damit haben wirals Haushaltsausschuss einen deutlichen Hinweis gege-ben.
Das ist auch keine Frage, die nur den betroffenenLandkreis betrifft. Das ergibt sich schon daraus, dass dasgesamte Gebiet, wenn man es der Natur tatsächlich weg-nehmen und komplett für andere, touristische Zweckenutzen wollte
– partiell, aber wir reden hier ja auch über Geld –, fürrund 600 Millionen Euro dekontaminiert werden müsste.Das übersteigt mit Sicherheit die Leistungsfähigkeit ei-nes Landkreises.
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Norbert Brackmann
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Wir sind doch schon viel weiter, als Sie hier glaubenmachen. Selbst wenn wir dort nur die partielle Nutzungsicherstellen und die entsprechenden Flächen dekonta-minieren wollen, kommen wir immer noch, je nachdem,wie man es macht, auf einen Preis von bis zu 81 Millio-nen Euro. Auch die wollen erst einmal aufgebracht wer-den.Sie haben hier gehört, dass wir von der Regierungs-koalition in Verantwortung für die Natur einstehen. Ichglaube, das ist auch für die betroffene Region ein ganzwertvolles und wichtiges Signal.
Vor diesem Hintergrund geht es darum, diese Flächeganz konkret zu sichern und die Möglichkeit für eineMischnutzung zu eröffnen.
Ich habe darauf hingewiesen, dass über 9 000 HektarFFH-Gebiet sind. Damit bleiben immer noch 3 000 Hek-tar übrig, die, wenn Sie so wollen, im Konsens mit denMenschen vor Ort für eine andere Nutzung bereitgestelltund als andere Naturschutzflächen ausgewiesen werdenkönnen.
– Ja, stellen Sie sich dieser Diskussion.
Sie sind herzlich eingeladen. Die Diskussion wird ja ge-führt.Um für all dies einen Konsens zu erzielen, brauchtman Zeit. Ein altes afrikanisches Sprichwort lautet: DasGras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. –Man könnte auch sagen: Gut Ding will Weile haben.
Geben Sie uns für die Diskussion also die erforderlicheZeit. Wir sind davon überzeugt, dass das Ganze ein gutesEnde nehmen wird. Wir haben die entsprechenden Vor-kehrungen getroffen. Dazu bedarf es nicht der Unterstüt-zung durch Ihre Anträge.Herzlichen Dank.
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Dagmar Ziegler von
der SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Mich wundert, dass es zwi-schen Ihren Reden und dem, was im Haushaltsausschussbeschlossen wurde, eine eklatante Spanne gibt. Nur da-mit wir wissen, worüber wir hier debattieren, will ichden zweiten Punkt, der im Haushaltsausschuss beschlos-sen wurde, noch einmal zitieren:Der Haushaltsausschuss fordert die Bundesregie-rung auf, in der o. g. Gesamtumsetzung die nochausstehende Übertragung der Liegenschaft Witt-stock … mit rund 11.900 Hektar vollständig zu be-rücksichtigen.Ich lege hier Wert auf das Wort „vollständig“.
Ich zitiere einmal Frau Schäfer, in deren Rede am10. Juni 2010 im Bundestag es heißt:Daher ist auch die zum Beispiel von der SPD gefor-derte Einbeziehung in den Flächenpool des Natio-nalen Naturerbes nicht angebracht. … Wichtig istes, dass nun die verschiedenen Stellen des Bundesgemeinsam mit dem Land Brandenburg sämtlicheModalitäten der Eigentumsübertragung klären undhinsichtlich künftiger Nutzungsüberlegungen früh-zeitig auch die Interessenträger vor Ort in die ent-sprechenden Verfahren einbinden.Herr Brackmann, Sie kann ich auch gleich zitieren:Bevor diese Schritte abschließend erfolgt sind,kommt die Opposition mit der Forderung daher, ge-eignete Flächen in das Nationale Naturerbe zu über-führen.
Wir verschließen uns keinesfalls einer solchenÜberlegung, jedoch ist dies der zweite Schritt vordem ersten. Ob und in welcher Form die Liegen-schaft dem Nationalen Naturerbe zugeführt werdenkann, ist abhängig von der Ermittlung der Muni-tions- und Altlastenbelastung und der Feststellungder naturfachlichen Eignung.Ich frage mich: Wo sind wir hier? In der Rede vonHerrn Ackermann von der FDP heißt es – Zitat –:Es gilt nun, das Verfahren für die umfassende zivileNutzung der Kyritz-Ruppiner Heide mit den betrof-fenen Kommunen eng zu verzahnen und den Willender Bürger vor Ort zu berücksichtigen.Das war am 10. Juni letzten Jahres. Im Novemberletzten Jahres hat der Haushaltsausschuss dann die voll-ständige Übertragung dieser Flächen in das Naturerbedefinitiv beschlossen. Heute reden Sie wiederum so, alswäre dieser Haushaltsbeschluss nicht relevant; mankönne noch einmal vor Ort über eine Mischnutzung undalle möglichen Modalitäten reden.Vor Ort fühlt man sich mittlerweile wirklich vergack-eiert. Man wird den Initiativen, die sich seit Jahren umeine zivile Nutzung bemüht haben, nicht gerecht.Deshalb kann ich Sie nur bitten, Ihr Reden und Tunmiteinander in Einklang zu bringen und dem Antrag der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10581
Dagmar Ziegler
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SPD-Fraktion zuzustimmen. Denn sonst verspielen Siedas Vertrauen vor Ort. Das Hü und Hott der Koalitionbringt uns in der Sache nicht voran; es verunsichert viel-mehr die Menschen. Überall wird gesagt: Wir wissennicht, was dabei herauskommt.Alles, was jetzt vor Ort an Kommunikation stattfin-det, kommt uns vor wie eine Beschäftigungstherapie. Esstand von vornherein fest, was die Koalition will. Dasandere ist nur noch Schauwerk vor Ort. Dagegen ver-wahren wir uns.Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu. Dadurch kön-nen Sie beweisen, dass Sie wirklich das meinen, was Siehier immer vortragen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Verteidigungsausschusses auf Druck-
sache 17/4276. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1961
mit dem Titel „Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide nach Abzug der Bundeswehr“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1972 mit dem Titel „Friedliche Zukunft
der Kyritz-Ruppiner Heide und Interessen der Region si-
chern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/1989 mit dem Titel „Kyritz-Ruppiner Heide in
ihrer Einheit erhalten – Voraussetzungen für eine chan-
cenreiche Regionalentwicklung schaffen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion und Gegenstimmen der Frak-
tion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur
Änderung weiterer Vorschriften
– Drucksachen 17/3630, 17/4145 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 17/4893 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Gerold Reichenbach
Manuel Höferlin
Jan Korte
Dr. Konstantin von Notz
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Clemens Binninger von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!E-Mail und Internet sind mittlerweile Massenkommuni-kationsmittel geworden. Wir alle nutzen täglich E-Mail.Bürgerinnen und Bürger senden uns täglich E-Mails.Auch Behörden versenden E-Mails.Trotzdem muss uns eines immer bewusst sein: EineE-Mail hat kein besonders hohes Sicherheitsniveau. Siehat etwa das Sicherheitsniveau einer Postkarte, die Siean das schwarze Brett hängen, mit dem Text nach außen.Sie ist also alles andere als sicher. Ein jährliches Volu-men von etwa 17 Milliarden Briefsendungen in Deutsch-land macht deutlich, dass durchaus ein großes Potenzialfür sicheren E-Mail-Verkehr besteht. Genau diesesPotenzial wollen wir ausschöpfen, indem wir heute inzweiter und dritter Lesung das De-Mail-Gesetz verab-schieden und damit einen Rahmen für eine sichere, kom-fortable und vertrauensvolle Kommunikation mit E-Mailschaffen. Das ist ein wichtiger Baustein für eine mo-derne Verwaltung und eine moderne Gesellschaft.
Lassen Sie mich die Kerninhalte des Gesetzes ganzkurz darlegen, weil sie von Bedeutung sind. Mit demDe-Mail-Gesetz schaffen wir den rechtlichen Rahmendafür, dass ein Provider, der diese Technik anbieten will,vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech-nik zertifiziert sein und hohe Sicherheitsanforderungenerfüllen muss. Ich füge hinzu: Es kann bis heute nochkeinen zertifizierten De-Mail-Provider geben. Aber so-bald das Gesetz in Kraft tritt, können die Zertifizierungs-maßnahmen anlaufen.Wer De-Mail als Nutzer in Anspruch nimmt, musssich beim ersten Mal zweifelsfrei identifizieren. Dasheißt, man weiß, wer hinter der De-Mail-Adresse steht.Das weiß man heute bei der E-Mail-Adresse nicht. Wirregeln in diesem Gesetz auch, dass der Versand von De-Mails verschlüsselt erfolgen muss, und zwar auf zweiunterschiedlichen Niveaus: Transportverschlüsselung
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10582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Clemens Binninger
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auf dem gesamten Weg und als zusätzliche Option beihohem Sicherheitsbedürfnis eine Ende-zu-Ende-Ver-schlüsselung. Wir regeln des Weiteren, dass eine Ver-sandbestätigung gesendet wird, wenn De-Mails ver-schickt werden. Eine solche Bestätigung schafftRechtssicherheit und ermöglicht es Unternehmen, insbe-sondere kleinen Unternehmen und mittelständischen Be-trieben, ihre Kommunikation mehr über De-Mail rechts-sicher abzuwickeln.Wir schaffen noch etwas anderes Wichtiges: Wirverbinden Sicherheit und Komfort. Machen wir unsnichts vor: Es gibt schon immer Methoden, mit denenman E-Mails verschlüsseln kann. Auch die elektronischeSignatur gibt es schon seit einigen Jahren. Nichts davonkonnte sich durchsetzen, weil es offensichtlich zu kom-pliziert, zu anspruchsvoll und zu technisch für den Nut-zer war. Deshalb ist unser Ziel, mit dem De-Mail-Gesetzeinen Rahmen zu schaffen, der beides gewährleistet: Si-cherheit und Komfort. Ich glaube, das ist uns mehr alsgeglückt. Es wird sicher sein, und es wird komfortabelsein.
Ich will noch ein paar Sätze zum Verfahren sagen; dasist mir wichtig. Die Koalition hat sich ausreichend Zeitfür dieses Gesetz genommen. Wir haben keinen Punkt,der an uns herangetragen wurde, beiseitegewischt, nachdem Motto „Wir wissen es besser“. Wir haben viele Ge-spräche mit Vertretern der Wirtschaft und von Verbän-den, mit den Kollegen der Opposition und mit Länder-vertretern geführt. Wir haben wirklich versucht, aufjeden Punkt einzugehen. Wir haben eine Sachverständi-genanhörung durchgeführt. Wie es für Sachverständi-genanhörungen üblich ist, gab es Lob und Kritik. Wirhaben aber auch Anregungen, die wir erhalten haben,umgesetzt. In dem von uns vorgelegten Änderungsantraghaben wir viele Punkte, die wir für bedenkenswert hal-ten, aufgegriffen. So haben wir es am Ende geschafft, einGesetzeswerk zu etablieren, das nach meiner Meinungnicht nur einen ersten Schritt, sondern einen wichtigen,soliden Schritt hin zu einer digitalen Raumordnung dar-stellt. Es schafft Sicherheit für alle Beteiligten und ist einechter Fortschritt für unser Land.
Trotzdem gibt es noch immer Kritikpunkte. Ichnehme an, dass wir nachher einiges dazu hören werden.Auch ich will auf die Kritikpunkte eingehen, die in derAusschussberatung deutlich wurden und mit denen wiruns sehr lange befasst haben.Erster Punkt. Warum gibt dieses Gesetz keinen ein-heitlichen Domainnamen vor? Warum gibt es keinestaatlich verordnete E-Mail-Adresse? Anfangs wurdegesagt, man brauche das, weil sonst die Gefahr der Ver-wechslung von normalen E-Mails mit sicheren De-Mailsbestehe. Wir wissen aber nun – davon haben wir unsmehrfach überzeugt –, dass es sich um getrennte Sys-teme handelt.Die Gefahr, dass man eine E-Mail versehentlich alsDe-Mail erhält, geht gegen null, weil man in seinemE-Mail-Postfach gar keine De-Mails empfangen kann. ImE-Mail-Postfach erhält man nur seine normalen E-Mails.De-Mails sind sicher. Eine Verwechslungsgefahr ist aus-geschlossen, weil man nur dort De-Mails empfangenkann, wo man auch dafür registriert ist. Es ist deshalbnicht notwendig, anhand des Namens eine Unterschei-dung zu treffen. Es wäre sogar gefährlich, wenn man denBürgern suggerieren würde: Sie müssen nicht mehrschauen, wo eine E-Mail ankommt; Hauptsache, dieAdresse ist eindeutig gekennzeichnet; dann ist sie sicher.So wenig wie die Sicherheit eines Autos oder eines Aus-weisdokumentes an der Farbe festzumachen ist, so we-nig gilt dies für den Namen einer Domain bei einer Mail.Deshalb war es ordnungspolitisch, aus Sicherheitsgrün-den und technisch nicht notwendig, hier eine staatlichverordnete E-Mail-Adresse vorzugeben. Wir haben alsKriterien festgelegt, dass die entsprechenden Adressennur für De-Mails genutzt werden dürfen. Ich wiederhole:Eine einheitliche, staatlich vorgegebene Domain warnicht notwendig.Zweiter Punkt: Warum gibt es nicht nur Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen, sondern auch Transportver-schlüsselungen? Es stimmt natürlich – das werden wirsicherlich nachher von der Opposition hören –, dassEnde-zu-Ende-Verschlüsselungen ein etwas höheres Si-cherheitsniveau als die Transportverschlüsselung aufdem gesamten Weg gewährleisten. Aber schon dieTransportverschlüsselung wird den Bedürfnissen derNutzer mehr als gerecht und hebt das Sicherheitsniveaueiner De-Mail.
Wir haben Folgendes gesagt: Wenn der Nutzer es will– Stichwort „Eigenverantwortung“ –, dann muss er dieMöglichkeit haben, zwischen Transportverschlüsselungund Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu wählen. Einestaatliche Vorgabe darf es aber nicht geben. Genau indiesem Sinne haben wir uns entschieden: Transportver-schlüsselung als Standardsicherheit; wer dies will, kannvon der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung Gebrauch ma-chen.Was würde denn passieren, wenn wir nur die höchsteVerschlüsselungsform vorgeben würden? Das würde fürden Nutzer mehr Aufwand nach sich ziehen. Er bräuchtemehr technisches Know-how. Ich garantiere Ihnen:Dann würde das De-Mail-Gesetz den gleichen Weg ge-hen wie die elektronische Signatur und andere kompli-zierte Anwendungen. Es gäbe keine Massenanwendung,sondern es entstünde eine Nische. Das war nicht unserZiel. Wir wollten den Rahmen dafür schaffen, dassDe-Mails zu einem Massenkommunikationsmittel wer-den – sicher und komfortabel.
Ich glaube, dass wir auch an einem anderen wichtigenPunkt sehr gute Arbeit geleistet haben, nämlich bei derKommunikation zwischen Behörden und Bürgern. Wennein Bürger mit einer Behörde per De-Mail kommuni-zieren will, muss er das der Behörde eröffnen. Das istschon einmal ein Beitrag zum Verbraucherschutz. EineDe-Mail gilt erst dann als zugestellt, wenn dieser Bürgersich an seinem Postfach angemeldet hat, unabhängig
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Clemens Binninger
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vom jeweiligen Tag. Und nur für den Fall, dass er aus-schließlich per De-Mail mit seiner Behörde kommuni-zieren will, den Postweg also ausgeschlossen hat, gilt dieZustellfiktion, dass das zugesandte Schriftstück demEmpfänger nach drei Tagen als zugestellt gilt, wie imnormalen Briefverkehr. Daran gibt es wirklich nichts zukritisieren.Gestatten Sie mir, auch ein paar Sätze zur Oppositionzu sagen.Bei der Linkspartei bin ich mir nicht ganz sicher, obsie an diesem Thema überhaupt interessiert ist. DieForm, wie Sie in den letzten Monaten im Ausschuss undauch in der Anhörung Ihre Beiträge dazu geleistet haben,wirkte relativ uninspiriert und gelangweilt. Wahrschein-lich kommt nachher wieder die einzige Nummer, die Siekönnen: Wir schaffen angeblich das Briefgeheimnis ab.Das ist völlig falsch: Im Gesetzentwurf steht eindeutig,dass am Briefgeheimnis nicht gerüttelt wird. Es gilt dasGleiche wie für den gedruckten Brief. Ohne Richtervor-behalt gibt es keinen Zugriff auf den Inhalt. Da ist beiden De-Mails nicht anders. Von der Linkspartei gab esalso wenige Beiträge.Zur SPD muss ich sagen: Ich verstehe sie nicht. Die-ser Gesetzentwurf hatte ja einen Vorläufer: das Bürger-portalgesetz. Dadurch wäre im Wesentlichen das Gleichegeregelt worden. Seine Ausarbeitung haben wir in derGroßen Koalition begonnen, konnten sie aber wegenAblaufs der Legislatur nicht mehr zu Ende bringen. Da-mals war die SPD dafür, heute ist sie gegen den vorlie-genden Gesetzentwurf, obwohl wir den damaligen Ge-setzentwurf weiterentwickelt haben.
Ich glaube, das macht es Ihnen ein bisschen schwie-rig, Herr Kollege Reichenbach. Der Bürger weiß bei Ih-nen nicht so richtig, woran er ist. Gestern waren Sienoch dafür, heute sind Sie schon dagegen oder vielleichtauch beides am gleichen Tag. Auf jeden Fall haben Siekeine konstante Meinung. Das ist zu wenig, um einenwichtigen Beitrag zu diesem wichtigen Thema zu leis-ten.
Ich wiederhole: Bei Ihnen weiß man nicht, woran manist.Bei den Grünen weiß man, woran man ist:
Sie sind, wie bei allen anderen Themen, dagegen. So wiees sich gehört, sind sie auch gegen dieses Gesetz.
Sie sind zwar schon ein bisschen für E-Government, undein bisschen modern wären Sie schon gern, aber wenn esdann konkret wird, dann verlässt Sie der Mut.
– Herzlichen Dank für diesen Zwischenruf, KollegeWinkler. Ich habe Ihren Entschließungsantrag gelesen.
Gestatten Sie mir, dass ich den zahlreichen interessiertenKollegen nur drei Punkte – bitte kurz zuhören, es lohntsich! – aus Ihrem Entschließungsantrag dazu vorstelle,was die Grünen gerne hätten. Wenn es bei De-Mail nachden Grünen ginge, dann würde der Staat vorgeben, dasses nur eine Verschlüsselungstechnik gibt,
nämlich die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, selbst wenndamit für den Bürger ein Mehraufwand verbunden istund er es daher vielleicht gar nicht anwendet.Wenn es nach den Grünen ginge, dann gäbe es einestaatlich verordnete E-Mail-Adresse, die staatliche Ein-heitsadresse. Auch das steht in Ihrem Antrag.
Wenn es nach den Grünen ginge, dann würde nicht nurdie staatliche Einheitsadresse vorgegeben, sondern dannwürden vom Staat einheitlich auch das Porto und derPreis vorgegeben.
All das steht in Ihrem Antrag. Das ist nicht modern undnicht innovativ. Das, was Sie da machen, ist Internetso-zialismus, nichts anderes!
– Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so darauf anspringen,dann hätte ich es gleich zu Beginn meiner Rede gesagt;das hätte sich gelohnt.
Es reicht, zu wissen, welche Punkte in Ihrem Antrag ste-hen.Ich glaube, wir haben hier einen wichtigen Schrittzum Thema digitale Raumordnung sowie für einen si-cheren und komfortablen E-Mail-Versand gemacht. DieKoalition wird das weiterentwickeln. Wir werden Endedes Jahres ein E-Government-Gesetz vorlegen und beidiesem Thema einen Baustein auf den anderen setzen.Ich darf mich zum Schluss ganz herzlich bei den Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesministeriumdes Innern bedanken, die uns über viele Monate hinwegfachlich sehr kompetent unterstützt haben. Herr Staatsse-
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Clemens Binninger
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kretär, wenn Sie den Dank bitte an die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter in der Abteilung von Herrn Schallbruchweitergeben.Die christlich-liberale Koalition hat heute einen gutenBeitrag für ein wichtiges und modernes Thema vorge-legt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sie haben recht: Grundsätzlich sind die Ideeund das Vorhaben De-Mail zu begrüßen. Sie haben esangesprochen: Wir haben uns mit dem Vorschlag einesBürgerportalgesetzes – damals noch gemeinsam in derGroßen Koalition – auf den Weg gemacht. Ziel war: DerBürger soll schnell, bequem, sicher und rechtssicheronline mit der Behörde auch vertrauliche Daten kommu-nizieren können. Vertrauenswürdige und sichere Kom-munikation, die Verbindlichkeit und Rechtssicherheitgewährt, war das Ziel.Das Projekt gelingt nur dann, wenn De-Mail von denBürgerinnen und Bürgern angenommen wird, wenn esfür den Bürger, für den Verbraucher einen Mehrwert gibtbzw. wenn es einen Vorteil für ihn hat. Zu dieser Ideestehen wir noch immer.
Ihre Frage, Kollege Binninger, warum wir jetzt nicht zu-stimmen, haben Sie selbst beantwortet, nämlich weilSchwarz-Gelb es weiterentwickelt hat. Wie so vieles,was Schwarz-Gelb weiterentwickelt hat, hat sich auchdies nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren ent-wickelt.
Genau das wurde Ihnen doch von der Mehrheit derSachverständigen – übrigens auch von den wohlwollen-den Sachverständigen, die von CDU und FDP benanntworden sind – in der Anhörung bestätigt. Sie haben demGesetzentwurf nach wie vor erhebliche Schwächen undMängel bescheinigt, die Sie mit den von Ihnen jetzt ein-gebrachten Änderungsanträgen und mit der kleinennachgereichten Änderung nicht wirklich beheben.
Die Mängel, die der Gesetzentwurf nach wie vor vor-weist, sind gravierend, und sie gehen überwiegend zulas-ten des Verbrauchers.
Es gibt keine erleichterte Portabilität, und bei der ein-heitlichen Kennung geht es nicht um Sicherheitsfragen.Die Portabilität kennen wir heute bereits von der Mobil-telefonnummer, die man, wenn man den Provider wech-selt, mitnehmen kann. Diese Situation ist mit der Situa-tion bei E-Mails nicht vergleichbar. Wie wir wissen,ändert sich, wenn man den Provider wechselt, auch dieE-Mail-Adresse.Hier geht es darum, einen rechtsverbindlichenSchriftverkehr zu organisieren, der mit Behörden, Ver-sicherungen oder wichtigen Geschäftspartnern geführtwerden soll. Das ist so, als müssten Sie, wenn Sie imnormalen Briefverkehr aus Kostengründen zu einem an-deren Diensteanbieter wechseln, allen Beteiligten – denBehörden, den Versicherungen usw. – mitteilen, dass Siejetzt eine neue Adresse haben.Wie das zu mehr Wettbewerb auf dem Markt insbe-sondere für den kleinen Kunden führen soll, das wissennur CDU und FDP. Sie haben die Verbraucherinteressenden Marketinginteressen der großen Unternehmen geop-fert. Das ist doch der Hintergrund.
Es fehlt eine verbindlich angebotene sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die dem Gesetzeszweck einervertrauenswürdigen und zuverlässigen Kommunika-tionsform gerecht wird. Wenn ich eine wirklich sichereEnde-zu-Ende-Verschlüsselung will, dann muss ichmich laut Ihrem Entwurf nach wie vor selbst darumkümmern, so wie ich es jetzt auch schon kann und so,wie ich auch jetzt schon eine E-Mail mit einer sicherenEnde-zu-Ende-Verschlüsselung und einer Signatur aus-statten kann. Es gibt nur einen Unterschied: Dann darfich dafür bezahlen.Sie verschärfen die Zustellungsfiktion im digitalenRaum faktisch zulasten des Verbrauchers. Die Beweis-last für den Empfang bzw. Nichtempfang von Nachrich-ten wird auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt, unddies in einem hochkomplizierten technischen System.Nach den Änderungen im Verwaltungszustellungsgesetzsoll der Bürger nicht mehr wie bisher nur glaubhaft ma-chen, sondern einwandfrei beweisen müssen, dass ernicht auf sein Postfach zugreifen konnte oder die Abhol-bestätigung fälschlicherweise generiert wurde, weil etwanach dem Einloggvorgang die Verbindung abgebrochenist und er sich nicht erneut einloggen konnte.Diese Verschärfung führen Sie ohne Not herbei, undzwar nicht mehr in der normalen Welt wie früher bei derPost, sondern in einem hochtechnischen System, beidem ich es unter Umständen mit mehreren Diensteanbie-tern zu tun habe. Das ist eindeutig eine Verschiebung zu-lasten der Nutzer und Verbraucher.
Bei der Aufhebung der Pseudonymisierung, der Heraus-gabe von Namen und Anschriften, soll der Provider ab-wägen, ob das Verlangen rechtsmissbräuchlich ist oderschutzwürdige Interessen des Nutzers überwiegen. In
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10585
Gerold Reichenbach
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anderen Bereichen stellen wir eine solche Abwägung un-ter einen Richtervorbehalt. Hier wird die Abwägung ei-nem Provider überlassen, wogegen sich sogar die Provi-der selbst gewehrt haben.Mit den Identitätsbestätigungsdiensten, die Sie in § 6Ihres Gesetzentwurfs planen, werden Sie Ihr Sicherheits-versprechen nicht einlösen, weil nicht überprüft werdenkann, ob jemand, der seine Identitätsbestätigung durchAnmeldung in einem De-Mail-Dienst bekommen hat,nicht anschließend mit dieser Bestätigung als ein ver-meintlich sicheres Unternehmen De-Mails verschicktund etwa für Kaffeefahrten oder Ähnliches wirbt nachdem Motto: Sie haben gewonnen.Wie soll sich der Bürger unter diesen Bedingungenfür das De-Mail-Verfahren entscheiden, wenn er dabeischlechter gestellt ist als bei der normalen Briefpost?Der Vertreter des Anwalts- und Notarvereins hat in derAnhörung gesagt: Ich kann keinem meiner Klienten dasDe-Mail-System empfehlen.Wieso soll sich aufgrund Ihres Gesetzes der Bürger inden De-Mail-Verkehr begeben? Weil es ein Geschäfts-modell ist? Weil es den Behörden und VersicherungenKosten erspart? Weil sich für die Behörden und Unter-nehmen im Gegensatz zum Briefverkehr die Beweislastzulasten des Bürgers verschiebt? Weil es zwar etwas si-cherer ist als E-Mails, aber nicht wirklich sicher? Oderweil der Bürger im Gegensatz zu einer sicheren Ver-schlüsselung, die er mit wenig Aufwand und ohne Kos-ten selbst vornehmen kann, dafür Gebühren zahlenmuss?Genau das ist der Mangel an Ihrem Gesetz. Sie habennicht versucht, dieses Gesetz verbraucherfreundlich aus-zugestalten, sondern Sie haben versucht, dieses Gesetzbehördenfreundlich, unternehmensfreundlich und provi-derfreundlich auszugestalten. Das wird leider dazu füh-ren, dass die Akzeptanz beim Bürger nicht herbeigeführtwerden kann.
Nebenbei sind Sie noch nicht einmal sicher, ob IhrGesetzentwurf überhaupt mit EU-Normen und denneuen Post-DIN-Normen kompatibel ist. Deswegen istes kein Zufall, dass jetzt auch die Europäische Union andie Bundesregierung Fragen hinsichtlich der europa-rechtskonformen Ausgestaltung Ihres De-Mail-Gesetzesrichtet. Die Antwort liegt auf der Hand: Das Projekt istgut, aber Sie sind gerade dabei, es in den Sand zu setzen.Deswegen können wir diesem Gesetz nicht zustimmen.Weil viele von diesen Kritikpunkten, die ich eben vor-getragen habe, auch in dem Entschließungsantrag derGrünen enthalten sind, werden wir diesem Entschlie-ßungsantrag zustimmen.Nehmen Sie die Kritik an, ziehen Sie das Gesetz zu-rück, und versuchen Sie, es zu verbessern! Denn imGrundsatz ist De-Mail eine vernünftige Sache, aber nichtin der Form, wie Sie es jetzt hier probieren.
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin von der
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! MeineDamen und Herren! Mit dem De-Mail-Gesetz schafft diechristlich-liberale Koalition die Rahmenbedingungen füreine moderne digitale Kommunikation. Bürgerinnen undBürger haben jetzt endlich die Möglichkeit, mit Behör-den, mit Unternehmen, aber auch untereinander verbind-lich Informationen digital auszutauschen. Es gab bisherimmer Schwierigkeiten bei der Frage, welche Verbind-lichkeit E-Mails in der Kommunikation haben. Es konntenur schlecht nachgewiesen werden, dass eine E-Mail zu-gestellt wurde.Herr Reichenbach, nachdem ich Ihre Ausführungengehört habe, muss ich feststellen, dass Sie offensichtlichbestimmte Eigenschaften von De-Mail immer noch nichtbegriffen haben. Es geht nämlich darum, dass bei einerE-Mail nicht nachgewiesen werden kann, ob sie zuge-stellt wurde, aber bei der De-Mail eben doch.
Das zweite Problem der E-Mails war und ist immernoch, dass die Nutzer nicht mit Sicherheit wissen, mitwem sie kommunizieren. Genau das ändern wir jetzt mitder Einführung von De-Mail.
De-Mails sind eben rechtsverbindlich und können vorGericht dann auch als Beweismittel eingesetzt werden,wenn es um die Frage der Zustellung geht. Die Zustel-lung wird mithilfe einer Übermittlungsbestätigung er-bracht. Das kann nachgewiesen werden. Das ist rechtssi-cher. Das ist auch ein Nutzen für die Bürgerinnen undBürger, wenn sie De-Mails verschicken. De-Mail ist andieser Stelle einfacher E-Mail überlegen.Diese neue Verbindlichkeit – das ist richtig – stelltauch gesteigerte Anforderungen an die Sicherheit vonDe-Mail. Die christlich-liberale Koalition hat im Aus-tausch mit zahlreichen Sachverständigen und dem Bun-desamt für Sicherheit in der Informationstechnik hoheSicherheitsstandards für De-Mail entwickelt. Wir habenauch in der Anhörung mit zahlreichen Experten gespro-chen. De-Mails müssen beim Transport auf jeden Fallverschlüsselt sein. Das ist die Mindestanforderung an dieSicherheit, die bei dieser digitalen Korrespondenz gebo-ten ist.Daneben können De-Mails, wenn gewünscht, ebenauch mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung versehenwerden oder mit einer Unterschrift nach dem Signatur-gesetz oder auch mit einer Verschlüsselung nach demSignaturgesetz. De-Mail und Signaturgesetz stehen ebennicht im Widerspruch zueinander, sie ergänzen sich ge-
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Manuel Höferlin
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genseitig. Genau das haben wir so in der christlich-libe-ralen Koalition auch gewollt und ins De-Mail-Gesetz ge-schrieben.
Das hat auch einen einfachen Grund; denn eine zen-tral vorgegebene Ende-zu-Ende-Verschlüsselung würdeauch der Verbreitung von De-Mail entgegenstehen. Dashaben die Erfahrungen mit dem Signaturgesetz gezeigt.Es gibt schon seit über 15 Jahren die Möglichkeit, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei E-Mails anzuwenden.Diese hat sich deshalb nicht durchgesetzt, weil sie fürden einzelnen Nutzer schwer umzusetzen ist, weil es fürihn umständlich ist, weil er nicht überall von unterwegsmailen kann. Alle Verfahren, die uns in der Anhörungvon den Experten genannt wurden, bieten keine echteEnde-zu-Ende-Verschlüsselung. Wir wollten nicht gene-rell solche Verfahren vorschreiben; denn das würde dieVerbreitung von De-Mail verhindern bzw. ihr nicht för-derlich sein. Zugleich wollten wir aber den Nutzern, diees möchten, die Möglichkeit zur Ende-zu-Ende-Ver-schlüsselung geben. Dieses Ziel wollten wir erreichen,und das ist uns auch gelungen.
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Ko-alition hat mit dem De-Mail-Gesetz einen Rahmen ge-schaffen, in dem im freien Wettbewerb verschiedene An-bieter ein modernes Produkt entwickeln können, dasdiesen Sicherheitsanforderungen Genüge tut.Die Kollegen von den Grünen dagegen haben einenEntschließungsantrag gestellt, der einmal mehr beweist,dass sie teilweise sehr viel und sehr lautstark fordernkönnen, dass das aber nicht immer mit Sachverstand undAugenmaß zu tun hat.
– Da kann man auch klatschen, sehr geehrter Herr Kol-lege. – Die Grünen fordern zum Beispiel ein definiertesHöchstporto für De-Mails. Wir lehnen dies ab. Wir wol-len keinen Preis für die De-Mail festsetzen. Wir wollen,dass darüber der Wettbewerb entscheidet. Deswegenmüssen wir Wettbewerb schaffen. Wir tun dies mit demDe-Mail-Gesetz, was letztendlich verbraucherfreund-lich ist.
Sie wollen, dass De-Mail nicht verpflichtend für dieBürgerinnen und Bürger ist. Das haben wir aber ins Ge-setz geschrieben. Die christlich-liberale Koalition hat je-dem Bürger freigestellt, die De-Mail zu nutzen. Er musssogar erst den Kommunikationsweg öffnen. Noch nichteinmal das Veröffentlichen im Verzeichnis reicht aus.Nein, der Nutzer muss wirklich bewusst sagen, ermöchte die De-Mail benutzen. Genauso wollten wir eshaben. Auch das ist verbraucherfreundlich.
Mit Ihrem Wunsch nach Portabilität verhält es sichgenauso. Auch das haben Sie, Herr Reichenbach, nichtverstanden. Wenn man keine Domäne einheitlich festlegtund jeder eine Domäne benutzen kann, so wie er esmöchte – das haben wir mit den Domänennamen im In-ternet erreicht –, dann ist es ein portables System.
Wenn wir alle nur eine Domäne benutzen würden, wieSie das fordern, dann würde es sich um eine Staats-De-Mail handeln, wie es der Kollege Binninger schon rich-tig gesagt hat. Genau das wollten wir eben nicht.
Ein solches Monopol bei der digitalen Kommunikationund eine Sammlung von Kommunikationsdaten könnenwir Liberale jedenfalls nicht unterstützen.Unser Entwurf für die De-Mail bietet jedoch nicht nurSicherheit und hohe Standards. Er schafft auch neueMöglichkeiten für Verbraucher und Unternehmen. Eszeichnet sich schon jetzt ein intensiver Wettbewerb zwi-schen verschiedenen Anbietern im De-Mail-Bereich ab.Dadurch können sich auch die Sicherheitsstandards wei-terentwickeln. Außerdem gibt es einen Wettbewerb umgünstige Tarife. Letztlich profitieren davon die Nutzerin-nen und Nutzer.Mit dem De-Mail-Gesetz in der jetzt von uns geän-derten Fassung haben wir es geschafft, einen vernünfti-gen und nutzerfreundlichen Rahmen für moderne digi-tale Kommunikation zu schaffen. Die De-Mail ist sicher,rechtsverbindlich, schnell und preiswert. In diesem Rah-men können die Anbieter nun ihre Dienste anbieten. Ge-nau das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns.Ich bitte alle Fraktionen um die Zustimmung zu diesemGesetz.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir Linken begrüßen es, wenn elektronische Kom-munikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Ver-waltung einer höheren Vertraulichkeit und Authentizitätunterliegt. Mit diesem Gesetzentwurf wird dieses Zielallerdings nicht erreicht. Deshalb wird die Linke diesenGesetzentwurf ablehnen.
Sie verkaufen De-Mail als große Vereinfachung fürBürgerinnen und Bürger. Wenn Ihnen aber tatsächlichdaran gelegen wäre, neue, gute und sichere Kommunika-tionswege zu schaffen, hätten Sie nach der Anhörung im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10587
Halina Wawzyniak
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Innenausschuss am 7. Februar Anregungen aufgenom-men und Änderungen an Ihrem Entwurf vorgenommen,und zwar Änderungen, die in der Anhörung angespro-chen worden sind, und nicht die, die Sie tatsächlich vor-genommen haben.Sie fahren aber lieber eingleisig und halten an IhremEntwurf fest, der – einmal vorausgesetzt, die Verbrau-cher machen mit; das sehe ich bei Ihrem angeblich bür-gerfreundlichen Gesetz aber noch nicht – eher dem Staatdient und der Wirtschaft ermöglicht, Kosten zu soziali-sieren, Profite zu maximieren und Kontrollmechanismenauszubauen.
Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass Sachver-ständigenanhörungen zu Alibiveranstaltungen verkom-men. Im Rahmen der Anhörung spielte die fehlendeEnde-zu-Ende-Verschlüsselung beispielsweise eine zen-trale Rolle. Solange eine solche Ende-zu-Ende-Ver-schlüsselung fehlt oder nicht verbindlich festgeschriebenist, können wir diesem Gesetz nicht zustimmen. Da sindwir tatsächlich Fundamentalisten.
Wir wollen eine durchgehende Inhalteverschlüsse-lung und nicht lediglich eine Verschlüsselung vom Ab-sender zum Provider und dann vom Provider zum Emp-fänger. Solange das nicht passiert, sehen wir tatsächlich– da hat Herr Binninger recht – das Post- und Fernmel-degeheimnis als nicht gesichert an.
Es gibt im Übrigen, wie in der Anhörung vorgetragen,auch keine kollidierenden Verfassungsgüter, die eineAußerkraftsetzung dieser Grundrechte begründen könn-ten; es sei denn, es gibt einen Generalverdacht. OhneEnde-zu-Ende-Verschlüsselung ist es so, als würde bei-spielsweise die Post des Finanzamtes an den Bürger unddie Bürgerin und umgekehrt grundsätzlich vorher geöff-net – ich sage: geöffnet, nicht gelesen –, bevor sie an denEmpfänger weitergeleitet wird. In der analogen Weltwäre dies unvorstellbar; in der digitalen Welt halten Siees offensichtlich für vertretbar. Wir tun das aber nicht,und das macht den kleinen, aber feinen Unterschied aus.
Sie werden hier auch selbst unlogisch; denn der Ge-setzentwurf soll angeblich Kosten sparen. Sie müssenmir einmal erklären, wie Sie Kosten sparen wollen,wenn das BSI zusätzliches Personal für jährlich einehalbe Million Euro und der Bundesdatenschutzbeauf-tragte Personal für eine Viertelmillion Euro einsetzensoll.Oder sehen wir uns die Prognose der Bundesregie-rung bezüglich der Endpreise für die Verbraucher undBehörden an. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf:Außerdem ist nicht auszuschließen, dass der Preispro De-Mail-Nachricht unter den heute üblichenPortokosten liegen wird.– „Es ist nicht auszuschließen“: Das ist wirklich über-zeugend. Für mich klingt das nicht nach einer sicherenBank.
Ein weiterer Grund für unsere fehlende Zustimmungist das Fehlen einer einheitlichen, verbindlichen und pro-viderunabhängigen Kennzeichnung der De-Mail-Adresse.Nur so kann tatsächlich eine Unterscheidbarkeit zu nor-malen E-Mail-Adressen erreicht werden. Vor allem istnur so für den Verbraucher und die Verbraucherin die Si-cherheit gegeben, dass sie im Rahmen des Wettbewerbsden Anbieter wechseln können. Und wenn Sie schonnicht auf mich hören wollen, dann hören Sie wenigstensauf den Deutschen Landkreistag, der ausdrücklich kriti-siert, dass die Festschreibung einer einheitlichen Kenn-zeichnung fehlt.
Herr Binninger, die Mitglieder des Landkreistagessind genauso wenig wie die Grünen Sozialisten. Für de-mokratischen Sozialismus war, ist und bleibt die Linkezuständig, und das ist auch gut so.
Mit diesem Gesetz leisten Sie leider einen Beitrag, dievielfältig noch anzutreffende und nicht immer von derHand zu weisende Kritik in Bezug auf elektronische Ver-fahren zur Verwaltungsvereinfachung zu bestätigen. Da-mit erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was be-absichtigt war. Das Gesetz schadet mehr, als es nutzt.Und das machen wir nicht mit.
Als letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt hatder Kollege Dr. Konstantin von Notz vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Einig sind wir uns darin: De-Mail könnte einegute und attraktive Anwendung sein. Gut gemachtkönnte sie für Rechtssicherheit bei der Onlinekommuni-kation sorgen. Sehr gut gemacht – das haben Sie, HerrKollege Binninger, vorhin ja angedeutet – könnte sie so-gar den Ausbau von Open-Government-Strukturen stär-ken. Aber leider erfüllt das Gesetz die Anforderungen aneine erfolgreiche Einführung nicht. Wenn Sie so wollen:Es ist nicht wirklich sicher und auch nicht komfortabel,Herr Kollege Binninger. Deswegen lehnen wir Grünendiesen Gesetzentwurf ab.
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10588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Dr. Konstantin von Notz
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Unsere Befürchtung bleibt: De-Mail wird floppen,denn es handelt sich um einen freiwillig zu nutzendenService. Und der muss – gerade die FDP ist doch sowettbewerbsorientiert – attraktiv sein.
In der vorgelegten Form ist De-Mail eben nicht attraktiv,sondern hat vor allem gegenüber dem Hauptkonkurrenz-produkt, nämlich dem traditionellen Brief, massiveNachteile. Davon möchte ich einige aufzählen.Mit der Transportverschlüsselung bringt De-Mailletztlich nichts Neues auf den Markt. Das hat heutepraktisch jeder Mailanbieter als Standard im Angebot.Innovativ wäre es gewesen, eine Vorgabe für eine an-wendungsfreundliche Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zumachen. Das haben Sie aber explizit – gegen das Anra-ten fast aller unbefangenen Fachleute, die in der Anhö-rung waren – nicht gewollt.
Wenn die Bundesnotarkammer erklärt, ein Umstiegauf De-Mail sei für sie der Tausch einer schusssicherenKevlarweste gegen einen römischen Lederharnisch,dann sind Sie einfach im falschen Film, wenn Sie hierversuchen, die Bundesnotarkammer und den Landkreis-tag in die Sozialismusecke zu schieben. Die haben hand-feste Argumente, und damit müssen Sie sich auseinan-dersetzen.
Gerade wenn es darum gehen soll, den analogenBriefverkehr zu digitalisieren – das ist ja das Ziel, wennich es richtig verstehe –, ist es doch dringend geboten,die Erfolgsgaranten des traditionellen Kommunikations-verkehrs, nämlich das Grundrecht des Brief-, Post- undFernmeldegeheimnisses, auch in den digitalen Raum zuübertragen. Wer von Ihnen will eigentlich ein Einschrei-ben egal welchen Inhalts verschicken oder bekommen,von dem man weiß, dass es an einer Stelle des Transport-weges aufgemacht wird? Die fehlende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist eben – wie hier so getan wird – keinePetitesse, sondern sie ist der Kardinalfehler Ihres Ge-setzentwurfs.
Das Gesetz bringt aber auch Nachteile hinsichtlichder Verbraucherfreundlichkeit oder, Herr Kollege Bin-ninger, wenn Sie so wollen, hinsichtlich des Komfortsmit sich. Als Verbraucher bin ich doch nicht in der Lage,den Beweis für den Empfang oder Nichtempfang einerE-Mail anzutreten – Sie sollen mir einmal erklären, wiedas in der Praxis gehen soll –, aber genau das verlangenSie in Ihrem Gesetzentwurf.Die harten Rechtsfolgen bei der Nutzung von De-Mail werden die Menschen verunsichern; das sage ichIhnen heute voraus. Einmal eingewilligt, wird es uner-bittlich: Spätestens alle drei Tage muss nachgeschautwerden,
ob beispielsweise ein Gerichtsurteil oder ein Strafman-dat zugestellt worden ist. Ich sage es Ihnen: Die Angstvor dem Bagger vor dem Haus nach der versäumtenKenntnisnahme einer Abrissverfügung via De-Mail wirddie Menschen verunsichern.Ihr gedanklicher Kardinalfehler bei dem gesamtenGesetzentwurf ist: Sie tun so, als ob der traditionelleBriefkasten und das elektronische Postfach dasselbe wä-ren. Aber die ganzen tradierten Sorgfaltspflichten, diewir bei der traditionellen Briefpost für den Krankheits-fall oder den Urlaub entwickelt haben – die Nachbarin,die den Briefkasten kontrolliert –, können Sie nicht aufdas elektronische Postfach übertragen.Schließlich verstößt Ihr Gesetzentwurf – Herr Binnin-ger, jetzt wird es noch einmal ganz interessant – gegendas Gebot der Technik- und Wettbewerbsneutralität. IhreVorlage ist eine deutsche Insellösung.
Dieses wettbewerbsrechtliche Problem hat inzwischenauch die EU-Kommission erkannt. Mich interessierenIhre Antworten auf die Fragen, die die EU-Kommissionschon zu diesem Bereich gestellt hat.Insgesamt ist der Gesetzentwurf einfach zu stark vonUnternehmensinteressen geprägt.
Wir befürchten, dass das Gesetz die Bildung eines Oligo-pols einiger weniger Anbieter begünstigen würde. WasOligopole für den Wettbewerb bedeuten, können Sie je-den Tag am deutschen Strommarkt verfolgen.Ich komme zum Schluss. Geben Sie sich einen Ruck,besinnen Sie sich! Wir alle wollen, dass De-Mail gutfunktioniert. Dafür muss der Gesetzentwurf aber überar-beitet werden; sonst floppt De-Mail wie die digitale Si-gnatur oder der E-Perso. Sie haben nicht mehr vieleChancen, die Kompetenzen des Bundes in Sachen IT-Projekte unter Beweis zu stellen. Es hilft der Sachenicht, das Gesetz jetzt schnell durchzupeitschen, um aufder CeBIT ein für die PR verwertbares Projekt vorwei-sen zu können.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelungvon De-Mail-Diensten und zur Änderung weiterer Vor-schriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/4893, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung – Drucksachen 17/3630
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10589
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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und 17/4145 – in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istin zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen an-genommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/4894. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrakti-onen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEForderungen des Goldstone-Berichts nach un-abhängigen Untersuchungen des Gaza-Kriegsunterstützen– Drucksache 17/2418 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Annette Groth von der Fraktion DieLinke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Freunde auf der Tribüne! Letzte Nacht haben isra-elische Kampfjets und Hubschrauber die schwersten An-griffe auf den Gazastreifen seit dem Krieg 2008/2009durchgeführt. In den letzten Wochen und Monatenwurde Gaza immer wieder bombardiert. Die meistendieser Angriffe fanden in der von Israel festgelegten Puf-ferzone statt, die 17 Prozent der Fläche von Gaza ein-nimmt. Die meisten Opfer sind Bauern und Kinder.13 Schulen gibt es in der Pufferzone. Weil es zu gefähr-lich ist, dürfen Rettungswagen und Mitarbeiter internati-onaler Organisationen nicht in diese Zone. Aber Schul-kinder müssen jeden Tag dahin. Sie leben in ständigerAngst. Viele leiden an Depressionen, Bettnässen und an-deren psychischen Krankheiten.In einem Brief vom 4. Februar 2011 fragten 13 israe-lische und palästinensische Menschenrechtsorganisatio-nen die Hochkommissarin für Menschenrechte derUNO: Ist der Goldstone-Bericht tot? Zwei Jahre sind seitder israelischen Offensive „Gegossenes Blei“ auf demGazastreifen vergangen und Gerechtigkeit für die Opfersteht immer noch aus. Politische Interessen wiegen of-fenkundig stärker. Gibt es einen Weg aus der vorherr-schenden Kultur der Straflosigkeit?Die Goldstone-Kommission hat Kriegsverbrechen aufisraelischer und palästinensischer Seite dokumentiert.Die Zusammenarbeit mit der Goldstone-Kommissionwie auch Untersuchungen dieser Verbrechen durch un-abhängige Kommissionen lehnt die israelische Regie-rung bis heute ab. Nach zweimaliger Fristverlängerungfür nationale Untersuchungen muss jetzt die internatio-nale Strafgerichtsbarkeit eingeschaltet werden.Bei dem israelischen Überfall auf Gaza wurden850 palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten getötet,darunter 350 Kinder und 200 Frauen. Über 5 000 Men-schen wurden verletzt. Für Hina Jilani, Mitverfasserindes Goldstone-Berichts, waren die Zeugnisse über dasbewusste Zielen auf Kinder das Schlimmste, was sie je-mals gehört hat. Frau Jilani war UN-Sonderberichterstat-terin in Darfur. Die Kommission untersuchte Vorfälle,bei denen Familien mit weißer Flagge ein Haus verlie-ßen und die trotzdem gezielt beschossen wurden. Das istein gravierender Verstoß gegen das humanitäre Völker-recht und gehört bestraft.
Yehuda Shaul, Direktor der israelischen Menschen-rechtsorganisation „Das Schweigen brechen“ befürchtet,dass zukünftige Kriege wieder mit den gleichen Mittelnoder sogar noch schlimmer geführt werden, wenn dieArmee sich keinen unabhängigen Untersuchungen stel-len muss und Schuldige nicht bestraft werden.Im 9. Menschenrechtsbericht der Bundesrepublikheißt es:Die Verhinderung der Straflosigkeit für schwereVölkerrechtsverbrechen bleibt ein wichtiges Anlie-gen.
Der jüdische Widerstandskämpfer Stéphane Hesselschreibt in seinem Bestseller-Büchlein „Empört Euch“:Der Gaza-Bericht von Richard Goldstone vom Septem-ber 2009 sollte Pflichtlektüre sein.Was den Gaza-Streifen betrifft, so ist er für andert-halb Millionen Palästinenser ein Gefängnis unterfreiem Himmel. Dass Juden Kriegsverbrechen be-gehen können, ist unerträglich.Seit den Diskussionen um den Goldstone-Bericht ste-hen Menschenrechtsverteidiger in Israel unter großemDruck. Undemokratische Gesetzesinitiativen boomen.Damit sollen Aussagen vor internationalen Untersu-chungskommissionen verboten werden, wenn sie zu ei-nem Strafverfahren gegen israelische Staatsbürger we-gen Kriegsverbrechen führen könnten.Die israelische Friedensbewegung „Gush Shalom“veröffentlichte in der Tageszeitung Haaretz am18. Februar 2011 folgendes Inserat: Das ägyptische Volk
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10590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Annette Groth
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kämpft tapfer für die Menschenrechte. Die israelischeKnesset kämpft tapfer darum, die Menschenrechte abzu-schaffen.
Wenn gravierende Verstöße gegen das Völkerrechtnicht angeklagt werden, führt dies zu einer Legitimie-rung von Kriegsverbrechen und einem allgemeinenKlima der Straflosigkeit. Die Einhaltung des humanitä-ren Völkerrechts und internationaler Menschenrechts-normen ist eine wesentliche Voraussetzung für Friedenin der Region.
Als Mitglied im Weltsicherheitsrat kann die deutscheRegierung den Goldstone-Bericht auf die Tagesordnungsetzen. Im Namen vieler Menschenrechtsaktivisten for-dere ich Sie auf, dies zu tun und dafür zu sorgen, dassSchuldige bestraft werden.
Da alle übrigen Redner ihre Reden zu Protokoll1) ge-
ben, schließe ich jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2418 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes
– Drucksache 17/4805 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen laut
Tagesordnung zu Protokoll genommen werden.
Nadine Schön (CDU/CSU):
Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsge-
setzes. Es ist ein kleiner, ein kurzer Gesetzentwurf; denn
er beinhaltet lediglich die Aufhebung eines einzelnen
Absatzes, nämlich des § 1 Abs. 2 des Steinkohlenfinan-
zierungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung
vom 27. Dezember 2007. Ein kurzes Gesetz, aber sehr
bedeutend für den Steinkohlenbergbau in Deutschland
und insbesondere für die Revierländer Nordrhein-West-
falen und Saarland. Denn mit diesem Gesetz beschreiten
wir den Weg des endgültigen sozialverträglichen Aus-
stiegs aus der subventionierten Steinkohlenförderung in
Deutschland.
1) Anlage 15
Was ist der Hintergrund? Das Gesetz, das wir heute
ändern, nämlich das Steinkohlefinanzierungsgesetz aus
dem Jahr 2007, stellt eine Landmarke in der Geschichte
der deutschen Steinkohlenförderung dar. Europaweit
einzigartig ist der Vorgang, dass im Wege eines Kompro-
misses ein wirtschaftliches und sozialverträgliches Ge-
samtkonzept zum Auslaufen des subventionierten Berg-
baus in einem Staat der Europäischen Union vorgelegt
wird. Es war ein gut austariertes Konzept, das das Jahr
2018 als anvisierten Endpunkt der heimischen Kohlen-
förderung vorsah. Im Zuge einer Revisionsklausel sollte
2012 noch einmal darüber beraten werden, ob der Zeit-
punkt 2018 endgültig ist oder ob es die Möglichkeit ei-
nes Sockelbergbaus in Deutschland geben wird. Es war
ein gutes Konzept; denn es war wirtschaftlich, so-
zialverträglich und mit dem Enddatum 2018 vor allem
verlässlich.
Wieso also beschäftigen wir uns überhaupt heute mit
einer Änderung? Kurz gesagt: um Schlimmeres abzu-
wenden. Schlimmeres drohte in dem Fall von der EU;
denn Beihilfegenehmigungen und auch die entspre-
chende Kontrolle obliegen der EU. Rechtsgrundlage für
die Gewährung von Kohlenbeihilfe war bisher die Ver-
ordnung NR. 1407/2002 des Rates. Diese läuft zum
Ende des Jahres aus. Im Juli vergangenen Jahres wurde
nun von der Kommission ein Vorschlag für eine „Verord-
nung des Rates über staatliche Beihilfen zur Erleich-
terung der Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Stein-
kohlenbergwerke“ vorgelegt. Die darin enthaltenen
Bestimmungen hätten für Deutschland das Ende des
subventionierten Bergbaus schon im Jahre 2014 bedeu-
tet. Wäre die Verordnung entsprechend diesem Vor-
schlag in Kraft getreten, hätte dies massive Auswirkun-
gen auf Deutschland gehabt: Der Kohlenkompromiss
hätte nicht eingehalten werden können.
Damit wäre – dieser Punkt wird in der Öffentlichkeit
kaum genannt – der im Kohlenkompromiss vereinbarte
Zeitraum zum Aufbau eines Kapitalstocks der RAG-Stif-
tung zur Übernahme der Ewigkeitslasten massiv ver-
kürzt worden. Dies hätte Auswirkungen auf die Über-
nahme der Ewigkeitskosten gehabt, die in einem
Bergwerk, wie der Name schon sagt, auch noch Jahr-
zehnte nach der Schließung anfallen, etwa zur Wasserer-
haltung und zur Versorgung der Flächen.
Der Beschluss hätte auch der Zulieferindustrie die
benötigte Zeit genommen, sich im Ausland neue Märkte
für die hochtechnisierten Produkte zu suchen.
Schließlich haben Experten für Ende 2014 technische
und praktische Probleme in den betroffenen Bergwerken
vorhergesagt.
Die schlimmste Folge aber wären die Auswirkungen
auf die Beschäftigten gewesen: Mit einem Ausstieg 2014
wäre ein sozialverträglicher Personalabbau kaum mög-
lich gewesen. Dies hätte als unmittelbare Folge be-
triebsbedingte Kündigungen nach sich gezogen. Viele
der jetzt noch 25 000 Kumpels stünden vor der Arbeits-
losigkeit mit entsprechenden Auswirkungen auf die Fa-
milien – und auch auf die Allgemeinheit, die ja die Kos-
ten der Arbeitslosigkeit zahlen muss.
Nadine Schön
(C)
(B)
Als saarländische Abgeordnete kann ich sagen, dass
der Vorschlag der Kommission die saarländischen Berg-
leute tief erschüttert hat. In den vergangenen Jahren gab
es mehrfach Phasen, in denen sie und ihre Familien
massiven Existenzängsten ausgesetzt waren. Gleich drei
Mal in wenigen Jahren mussten sie um ihre Existenz
fürchten:
Zum einen waren die Verhandlungen zum Kohlen-
kompromiss 2007 eine harte Zeit voller Unsicherheit für
die Bergleute. Doch hier konnte – wie bereits erwähnt –
eine für alle tragfähige Lösung erzielt werden.
Einschneidend war dann ein Ereignis von genau ges-
tern vor drei Jahren, am 23. Februar 2008. Nach schlim-
men, bergbaubedingten Erderschütterungen in Saar-
wellingen beschloss das Unternehmen den sofortigen
Abbaustopp in der Primsmulde, unserem größten und
profitabelsten Abbaugebiet. Mehrere Tausend Bergleute
wurden freigestellt. Viele fürchteten um ihre Existenz.
Dank einer unglaublich effektiven Gemeinschaftsaktion
unter Führung der saarländischen Landesregierung ist
es gelungen, allen davon betroffenen Bergleuten eine
Perspektive zu geben. Als Mitglied des Ausschusses für
Wirtschaft und Grubensicherheit habe ich diesen Pro-
zess mitbegleitet und weiß um die Bedeutung eines
solchen Transformationsprozesses für alle Beteiligten.
Elementarer Bestandteil dieses Prozesses ist die Mög-
lichkeit für 1700 Bergleute, für einige Jahre in Ibben-
bühren in NRW zu arbeiten. Auch wenn es für die betrof-
fenen Familien hart ist, 500 km von zu Hause arbeiten zu
müssen, so ist dennoch die Verlässlichkeit ein hohes Gut.
Und so können Sie sich vorstellen, dass es ein Schock für
die Bergleute war, als die Kommission Mitte letzten Jah-
res den Zeitpunkt 2018 wieder infrage gestellt hat und
damit zum dritten Mal in kurzer Zeit ihr Arbeitsplatz in
Gefahr war.
Das Jahr 2018 ist somit ein maßgeblicher Zeitpunkt
für Bergleute in beiden Revierländern. Ein frühzeitiges
Auslaufen im Jahr 2014 wäre fatal gewesen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich deshalb mit
großem Einsatz für eine Modifikation des Kommissions-
vorschlags eingesetzt. Ihrem Verhandlungsgeschick und
Einfluss auf europäischer Ebene ist es zu verdanken,
dass der Bergbau in Deutschland wie vereinbart noch
bis 2018 weitergeführt werden kann. Der Kompromiss-
vorschlag sieht vor, dass Beihilfen für die Bergwerke nur
weitergewährt werden dürfen, wenn für jedes Bergwerk
ein definitiver, irreversibler Stilllegungszeitpunkt und
ein entsprechender Stilllegungsplan festgelegt wird.
Dieser Kompromiss ermöglicht also ein Festhalten am
Jahr 2018 als Ausstiegsdatum, er lässt aber keinen
Raum für einen subventionierten Sockelbergbau nach
2018 und macht somit die Revisionsklausel obsolet.
Indem wir heute den § 1 Abs. 2, nämlich die Revi-
sionsklausel, aus dem Gesetz streichen, kommen wir der
Forderung der EU nach einem ernsthaften und endgülti-
gen Ausstiegsszenario nach. Jeder, der meint, ein sub-
ventionierter Sockelbergbau hätte auch nur den Hauch
einer Chance auf Genehmigung der EU, der irrt. Darum
ist es besser, heute ein klares Ausstiegsszenario vorzule-
gen, auf das sich alle einstellen können, als wohl wis-
Zu Protokoll
send, dass das Unterfangen keine Chance hat, auf eine
Fortsetzung über 2018 hinaus zu hoffen. Ein Festhalten
an der Revisionsklausel hätte das Ende des Bergbaus
schon in den nächsten Jahren bedeutet. Deshalb sollten
wir heute gemeinsam den Verzicht auf die Revisions-
klausel beschließen und unseren vereinbarten Weg des
Ausstiegs bis 2018 gemeinsam beschreiten.
Diese Lösung gibt den Bergleuten in den Revierlän-
dern, vor allem in NRW, die Möglichkeit, sich in den
nächsten sieben Jahren umzuorientieren. Im Saarland
haben wir gesehen, dass es durchaus möglich ist, für gut
ausgebildete Bergleute Ersatzarbeitsplätze zu finden.
Das Auslaufen bis 2018 gibt allen die Möglichkeit, die-
sen Prozess sukzessive zu gestalten. Die Sozialverträg-
lichkeit ist damit sichergestellt.
Diese Lösung ist auch dem Steuerzahler zumutbar.
Die Steinkohlensubventionen von etwa 2 Milliarden
Euro pro Jahr machen nach wie vor einen großen Teil
des Bundeshaushalts aus. Es ist nicht abzusehen, dass
sich an der Notwendigkeit zur Subventionierung etwas
ändern wird; denn wir bauen weiterhin deutlich über
dem Weltmarktpreis ab. Steinkohle für unsere Wirtschaft
kann zu wesentlich günstigeren Preisen aus sicheren Ab-
baugebieten im Ausland mit geologisch günstigeren Ab-
baubedingungen importiert werden. Daher ist eine dau-
erhafte Subventionierung nicht nur EU-rechtlich
unmöglich, sondern auch wirtschaftspolitisch nur
schwer zu begründen. Er sieht also ein Ende der Sub-
ventionen vor, ohne gleichzeitig hohe Kosten zur Bewäl-
tigung von Arbeitslosigkeit zu generieren.
Der Kompromiss gibt außerdem der Zulieferindustrie
die Möglichkeit, neue Märkte im Ausland zu erschlie-
ßen. Ein wichtiger Punk; denn deutsche Zulieferer ste-
hen weltweit für Qualität und Innovation, und diese In-
novationen und damit die Arbeitsplätze sollten wir
weiter in Deutschland zu halten versuchen, auch wenn
wir keinen eigenen Absatzmarkt dafür haben. An der
saarländischen Zulieferindustrie können sie sehen, dass
diese Umorientierung auf neue Märkte machbar ist.
Der sozialverträgliche Ausstieg aus dem subventio-
nierten Steinkohlenbergbau kann nicht von heute auf
morgen geschehen. Er braucht Zeit und einen klaren
Ausstiegsplan. Im Einvernehmen mit der EU wollen wir
diesen Weg bis 2018 gehen. Gehen wir ihn gemeinsam,
schaffen wir heute die rechtlichen Voraussetzungen, da-
mit kein Bergmann ins Bergfreie fallen wird.
Basierend auf der nun vorliegenden Änderung desSteinkohlefinanzierungsgesetzes wird der subventio-nierte deutsche Steinkohlenbergbau ab dem Jahr 2018beendet werden. Damit verschwindet die Kohle abernicht aus Deutschland. Mittelfristig ist die Abkehr vomRohstoff Kohle falsch und nicht machbar.Auch wenn das Ziel, die Energieversorgung unseresLandes bis zum Jahr 2050 vollkommen auf erneuerbareEnergien umzustellen, nicht aus den Augen verlorenwerden darf, ist unbestritten, dass Steinkohle bis dahineine wichtige Rolle spielen wird. Besonders vor dem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10591
gegebene RedenMichael Gerdes
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Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung und derVerfügbarkeit auf dem Weltmarkt wird der RohstoffKohle ein wesentlicher Faktor des Energie- und Che-miestandortes Deutschland bleiben. Niemand glaubternsthaft daran, dass insbesondere die für die Stahlpro-duktion so wichtige Kokskohle nicht mehr gebrauchtwird. Jede Tonne heimische Kohle wird durch Export-kohle ersetzt. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass dasheutige Preisniveau bei steigender Weltmarktnachfrageso bleibt. Die Preise werden in die Höhe schnellen. Dazureicht ein Blick auf die Ölpreisentwicklung. Deshalb istes aus meiner Sicht unverantwortlich, den Zugang zuheimischen Lagerstätten aufzugeben. Hinzu kommt,dass große Teile der Exportkohle unter fragwürdigenBedingungen gefördert werden.Im Übrigen steckt im Rohstoff Kohle mehr als die Ener-gie zur Stromerzeugung. Kohle ist ein wichtiger Rohstofffür die chemische Industrie. Sie wird unter anderem beider Herstellung von Kunststoffen oder Medikamentengebraucht. Darauf können wir nicht verzichten. Deshalbmacht auch die sogenannte Revisionsklausel weiterhinSinn. Sie ermöglicht eine sachliche Prüfung der dannbestehenden Weltmarktbedingungen.In den Bergwerken steckt Zukunft: So suchen die RAGund auch der Evonik-Konzern derzeit nach Lösungenzur Nutzung erneuerbarer Energien. Tiefengeothermie,Schachtturbinen oder Methangasnutzung sind nur ei-nige wenige Beispiele. In der Stadt Bottrop bietet sichdie Zusammenarbeit mit der dortigen Fachhochschulegeradezu an. Forschung, Wissenschaft und Technologiesind eng mit dem Bergbau verbunden.Der deutsche Bergbau bietet eine praxisnahe Ausbil-dung und gute Forschungsbedingungen. Noch sind rund29 000 Arbeitsplätze im deutschen Steinkohlenbergbauvorhanden. Diese sollten nicht ohne Not aufgegebenwerden. Neben diesen Arbeitsplätzen sind auch weiterein der Zulieferbranche und im Umfeld der Bergwerks-standorte gefährdet.Bergbautechnologie „Made in Germany“ – hinterdiesem Titel verbirgt sich immer noch eine weltweit füh-rende Spitzentechnologie. Diese Chancen dürfen nichtungenutzt bleiben. Der Zugang zu deutschen Lagerstät-ten und eine Unabhängigkeit hinsichtlich derVerfügbarkeit von Rohstoffen müssen erhalten bleiben.Deshalb bedarf es der weiteren Unterstützung des deut-schen Steinkohlenbergbaus. Die Möglichkeit eines nichtsubventionierten Steinkohlenbergbaus in Deutschlandmuss erhalten bleiben. Dafür müssen entsprechendeRahmenbedingungen geschaffen werden.
Der 2007 mühsam errungene Steinkohlenkompromisswar ein ausgewogenes Gesamtpaket für sozialverträgli-che Lösungen und die Sicherstellung der Finanzierungder anfallenden Ewigkeitskosten durch die RAG-Stif-tung. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dass ein Ge-setz, auf das sich eine ganze Region verlassen hat, durchverschleppte Verhandlungsführung und Uneinigkeit zwi-schen den Regierungsparteien von CDU/CSU und FDPZu Protokollgefährdet wurde. Die Revisionsklausel wurde geopfertund damit eine objektive Bewertung über die Zukunftdes Bergbaus in Deutschland aufgegeben. Es steht fest,dass die Bundesregierung auf EU-Ebene schlecht ver-handelt hat.Zwar konnte damit der Kernbestandteil des Steinkoh-lefinanzierungsgesetzes gehalten werden. Je-doch wird uns dies in Zukunft schwer zu schaffen ma-chen. Für den deutschen Steinkohlenbergbau bedeutet es,dass Beihilfen an die verbliebenen Bergwerke ab 1. Ja-nuar 2011 nur dann weitergewährt werden, wenn für je-des Bergwerk ein definitiver, irreversibler Stilllegungs-zeitpunkt in einem Stilllegungsplan festgelegt ist. Dasvon der EU und Brüderle noch ins Spiel gebrachte Aus-laufen des Bergbaus 2014 widersprach selbst kommis-sionseigenen Abschätzungen hinsichtlich der sozialenund regionalen Folgen. Laut einer Prognos-Studie er-gäbe ein früherer Ausstieg keinerlei Einsparung für öf-fentliche Haushalte, sondern eine Mehrbelastung durchFolgekosten der Arbeitslosigkeit von 2,5 MilliardenEuro für den deutschen Steuerzahler. Ebenso wäre keinökologischer Vorteil feststellbar, da heimische Stein-kohle durch Importkohle ersetzt würde. Noch bietet dieZeche in Marl 4 000 Menschen Arbeit und 400 jungenLeuten qualifizierte Ausbildung. Dazu kommen zahlrei-che Beschäftigte in abhängigen Unternehmen undDienstleistungsbetrieben. Kohleförderung brachte bis-her Umsätze und sicherte Aufträge an Dritte. Heute sindweitere Arbeitsplatzverluste durch fehlende Kaufkraftund Investitionen absehbar.Bisher war deutsche Bergbautechnologie weltweitführend, gefragt und ein Exportschlager. Nun werdenwir mit Technologie- und Innovationsabwanderung zukämpfen haben. Hightechunternehmen lassen sich nichtan jedem beliebigen Ort ansiedeln. Materielle Standort-faktoren, qualifizierte Arbeitskräfte, anwendungsorien-tierte Forschung und günstige sozioökonomische undkulturelle Faktoren sind entscheidend. Der erforderlicheStrukturwandel in der Kohleregion hängt von materiel-len Faktoren wie Strukturhilfen und insbesondere auchvon den jeweils prägenden gesellschaftlichen Struktu-ren, der Partizipation der Betroffenen und den Mitbe-stimmungsmöglichkeiten ab. Ich erwarte jetzt konkreteAussagen zu Strukturhilfen für die Bergbauregionen vonder Bundesregierung.Nicht zuletzt hat die Bundesregierung die Tür für ei-nen beihilfefreien Steinkohlenbergbau zugeschlagen.Sollten Zechen nach 2018 subventionsfrei weiterbetrie-ben werden können, was bei der derzeitigen Preisent-wicklung nicht unwahrscheinlich erscheint, müssen dieSubventionen zurückgezahlt werden. In einer marktwirt-schaftlich orientierten Europäischen Union wäre zu er-warten gewesen, unternehmerische Entscheidungen zufördern, einen subventionsfreien und gewinnorientiertenBergbau weiterzuführen. Gerade vor dem Hintergrundder aktuellen Preisentwicklung für Kohle und Koks aufdem Weltmarkt und dem enorm ansteigenden Energiebe-darf wäre das eine Chance, die man sich für die Zukunftnicht verbauen dürfte.
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10592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
(C)
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Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt die FDP im Deut-
schen Bundestag für ein Auslaufen der Subventionie-
rung des deutschen Steinkohlenbergbaus ein. Nach er-
folgreichen Verhandlungen zwischen dem Bund, den
Ländern Nordrhein-Westfalen und Saarland sowie der
RAG AG und der IG BCE wurde im Jahr 2007 eine trag-
fähige und ausgewogene Einigung erzielt, die diesem
Ziel Rechnung trägt.
Mit Ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Gewährung staatlicher Beihilfen zur Erleichterung der
Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Steinkohlenberg-
werke vom 20. Juli 2010 hat die Europäische Kommission
diesen vereinbarten Kompromiss weitgehend bestätigt.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Verhand-
lungsführung der Bunderegierung auf europäischer
Ebene loben. Durch ihren konsequenten Einsatz für den
bereits gefundenen Konsens haben die geschlossenen
Verträge auch weiterhin Bestand, und es bleibt bei ei-
nem sozialverträglichen Übergang in die Zeit nach Ende
der Steinkohlenförderung. Unverkennbar stellt dies die
politische Verlässlichkeit dieser Bundesregierung unter
Beweis.
Auch in meinem Wahlkreis, nämlich in der Stadt Ib-
benbüren, wird Steinkohle abgebaut. Die Bürgerinnen
und Bürger in dieser Region bereiten sich seit 2007 auf
den Strukturwandel vor. Der notwendige Veränderungs-
prozess wird dort aktiv gestaltet, zielgerichtet gefördert.
Der Übergang in neue Beschäftigungsfelder gelingt so
schrittweise und für den Einzelnen verträglich. Eine Ab-
kehr von den bisherigen Planungen hätte diesen Prozess
empfindlich gestört, erhebliche Verunsicherung hervor-
gerufen und zu einem finanziellen Desaster der RAG
Stiftung geführt. Deshalb war es richtig und wichtig, am
Zukunftsfahrplan 2018 festzuhalten.
Mit dem uns nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes endet auch ein
langjähriges Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte.
Der subventionierte Abbau von Steinkohle wird, wie im
Kohlekompromiss 2007 vereinbart, im Jahr 2018 ver-
bindlich auslaufen. Seit dem Beginn der Subventionie-
rung werden bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 140 Milli-
arden Euro unwiederbringlich in dunklen Zechen
vergraben worden sein, zulasten unserer Bürgerinnen
und Bürger, die sprichwörtlich die Zeche dafür zahlen
mussten.
Die klare Absage an diese Politik eröffnet in den
nachfolgenden Jahren neue Spielräume für die Bewälti-
gung essenzieller und drängender Zukunftsfragen, bei-
spielsweise für Investitionen in Bildung und Forschung
oder die notwendige Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte. Eines möchte ich an dieser Stelle kritisch an-
sprechen. Auch wenn uns mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf ein großer Schritt in Richtung Subventions-
abbau gelungen ist, das süße Gift der Subvention ist
deshalb noch lange nicht sicher verwahrt. Allein die
Beihilfen im Bereich der erneuerbaren Energien nähern
sich bereits heute dem Zweifachen derer, die in der
Spitze für die Förderung der Steinkohle aufgebracht
werden mussten.
Zu Protokoll
Heute beraten wir wieder einmal über ein Versagender Großen Koalition. Nach zähem Hin und Her kam es2006 zum sogenannten Kohlekompromiss zwischen al-len Beteiligten mit folgenden Eckpunkten: Auslaufen derSteinkohlensubventionierung bis 2018, Gründung derRAG-Stiftung und Überprüfung der Vereinbarungen imJahr 2012. Doch während sich insbesondere die SPD imInland von den Kohlekumpel als Retterin ihrer Arbeits-plätze feiern ließ, hat sie es in der Regierung versäumt,das Steinkohlefinanzierungsgesetz auch auf europäi-scher Ebene bestandsfest zu machen.Zehntausende Bergleute in NRW und im Saarlandhatten sich auf das Gesetz verlassen. Im Herbst letztenJahres mussten sie miterleben, wie wenig Vertragstreueund Verlässlichkeit in der Demokratie wert sind. Nichtnur, dass die EU-Kommission versuchte, die Regelungenzu kippen; auch der deutsche EU-Kommissar Oettingerund Wirtschaftsminister Brüderle taten alles, das Gesetzüber die EU-Ebene zu Fall zu bringen. Minister Brü-derle hat dabei zum wiederholten Male seine Ignoranzgegenüber dem wirtschaftlichen Strukturwandel und derBedeutung von Industriearbeitsplätzen bewiesen. Nurden Protesten der Bergleute im letzten Herbst ist es zuverdanken, dass die Steinkohlensubventionierung nundoch bis 2018 sozialverträglich beendet werden kann,allerdings mit dem Wermutstropfen, dass im Gegenzugmit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Revi-sionsklausel aus dem Steinkohlefinanzierungsgesetz ge-strichen werden soll.Wir halten diese Streichung für falsch. Es darf aufkeinen Fall passieren, dass man damit gleichzeitig denErhalt des technologischen Know-hows in Deutschlandzu den Akten legt. Ob man das nun „Sockelbergbau“oder „Referenzbergwerk“ nennt, ist einerlei. Wichtig istdoch nur eines: Die Technologiesparte der Kohlewirt-schaft beschäftigt mehr als 15 000 Menschen in NRW.Nur mit dem Erhalt eines Sockel- oder Referenzberg-werks können ein moderner Maschinen- und Anlagen-bau und hochqualifizierte Stellen erhalten werden.An die Adresse der Grünen sei gesagt: Eine Beendi-gung der heimischen Steinkohlenförderung hat nichtsmit einem Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohlever-stromung zu tun. Natürlich ist die Verstromung vonKohle eine der Hauptursachen für Treibhausgasemissio-nen bei der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Neinzum Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Kohle- undAtomkraftwerke blockieren den auch in NRW dringendbenötigten Umstieg auf erneuerbare Energien. Aber mitder Beendigung der heimischen Steinkohlenförderungwird nicht ein Kohlekraftwerk abgeschaltet, sondern nurdie heimische Kohle durch Importkohle ersetzt. Die Ent-scheidung an diesem Punkt heißt nicht „Kohle, ja odernein?“, sondern „Aktive Industriepolitik oder Wirt-schaftsliberalismus?“. Wir treten ein für eine aktive In-dustriepolitik, für den Erhalt von Industriearbeitsplät-zen durch einen sozial-ökologischen Umbau und nichtfür eine Verbesserung der CO2-Bilanz durch die Ver-nichtung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der Indus-trie.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10593
gegebene Reden
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Wir beraten heute über den Gesetzentwurf der Bun-desregierung zum Streichen der Revisionsklausel imSteinkohlefinanzierungsgesetz. Im Jahr 2007 hatten sichdie damalige Große Koalition im Bund, die Länder, RAGund IG BCE auf eine Beendigung des subventioniertenSteinkohlenbergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt, mit derVorgabe, durch eine Revisionsklausel im Jahr 2012 diesnoch einmal zu überprüfen. Doch die damalige GroßeKoalition im Bund und auch die damalige schwarz-gelbe Landesregierung in NRW hatten es dabei ver-säumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz von2007 auch europarechtlich abzusichern – obwohl esvonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung für einFortführen der Subventionen nur bis 2011 gab.Die Haltung – die EU wird schon tun, was Deutsch-land sagt – hatte sich spätestens im Juli 2010 gerächt.Denn die EU-Kommission machte einen Vorschlag füreine Verordnung des Rates, die Steinkohlenbeihilfen be-reits im Oktober 2014 einzustellen. Dieses Enddatum2014 sorgte auch in der Bundesregierung – wie es beiSchwarz-Gelb nicht ungewöhnlich ist – für Streit. WarBundeswirtschaftsminister Brüderle anfangs vehementfür ein Auslaufen der Steinkohlenbeihilfen bis 2014, be-tonte Bundeskanzlerin Merkel in ihrer letzten Presse-konferenz vor der Sommerpause, dass sie sich persön-lich für die Beibehaltung des Ausstiegsdatums 2018 inBrüssel einsetzen werde. Erst später wurde Wirtschafts-minister Brüderle einkassiert und sprach sich auf einmalebenfalls für das Auslaufen 2018 aus. Dies passt in dasBild der FDP. Zuerst populistische Forderungen erhe-ben, wenn es aber konkret wird, knickt sie ein.Das Zugeständnis der Bundesrepublik, das die Bun-desregierung in Brüssel dann letztlich machen musste,war, die Revisionsklausel zu streichen. Im deutschenSteinkohlefinanzierungsgesetz heißt es dazu in § 1Abs. 2, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bun-destag bis spätestens 30. Juni 2012 einen Bericht zulei-tet, auf dessen Grundlage der Deutsche Bundestag unterBeachtung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit,der Sicherung der Energieversorgung und der übrigenenergiepolitischen Ziele prüft, ob der Steinkohlenberg-bau weiter gefördert wird. Die EU-Kommission und dieRegierungen verschiedener Mitgliedstaaten werten denaktuellen Absatz im Gesetz zu Recht als VersuchDeutschlands, ein endgültiges Ende des subventionier-ten Steinkohlenbergbaus erneut hinausschieben zu wol-len.Wir begrüßen die Entscheidung der Bundesregie-rung, nun endlich einen Gesetzentwurf zur Streichungder Revisionsklausel einzubringen. Nur hätte sie diesviel früher tun können und hätte damit die Verunsiche-rung Zehntausender Bergbaukumpel verhindert. Dieschwarz-gelbe Koalition kommt mit ihrem Gesetzent-wurf unseren Anträgen „Steinkohlesubventionen jetztüberprüfen“ und „Subventionierten Steinkohlenbergbausozialverträglich beenden“ endlich nach. Diese Anträgehatten wir bereits im Juni und Oktober 2010 in denDeutschen Bundestag eingebracht. Leider hatte dieBundesregierung zu diesem Zeitpunkt noch immer dieherablassende Haltung, dass die EU das zu akzeptierenZu Protokollhabe, was Deutschland beschließt. Dass dies nicht funk-tioniert hat, merken Sie, meine Kolleginnen und Kolle-gen von der CDU/CSU und FDP, anscheinend erst jetzt.Ansonsten hätten Sie einen solchen Gesetzentwurf zurStreichung der Revisionsklausel hier nicht jetzt vorge-legt, sondern bereits im vergangenen Jahr unseren An-trägen zugestimmt.Denn mit dem Streichen der Revisionsklausel kannDeutschland den berechtigten Sorgen seiner europäi-schen Partner durch konkrete politische Initiativen ver-deutlichen, dass Deutschland 2018 endgültig seine Bei-hilfen für den Steinkohlenbergbau beenden wird. Damitwird zudem dokumentiert, dass absurde Forderungenvon SPD und Linken nach einem steuerfinanzierten,dauerhaften nationalen Steinkohlensockel oder Ähnli-chem über keine politische Mehrheit verfügen.Aber die Streichung der Revisionsklausel hätte be-reits viel früher geschehen müssen. Mehr noch: DieKlausel war von Anfang überflüssig. Diese Regelungwar und ist bis heute die Ursache dafür, dass alle Betei-ligten sich nicht langfristig auf ein definitives Ende desBergbaus einstellen können oder wollen. Denn es warbereits 2007 bei der Verabschiedung des Steinkohle-finanzierungsgesetzes und ist auch heute in keiner Weiseabsehbar, dass die Steinkohlenförderung in Deutschlandauch nur in die Nähe der Wirtschaftlichkeit kommenwird. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Si-tuation des Bundeshaushaltes ist es geboten, die imSteinkohlenfinanzierungsgesetz verankerte Revisions-klausel schnellstmöglich zu streichen und so Planungs-sicherheit für alle zu schaffen. Es muss Schluss sein,Milliarden in schwarzen Löchern zu versenken, die dannbei der Bewältigung des Strukturwandels fehlen. Dabeisteht die Sozialverträglichkeit der Beendigung des Stein-kohlenbergbaus nicht infrage. Bis allerspätestens 2018ist nun Zeit, alles sauber zu beenden und, wo immermöglich, in der Zeit das Entstehen neuer Ewigkeitslas-ten zu vermeiden.Eine lange Bergbaugeschichte an Saar und Ruhr hatbeträchtliche Altlasten und Ewigkeitskosten hinterlas-sen. So müssen zum Beispiel Tausende einsturzgefähr-dete Schächte saniert und durch den Bergbau abge-senkte und dichtbesiedelte Flächen auf HundertenQuadratkilometern dauerhaft entwässert und vor Über-flutungen geschützt werden. Ob die Einnahmen derRAG-Stiftung aus dem Verkauf der Evonik für solcheEwigkeitskosten ausreichen, ist zumindest fraglich. Dawerden wir noch sehr genau hinschauen müssen, damitnicht am Ende die öffentliche Hand für die Berg-bauschäden geradesteht. Von der Bundesregierung undden Koalitionsfraktionen erwarten wir daher, dass siedie deutsche Rechtslage schnell in Übereinstimmung mitden Rechtsgrundlagen der Europäischen Union bringt.Das heißt: Streichung der Revisionsklausel und ein end-gültiger Schluss bis spätestens 2018. Vielleicht geht esam Ende ja sogar noch schneller und günstiger für denBundeshaushalt.Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion desvorliegenden Gesetzentwurfes in den Ausschüssen desDeutschen Bundestages mit Ihnen.
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10594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10595
(C)
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Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/4805 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Volker Beck , KatjaKeul, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWach- und Sicherheitspersonal beim Bundes-tag beschäftigen– Drucksache 17/4741 –Überweisungsvorschlag:Ältestenrat
Ausschuss für Arbeit und SozialesFür die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen.Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginBeate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen dasWort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich weiß, dass es spät ist. Aber den-noch möchte ich diese Rede nicht zu Protokoll geben,weil mir das Thema sehr wichtig ist. Ich bedanke michbei der SPD dafür, dass sie als einzige andere Fraktionnachher noch das Wort ergreifen wird. Die Redner allerübrigen Fraktionen haben ihre Reden schon zu Protokollgegeben.Es ist allseits bekannt, dass die Bundestagsverwaltungetliche Dienstleistungen an Dritte vergeben hat und diesnicht nur Vorteile hat, sondern auch Probleme mit sichbringt. Ausdrücklich hervorheben möchte ich, dass dieBundestagsverwaltung vieles versucht hat, damit die ex-ternen Anbieter soziale und tarifliche Standards einhal-ten. So wird beispielsweise verlangt, dass bestehendeTarifverträge eingehalten werden. Das ist gut so, und ichmöchte dies noch einmal ausdrücklich anerkennen.Wenn aber Sicherheitskräfte hier im Bundestag, dienicht aufstockendes Arbeitslosengeld II beantragen wol-len, 220 Stunden im Monat arbeiten müssen, um geradeeinmal 1 000 Euro netto zu verdienen, dann ist das mei-ner Meinung nach ein unhaltbarer Zustand.
Die Abgeordneten werden hier im Bundestag aufHänden getragen. Es wird alles für unsere Sicherheit ge-tan, und wir werden immer freundlich und respektvollbehandelt. Der Alltag im Deutschen Bundestag ent-spricht der Würde des Hauses, und das schätze ich sehr.Umso mehr geht es mir unter die Haut, dass manche, dieall das ermöglichen, so wenig verdienen, dass sie an derArmutsgrenze leben müssen. Das entspricht nicht derWürde des Hauses.
Schlimm finde ich es auch, wenn solche Fakten an dieÖffentlichkeit kommen und das Ansehen des DeutschenBundestags darunter leidet. Der Bundestag hat auch eineVorbildfunktion als Arbeitgeber, und die sollten wir alleernst nehmen. Aus diesem Grunde bringe ich heute un-seren Antrag ein. Wir wollen, dass in einem erstenSchritt die Wach- und Sicherheitskräfte wieder direkt an-gestellt und nach TVöD bezahlt werden.Die Sicherheitskräfte sollen Löhne erhalten, von de-nen sie und ihre Familien auch leben können. Aber esgeht auch darum, dass wir ihnen soziale Sicherheit ge-ben, indem sie unbefristete Beschäftigungsverhältnisseerhalten. Jetzt müssen sich die Sicherheitskräfte schonwieder Sorgen machen, ob sie im Juni, nach der neuenAusschreibung, noch einen Job haben oder ob sie ar-beitslos werden. Gerade Ältere wissen ganz genau: Ge-winnt eine andere Firma die Ausschreibung, droht Ar-beitslosigkeit bis zur Rente.Ich hoffe sehr, dass der Antrag nicht nur von der Op-position, sondern auch von den Regierungsfraktionenunterstützt wird. Bei solch einem Thema könnten meinerMeinung nach alle Abgeordneten durchaus an einemStrang ziehen, und wir könnten den Sicherheitskräftengemeinsam unsere Wertschätzung deutlich machen.
Das Problem ist nur, dass die Ausschreibung zur Ver-gabe der Wach- und Sicherheitsdienstleistungen bereitsläuft. Deswegen bitte ich alle Gremien, die sich mit die-sem Antrag befassen müssen, zügig zu handeln, bevor eszu spät ist.Natürlich gibt es auch noch andere Beschäftigten-gruppen, die auch nicht direkt beim Bundestag beschäf-tigt sind. Diese Beschäftigten haben wir auch im Blick.Deshalb soll die Bundestagsverwaltung noch einmal in-tensiv prüfen, welche ausgegliederten Dienstleistungser-bringer wieder direkt beim Bundestag angestellt werdenkönnen. Dabei müssen natürlich die Belange der Be-schäftigten in Bezug auf Arbeitsentgelt und Arbeitsbe-dingungen sorgfältig mit betrieblichen Überlegungenwie zum Beispiel im Hinblick auf Qualität und Sicher-heit abgewogen werden.Ich weiß, dass die Struktur des Bundestages mit Sit-zungswochen und sitzungsfreien Zeiten nicht einfach ist.Dennoch muss es doch Wege geben, möglichst viele Be-schäftigte fair und sicher beim Bundestag anzustellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitglieder desÄltestenrates, der Inneren Kommission und des Aus-schusses für Arbeit und Soziales, ich bitte Sie, sich mög-lichst zeitnah mit dem Antrag zu beschäftigen und ihndem Plenum so schnell wie möglich zur Abstimmungvorzulegen. Bitte geben Sie sich einen Ruck und ent-scheiden Sie sich für bessere Arbeitsbedingungen und
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10596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Beate Müller-Gemmeke
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bessere Löhne für das Sicherheitspersonal. Die Beschäf-tigten haben diese Wertschätzung verdient.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger. Die
Kollegen der anderen Fraktionen werden ihre Reden zu
Protokoll1) geben.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist wirklich schon ein bisschen spät. Heute binich einmal die letzte Rednerin. Da mir der Antrag relativwichtig ist,
finde ich es aber bedeutsam, heute Abend noch hierzu zusprechen. Schließlich geht es – diesbezüglich stimme ichdem Antrag der Fraktion der Grünen voll zu – um dieGlaubwürdigkeit unseres Parlaments und die Vorbild-funktion des Gesetzgebers, was die Arbeitsbedingungenund die Bezahlung der Beschäftigten in diesem HohenHause betrifft.Zweitens – lassen Sie mich das an dieser Stelle auchsagen – geht es darum, einfach einmal all denjenigen einherzliches Dankeschön zu sagen, die täglich dafür sor-gen, dass unser Umgang hier miteinander geregelt ist.Dabei geht es nicht nur um das Wach- und Sicherheits-personal, sondern auch um die Personen, die an den Gar-deroben, den Fahrstühlen und den Pforten arbeiten, so-wie um das Reinigungspersonal und die im Bereich derHaustechnik Beschäftigten.
Ihnen allen gehört der Applaus und das Lob dafür, dasssie den parlamentarischen Betrieb aufrechterhalten undwir unsere Arbeit hier verrichten können.Nun aber zum Antrag, der zunächst grundsätzlich be-sagt, dass möglichst alle Vollzeitbeschäftigten von ihremEinkommen leben können sollen, ohne dass sie zusätzli-che Sozialleistungen erhalten. Das ist sozialdemokrati-sche Politik. Wir sind der Meinung, dass generell in al-len Bereichen der Arbeitswelt faire Löhne gezahltwerden müssen. Es geht um faire Löhne, die sicherstel-len, dass Frau oder Mann nicht auf dem Amt zu einemBittsteller gegenüber dem Staat wird, um faire Löhne,die ausreichen, um monatlich wirklich über die Rundenkommen zu können.Gerade weil wir das wollen, haben wir vor zwei Wo-chen hier im Deutschen Bundestag einen neuen Anlauffür einen flächendeckenden existenzsichernden Mindest-lohn unternommen.
1) Anlage 26Ein entsprechender Gesetzentwurf der SPD sieht eineLohnuntergrenze von 8,50 Euro vor. Wer Leistungsge-rechtigkeit will, wer also will, dass es gute und anstän-dige Löhne für gute Arbeit gibt, der weiß, dass wir die-sen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland brauchen;
denn ein gesetzlicher Mindestlohn verhindert Lohndum-ping, sorgt für einen fairen Wettbewerb zwischen denUnternehmen, entlastet den Bundeshaushalt und stärktnicht zuletzt die Binnennachfrage in diesem Land.Der Antrag besagt ganz konkret, dass die Wach- undSicherheitskräfte wenig Planungssicherheit haben, dadie Dienstleistungen durch den Bundestag alle sechsJahre neu ausgeschrieben werden. Auch diesem Aspektin Ihrem Antrag können wir zustimmen. Nur ein gesi-chertes und möglichst unbefristetes Arbeitsverhältnisbietet ein geeignetes Fundament, um gute Arbeitsbedin-gungen einfordern zu können. Nur ein gesichertes Ar-beitsverhältnis bietet die Grundlage für ein Leben ohneExistenzangst. Gerade ältere Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer brauchen diese Planungssicherheit. Wiralle wissen aus unzähligen Debatten hier im HohenHaus, wie schwierig es vor allem für Ältere ist, nachEintritt der Arbeitslosigkeit wieder Fuß auf dem Arbeits-markt zu fassen. Weil wir für faire Löhne und für sichereArbeitsverhältnisse sind, stimmen wir überein mit denForderungen, dass der Bundestag seiner Verantwortunggerecht wird und die Arbeitsbedingungen und die Ent-gelte der Wach- und Sicherheitskräfte verbessert.Dennoch gibt es einige weitere Punkte, die ich erwäh-nen möchte. Wir müssen uns, wenn wir faire Bedingun-gen für die Wach- und Sicherheitskräfte fordern, auchmit den Bedingungen der anderen Beschäftigten befas-sen, die bei externen Dienstleistern angestellt sind undihren Dienst hier im Bundestag verrichten.
Ich meine die Garderobenfrauen und -männer, den Pfor-tendienst und die Fahrstuhlführerleistungen. Die Situa-tion dieser Beschäftigten sollte in die gesamte Diskus-sion einbezogen werden. Weiterhin müssen wir unsselbstverständlich damit auseinandersetzen, was das fürdie Ausgabenseite des Bundestages bedeutet. Wenn dieDienstleistungen nicht mehr extern ausgeschrieben, son-dern vom Bundestag intern wahrgenommen würden,müssten wir damit rechnen, dass sich die Kosten mehrals verdoppeln. Dieser Aspekt kommt in dem Antrag et-was zu kurz.
Noch etwas ist zu beachten: Können alle der derzeiti-gen externen Dienstleister problemlos wieder in einDienstverhältnis intern im Bundestag übernommen wer-den, oder sind die Anforderungen, die der TVöD an dieQualifikationen der Beschäftigten stellt, nicht in man-chen Teilen so hoch, dass es gegebenenfalls Beschäftigtegeben wird, die der Bundestag nicht intern beschäftigenkann? Das würde bedeuten, dass sie wegen dieser hohen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10597
Petra Ernstberger
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Anforderungen eventuell in die Arbeitslosigkeit ge-schickt werden.Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bundestags-verwaltung bereits heute sehr genau darauf achtet, dassdie Dienstleistungen nicht immer an den Billigsten ver-geben werden. Es wird sehr wohl darauf geachtet undbestanden, dass das Vergaberecht in seinen Möglichkei-ten ausgeschöpft wird, zum Beispiel hinsichtlich derVergütung, der Überstunden, der Ausbildung, der Fort-bildung und auch der Frauenquote. Zudem wurde dieVerwaltung vom Ältestenrat verpflichtet, bei Ausschrei-bungen eine Tariftreueklausel aufzunehmen.Abschließend möchte ich anmerken, dass die Ent-scheidung darüber, ob eine Dienstleistung extern einge-kauft wird oder nicht, vom Präsidium des DeutschenBundestages getroffen wird. Die aktuelle Ausschreibungund der entsprechende Vertragsentwurf sehen vor, dasssich die Vergütung der Sicherheitsmitarbeiter an demEntgelttarif für das Wach- und Sicherheitsgewerbe Ber-lin und Brandenburg in der Fassung vom 22. November2010 orientiert. In diesem ist vorgesehen, dass der Stun-denlohn in der Zukunft auf 7,50 Euro erhöht wird.
– Das war netto, 7,50 Euro netto. – Zusätzlich sind sei-tens der externen Unternehmer umfangreiche Schu-lungsmaßnahmen sowie Investitionen für Ausrüstungund Ausstattung in eigener Verantwortung zu überneh-men.Wie so oft steckt der Teufel im Detail. Deshalb appel-liere ich, über das Thema in der Inneren Kommission,der Unterkommission des Ältestenrates, ausführlich zudiskutieren, damit wir diese Punkte klären. Der Bundes-tag hat diese Vorbildfunktion. Wenn es um Arbeitsbedin-gungen und Löhne geht, muss er dieser Vorbildfunktionauf diese Art und Weise gerecht werden. Der Kernpunktist doch: Wir müssen politisch entscheiden, was unswichtiger ist, die Kostenersparnis für den Bundeshaus-halt oder die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen derBeschäftigten, die uns hier das Leben erleichtern.Ich bedanke mich und wünsche allen noch einenschönen Abend.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4741 an den Ältestenrat und an den Aus-
schuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Zu den nächsten Tagesordnungspunkten wurden alle
Reden zu Protokoll gegeben. Trotzdem bitte ich Sie,
noch mit mir gemeinsam die formalen Dinge abzuwi-
ckeln, damit das ordentlich ins Protokoll kommt. Die
Namen der Redner sind schriftlich aufgeführt und wer-
den im Protokoll festgehalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Die Demokratische Republik Kongo stabilisie-
ren
– Drucksache 17/4691 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Demokratische Republik Kongo ist ein Schwer-
punkt des Engagements der Vereinten Nationen. Mit
20 000 VN-Blauhelmsoldaten im Kongo ist dies die
größte Blauhelmmission weltweit. Die VN haben hier
ein umfassendes und robustes Mandat zum Schutz der
Bevölkerung und der Stabilisierung und dem Wiederauf-
bau der Region geschaffen. Doch trotz eines breiten und
tiefgehenden multilateralen Einsatzes der VN, der EU
und anderer internationaler Institutionen sowie vielfäl-
tigen bilateralen Engagements durch die USA, Deutsch-
land und weitere Länder, hat sich die Menschenrechts-
lage, die politische und die wirtschaftliche Situation im
Kongo seit den Wahlen 2006 nur wenig verbessert. Die
Menschen im Kongo und die Bundesrepublik mit ihrer
Unterstützung haben großes Vertrauen in die Zeit nach
den Wahlen gesetzt. Die Lage heute ist sehr ernüchternd.
Zwar ist die Bedeutung des vielfältigen Einsatzes im
Kongo für die Sicherheit der Menschen und die Verbes-
serung ihrer Lebenslage klar erkennbar. Doch passiert
leider immer noch zu wenig, um einen nachhaltigen
Fortschritt anzustoßen. Dies wird einem umso deutli-
cher bei Betrachtung des Human Development Index, in
dem die Demokratische Republik Kongo den Platz 177
von 179 betrachteten Ländern belegt. Das BIP pro Kopf
liegt bei 178 US-Dollar, was einmal mehr die prekäre
Lage der Menschen verdeutlicht. Wenn ich hier fordere,
dass Deutschland sich stärker engagieren muss, dann ist
dies aber kein einseitiges Anliegen. Es ist für alle offen-
sichtlich, dass die Regierung der Demokratischen Repu-
blik Kongo sich aus der Verantwortung stiehlt und es
fast so wirkt, als bestünde kein Interesse der Eliten des
Landes, die Lage der über 60 Millionen anderen Ein-
wohner ihres Staates zu verbessern. Die verbreitete Kor-
ruption, die Vettern- und Misswirtschaft treten als
Symptome offen zutage. Auf dem Korruptionsindex von
Transparency International belegt die Republik Kongo
einen besorgniserregenden 162. von 180 Plätzen. Hier
müssen wir als Bundesrepublik die Demokratische Re-
publik Kongo zur Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien
drängen. Auch unsere Zusammenarbeit muss von der
Erfüllung verbindlicher Ziele abhängig gemacht wer-
den. Dies sollte sogar bis zur Verhängung von Sanktio-
nen führen. Es kann nicht sein, dass die Bundesrepublik
mit ihren Trägern der Entwicklungszusammenarbeit ge-
radezu verhöhnt wird, wie es kürzlich bei dem Vorgehen,
bar jeder Grundlage, der kongolesischen Justiz gegen
Hartwig Fischer
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die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit der
Fall war. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist
wertegebunden. Daher muss es in Zukunft möglich sein,
die Zusammenarbeit mit korrupten Regionen vollständig
einzustellen. Zum Kampf gegen die Korruption gehört
die Einrichtung einer unabhängigen Behörde, die über
Antikorruptionsmaßnahmen wacht. Ebenso muss eine
vernünftige Bezahlung der Beamten und Richter ange-
strebt werden, damit der Anreiz zu bestechlichem Ver-
halten minimiert wird.
Die im Januar beschlossene Verfassungsänderung,
die die Machtposition des Präsidenten Kabila ausbaut,
ist ein Auswuchs der Korruption und Missachtung
rechtsstaatlicher Prinzipien. Die in der Verfassung fest-
geschriebene Dezentralisierung wird eingeschränkt.
Dabei ist gerade die Stärkung der Provinzen für ein
Land, das über sechsmal so groß wie Deutschland ist,
unabdingbar. Nur so kann sich an der Lage der Men-
schen fernab der Hauptstadt Kinshasa etwas ändern.
Die gewollte Machtakkumulation in der Hauptstadt ver-
stärkt vielmehr den Kontrollverlust, der sich nicht nur in
der Desertion und dem Überlaufen der eigenen Soldaten
zu verschiedensten Rebellenmilizen im Osten des Landes
äußert. Die Reform des Sicherheitssektors muss drin-
gend angegangen werden. Dazu werden die EUSEC und
die EUPOL einen wichtigen Beitrag leisten können und
müssen. Dennoch gibt es auch hier noch große Pro-
bleme. Beispielsweise fehlende Soldzahlungen, die die
Loyalität der kongolesischen Armee beeinträchtigen.
Es sind gerade auch die eigenen Soldaten der kongo-
lesischen Armee Forces Armées de la République Démo-
cratique du Congo, FARDC, die für massive Menschen-
rechtsverletzungen verantwortlich sind. In diesem Sinne
ist es nicht nachvollziehbar, warum die DRC nicht längst
die in der Verfassung vorgeschriebene nationale Men-
schenrechtskommission einberufen hat. Zwar hat die
kürzliche Verurteilung von ranghohen kongolesischen
Soldaten für Massenvergewaltigungen ein wichtiges Si-
gnal gesetzt, doch befindet sich der Kongo auch hier
noch am Beginn eines langen und steinigen Weges. Hier
müssen wir als Bundesrepublik mehr Mittel und Projekte
bereitstellen, um die Opfer von Massenvergewaltigun-
gen zu betreuen.
Beunruhigend ist auch, dass die MONUSCO mit
20 000 Soldaten den Ostkongo noch nicht wirklich befrie-
den konnte. Es darf nicht sein, dass die UN-Blauhelmsol-
daten auch in Vorwürfe der Massenvergewaltigung ver-
strickt werden. So verlieren die Vereinten Nationen ihre
Glaubwürdigkeit. Die Bestrebungen, den Anführer der
Lord’s Resistance Army, Joseph Kony, dem Internationa-
len Strafgerichtshof in Den Haag zu überstellen, müssen
vorangetrieben werden. Die FARDC kann hier ihrem
Auftrag gerecht werden und die vielen zerstreuten Mili-
zen wirksam bekämpfen. Unter diesem Zeichen steht
auch das DDRRR-Programm, Disarmament, Demobili-
zation, Repatriation, Resettlement and Reintegration,
der MONUSCO, das versucht, ausländischen Kombat-
tanten ihre Anreize zum Kampf zu nehmen. Zusätzlich
brauchen wir ein Zertifizierungssystem für die Rohstoffe
aus dem Ostkongo. Hier liegen zum Beispiel über
80 Prozent der weltweiten Coltan-Vorkommen. Nur die
Zu Protokoll
Zertifizierung der Rohstoffe sichert, dass alle Staaten zu
Weltmarktpreisen die für die Hightechindustrie wichti-
gen Rohstoffe kaufen können. Gleichzeitig wird damit
erreicht, dass die Wertschöpfung aus der Rohstoffförde-
rung in den kongolesischen Haushalt fließen kann und
damit für die wesentlichen Staatsaufgaben nutzbar ist.
Doch durch die Kontrolle von illegalen Minen durch die
Milizen sprudelt weiter eine Geldquelle, die den Konflikt
am Laufen hält. Diese Quelle gilt es zum Versiegen zu
bringen. Nur so kann ein wichtiger Schritt hin in Rich-
tung einer Verbesserung des Lebens der Menschen im
Ostkongo gemacht werden.
In den letzten Tagen und Wochen gab es viele ermuti-gende Nachrichten aus Nordafrika. Die Menschendemonstrieren dort für ihre Freiheitsrechte und versu-chen, sich ihrer korrupten Herrschaftscliquen zu entle-digen. Diese guten Nachrichten hören wir aus der De-mokratischen Republik Kongo, der rohstoffreichstenRegion Afrikas, nicht. Wir hören oder lesen in den Me-dien in der letzten Zeit kaum einmal etwas über das, wasin diesem Land zurzeit passiert, und das vielleicht des-halb, weil sich die Öffentlichkeit an die Berichte überdie grauenhaften Zustände, die dort seit vielen Jahrenherrschen, gewöhnt hat. Ob Mord, Vertreibung, Verge-waltigung, Missbrauch von Kindern, Korruption, feh-lende oder mangelhafte Grundversorgung mit sauberemTrinkwasser oder Gesundheitsversorgung – all daskennzeichnet die Situation in weiten Teilen dieses Lan-des seit vielen Jahren.Wie schlimm die Situation vor Ort ist, vermag sich einAußenstehender kaum vorzustellen. Gerade ich als Fraufühle mich betroffen, wenn ich von Massenvergewalti-gungen und Gewaltexzessen gegen Frauen und Mäd-chen höre. Die offiziellen Zahlen, die der Antrag zu die-sen Gräueltaten zitiert, sind für sich genommen schonschrecklich – doch die Dunkelziffer wird noch unvor-stellbar höher sein. Nicht jede Frau ist so mutig wieAnna Mburano aus dem Dorf Luvungi im östlichenKongo und berichtet darüber, wie sie am 30. Juni letztenJahres als 80-Jährige nacheinander von vier Milizionä-ren vergewaltigt wurde – quasi vor den Augen untätigerBlauhelmsoldaten. Solche Schicksale machen einem dasunendliche Leid hinter den Statistiken deutlich, das un-zählige Menschen in der Demokratischen RepublikKongo tagtäglich aushalten müssen. Menschen wieAnna Mburano schulden wir es, trotz aller Misserfolgenach Mitteln und Wegen zu suchen, dieses Land zu stabi-lisieren und den Menschen eine Zukunft ohne Gewaltund Angst zu ermöglichen.Der Antrag, über den wir heute beraten, listet vieleder Missstände in der Demokratischen Republik Kongoklar und ehrlich auf. Allein das Wort „katastrophal“wird sechsmal benutzt, um die Situation in einzelnen Be-reichen zu beschreiben! Diese Form der ehrlichenBestandsaufnahme brauchen wir, wenn wir darüber dis-kutieren, was wir anders machen können, um die Lagedort zu verbessern, und wer für das Elend zuständig ist.Zu allererst ist dafür der korrupte und selbstsüchtigeMachtapparat um Präsident Kabila verantwortlich.
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10598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenSibylle Pfeiffer
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Durch die von uns unterstützten Präsidentschaftswahlen2006 ist er an die Macht gelangt, und er lässt bis heutefast jedes Bemühen um gute Regierungsführung vermis-sen.Aber es werden auch offen die Versäumnisse derUN-Mission MONUSCO angesprochen. Sie ist mit20 000 Blauhelmen und einem robusten Mandat ausge-stattet und die größte UN-Mission derzeit. Doch es fehltihr an Disziplin, Ausbildung, geeigneter Ausrüstung wieHubschraubern und offensichtlich auch an Truppen-stärke, um ihrem Auftrag, dem Schutz der Zivilbevölke-rung, gerecht zu werden. Schlimmer noch: Es gibtglaubwürdige Berichte darüber, dass selbst Blauhelm-soldaten an schlimmen Menschenrechtsverletzungen be-teiligt sind. Das ist ein Desaster für die nach Sicherheitsuchenden Menschen, aber auch für die Glaubwürdig-keit der Blauhelmsoldaten insgesamt. Leider sind auchdie nationale Armee und Polizei nicht in der Lage, imLand für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Bevölke-rung vor Übergriffen zu schützen. Weder scheinen dieSicherheitskräfte militärisch in der Lage zu sein, effektivgegen Rebellengruppen und Milizen vorgehen zu kön-nen, noch schaffen es Polizei und Justiz, dem Rechts-staat Geltung zu verschaffen. Sie sind zu einem Teil derProbleme in diesem Land geworden.Dabei ist gerade die Reform des Sicherheitssektorsund dessen Unterstützung ein großes Anliegen der inter-nationalen Gemeinschaft und der Bundesregierung ge-wesen. Trotz einiger kleiner Teilerfolge muss man heuteernüchtert feststellen, dass uns die Unterstützung undBegleitung dieser Reformbemühungen insgesamt nichtgelungen ist. Hauptsächlich liegt das an der zu schwa-chen, korrupten und offensichtlich unwilligen Exekutive,den Versprechungen und Verpflichtungen gegenüber derinternationalen Gemeinschaft nachzukommen. Dahermüssen wir den politischen Druck erhöhen und im Zwei-felsfall auch bereit sein, die notwendigen Konsequenzenzu ziehen. Lange Zeit war der Begriff „Konditionalisie-rung“ in der Entwicklungspolitik verpönt. Doch wirmüssen einsehen, dass eine Kooperation ohne dieseForm der Sanktionsandrohung mit der RegierungKabila kaum mehr möglich scheint. Daher unterstütztdie Unionsfraktion auch ausdrücklich die Bundesregie-rung darin, Programme der bilateralen Entwicklungs-politik bei ausbleibendem Erfolg entsprechend zu sank-tionieren. Das ist nicht nur für die Glaubwürdigkeitunseres Engagements, sondern auch für die langfristigeAusrichtung der Zusammenarbeit mit der Demokrati-schen Republik Kongo dringend nötig. Wir müssen dieRegierung dieses Landes in die Pflicht und Verantwor-tung nehmen und dürfen nicht zulassen, dass Korruptionund Misswirtschaft folgenlos bleiben. Und wenn nichtnur die Bundesregierung, sondern auch andere natio-nale und internationale Geber diesem Beispiel folgenund wir der illegalen Rohstoffökonomie Herr werdenwürden, dann dürfte das für Präsident Kabila und seineRegierung mittel- und langfristig spürbare Folgen ha-ben. Nur so können wir es schaffen, dass die Menschender Demokratischen Republik Kongo eine Regierung be-kommen, die bereit ist, die katastrophalen Lebensbedin-Zu Protokollgungen zu verbessern und der Bevölkerung ein men-schenwürdiges und gewaltfreies Dasein ermöglicht.
Die Positionen im Antrag der CDU/CSU und FDPstimmen in weiten Punkten mit unseren Überzeugungenüberein, sodass die Möglichkeit besteht, einen gemein-samen Berichtsbeschluss des Auswärtigen Ausschussesfür den Bundestag zu erreichen. Für die Debatte möchteich folgende Bereiche herausgreifen:Die Sicherheitslage im Kongo verschlechtert sich zu-sehends. Besonders betroffen sind Frauen und Mäd-chen, die neben alltäglicher Diskriminierung in ihrenMenschenrechten massiv verletzt werden. SexuelleÜbergriffe in Form von Massenvergewaltigungen wer-den von Gewaltgruppen im Osten des Kongos gezielteingesetzt, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. SeitMitte der 90er-Jahre wurden mehr als 200 000 Verge-waltigungen registriert. Damit gehört die Demokrati-sche Republik Kongo zu den Ländern mit der größten se-xuellen Gewalt weltweit. Der UN-Sicherheitsrat hat ineiner Resolution festgestellt, dass Massenvergewalti-gungen, die in Konflikten als Kriegswaffe eingesetztwerden, Kriegsverbrechen sind. Demnach ist die kongo-lesische Regierung aufgefordert, derartige Kriegsver-brechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ei-genen Land zu verurteilen. Hilfe beim Aufbau von Justizund rechtsstaatlichen Strukturen soll von der internatio-nalen Gemeinschaft schwerpunktmäßig vorangebrachtwerden. Wenn die kongolesische Regierung ihre Ver-pflichtungen nicht einlöst, ist die internationale Gemein-schaft verpflichtet, die Verbrecher und ihre Namen zu er-mitteln und vor den Internationalen Strafgerichtshof inDen Haag zu bringen.80 Prozent der weltweiten Vorkommen von Coltan,das für die Handyproduktion benötigt wird, befindensich im Kongo. Zudem läuft ein Kupfergürtel durch dasLand, der ein Zehntel der weltweiten Kupferreservendarstellt. Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischendem Ressourcenreichtum des Landes und der krassenArmut der Bevölkerung. Von den Rohstoffen des Landesprofitieren meist ausländische Unternehmen, die sichdurch entsprechende Vertragsregelungen beträchtlicheErträge sichern – zum Nachteil der kongolesischenWirtschaft und der dort lebenden Menschen. Bei einerÄnderung der Verträge stünde ein Vielfaches dieser Mit-tel für die Armutsbekämpfung zur Verfügung.Die Offenlegung von Gewinnung, Ex- und Import vonRohstoffen sowie der damit zusammenhängenden Ver-träge und Finanzflüsse wäre ein wichtiger Schritt inRichtung mehr Transparenz. Es muss eine bessere Zerti-fizierung von Handelsketten im Bereich mineralischerRohstoffe geben. Die Verpflichtung zur Transparenz darfdabei nicht nur im Herkunftsland der Rohstoffe beste-hen, sondern muss auch bei den beziehenden Unterneh-men und Staaten liegen. Ein Meilenstein für mehr Trans-parenz im Ressourcenbereich ist ein Gesetz der USA.Demnach sind amerikanische Unternehmen ab 2012nach der sogenannten Cardin-Lugar-Klausel verpflich-tet, ihre Zahlungen an ausländische Regierungen auf
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10599
gegebene RedenHeidemarie Wieczorek-Zeul
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Länder- und Projektbasis detailliert offenzulegen. Rund90 Prozent aller international operierenden Ölfirmensind von dieser Regelung betroffen.Wir fordern die Bundesregierung daher auf, auf euro-päischer Ebene eine ähnliche gesetzlich verpflichtendeRegelung zu entwickeln, damit Unternehmen ihre Zah-lungsströme an Regierungen offenlegen müssen.
Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in der De-mokratischen Republik Kongo bleibt auch fünf Jahrenach den ersten freien Wahlen im Land katastrophal. ImOsten des Landes sind – man muss es leider so drastischformulieren – Vergewaltigungen an der Tagesordnung.Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat allein indiesem Jahr bereits mehr als 200 Vergewaltigungsopferbehandelt. Zuletzt wurden am Montag dieser Woche56 Frauen und Männer nach einer Massenvergewalti-gung medizinisch versorgt. An den Vergehen sind keines-wegs nur marodierende Banden beteiligt: An Neujahrvergewaltigten Mitglieder der kongolesischen Armeemehr als 50 Frauen in der Ortschaft Fizi in der ProvinzSüdkivu. Der einzige kleine Lichtblick in dieser Angele-genheit: Erstmals wurde anschließend ein hochrangigerAngehöriger der Streitkräfte nach einer solchen Tat vorGericht gestellt und zu einer 20-jährigen Haftstrafe ver-urteilt.Die geschilderten Beispiele sind keine Einzelfälle.Die Vereinten Nationen haben allein im vergangenenJahr rund 11 000 Vergewaltigungen registriert. DieDunkelziffer dürfte noch weit darüber liegen. Seit Mitteder 90er-Jahre sind über 200 000 Vergewaltigungen imLand registriert worden, auch hier liegt die Dunkelzifferwohl deutlich höher. Vergewaltigungen und andere For-men sexualisierter Gewalt, die mit der VN-Sicherheits-ratsresolution 1820 als Kriegsverbrechen und Verbre-chen gegen die Menschlichkeit besonders geächtet sind,werden von bewaffneten Gruppen in der Demokrati-schen Republik Kongo systematisch als Einschüchte-rungs- und Herrschaftsstrategie eingesetzt.Die internationale Gemeinschaft hat sich in unter-schiedlicher Form im kongolesischen Friedensprozessstark engagiert, auch bei den Präsidentschafts- undParlamentswahlen 2006. Schon damals hatte meineFraktion zu Recht angemahnt, dass zwar Wahlen einwichtiger Schritt sind, dass es aber ein Follow-up-Kon-zept geben muss. Schon damals haben wir eine bessereund koordinierte Unterstützung von EUSEC undEUPOL gefordert, gerade im Nachgang der Wahlen.In diesem Jahr stehen wieder Wahlen an im Kongo.Man sollte dann auch einen Blick darauf werfen, wie dieSituation vor Ort aussieht. Leider muss man feststellen:Es hat sich nicht viel verändert in fünf Jahren. Die Si-cherheits- und Menschenrechtslage im Land ist nach wievor katastrophal. Teile des Ostkongo sind nach wie vornicht befriedet, Rebellengruppen treiben ihr Unwesen,und Vergewaltigungen sind dort alltägliches Geschehen.Auch bezüglich der versprochenen Reformen der maro-den Strukturen von Polizei und Armee fällt das Fazitnicht gut aus. Presseberichte beschreiben die Armee alsZu Protokollundisziplinierte und schlecht ausgerüstete Truppe. In ih-ren Reihen finden sich international gesuchte Kriegsver-brecher, und ihre Mitglieder beteiligen sich in zahlrei-chen Fällen an Vergewaltigungen und anderer Gewaltgegen die Zivilbevölkerung. Die Sicherheitssektorre-form hatte trotz europäischer und internationaler Pro-gramme von Anfang an Probleme: den mangelndenReformwillen der kongolesischen Regierung, die gras-sierende Korruption, aber auch fehlende Abstimmungder Programme untereinander.Nicht nur im sicherheitspolitischen Bereich ist die Bi-lanz schlecht, auch bei eher zivilen, innenpolitischenThemen gibt es kaum Fortschritte zu berichten. DieMenschenrechtssituation im Land bleibt katastrophal.Dies betrifft nicht nur die schon geschilderten Fälle vonVergewaltigungen, sondern auch die Lage von Journa-listen und Menschenrechtsaktivisten. Die Ermordungdes über die Landesgrenzen hinaus bekannten AktivistenFloribert Chebeya Bahizire im Juni 2010 macht deut-lich, welchen Gefahren Regimekritiker in der Demokra-tischen Republik Kongo ausgesetzt sind. Eine Kommis-sion zur Aufklärung des Falls wurde erst auf massiveninternationalen Druck hin ins Leben gerufen. Ob dermittlerweile vor einem Militärgericht eröffnete Prozessrechtsstaatlichen Kriterien genügt, muss bezweifelt wer-den.Nach wie vor sehen wir ein Klima der Straflosigkeit.Eine unabhängige Justiz, die solche Fälle unabhängigaufklären und zur Anklage bringen würde, fehlt. Das be-trifft nicht nur aktuelle Fälle, sondern auch die systema-tische Aufarbeitung der Verbrechen, die in den Konflik-ten seit Mitte der 90er-Jahre und zuvor unter derHerrschaft Mobutus begangen wurden. Korruption istein zentrales Merkmal des öffentlichen Lebens. Dies be-weist auch der Korruptionsindex von Transparency. DieDemokratische Republik Kongo landet hier regelmäßigin der Gruppe der korruptesten Staaten dieser Erde.Auch hier hat die kongolesische Regierung viel verspro-chen, passiert ist wenig. Trotz mehrerer groß angekün-digter Kampagnen hat sich nämlich nichts geändert:Die Aktionsprogramme der Regierung Kabila 2008 und2009 dienten der Entfernung unbequemer und der In-stallation regimetreuer Beamter. Denn der Vorwurf derKorruption kann dabei gezielt als Waffe eingesetzt wer-den, um missliebige Provinzgouverneure zu entfernen.Was aber besonders schwer wiegt, ist die Tatsache,dass die kongolesische Regierung ihre eigenen zentralenReformaufträge der neuen Verfassung nicht umgesetzthat. So hat sie weder die von der Verfassung geforderteNationale Menschenrechtskommission eingesetzt, nochdie geforderte föderale Neugliederung des Staatsgebie-tes vorgenommen. Die Politik der Regierung lässt denSchluss zu, dass es ihr eher daran gelegen ist, weitereMacht zu akkumulieren, als dem in der Verfassung durcheine Ewigkeitsklausel geschützten Auftrag zur dezentra-len Neustrukturierung des Landes nachzukommen. Hin-weise hierfür liefert die von der Regierung eingesetzteVerfassungskommission, die unter anderem für eine Aus-dehnung der Amtszeit und mehrmalige Wiederwahl desPräsidenten sowie für eine Kürzung des Anteils der Pro-vinzen an den Steuereinnahmen plädiert.
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10600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenMarina Schuster
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Mit unserem Antrag wollen wir da ansetzen, wo nachden letzten Wahlen 2006 leider nicht energisch genugnachgesetzt wurde. Unser Antrag hat daher zum Ziel,eine wirksamere Politik gegenüber der DemokratischenRepublik Kongo zu formulieren, die mehr von der kon-golesischen Regierung einfordert und der dortigen Be-völkerung zugutekommt. Bereits viel zu lange hat diekongolesische Regierung die Umsetzung der von ihr ver-langten Reformschritte lustlos schleifen lassen und stief-mütterlich als technische Lästigkeiten behandelt. Es istan der Zeit, dass die Regierung das klare, eindeutige po-litische Signal der internationalen Gemeinschaft erhält,dass Kinshasa den politischen Willen entfaltet und diedringend notwendigen Schritte entschlossen, zügig undnachhaltig umsetzen muss. Daher werden wir insbeson-dere für eine stärkere Konditionalisierung bei der Ver-gabe von Mitteln und Programmen der bilateralen Ent-wicklungshilfe sorgen. Diese müssen vor allem aufFortschritte bei der Durchsetzung und dem Schutz derMenschenrechte abzielen. Außerdem müssen die bereitslaufenden Sicherheitssektorreformen auf ihre Wirksam-keit hin überprüft und stärker mit den internationalenPartnern abgestimmt werden. Bei all dem muss klarsein, dass die kongolesische Regierung die Verantwor-tung für die Politik in ihrem Land trägt.Während die Weltöffentlichkeit derzeit ihren Blick inAfrika besonders auf Sudan und die anhaltende Krise inder Elfenbeinküste richtet, darf nicht vergessen werden,dass der Friedens- und Konsolidierungsprozess in derDemokratischen Republik Kongo von zentraler Bedeu-tung für die Stabilität und die Entwicklung der gesamtenRegion ist. Dabei bleibt viel zu tun. Hierzu leistet unserAntrag einen wichtigen Beitrag.
Vor genau einer Woche, am 17. Februar 2011, haben50 kongolesische Menschenrechtsorganisationen einendramatischen Appell unterzeichnet. Sie berichten darinvon systematischen Einschüchterungen und Morddro-hungen durch die kongolesische Polizei und das Militär.Diese Drohungen müssen ernst genommen werden. Derbekannteste kongolesische Menschenrechtsaktivist,Floribert Chebeya, wurde im vergangenen Juni getötetaufgefunden, nachdem er einer Aufforderung des Poli-zeipräsidenten Folge leistend das Hauptquartier der Po-lizei in Kinshasa aufgesucht hatte. Ende September letz-ten Jahres wurden die Menschenrechtsanwältin NicoleBondo Mwaka, der Leiter eines belgischen Hilfsprojek-tes, Armand Tungulu, und eine weitere Juristin von derPräsidentengarde festgenommen und verprügelt. Ar-mand Tungulu wurde dann am 2. Oktober 2010 tot inseiner Zelle aufgefunden. Dies sind nur einige wenigeBeispiele, die ich hier nennen möchte, weil es diese mu-tigen Menschen verdient haben, dass man sie würdigt.Das Europäische Parlament hat aber festgestellt, dasses sich hier um einen eindeutigen Trend handelt, dass„viele nichtstaatliche Organisationen im vergangenenJahr eine zunehmende Unterdrückung von Menschen-rechtsaktivisten, Journalisten, Oppositionsführern, Op-fern und Zeugen in der Demokratischen Republik Kongoeinschließlich Tötungen, rechtswidriger Verhaftungen,Zu ProtokollVerfolgungen, Drohanrufen und wiederholten Vorladensbei den Geheimdienststellen beobachtet haben“.Sowohl dem Rat der Europäischen Union als auchder Bundesregierung ist bekannt, dass die allermeistenMenschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Re-publik Kongo auf die Polizei und das Militär zurückge-hen, die seit Jahren von Deutschland und der EU ausge-rüstet und ausgebildet werden. Und da kommen Sie mitdiesem Antrag und fordern „eine spürbare finanzielleund personelle Verbesserung der EUSEC- und EUPOL-Missionen“. Im Rahmen der Mission EUPOL Kinshasawurden für 10 Millionen Euro sogenannte IntegriertePolizeieinheiten in der Hauptstadt aufgebaut. Das sindEinheiten, die dazu da sind, Demonstrationen aufzulö-sen. Das sind letztendlich Einheiten, die dazu da sind,Menschenrechte zu verletzen. Diese Einheiten wurdenim Rahmen der EUPOL-Mission mit „Schutzschilden,Helmen, Schlagstöcken und Tränengas sowie Maschi-nenpistolen der Marke UZI“ ausgestattet. Und dieHälfte dieses Geldes stammte zudem noch aus demEuropäischen Entwicklungsfonds. Das ist ein Skandal!Das ist ein Skandal, der sich hervorragend einpasstin die aktuellen Ereignisse in Nordafrika und auf derarabischen Halbinsel, wo sich vom Westen unterstützteDiktatoren mit Waffen aus Europa gegen ihre eigene Be-völkerung zur Wehr setzen, wo von Deutschland und derEU ausgebildete Soldaten und Polizisten auf Demonst-ranten losgehen. Der heutige Staatspräsident der Demo-kratischen Republik Kongo, Kabila, wurde unter demSchutz einer EU-Militärmission „gewählt“. Anschlie-ßend ließ er den unterlegenen Kandidaten und Opposi-tionsführer Bemba von seiner Armee aus dem Landjagen. Belgien ließ den Oppositionsführer dann festneh-men, und heute sitzt Bemba in Den Haag in Haft. Magsein, dass er dorthin gehört. Dass Deutschland und dieEU aber tolerieren, dass andere Kriegsverbrecher in derkongolesischen Armee ungestört ihren Dienst tun undsogar – wie Bosco Ntaganda – in führende Posten derArmee befördert werden, ist unerhört. Diese Armee, dieauch Kindersoldaten umfasst, wird im Rahmen derEUSEC-Mission beraten und unterstützt und erhält Waf-fen und Ausrüstung – teilweise kostenlos – aus Europa.Dass der vorliegende Antrag den EU-Militäreinsatzzur Absicherung der Wahl Kabilas als Beitrag zu den„bisher erzielten Erfolgen“ lobt, ist grotesk. Dieser Ein-satz war ein militärischer Einsatz zur Absicherung einerder schlimmsten Diktaturen in ganz Afrika. Vieles wirdja richtig benannt in Ihrem Antrag, dass die Menschen-rechtslage unter Kabila „katastrophal“ ist, dass sich derKrieg in einigen Regionen intensiviert hat und auf an-dere Regionen übergegriffen hat. Vor diesem Hinter-grund fordern Sie mehr Geld für die kongolesische Poli-zei und das kongolesische Militär, mehr Geld, daseigentlich für Entwicklungshilfe und humanitäre Not-hilfe gedacht ist, das bei der Versorgung der über 2 Mil-lionen Binnenvertriebenen fehlt.Entlarvend ist auch der einzige tatsächliche „Erfolg“des deutschen und des europäischen Engagements amKongo, den Sie in Ihrem Antrag nennen: die Annahmeund Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahre
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10601
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim Dağdelen2005. An dieser Stelle ist der Antrag nämlich schon wie-der veraltet, denn die Verfassung wurde kürzlich durchKabila und seine geschmierten Anhänger im Parlamentwieder geändert, um dessen Wiederwahl zu sichern.Künftig soll der Präsident nur noch in einem Wahlganggewählt werden. In einem Land, in dem jegliche Opposi-tion mit Militär und Polizei unterdrückt wird, ermöglichtdies eine Wiederwahl schon mit 20 Prozent der Stimmen,die sich auch kaufen lassen.Wie die Repression gegen die Opposition aussieht,konnte man etwa am 15. Dezember 2010 in Goma beob-achten. Damals wollte einer der aussichtsreichsten Prä-sidentschaftskandidaten außer Kabila, Vital Kamerhe,in der wichtigen Provinzhauptstadt Goma eine Rede hal-ten. Die Regierung untersagte diese Veranstaltung, unddie Polizei trieb seine Anhänger mit Tränengas undWarnschüssen auseinander. Auch in Goma unterhält dieEUPOL einen Stützpunkt, und sie ist an der Ausbildungder Polizei beteiligt. Angehörige der EUPOL-Missionseien aber bei den Vorfällen nicht anwesend gewesen.Das behauptet die Bundesregierung zu wissen. Zugleichaber behauptet sie, dass sie nicht wüsste, welche Poli-zeieinheiten an der Verhinderung der Wahlkampfveran-staltung beteiligt waren. Offensichtlich ist es ihr auchegal, oder sie will es gar nicht wissen, was die von ihrausgebildeten und ausgestatteten Polizisten im DiensteKabilas anrichten.Was uns an Libyen dieser Tage schockiert, dass Sol-daten aus Hubschraubern auf Zivilisten feuern, ist amKongo fast schon Alltag. Es muss endlich Schluss seinmit der polizeilichen und militärischen Unterstützungvon Despoten. Die Einsätze EUPOL und EUSEC stehensymbolisch für diese Politik und müssen deshalb sofortbeendet werden – und nicht etwa ausgeweitet, wie es dervorliegende Antrag fordert.
Als Partnerland der deutschen Entwicklungszusam-menarbeit ist Deutschland in vielfältiger Weise imKongo aktiv und unterstützte das Land im Jahr 2009 ineiner Höhe von 82,2 Millionen Euro. Das RiesenlandKongo hat viele Schätze. Es geht im Kongo nicht nur umMenschenrechte, mehr Demokratie, Kampf gegen Kor-ruption und mehr Rechtsstaatlichkeit, sondern auch umden Erhalt der Artenvielfalt.Ich bin alarmiert, weil die kongolesische Regierungplant, die Erlaubnis zu geben, Öl im Virunga-National-park zu fördern. Das wäre ein grotesker Rückschritt fürall die Bemühungen, diesen Park zu erhalten. Diesereinzigartige Park gehört zum Weltkulturerbe derUNESCO. Hervorzuheben ist, dass dort die seltenenBerggorillas leben, die letzten ihrer Art. Wir müssen un-seren ganzen Einfluss geltend machen, um zu verhin-dern, dass dieses wertvolle Stück Erde von kurzfristigdenkenden Ölkonzernen zerstört wird. Vor allem im Hin-blick auf die Wahlen im November 2011 muss dieChance genutzt werden, die Öffnung des Parks für eineÖlförderung zu verhindern. Mit der MONUC, die ab Julials MONUSCO weiter präsent sein wird, steht in derDemokratischen Republik Kongo die größte Friedens-Zu Protokollmission der Vereinten Nationen weltweit. Leider konnteauch die MONUC in der Vergangenheit nicht verhin-dern, dass es immer wieder zu unvorstellbaren Grau-samkeiten gegen die Zivilbevölkerung kam. Zu denschlimmsten zählen die Massenvergewaltigungen, Tätergibt es dabei auf allen Seiten. Der Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat imNovember die Massenvergewaltigungen aufs Schärfsteverurteilt. Die Bundesregierung muss sich gegenüberder kongolesischen Regierung dafür einsetzen, dassdiese Form der sexualisierten Gewalt verhindert wird.Das Mandat der MONUSCO muss angepasst und vor al-lem präzisiert werden. Bei sexualisierter Gewalt gegenFrauen und Kinder darf die internationale Gemein-schaft nicht wegschauen.Die Befriedung des Kongo ist eine Herkulesaufgabe.40 Jahre Krieg, 30 000 Kindersoldaten, Millionen Tote,Vertriebene und Traumatisierte. Langfristig braucht derKongo einen funktionierenden Sicherheitssektor, umselbstständig für die Sicherheit seiner Bürgerinnen undBürger Sorge tragen zu können. Allein am Willen der Be-teiligten hat es in der Vergangenheit allzu oft gemangelt.Vor allem die kongolesische Regierung muss sich danoch sehr weit bewegen. Ich begrüße es, dass die deut-sche Regierung die Reform des Sicherheitssektors unter-stützt, indem sie den Aufbau der kongolesischen Polizeidurch die Gesellschaft für Internationale Zusammenar-beit, also die neue GIZ, unterstützt und darüber hinauszur Demobilisierung und Reintegration von ehemaligenSoldaten und Kindersoldaten beiträgt. Allerdings kanndie internationale Gemeinschaft hier noch viel mehrtun – und sie muss es tun. Denn die international ge-wünschten Rohstoffe wirken für die Konflikte im Kongoals Brandverstärker.Die Demokratische Republik Kongo ist ein Parade-beispiel für das „paradox of plenty“. Das Land ist ex-trem reich an Rohstoffen – gleichzeitig lebt die Bevölke-rung in extremer Armut. Wie geht es zusammen, dass80 Prozent der weltweiten Reserven an Coltan und10 Prozent der Kupferreserven im Kongo liegen unddennoch über 80 Prozent der Bevölkerung von wenigerals 0,20 US-Dollar am Tag leben? Die Herausforderun-gen sind doch: Wie können die Einnahmen aus derRohstoffgewinnung erhöht werden und in eine breiteEntwicklung für die Menschen fließen? Wie können Un-ternehmen zur Verantwortung gezogen werden? In wel-chen Bereichen bedarf es verpflichtender Mechanis-men? Wie kann die Bevölkerung mitentscheiden, waspassiert? Welche Gesetze müssen implementiert werden,damit sich nicht wenige auf Kosten vieler bereichern?Die Aktivitäten der Bundesanstalt für Geowissen-schaften und Rohstoffe in Kooperation mit der Internati-onalen Region der Großen Seen, ICGLR, zum Aufbauvon Zertifizierungsmechanismen halte ich für wegwei-send: Denn nur durch den Aufbau eines legalen Han-delsnetzes können illegal operierende Militärs aus demMineralienhandel gedrängt werden. Und nur so erhal-ten die Minenbetriebe und vielen Kleinschürfer dieMöglichkeit, ihre Waren direkt auf dem Weltmarkt zuverkaufen. Sie auf diesem Weg zu begleiten, das ist einezentrale Aufgabe.
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10602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10603
Ute Koczy
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Dennoch ist es mit dem Aufbau von Zertifizierungs-systemen und der Unterstützung der Transparenzinitia-tive EITI – die Aktivitäten, auf die sich das BMZ im Roh-stoffsektor so gerne bezieht – nicht getan.Zum Antrag der Koalition: Der Antrag der Koalitionist in der Sache sehr begrüßenswert. Er benennt diewichtigsten Probleme und Herausforderungen und gehtin die richtige Richtung. Ich finde, er hat Lücken. Ent-wicklungszusammenarbeit wird von der Koalitionscheinbar vor allem als Sanktionsinstrument verstanden.Da ist immer wieder die Rede von Kürzungen der Ent-wicklungsgelder; ein umfassendes Konzept, was die Ent-wicklungszusammenarbeit im Kongo leisten soll, suchtman vergebens.Und wir müssen auf die aktuellen Entwicklungen imkongolesischen Rohstoffsektor reagieren – diese igno-riert Ihr Antrag leider völlig: Obwohl Sie den Punkt Bi-odiversität behandeln, findet sich nichts zur geplantenÖlförderung im UNESCO-Weltnaturerbe Virunga-Na-tionalpark. Sie gehen auch nicht auf die aktuelle Lizenz-vergabe und geplante massive Steigerung der Ölproduk-tion durch die kongolesische Regierung ein.Außerdem greifen Sie nicht das aktuelle ProblemUran auf – weder den illegalen Abbau, für den es trotzoffiziellem Verbot Hinweise gibt, noch die anvisierteUranförderung in der DRC durch AREVA. Wenn Sie wis-sen wollen, welche Konsequenzen eine solche Förderungfür die DRC hätte, dann schauen Sie sich die Situation imNiger an – dort werden laut Menschenrechtsgruppen undUmweltverbänden Sicherheits-, Arbeitsschutz- und Um-weltauflagen durch den französischen Konzern ignoriert.Daher muss ein solcher Antrag diesen kommenden Pro-blemen Rechnung tragen und darf im Interesse des Lan-des nicht dazu schweigen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4691 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung
nichtehelicher Kinder
– Drucksache 17/3305 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/4776 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Wir beraten heute abschließend das Gesetz zur weite-
ren Gleichstellung nichtehelicher Kinder im Bereich des
Erbrechts. Bis 1970 waren nichteheliche Kinder im
rechtlichen Sinne nicht mit ihrem Vater verwandt und
hatten im Verhältnis zu diesem auch kein Erbrecht. Erst
mit dem Gesetz über die rechtliche Gleichstellung der
nichtehelichen Kinder wurde ihnen für Erbfälle, die sich
nach Inkrafttreten besagten Gesetzes 1970 ereigneten
bzw. ereignen, ein Erb- und Pflichtteilsrecht zuerkannt.
Explizit ausgenommen waren aber jene Kinder, die vor
dem 1. Juli 1949 geboren und deshalb bei der Gesetzes-
reform älter als 21 Jahre waren.
Diese Stichtagsregelung stellt unzweifelhaft einen
Anachronismus dar, den wir mit dem vorliegenden Ge-
setz beenden wollen. Eine Abschaffung der Stichtagsre-
gelung wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach dis-
kutiert. Unter Verweis auf das vermeintliche Vertrauen
der ehelichen Verwandten des Vaters in den Fortbestand
der geltenden Rechtslage wurde bisher aber von einer
weiteren Gleichstellung abgesehen. Das ist bedauerlich
und stellt uns deshalb heute vor besondere Herausforde-
rungen. Offensichtlich gab und gibt es vereinzelt immer
noch eine gesellschaftliche Vorstellung, wonach eine
Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen
Kindern gerechtfertigt sei. Das ist nicht akzeptabel. Der
Ausschluss nichtehelicher Kinder vom gesetzlichen Er-
brecht nach ihrem Vater und dessen Verwandten wird
heute zu Recht einhellig als Unrecht angesehen. Das ist
der Ausgangspunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs.
Die jetzt vorgeschlagene Änderung sieht vor, dass
auch vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kin-
der, die bisher nicht gesetzliche Erben ihres Vaters und
seiner Verwandten waren, künftig den ehelichen Kindern
gleichgestellt werden. Dazu soll der bisherige Stichtag
1. Juli 1949 rückwirkend für Erbfälle aufgehoben wer-
den, die nach dem 28. Mai 2009 eingetreten sind, also
dem Tag, an dem der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte entschieden hatte, dass die bisherige Un-
gleichbehandlung gegen die Europäische Menschen-
rechtskonvention verstößt. In allen Erbfällen ab dem
29. Mai 2009 sind somit eheliche und nichteheliche Kin-
der erbrechtlich gleichgestellt.
Für die Union ist es ein wichtiges Anliegen, jegliche
Diskriminierung nichtehelicher Kinder ein für alle Mal
zu beseitigen. In diesem Sinne haben wir, um nur ein
Beispiel zu nennen, in der letzten Legislaturperiode die
nichtehelichen Kinder auch im Bereich des Unterhalts-
rechts gleichgestellt. Von diesem Gedanken lassen wir
uns auch jetzt leiten.
Unser Ziel ist daher, die Ungleichbehandlung nichte-
helicher Kinder nicht nur für die Zukunft, sondern so
weit wie möglich auch im Hinblick auf schon eingetre-
tene Erbfälle zu beseitigen. Ich sage an dieser Stelle sehr
deutlich: Auch aus Sicht der Union wäre eine uneinge-
schränkte Rückwirkung auf die Zeit vor dem 29. Mai
2009 wünschenswert gewesen. Die nichteheliche Geburt
rechtfertigt keinerlei Ungleichbehandlung. In den Aus-
schussberatungen haben wir vor diesem Hintergrund in-
tensiv die Frage einer weitergehenden Rückwirkung ge-
Ute Granold
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prüft. Dieser Punkt war auch ein Schwerpunkt der
Gespräche, die wir mit externen Experten im Rahmen ei-
nes erweiterten Berichterstattergesprächs geführt ha-
ben.
Wir haben in diesem Zusammenhang auch intensiv
alternative Lösungen geprüft und diskutiert. Ein vermit-
telnder Vorschlag bestand beispielsweise darin, dem
nichtehelichen Kind nachträglich einen Anspruch gegen
die Erben in Höhe des gesetzlichen Pflichtteils einzuräu-
men. Ein alternativer Vorschlag sah vor, den neuen
Stichtag einige Jahre vorzuziehen. Im Ergebnis wurden
diese Überlegungen jedoch dann insbesondere aus
praktischen Erwägungen verworfen.
Denn die nachträgliche Einbeziehung von Erbfällen,
die teilweise schon viele Jahre zurückliegen, wäre mit
erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden.
Die betroffenen Erbfälle sind oftmals bereits rechtskräf-
tig entschieden und auch abgewickelt. Diese Fälle nach
einer langen Zeit nachträglich wieder aufzurollen, wäre
rechtlich höchst kompliziert und, wenn überhaupt, nur
äußerst schwer zu realisieren. Dabei ist auch zu berück-
sichtigen, dass sich die Ansprüche in den meisten Fällen
nicht mehr durchsetzen ließen, da die Vermögenswerte
nicht mehr vorhanden sein dürften und daher die Erben
den Einwand der Entreicherung erheben könnten. Auf
dieses Problem haben auch die Sachverständigen hinge-
wiesen. Im Übrigen stehen einer weitergehenden Rege-
lung verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf
das Rückwirkungsverbot und den Vertrauensschutz der
Erben entgegen. Darauf wurde auch von der Bundesre-
gierung in der Gesetzesbegründung ausführlich hinge-
wiesen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns im Er-
gebnis gegen eine weitergehende Rückwirkung auf die
Zeit vor dem 29. Mai 2009 entschieden.
Umso wichtiger ist es daher für uns gewesen, dass zu-
mindest bei Erbfällen nach der Entscheidung des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte die nichtehe-
lichen Kinder vollständig gleichgestellt werden. In
diesem Sinne sieht die Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses vor, dass die im Regierungsentwurf vorgese-
hene Ausnahmeregelung, wonach erbrechtliche Ansprü-
che zwischen den weiteren Verwandten ausgeschlossen
sein sollen, wenn am 29. Mai 2009 das nichteheliche
Kind, der Vater und die Mutter schon verstorben waren,
ersatzlos gestrichen wird. Aus unserer Sicht gibt es für
eine solche Ausnahme keinen sachlichen Grund. Es
wäre nicht nachzuvollziehen, wieso die Abkömmlinge
des nichtehelichen Kindes in den beschriebenen Fall-
konstellationen vom Erbrecht abgeschnitten und inso-
fern gegenüber den Abkömmlingen der ehelichen Kinder
benachteiligt sein sollten. Das würde die bisherige Dis-
kriminierung der nichtehelichen Kinder lediglich perpe-
tuieren. Ich denke, hier hat der Rechtsausschuss eine
richtige und wichtige Änderung beschlossen.
Wir haben uns im Rechtsausschuss auch mit der
Frage befasst, ob das Gesetz zusätzlich um eine flankie-
rende Regelung erweitert werden soll, die eine nach-
trägliche Anrechnung von Zuwendungen des nichteheli-
chen Vaters auf das Erbe des nichtehelichen Kindes
ermöglicht. Dies wurde von einigen Sachverständigen
Zu Protokoll
angeregt. Im Ergebnis bestand hierfür jedoch aus unse-
rer Sicht kein Bedarf. Sofern der Erblasser noch lebt,
kann er durch Verfügungen unter Lebenden für Gerech-
tigkeit sorgen. In den Fällen, in denen der Erblasser be-
reits tot ist, erscheint eine solche Regelung ebenfalls
nicht erforderlich, da eine Regelungslücke in den weni-
gen zu erwartenden Problemfällen durch richterliche
Rechtsfortbildung geschlossen werden kann.
In den Ausschussberatungen haben wir noch ein an-
deres Gesetz mit behandelt, und zwar konkret einen Vor-
schlag der Bundesregierung zur Änderung der ZPO. Die
Ergänzung, die wir in das Gesetz eingefügt haben, be-
trifft die sogenannte Monatsanfangsproblematik beim
Pfändungsschutzkonto. In der Praxis gibt es in diesem
Zusammenhang ganz offenbar Anwendungsschwierig-
keiten. Es geht dabei um die Auszahlung von nicht
pfändbaren Beträgen, die dem Konto des Schuldners
zum Monatsende gutgeschrieben werden, aber eigent-
lich erst für den Folgemonat bestimmt sind. Unklar ist in
der Praxis, ob diese Beträge im Monat der Gutschrift
oder erst im darauffolgenden Monat angerechnet wer-
den.
Um weitere Unsicherheiten zulasten der betroffenen
Schuldner zu vermeiden, ist nunmehr eine gesetzliche
Präzisierung vorgesehen. Demzufolge soll die Bank den
überwiesenen Betrag zunächst bis zum Ende des auf den
Zahlungseingang folgenden Kalendermonats zurückhal-
ten und gegebenenfalls erst dann an den Gläubiger aus-
kehren. Damit soll sichergestellt werden, dass Beträge,
die der Existenzsicherung in einem bestimmten Monat
dienen, den Empfängern auch in diesem Monat zur Ver-
fügung stehen und nicht durch eine Weiterleitung an den
Gläubiger entzogen werden. Insofern handelt es sich um
eine technische Modifizierung, die im Interesse der Be-
troffenen Klarheit schafft.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungs-
vorschlägen des Rechtsausschusses einen guten Weg ge-
funden haben, um nichteheliche Kinder im Bereich des
Erbrechts endlich gleichzustellen. Aus praktischen und
verfassungsrechtlichen Gründen war eine weiterge-
hende Rückwirkung leider nicht möglich. Insgesamt ha-
ben wir in guter und konstruktiver Zusammenarbeit eine
überzeugende Lösung gefunden. Ich hoffe daher heute
auf breite Zustimmung.
Recht und Gesetz müssen laufend an die gesellschaft-liche Weiterentwicklung und an die aktuelle Lebenswirk-lichkeit angepasst werden. Leider mangelt es dem Ge-setzgeber dabei immer einmal wieder an der notwen-digen Konsequenz. Ein Beispiel hierfür ist die erbrecht-liche Gleichstellung nichtehelicher Kinder.Im Verlauf der Einführung des Gesetzes über dierechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder, NEhelG,vom 19. August 1969 wurde eine Ausnahmeregelung ge-schaffen, die dazu führte, dass vor dem 1. Juli 1949 ge-borene nichteheliche Kinder bis heute mit ihren Väternals nicht verwandt gelten und daher auch kein gesetzli-ches Erbrecht haben. Bis heute wurde es versäumt, diese
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10604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenSonja Steffen
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Gruppe umfassend gleichzustellen. Die damit verbun-dene erbrechtliche Problematik ist seit langem bekannt,wie die hierzu eingereichten Petitionen belegen. Aller-dings war erst eine Entscheidung des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte nötig, um ein Gesetzge-bungsverfahren in Gang zu setzen.Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen es aus-drücklich, dass mit dem heute zur Abstimmung stehen-den Gesetzentwurf die vor dem 1. Juli 1949 geborenennichtehelichen den ehelichen Kindern für die Zukunftauch erbrechtlich gleichgestellt werden. Wir werdendem Gesetz daher zustimmen. Im Zuge der parlamenta-rischen Beratungen wurde eine wichtige Korrektur vor-genommen: Das ab dem 29. Mai 2009 geltende Erbrechtwurde auch auf Verwandte des nichtehelichen Kindesund des Vaters ausgedehnt. Die Diskriminierung wegennichtehelicher Geburt wird damit zumindest ab demStichtag der Urteilsverkündung durch den EGMR um-fassend beseitigt.Der Stichtag ist allerdings der Knackpunkt des Geset-zes. Hier hätte ich mir ein mutigeres Datum als den29. Mai 2009 gewünscht. Natürlich darf bei bereits ein-getretenen und abgewickelten Erbfällen der Vertrauens-schutz, den die gesetzlichen Erben genießen, nicht außerAcht gelassen werden. Eine weiterreichende Rückwir-kung hätte zu erneuten Auseinandersetzungen bei schonabgewickelten Erbengemeinschaften führen können. Be-sonders schwierig wäre es zum Beispiel bei Fällen ge-worden, bei denen der Nachlass bereits verbrauchtwurde. Dem Gesetzgeber sind hier aufgrund des Ver-trauensschutzes auch verfassungsrechtlich sehr engeGrenzen gesetzt.In den unterschiedlichen Berichterstattergesprächenwurde aber aus meiner Sicht deutlich, dass zumindesteine Rückwirkung auf den 1. April 1998, dem Tag des In-krafttretens des Erbrechtsgleichstellungsgesetzes, mög-lich und umsetzbar gewesen wäre. Erst seit 1998 wirdein nichteheliches Kind grundsätzlich Mitglied der Er-bengemeinschaft. Bei vorhergehenden Erbfällen galtnur ein Erbersatzanspruch.Ein Weg wäre gewesen, bei Erbfällen zwischen April1998 und Mai 2009 einen Anspruch in Anlehnung anden Pflichtteilsanspruch einzuräumen. Leider habensich die Koalitionsfraktionen und das Bundesjustizmi-nisterium mit einer solchen, meiner Meinung nach ge-rechteren Lösung nicht anfreunden können.Auch zukünftig werden alle nichtehelich geborenenMenschen, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind undderen Väter bis zum 29. Mai 2009 verstorben sind, ebennicht erbrechtlich den ehelichen Kindern gleichgestellt.Noch ist nicht absehbar, wie der EGMR in dieser Fragezukünftig entscheiden wird. Zumindest in Fällen, in de-nen wie bei dem verhandelten Erbfall aus dem Jahr1998 keine näherstehenden gesetzlichen Erben vorhan-den sind, könnte der EGMR auch nach Verabschiedungdieses Gesetzes eine Konventionswidrigkeit feststellen.Alles in allem werden wir einige Menschen, die mitPetitionen oder sogar vor dem Europäischen Gerichts-hofs für Menschenrechte ihr Recht auf GleichstellungZu Protokolleingefordert haben, mit der jetzigen Regelung leidernicht erreichen. Sie werden zu Recht enttäuscht sein.Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen,darauf hinzuweisen, dass mit diesem Gesetzgebungsver-fahren ein Weg gefunden wurde, um auch eine wichtigeWeiterentwicklung im Bereich des Pfändungsschutzkon-tos schnell vorzunehmen. Die ersten Erfahrungen mitdem sogenannten P-Konto haben Anwendungsschwie-rigkeiten bei der Auszahlung von Beträgen gezeigt, dieam Monatsende gutgeschrieben, aber für den Folgemo-nat bestimmt waren. Durch die gesetzliche Klarstellungwerden nun im Interesse der Betroffenen bestehende Un-sicherheiten ausgeräumt.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weitererSchritt auf dem von Art. 6 Abs. 5 GG vorgegebenen Weg.Darin wird dem Gesetzgeber aufgetragen, für nichtehe-liche Kinder die gleichen Bedingungen für ihre leiblicheund seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Ge-sellschaft zu schaffen wie für ehelich geborene Kinder.Diesem Ziel kommen wir im Erbrecht mit der Verab-schiedung des Gesetzentwurfes bedeutend näher. Rück-wirkend ab dem 29. Mai 2009 werden nun nichtehelichgeborene Kinder und auch deren Abkömmlinge im Er-brecht mit ehelich geborenen Kindern gleichgestellt.Dies ist nicht nur eine deutliche Verbesserung der Posi-tion unehelich geborener Kinder. Wir beheben damitauch den Verstoß gegen Art. 8 und Art. 14 der Europäi-schen Menschenrechtskonvention, den der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidungvom 28. Mai 2009 festgestellt hatte. Ich habe bewusstgesagt, dass wir uns dem Ziel des Art. 6 Abs. 5 GG nä-hern. Eine Gleichstellung unehelicher Kinder auch fürdie Zeit vor dem 29. Mai 2009 ist aus Praktikabilitäts-gründen und aus Gründen des Vertrauensschutzes nichtmöglich. Dies hätte nämlich zur Folge, dass zahlreichebereits auseinandergesetzte Erbengemeinschaften wie-der zusammentreten müssten, um sich erneut auseinan-derzusetzen.Dabei würde sich dann die Frage stellen, was ge-schieht, wenn die Erbmasse im Falle einer Neuauseinan-dersetzung bereits verbraucht ist. Hier wurde teilweisevorgeschlagen, es könne eine Art Entreicherungseinredeeingeführt werden. Dies würde jedoch zu einem weiterenGerechtigkeitsproblem führen: Derjenige, der den Nach-lass bereits verschwendet hat, wäre dann besser gestelltals der Erbe, der eigentlich für seine eigene Familie vor-sorgen wollte.Würde man den Ansatz einer vollständigen Gleich-stellung konsequent zu Ende denken, müsste man dannauch die Frage klären, ob Erbansprüche vererbbar sind.Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die bisherigenErben auf den Schutz ihrer gewonnen Rechtspositionvertrauen durften. Zuletzt hatte das Bundesverfassungs-gericht dies in seiner Entscheidung vom 20. November2003 bestätigt. Eine Gleichstellung nichtehelicher Kin-der auch für die Zeit vor dem 29. Mai 2009 würde diesenVertrauensschutz zunichte machen. Vor diesem Hinter-grund haben wir uns nach intensiven Diskussionen da-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10605
gegebene RedenStephan Thomae
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für entschieden, den 29. Mai 2009 als Stichtag für dieGleichstellung zu wählen.Der vorliegende Gesetzentwurf behandelt neben derGleichstellung unehelich geborener Kinder im Erbrechtnoch ein weiteres Thema. Die sogenannte Monatsan-fangsproblematik war eine Folge des am 1. Juli 2010 inKraft getretenen Gesetzes zur Reform des Kontopfän-dungsschutzes. Sie tritt insbesondere dann auf, wenn ei-nem Pfändungsschutzkonto eines Schuldners unpfänd-bare Beträge zum Monatsende gutgeschrieben werdenund für den Folgemonat bestimmt sind.Ein Pfändungsschutzkonto sichert einem Schuldnergegenüber seinen Gläubigern einen monatlichen Min-destbetrag, den er zum Bestreiten seiner Existenz benö-tigt. Nach dem 1. Juli 2010 waren vermehrt Fälle aufge-treten, in denen Beträge, die zum Monatsende auf einemPfändungsschutzkonto eingegangen und für den Folge-monat bestimmt waren, dem Schuldner letztlich nicht zurVerfügung standen.Das neue Gesetz regelt nun explizit, dass unpfänd-bare Beträge, die dem Pfändungsschutzkonto einesSchuldners zum Monatsende zufließen und für den Fol-gemonat bestimmt sind, von der Bank erst nach Ablaufdes auf den Zahlungseingang folgenden Monats an denGläubiger des Schuldners weitergeleitet werden dürfen.Diese Regelung schafft für alle Beteiligten Klarheit undist ein wirksames Mittel gegen die Monatsanfangspro-blematik. Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Ge-setzentwurf vor diesem Hintergrund befürworten.
Ungleichbehandlung beenden! Das war die Forde-
rung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte vor nunmehr knapp zwei Jahren. Dies bezog sich
auf die bis dahin im deutschen Erbrecht vorgesehene
Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen
Kindern, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden. Nach
dem überarbeiteten Gesetzentwurf soll dies korrigiert
werden und sollen alle vor dem 1. Juli 1949 geborenen
nichtehelichen Kinder künftig auch gesetzliche Erben
ihrer Väter werden.
An der kuriosen Erbrechtsgeschichte hat sich nichts
geändert; ich möchte sie nochmals anführen: Nichtehe-
liche Kinder, die vor dem 01. Juli 1949 geboren sind,
hatten nach der bislang gültigen Rechtslage grundsätz-
lich kein Erbrecht nach ihrem Vater und dessen Ver-
wandten. Umgekehrt genauso: Auch der Vater des ver-
storbenen nichtehelichen Kindes konnte nicht dessen
Erbe sein. Beide galten als nicht verwandt, Art. 12 § 10
Nichtehelichengesetz. Dies ist jetzt leider nicht umfas-
send, wie von der Linken gefordert, sondern nur teil-
weise geändert worden.
Zunächst bestand die Hoffnung – da in den Bericht-
erstattergesprächen sich fast alle Beteiligten fraktionsü-
bergreifend einig waren –, nichteheliche Kinder und
eheliche Kinder erbrechtlich umfassend gleichzustellen.
Diese Hoffnung schwand, als die FDP dann wieder um-
fiel und sich gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner
darauf einigte, die Fälle derart zu beschränken, dass
Zu Protokoll
das nur ab dem Stichtag der Verkündung der Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte gelten soll. Wieder mal umgefallen! Deshalb blei-
ben, dank des Stichtages 29. Mai 2009, doch noch
Ungerechtigkeiten, weshalb die deutlichen Verbesserun-
gen im Gesetz nicht ausreichen, um dem Gesetz zustim-
men zu können.
Nach wie vor wird bei Kindern, welche in der DDR
geboren sind, unterschiedlich gehandelt, soweit es das
Erbrecht angeht. Denn nur, wenn der nichteheliche Va-
ter seinen Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet der DDR
hatte, war das Kind von ihm auch erbberechtigt. Dazu
möchte ich zitieren:
Der Vater des nichtehelichen Kindes hatte am
2. Oktober 1990 seinen gewöhnlichen
Aufenthalt im Gebiet der ehemaligen DDR. Dann
ist auch auf einen späteren Erbfall das Erbrecht
der DDR anzuwenden, wonach das nichteheliche
Kind und der Vater gegenseitig erb- und pflicht-
teilsberechtigt sind, Art. 235 § 1 EGBGB; §§ 365,
367, 396 DDR-ZG. Der Aufenthalt des Kindes ist
dabei nicht maßgeblich.
Ich finde es schade, dass die ursprüngliche Mehrheit
der Berichterstatter sich nicht durchsetzen konnte, die
Stichtagsregelung entfallen zu lassen, um wirklich alle
Kinder zu erfassen.
Dass hier der Vertrauensschutz seitens des Ministeri-
ums in den Vordergrund gespielt wurde, lässt Fragen of-
fen, die auch nicht dadurch ausgehebelt werden, dass es
bei Aufhebung des Stichtages zu neuen Ungerechtigkei-
ten kommen könnte. Insgesamt kann die Argumentation
der Koalition meine Fraktion und mich nicht restlos
überzeugen. Mit dem eingebrachten Änderungsantrag
wurde zwar die erbrechtliche Gleichstellung auch auf
die Nachkommen nichtehelicher Kinder erstreckt, wenn
der nichteheliche Erblasser zum Zeitpunkt des Stichta-
ges bereits verstorben war, und auch die sogenannte
Monatsanfangsproblematik wurde durch die weiteren
Ergänzungen beseitigt. Ob allerdings auch weiterhin ge-
gen das Diskriminierungsverbot verstoßen wird und wie
hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es zu weiteren Ver-
urteilungen Deutschlands durch den EGMR kommen
kann, müssen gegebenenfalls die Gerichte prüfen.
Bei all den positiven Änderungen, welche durch das
Gesetz eingeführt werden, können wir dem Gesetz aber
aus den vorgenannten Gründen nicht zustimmen.
Heute beraten wir abschließend über den Gesetzent-wurf der Bundesregierung zu einem zweiten Gesetz zurerbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder.Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf vorge-legt, weil der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte in seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009 festge-stellt hat, dass das geltende deutsche Erbrecht gegen dieMenschenrechtskonvention verstößt. Denn nichtehelicheKinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, sind imErbrecht ehelichen Kindern nicht vollständig gleichge-stellt. Deutschland wurde deshalb vom Europäischen
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10606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10607
Ingrid Hönlinger
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Gerichtshof für Menschenrechte zu einer Entschädi-gungszahlung an das betroffene nichteheliche Kind ver-pflichtet. Der Entscheidung lag ein Erbfall aus demJahre 1998 zugrunde.Für uns Grüne ist die Gleichstellung von nichteheli-chen Kindern seit Jahren ein zentrales Anliegen. Wir be-grüßen die – nach den Gesprächen im Rechtsausschuss –durchaus vorgenommenen kleinen Änderungen an demGesetzentwurf. Sie stellen zumindest eine Verbesserungdes ursprünglichen Entwurfs dar. Die Bundesregierungsieht in ihrem Entwurf aber lediglich eine erbrechtlicheGleichstellung von nichtehelichen Kindern vor, wennder Erbfall nach dem 28. Mai 2009 eintritt. Somit wer-den nichteheliche Kinder, deren Väter vor dem 28. Mai2009 verstorben sind, erbrechtlich nicht berücksichtigt.Uns Grünen erschließt sich die Argumentation derBundesregierung nicht. Aus grüner Sicht gibt es keinensachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung. Wirfragen uns: Wieso soll eine Gleichbehandlung nur ein-treten, wenn der Erbfall nach dem 28. Mai 2009 einge-treten ist? Die FDP begründet die Ungleichbehandlungmit angeblich bestehenden praktischen Problemen.Zahlreiche bereits abgewickelte Erbfälle müssten neuaufgerollt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Fraktion der FDP, es geht um die Gleichstellung dernichtehelich geborenen Kinder, die vor dem 1. Juli 1949geboren sind, also um Personen, die heute 62 Jahre undälter sind. Es geht somit nicht um eine unüberschaubareAnzahl von Fällen, die neu aufgerollt werden müssten.Alle jüngeren nichtehelichen Kinder sind bereits er-brechtlich gleichgestellt.In der Praxis des Erbrechts ist das Aufrollen von be-reits abgewickelten Erbfällen auch nichts Neues. Dasgibt es immer wieder. Anwaltschaft und Gerichte sindgewohnt, damit umzugehen. Ganz abgesehen davon darfder Arbeitsaufwand an Gerichten auch kein Argumentsein, die grundrechtlich geschützte Gleichbehandlungehelicher und nichtehelicher Kinder einzuschränken.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von derFraktion der FDP, Sie führen weiter an, dass Gerechtig-keitsungleichgewichte aufträten, wenn derjenige, derden Nachlass verschwendet hat, bessergestellt wird alsein sparsamer Nachkomme. Der verschwenderischeErbe könne sich nämlich auf die Einrede der Entreiche-rung berufen. Der sparsame Erbe müsste sein Erbe tei-len.Über dieses Argument kann man nachdenken. Aller-dings sollte immer der Gesamtkontext im Blick behaltenwerden. Die Möglichkeit eines Erben, sich darauf zu be-rufen, dass er erbrechtliche Ansprüche nur aus einernoch vorhandenen Erbmasse erfüllen muss und nichtaus seinem sonstigen Privatvermögen, ist Ausdruck desVertrauensschutzes des Erben. Der Vertrauensschutz istein Umstand, den wir bei der Abwägung berücksichtigenmüssen. Hinzu kommt, dass die Einrede der Entreiche-rung bereits für das gesamte Zivilrecht und damit auchfür das Erbrecht gilt. Somit sind nicht nur Fälle derGleichstellung nichtehelicher Kinder betroffen. Viel-mehr ist es ein allgemeiner zivilrechtlicher Ausdruck,dass derjenige, der das Vermögen gutgläubig ver-braucht hat, nicht mehr zur Auszahlung oder Rückzah-lung verpflichtet ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion derCDU/CSU, Sie begründen die kurze Rückwirkung biszum 28. Mai 2009 damit, dass der Vertrauensschutz be-rücksichtigt werden müsse, der mit der Festlegung desStichtags für die Gleichbehandlung ehelicher undnichtehelicher Kinder auf den 1. Juli 1949 geschaffenwurde. Das ist sicher richtig. Allerdings muss auch diesim Rahmen einer Abwägung erfolgen. Dabei müssen wirberücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte in seinem Urteil ausgeführt hat – ich zi-tiere –:Der Gerichtshof ist insbesondere der Auffassung,dass … der Gesichtspunkt des Schutzes des „Ver-trauens“ des Erblassers und seiner Familie demGebot der Gleichbehandlung nichtehelicher undehelicher Kinder unterzuordnen ist.Das bedeutet: Der Europäische Gerichtshof stellt dieGleichbehandlung der Kinder über den Vertrauens-schutz des Erblassers und seiner Erben.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatin seiner Entscheidung eine umfassende Abwägung zwi-schen den Interessen des nichtehelichen Kindes und denInteressen des Erblassers bzw. seiner Familie vorge-nommen. Damit hat er dem deutschen Gesetzgeber vieleAnhaltspunkte für eine mögliche Abwägung vorgegeben.Diese Anhaltspunkte müssen wir im Gesetzgebungsver-fahren berücksichtigen. Wir können uns nicht zurückleh-nen und zuschauen, wie der nächste Einzelfall von denhöchsten Gerichten entschieden wird, um eine endgül-tige Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichenKindern zu erreichen. Hier ist auch entscheidend, dassder Erbfall, den der Europäische Gerichtshof zu beurtei-len hatte, lange vor dem Stichtag lag, den die Bundesre-gierung in ihrem Gesetzentwurf zugrunde legen will,nämlich bereits im Jahr 1998.Abschließend ist festzuhalten: Das Erbrecht ist si-cherlich keine einfache Materie. Gleichwohl darf dieBundesregierung sich nicht ihrer Verantwortung entzie-hen, eine wirklich gerechte und ausgleichende Regelungfür nichteheliche Kinder zu schaffen, zumal diese Kinderihre personenstandsrechtliche Situation in keiner Weisemit verursacht haben. Der Gesetzentwurf der Bundesre-gierung geht in die richtige Richtung, er geht jedochnicht weit genug. Wir werden uns bei der Abstimmungdaher enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4776, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/3305 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Lesung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Ent-
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10608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmverhältnis angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten SilviaSchmidt , Anette Kramme, Petra Ernst-berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDAusschreibungspflicht für Leistungen der In-tegrationsfachdienste stoppen – Sicherstel-lung von Qualität, Transparenz und Effizienz– Drucksache 17/4847 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
Die SPD fordert in ihrem Antrag die Aufhebung der
Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrations-
fachdienste. Im Folgenden möchte ich Ihnen, liebe Kol-
legen, darlegen, dass Sie mit Ihren Ausführungen zu die-
ser Forderung falsch liegen.
Aufgrund der prognostizierten demografischen Ent-
wicklung in unserem Land und dem daraus hervorge-
henden Fachkräftemangel ist es unser Ziel, das Arbeits-
kräftepotenzial von schwerbehinderten Menschen zu
aktivieren. Bisher ungenutzte Potenziale müssen intensi-
ver für den Arbeitsmarkt genutzt werden, und nicht nur
deshalb, sondern auch aufgrund unserer moralischen
Verpflichtung, alle Menschen in unsere Gesellschaft zu
integrieren und dafür zu sorgen, dass jeder die Möglich-
keit hat, sich an unserem Gemeinwohl zu beteiligen und
einen möglichen Beitrag dazu zu leisten und für diesen
auch Wertschätzung zu erfahren.
Die Bundesregierung prüft gerade in Abstimmung mit
den Ländern, wie vorhandene Bundesmittel aus der Aus-
gleichsabgabe zur Verbesserung der Ausbildungs- und
Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen
genutzt werden können.
Ein zentrales Element zur Eingliederung schwerbe-
hinderter Menschen sind die Integrationsfachdienste,
deren Leistung die Kolleginnen und Kollegen der SPD
in ihrem Antrag zu Recht als eine „kontinuierliche
hervorragende Arbeit in einer verlässlichen bundesein-
heitlichen Struktur“ bewerten. Die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion unterstützt auch weiterhin die Arbeit der
Integrationsfachdienste und erkennt deren zentrale Be-
deutung an.
Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die Bun-
desagentur für Arbeit Arbeitsmarktdienstleistungen im
Rahmen des Vergaberechts beschafft, und dies gilt
selbstverständlich auch für die Leistungen der Integra-
tionsfachdienste zur Vermittlung schwerbehinderter
Menschen – mit Ausnahme von Rehabilitationsleistun-
gen, welche nach den §§ 111 und 113 SGB IX ausgenom-
men sind.
Nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ist ein gleicher
Zugang aller privaten Dienstleister zu öffentlichen Auf-
trägen im Rahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren
zu gewährleisten. Das Vergaberecht ist ein geeignetes
Instrumentarium, um den erforderlichen Anforderungen
an die zu erbringenden Dienste flexibel gerecht zu wer-
den. Wir brauchen Dienstleister für diese bedeutungs-
volle Aufgabe, die zuverlässig sind und die fachkundige
und leistungsfähige Dienste anbieten. Und entscheidend
hier ist nicht primär der Preis der Dienstleister. Ent-
scheidend ist die im Interesse der schwerbehinderten
Menschen erforderliche Qualität der Dienstleistung.
Doch natürlich gibt es auch Sonderfälle. Kommt etwa
für die Leistung aus besonderen Gründen nur ein Unter-
nehmen in Betracht, wäre eine freihändige Vergabe auch
ohne die Ermöglichung von Wettbewerb selbstverständ-
lich zulässig. Daraus wird auch ersichtlich, dass beim
Vergaberecht lediglich der Prozess der Vergabe festge-
legt ist, nicht jedoch die Qualität der Leistung.
Zudem erfolgt dadurch eine präzise Struktur der zu
erbringenden Leistung. Eine Dynamik, Flexibilität und
ein gewisser Druck an den ausführenden Dienstleister,
eine zeitgemäße und dem aktuellen Forschungsstand ge-
mäße Leistung anzubieten, ist zentral für eine erfolgrei-
che Integration schwerbehinderter Menschen.
Demnach ist der Träger verpflichtet, mit Angebotsab-
gabe ein detailliertes inhaltliches Konzept vorzulegen,
in welchem eventuelle behinderungsspezifische Beson-
derheiten der Teilnehmer zu berücksichtigen sind. Dazu
gehört es, erstens eine Analyse und Aufarbeitung der
Bewerberprofile durchzuführen, zweitens ein Bewerber-
coaching-Konzept und Strategien zur Aktivierung von
Eigenbemühen darzulegen, drittens Methoden aufzuzei-
gen, wie Teilnehmern ermöglicht werden kann, Teile der
Maßnahmen bei einem Arbeitgeber zu absolvieren, und
viertens ein Konzept zur Nachbetreuung vorzulegen. Zu-
dem erfolgt eine weitere Systematisierung durch die
Festlegung einer Präsenzzeit der Teilnehmer auf 15 Stun-
den; diese sind notwendig, um einen angemessenen
Raum zu bieten, die komplexen inhaltlichen Anforderun-
gen vermitteln zu können.
Aber nicht nur inhaltlich werden wichtige Maßstäbe
festgesetzt, sachgerechte Anforderungen werden auch
an die technische Ausstattung gestellt. So muss der
Stand der Technik den gesetzlichen Vorgaben, beispiels-
weise nach der Arbeitsstättenverordnung oder Bild-
schirmarbeitsverordnung, entsprechen.
Der Antragsteller bemängelt eine fehlende Kontinui-
tät durch das Vergaberecht. Eine Laufzeit der Verträge
über einen Zeitraum von 33 Monaten gewährt durchaus
eine verlässliche Planungssicherheit für die beauftrag-
ten Träger.
Nach § 46 SGB III hat der Gesetzgeber in Abs. 4 Satz 1
vorgegeben: „Das Vergaberecht findet Anwendung.“ Im
Paul Lehrieder
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Antrag wird eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen
Dienstes zitiert, in welcher behauptet wird, dass der Ab-
satz nur mit der Formulierung „Das Vergaberecht ist
anzuwenden“ zwingendes Recht sein würde. Das vom
Bundesministerium der Justiz herausgegebene „Hand-
buch der Rechtsförmlichkeit“ geht im Gegenteil davon
aus, dass die beiden Formulierungen eine identische Be-
deutung haben. Ein Ermessen wird in der Regel durch
das Wort „kann“ ausgedrückt, was hier nicht der Fall
ist.
Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass § 46
Abs. 4 Satz 1 SGB III einen deklaratorischen Verweis auf
das Vergaberecht beinhaltet, welcher besagt, dass das
Vergaberecht dann anwendbar ist, wenn die Vorausset-
zungen des Vergaberechts vorliegen. Diese liegen dann
vor, wenn Verträge der Integrationsämter mit privaten
Dritten abgeschlossen werden, sofern es sich nicht um
Rehabilitationsleistungen handelt.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer
Integrationsmaßnahme ist fachlich qualifiziertes und
geschultes Personal. Durch die existierenden hohen An-
forderungen an die Qualifikation des in der Maßnahme
eingesetzten Personals in den Ausschreibungsunterla-
gen wird ein ausreichend hoher Qualitätsstandard für
die Durchführung festgelegt. Den besonderen Bedürf-
nissen schwerbehinderter Menschen wird damit Rech-
nung getragen – nicht jedoch mit dem vorliegenden An-
trag.
In ihrem Antrag plädiert die SPD für die Abschaffungder Ausschreibungspflicht für Integrationsfachdienste.Dem Antrag liegen dabei zwei Grundannahmen zu-grunde, deren Beweis die Sozialdemokraten aber schul-dig bleiben, erstens dass die Art der Vergabe über dieQualität der Integration von behinderten Menschen ent-scheidet und zweitens dass Integration von behindertenMenschen ausschließlich über die Integrationsfach-dienste geleistet werden könne.Sozialrecht und Vergaberecht stehen meines Erach-tens nicht im Widerspruch zueinander. Mit dem Vergabe-recht steht uns ein Instrumentarium zur Verfügung, umauch den Anforderungen beim Einkauf von Diensten zurErbringung von Sozialleistungen gerecht zu werden.Dies trifft sowohl auf die notwendigen Anforderungenan die Eignung bei der Auswahl fachkundiger, leistungs-fähiger und zuverlässiger Dienstleister als auch auf dieErmittlung des im Hinblick auf die Qualität der Leis-tungserbringung wirtschaftlichsten Angebots zu. DerPreis allein ist dabei nicht entscheidend. Das Vergabe-recht regelt lediglich den Prozess der Vertragsan-bahnung. Um die Qualität auch bei der Ausführung derLeistung sicherzustellen, sind entsprechende vertrags-rechtliche Regelungen, zum Beispiel Zielesteuerung,Kontrolle, Rückkopplung und Nachjustierung vorzuse-hen. Entscheidend sollte für uns alle sein, dass Integra-tion gelingt, und nicht, durch wen. Nicht zuletzt habenwir nach Art. 3 Grundgesetz allen privaten Dienstleis-tern den gleichen Zugang zu öffentlichen Aufträgen imZu ProtokollRahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren zu gewähr-leisten.Die vergaberechtliche Rechtsprechung stellte klar,dass Freihandvergaben nur an Einrichtungen möglichsind, die unmittelbarer Teil der staatlichen Verwaltungund daher vom Wettbewerb mit gewerblichen Unterneh-men ausgeschlossen sind. Da Integrationsfachdienstekeine staatlichen Regiebetriebe, sondern Dienste Drittersind, stand die freihändige Vergabe für Auftragsverga-ben der Bundesagentur für Arbeit an Integrationsfach-dienste nicht mehr länger zur Verfügung. Schließlichwurden die entsprechenden Regelungen bei der Novel-lierung der VOL/A im Jahre 2009 gestrichen, weil siemit großen rechtlichen Unsicherheiten behaftet warenund ihren Zweck, Wettbewerbsverzerrungen zu vermei-den, nicht mehr erfüllten.Von der geänderten Rechtslage ist aber nur ein Teilder Integrationsfachdienste betroffen. Nur in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen habenbisher Integrationsfachdienste nahezu flächendeckendLeistungen zur Vermittlung schwerbehinderter Men-schen erbracht. In Hamburg, Hessen, Niedersachsenund Rheinland-Pfalz waren bzw. sind sie nur teilweisebeauftragt. In anderen Ländern, in Berlin, Brandenburg,Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhaltund Thüringen, werden diese Leistungen durch andereDienstleister am Markt erbracht.Das Vergaberecht ist nur ein Instrument zur Beschaf-fung der erforderlichen Ressourcen für die Erbringungder Sozialleistungen. Im Vordergrund steht daher dieFrage, welche Leistungen benötigt werden und angebo-ten werden müssen.Die Qualitätskriterien spielen unter den Ausschrei-bungsbedingungen eine herausragende Rolle. Im Rah-men der Wertung der Angebote erhält die Qualität einehohe Gewichtung im Verhältnis zum Preis, sodass diePosition bewährter und kompetenter Maßnahmeträgerim Ausschreibungsverfahren gestärkt wird. Vergleich-bare Ausschreibungen zur Unterstützten Beschäftigung,bei denen bereits umfangreiche Qualitätsanforderungenan die Bieter gestellt worden sind, wurden auch von Ver-bänden, die Ausschreibungen tendenziell kritisch gegen-überstehen, inhaltlich grundsätzlich positiv gewürdigt.Es kann auch nicht gesagt werden, dass Integrations-fachdienste in ihrer Existenz bedroht sind, wenn sie beieiner Ausschreibung einmal nicht den Zuschlag bekom-men. Im Übrigen bieten die komplexen Maßnahmepa-kete nach § 46 SGB III den Diensten die Chance, einweit größeres Geschäftsfeld zu erschließen, als dies beiden reinen Vermittlungsleistungen der Fall war.Eine Evaluation sowohl der Ausschreibungen alsauch der Umsetzung der Maßnahmen ist vorgesehen.Die Maßnahmen der beruflichen Eingliederung schwer-behinderter Menschen wurden erstmalig und unabhän-gig voneinander mit regional unterschiedlichen Zeit-schienen im Herbst 2010 ausgeschrieben. Als Beginnder Maßnahmen war der 3. Januar 2011 vorgesehen.Eine erste inhaltliche Auswertung der Durchführungs-qualität, insbesondere Analyse der Eingliederungsquo-ten, wird dann frühestens Ende 2012 erfolgen können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10609
gegebene RedenDr. Matthias Zimmer
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Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg derIntegrationsmaßnahmen ist fachlich qualifiziertes undgeeignetes Personal. Zwar ist es vor dem Hintergrundder Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der-zeit vergaberechtlich nicht möglich, Vorgaben an dieDienstleister zur Entlohnung ihrer Fachkräfte zu stellen,doch kann auch durch die Anforderungen an die Quali-fikation des in der Maßnahme eingesetzten Personals imRahmen der Ausschreibungsunterlagen ein ausreichendhoher Qualitätsstandard für die Durchführung bestimmtund damit den besonderen behinderungsbedingten Be-dürfnissen der Teilnehmer Rechnung getragen werden.Darüber hinaus unterstützen sachgerechte Anforderun-gen an die technische Ausstattung, die dem Stand derTechnik und den gesetzlichen Vorgaben entsprechenmuss, die erfolgreiche Durchführung der Maßnahmenzur beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Men-schen.Lassen sie uns nun gemeinsam die Evaluation derAusschreibungspflicht abwarten! Uns eint das Ziel einerqualitativ hochwertigen und nachhaltigen Integrationbehinderter Menschen. Lassen sie uns dabei offen seinfür neue Lösungen und Wege! Es geht um Integrationund nicht um Ideologie. Entscheidend für uns ist, dassIntegration gelingt, und nicht, durch wen.
Die Integrationsfachdienste wurden geschaffen, da-mit in dem Bereich der Vermittlung und Begleitungschwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeits-markt eine qualitativ hochwertige Dienstleistung undeine einheitliche und regional vernetzte Struktur ge-währleistet werden können. Verantwortung dafür tragendie Rehabilitationsträger und die Integrationsämter ge-meinsam.Menschen mit Behinderung sind auch selbst in diesenDiensten mitbeschäftigt und sorgen dafür, dass dieChancen auf Teilhabe am Arbeitsleben insgesamt stei-gen. Dabei arbeiten die IFD sehr erfolgreich: Sie bietenkompetente und individuell passgenaue Unterstützungfür die Betroffenen und auch für die Arbeitgeber. DieIFD haben hervorragende Kontakte zu Arbeitgebernund können diesen erklären, wie man am besten einenschwerbehinderten Arbeitnehmer einstellt, können ihnendie Berührungsängste nehmen und sie bei der Einrich-tung von barrierefreien Arbeitsplätzen unterstützen – dasErfolgsgeheimnis der IFD!So unterstützten die Integrationsfachdienste im Jahr2007 rund 89 800 besonders betroffene schwerbehin-derte Menschen. Im Jahr 2005 waren es noch 77 600.Bei 30 400 in 2007 schwerbehinderten Menschen ge-nügte eine qualifizierte Beratung bzw. eine kurzzeitigeIntervention, um den Integrationserfolg zu erzielen.2005 waren es noch 26 500. Bei knapp 69 300 Personenwar hingegen eine umfangreichere und auch längerfris-tige Begleitung erforderlich, um ein bestehendes Ar-beitsverhältnis zu stabilisieren oder sie in ein neues zuvermitteln. 2005 waren das noch 51 000 Personen.Im Jahr 2009 haben die Integrationsfachdienste aufdiesem Wege 7 324 schwerbehinderte Menschen in Ar-Zu Protokollbeit vermittelt. Insgesamt stieg die Zahl der unterstütz-ten Menschen mit Behinderungen von 2005 bis 2009sogar um 29 Prozent – von 77 600 auf rund100 000 Personen. Dabei ist besonders zu beachten,dass es sich bei den Klienten der IFD um eine sehrschwer vermittelbare Zielgruppe handelt: Es sind über-wiegend Menschen mit einer schweren seelischen, geis-tigen oder körperlichen Behinderung, seh- oder hörge-schädigte schwerbehinderte Menschen sowie Menschenmit mehrfachen Behinderungen.Die Integrationsfachdienste leisten somit seit Jahrenkontinuierlich hervorragende Arbeit in einer verlässli-chen bundeseinheitlichen Struktur, auch wenn die Leis-tungen regional sehr unterschiedlich und durchaus aus-baufähig sind. Eine Weiterentwicklung des Systems istjedoch einer Öffnung und Zerschlagung vorzuziehen.Eine Zerschlagung ist zu befürchten, da die Integra-tionsfachdienste seit vergangenem Jahr Aufträge fürVermittlungsleistungen durch die Bundesagentur für Ar-beit nicht mehr freihändig erhalten, sondern sich dafürmit anderen Anbietern an Ausschreibungen beteiligenmüssen. Die Anwendung der Ausschreibung für die Ver-gabe von IFD-Leistungen wird vom zuständigen Bun-desministerium für Arbeit und Soziales fälschlicher-weise für verbindlich und alternativlos gehalten.Ausschreibungen sind nicht grundsätzlich abzuleh-nen – das sage ich ganz bewusst –; sie sind uns ja zumTeil auch durch europäische und nationale Wettbe-werbspolitik verordnet. Das gilt hier aber nicht, dennder Sozialbereich ist ausnahmsweise von Ausschreibun-gen auszunehmen; es herrscht hier kein freier Wettbe-werb in einem freien Markt. Ökonomen sprechen von ei-nem sogenannten Marktversagen. Der Sozialmarkterfordert eigene Steuerungsformen.Nach unserer Auffassung lässt das Vergaberecht un-ter Beachtung des EU-Rechts grundsätzlich eine Aus-nahme zu, denn die Staaten haben im Rahmen des EU-Rechts nach wie vor die Verantwortung zur Steuerungund Gestaltung des Angebots und können begründeteAusnahmeregelungen setzen, wie dies in einzelnen Be-reichen innerhalb der VOL/A auch vorgenommen wurde.Eine einfache Übertragung aus anderen Wirtschafts-bereichen ist nicht sachgerecht, und das wird hier kon-kret auch keinen Erfolg bringen.Ausschreibungen, wie wir sie aus der Praxis der Bun-desagentur für Arbeit im Bereich der beruflichen Reha-bilitation kennen, treiben seit Jahren Anbieter in einenPreiskampf und zerstören die Qualität, anstatt das vor-handene, nachgewiesenermaßen erfolgreiche Systemberuflicher Teilhabe weiterzuentwickeln. Die Ausschrei-bung von Leistungen in dem Bereich der individuellenDienstleistungen für schwerbehinderte Menschen istvöllig ungeeignet, erfolgreich die Vermittlung und Be-gleitung am Arbeitsmarkt zu organisieren. Häufige Trä-gerwechsel, die den Vermittlungserfolg durch Über-gangszeiten und neu zu knüpfende Kontakte zuUnternehmen und Verwaltung behindern, sind für die In-tegration von Menschen mit Behinderungen auf dem all-gemeinen Arbeitsmarkt kontraproduktiv. Erforderlich istvielmehr eine kontinuierliche und verlässliche Leistung –
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10610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenSilvia Schmidt
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beginnend von der ersten Kontaktaufnahme über dieVermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bis hinzu den begleitenden Hilfen.Es gibt keinen Nachweis – und auch das zuständigeMinisterium konnte ihn bisher nicht erbringen –, dassAusschreibungen generell und so, wie von der BA imSpeziellen durchgeführt, tatsächlich zu einer gesteiger-ten Ergebnisqualität führen. Solange dieser Nachweisnicht da ist und immer nur beschworen wird, lehnt dieSPD-Bundestagsfraktion Ausschreibungen im Bereichder Rehabilitation ab. Lassen Sie uns gemeinsam darü-ber diskutieren, wie das Rehasystem weiterzuentwickelnist, anstatt weiter der Ausschreibungsideologie anzu-hängen!Die Ausschreibung ist somit nicht nur ein System-bruch, sondern, was mindestens genauso schwer wiegt:Die Ministerialbürokratie versucht mindestens seit2009, das Parlament in dieser Frage auszuklammern.Wie unser Antrag aufzeigt, wurde der Gesetzgeber we-der durch die Berichte zur Rehabilitation oder zur Lageder Menschen mit Behinderung noch durch Informatio-nen für den Ausschuss oder Berichterstattungen infor-miert. Erst im März 2010, als die Änderung der Verga-beordnung durch das BMAS längst beschlossen war unddas Inkrafttreten zum 1. Mai nicht mehr aufgehaltenwerden konnte, hat man eine nachträgliche Rechtferti-gung ausgearbeitet.Dieses Verhalten kann für den Gesetzgeber nicht ak-zeptabel sein – das sage ich auch in Richtung meinerKolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktio-nen –; denn es hebelt eine gesetzlich verankerte Strukturauf dem Verordnungswege aus – ohne jede Chance derpolitischen Steuerung durch das Parlament. Was wirddie Folge sein? Fachlich wird die Qualität in der Ver-mittlung sinken, weil sich künftig viele andere, nichtqualifizierte Anbieter mitbewerben dürfen.Die IFD sind aber nur der Anfang – es kommen nachund nach alle ambulanten Leistungen unter Beschuss,und es besteht die Gefahr, dass bisher stationäre Leis-tungen zu ambulanten umgewidmet und für die Aus-schreibung geöffnet werden. Das nehmen wir nicht hinund werben mit unserem Antrag dafür, hier einen ande-ren Weg zu gehen und die Einheitlichkeit des SGB IX zustärken.Das Beste kommt wie immer zum Schluss: Es gibt ei-nen einstimmigen Beschluss der Arbeits- und Sozial-minister, der das Anliegen unseres Antrages unterstützt.Ich rate daher, sich in dieser Sache nicht Äpfel für Bir-nen verkaufen zu lassen. In dem Beschluss und in unse-rem Antrag steht es richtig: Freihändige Vergabe musswieder ermöglicht werden, die Ausschreibungspflichtmuss gestoppt werden.Jeder Abgeordnete sollte die IFD im Wahlkreis aucheinfach mal besuchen und sich anschauen, wie da gear-beitet wird und was da an Kompetenz zur Arbeitsmarkt-integration vorhanden ist. Die Diskussion im Ausschusswird zeigen, ob wir gemeinsam das bestehende Systemweiterentwickeln können oder ob die MarktideologieZu Protokollsich hier Bahn bricht und uns ein bewährtes System ka-puttmacht.
Die Frage, wie Menschen mit Behinderung einen fürsie passenden Arbeitsplatz finden, ist zentral. SelberGeld zu verdienen, davon leben zu können und selber be-stimmen zu können, wie das Leben gestaltet sein soll,macht unabhängig. Jeder Mensch soll unabhängig vonseinem Handicap entscheiden können, wie er sein Lebengestalten möchte. Für mich als Liberale ist das ein zen-traler Ansatz unserer Politik für Menschen mit Behinde-rung.Gerade Menschen mit Behinderung müssen beson-dere Anstrengungen unternehmen, um ihr Leben so ge-stalten zu können, wie sie es sich selber wünschen. EinenArbeitsplatz zu haben, auch außerhalb des geschütztenRaumes einer Werkstatt, ist ein wesentlicher Teil einesselbstbestimmten Lebens. Ich weiß aus vielen Gesprä-chen, dass Menschen mit Behinderung arbeiten wollenund hochmotiviert sind. Sie dabei zu unterstützen, einenfür sie passenden Arbeitsplatz zu finden, muss bereits inder Schule beginnen. Beratung und Betreuung ist danneffizient, wenn sie die individuelle Behinderung berück-sichtigt und Möglichkeiten aufzeigt, ein Arbeitsverhält-nis aufzunehmen oder fortzuführen, zum Beispiel durchtechnische Hilfsmittel oder durch die Anpassung des Ar-beitsplatzes. Theoriereduzierte Ausbildungsgänge sowiemodulare Ausbildungsgänge bieten zum Beispiel lernbe-hinderten Menschen die Möglichkeit, eine Ausbildungzu absolvieren und einen Abschluss zu erlangen. AuchUnternehmen könnten durch gezieltes Jobcoaching er-mutigt werden, Menschen mit Behinderung einzustellen.Integrationsfachdienste haben die Aufgabe übernom-men, Menschen mit Behinderung bei Eingliederung undTeilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu unter-stützen. Sie sitzen an der Schnittstelle von Unternehmenund zukünftigen Arbeitnehmern und haben somit einewichtige Mittlerrolle.Im Jahr 2009 erfolgte die Anpassung des deutschenVergaberechts an europarechtliche Vorgaben. Die Ände-rungen in der Vergabeordnung für Leistungen habendazu geführt, dass die freihändige Vergabe von Integra-tionsfachdiensten nicht mehr möglich ist. Bisher wurdedieser Ausnahmetatbestand durch die Vergabeordnungfür Leistungen gestützt. Das bedeutet, dass künftigeMaßnahmen zur Eingliederung von Menschen mit Be-hinderung grundsätzlich nach § 46 SGB III von der Bun-desagentur für Arbeit öffentlich ausgeschrieben werdenmüssen.Eine große Diskussion wurde mit dieser gesetzlichenNeuregelung ausgelöst. Die Kritiker befürchten, dassdurch die Ausschreibung der qualitativ hohe Standardder Arbeit der Integrationsfachdienste leidet und vielesich nicht behaupten können. Diese Befürchtung istnicht haltbar. Eine Ausschreibung muss durchaus keinNachteil sein, wie es aber auch der vorliegende Antragder SPD-Fraktion suggeriert.Ich möchte kurz daran erinnern, was der Sinn unddas Ziel öffentlicher Ausschreibungen ist. Eine Aus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10611
gegebene RedenGabriele Molitor
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schreibung ist ein Teil des Verfahrens zur Vergabe vonAufträgen im Wettbewerb. Ihr Ziel ist es, eine möglichstpassgenaue, qualitativ gute oder hochwertige Leistungzu bekommen.Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stehtzu dem Grundsatz der Ausschreibung. Im Rahmen derArbeitsmarktpolitik gibt es drei Zielsetzungen, die eineAusschreibung erfüllen muss: Effektivität, Qualität undWirtschaftlichkeit. Damit wird gewährleistet, dass derKunde, in diesem Fall ein Mensch mit Behinderung, derarbeiten möchte und hierbei Unterstützung braucht,bestmöglich beraten wird. Wenn Anbieter an einem Ortgute Beratung leisten, dann werden sie dies auch zu-künftig tun können. Entscheidend ist dabei auch derAspekt der Nachhaltigkeit. Nicht der kurzfristige Ver-mittlungserfolg zählt, sondern das langfristige Arbeits-verhältnis eines Unternehmens mit einem Arbeitnehmermit Behinderung.Und Integrationsfachdienste leisten in der Tat guteArbeit. Das belegen die Vermittlungszahlen. Insofernsind die Befürchtungen der Integrationsfachdienste, beiöffentlichen Ausschreibungen nicht mehr berücksichtigtzu werden, nicht zutreffend. Gute Leistung wird sichauch weiterhin durchsetzen.Die Kritik an der Ausschreibung berücksichtigt über-dies nicht, dass das Vergabeverfahren nicht willkürlicherfolgt, sondern anhand festgelegter Prüfkriterien. DieAnbieter müssen nachweisen, dass sie über umfassendeaktuelle fachliche Erfahrungen, Kenntnisse und Fertig-keiten für die zu erbringende Leistung verfügen. Diesheißt beispielsweise: Um einen Zuschlag zu erhalten,müssen entweder innerhalb der letzten drei Jahre ver-gleichbare Leistungen durchgeführt worden sein odermuss das Personal bereits solche Beratungen durchge-führt haben.Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt eingehen:die regionale Ausprägung. Damit Menschen mit Behin-derung eine kompetente Beratung erhalten, bewertet dieörtliche Agentur bzw. der Träger der Grundsicherungdie vorliegenden Angebote. Es ist sehr sinnvoll, dieseBewertung nicht zentral vorzunehmen, da ein Vertretervor Ort die lokalen Besonderheiten kennt und beurteilenkann, ob das unterbreitete Angebot passend ist.Schließlich ist auch jedes Bundesland mit seinen Inte-grationsfachdiensten unterschiedlich aufgestellt. InNordrhein-Westfalen sind sie sehr häufig bei der Ver-mittlung von Menschen mit Behinderung einbezogen,genauso auch in Baden-Württemberg oder Bayern. Ge-nerell lässt sich aber festhalten, dass die Unterschiedein der Vermittlung nicht davon abhängen, ob ein Inte-grationsfachdienst eingeschaltet ist oder nicht. Damit istdie Aussage, die gerne in diesem Zusammenhang insFeld geführt wird, widerlegt: dass allein und ausschließ-lich ein Integrationsfachdienst, der langjährig in derRegion tätig ist und über entsprechende Strukturen ver-fügt, der richtige Arbeitsvermittler für Menschen mit Be-hinderung ist.Mir ist wichtig, festzuhalten, dass die Qualität derVermittlung unter den geänderten VergabebedingungenZu Protokollnicht geringer sein wird als zuvor. Das ist schließlich derentscheidende Punkt. Ganz grundsätzlich begrüßt dieFDP das Mehr an Wettbewerb. Gute und kompetenteLeistung wird sich durchsetzen. Dies ist in jedem Fall imSinne der Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen.
Der vorliegende Antrag versucht, zu verhindern, dassein seit langem bestehendes Problem größer wird: dieVermittlung von schwerbehinderten Menschen auf denregulären Arbeitsmarkt.Die Linke spricht sich seit langem gegen den Wettbe-werb im Bereich Arbeitsvermittlung, Weiterbildung undArbeitsplatzsicherung aus. Vor diesem Hintergrund be-fürwortete die Linke die freihändige Vergabe von Mittelndurch die Arbeitsagentur an die Integrationsfach-dienste. Dafür gibt es gute Gründe: Die erfolgreiche unddauerhafte Vermittlung von Menschen mit schweren Be-hinderungen auf den regulären Arbeitsmarkt bleibtschwierig. Die Krise hat bestehende Hindernisse nochverschärft und vermehrt. Die UN-Konvention jedochschreibt ausdrücklich soziale Teilhabe als individuellesRecht von Menschen mit Behinderung fest. In Art. 27„Arbeit und Beschäftigung“ schreibt sie vor, staatlich zusichern und zu fördern, dass behinderte Menschen in ei-nem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinde-rungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeldfrei wählen können. Diese Gleichstellung gilt auch hin-sichtlich des Entgelts.Das für dieses Ziel in den letzten Jahren entwickelteInstrument sind die Integrationsfachdienste. Sie sichernKontinuität in der Vermittlung. Hier ist Sachverstandversammelt. Hier wuchsen in den letzten Jahren vertrau-ensvolle Kontakte. Integrationsfachdienste begleitenbehinderte Menschen von der Schule bis in die Unter-nehmen. Durch öffentliche Ausschreibung entsteht dieGefahr, dass Leistungsangebote mit nur befristet ange-stellten Fachkräften gewinnen, weil kein Anbieter weiß,wie lange er sich am Markt behaupten wird. Es wird derbilligste Anbieter dominieren, der wahrscheinlich Dum-pinglöhne zahlt, und es besteht die Gefahr, dass Men-schen mit Behinderungen in nur arbeitnehmerähnlichenVerhältnissen an den regulären Arbeitsmarkt ausgelie-hen werden.Dr. Richard Auernheimer, ehemaliger Staatssekretärin Rheinland-Pfalz, schätzt in einer öffentlichen Anhö-rung von Sachverständigen in Berlin am 3. Mai 2010 zurDrucksache 16/13829 gegenüber der Bundesregierungein:Die Ausschreibung führt zu einer neuen Strukturvon Anbietern, die wirtschaftlich in der Lage sind,überall in der Bundesrepublik anzubieten und auf-zutreten. Das Sozialraum-Prinzip wird damit aufge-hoben, bevor es überhaupt umgesetzt werden kann.Was vermieden werden sollte, entsteht neu. Nämlichein von den Anbietern vorbestimmtes Geschehen.Wir sollten alles vermeiden, was die Integrations-fachdienste schwächt oder über marktwirtschaftlicheMechanismen abschafft. Die Gefahr, dass über öffentli-
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10612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenDr. Ilja Seifert
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che Ausschreibungen mehr zerstört als produktiv ge-macht wird, ist groß. Wenn Sachverstand, Fachkenntnisund vertrauensvolle Beziehungen erst einmal zerstörtsind, wird es sehr schwer, sie wieder zusammenzubrin-gen. Das beweisen die Änderungen in den rechtlichenRegelungen zur Arbeitsvermittlung der letzten Jahre.Der vorliegende Antrag versucht, eine solche Auflö-sung gewachsener Strukturen zu verhindern. Deshalbwird die Fraktion Die Linke den vorliegenden Antrag inden Ausschüssen konstruktiv diskutieren.
Heute sprechen wir über ein sehr erfolgreiches In-strument zur Vermittlung und Begleitung von behinder-ten Menschen mit besonderen Problemlagen in den ers-ten Arbeitsmarkt: die Integrationsfachdienste, IFD.Integrationsfachdienste arbeiten träger- und schnitt-stellenübergreifend und bieten eine Komplexleistung an,die ein ganzes Bündel am Unterstützungsmaßnahmenbeinhaltet. Der Gesetzgeber hat mit der Verankerungder IFDs in das SGB IX im Jahr 2000 einen umfassen-den Auftrag beschrieben, den es sich lohnt, nochmalsgenau vor Augen zu führen. So heißt es gemäß § 110SGB IX wie folgt:
Die Integrationsfachdienste können zur Teil-
habe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben
indem sie1. die schwerbehinderten Menschen beraten, unter-stützen und auf geeignete Arbeitsplätze vermitteln,2. die Arbeitgeber informieren, beraten und ihnenHilfe leisten.
Zu den Aufgaben des Integrationsfachdienstes
gehört es,1. die Fähigkeiten der zugewiesenen schwerbehin-derten Menschen zu bewerten und einzuschätzenund dabei ein individuelles Fähigkeits-, Leistungs-und Interessenprofil zur Vorbereitung auf den all-gemeinen Arbeitsmarkt in enger Kooperation mitden schwerbehinderten Menschen, dem Auftragge-ber und der abgebenden Einrichtung der schuli-schen oder beruflichen Bildung oder Rehabilitationzu erarbeiten,1a. die Bundesagentur für Arbeit auf deren Anfor-derung bei der Berufsorientierung und Berufsbera-tung in den Schulen einschließlich der auf jedeneinzelnen Jugendlichen bezogenen Dokumentationder Ergebnisse zu unterstützen,1b. die betriebliche Ausbildung schwerbehinderter,insbesondere seelisch und lernbehinderter Jugend-licher zu begleiten,2. geeignete Arbeitsplätze auf dem allgemei-nen Arbeitsmarkt zu erschließen,3. die schwerbehinderten Menschen auf die vorge-sehenen Arbeitsplätze vorzubereiten,Zu Protokoll4. die schwerbehinderten Menschen, solange erfor-derlich, am Arbeitsplatz oder beim Training der be-rufspraktischen Fähigkeiten am konkreten Arbeits-platz zu begleiten,5. mit Zustimmung des schwerbehinderten Men-schen die Mitarbeiter im Betrieb oder in derDienststelle über Art und Auswirkungen der Behin-derung und über entsprechende Verhaltensregelnzu informieren und zu beraten,6. eine Nachbetreuung, Krisenintervention oderpsychosoziale Betreuung durchzuführen sowie7. als Ansprechpartner für die Arbeitgeber zur Ver-fügung zu stehen, über die Leistungen für die Ar-beitgeber zu informieren und für die Arbeitgeberdiese Leistungen abzuklären,8. in Zusammenarbeit mit den Rehabilitationsträ-gern und den Integrationsämtern die für denschwerbehinderten Menschen benötigten Leistun-gen zu klären und bei der Beantragung zu unter-stützen.Für die Beauftragung der Integrationsfachdienstesind gemäß § 111 SGB IX die Integrationsämter oder diezuständigen Rehabilitationsträger verantwortlich. DerJahresbericht 2009/2010 der Bundesarbeitsgemeinschaftder Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, BIH,zeigt, dass die Nachfrage bei den Integrationsämternkontinuierlich steigt. So stieg die Zahl der unterstütztenMenschen mit Behinderungen von 2005 bis 2009 um29 Prozent, von etwa 77 600 auf rund 100 000 Perso-nen. Weiter heißt es in dem Bericht, dass die Vermitt-lungsquote in eine Beschäftigung bei durchschnittlich31,7 Prozent liegt, somit konnten im Jahr 20097 324 schwerbehinderte Menschen vermittelt werden.450 waren hierbei Schulabgänger oder Mitarbeiter ei-ner Werkstatt für behinderte Menschen. Die Zahl der zusichernden Arbeitslätze ist in den letzten vier Jahren an-gestiegen. Im Jahr 2009 wurden 11 027 Menschen inArbeit betreut, rund 75 Prozent konnten erfolgreich ge-sichert werden. Dass auch Arbeitgeberinnen und Arbeit-geber den Integrationsfachdienst in den letzten Jahrenimmer mehr zu schätzen wissen, zeigt die Zahl der un-mittelbaren Nachfragen aus den Betrieben und Dienst-stellen. So besagt der BIH-Jahresbericht, dass dieseZahl von 5 557 Fällen im Jahr 2005 auf 7 332 Fälle imJahr 2009 gestiegen ist.Die Bundesagentur für Arbeit, BA, ist im Gegensatzzu den Integrationsämtern nur noch für den Bereich derVermittlung zuständig. Im Rückblick war es allerdingsein Fehler, dass der Gesetzgeber die Leistung aufgeteiltund die BA nicht mehr als Auftraggeber eines umfassen-den Integrationsfachdienstes vorgesehen hat. Problema-tisch blieb in all den Jahren zudem die Beauftragungund Finanzierung durch die Bundesagentur für Arbeit,BA, sowie durch die SGB-II-Träger. Der in der Produkt-information zu § 37 SGB III bzw. § 16 SGB II verein-barte monatliche Grundbetrag reichte in der Vergangen-heit kontinuierlich nicht aus, um kostendeckend zuwirtschaften. Nichtsdestotrotz hob nicht zuletzt der Be-richt der Bundesregierung über die Lage behinderter
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10613
gegebene RedenMarkus Kurth
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Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe vom17. Juli 2009 die guten Arbeits-ergebnisse der Integrationsfachdienste hervor. Dies seiinsbesondere „angesichts der Tatsache, dass zum 1. Ja-nuar 2005 die Strukturverantwortung für die Integra-tionsfachdienste von der Bundesagentur für Arbeit aufdie Integrationsämter übergegangen ist und organisato-rische Änderungen die Folge waren“, bemerkenswert.Anstatt nun jedoch kontinuierlich an einer weiterenVerbesserung der Rahmenbedingungen zu arbeiten, kün-digte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales voreinigen Monaten an, die Integrationsfachdienste fortannicht mehr über die sogenannte freihändige Vergabe,sondern über den Weg der öffentlichen Ausschreibungzu beschaffen. Als Folge dieser Ankündigung brach imvergangenen Jahr ein regelrechter Sturm der Entrüstungund Empörung aufseiten der Träger der Integrations-fachdienste, Integrationsämtern und der Verbände derMenschen mit Behinderungen los.Dies war nicht verwunderlich, zeigten doch Erfah-rungen mit öffentlichen Ausschreibungen durch die Bun-desagentur für Arbeit, dass diese in den vergangenenJahren viel zu häufig negativ waren. Nicht nur in Einzel-fällen ist es etwa zu erheblichen Einbußen insbesonderebei der Vergütung des Personals, aber auch bei der Qua-lität und Verlässlichkeit gekommen. Aus diesem Grundebewerten auch Bündnis 90/Die Grünen seit Jahren dieAusschreibungspraxis durch die Bundesagentur kritisch.Das Instrument der öffentlichen Ausschreibung kannzwar – vernünftig angewendet – durchaus sinnvoll sein,um Wirtschaftlichkeit und Vergleichbarkeit der Leis-tungserbringer sicherzustellen. Es bestehen aber be-gründete Zweifel, ob gerade die Ausschreibungen imBereich der Weiterbildung, Rehabilitation und Beschäf-tigungsförderung vorrangig der Qualitätssicherung undnicht nur der Kostenreduzierung dienen.Mit der Ankündigung der Bundesregierung, künftig öf-fentlich auszuschreiben, gingen sodann viele Auseinan-dersetzungen und Unterrichtungen im federführendenBundestagsausschuss für Arbeit und Soziales einher, dieBündnis 90/Die Grünen initiierten. Ich habe in diesem Zu-sammenhang mehrere Aufträge an den WissenschaftlichenDienst des Deutschen Bundestages vergeben, um heraus-zufinden, ob die öffentliche Ausschreibung aus vergabe-und europarechtlichen Gründen alternativlos sei, wiedie Bundesregierung stets behauptete. Eine Ausarbei-tung des Wissenschaftlichen Dienstes des DeutschenBundestages zur Anwendung des Vergaberechts nach§ 46 SGB III bestätigte hierbei unsere Rechtsauffassung,wonach eine öffentliche Ausschreibung von LeistungenDritter – hier die Integrationsfachdienste – keineswegs„alternativlos“ sei. Zwar ist die öffentliche Ausschrei-bung von Rehabilitationsdienstleistungen nicht verbo-ten. Sie ist aber auch in keinem Fall zwingend gebotenund bedarf der sorgfältigen Abwägung und Prüfung imEinzelfall.Unabhängig von dieser rechtlichen Frage scheint dieöffentliche Ausschreibung schlichtweg politisch gewollt.Das geht unzweideutig aus der von uns Grünen angefor-derten Unterrichtung durch das Bundesministerium fürZu ProtokollArbeit und Soziales, BMAS, aus dem Mai 2010 hervor.Nach Auffassung des Ministeriums seien die Integra-tionsfachdienste bei der Vermittlung schwerbehinderterMenschen in Arbeit schon heute regional unterschied-lich erfolgreich. Daher sei der Einwand nichtig, eine of-fene Ausschreibung „bedeute den Abschied vom Gedan-ken des einheitlichen IFD“ und gefährde somit letztlichdie Qualität. Das Bundesministerium für Arbeit und So-ziales geht sogar davon aus, dass offene Ausschreibun-gen, sofern die Ausschreibungsunterlagen eine guteQualität der Maßnahmen sicherstellten, mittelfristig„eher zu einem besseren Dienstleistungsniveau führen“.Nicht nur aufgrund der aktuellen Ereignisse rund umdie Vergabe der Leistungen der Integrationsfachdiensteist es erforderlich, noch einmal grundlegend über dieAusschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit zusprechen und unter sachlichen Gesichtspunkten zu ent-scheiden:Während in den 90er-Jahren arbeitsmarktbezogeneMaßnahmen grundsätzlich freihändig vergeben wurden,werden seit dem Sommer 2003 Arbeitsmarktdienstleis-tungen vermehrt über den Weg der öffentlichen Auf-tragsvergabe beschafft. Der Anteil der im Bereich Ar-beitsmarktdienstleistungen durchgeführten öffentlichenAusschreibungen lag im Jahr 2009 bei rund 80 Prozent.Neben Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichenEingliederung nach § 46 SGB III werden derzeit etwaMaßnahmen im Bereich der beruflichen Rehabilitation– Diagnose Arbeitsmarktfähigkeit, DIA-AM, nach § 33SGB IX und Unterstützte Beschäftigung nach § 38 aSGB IX – oder Fördermaßnahmen für Jugendliche– BvB, abH, BaE, AQJ – öffentlich ausgeschrieben.Die fünf Regionalen Einkaufszentren, REZ, in Deutsch-land schreiben hierfür die Leistungen anhand sogenannterVerdingungsunterlagen aus. Letztere umfassen alle verga-berelevanten Aspekte des Leistungsumfangs, der Bieter-auswahl, der laufenden Berichterstattung während derBeauftragungen usw. Die Arbeitsagenturen vor Ort be-stellen bei den REZ ihre Maßnahmen. Ziel der öffentli-chen Auftragsvergabe war und ist eine höhere Wirt-schaftlichkeit und Qualität in der Leistungserbringungsowie Transparenz bei der Auftragsverteilung.Bündnis 90/Die Grünen haben wie bereits beschrie-ben den Prozess der Beschaffung von arbeitsmarktpoli-tischen Maßnahmen über die öffentliche Auftragsver-gabe stets kritisch begleitet. Auch wenn wir die Zieleeiner öffentlichen Ausschreibung nach mehr Wirtschaft-lichkeit, Qualität und Transparenz – verbunden mit derHoffnung nach Einbindung kleiner, regionaler Anbieter,zielgruppenspezifischer Angebote und hoher Planungs-sicherheit für die Träger – stets unterstützten und fürrichtig erachten, haben wir mögliche Alternativen derAuftragsbeschaffung nie aus den Augen verloren. EinGrünes Fachgespräch „Optimierung der Vergabepraxisarbeitsmarktpolitischer Maßnahmen – Das aktuelle Ver-gabeverfahren der Bundesagentur für Arbeit auf demPrüfstand“ vom 10. Mai 2006 offenbarte immer wiederdie Schwachstellen der öffentlichen Ausschreibung.Diese scheinen nunmehr auch fünf Jahre nach diesem
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10614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10615
Markus Kurth
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Fachgespräch nicht ausgeräumt, sodass wir über Alter-nativen sprechen sollten.Ich bin der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e. V.,bag arbeit, dem Zusammenschluss von fast 400 Beschäf-tigungs- und Qualifizierungsunternehmen in Deutsch-land, dankbar für ihre Reforminitiative zum Vergabe-recht. Die bag arbeit schlägt vor, die öffentlicheAusschreibung durch ein Mix aus Präqualifizierungs-verfahren, beschränkter Ausschreibung und freihändi-ger Vergabe zu ersetzen. Voraussetzung für alle Vergabe-verfahren sollte nach Ansicht der bag arbeit dieDurchführung eines vorgeschalteten Zulassungsverfah-rens zur Zertifizierung der Träger – sogenanntes Prä-qualifizierungsverfahren – sein. Hierdurch könnten dieVerwaltungsaufwendungen reduziert und Qualitätsstan-dards verbessert werden. Außerdem möchte die bag ar-beit, dass die Trennung zwischen Besteller – Arbeitsa-gentur – und Einkäufer – Einkaufszentren – wiederaufgehoben wird und die Federführung an den lokalenBedarfsträger übergeht, da dieser am besten die Förder-bedarfe der Teilnehmer berücksichtigt und die Leis-tungsfähigkeit der Anbieter kennt. Für die Vergabe derMaßnahmen selbst schlägt die bag arbeit eine Zweitei-lung vor: Für Maßnahmen, die abschließend beschreib-bar sind, sollte ein beschränktes Ausschreibungsverfah-ren zur Anwendung kommen. Maßnahmen jedoch, dienicht abschließend beschreibbar sind – dies betrifft ins-besondere Maßnahmen mit innovativen Elementen –werden über die freihändige Vergabe beschafft. Hierbeisollen in der Regel drei geeignete Träger aufgefordertwerden, ein Angebot abzugeben. Zwar sieht die bag ar-beit ihren Vorschlag im Einklang mit der VOL/A 2009,damit gemäß Vergaberecht aber nicht in jedem Einzel-fall eine Begründung für die Wahl einer beschränktenAusschreibung erfolgen muss, empfehlen sie jedoch eineKlarstellung des Verordnungsgebers in einer Neufas-sung der VOL/A 2011.Ich denke, dass wir auf der Grundlage der Reform-initiative der bag arbeit in den kommenden Monaten mitallen relevanten Akteuren ins Gespräch kommen sollten,um gemeinsam über mögliche Alternativen zu diskutie-ren.Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behin-derungen ist weiterhin prekär. Es ist besorgniserregend,dass vor diesem Hintergrund die Integrationsämter mitder Veränderung des Vergabeverfahrens keine Grund-lage mehr sehen, Vermittlungskräfte wie bisher bei denIntegrationsfachdiensten vorzuhalten. Ich habe diegroße Sorge, dass wir hier ein Instrument kaputtmachen,das doch vorweisbar erfolgreich und ermutigend warund ist. In unruhigen schwarz-gelben Zeiten, in der derBundesagentur Milliarden gekürzt werden und eine Kür-zung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen unter demStichwort „Evaluation“ droht, heißt es, ganz besonderswachsam zu sein.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4847 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der
Vereinbarung vom 16. April 2009 über die Än-
derungen des Übereinkommens vom 5. Sep-
tember 1998 zwischen der Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland, der Regierung des
Königreichs Dänemark und der Regierung der
Republik Polen über das Multinationale
Korps Nordost
– Drucksache 17/4809 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Wir beraten heute die Vereinbarung vom 16. April
2009 zwischen Deutschland, Dänemark und Polen, die
Veränderungen der Aufgaben dieses Stabes „Multinatio-
nales Korps Nordost“ in Stettin und Veränderungen des
Status dieses Hauptquartiers im Rahmen der NATO-
Kommandostruktur festschreibt.
Erlauben Sie einen Rückblick auf die Entstehungsge-
schichte dieses Korpsstabes: Er entstand 1999 aus dem
deutsch-dänischen Korpsstab Jütland, COMLANDJUT,
der bis dahin in Rendsburg, Schleswig-Holstein, statio-
niert gewesen war. Dieser Stab hatte im Rahmen der
Bündnisverteidigung die Aufgabe, im Verteidigungsfall
die Halbinsel Jütland als gemeinsame deutsch-dänische
Aufgabe zu verteidigen.
Nach den weltgeschichtlichen Umwälzungen der
90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und nach der Auf-
lösung des Warschauer Pakts war klar, dass die NATO-
Planungen für den Verteidigungsfall nicht unverändert
fortgeführt werden konnten. Zwar war Deutschland nun
– wie sich der damalige Verteidigungsminister Rühe
ausdrückte – nur noch von Freunden umgeben, aber
trotzdem blieb die Bündnisverteidigung als Hauptauf-
gabe der NATO bestehen. Gerade dieser Stabilitätsraum
der NATO übte ja sehr große Anziehungskraft auf die
ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und einen Teil der
Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus, und es gab ein
sehr großes Bedürfnis dieser Länder, Teil dieses Stabili-
tätsraumes zu werden.
Daher war es nicht verwunderlich, dass die Regierun-
gen Deutschlands, Dänemarks und Polens am 5. Septem-
ber 1998 eine Übereinkunft schlossen über die Transfor-
mation des bisherigen Hauptquartiers LANDJUT in ein
trinationales Hauptquartier der drei Ostsee-Anrainer-
staaten. Wohlgemerkt: Polen war zu diesem Zeitpunkt
noch nicht NATO-Mitglied, und so ist diese Vereinba-
rung zu einem Meilenstein der Integration dieses ehe-
maligen Mitgliedstaates des Warschauer Pakts in den
Sicherheitsraum der NATO geworden. Gewiss bedeutete
dies nicht, dass von dieser Vereinbarung schon eine
volle Schutzwirkung des Bündnisses für Polen entstand.
Aber die Gründung dieses Korpsstabes in der pommer-
schen Metropole Stettin, Polen, war so etwas wie ein Si-
Dr. Karl A. Lamers
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gnal für die im Jahr darauf vollzogene Aufnahme Po-
lens, Tschechiens und Ungarns in die NATO. Der neue
Korpsstab war zunächst nicht Teil der Kommandostruk-
tur der NATO. Aber er entwickelte sich weiter. 2004 ka-
men neue Aufgaben auf den Stab zu, als im Rahmen der
zweiten Erweiterungsrunde der NATO die ehemaligen
Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen dem
Bündnis beitraten. Nun suchte das Bündnis nach Mög-
lichkeiten, diese und andere der neuen Mitglieder in das
Bündnis zu integrieren.
In dieser Lage schlugen Deutschland, Dänemark und
Polen der NATO vor, den Multinationalen Korpsstab
Nordost, MNCNE, als Hauptquartier für Kräfte niederer
Verfügbarkeit in die Kommandostruktur des Bündnisses
zu integrieren. Der NATO-Rat fasste daraufhin am
26. August 2004 den Beschluss, das MNCNE in die
NATO-Streitkräftestruktur einzubinden. Der Korpsstab
in Stettin erhielt damit den Status eines internationalen
militärischen Hauptquartiers.
Die Aufgaben, die der Stab MNCNE nun im Rahmen
der NATO zu erfüllen hatte, waren und sind die Befähi-
gung zur Führung von multinationalen Großverbänden
im Rahmen von Operationen der NATO, die Beteiligung
an friedenserhaltenden Operationen und zur Hilfeleis-
tung bei Katastrophen größeren Ausmaßes. Vielleicht
die wichtigste Funktion war und ist jedoch die Integra-
tion neuer Mitglieder in die Bündnisstrukturen und die
Stabilisierung der Nord- bzw. Nordostflanke der NATO.
Die drei Gründerstaaten waren nun nicht mehr allein:
Estland, Lettland und Litauen traten 2004 bei, die Slo-
wakische und die Tschechische Republik 2005, die Verei-
nigten Staaten von Amerika 2006, Rumänien 2008 und
Slowenien 2009.
Die am 16. April 2009 zwischen Deutschland, Däne-
mark und Polen in Stettin gezeichnete Vereinbarung
nahm all diese Veränderungen der letzten Jahre in den
Blick und schaffte einen Rechtsrahmen für die künftige
Arbeit des Korpsstabes Nordost in Stettin. Deutschland,
Dänemark und Polen fungieren weiterhin als Rahmen-
staaten, die wesentliche Beiträge zur Führung, Organi-
sation und Finanzierung des Hauptquartiers Nordost
leisten. Die übrigen bereits genannten Staaten sind Teil-
nehmerstaaten und leisten ihre Beiträge, sind jedoch
nicht für die Führung und Organisation des Hauptquar-
tiers zuständig.
Das NATO-Hauptquartier MNCNE hat in all den
Jahren seit der Gründung 1999 wichtige Beiträge zum
Funktionieren und Zusammenwachsen des Bündnisses
geleistet. Der multinationale Stab, in dem heute elf Nati-
onen vertreten sind, hat bereits in zwei Einsätzen jeweils
ein halbes Jahr lang im Rahmen der ISAF in Afghanis-
tan seine Einsatz- und Führungsfähigkeit unter Beweis
gestellt. Dabei hat er sich auch unter kriegsmäßigen
Einsatzbedingungen als Kommandobehörde der NATO
voll und ganz bewährt.
Deutschland als größter Partner in diesem Stab leis-
tete von Anfang an wichtige Beiträge. Deutschland stellt
58 Offiziere und Unteroffiziere in diesem Stab; weitere
20 Soldaten und Beamte der Wehrverwaltung sind zu de-
ren Unterstützung in Stettin tätig. Das Kommando des
Zu Protokoll
Stabes rotiert zwischen Deutschland, Dänemark und
Polen. Deutschland hat im Gegensatz zu Dänemark und
Polen die Vereinbarung von 2009 noch nicht ratifiziert.
Es ist nun höchste Zeit, dass wir dem Beispiel der beiden
anderen Partnerländer folgen und diesen mit der Unter-
zeichnung das Gefühl vermitteln, dass uns die Angele-
genheit des MNCNE nach wie vor sehr wichtig ist.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Ge-
setz der Bundesregierung zu.
Frieden ist nach Karl Jaspers nur in Kooperation undnicht in abgegrenzter Koexistenz. Außen- und sicher-heitspolitisch beispielhaft belegt dies die multinationaleEinbindung der Bundeswehr in die EU und die NATO.Das Zusammenwirken unterschiedlich leistungsfähigerVerbände in multinationalen Strukturen, die sich in Aus-bildung, Ausrüstung, Tradition, Sprache und vor allemauch in den Führungsphilosophien unterscheiden, istein wertvoller und richtiger Schritt zu mehr Synergieund auch haushalterisch gebotener europäischer sicher-heitspolitischer Zusammenarbeit. Nach dem Wegfall derBedrohung durch den Warschauer Pakt wurden erhebli-che Streitkräftereduzierungen erreicht, sodass alleindadurch mehr Zusammenarbeit geboten war, um alle mi-litärischen Aufgabenfelder wahrzunehmen. Darüber hi-naus dürfen aber auch die friedenspolitischen Aspektenicht übersehen werden; so ist die Aufstellung multina-tionaler Streitkräfte auch ein Beitrag zur gemeinsamenSicherheit zur Vertrauensbildung zwischen Völkern undStaaten.Das Multinationale Korps Nordost, MNK NO, ist ei-nes der Hauptquartiere der NATO zur Führung vonOperationen und ist heute ein wichtiger Bestandteil derNATO-Kommandostruktur in Europa. Der Korpsstab,der im Frieden keine Truppen führt, ist befähigt zur Füh-rung multinationaler Großverbände im Rahmen derBündnisverteidigung der NATO, zur Beteiligung an frie-denserhaltenden Operationen und zur Hilfeleistung beiNaturkatastrophen. Das MNK NO hat sich eine Schlüs-selrolle bei der Integration neuer Mitglieder im Rahmender NATO-Osterweiterung erarbeitet. Nachdem beimNATO-Gipfel in Madrid 1997 den vormaligen Ostblock-staaten Polen, Ungarn und Tschechien ein NATO-Bei-tritt angeboten worden war, einigten sich die Verteidi-gungsminister Dänemarks, Deutschlands und Polens am16. April 1998 auf die Aufstellung eines gemeinsamenKorps. Ausgehend vom deutsch-dänischen KorpsLANDJUT wurden Truppen aus Polen nach dessenNATO-Beitritt in das Korps integriert. Bereits am5. September 1998, noch vor dem auf den 12. März 1999terminierten Beitritt, unterzeichneten sie in Stettin dasÜbereinkommen zur Bildung des Korps, in dem dessenGrundlagen festgelegt wurden.Neben dieser militärpolitischen Integrationsfunktiondes Korps steht es grundsätzlich für NATO-Einsätze zurVerfügung. Der Korpsstab wurde bereits zweimal erfolg-reich im Rahmen der Internationalen Sicherheits- undUnterstützungstruppe für jeweils sechs Monate in Af-
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10616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenRoderich Kiesewetter
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ghanistan eingesetzt und konnte so seine besondere Eig-nung für Einsätze unter Beweis stellen.In dem Übereinkommen vom 5. September 1998 zwi-schen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland,der Regierung des Königreichs Dänemark und der Re-gierung der Republik Polen über das MultinationaleKorps Nordost sind die Aufgaben und Aufträge des Mul-tinationalen Korps Nordost in Stettin geregelt. Gemein-sames Verständnis und Ziel der Vertragsstaaten seiner-zeit im Jahr 1998 war es, das Hauptquartier des Korpsals multinationales Hauptquartier außerhalb der NATO-Kommandostruktur zu errichten. Nach über 20 Jahrenmuss das Übereinkommen aber jetzt an neue Gegeben-heiten angepasst werden.Die neue Streitkräftestruktur der NATO, die im Juli2002 vom Nordatlantikrat gebilligt worden ist, bestehtaus aktiven und mobilmachungsfähigen Land-, Luft- undSeestreitkräften, die sich in unterschiedlichen Bereit-schaftsstufen befinden, um auf das gesamte Spektrummöglicher Bedrohungen und Risiken reagieren zu kön-nen. Vor dem Hintergrund dieser strategischen Neuaus-richtung der NATO wurde im April 2004 durch die Ver-tragsstaaten entschieden, das Hauptquartier des Korpsin Stettin weiterzuentwickeln. Durch Beschluss desNordatlantikrats vom 26. August 2004 wurde das Haupt-quartier des Multinationalen Korps Nordost in dieNATO-Streitkräftestruktur eingebunden. Zudem wurdeihm durch diesen Beschluss mit Wirkung zum 31. August2004 der Status eines internationalen militärischenNATO-Hauptquartiers unter Anwendung des Protokollsvom 28. August 1952 über die Rechtsstellung der auf-grund des Nordatlantikvertrags errichteten internatio-nalen militärischen Hauptquartiere verliehen.Maßgeblich prägend für die Neuausrichtung desKorps ist das Kriterium der Multinationalität. Es fordertdie Öffnung des Korps für Beteiligungen anderer NATO-Staaten, ohne dass diese zwingend als Rahmenstaaten,sogenannte Framework Nations, dem Übereinkommenvom 5. September 1998 beitreten. Diese Staaten als Teil-nehmerstaaten, sogenannte Participating Nations, leis-ten ihre Beiträge durch die Bereitstellung von Personalund Finanzmitteln und sind im Gegensatz zu den Rah-menstaaten nicht für Struktur, Funktionsfähigkeit undFinanzierung des Hauptquartiers und nicht für die Füh-rung des Korps verantwortlich. Als Teilnehmerstaatenbeteiligen sich bereits acht weitere Staaten am Multina-tionalen Korps Nordost: Estland, Lettland und Litauenseit 2004, die Slowakei und die Tschechische Republikseit 2005, die Vereinigten Staaten seit 2006, Rumänienseit 2008 und Slowenien seit 2009. Durch die Erfüllungverschiedenster Kriterien konnte mit dem Beschluss desNordatlantikrats im Februar 2006 das Hauptquartierdes Multinationalen Korps Nordost als Hauptquartierfür Kräfte niedriger Verfügbarkeit im Rahmen derNATO-Streitkräftestruktur anerkannt werden.Das sind erfreuliche Entwicklungen, die die Erfolgs-geschichte des MNK NO aufzeigen und wiederum ver-deutlichen, dass auch der gesetzliche Rahmen von 1998angepasst werden muss. Deshalb wurde am 16. April2009 in Stettin die uns vorliegende Vereinbarung zwi-Zu Protokollschen der Regierung der Republik Polen, der Regierungdes Königreichs Dänemark und der Regierung der Bun-desrepublik Deutschland über die Änderungen desÜbereinkommens zwischen der Regierung der RepublikPolen, der Regierung des Königreichs Dänemark undder Regierung der Bundesrepublik Deutschland überdas Multinationale Korps Nordost in englischer Spracheunterzeichnet. In dieser Änderungsvereinbarung werdendie Regelungen zum Rechtsstatus des Hauptquartiersangepasst, die Aufgaben und Aufträge des Multinationa-len Korps Nordost neu gefasst sowie die Bestimmungenzum Haushalt des Multinationalen Korps Nordost geän-dert. Ferner werden Begriffe deutlicher gefasst, damitdurch die Multinationalität des Korps jetzt klarer zwi-schen den Rahmenstaaten und den Teilnehmerstaatenunterschieden werden kann.Im Verlauf seiner zehnjährigen Geschichte hat sichdie Anzahl der am MNK NO beteiligten NATO-Staatenkontinuierlich erhöht. Heute leisten Soldaten aus elf Na-tionen ihren Dienst im Stab des MNK NO: Die Grün-dungsnationen des Korps – Deutschland, Dänemark undPolen – nahmen im Verlauf der letzten Jahre zunächstdie baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen,später Tschechien, die Slowakei und die USA sowie inder jüngsten Vergangenheit Rumänien und Slowenienauf. Am Stab des Korps sind neun NATO-Bündnispart-ner beteiligt, federführende Truppensteller sind aber diedrei Gründungsnationen Deutschland, Dänemark undPolen. Damit hat sich das Korps in den vergangenen13 Jahren seit seiner Gründung als Integrationsinstru-ment in außergewöhnlichem Maße bewährt undDeutschlands außen- und sicherheitspolitische Rolle imunmittelbaren europäischen Umfeld gefestigt, für Ver-trauen gesorgt und auch die Zusammenarbeit unter un-seren Nachbarstaaten spürbar verbessert.20 Jahre nach der Wiedervereinigung freut es mich,feststellen zu können, dass die europäische Integrationnicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspoli-tisch, auch dank des Multinationalen Korps Nordost, er-hebliche Fortschritte gemacht hat. Mit Blick auf diekünftig notwendige weitergehende sicherheitspolitischeIntegration Europas ist Deutschland durch seine Beteili-gung an multinationalen Korps, zum Beispiel auch mitdem Eurokorps und dem Deutsch/NiederländischenKorps gut vorbereitet für eine weitere, noch tiefere si-cherheitspolitische Zusammenarbeit auf europäischemBoden. Und darum geht es uns. Nicht zuletzt aufgrundseiner geografischen Lage als derzeit einziges Haupt-quartier ostwärts des ehemaligen Eisernen Vorhangeskommt dem Stettiner Korps eine Schlüsselfunktion beider Integration neuer NATO-Mitglieder zu.Neben den Einsätzen, die das MNK NO zum Beispielzweimal im Rahmen von ISAF leistete, ist der wichtigereAuftrag die Integration der neuen östlichen NATO-Partner und deren Heranführung an die NATO-Kom-mandostruktur und -verfahren, sowie die glaubhafte Sta-bilisierung der NATO-Nordostflanke. Darum ist es not-wendig und richtig, den Gründungsvertrag zwischenDänemark, Deutschland und Polen von 1998 entspre-chend zu ändern. Deutschland hat als einziger Vertrags-partner den Vertrag noch nicht ratifiziert. Die CDU/
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10617
gegebene RedenRoderich Kiesewetter
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CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf derBundesregierung zu, weil es notwendig ist. Das MNKNO braucht eine verlässliche und aktualisierte Rechts-grundlage für die gewachsenen Herausforderungen.Schaffen wir diesen Rahmen!
Das Multinationale Korps Nordost ist seit elf Jahren
ein vorbildliches Beispiel für gelungene militärische
Zusammenarbeit. Die ursprüngliche Idee, das Haupt-
quartier des Korps als multinationales Hauptquartier
außerhalb der NATO-Kommandostruktur zu etablieren,
ist durch die strategische Neuausrichtung der NATO
hinfällig geworden. Seither wurde das Hauptquartier
des Korps zu einem sogenannten Hauptquartier für
Kräfte niedriger Verfügbarkeit weiterentwickelt und in
die NATO-Streitkräftestruktur eingegliedert. Hierfür
wurden technische Veränderungen im Übereinkommen
vom 5. September 1998, welches die Bundesrepublik
Deutschland zusammen mit dem Königreich Dänemark
und der Republik Polen unterzeichnet hatte, nötig. Die-
sen Änderungen können wir so zustimmen.
Durch die Änderungen wurde auch die Multinationa-
lität des Korps möglich gemacht. Somit können sich nun
andere NATO-Staaten am Korps beteiligen, ohne dass
sie zwingend als Rahmenstaaten dem Übereinkommen
beitreten müssen. Diese Teilnehmerstaaten leisten ihre
Beiträge durch Personal und Finanzmittel. In jeder Hin-
sicht also ein gelungenes Beispiel für multinationale Zu-
sammenarbeit! So beteiligten sich seit 2004 Estland,
Lettland, Litauen, die Slowakei, die Tschechische Repu-
blik, die Vereinigten Staaten von Amerika, Rumänien
und Slowenien am Korps. Darüber hinaus war der
Korpsstab bereits zweimal im Rahmen von ISAF über je-
weils sechs Monate in Afghanistan im Einsatz. Unser
Dank und Respekt gilt allen Soldatinnen und Soldaten,
die sich daran beteiligt haben.
Es muss unser Ziel sein, die erfolgreiche multinatio-
nale Zusammenarbeit über das operative Level hinaus
zu intensivieren. Die verschiedenen Streitkräfte der
NATO-Staaten stehen allen ähnlichen Herausforderun-
gen gegenüber. Wir müssen uns also in anderen Berei-
chen besser koordinieren und so Synergieeffekte möglich
machen. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Beschaf-
fung oder an eine bessere und langfristige Aufgabentei-
lung. Lassen Sie uns das erfolgreiche Konzept des Mul-
tinationalen Korps Nordost als Anlass nehmen, um die
multinationale Zusammenarbeit zu intensivieren!
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges war es Westeuropavergönnt, in Frieden und Stabilität zu leben. Die Ursa-che für diese Entwicklung liegt im Willen zur europäi-schen Integration und in dem klaren Bekenntnis zurtransatlantischen Partnerschaft. Eine der wichtigstenSäulen deutscher Sicherheitsarchitektur ist die Mitglied-schaft in der NATO. Seit 1955 ist Deutschland in diesesVerteidigungsbündnis eingebunden, das darüber hinausauch einen gemeinsamen Wertekanon besitzt. Dies sindZu Protokolldie Förderung demokratischer Prozesse sowie die Si-cherung des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandesder Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten. Seitder Wiedervereinigung unseres Landes haben wir aufdem internationalen Parkett verstärkt Verantwortungübernommen und sind damit auch den Erwartungen un-serer europäischen und transatlantischen Partner nach-gekommen.Grundlegendes Merkmal einer gemeinsamen Vertei-digungsarchitektur sind multinationale Hauptquartiere,denen im Ernstfall die Truppen aus verschiedenen Mit-gliedstaaten unterstehen. Das Multinationale KorpsNordost in Stettin wurde 1998 durch das Königreich Dä-nemark, die Republik Polen und die BundesrepublikDeutschland aus der Taufe gehoben. Es sollte den dreiLändern die Möglichkeit einer engeren militärischenKooperation auch als vertrauensbildende Maßnahmebieten.Im Jahr 2004 wurde vor dem Hintergrund der strate-gischen Neuausrichtung der Allianz beschlossen, dasKorps der NATO als einen weiteren Bestandteil der ge-meinsamen Streitkräftearchitektur anzubieten. Gleich-zeitig wurde es im Zuge der NATO-Osterweiterung auchfür neue Mitgliedsländer geöffnet. Die baltischen Staa-ten sind genauso vertreten wie die Tschechische Repub-lik und die Slowakei, Rumänien, Slowenien. Damit liegtder Fokus des Multinationalen Korps Nordost auf Ost-und Südosteuropa. Deutschland als zentraleuropäischeNation kommt dabei seiner Mittlerfunktion nach undschafft so die Voraussetzung für eine Einbindung dernoch jungen NATO-Mitgliedstaaten in das bestehendeVerteidigungsbündnis.Das Hauptquartier ist dabei im Rahmen von Einsät-zen innerhalb der NATO, der Vereinten Nationen oderregionaler Kooperationen flexibel einsetzbar. Angehö-rige des Stettiner Hauptquartiers waren im Rahmen derInternational Security Assistance Force sowohl 2007 alsauch 2010 im ISAF-Hauptquartier in Kabul eingesetzt.Damit sammelte das Personal die notwendigen Erfah-rungen, um auch in Zukunft schnell und flexibel aufkomplexe und sich verändernde sicherheits- und vertei-digungspolitische Herausforderungen reagieren zu kön-nen.Im Falle Deutschlands ist dabei die Befassung desParlamentes die notwendige Voraussetzung, deutscheSoldaten in einen Auslandseinsatz entsenden zu können.Aufgrund der geschilderten Entwicklungen der letztenJahre wurde es erforderlich, das Übereinkommen ausdem Jahr 1998 gemäß dem vorliegenden Gesetzentwurfanzupassen. Dabei lässt sich konstatieren, dass diesohne eine Mehrbelastung des Haushaltes gelingen wird.Die Nordatlantische Allianz bleibt auch in Zukunftdie wichtigste Säule deutscher Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik. Internationale Kooperationen wie dasMultinationale Korps Nordost schaffen dabei Vertrauen,und sie sparen langfristig Ressourcen. Daher ist demvorliegenden Gesetzentwurf aus Sicht der FDP-Bundes-tagsfraktion zuzustimmen.
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gegebene Reden
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Das neue Strategische Konzept der NATO, das im
letzten Herbst in Lissabon verabschiedet wurde, lässt
keinen Zweifel: Die NATO soll als eine Art selbster-
nannter Weltpolizist überall auf der Welt vor allem die
sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen
der NATO-Staaten durchsetzen. Dafür sollen jetzt die
Strukturen des Militärbündnisses optimiert werden. Die
heute vorliegende Regierungsvereinbarung zwischen
Dänemark, Deutschland und Polen zur Änderung der
1998 vereinbarten Arbeitsgrundlage des Multinationa-
len Korps Nordost dient genau diesem Zweck. Im Rah-
men des NATO-internen Zulassungsprozesses für ein
solches Hauptquartier ist es unter anderem erforderlich,
die bisherigen Kooperationsbeziehungen zu den ande-
ren elf NATO-Streitkräften, die derzeit das Personal für
die Stäbe stellen, auf eine andere Arbeits- und Rechts-
grundlage zu stellen. Das Korps soll geöffnet werden für
andere NATO-Staaten, um damit auch eine verbesserte
Einsatzfähigkeit als verlegbares Hauptquartier für In-
terventionseinsätze zu erreichen.
Im Klartext gesprochen: Es könnte sein, dass bei der
nächsten Militärintervention à la Afghanistan das Mul-
tinationale Korps Nordost die Koordination im Einsatz
übernimmt. Quasi als Probelauf wurden 2007 und 2010
jeweils für sechs Monate bereits Teile des Korpsstabes
in die Führungsstrukturen im ISAF-Hauptquartier Ka-
bul integriert. 2014 ist wohl eine erneute Beteiligung ge-
plant.
Die Linke lehnt dies ab. Deutschland bzw. die Bun-
deswehr wäre gut beraten, sich aus dieser militärischen
Integration zurückzuziehen. Hier werden Sachzwänge
und Automatismen geschaffen, hinter denen sich die Re-
gierung im Zweifelsfall bequem verstecken kann – denn
ohne das Bundeswehrpersonal, das etwa 80 Personen
umfasst, wäre der Korpsstab kaum einsetzbar.
Was der Einsatz eines solchen Korpsstabes bedeuten
kann, wurde und wird in Afghanistan vorexerziert. Ob-
wohl bis 2009 gegenüber der deutschen Öffentlichkeit
noch die Illusion eines Stabilisierungseinsatzes in Af-
ghanistan gepflegt wurde und sich die Bundeswehr offi-
ziell auf den Norden als Einsatzgebiet beschränkte, war
man im Hauptquartier in Kabul auch mit deutschen Of-
fizieren vertreten. Und es war und ist das ISAF-Haupt-
quartier, das die Listen für die gezielten Tötungen erar-
beitet, das das Vorgehen bei Einsätzen der Kampf-
flugzeuge und bei Hausdurchsuchungen koordiniert. Vor
allem aber symbolisiert der vorliegende Gesetzentwurf
das ungebrochene Festhalten der Bundesregierung an
der allgemeinen strategischen Ausrichtung der NATO.
Die negativen Erfahrungen der letzten zehn Jahre, nicht
nur mit dem ISAF-Einsatz, sondern auch mit dem US-
geführten globalen Krieg gegen den Terrorismus oder
mit der gewaltsamen Kontrolle internationaler Seewege,
werden ausgeblendet. Geht es nach dem Willen der Bun-
desregierung, soll das Multinationale Korps Nordost
auch in Zukunft für solche Aufgaben Gewehr bei Fuß
stehen – ungeachtet der ernsten Konsequenzen für die
internationale Sicherheit. Dies ist der falsche Weg. Mehr
Frieden und mehr Sicherheit wird es nur mit weniger
NATO geben.
Zu Protokoll
Wir diskutieren heute über das sogenannte Multinati-onale Korps Nordost, einen multinationalen Streitkräfte-verband der NATO mit einem Stabshauptquartier impolnischen Szcezcin bzw. Stettin.Lassen Sie mich zunächst sagen, dass das Multinatio-nale Korps Nordost aus meiner Sicht ein hervorragen-des Beispiel für den positiven Wandel der Sicherheitspo-litik in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges ist.1962 wurde das erste und einzige multinationale Korpsder NATO, das deutsch-dänische Korps LANDJUT insLeben gerufen. 1998 wurde beschlossen, diesen Verbandzu einem trinationalen Korps unter Beteiligung Polensweiterzuentwickeln und das Hauptquartier des Stabesnach Szcezcin, Stettin, zu verlegen.Wenngleich Polen, Dänemark und Deutschland dieTruppensteller dieses integrierten Verbandes sind, sobeteiligen sich mittlerweile elf Staaten, darunter Slowe-nien und die baltischen Staaten, an der laufenden Stabs-arbeit in Stettin. Das ist aus meiner Sicht ein wichtigesSignal und Symbol für den europäischen Integrations-prozess auch im Bereich der Sicherheitspolitik. Auf deranderen Seite diskutieren wir ja heute über die Anpas-sung des Korps, die aus Sicht der Bundesregierung nötigist, weil sich die Vertragsstaaten im April 2004 entschie-den haben, das Hauptquartier des Korps in ein soge-nanntes Hauptquartier für Kräfte niedriger Verfügbar-keit weiterzuentwickeln.Hier gibt es aus meiner Sicht erheblichen Klärungs-bedarf. Diese Entscheidung ist nicht nur sieben Jahreher. Sie wurde auch auf der Grundlage des damaligenStrategischen Konzepts aus dem Jahr 1999 sowie der2002 gebilligten neuen Streitkräftestruktur getroffen.Seitdem ist in der Sicherheits- und Verteidigungspolitikin Europa und darüber hinaus viel geschehen: DerKrieg in Afghanistan – militärisch durch die NATO ge-führt – ist in seinem zehnten Jahr. Gleichzeitig hat sichdie NATO auf dem Gipfel in Lissabon im vergangenenJahr ein neues Strategisches Konzept gegeben. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat wieder-holt betont, dass die NATO effizienter und strukturellschlanker werden soll. Stäbe, Ausschüsse und Haupt-quartiere sollen reduziert werden.Vor diesem Hintergrund frage ich mich dann aberschon, inwiefern das Multinationale Korps Nordost inder jetzigen Form und Ausgestaltung in der künftigenStruktur der NATO seinen Platz hat. Wir reden hierheute quasi über die Nachwehen einer Entscheidung ausdem Jahr 2004!Deshalb fordere ich die Bundesregierung dringendauf, hier Klarheit zu schaffen. Dem Deutschen Bundes-tag wurde bisher nicht schlüssig auseinandergesetzt,welche Teile der 2002 gebilligten Streitkräftestrukturder NATO weiter Bestand haben sollen. Welche militäri-schen, multinationalen Verbände sollen künftig beste-hen, und wie sollen sie organisiert werden? Und vor al-lem: Welche Aufgaben sollen ihnen zukommen? DasStrategische Konzept der NATO schweigt sich hier mitBlick auf die wirklich wichtigen Details aus. Ich hoffe,dass wir in den weiteren Beratungen in den Ausschüssen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10619
gegebene Reden
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10620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Omid Nouripour
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bis zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfesnoch informiert werden und diesen KlärungsbedarfenRechnung getragen wird. Ansonsten hielte ich eine Zu-stimmung zum Vorschlag der Bundesregierung hierzufür schwierig.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/4809 an den Verteidigungsaus-
schuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mitgliedschaft in der International Organisa-
tion of Social Tourism
– Drucksache 17/4844 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Mit dem vorliegenden Antrag soll die Bundesregie-
rung aufgefordert werden, dass Deutschland umgehend
einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Internationalen
Organisation für Sozialtourismus, OITS, stellt und dort
auch aktiv mitarbeitet. Begründet wird das mit der damit
verbundenen Möglichkeit der direkten Einflussnahme
auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus auf euro-
päischer Ebene, dem Kennenlernen guter Praxisbei-
spiele in anderen Staaten sowie der möglichen Nutzung
dieser Beispiele auf nationaler Ebene.
Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass die Teil-
habe aller Bevölkerungskreise am Tourismus erklärtes
Ziel der Bundesregierung ist. In den Tourismuspoliti-
schen Leitlinien der Bundesregierung vom Dezember
2008 heißt es: Auch Menschen mit gesundheitlichen, so-
zialen oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen
können. – Dazu stehen wir.
Deshalb fördert die Bundesregierung bereits in er-
heblichem Umfang den Bau und die Einrichtung von Fa-
milienferienstätten, Jugendbildungs- und Begegnungs-
stätten, Jugendherbergen, die internationale Jugend-
arbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des
Bundes sowie den gezielten bilateralen Jugendaus-
tausch über das Deutsch-Französische Jugendwerk und
das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Darüber hinaus
fördert die Bundesregierung Projekte der Nationalen
Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, und
der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien, abm.
Mit dieser Projektförderung soll ein Beitrag zur aktiven
Freizeitgestaltung einschließlich des Reisens für Men-
schen mit chronischer Erkrankung und Behinderung ge-
leistet werden. Denn: Barrierefreies Reisen ist ein wich-
tiges Element für die Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen am gesellschaftlichen Leben.
Wie Sie sehen, engagiert sich die Bundesregierung
bereits in vielfältiger Weise für die Förderung des soge-
nannten Sozialtourismus, der in einzelnen Ländern im
Übrigen durchaus unterschiedlich interpretiert wird und
nicht einheitlich definiert ist. Zudem unterstützen auch
die Bundesländer Familien mit relativ geringem Ein-
kommen bei der Finanzierung gemeinsamer Ferien in
einer gemeinnützigen Familienferienstätte mit Individu-
alzuschüssen.
Auf lokaler Ebene gibt es weitere Programme zur
Kinder- und Jugenderholung, etwa in Ferienlagern, die
über Jugendämter, von freien Trägern und aus öffentli-
chen Mitteln finanziert werden.
Ein möglicher Nutzen einer Mitgliedschaft Deutsch-
lands in der bisher relativ unbekannten Internationalen
Organisation für Sozialtourismus ist nur schwer erkenn-
bar. So sind etwa Praxisbeispiele anderer Staaten oder
Perspektiven des Sozialtourismus auf europäischer
Ebene schon Gegenstand des Projektes „Calypso“ der
Europäischen Kommission, auf das auch ausdrücklich
auf der Internetseite der OITS hingewiesen wird.
Ziel von „Calypso“ ist die Förderung des grenzüber-
schreitenden Austausches für Touristen benachteiligter
Zielgruppen in Europa außerhalb der Saison. Dabei sol-
len mit staatlichen Mitteln finanzierte Urlaubsreisen be-
stimmter Bevölkerungsgruppen in andere Mitgliedstaa-
ten organsiert werden.
Mit diesem Projekt haben wir uns im vergangenen
Monat intensiv im Tourismusausschuss beschäftigt. Eine
Bestandsaufnahme der sogenannten bewährten Prakti-
ken in den zunächst 21 teilnehmenden Mitgliedstaaten
kam aber zu dem Schluss, dass sich die Praktiken weder
vergleichen noch bewerten lassen, weil sie sehr unter-
schiedlich ausgestaltet sind und auch sehr unterschied-
lichen touristischen Traditionen unterliegen, insbeson-
dere in den südeuropäischen Mitgliedstaaten. In dieser
Studie konnte nicht belegt werden, wie die dargestellten
Praktiken oder daraus abgeleiteten möglichen europäi-
schen Programme sich wirtschaftlich auswirken. Die ge-
plante Ausgestaltung von „Calypso“ lässt die Entste-
hung eines Subventionswettlaufs zwischen den Mit-
gliedstaaten befürchten mit der Gefahr, dass sich finan-
ziell selbsttragende Angebotsstrukturen zugunsten sub-
ventionsabhängiger Strukturen verdrängt würden. Eine
solche mögliche Entwicklung lehnen wir strikt ab.
Die Bundesregierung hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass es sich haushaltspolitisch nicht rechtfertigen
ließe, mit staatlichen Mitteln den Urlaub bestimmter Be-
völkerungsgruppen in anderen Mitgliedstaaten zu finan-
zieren. Mit anderen Worten: Wollen wir wirklich, dass
deutsche Steuerzahler den Urlaub beispielsweise däni-
scher Rentner in Spanien finanzieren, um dort im Winter
die dortigen Hotels besser auszulasten? Das kann doch
wohl nicht wahr sein!
Wir sind der Bundesregierung daher sehr dankbar,
dass sie in einem Bericht für den Tourismusausschuss
diese Initiative abgelehnt hat, da sie weder unter sozia-
Marlene Mortler
(C)
(B)
len noch unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten
zu rechtfertigen sei. Wir stimmen der Bewertung zu, dass
ein solches Austauschprogramm weder wünschenswert
noch praktikabel, umsetzbar oder finanzierbar wäre,
ganz zu schweigen von der Ausgrenzung der betroffenen
Menschen, die sich als Reisende zweiter Klasse fühlen
müssten. Deutschland wird sich deshalb auch in Zukunft
nicht an diesem EU-Projekt beteiligen.
Es gibt auch formale Gründe, die gegen das Ziel des
vorliegenden Antrags sprechen. So sind Mitglieder der
OITS bisher fast ausschließlich private und öffentliche
Organisationen, die meist gemeinnützige Ziele verfol-
gen. Dazu gehören nach Aussage der OITS nationale
Tourismusorganisationen, Urlaubszentren, Jugendher-
bergsnetzwerke, Gewerkschaftsorganisationen, Koope-
rativen, Nichtregierungsorganisationen und Bildungs-
einrichtungen. Dies ist also eigentlich eine klassische
internationale Nichtregierungsorganisation.
Nur wenige Länder sind offensichtlich über einzelne
Ministerien oder staatliche Organisationen Mitglied,
zum Beispiel Frankreich oder Spanien, wo der soge-
nannte Sozialtourismus eine lange historische Tradition
hat. Damit erscheint es formal und inhaltlich sehr frag-
lich, ob Deutschland als Land Mitglied werden soll oder
kann. Neben den aus öffentlichen Mitteln und von ge-
meinnützigen Organisationen unterstützen Urlaubsan-
geboten sollten wir aber auf gar keinen Fall die vielfäl-
tigen Möglichkeiten aus den Augen verlieren, die der
Tourismusstandort Deutschland schon heute für die ge-
nannten Zielgruppen bietet.
So gibt es in vielen ländlichen Regionen durchaus
preiswerte und attraktive Urlaubsformen wie Urlaub auf
dem Bauernhof. Zuweilen sind diese so günstig, dass
selbst ich als Agrar- und Tourismusexpertin stutze und
mich frage, wie sich das für den Anbieter rechnen kann.
Viele familiengeführte Bauernhöfe bieten nicht nur
Familien in der Hauptsaison, sondern auch älteren Rei-
senden oder Personen mit geringem Einkommen eine
persönliche, individuelle Betreuung in familiärer Atmos-
phäre. Diese und andere Urlaubsangebote im ländlichen
Raum wollen wir mit der im Koalitionsvertrag festgeleg-
ten Tourismuskonzeption für den ländlichen Raum för-
dern. Mit solchen Schritten können wir den sogenannten
Sozialtourismus sicherlich besser fördern als mit einer
Mitgliedschaft in dieser internationalen Organisation,
die wir ausdrücklich ablehnen.
Wir diskutieren heute über den Antrag der FraktionDie Linke, die die Bundesregierung zur Mitgliedschaftin der International Organisation of Social Tourism,OITS, auffordert.Was bedeutet eigentlich „Sozialtourismus“? Die Or-ganisation OITS und die Fraktion Die Linke habenselbst keinen eindeutigen Begriff dafür. „Sozialtouris-mus“ wird umschrieben als Tourismus von Personen,die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse, einerkörperlichen oder geistigen Behinderung, persönlicheroder familiärer Isolation, eingeschränkter MobilitätZu Protokolloder geografischer Schwierigkeiten ganz oder teilweiseunfähig sind, ihr Recht auf Tourismus wahrzunehmen.Die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismusist erklärtes Ziel der Bundesregierung, wie sie auch inihren Tourismuspolitischen Leitlinien festgestellt hat.Diesem Ziel fühlt sich auch die CDU/CSU-Fraktion ver-pflichtet. Der von den Linken geforderte Weg ist abernicht zielführend. Er vernachlässigt, dass wir bereitseine Fülle von Familien-, Jugend-, Studenten- und Senio-rentourismus und Tourismus für Behinderte haben. Vorallem im öffentlichen Bereich wird derzeit ein breiterZugang zu Erholung, Urlaub und Freizeiten angeboten.Gern möchte ich an dieser Stelle zur Erinnerung ein-mal die wichtigsten Anbieter nennen und dabei auch dieArbeit meiner Fraktionskollegen ausdrücklich loben, diesich hier im Rahmen ihrer Arbeit für die Förderung sol-cher Angebote einsetzen.Aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend werden allein für dasJahr 2011 insgesamt 42,343 Millionen Euro für die För-derung des Jugendtourismus eingesetzt: 20,317 Millio-nen Euro für die Förderung der internationalen Jugend-arbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplan desBundes, KJP, 10,226 Millionen Euro für das Deutsch-Französische Jugendwerk, 5 Millionen Euro für dasDeutsch-Polnische Jugendwerk und 5 Millionen Eurofür Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten so-wie Jugendherbergen.Die Bundesregierung fördert bereits Familienferien-stätten, Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten,Jugendherbergen sowie die Nationale Koordinierungs-stelle Tourismus für Alle e. V., NatKo.Zu nennen wäre auch der Katholische Arbeitskreisfür Familienerholung, deren Vorsitzende meine KolleginFrau Winkelmeier-Becker ist. Zusammen mit dem evan-gelischen Arbeitskreis Familienerholung und mit demparitätischen Arbeitskreis für Familienerholung bildeter die Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung.Zentrales Anliegen dieser Organisationen ist es, Fa-milien mit vielen Kindern einen preiswerten Urlaub infamilienfreundlichen Unterkünften anzubieten und denZusammenhalt in den Familien zu stärken. Dafür gibt esin Deutschland 120 gemeinnützige Familienferienstät-ten, die seit den 50er-Jahren entstanden sind.Diese Einrichtungen stellen 3 000 Arbeitsplätze underwirtschaften bei circa 3 Millionen Übernachtungenpro Jahr 100 Millionen Euro Umsatz. Sie befinden sichmeist in strukturschwachen Gebieten und geben wirt-schaftliche Impulse für ländliche Räume. Familienerho-lung wendet sich an alle Familien, doch werden finan-ziell benachteiligte und kinderreiche Familien, Alleiner-ziehende sowie Familien mit behinderten Kindern oderbehinderten Angehörigen besonders berücksichtigt.Aus dem Bundeshaushalt werden Bau und Renovie-rung von Familienferienstätten gegenwärtig mit 1,8 Mil-lionen Euro pro Jahr gefördert, BMFSFJ-Titel, in Kofi-nanzierung mit den Bundesländern und den Trägern
.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10621
gegebene RedenIngbert Liebing
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Angebote für Familienberatung, zur Stärkung der Fa-milienkompetenz und zur gesundheitlichen Präventionspielen dabei heute eine große Rolle. Solche Angebote inVerbindung mit einem Urlaub gibt es bei der kommer-ziellen Konkurrenz nicht. Familienerholung befindetsich damit an einer Schnittstelle von Familienpolitik,Sozialpolitik und Tourismuspolitik.Dies alles zeigt: Es gibt vielfältige, auch niederprei-sige Angebote, um allen Bevölkerungskreisen Urlaubvom Alltag zu ermöglichen. Dafür brauchen wir keineMitgliedschaft in einer internationalen Organisation;davon hätte keine einzige Familie, die wir im Blick ha-ben, etwas. Statt also Neues zu fordern, sollten wir lieberdie bewährten Strukturen fördern!Wichtig ist hierbei eine bessere Vermarktung bei-spielsweise der Familienferienstätten, die zurzeit ledig-lich über einen eigenen Katalog erfolgt, der auf Anfrageverschickt wird. Gegenwärtig erstellt die Bundesarbeits-gemeinschaft unter Federführung des EvangelischenArbeitskreises einen Antrag auf Förderung eines drei-jährigen Projektes, in dem aufgearbeitet werden soll,was Familienerholung leistet und wie das Marketingverbessert werden kann. Die Kosten würden insbeson-dere aus Personalkosten in Höhe von 200 000 Euro proJahr bestehen, wobei der größte Anteil vom BMFSFJ fi-nanziert werden soll.Auch diese konkreten Projekte helfen mehr als dieForderungen der Linken.Lassen Sie mich abschließend auf einen Aspekt hin-weisen, der mir besonders am Herzen liegt. Die Linkenschreiben in ihrem Antrag vom „Recht auf Tourismus“.Welche Dreistigkeit steckt hinter dieser Haltung der Lin-ken! Sie sind die direkten Nachfolger der SED. Ihre Par-teivorsitzende träumt schon wieder offen vom Kommu-nismus. Sie stehen in direkter Tradition derer, die ihrVolk in der damaligen DDR mit Mauer und Stacheldrahteingesperrt haben, in einem Land, in dem es kein „Rechtauf Tourismus“ gab, kein freies Reisen, sondern Reise-beschränkungen und Ausreiseverbote. Tourismus warstaatlich organisiert und reglementiert. Und gerade siereden jetzt vom „Recht auf Tourismus“? Sie sind die Al-lerletzten in diesem Hause, die diese Forderung in denMund nehmen dürfen!
Wahrscheinlich ist es den Regierungsfraktionen ganzrecht, dass die Reden zum heutigen Tagesordnungspunktzum Sozialtourismus zu Protokoll gegeben werden. Ichfinde das schade, denn der Antrag der Fraktion DieLinke, den wir heute beraten und den wir im Ausschussfür Tourismus noch genauer zu bewerten haben, bieteteine gute Möglichkeit, über die politische Unterstützungvon Menschen zu sprechen, die sich alleine keinen Ur-laub leisten können.Die SPD setzt sich seit langem dafür ein, dass alleMenschen am Tourismus teilhaben können. Dieses Zielhaben wir in unserer Regierungszeit 2009 auch in denTourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierungbeschlossen. Wir haben festgelegt: Auch Menschen mitZu Protokollgesundheitlichen, sozialen und finanziellen Einschrän-kungen sollen reisen können. Klar ist: Dazu bedarf esvielfältiger Anstrengungen. Der Vorstoß der FraktionDie Linke, dass Deutschland sich stärker in der Interna-tionalen Organisation für Sozialtourismus, OITS, enga-giert, kann dabei ein Baustein sein. Das BundesForumKinder- und Jugendreisen ist in der OITS bereits alsdeutsches Mitglied vertreten. Die Fraktion Die Linkeschreibt in ihrem Antrag etwas lapidar, dass StaatenMitglied sind und die Bundesregierung beitreten soll.Das müsste konkreter gefasst werden. Das Referat fürTourismuspolitik im Bundeswirtschaftsministerium wäreaus meiner Sicht der richtige Adressat.Bislang ist die OITS den deutschen Tourismusakteu-ren kaum bekannt. Das sollte die Regierung aber nichtdavon abhalten, zu prüfen, inwiefern die Mitgliedschaftdes Tourismusreferats einen Mehrwert verspricht, zumBeispiel durch das Sammeln guter Praxisbeispiele zurFörderung von Sozialtourismus, genauso aber auch, in-wieweit sich andere Akteure im Deutschlandtourismuszur Förderung des sozialen Aspekts einbringen könnten.Gerade das Thema Barrierefreiheit, das die OITS in ih-rer Arbeit aufgreift, könnte Deutschland durch eine Be-teiligung der Nationalen Koordinierungsstelle Touris-mus für Alle, NatKo, international voranbringen.Vonseiten der Regierung wäre es ein gutes Signal, wennsie für diesen Fall die – überschaubare – finanzielle Un-terstützung gewährleisten würde.Festzustellen ist jedenfalls, dass einige unserer EU-Nachbarn in der OITS gut vertreten sind, allen voranFrankreich mit der Tourismusdirektion des Wirtschafts-ministeriums und über 20 Organisationen. Insgesamtsind in dem internationalen Forum 35 Länder mit rund165 öffentlichen und privaten Organisationen beteiligt.Die Förderung des Sozialtourismus hat die EU mit der2009 gestarteten Initiative „Calypso“ aufgegriffen. Mitdem Projekt wurde ausgelotet, wie benachteiligten Ziel-gruppen grenzüberschreitende Reisen ermöglicht wer-den können. Dazu zählen Menschen mit Behinderungen,einkommensschwache Familien, Ältere ab 65 Jahren so-wie junge Erwachsene.Die Idee: Der Tourismus in der Nebensaison soll da-bei befördert werden. Nicht nur in Deutschland wissenwir, wie schwierig es für die Tourismusbranche ist,durch die Zeiten fernab der Ferien zu kommen. VieleSaisonarbeitskräfte stehen dann immer wieder aufsNeue ohne Arbeit da. Leider hat sich die Bundesregie-rung – im Gegensatz zu 21 Mitgliedstaaten – nicht an„Calypso“ beteiligt. Die Debatte dazu im Tourismus-ausschuss hat deutlich gemacht, wie sehr Schwarz-Gelballein marktordnungspolitische Bedenken herausstellt –nach dem Motto: zuerst der freie Markt, dann die be-dürftigen Menschen. Natürlich muss die Idee des EU-Pi-lotprojekts weitergedacht werden. So ist es gerade fürFamilien mit Schulkindern kaum möglich, außerhalb derHauptferienzeiten zu verreisen. Geklärt werden müsstezudem, wer genau von – zumindest teilweise – bezu-schussten Austauschangeboten profitieren soll, auch wiealle Länder möglichst gerecht beteiligt werden.
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10622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenGabriele Hiller-Ohm
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Die Regierung sollte hier aber nicht vergessen, dasses bei dem EU-Projekt auch um die Förderung des euro-päischen Gedankens geht. Es könnte ein weiterer wichti-ger Schritt hin zu mehr europäischer Verständigung, To-leranz und Miteinander sein, wenn gerade Menschen,die kein Geld zum Reisen übrig haben, Möglichkeitenerhalten, unsere Nachbarländer einmal kennenzulernen.Wenn man über den Tellerrand schaut, sollte die Bun-desregierung beim Thema Sozialtourismus auch direktin der Welttourismusorganisation ihren Einfluss wahr-nehmen. Leider besteht daran wohl wenig Interesse,wenn man die Bewertung zu „Calypso“ zugrunde legt.Interessant an der OITS ist der breite thematische An-satz. Aktuell gibt es drei Arbeitsgruppen für Jugendtou-rismus, Tourismus für Menschen mit Behinderungen so-wie fairen Tourismus. Ich finde es hierbei gut, dieBelange von Menschen mit Handicap, die vor den größ-ten Problemen beim Reisen stehen, mit einzubeziehen.Letztlich zeigt die Debatte um eine Mitgliedschaft inder OITS, die im Übrigen auch UNWTO-Mitglied ist,dann auch: Internationaler Austausch ist das eine, dienationalen Hausaufgaben zu erledigen, das andere. So-wohl der Bund als auch die Länder stehen in vielenPunkten in der Pflicht.Thema Familienerholung: Wir alle wissen: Das istwichtiger denn je. Warum geben dann immer wenigerBundesländer Zuschüsse für die Erholungseinrichtun-gen der Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung?Ob Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hessenoder Sachsen – hier sparen CDU und FDP die Unter-stützung für bedürftige Familien einfach ein. Auch inNRW und Hamburg ist das bislang der Fall. Wie gut,dass dort nun endlich wieder die SPD regiert!Zum Thema „Kinder- und Jugendreisen“: Warumweigert sich die Bundesregierung, den Aktionsplan Kin-der- und Jugendtourismus weiterzuführen? 2002 hatteRot-Grün diese wichtige Initiative gestartet. Nach neunJahren ist eine Evaluierung und Fortschreibung drin-gend nötig. Die Studie des BundesForums zu Kinder-und Jugendreisen 2008 zeigt, dass Kinder und Jugendli-che aus einkommensschwachen Haushalten deutlich we-niger am Tourismus teilhaben. Sie stellt auch fest, dassbei öffentlich geförderten Kinder- und Jugendreisendeutliche Kürzungen geplant sind. Bund und Ländersind in der Pflicht, ausreichend Angebote zu finanzieren.Erfreulich ist, dass es Regierung und SPD gelungen ist,mit dem Bildungs- und Teilhabepaket im Rahmen derRegelsatzneubemessung jetzt auch einkommensschwa-chen Familien Zuschüsse zu ein- und mehrtägigen Klas-senfahrten zu gewähren.Kinder- und Jugendreisen machen rund 30 Prozentdes Deutschlandtourismus aus. Dieses Standbein mussgezielt gestärkt werden. Problematisch ist allerdings dieSituation der Unterkünfte: Die Regierung spricht selbstvon einem Renovierungsstau. Auch hier muss Bewegungreinkommen.An der Förderung der deutschen Jugendherbergenals gemeinnützig anerkannter Träger der Jugendhilfedarf hingegen nicht gerüttelt werden. Die rund 550 Häu-Zu Protokollser, die preiswerte Angebote für Kinder, Jugendliche undFamilien vorhalten, sind für viele Regionen unverzicht-bar. Nun kommen die Jugendherbergen durch dieschwarz-gelbe Hotelsteuer in Bedrängnis, weil Kommu-nen wie meine Heimatstadt Lübeck Bettensteuern erhe-ben müssen, um die Steuerausfälle zu kompensieren.Thema „Barrierefreies Reisen“: Für Menschen mitBehinderungen ist das vordringliche Ziel die Herstel-lung von Barrierefreiheit in der gesamten touristischenServicekette. Die Potenziale eines barrierefreien Touris-mus in Deutschland sind groß und mit einem Umsatz vonfast fünf Milliarden Euro und rund 90 000 zusätzlichenVollzeitarbeitsplätzen laut der 2003 vom Bundeswirt-schaftsministerium in Auftrag gegebenen Barrierefrei-heitsstudie längst bekannt. Trotzdem hakt es an allenEcken und Enden der touristischen Servicekette: bei Zü-gen, Bahnhöfen, Flugzeugen, dem Zugang zu öffentlichgenutzten Gebäuden oder Leitsystemen durch die Stadt.Selbst in Hotels, die angeblich barrierefrei sind, ist fürReisende mit Handicap nicht selten spätestens bei derInneneinrichtung der Zimmer Schluss, weil Rollstühlenicht durch Türen passen, oder sich die Menschen nichtzurechtfinden. Wer sich ernsthaft um Barrierefreiheitkümmern will, dem muss klar sein: Jede Lücke in derbarrierefreien Reisekette kann schon das Aus der Reisebedeuten. Zugleich muss sich die Erkenntnis durchset-zen: Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerungzwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich undfür 100 Prozent komfortabel.Es besteht allerdings wenig Hoffnung, dass die Regie-rung im März einen Aktionsplan vorlegen wird, der dieUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ernst-haft in Angriff nimmt. Ich befürchte, dass der Aktions-plan für mehr Barrierefreiheit nicht über die bisherigenMaßnahmen hinausgeht. Die SPD wird in enger Abstim-mung mit den Behindertenverbänden ebenfalls ihre Po-sitionen veröffentlichen und die Regierung auch auf die-sem Feld antreiben.
Die Linke fordert die Bundesregierung mit dem vor-liegenden Antrag auf, die Mitgliedschaft in der Interna-tionalen Organisation für sozialen Tourismus zu bean-tragen und dort aktiv mitzuarbeiten. Warum?In der aktuellen 27. Deutschen Tourismusanalyse derStiftung für Zukunftsfragen heißt es:Die Reiselust kennt keine Grenzen, das Urlaubs-budget schon. ... So verreisten in der abgelaufenenUrlaubssaison vier von fünf Besserverdienenden
. Dagegen stagnierte die Zahl der reisenden
Geringverdiener in Deutschland auf niedrigem Ni-veau – nicht einmal jeder Dritte dieser Einkom-mensgruppe konnte sich 2010 eine Urlaubs-reise von fünf Tagen Dauer leisten.Hier wird deutlich, dass das vorhandene – und leidernicht wachsende – Instrumentarium an Förderungenvon bezahlbaren Reisen für alle, zum Beispiel über ge-meinnützige Familienferienstätten, die Angebote der Ju-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10623
gegebene RedenDr. Ilja Seifert
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gendherbergen, die von Vereinen organisierten Ferien-lager usw., nicht ausreicht.Ein zweites Zitat möchte ich anführen. In den Touris-muspolitischen Leitlinien der Bundesregierung heißt es:Ziel der Bundesregierung ist die Teilhabe aller Be-völkerungskreise am Tourismus. Auch Menschenmit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellenEinschränkungen sollen reisen können.Deshalb fragte ich am 6. Oktober 2010 in der Frage-stunde des Bundestages, wie die Bundesregierung diesesZiel für auf Hartz IV angewiesene Familien mit Kindernrealisieren will, da in den Regelsätzen Gelder für Reisenund Erholung nicht vorgesehen sind. Die Antwort des
Vorrangiges Ziel der Grundsicherung für Arbeitsu-
chende ist nicht in erster Linie die Umsetzung der
tourismuspolitischen Leitlinien, sondern die
schnellstmögliche Eingliederung der erwerbsfähi-
gen Hilfebedürftigen in den Arbeitsmarkt …
Bei der Entscheidung, welche einzelnen Ver-
brauchspositionen als regelsatzrelevant einzustu-
fen sind, wurde in der Abteilung 11 „Beherber-
gungs- und Gaststättendienstleistungen“ die
Position „Übernachtungen“ nicht als regelbedarfs-
relevant berücksichtigt. Diese Ausgaben sind dem
Bereich Urlaub zuzuordnen, der als nicht existenz-
sichernd anzusehen ist und folglich für den Regel-
bedarf nicht zu berücksichtigen ist.
Es muss davon ausgegangen werden, das auch Fa-
milien mit niedrigem Einkommen, die keine Leis-
tungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende er-
halten, nicht durchgängig Urlaube finanzieren
können.
Diese aus meiner Sicht skandalöse Antwort zeigt, wie
ernst die Bundesregierung eigene Zielstellungen nimmt.
Gerade auch geringverdienende Familien mit Kindern,
Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Behinderun-
gen oder Angehörige von zu pflegenden Menschen brau-
chen den Urlaub für ihre Erholung, Gesundheit und Bil-
dung. Und wer glaubt, dass es hier um Almosen geht und
nicht um Menschenrechte, sollte sich Art. 24 „Recht auf
Erholung und Freizeit“ der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948 oder die UN-Behinderten-
rechtskonvention, Art. 30 „Teilhabe am kulturellen Le-
ben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“, ansehen.
In seiner Stellungnahme zum „Sozialtourismus in Eu-
ropa“ stellt der Europäische Wirt-
schafts- und Sozialausschuss im Amtsblatt der Europäi-
schen Union vom 23. Dezember 2006 unter
anderem fest:
Alle Menschen, selbst die am stärksten benachtei-
ligten, benötigen in täglichen, wöchentlichen und
jährlichen Abständen Erholung, Freizeit und Zeit
zur Regeneration von der Arbeit, und sie haben ei-
nen Anspruch darauf.
Wir müssen also mehr tun, um Reisen für alle zu er-
möglichen. Wir sollten dabei auch von anderen lernen,
Zu Protokoll
sollten über den Tellerrand schauen. Dafür gibt es eine
hervorragende Möglichkeit: Die Bundesrepublik
Deutschland wird Mitglied der 1963 gegründeten Inter-
national Organisation of Social Tourism, OITS.
Der Organisation gehören weltweit 140 staatliche
und nichtstaatliche Mitglieder aus dem Bereich des Tou-
rismus an, darunter die Staaten Belgien, Frankreich,
Griechenland, Italien, Mexiko, Polen, Portugal,
Schweiz, Spanien, Türkei. Diese Staaten machen gute
Erfahrungen mit ihrem Engagement im Sozialtourismus.
Deutschland, der „Reiseweltmeister“, fehlt. Lediglich
das BundesForum Kinder- und Jugendreisen e. V.,
BuFo, ist von deutscher Seite Mitglied in der OITS. Das
ist angesichts der Bedeutung des Themas nicht ausrei-
chend.
Eine Mitgliedschaft in der International Organisa-
tion of Social Tourism eröffnet der Bundesrepublik die
Möglichkeit der direkten Einflussnahme auf die Fortent-
wicklung des Sozialtourismus auf internationaler und
europäischer Ebene, das Kennenlernen guter Praxisbei-
spiele sowie deren Nutzung auf nationaler Ebene.
Mein Kollege Jörn Wunderlich hatte im September
2010 die Möglichkeit, an der OITS-Konferenz in Rimini
teilzunehmen und dort auch zu sprechen. Von dieser
Konferenz gibt es die Botschaft, dass man sich auf eine
Mitgliedschaft der Bundesrepublik freut. Deswegen ist
es auch kein Zufall, dass der OITS-Vorstand seine
nächste Tagung während der ITB im März dieses Jahres
in Berlin durchführt.
Bleibt die Frage, ob die Bundesrepublik Mitglied in
einer internationalen Organisation werden muss, um
dort aktiv mitzuarbeiten, oder ob dies eher unüblich ist.
Ende 2010 bat ich den Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestages um eine Übersicht, in welchen internatio-
nalen Organisationen die Bundesrepublik Deutschland
Mitglied ist. Die Antwort wäre sicher eine gute Grund-
lage für eine wissenschaftliche Arbeit eines Doktoran-
den, denn die Bundesregierung gestand, keine Übersicht
über diesbezügliche Mitgliedschaften zu haben. Es sind
aber – dies verdeutlichten die Zuarbeiten aus den einzel-
nen Ministerien – nicht wenige. Das für Tourismus zu-
ständige Wirtschaftsministerium ist laut Haushaltsplan
in 22 internationalen Organisationen vertreten, darun-
ter in der Welttourismusorganisation UNWTO. Der
jährliche Mitgliedsbeitrag an diese 22 Organisationen
beträgt rund 23 Millionen Euro. Der Mitgliedsbeitrag in
der Internationalen Organisation für Sozialen Touris-
mus beträgt 4 090 Euro. Das sollten wir uns wohl leisten
können.
In der alltäglichen Debatte der Tourismuspolitik gibtes einen Bereich, der in Deutschland nur selten explizitBeachtung findet. Das ist der Sozialtourismus, über denwir heute beraten, wenn auch leider nur am Rande in-haltlich. Ich finde es aber außerordentlich wichtig, dasswir das Thema heute überhaupt auf der Agenda des Ho-hen Hauses haben. Ich möchte das Thema Sozialtouris-mus mal etwas von der abstrakten, institutionellenEbene runterbrechen. Denn der Beitritt zur OITS kann
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10624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenMarkus Tressel
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nur ein erster Schritt sein. Vielmehr muss es darum ge-hen, politische Ansätze und sogar eine neue Kultur fürdas Thema Sozialtourismus zu finden. Die OITS wird mitseinen zahlreichen Experten sicher viele Impulse gebenkönnen. Genau diese sind vonnöten. Was jedoch mussdas Ziel sein? Ich möchte auf die Stellungnahme des Eu-ropäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum„Sozialtourismus in Europa“, die am 13./14. September2006 beschlossen worden ist, verweisen. Hier findensich einige äußerst interessante Ansätze. Zwei davonmöchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben:Erstens. Unter Punkt 4.2.1 wird die Agence nationalepour les chèques-vacances, ANCV, mit einem Geschäfts-volumen von circa einer Milliarde Euro beschrieben.Dieses Beispiel sollte uns ein Vorbild sein. Weiter heißtes – daraus möchte ich direkt zitieren –:Sozial und wirtschaftlich ist das Programm eindeu-tig rentabel, denn einerseits konnten dadurch vieleältere Menschen erstmals in Urlaub fahren, andereStädte und Gegebenheiten kennen lernen, gleichbe-rechtigte soziale Kontakte knüpfen und ihren kör-perlichen Zustand verbessern, wobei eine vernünf-tige Qualität und die Akzeptanz durch die Nutzergewährleistet ist; und andererseits werden für je-den in das Programm investierten Euro 1,70 EURwieder eingenommen.Zweitens. Es heißt in den Empfehlungen unterPunkt 9.3:Den Touristikunternehmen sei empfohlen, sich ent-schlossen an den Sozialtourismusaktivitäten zu be-teiligen, Der Sozialtourismus vertritt Werte, die miteiner korrekten Unternehmensführung, Wettbe-werbsfähigkeit und Rentabilität vereinbar sind …Etwas anderes, was mich in diesem Zusammenhangbesonders bewegt: Am heutigen Tag findet der Kinder-und Jugendreisegipfel statt. Gerade für diese Zielgruppeist es von außerordentlichem Interesse, Ansätze zu fin-den, wissen wir doch alle um die außerordentlich positi-ven Effekte des Reisens in jungem Alter. Nicht umsonstheißt es: Reisen bildet. Was ist jedoch das Problem? Ei-ner Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge be-steht für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche inDeutschland die Gefahr, nicht an Kinder- und Jugend-tourismus teilnehmen zu können. Betroffen von Armutsind oft junge Menschen, die in Familien leben, in denendie Eltern arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen,welche einen Migrationshintergrund haben, welche kin-derreich sind oder die Alleinerziehende sind.Die Teilhabe am Reisen unterstützt eine gesunde Ent-wicklung von Kindern und Jugendlichen. Während dieUrlaubsintensität der Deutschen ab 14 Jahren zunimmt,ergaben Urlaubsreisen mit Kindern bis zu 13 Jahren imJahr 2008 mit lediglich 17 Prozent den niedrigsten Wertseit seiner Erfassung im Jahr 1996, als der Wert nochbei 22 Prozent lag. Diese Zahlen stammen übrigens auseinem Papier des Wirtschaftsministeriums mit dem Titel„Kinder- und Jugendreisen 2009“. Wie uns die Studie„Deutsche Kinder- und Jugendreisen 2008“ verrät, gibtes in Deutschland zwar mit 82,2 Prozent eine auch imZu Protokollinternationalen Vergleich hohe Urlaubsreiseintensitätbei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. Kinderund Jugendliche aus einkommensschwachen Familien
nehmen allerdings deutlich weniger am
Tourismus teil.Öffentlich geförderte Kinder- und Jugendreisen sinddabei sowohl im Kontext von Kinder- und Jugenderho-lung als auch bezogen auf die internationale Jugend-arbeit seit den 90er-Jahren rückläufig. Laut Expertensind staatliche Förderungen im Kinder- und Jugendrei-sebereich um 30 Prozent und somit auch Zuschüsse andie Träger gesunken. So besteht nicht nur die Gefahr,dass Kinder- und Jugendreisen teurer werden. Auchwird dieses Arbeitsfeld nach einer dynamischen Ent-wicklung in den 80er- und 90er-Jahren weiterhin von er-heblichem Ressourcenabbau und Einsparungen betrof-fen sein. Während die Zahl der außerschulischenBildungsmaßnahmen in den Jahren 2000 und 2004 wei-testgehend konstant geblieben ist, hat sich die Zahl derKinder- und Jugenderholungen um 23 Prozent reduziert.Kinder von Hartz-IV-Empfängern bekommen zwar dieKosten für mehrtägige Klassenfahrten von den Jobcen-tern erstattet – siehe § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II –.Familien, die über geringes Einkommen verfügen, je-doch keine Leistungen nach dem SGB II beziehen, wer-den nicht unterstützt.Wir sehen in allen Punkten: Der politische Weg kannnur ein integrativer sein. Wir brauchen auch die Reise-veranstalter. Die OITS bietet da mit seinen 140 Mitglie-dern, von denen einige Unternehmen sind, ein geeigne-tes Forum.Mein Fazit: Ich denke, nach all dem ist es sinnvoll,dass wir uns an der International Organisation of SocialTourism beteiligen. Allerdings reicht eine Beteiligung aneiner internationalen Organisation nicht aus, um die an-gestrebten Ziele zu erreichen. Dazu muss auch ein poli-tischer Wille in einer wenig sozialpolitisch orientiertenRegierung, wie wir sie momentan haben, erkennbarsein. Wir müssen in Deutschland eine Kultur des Sozial-tourismus entwickeln, die es in dieser Form bisher nochnicht gegeben hat.E
Die Bundesregierung hat den Antrag der FraktionDie Linke zur Kenntnis genommen. Dem Antrag liegt dieIdee zugrunde, den Tourismus allen Bürgern Deutsch-lands zugänglich zu machen, unabhängig von deren Al-ter, sozialem und wirtschaftlichem Status oder einermöglichen Behinderung. Das entspricht auch dem An-liegen der Bundesregierung. Die Bundesregierung setztsich für die Teilhabe aller am Tourismus ein. Barriere-freiheit ist ein wichtiger Teil unserer Politik.Einige Beispiele, die die Unterstützung der Teilhabealler am Tourismus dokumentieren:Die Bundesregierung engagiert sich seit Jahren – undmit Erfolg – für das barrierefreie Reisen in Deutschland.Im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundesunterstützt die Bundesregierung internationale Begeg-
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gegebene Reden
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Parl. Staatssekretär Ernst Burgbacher
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nungen und andere Reiseformen für Kinder und Jugend-liche. Die Bundesregierung fördert Maßnahmen derinternationalen Jugendarbeit aus dem Kinder- und Ju-gendplan des Bundes mit jährlich rund 35 MillionenEuro.Seit über fünfzig Jahren fördert die Bundesregierung,BMFSFJ, den Bau und die Einrichtung gemeinnützigerFamilienferienstätten in Deutschland. Deren Dienstleis-tungen richten sich ganz besonders an kinderreiche Fa-milien, Alleinerziehende und Familien mit behindertenAngehörigen sowie Familien mit niedrigem Einkommen,die auf dem touristischen Markt häufig keine geeignetenAngebote finden. Die gemeinnützigen Familienferien-stätten sind verpflichtet, während der bundesweitenSchulferien keine Saisonaufschläge zu erheben. Wirt-schaftlich unterstützungsbedürftige Familien, Menschenmit Behinderungen und ältere Menschen können in denmeisten dieser Einrichtungen von Preisnachlässen profi-tieren.In 13 Bundesländern werden Familien mit relativ ge-ringem Einkommen bei der Finanzierung gemeinsamerFerien in einer gemeinnützigen Familienferienstätte– zum Teil auch in familiengeeigneten Jugendherbergenoder auf familiengeeigneten Bauern- und Winzerhöfen –mit einem Zuschuss des Landes unterstützt.Auf lokaler Ebene gibt es zum Beispiel Programmezur Kinder- und Jugenderholung. Damit sind Aufenthaltevon Kindern und Jugendlichen in Ferienlagern usw.ebenso gemeint wie Naherholungsaufenthalte in der re-gionalen Umgebung. Der überwiegende Teil dieser Maß-nahmen wird von freien Trägern organisiert und aus öf-fentlichen Mitteln finanziert. Die Maßnahmen kommen inerster Linie solchen Kindern zugute, deren Eltern keinenUrlaub finanzieren können.Sowohl Bund als auch Länder und Regionen widmender Teilhabe aller am Tourismus große Aufmerksamkeit.Dafür bedarf es keiner Mitgliedschaft der Bundesregie-rung in einer internationalen Organisation, die im Übri-gen den Steuerzahler Geld kosten würde. Das würdeauch deshalb wenig Sinn machen, weil die Kompetenz fürdie Entwicklung des Tourismus – auch unter dem Aspektder Teilhabe aller – in unserem föderalen System eindeu-tig bei den Ländern liegt.Die Organisation lnternationale du Tourism Social– abgekürzt: OITS –, um die es in dem Antrag geht, istaffiliertes Mitglied der Welttourismusorganisation,UNWTO, und arbeitet eng mit dem Sekretariat und denMitgliedstaaten der UNWTO – also auch mit Deutsch-land – zusammen. Insofern hat die Bundesregierung alsMitglied der UNWTO natürlich Kenntnis von den Akti-vitäten der OITS. Auch unter diesem Aspekt ist eineMitgliedschaft der Bundesregierung in dieser Organi-sation nicht erforderlich.Im Übrigen ist das BundesForum Kinder- und Ju-gendreisen seit 2001 Mitglied in der OITS und arbeitetim Vorstand der Organisation aktiv mit. Auch anderenVerbänden und Organisationen, die sich mit der Teil-habe aller am Tourismus befassen, steht es jederzeit frei,Mitglied zu werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4844 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck , Kai Gehring, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu einer menschenrechtskonfor-
men Reform der Sicherungsverwahrung
– Drucksache 17/4593 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Bündnis 90/Die Grünen treten hier heute mit dem An-
spruch an, einen Gesetzentwurf zu einer menschen-
rechtskonformen Reform der Sicherungsverwahrung
– so die selbst gewählte Überschrift für die Drucksache
17/4593 – vorzulegen. Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit dem Gesetz-
entwurf, der dann dieser Überschrift folgt, sind Sie al-
lerdings krachend am selbst gesetzten Anspruch ge-
scheitert. Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist
weder eine Reform, noch ist er ein Gesetzentwurf für
eine menschenrechtskonforme Reform. Es ist schlicht
und ergreifend der Entwurf eines Aufhebungsgesetzes.
Meinen Sie das wirklich ernst? Sind Sie wirklich der An-
sicht, dass man bloß die Vorschriften für die nachträgli-
che Sicherungsverwahrung zu streichen brauche, und
schon seien alle Probleme gelöst? Leben Sie im Wolken-
kuckucksheim?
Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist nun wirk-
lich zu kurz gesprungen. Ich erinnere mich noch sehr gut
an die Einlassungen des Kollegen Montag während der
Debatte um das von der christlich-liberalen Koalition
eingebrachte Gesetz zur Neuordnung der Sicherungs-
verwahrung. Sie haben sinngemäß gesagt, Ihre Fraktion
werde sich nicht konstruktiv an der Debatte beteiligen.
Offen gestanden: Dass Sie Ihr Wort durch einen so des-
truktiven Gesetzentwurf wahr machen würden, damit
hätte ich nicht gerechnet. Es ist doch nun wirklich jedem
klar, dass wir uns bei der derzeitigen Diskussion um die
Sicherungsverwahrung in einem ausgesprochen schwie-
rigen Spannungsfeld bewegen: hier unsere Konzeption
der Maßregeln der Besserung und Sicherung, die nach
der Tradition der Zweispurigkeit des deutschen Straf-
rechts systematisch nicht als Strafen angesehen wurden,
was im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht
stets so gesehen hat – und im Ergebnis die entsprechen-
den nachträglichen gesetzlichen Regelungen immer hat
passieren lassen –, und dort die Auffassung des Europä-
ischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der auf der
Grundlage der EMRK zum Ergebnis kommt, dass das
bisher angewandte System der Sicherungsverwahrung
Ansgar Heveling
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den Anforderungen von Art. 7 und Art. 5 der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention nicht genügt.
Dieses Spannungsverhältnis müssen wir auflösen.
Das ist ohne Zweifel eine knifflige Herausforderung, vor
der wir stehen, vor der wir im Übrigen nicht alleine ste-
hen. Erkennbar steht auch das Bundesverfassungsge-
richt vor der Frage, wie dieses Spannungsverhältnis
aufzulösen ist. Davon konnte man sich bei der mündli-
chen Verhandlung in Sachen Sicherungsverwahrung vor
gut zwei Wochen in Karlsruhe überzeugen. Oder: Man
hätte sich davon überzeugen können; aus den Reihen
der Opposition hat dem Verfahren jedenfalls niemand
gelauscht. Wenn man sich die vermeintlich einfache Lö-
sung, die Bündnis 90/Die Grünen hier vorlegen, an-
schaut, kann man das auch verstehen. Zu viel Auseinan-
dersetzung mit der Sache hätte sich für dieses Ansinnen
als schädlich erwiesen. Denn vielleicht hätte man ja ins
Nachdenken kommen können.
Faktum ist doch, dass es auch Schutzpflichten des
Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern
gibt. Der Staat muss die Menschen vor gefährlichen
Straftätern wirksam schützen können. Diese Schutz-
pflicht blenden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vollkommen
aus. Das hat noch nicht einmal der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte getan. Er hat die Schutz-
pflichten, die ihrerseits ihren Ausdruck in der EMRK fin-
den, immerhin gesehen. Aus unserer Sicht hat er sie
dann allerdings nicht oder nicht ausreichend in die Ab-
wägung gegenüber Art. 5 und Art. 7 einbezogen. Das ist
aus unserer Sicht ein Versäumnis des EGMR.
Ihr Versäumnis ist, dass die Schutzpflichten im Ge-
setzentwurf auf Drucksache 17/4593 überhaupt keinen
Niederschlag finden. Das ist zu wenig für einen disku-
tablen Gesetzentwurf. Will man das Spannungsfeld wirk-
lich auflösen, so steht man natürlich scheinbar vor der
Quadratur des Kreises. Eine echte Reform muss das
aber für sich in Anspruch nehmen. Wir haben mit dem
Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und
dem Therapieunterbringungsgesetz einen ersten Schritt
dazu unternommen. Dem haben Sie sich von Bündnis 90/
Die Grünen seinerzeit bereits verweigert. Hätten Sie ein
echtes Alternativkonzept dazu vorgelegt, so hätte man
die Verweigerung ja noch verstehen können. Heute stel-
len Sie mit dem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/4593
allerdings unter Beweis, dass Sie keine Alternative vor-
legen können. Ihr Gesetzentwurf ist damit nur eins: ein
Dokument des Scheiterns. Uns wird das nicht beirren.
Wir haben mit dem Gesetz zur Neuordnung der Siche-
rungsverwahrung unter Beweis gestellt, dass wir uns
daranmachen, das Spannungsfeld aufzulösen, nicht bloß
– wie Sie – aufzuheben. Damit werden wir fortfahren.
Denn für uns ist die Schutzpflicht des Staates gegenüber
den Bürgerinnen und Bürgern ebenso wichtig wie die
Folgerungen aus Art. 5 und Art. 7 der EMRK. Ihren Ge-
setzentwurf, der nicht einmal im Ansatz ein Reforment-
wurf ist, lehnen wir ab.
Selbstverständlich war bei der Neuregelung der Si-cherungsverwahrung, die am 1. Januar 2011 in KraftZu Protokollgetreten ist, davon auszugehen, dass die Sicherungsver-wahrung ein aktuelles Thema bleibt. Denn es war klar,dass es weitere Entscheidungen deutscher Gerichte wieauch des Europäischen Gerichtshofs dazu geben würde.Wenig überraschend ist deshalb, dass zu dem Streit-thema Sicherungsverwahrung nun auch eine parlamen-tarische Initiative von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen vorliegt. Wenig überraschend ist allerdingsauch der Inhalt der Initiative, denn die Vorschläge sindbereits bei den Beratungen im Gesetzgebungsverfahrenzu dem Neuregelungsgesetz diskutiert worden.Das gilt zunächst für das Problem der nach wie vorunverändert existierenden nachträglichen Sicherungs-verwahrung im Jugendstrafrecht. Freilich war es dieSPD-Bundestagsfraktion, die bereits in der ersten Le-sung des Gesetzes zur Neuregelung der Sicherungsver-wahrung explizit angemahnt hatte, dass die in der Ent-wurfsbegründung geäußerten Bedenken gegen dieRechtmäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwah-rung bei Erwachsenen konsequenterweise zu einer Neu-regelung der Sicherungsverwahrung auch im Jugendge-richtsgesetz führen müssen. Deshalb haben wir sowohlin den Ausschussberatungen als auch bei der abschlie-ßenden Plenarberatung einen Änderungsvorschlag un-terbreitet, der den Wegfall der nachträglichen Siche-rungsverwahrung mit entsprechenden Anpassungen imJugendgerichtsgesetz nachzeichnen sollte. Bedauerli-cherweise ist unser Vorschlag nicht aufgegriffen wor-den. Von den Koalitionären wurde aber eine Regelungzugesagt. Deshalb erwarten wir jetzt von der Koalition,dass sie zu ihren Ankündigungen steht und einen ent-sprechenden Gesetzentwurf vorlegt, und zwar zügig vor-legt.Im Gesetzgebungsverfahren intensiv diskutiert wor-den sind auch die beiden weiteren Vorschläge von Bünd-nis 90/Die Grünen, nämlich die Abschaffung der nach-träglichen Sicherungsverwahrung nicht nur fürNeufälle, sondern für alle Fälle. Diskutiert wurde auchdas Problem, dass im Jahre 1998 unter der damaligenschwarz-gelben Regierung die Zehnjahreshöchstfrist fürdie Sicherungsverwahrung abgeschafft wurde.Selbstverständlich gelten auch für Täter, die schwereStraftaten verübt haben, rechtsstaatliche Grundsätze.Zugleich galt und gilt es, einen gangbaren Weg zu fin-den, um das Problem zu lösen. Nach dem Urteil des Eu-ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von De-zember 2009 zur Sicherungsverwahrung galt es, dafürzu sorgen, die Sicherungsverwahrung zu einem rechtlichhaltbaren Instrument zu gestalten, um gefährliche Tätersicher unterbringen und die Bevölkerung vor ihnenschützen zu können. Der nationale Gesetzgeber durfteund darf die Antwort auf die Frage nicht schuldig blei-ben, auf welche Weise der berechtigte Anspruch der Ge-sellschaft auf adäquaten Schutz vor gefährlichen Straf-tätern und Rückfalltätern zu realisieren ist. Vor demHintergrund der bereits erfolgten Entlassungen von alsgefährlich angesehenen Sicherungsverwahrten ist dieBeunruhigung in der Bevölkerung gewachsen. Es gehtaber nicht nur um ein subjektives Sicherheitsgefühl inder Bevölkerung. Wir müssen die Tatsache akzeptieren,dass es eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe von Tätern
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10627
gegebene RedenChristine Lambrecht
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gibt, die tatsächlich eine permanente Gefahr für die Ge-sellschaft darstellen. In diesen begründeten Einzelfällenmuss es die Möglichkeit geben, die Gesellschaft vor die-sen Menschen und diese Menschen vor sich selbst zuschützen.Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich deshalb der ge-setzgeberischen Verantwortung gestellt, dafür zu sorgen,dass einerseits die Rechte der Verurteilten gewahrt wer-den und andererseits die Gesellschaft vor gefährlichenStraftätern geschützt wird. Diesem AbwägungsprozessRechnung tragend haben wir uns entschieden, in einerkonstruktiven Auseinandersetzung mit der Bundesjustiz-ministerin und den Vertretern der Koalition um eine Lö-sung in diesem Sinne zu ringen. Wir haben uns das nichtleicht gemacht und es ist uns gelungen, wichtige Ände-rungen an den ursprünglichen Plänen zu erreichen. Er-gebnis ist das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Ge-setz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung.Wie schon Ende Dezember 2009 hat der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte – allerdings nach wievor mit Blick auf das alte Recht – in seinen Entscheidun-gen am 13. Januar 2011 noch einmal im Wesentlicheneinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gerügt. Indrei Fällen ging es um die Verlängerung der Sicherungs-verwahrung über die seinerzeit zulässige Höchstdauervon zehn Jahren hinaus. Für dieses Problemfeld ist je-doch letztendlich entscheidend, ob es sich bei der Siche-rungsverwahrung, so wie sie ausgestaltet ist, um eineStrafe handelt. In seiner Entscheidung von Dezember2009 hielt der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte die Sicherungsverwahrung in der deutschen Pra-xis für kaum vom Strafvollzug unterscheidbar und be-wertete sie deshalb als Strafe, die rückwirkend ebennicht verhängt werden dürfe. Auch in seinen Entschei-dungen vom 13. Januar 2011 kam der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte zu dem Ergebnis, dassdurch Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführerüber die Zehnjahresfrist hinaus eine Verletzung sowohldes Art. 5 Abs. 1 EMRK wie auch des Art. 7 Abs. 1EMRK vorliegt bzw. in einem Fall vorlag.Ihrer Konzeption nach ist die Sicherungsverwahrungeigentlich eine Maßregel der Besserung und Sicherung.An diesem Konzept hat der Gesetzgeber festgehaltenund nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte im Zusammenhang mit der Neurege-lung der Sicherungsverwahrung ein neues Gesetz erlas-sen, das Therapieunterbringungsgesetz, ThUG. Es hatzum Ziel, die Allgemeinheit vor psychisch gestörten Se-xual- und Gewaltstraftätern zu schützen, indem solcheTäter eine zielgerichtete intensive Behandlung in geeig-neten Einrichtungen erfahren. Dabei steht die Therapieim Vordergrund, und die Unterbringung in Spezialein-richtungen soll gerade keine zweite Haft darstellen.Jetzt muss sich das Bundesverfassungsgericht mit derFrage beschäftigen, wie mit den Entscheidungen des Eu-ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzuge-hen ist, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund derzum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neuregelung derSicherungsverwahrung, die die Straßburger Richternicht zum Maßstab gemacht hatten. Am 8. Februar fandZu Protokollin Karlsruhe die mündliche Verhandlung statt, die end-gültige Entscheidung steht allerdings noch aus. Ob sieim Sinne der Vorschläge ausfallen wird, die jetzt von derFraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wurden, darfimmerhin bezweifelt werden, denn anders als die Straß-burger Richter, die bei ihrer Rechtsprechung den Aspektder staatlichen Schutzpflichten des Staates nicht im Fo-kus hatten, müssen die Karlsruher Richter dem Rechtdes Einzelnen auf Freiheit und dem Verbot rückwirken-der Bestrafung sowie dem Bedürfnis der Allgemeinheitauf Schutz vor weiterhin gefährlichen Tätern Rechnungtragen.
Den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen, weitere Änderungen im Anordnungsrecht derSicherungsverwahrung vorzunehmen, lehnt die FDP ab.Der Gesetzentwurf enthält drei Forderungen: erstensAbschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrungfür alle Fälle, zweitens Beseitigung der rückwirkendenStreichung der Zehnjahreshöchstfrist, drittens Abschaf-fung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Ju-gendstrafrecht.Lassen Sie mich zu Beginn ein paar Worte zu dem am1. Januar 2011 in Kraft getretenen Reform der Siche-rungsverwahrung sagen: Mit der Neuordnung wurde er-reicht, dass die Sicherungsverwahrung als schärfsteSanktion, die das deutsche Strafrecht kennt, nur nochdort verhängt wird, wo sie zum Schutz der Bevölkerungauch wirklich nötig ist. Dabei wurden die Regelungender Sicherungsverwahrung besser aufeinander abge-stimmt und damit auch für die Rechtsanwender, alsoRichter und Staatsanwälte, wieder übersichtlicher undnachvollziehbarer. Darauf kann die christlich-liberaleKoalition wahrlich stolz sein.Nun zu den einzelnen Forderungen des hier vorlie-genden Gesetzentwurfs: Im Rahmen der Reform wurdedie nachträgliche Sicherungsverwahrung für Neufälleabgeschafft. In der Praxis hatte sich gezeigt, dass dienachträgliche Sicherungsverwahrung bei der verfas-sungsrechtlich gebotenen restriktiven Auslegung dieserRegelungen nur in wenigen Ausnahmefällen in Betrachtkam, insbesondere weil es fast immer daran fehlte, dasssich die Gefährlichkeit des Täters erst im Strafvollzugaufgrund erheblicher neuer Tatsachen ergab. Der BGHhat seit Sommer 2004 lediglich in gut einem DutzendVerfahren entsprechende Anordnungen bestätigt, wäh-rend bereits bis Mitte 2008 in knapp 100 Fällen die An-ordnung abgelehnt wurde. Die nachträgliche Siche-rungsverwahrung war als Instrument schlichtweguntauglich, um die wirklich gefährlichen Straftäter zuidentifizieren.Für die sogenannten Altfälle, das heißt die Anlasstatgeschah vor Inkrafttreten der Neuregelung, müssen dieMöglichkeiten zur Anordnung der nachträglichen Siche-rungsverwahrung jedoch unverändert bestehen bleiben.Das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwah-rung auf Altfälle auszudehnen, wäre nicht nur unbe-dacht, sondern auch leichtfertig. Der Gesetzentwurf derFraktion Bündnis 90/Die Grünen liefert dafür entspre-
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10628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenChristian Ahrendt
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chend eine ungenügende Begründung. Mit der Regelungsolle verhindert werden, dass es in Zukunft auch aufviele Jahre zu einem Nebeneinander der alten und derneuen Regelungen der Sicherungsverwahrung komme.Dabei wird der entscheidende Grund, weshalb der Ge-setzgeber genau dies nicht wollte, offenbar übersehen.Eine solche Regelung würde im Recht der Sicherungs-verwahrung eine erneute Lücke reißen, da das neue Sys-tem wegen des Rückwirkungsverbotes auf die Altfällenicht erstreckbar ist. Das mögen die Kollegen von derFraktion Bündnis 90/Die Grünen endlich zur Kenntnisnehmen. Die Behauptung, die neue Rechtslage führedazu, dass auf unabsehbare Zeit die nachträgliche Si-cherungsverwahrung bei Vorliegen der Voraussetzungenverhängt werden müsse, trifft nicht zu. Die Altfälle wer-den die Praxis noch in den nächsten fünf bis zehn Jahrenbeschäftigen, weil so lange noch Entlassungen aus demStrafvollzug anstehen werden. Diese Dauer ist wegender genannten Gründe hinzunehmen. Im Vergleich zudem Instrument der nachträglichen Sicherungsverwah-rung insgesamt, das Rot-Grün zu verantworten hat, be-deuten die neuen Regelungen endlich Rechtssicherheit.Laut des hier zu beratenden Gesetzentwurfs werdedie Beseitigung der rückwirkenden Streichung der Zehn-jahreshöchstfrist für erforderlich erachtet. Es wird ge-fordert, dass das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualde-likten und anderen gefährlichen Straftaten vom26. Januar 1998 auf alle Taten Anwendung finden solle,über deren Taten bis zum Stichtag des 31. Januar 1998noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei. DieserForderung darf keineswegs gefolgt werden. Um es ein-mal deutlich zu machen: Diese Forderung, würde mansie tatsächlich gesetzlich umsetzen, käme einem Freilas-sungsgesetz gleich. Vor dem Hintergrund des Schutzesder Bevölkerung wäre dies ebenfalls unverantwortlich.Einen Freilassungsautomatismus darf es nicht geben.Jeder einzelne Fall muss gesondert gewürdigt und unterBerücksichtigung aller Interessen gerichtlich entschie-den werden. In der mündlichen Verhandlung des Bun-desverfassungsgerichts am 8. Februar 2011, die vierVerfassungsbeschwerden zum Gegenstand hatte, hatPräsident Voßkuhle als Berichterstatter für zwei der Ver-fahren in seiner Einführung angemerkt, dass der EGMRbei seiner Entscheidung zur Unvereinbarkeit rückwir-kender Sicherungsverwahrung mit der EMRK die Siche-rungsinteressen der Allgemeinheit „nur ganz amRande“ in den Blick genommen habe. Die Rechtspre-chung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs gehtsogar soweit, dass die vom EGMR als unzulässig beur-teilte rückwirkende Sicherungsverwahrung gleichwohldort fortzusetzen sei, wo ein ganz besonders hohes Maßan Gefahr für die Allgemeinheit bestehe.Die FDP fühlt sich darin bestätigt, die Betroffenender rückwirkenden Streichung der Zehnjahresfrist aufden Rechtsweg zu verweisen, weil nur so die gegen-einander abzuwägenden Belange angemessen berück-sichtigt werden können.Das Recht der Sicherungsverwahrung im Jugend-strafrecht konnte nicht zusammen mit der nun abge-schlossenen Reform der Sicherungsverwahrung behan-delt werden, weil es zwei verschiedene RechtsmaterienZu Protokollsind. Im Jugendstrafrecht gelten Eigenheiten, die einerbesonderen Berücksichtigung bedürfen. Hier ist aberauf die bereits benannten Verfassungsbeschwerden hin-zuweisen, von denen ein Verfahren einen solchen Fallbetrifft. Mit der Entscheidung ist erst im Sommer zurechnen, weshalb voreiliges Handeln nicht angebrachterscheint. Stellt sich also heraus, dass gesetzgeberischerHandlungsbedarf besteht, werden die Vorgaben desBundesverfassungsgerichts maßgeblich sein. Mit derReform der Sicherungsverwahrung wurden die beste-henden Rechtsunsicherheiten beseitigt und zugleich derSchutz der Bevölkerung vor schweren Gewaltstraftäternverbessert. Dabei wurden zugleich Verstöße gegen dieEuropäische Menschenrechtskonvention vermieden.Weitere Änderungen hält die FDP daher für nicht ange-bracht.
Es ist bedauerlich, dass wir erneut über das ThemaSicherungsverwahrung sprechen müssen. Der von denGrünen vorgelegte Gesetzentwurf ist zu begrüßen.Wir hätten uns diese Debatte und den Gesetzentwurfder Grünen sparen können, hätte die Koalition aus derim letzten Jahr stattgefundenen Anhörung zur Neurege-lung der Sicherungsverwahrung gleich die richtigenKonsequenzen gezogen. Aber dazu fehlte ihr der nötigeWille. Statt tatsächlich europarechtskonform die nach-trägliche Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälleabzuschaffen, hat die Koalition aus Rücksicht auf dieStammtische die Sicherungsverwahrung für Altfälle ein-fach beibehalten. Dass dies bedenklich ist, ist mehrfachausgeführt worden.In der Anhörung und auch hier im Plenum ist mehr-fach darauf hingewiesen worden, dass bei Beibehaltungder Sicherungsverwahrung für Altfälle die nicht uner-hebliche Gefahr besteht, dass der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte diese Regelung für nicht mit derEuropäischen Menschenrechtskonvention vereinbarhält. Und tatsächlich haben diejenigen, die eine solcheVermutung aufgestellt haben, recht behalten. Das Urteildes EGMR vom 13. Januar 2011 hat nun ausdrücklichdie Unvereinbarkeit der nachträglichen Sicherungsver-wahrung mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a EMRK festge-stellt. Der Art. 5 b Abs. 1 verlangt für eine rechtmäßigeFreiheitsentziehung einen Kausalzusammenhang zwi-schen Verurteilung – Schuldfeststellungen durch dasStrafgericht – und der späteren Anordnung der Siche-rungsverwahrung – Gefährlichkeitsfeststellungen durchdie Strafvollstreckungskammer. Und genau der fehlt beider Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwah-rung.Nach einem alten Sprichwort könnte ich mich jetzthier hinstellen und sagen: Wer nicht hören kann, mussfühlen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,müssen nun fühlen. Sie müssen sich ganz schnell auf ih-ren Hosenboden setzen und eine europarechtskonformeNeuregelung schaffen. Das „fühlen“ ist allerdings nichtso schwierig. Sie können nämlich an diesem Punkt ein-fach den Gesetzentwurf der Grünen übernehmen undvermutlich in dieser Frage Einstimmigkeit im Hohen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10629
gegebene RedenHalina Wawzyniak
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Haus erzielen. Sie müssen dazu nur einmal über IhrenSchatten springen und den Stammtischen Widerspruchentgegensetzen. Beweisen Sie einmal Mut und zeigenSie, dass nicht die Stammtische, sondern das Recht IhrHandlungsmaßstab ist.Wenn Sie das an sich fragwürdige Instrument der Si-cherungsverwahrung wenigstens rechtskonform machenwollen, dann sollten Sie auch einen weiteren Aspekt be-rücksichtigen. Ein Verstoß gegen die EMRK ist nämlichauch die rückwirkende Aufhebung der Zehn-Jahres-Höchstfrist. Und damit Sie Argumentationsmaterial ha-ben, nenne ich Ihnen auch noch den genauen Paragra-fen, gegen den die rückwirkende Aufhebung der Zehn-Jahres-Höchstfrist verstößt. Es handelt sich hierbei umArt. 5 Abs. 1 Buchstabe a und Art. 7 Abs. 1 EMRK. Auchfür Sie gilt, was jeder Jurastudentin und jedem Jurastu-denten von Anfang an beigebracht wird: Ein Blick insGesetz erhöht die Kompetenz. Es ist jedenfalls für dieLinke ein unhaltbarer Zustand und eine Beschädigungdes Rechtsstaates, dass Menschen trotz festgestelltenVerstoßes gegen die EMRK weiterhin in Sicherungsver-wahrung bleiben. Deshalb ist es richtig, dass mit demvorgelegten Gesetzentwurf gefordert wird, dass auf alldiejenigen Gefangenen, die wegen Taten, über die biszum 31. Januar 1998 noch nicht rechtskräftig entschie-den worden war, die Rechtslage Anwendung findet, diebei Begehung ihrer Tat aktuell war. Deshalb fordern wirdie Einhaltung des Rechts und damit, dass all jene, diebereits länger als zehn Jahre in der Sicherungsverwah-rung sitzen, obwohl zur Tatzeit die Höchstdauer auf zehnJahre begrenzt war, unverzüglich aus der Sicherungsver-wahrung zu entlassen sind. Besonders wichtig erscheintuns die Aufhebung der nachträglichen Sicherungsver-wahrung für Jugendliche und Heranwachsende. Aller-dings, liebe Freunde von den Grünen, sind Sie hier einwenig inkonsequent. Die Sicherungsverwahrung für Ju-gendliche und Heranwachsende an sich gehört abge-schafft, sie ist mit dem System des JGG einfach unver-einbar.Der Gesetzentwurf der Grünen insgesamt kann abernicht unsere Zustimmung finden, wir werden ihn aller-dings auch nicht ablehnen. So löblich es ist, das Urteildes EGMR zum Anlass zu nehmen, das Thema Siche-rungsverwahrung erneut aufzugreifen, so sträflich ist es,die grundlegenden Kritikpunkte am Recht der Siche-rungsverwahrung nicht zu thematisieren. Ich will hiernur kurz die Themen benennen: Therapieunterbrin-gungsgesetz, die durch § 66 b StGB beibehaltene Mög-lichkeit, die nachträgliche Sicherungsverwahrung füralldiejenigen anzuordnen, bei denen aufgrund einesnicht mehr vorliegenden pathologischen Zustandes imSinne der §§ 20 und 21 StGB die Unterbringung in einerpsychiatrischen Klinik für erledigt erklärt worden ist,Beibehaltung der Raub- und Erpressungsdelikte – auchder gewaltanwendungsfreien –, Betäubungsmittel- so-wie Brandstiftungsdelikte als Anlasstaten für die Anord-nung der Sicherungsverwahrung.All dies wird – und darauf haben wir als Linke bereitsmehrfach hingewiesen – dem Institut der Sicherungsver-wahrung, wenn man sich überhaupt auf dieses InstitutZu Protokollals „schärfstes Mittel der Kriminalpolitik“ einlässt,nicht gerecht.Mithin enthält der Gesetzentwurf der Grünen bloßeine wegen des jüngsten EGMR-Urteils zwingend erfor-derliche Minimalkorrektur. Wesentliche Ungerechtigkei-ten im Rahmen der Sicherungsverwahrung bleiben auf-rechterhalten und eine grundsätzliche Kritik am Institutder Sicherungsverwahrung – wie potenzielles Wegge-sperrtsein auf Lebenszeit aufgrund unsicherer Gefah-renprognose, Abkoppelung des Strafrechts vom Schuld-prinzip und Hinwendung zum Präventivstrafrecht,Doppelbestrafungsverbot, Abkehr von Resozialisie-rungsgedanken und kontraproduktive Wirkungen auf dieTherapie während der Strafhaft – wird vom Gesetzent-wurf nicht aufgenommen. Wir glauben, dass es an derZeit wäre, die Debatte um das Thema Sicherungsver-wahrung noch einmal grundsätzlich aufzumachen. Wirfordern die Bundesregierung auf, eine Expertenkommis-sion einzurichten und externen Sachverstand einzuho-len. Lassen Sie die Fakten sprechen und nicht dieStammtische. Dann – und da bin ich mir sicher – könnenwir das Thema seriös behandeln und lassen uns nichtvon Emotionen treiben. Die Chance wäre mit dem Urteildes EGMR gegeben. Lassen Sie uns diese Chance nut-zen.
Die schuldangemessene Bestrafung von Straftätern,aber auch der Freiheitsentzug für nach der Verbüßungweiterhin hochgefährliche Menschen können notwen-dige Maßnahmen sein, zu denen der Staat als äußerstesMittel greifen darf und muss. Diese Einsicht folgt derunabweisbaren Erfahrung, dass es wenige Menschengibt, die wegen einer Krankheit, aus Veranlagung oderfehlender innerer Hemmung eine so große und gegen-wärtige Gefahr für Dritte sind, dass kein anderes Mittelals die Freiheitsentziehung zur Abwendung dieser Ge-fahren möglich ist. Der Schutz der Bürgerinnen undBürger vor Gewalt und Willkür ist eine staatliche Kern-aufgabe, der wir uns zu stellen haben.Die Sicherungsverwahrung ist aber auch der schwer-wiegendste Eingriff in das Freiheitsgrundrecht, der ineinem demokratischen Rechtsstaat möglich ist. In derSicherungsverwahrung wird Menschen die Freiheit ge-nommen, weil von ihnen in der Zukunft eine Gefahr fürihre Mitmenschen ausgeht, der nicht anders als eben nurdurch Freiheitsentziehung begegnet werden kann. DerRechtsstaat darf daher nur als absolute Ausnahme undnur bei Gefahr schwerster zukünftiger Straftaten zumMittel der Sicherungsverwahrung greifen.Seit dem 1. Januar 2011 haben wir neue Regelungenzur Sicherungsverwahrung. Warum legen wir heute,nach nur acht Wochen, einen neuen Gesetzentwurf zurReform der Sicherungsverwahrung vor? Weil es unab-weisbar notwendig ist! Der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte hat Deutschland am 13. Januar 2011– zum wiederholten Male – wegen eines Verstoßes gegendie Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt.Der Gerichtshof hat die Regelungen, wonach die Siche-rungsverwahrung nicht nur zugleich mit dem Strafurteil,
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10630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10631
Jerzy Montag
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sondern noch viele Jahre später zum Ende der Strafhaftverhängt werden kann, als einen Verstoß gegen Men-schenrechte beanstandet.Die sogenannte nachträgliche Sicherungsverwah-rung ist zwar – für die Zukunft – in Teilbereichen undhalbherzig abgeschafft worden. Aber nach dem Urteildes EGMR muss dringend nachgebessert werden. Denndas Straßburger Gericht hat recht. Auch nach der neuenReform verstößt Deutschland gegen die Menschen-rechte. Und ich prophezeie Ihnen weitere Verurteilungendurch den Gerichtshof, wenn Sie das Gesetz nicht so än-dern, dass es zu einer menschenrechtskonformen Reformder Sicherungsverwahrung kommt.In der Presse sind Stellungnahmen des Bundesjustiz-ministeriums zu lesen, wonach das Urteil nur die frühereRechtslage betreffe, die ja inzwischen durch die Koali-tion geändert wurde. Das ist falsch. Die Koalition hatdie nachträgliche Sicherungsverwahrung mit der letztenReform nicht abgeschafft, sondern nur für die Zukunfteingeschränkt. Es wurde verbreitet, dass das Urteil letzt-lich nicht mehr als 20 Personen betreffe. Auch das istfalsch. Bei Straftaten vor dem 1. Januar 2011 bleibt esauf Jahrzehnte und für Tausende von Menschen dabei,dass sie – bei Vorliegen der sonstigen gesetzlichen Vor-aussetzungen – in die nachträgliche Sicherungsverwah-rung gelangen können. Darin liegt ein tausendfacherund auf Jahrzehnte fortdauernder Menschenrechtsver-stoß. Der vielleicht noch größere Skandal liegt aber da-rin, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung fürTäter, die nach Jugendrecht verurteilt wurden und auchin Zukunft werden, uneingeschränkt fortbesteht. Damitwerden junge Straftäter schlechtergestellt als schon Er-wachsene.Um ein für alle Mal mit Verstößen gegen die Europä-ische Menschenrechtskonvention Schluss zu machen,fordern wir mit unserem Gesetzentwurf – wie bereits mitunserem Änderungsantrag zur Reform – die nachträgli-che Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälle, son-dern für alle Fälle abzuschaffen. Zwischen 1974 und1998 galt eine Zehnjahreshöchstfrist für die Sicherungs-verwahrung. Sicherungsverwahrte wurden spätestensnach zehn Jahren Vollzug der Maßnahme aus dieser ent-lassen. Eingeführt wurde diese Befristung übrigens ausdem nach wie vor geltenden Gedanken, dass unter Gel-tung der Grundrechte des Grundgesetzes keine Frei-heitsentziehung endlos vollstreckt werden darf, undzwar unter dem SPD-Justizminister Gerhard Jahn.Die letzte schwarz-gelbe Koalition hat diese Befris-tung im Januar 1998 aus dem Gesetz gestrichen, ohneÜbergangsbestimmungen und somit rückwirkend auchfür Menschen, die zur Sicherungsverwahrung verurteiltwurden, als für sie noch die Zehnjahresfrist galt. DerEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereitsim Dezember 2009 festgestellt, dass diese Rückwirkungdem menschenrechtlichen Verschlechterungsverbot un-terfällt, und Deutschland deswegen verurteilt. In neuenEntscheidungen vom 13. Januar 2011 hat der Men-schenrechtsgerichtshof seine Auffassung bekräftigt undseine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht,dass Deutschland, ein Signatarstaat der EuropäischenMenschenrechtskonvention, die Rechtsprechung des Ge-richts offensichtlich ignoriert und missachtet.Die jetzige schwarz-gelbe Koalition hat diesen fort-währenden Menschenrechtsverstoß durch deutschegesetzliche Regelungen nicht beseitigt. Das neue Therapie-unterbringungsgesetz schafft neue verfassungsrechtlicheProbleme und für die Länder enorme Umsetzungspro-bleme, statt den Menschenrechtsverstoß zu beseitigen.Das wollen wir ebenfalls grundlegend ändern und si-cherstellen, dass es im Recht der Sicherungsverwahrungkeinerlei rückwirkende Verschlechterungen mehr gibt.Einige hoffen ja, dass sich das Bundesverfassungsge-richt, dem gegenwärtig ebenfalls einige Beschwerden inSachen Sicherungsverwahrung vorliegen, von der unbe-quemen menschenrechtlichen Rechtsprechung ausStraßburg absetzt. Ich sehe das nicht so. Für die Siche-rungsverwahrung gilt das, was das Bundesverfassungs-gericht bereits zur lebenslangen Freiheitsstrafe gesagthat. Der frühere Verfassungsrichter ProfessorDr. Hassemer hat es einmal so formuliert:Der Mensch muss eine Perspektive haben. EinePerspektive von Freiheit.Das ist eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit,aber die schwarz-gelbe Koalition weigert sich weiterhinbeharrlich, sie auszusprechen. Genauso weigern Siesich, auf Frau Dr. Renate Jaeger, die frühere deutscheRichterin am Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte, zu hören, die letzte Woche zur Sicherungsver-wahrungsdebatte klar und deutlich gesagt hat: „AuchMörder haben Rechte“. Diese richtige Grundhaltunghat nichts mit angeblichem Täterschutz zu tun, der erns-ter als der Opferschutz genommen werde.Wir wollen Opfer und gefährdete Menschen schützenund haben dazu viele konkrete und umfassende Vor-schläge gemacht. Aber Prävention und Strafverfolgungkönnen nur gelingen und Bestand haben, wenn sie sichim Rahmen der Grundrechte und Menschenrechte bewe-gen, die allen Menschen zustehen, auch solchen, die ge-fehlt haben und von denen möglicherweise Gefahren fürandere ausgehen.Wir appellieren an Sie, unseren Gesetzentwurf ernst-haft zu beraten und unsere Vorschläge zur menschen-rechtlichen Ausrichtung der Regelungen zur Siche-rungsverwahrung aufzugreifen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 17/4593 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 24:Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Andrej Hunko,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE
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10632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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zu der legislativen Entschließung des Europäi-schen Parlaments vom 19. Januar 2011 zu demStandpunkt des Rates in erster Lesung imHinblick auf die Annahme einer Richtlinie desEuropäischen Parlaments und des Rates überdie Ausübung der Patientenrechte in dergrenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
Ratsdok. 11038/10 und KOM(2008) 0414 endg.hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Art. 23 Abs. 3 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 Abs. 4 des Ge-setzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bun-destag in Angelegenheiten der Europäi-schen UnionEU-Richtlinie über die Ausübung der Patien-tenrechte in der grenzüberschreitenden Ge-sundheitsversorgung fördert gesundheitlicheUngleichheit– Drucksache 17/4717 –
Nach fast dreijährigen Verhandlungen hat das Euro-päische Parlament am 19. Januar 2011 die „Richtliniezur Ausübung der Patientenrechte in der grenzüber-schreitenden Gesundheitsversorgung“ angenommen.Hierbei handelt es sich um einen Kompromiss, den dasEuropäische Parlament, die EU-Kommission und derRat der EU-Gesundheitsminister ausgehandelt haben.Dieser Kompromiss stellt auch aus deutscher Sicht eineausgewogene Lösung dar. Die Richtlinie gewährleistetden Rahmen für eine sichere, hochwertige und effizientegrenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in derEuropäischen Union. Sie sorgt für ein höheres Maß anRechtssicherheit für die Patienten, die eine grenzüber-schreitende Gesundheitsversorgung in Anspruch neh-men wollen. Die Krankenkassen werden grundsätzlichverpflichtet, die Kosten für Behandlungen im EU-Aus-land in der Höhe zu erstatten, wie sie auch im Inland an-gefallen wären.Bereits jetzt gibt es Regelungen für Notfallbehandlun-gen im EU-Ausland. Auch gibt es bereits Regelungen fürPersonen, die zwar in einem EU-Mitgliedstaat versi-chert sind, jedoch in einem anderen Mitgliedstaat lebenund dessen Gesundheitsversorgung in Anspruch neh-men. Dies stellt die Mehrzahl der Fälle der grenzüber-schreitenden Gesundheitsversorgung dar. Die vorlie-gende Richtlinie betrifft daher nur die Fälle, in denensich Patienten zielgerichtet für eine Behandlung im Aus-land entscheiden. Damit ergänzt sie sinnvoll den beste-henden EU-Rechtsrahmen zur Koordinierung der Sys-teme der sozialen Sicherheit.Ihre Grundlage hat die Richtlinie in der Rechtspre-chung des Europäischen Gerichtshofs, die dieser seit1998 zur Dienstleistungsfreiheit der Patienten entwi-ckelt hat. Er hat seitdem in ständiger Rechtsprechungdas Recht der Patienten anerkannt, für eine Behandlungim Ausland bei seiner heimischen KrankenversicherungKostenerstattung bis zu der Höhe verlangen zu können,wie für eine vergleichbare Behandlung im Inland ange-fallen wäre.Allerdings ergeben sich aus der Richtlinie fürDeutschland in dieser Hinsicht keine grundlegendenVeränderungen. Denn wir halten uns schon lange an dieVorgaben der EU-Rechtsprechung und haben diese be-reits im Jahr 2004 mit dem GKV-Modernisierungsgesetzin § 13 Abs. 4 und 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch innationales Recht umgesetzt. Die deutschen Versichertenkönnen daher seit Jahren ambulante Leistungen und– bei vorheriger Genehmigung – auch Krankenhausbe-handlungen im EU-Ausland auf Basis von Kostenerstat-tung in Anspruch nehmen.Leider haben viele andere Mitgliedstaaten die Recht-sprechung des Europäischen Gerichtshofs unzureichendoder gar nicht berücksichtigt. Deshalb bestand dringen-der Handlungsbedarf im Interesse der Patientinnen undPatienten der Europäischen Union. Denn es ist unzu-mutbar, den einzelnen Patienten notfalls auf den Klage-weg zu verweisen. Gerade für schwer kranke Patientenstellt dies keine echte Alternative dar. Im Extremfallkönnte der Patient verstorben sein, bevor das Urteil ge-sprochen wurde. Deshalb war unstreitig, die Ausgestal-tung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgungnicht länger der Rechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofs zu überlassen. Die Richtlinie stärkt die Rechteder Patientinnen und Patienten bei der grenzüberschrei-tenden Versorgung. Das ist aus deutscher Sicht aus-drücklich zu begrüßen.Hervorzuheben ist, dass die Richtlinie nicht zu einerAushöhlung der nationalstaatlichen Kompetenzen imGesundheitsbereich geführt hat. In den ersten Entwürfenwollte die EU-Kommission nämlich hier ihre Kompeten-zen ausweiten. Deutschland wollte dies nicht. Die deut-sche Gesundheitsversorgung ist eine der besten in derWelt. Deshalb war es von Anfang an breiter Konsens indiesem Hohen Haus, dass es hier keiner Vergemein-schaftung bedarf. Der Deutsche Bundestag hat deshalbseine Kritik in einem Entschließungsantrag vom Novem-ber 2008 deutlich gemacht und die Bundesregierung ge-beten, die autonome Zuständigkeit der Mitgliedstaatenfür ihre Gesundheitssysteme in den Verhandlungen zuerhalten. Nicht zuletzt hat die christlich-liberale Koali-tion diesen Standpunkt auch in einem Gespräch des Ge-sundheitsausschusses mit dem EU-Kommissar für Ge-sundheit, John Dalli, am 4. Oktober 2010 nochmalsbetont. Dabei haben wir herausgestellt, dass die natio-nale Kompetenz von der Kommission unangetastet blei-ben muss. Dies ist uns letztlich auch gelungen. Daherbedanke ich mich auch an dieser Stelle ausdrücklich beiunserem Gesundheitsminister Dr. Rösler und seinem Mi-nisterium für das beachtliche Engagement in dieser Hin-sicht.Weitere Forderungen aus dem Entschließungsantragwurden ebenfalls durchgesetzt. So werden Leistungen derPflegeversicherung rechtsklar aus dem Anwendungsbe-reich der Richtlinie ausgenommen und die Zuständigkeitder Mitgliedstaaten für die Festlegung von Qualitäts-Stephan Stracke
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und Sicherheitsstandards ausdrücklich festgeschrieben.Außerdem werden die Vorschriften zur Kostenerstattungstrikt nach der Rechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofs ausgerichtet. Bürokratische Regelungen sindzudem auf das sachlich Notwendige beschränkt.Vorteile und Rechtssicherheit für die Patienten erge-ben sich aus den folgenden Regelungen der Richtlinie:Die Leistungen der grenzüberschreitenden Gesund-heitsversorgung werden gemäß den Rechtsvorschriftenund den Qualitätsstandards des Staates erbracht, in demdie Behandlung stattfindet. Der Staat, in dem der Patientversichert ist, hat diesem auf Anfrage Informationenüber seine Rechte, sich im Ausland behandeln zu lassen,zur Verfügung zu stellen. Besondere Bedeutung habenhierfür die nationalen Kontaktstellen, die jeder Mit-gliedstaat einrichten muss. Sie sind Anlaufstelle für Pa-tienten und stellen diesen alle wichtigen Informationenüber die Behandlung im Ausland zur Verfügung.Die Kosten für die Behandlung im ausländischenStaat werden bis zu der Höhe erstattet, die die Behand-lung in dem Staat gekostet hätte, in dem der Patient ver-sichert ist. Es werden jedoch nur Behandlungen bezahlt,die auch im Heimatstaat im Leistungskatalog der Kran-kenkassen enthalten sind. Darüber hinausgehende Be-handlungen und Kosten muss der Patient selbst bezah-len.Für bestimmte Behandlungen können die Mitglied-staaten ein System der Vorabgenehmigungen einführen.Dies ist ein Schutzinstrument insbesondere zugunstender solidarisch finanzierten Krankenversicherungssys-teme, da dieses vor allem bei hochspezialisierten undkostenintensiven medizinischen Behandlungen gilt. Um-gekehrt wird auch der Patient geschützt, da eine Geneh-migung verweigert werden kann, wenn der Patient ei-nem zu großen Risiko ausgesetzt sein würde.Ebenso nimmt die Richtlinie auch Rücksicht auf ethi-sche Fragen. So entscheiden die Mitgliedstaaten selbst,welche Behandlungen sie aus ethischen Gründen nichterlauben wollen. Behandlungen, die in dem Heimatstaatdes Versicherten aus ethischen Gründen nicht erlaubtund damit auch nicht erstattungsfähig sind, müssen vondiesem auch dann nicht erstattet werden, wenn sie imAusland vorgenommen werden. Als ein Beispiel ist hierdie Präimplantationsdiagnostik zu nennen.Ganz praktisch bedeutet dies alles aus Sicht der Pati-enten:Für Personen, die auf einer Warteliste stehen, kannsich die Zeit bis zur Behandlung wesentlich verkürzen.In Großbritannien gibt es zum Beispiel lange Listen fürHüftoperationen. Diese können nun durch Behandlun-gen in Deutschland schneller abgearbeitet werden.Ebenso können vornehmlich Patienten profitieren, die inGrenzgebieten wohnen oder die sich aus privaten Grün-den, zum Beispiel weil Familienangehörige dort woh-nen, in einem anderen Mitgliedstaat behandeln lassenwollen. Besondere Vorteile ergeben sich auch für Pati-enten, die beispielsweise wegen einer seltenen Erkran-kung einer hochspezialisierten Behandlung bedürfen,die aber nicht in jedem Land angeboten wird.Zu ProtokollNicht zuletzt bietet die Richtlinie große Chancen fürdie deutschen Leistungserbringer. Nach Schätzungenbetrifft das europaweite Volumen an grenzüberschrei-tender medizinischer Versorgung jährlich rund 10 Mil-liarden Euro. Da unser Gesundheitssystem internationaleinen hervorragenden Ruf hat, ist mit einer erhöhtenNachfrage durch ausländische Patienten zu rechnen.Diese Entwicklung sollten wir aktiv begleiten. Die Argu-mente, mit der die Linke ihren vorliegenden Antrag zubegründen versucht, verfangen allesamt nicht.Die befürchtete europaweite Zwei-Klassen-Medizinist abwegig. Im Gegenteil: Die Richtlinie führt zur Stär-kung der Rechte aller Patienten in der grenzüberschrei-tenden Versorgung, und zwar unabhängig von ihrer fi-nanziellen Situation. Das sieht auch das EuropäischeParlament so. Denn die Richtlinie soll den Patienten zu-gutekommen, die die Versorgung benötigen, und nichtbloß den Patienten, die über die entsprechenden finanzi-ellen Mittel verfügen. Genau dieser Zielsetzung wird dieRichtlinie gerecht.Auch die beschworene Gefahr, dass in ärmeren EU-Mitgliedstaaten Wohlhabende aus reicheren EU-Mit-gliedstaaten bevorzugt behandelt werden, ist absurd.Hier würde alleine ein Blick in die Richtlinie zur Er-kenntnis beitragen. Denn Art. 4 Abs. 4 der Richtlinieschreibt ausdrücklich vor, dass alle Patienten mit dengleichen inländischen Gebührensätzen abzurechnensind. Der von der Linken wieder einmal an die Wand ge-malte Klassenkampf wird in der Realität nicht stattfin-den.Wenn die Linken davon sprechen, dass es ein „Prinzipdes gleichen Zugangs für alle grenzüberschreitenden Ge-sundheitsdienstleistungen“ gebe, dann wird klar, was mitdem Antrag eigentlich bezweckt wird, nämlich ein EU-weit vereinheitlichtes Gesundheitssystem. Wer wie dieLinke sozialisieren will, der wird die medizinische Ver-sorgung der Menschen in Deutschland nicht verbessern,sondern deutlich verschlechtern. Denn eine Vereinheitli-chung wäre nur deutlich unterhalb des deutschen Stan-dards möglich. Das wird die christlich-liberale Koalitionniemals tun. Wir stehen dazu, dass jeder Mitgliedstaatfür die Gesundheitsversorgung seiner Bürgerinnen undBürger selbst verantwortlich bleiben soll. Unser Gesund-heitssystem ist spitze und soll auch spitze bleiben. Undnatürlich polemisiert die Linke wieder einmal gegen jedeArt von Wettbewerb. Wer Wettbewerb nicht will, will of-fenbar Staatsmedizin. Die geschichtliche Erfahrung ge-rade in Deutschland hat jedoch gezeigt, dass dies nichtder richtige Weg ist. Wettbewerb stellt auch Qualität imGesundheitsbereich sicher. Wer Wettbewerb nicht will, istein Qualitätsrisiko für die Patientinnen und Patienten inDeutschland. Und genau das ist die linke Opposition.Zum Schluss bekräftige ich noch einmal: Die Richtli-nie gibt den Patientinnen und Patienten ebenso wie denLeistungserbringern in der Europäischen Union Rechts-klarheit und Rechtssicherheit über die Voraussetzungender grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. DenPatientinnen und Patienten wird ein individuelles Ent-scheidungsrecht an die Hand gegeben, ob sie sich im EU-Ausland behandeln lassen möchten oder nicht. Dieses
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10633
gegebene RedenStephan Stracke
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Recht wollen wir und werden wir nicht verweigern. DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt daher den Antragder Linken ab. Wir werden ihm nicht zustimmen.
Zu später Stunde kommen wir heute aufgrund eines
Antrags der Linken zu einer EU-Vorlage zusammen und
beschäftigen uns mit der europäischen Gesundheitspoli-
tik. Die infrage stehende Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Europäischen Rates über die Aus-
übung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden
Gesundheitsversorgung hat eine längere Geschichte,
und ich begrüße ausdrücklich, dass wir nun endlich auf
dem Weg sind, Verbesserungen für die Menschen in
Europa zu erreichen. Versicherte müssen den Zugang zu
der gesundheitlichen Versorgung erhalten, egal wo in
Europa sie sich gerade befinden. Dies ist ja auch eine
Forderung des Europäischen Gerichtshofes, die nun
endlich umgesetzt werden muss.
Wir sind uns hier alle einig, dass wir die grenzüber-
schreitende Patientenmobilität brauchen. Differenzen
gibt es allerdings um die Frage, wie wir diese regeln
wollen. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die
Umsetzung waren ja bereits der Grund dafür, dass sich
der Umsetzungsprozess so lange verzögert hat. Die
Richtlinie ist für uns politisch von einiger Bedeutung,
zum einen weil einige von uns Nutznießer dieser Rege-
lung sein werden und andererseits weil unsere europäi-
schen Nachbarn leichter als bisher unsere Kliniken und
Behandlungsmöglichkeiten aufsuchen können.
Die Linksfraktion versucht mit ihrem Antrag den Ein-
druck zu erwecken, diese Richtlinie öffne Tür und Tor für
eine Verschärfung der Zweiklassenmedizin. Ich ver-
kenne die Gefahr nicht, dass unterschiedliche Preisge-
füge innerhalb der EU auch im medizinischen Bereich
dazu führen können, dass Menschen aus reichen Län-
dern sich Gesundheitsdienstleistungen in Niedrigpreis-
ländern kaufen können und andere Menschen aus ärme-
ren Ländern sich nicht so frei in Europa bewegen
werden. Das ist bereits jetzt so. Trotzdem kann ich der
pessimistischen Sichtweise der Linken nur bedingt fol-
gen.
Wenn man die Richtlinie liest, wird sehr schnell deut-
lich, dass das Europäische Parlament und der Europäi-
sche Rat auf die jeweiligen Situationen in den jeweiligen
Ländern eingehen mussten und den Ländern keine Vor-
schriften machen, die den Patienten konkret schlechter
stellen. Denn machen wir uns doch nichts vor: Bereits
jetzt ist es doch so, dass de facto nur Menschen, die über
ein entsprechendes Einkommen verfügen und nicht
durch Sprachbarrieren davon abgehalten werden, ins
Ausland gehen, um sich dort gesundheitliche Dienstleis-
tungen zu kaufen. Die Richtlinie versucht lediglich, die-
sen Sachstand aufzugreifen und für gewisse Mindest-
standards bei der Kostenübernahme und bei den
Vorabgenehmigungen zu erreichen, und lässt den Län-
dern hier weiterhin freie Hand.
Sie haben ja recht, dass mit der unsozialen schwarz-
gelben Gesundheitspolitik das Sachleistungsprinzip in
Zu Protokoll
Gefahr ist, aber für die europäische Politik sind die von
Ihnen aufgestellten Prinzipienforderungen und Schluss-
folgerungen vollkommen untauglich oder realitätsfern.
Was Sie mit „Bestimmungslandprinzip“ meinen, bleibt
in Bezug auf die Finanzierung nebulös und würde unter
anderem zur Folge haben, dass die gesundheitlichen
Einrichtungen in Deutschland auf Kosten sitzen bleiben
oder die Versichertengemeinschaft die Kosten überneh-
men müsste.
Wenn Sie wollen, dass die Versicherten des jeweiligen
Landes, dessen Infrastruktur genutzt wird, die Differenz
bezahlen, müssen Sie das auch so offen sagen! Wenn die
gute Versorgungsstruktur in Deutschland für alle EU-
Bürger gelten soll, aber die deutschen Versicherten die
Differenz zahlen müssen, dann würden die jüngst von
der schwarz-gelben Bundesregierung erhöhten Kran-
kenversicherungsbeiträge in Deutschland weiter stei-
gen. Dann sagen Sie das bitte auch direkt den Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern mit kleinem Einkommen
sowie den Rentnerinnen und Rentner, die ja, wenn es
nach Schwarz-Gelb geht, die zukünftig steigenden Kos-
ten übernehmen sollen. Oder alternativ wird eben im
Gesundheitssystem an Leistungen oder auch Löhnen von
zum Beispiel Krankenhauspersonal gespart, um die zu-
sätzlichen Kosten zu stemmen. Sie machen es sich zu
leicht, wenn Sie sich mit den finanziellen Folgen Ihrer
Forderungen nicht beschäftigen.
Auch die Frage, inwiefern mit Ihren Forderungen ein
Gesundheitstourismus und damit vielleicht auch eine
Überforderung der Gesundheitssysteme der EU-Länder
mit hoher medizinischer Versorgungsqualität verbunden
ist oder der Kurtourismus ins Ausland zulasten der GKV
und hiesiger Einrichtungen geht, blenden Sie aus. Zu all
dem sagen sie nichts. Es ist notwendig, die Patientenmo-
bilität in Europa auszubauen. Es ist aber auch notwen-
dig, hierbei sicherzustellen, dass keine finanzielle Über-
forderung der jeweiligen Gesundheitssysteme erfolgt
und keine ungelenkten Versichertenströme entstehen, die
zu Engpässen in manchen Ländern führen werden. Sie
denken nicht zu Ende, aber wir kennen es nicht anders
bei der Linksfraktion.
Transparenz, Bürgernähe und Rechtsicherheit: Kei-ner wird an diesen Begriffen und den sie füllenden Ei-genschaften etwas kritisieren können. Es sind die Zieleder EU-Kommission, welche sie mit ihrer Richtlinie zurPatientenmobilität verfolgt. Künftig können Gesund-heitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat inAnspruch genommen werden, ohne dass die eigeneKrankenkasse vorher um Erlaubnis gefragt werdenmuss. Der EU-Bürger ist frei, zu reisen, und er solle esauch dann sein, wenn es darum geht, sich im europäi-schen Ausland ambulant behandeln zu lassen. Die Men-schen in der EU können das zentrale Recht auf Frei-zügigkeit nun auch in der Gesundheitsversorgungeinfacher in Anspruch nehmen. Klare Regeln schenkenden Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiheit und stärkenden wichtigen Wert der Freizügigkeit. Transparenz, Bür-gernähe, Rechtsicherheit und eben Freiheit.
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10634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenJens Ackermann
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Doch wenn ich eingangs – natürlich rhetorisch – dieVermutung geäußert habe, dass diesen Zielen niemandetwas entgegenzusetzen haben kann, dann habe ich dieRechnung ohne die Linke gemacht. Denn wir beratenheute den Antrag dieser Fraktion, dass die Bundesregie-rung der genannten Richtlinie im Rat nicht zustimmensolle. Leider zeigt sich mit diesem Antrag wieder einmal,dass die Linke Freiheit als Ungleichheit begreift. Eswird leider wieder einmal deutlich, dass die Linke Frei-zügigkeit als Gefahr verkennt.Das mag auf den ersten Eindruck vielleicht nicht ver-wunderlich sein. Ist doch die Linke in weiten Teilen dieNachfolgerin jener Staatspartei, die alle gleichmachenwollte und der Masse Freiheit vorenthielt. Freizügigkeitwar schließlich eine Gefahr, und in der Doktrin der SEDmussten die eigenen Bürger ja auch durch die Mauer ge-schützt werden. Zum Glück ist die Zeit des Stacheldrahtsauf deutschem Boden vorbei. Zum Glück sterben keineMenschen mehr aus politischen Gründen, nur weil sievon einem Ort an einen anderen möchten. Die Wende hatden Menschen schließlich diese neuen Freiheiten ge-schenkt, sie hat sie dabei doch nicht nur auf Deutsch-land beschränkt, sondern ganz Europa mit eingeschlos-sen. Und so ist das größte Glück für die Europäer heuteFreiheit. Davon machen die Bürgerinnen und BürgerGebrauch, sie bewegen sich zu Recht frei innerhalb derEU.Doch die Menschen werden eben auch leicht zu Pati-enten – in der Heimat, wie im Ausland. Dann ist es wich-tig, dass sie unbürokratisch und direkt die nötige medizi-nische Hilfe bekommen und einen Arzt ihrer Wahlaufsuchen können – hier, wie in anderen Staaten der EU.Im Notfall ist dies ja schon heute möglich; Reisende sindhier schon länger über ihre Europäische Krankenversi-cherungskarte geschützt.Mit der Richtlinie über die Ausübung der Patienten-rechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversor-gung wird nun eine Lücke geschlossen, um medizinischeVersorgung nicht ausschließlich in Notfällen zu ermögli-chen, ohne dass die Krankenkasse dies genehmigenmüsste. Die Linke wittert nun aber bei mehr Freiheits-rechten Gefahr. Wenn man sich aber die Begründung an-sieht, wird hier wahrscheinlich eher ein historischer Re-flex bedient: Da taucht im Antrag wieder das Mantraeiner Zwei-Klassen-Medizin auf, die dadurch drohe. Ja,Sie haben richtig gehört: Mehr Freiheitsrechte führen zueiner Zwei-Klassen-Medizin, sagen die Linken. Das Ar-gument lautet, dass nur Menschen, die über ein ausrei-chendes Einkommen verfügten, von der Richtlinie profi-tieren würden. Gut, es ist natürlich klar, dass all jene,die sich irgendwo innerhalb der EU behandeln lassenwollen, auch zunächst dorthin reisen müssen. Klar, daskostet auch Geld. Doch wer wird denn extra Geld füreine Reise als Patient drauflegen, um beispielsweise inRumänien eine Wurzelbehandlung durchführen zu las-sen, welche die Leistungen nicht übersteigen darf, dieauch die heimische Krankenkasse übernimmt? Es wirdauch mit dieser Richtlinie nur das von den Kassen er-stattet, was im Heimatland erstattungsfähig ist. Nichtmehr und nicht weniger. Hier geht es um die ambulanteVersorgung im EU-Ausland und nicht um besondereZu ProtokollHerzoperationsangebote für Reiche in Luxusklinikenvon Bahrein und Co. Nochmals: Wer gesetzlich versi-chert ist, bekommt die Kosten für die gleichen Arztter-mine nun auch in anderen EU-Ländern erstattet. Inso-fern wird kein Bürger, der nach Paris zum Arzt geht,besser dastehen, als einer, der nach Magdeburg geht –mit der Ausnahme, dass er sich natürlich nach Gene-sung noch den Eiffelturm ansehen kann.Umgekehrt haben wir in Deutschland ein Gesund-heitssystem, um das uns andere Länder beneiden. DieLeistungen der gesetzlichen Krankenversicherung um-fasst eine sehr gute medizinische Versorgung, die höherliegt als in den meisten EU-Mitgliedstaaten. Wir verfü-gen hier über hochqualifizierte Ärzte, wir müssen nichtzwingend unser Land für einen Arzttermin verlassen.Aber wir können es künftig tun. Davon werden die Men-schen profitieren – im Urlaub, wie aber auch all jene,die im Grenzgebiet zu anderen Staaten wohnen. DerenAuswahl wird steigen, deren Aussichten, einen Termin zuerhalten, vielleicht sogar wachsen.Diese Richtlinie eröffnet zunächst mehr Chancen,aber sie verringert doch keine. Eine Zwei-Klassen-Me-dizin ist ausgeschlossen, da der Umfang der ambulantenLeistungen durch diese Richtlinie nicht über jene imHeimatland hinausgeht. Würde man die Linken-Argu-mentation übernehmen, dann sind generell Reisen unge-recht, da sich einige mehr leisten können als andere.Dann ist der Geburtsort eine soziale Frechheit, da in ei-nem Dorf vielleicht ein Bäcker ist und im anderen nicht.Im Übrigen hat die Mauer, die ja auch einige von denLinken direkt oder indirekt verteidigt haben, nicht zu ei-ner klassenlosen Gesellschaft geführt.Aber aus vergangenen Diskussionen wissen wir jaleidvoll, dass die Linken zur Vereinfachung neigen.Doch die Tage der Spruchbänder sind zum Glück ge-zählt. Denn, meine Damen und Herren von der Links-fraktion: Unsere Welt ist komplexer, als Sie denken. GutePolitik erfordert Differenzierung. Sachverhalte müssenerkannt und richtig eingeordnet werden. Das gelingt Ih-nen mit diesem Argument nicht.Weiter: Menschen werden auf hohen Kosten sitzenbleiben, schreiben Sie. Dies ergebe sich dadurch, dasssich Patienten nicht vorab ambulante Leistungen geneh-migen lassen müssen. Auch hier verweise ich gern wie-der auf den Anfang meines Beitrags. Da war von Rechts-sicherheit die Rede, da die Bürgerinnen und Bürger daserstattet bekommen, was auch im Heimatland Kassen-leistung ist. Da bleibt man nicht auf den Kosten sitzen.Natürlich ist es sinnvoll, sich vorher zu informieren, wasKassenleistung ist. Gut, aber wir müssen ja hier nichtüber wesentliche Grundzüge gesellschaftlichen Zusam-menlebens diskutieren. Oder ist es etwa so, Kolleginnenund Kollegen von der Linken, dass Sie in einem Restau-rant erst einmal fröhlich die gesamte Speisekarte raufund runter essen und dann nach den Preisen fragen? Istes etwa so, dass Sie einen Mietvertrag unterzeichnenund dann nach den monatlichen Kosten fragen? Sich in-formieren ist ein wesentlicher Bestandteil unseres tägli-chen Lebens. Ich kann jedem nur empfehlen, immer
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10635
gegebene RedenJens Ackermann
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Dinge zu hinterfragen – erst recht bei diesen Argumen-ten der Linken zu dem Thema.Die Richtlinie, welche die Patientenrechte stärkt, ihreMobilität leichter ermöglicht, lässt Europa mehr undstärker zusammenwachsen. Was Adenauer und Monetbegonnen haben, was Genscher und Horn weitergeführthaben, ist die europäische Einheit. Wir sind froh, nichtmehr durch Kriege und Mauern getrennt zu sein. Wirwollen dieses Europa der Menschen und Freiheiten. Wirwollen Rechtsicherheit für die Menschen – auch und ge-rade, wenn sie als Patienten Gast in unserer Heimatsind. Diese Richtlinie leistet so einen wichtigen Beitragund ist ein Geschenk für die Freiheit aller Europäer. Dasist wahrer Internationalismus, den die Linke verkennt,den die Linke schlechtredet. Wir wollen keine neuenMauern aufbauen. Wir wollen den Menschen Chancengeben und unterstützen ganz klar die Richtline über dieAusübung der Patientenrechte in der grenzüberschrei-tenden Gesundheitsversorgung. Die Kolleginnen undKollegen der Linken sollten wenigstens heute dieChance wahrnehmen und helfen, endlich einmal Mau-ern einzureißen. Dieser Antrag ist leider ein Beispielgroßer ideologischer Scheuklappen, der an der Wirk-lichkeit weit vorbeigeht. Diesen Antrag lehnen wir ab,da wir die Freiheit wollen!
Eine übergroße Mehrheit von etwa 80 Prozent der Be-völkerung will, dass bei der Gesundheitsversorgung Rei-che solidarisch mit Armen sind. Die Qualität der Ge-sundheitsversorgung soll nicht vom Geldbeutelabhängen. Das will die Bevölkerung, das will die Linkeund das wollen, zumindest verbal, auch alle anderen imDeutschen Bundestag vertretenen Parteien.Doch genau das Gegenteil möchte die Bundesregie-rung nun im Europäischen Rat beschließen. Diese Ein-schätzung will ich Ihnen gerne begründen: „EU-Richtli-nie über die Ausübung der Patientenrechte in dergrenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ – umdiese Richtlinie geht es im Rat; klingt bürokratisch bisnett. Schließlich hat niemand etwas gegen Patienten-rechte, und auch die Linke will, dass eine Gesundheits-versorgung in anderen EU-Staaten stattfindet – zumNutzen der Patientinnen und Patienten. Das ist aberauch jetzt schon möglich. Nach der geplanten Richtliniesollen in der EU Versicherte das Recht haben, sich in an-deren Staaten gegen Vorkasse versorgen zu lassen, unddie Krankenversicherung zu Hause zahlt dem Versicher-ten das zurück, was sie auch im Herkunftsland erstattethätte. Das ist eine höchst problematische Regelung.Denn wer profitiert davon? Es profitieren fast aus-schließlich Versicherte in wohlhabenden EU-Ländern;die Menschen in den armen Ländern Europas gehen leeraus. Beispiel Rumänien: Bei den niedrigen Erstattungs-sätzen, die dort existieren, wird kaum ein Rumäne zu-künftig eine Behandlung in Deutschland attraktiv fin-den. Umgekehrt aber könnten viele Deutsche sich inOsteuropa behandeln lassen, weil die Kostenerstattungder deutschen gesetzlichen Krankenversicherung dorteine Luxusbehandlung ermöglicht. Die osteuropäischenPatienten haben das Nachsehen, weil die dort ansässi-Zu Protokollgen Ärzte und Zahnärzte zunehmend Versicherte aus denwesteuropäischen Ländern behandeln und für die ein-heimische Bevölkerung nicht mehr oder nur gegen Auf-preis zur Verfügung stehen. So wird in den ärmeren Län-dern die Versorgung gestört. Umgekehrt können dieMenschen aus den ärmeren Ländern jedoch auch nichtdie Ärzte in Westeuropa in Anspruch nehmen, weil dafürdas Geld fehlt. Wie war das? Die Starken stehen für dieSchwachen ein? Genau das Gegenteil passiert mit die-ser Richtlinie.Auch innerhalb eines Mitgliedstaates das gleicheBild: Nur die Wohlhabenden profitieren von dieser Re-gelung. Nur Menschen mit ausreichendem Vermögenoder Einkommen können es sich leisten, die Fahrt,Übernachtung und die Behandlung im Ausland samt Be-ratung vorzufinanzieren. Nur diejenigen mit dem nöti-gen Know-how wissen überhaupt von diesen Möglich-keiten. Nur wer über ausreichende Sprachkenntnisseverfügt und obendrein noch gesund genug ist, um zu sei-ner Behandlung zu fahren, wird diese neuen Möglichkei-ten nutzen können. Und wer aus einem armen Mitglieds-staat kommt, der kaum etwas erstattet, muss dafür umsoreicher sein. Ein kranker Geringverdiener aus Deutsch-land oder ein Hartz-IV-Betroffener wird nicht die billigeZahnbehandlung am Balaton mitsamt Urlaub vorfinan-zieren können. Das Nachsehen haben die akut Krankenund die Armen. Solidarität der Starken mit den Schwa-chen? Die steht hier noch nicht einmal auf dem Papier.Weshalb aber wird dieses Projekt der Gesundheits-richtlinie, die aus der Bolkestein-Richtlinie erwachsenist, dann so von der Mehrheit des Europäischen Parla-ments der Kommission und auch der europäischen Re-gierungen gefördert? „It’s the economy, stupid!“ könnteman darauf antworten. Nach dem festen Willen der vor-herrschenden marktliberalen Kräfte in der EU und ihrerMitgliedstaaten soll die Gesundheitsversorgung ver-marktlicht werden. Die „Gesundheitswirtschaft“, dasliebste Kind nicht zuletzt auch unseres Gesundheitsmi-nisters, soll gefördert werden. Herr Rösler hält zum Bei-spiel die deutschen Krankenhäuser für sehr gut aufge-stellt in dem sich abzeichnenden Wettbewerb undbegrüßt daher die neue Freiheit des Gesundheitsmark-tes.Diese Richtlinie will den liberalisierten Gesundheits-markt. Falls sich diese Ideologie durchsetzt, dann habendiejenigen Krankenhäuser und Ärzte gute Chancen aufdem Gesundheitsmarkt, die sich möglichst nicht an denKranken, sondern am Geld orientieren. Die Linke willkeine gewinnsüchtigen Gesundheitsdienstleister imWettbewerb um die europaweit lukrativsten Patientinnenund Patienten, sondern eine gute medizinische Versor-gung von allen Menschen in Europa unabhängig vonEinkommen und Vermögen. Die Richtlinie, wie sie vor-liegt, schafft also eine Menge Probleme und ist unsozial.Sie ist aber auch unnötig: Alle Fragen der Übernahmevon Behandlungskosten in der EU-weiten Patientenmo-bilität können und sollten im Rahmen der bestehendenEU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialschutzsys-teme gelöst werden. Hier gelten das Bestimmungsland-und das Sachleistungsprinzip. Patientinnen und Patien-ten aus dem EU-Ausland werden nach den gleichen
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10636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10637
Harald Weinberg
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Leistungs- und Qualitätsstandards behandelt wie inlän-dische, ohne in Vorkasse gehen zu müssen. Die Abrech-nung erfolgt zwischen den zuständigen Stellen der Mit-gliedstaaten. Die Linke begrüßt die europäischeIntegration. Wir wollen sie in Richtung einer europäi-schen Sozialunion befördern und setzen uns für ein de-mokratisches, soziales, ökologisches und friedliches Eu-ropa mit guten Lebenschancen für alle ein. Wir wollen,dass alle in Europa lebenden Menschen eine Gesund-heitsversorgung auf dem Stand der Wissenschaft erhal-ten. Wir wollen nicht, dass der Füllstand des Portemon-naies den Ausschlag dafür gibt, welche Versorgung manbekommt. Deshalb fordern wir die Bundesregierung mitdem vorliegenden Antrag auf, die Gesundheitsrichtlinieim Europäischen Rat abzulehnen. Das wäre ein Signalgegen den Markt und für die Patientinnen und Patien-ten.
Der Antrag der Linken spricht eine wichtige Frage
an, schießt dabei aber über das Ziel hinaus. In der Tat
kann man das Verhalten der schwarz-gelben Bundesre-
gierung in den abschließenden Verhandlungen zur EU-
Patientenrichtlinie kritisieren. Wie so oft hat sie nicht
nach der Lösung gesucht, die für die Patienten am bes-
ten ist, sondern nach der, die die Interessen bestimmter
Berufsgruppen oder Branchen bedient. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass sich ein FDP-geführtes Gesund-
heitsministerium ernsthaft gegen das Prinzip der Koste-
nerstattung gewehrt hat. Im Gegenteil: Der Vorschlag
kam Ihnen wahrscheinlich ganz gelegen.
Und die Union hat dies leider auch nicht getan. Wir
hätten es begrüßt, wenn sie zumindest die Idee ihres
Unionskollegen Dr. Peter Liese aus dem Europäischen
Parlament aufgegriffen hätten. Er hatte vorgeschlagen,
dass Krankenkassen planbare Behandlungen im Aus-
land, für die sie eine Vorabgenehmigung erteilen müs-
sen, über ein Gutscheinsystem direkt mit den Leistungs-
erbringern abrechnen. Damit hätte man zumindest bei
sehr aufwendigen und entsprechend teuren Behandlun-
gen verhindern können, dass Patienten in Vorleistung
gehen müssen. Die Bundesregierung hat bislang noch
nicht klar gesagt, warum sie diesen Vorschlag abgelehnt
hat. Natürlich kann man immer argumentieren: Wir wol-
len ja gar nicht, dass Patienten abwandern. Wir wollen
auch im Interesse der grenznahen strukturschwachen
Regionen die Patientinnen und Patienten möglichst im
Land halten, damit dort die Versorgungsstrukturen nicht
noch mehr ausgedünnt werden. Das ist auch grundsätz-
lich nachvollziehbar. Nur gehe ich angesichts Ihrer zö-
gerlichen Herangehensweise bei der Verbesserung der
Versorgungsstrukturen im Inland kaum davon aus, dass
dieser Aspekt für Sie handlungsleitend war.
Eine Befragung von Patienten durch die Techniker
Krankenkasse hat ergeben, dass es in erster Linie Rent-
ner und Personen mit kleinen Einkommen sind, die eine
Behandlung im EU-Ausland in Anspruch nehmen – und
dies oft, um auf diese Weise Zuzahlungen und andere
privat zu tragende Kosten zu vermeiden. Diese Men-
schen können oft keine hohen Vorauszahlungen leisten.
Gerade diese Menschen könnten zukünftig von ihren
Krankenkassen unter Druck gesetzt werden, sich bei
aufwendigen Therapien in Nachbarländern behandeln
zu lassen. Denn auch Krankenkassen haben mitunter ein
Interesse daran, auf diesem Wege Geld zu sparen. Ich
hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung diese
Gefahr in der Debatte angesprochen und entsprechende
Schutzmechanismen eingezogen hätte, damit eine Aus-
landsbehandlung wirklich immer einer autonomen Ent-
scheidung des Patienten entspringt.
Das geringe Interesse der Bundesregierung an den
Bedürfnissen der Patienten sieht man auch bei einem
anderen Punkt: Wer sich im EU-Ausland behandeln las-
sen will, wird hierzulande weiterhin kaum Möglichkeiten
haben, sich über diese Behandlung genauer zu informie-
ren. Die nach der Richtlinie einzurichtende nationale
Kontaktstelle soll auch nach Ihrem Willen nur Informa-
tionen über Versorgungsangebote im Inland bereitstel-
len. Wer eine Beratung über Behandlungsmöglichkeiten,
Qualitätsstandards oder rechtliche Fragen wie etwa
Schadensersatzansprüche in einem anderen Mitglied-
staat sucht, bleibt weiterhin auf die dortigen Kontakt-
stellen verwiesen. Diese Kontaktstellen sind allerdings
nur verpflichtet, Informationen in ihrer jeweiligen Lan-
dessprache zur Verfügung zu stellen. Ein zusätzliches In-
formationsangebot, beispielsweise in Englisch, wurde
durch den Rat abgelehnt. Daher wird absehbar sein,
dass eine umfassende Aufklärung von Patienten vor An-
tritt oder im Nachgang einer Behandlung kaum gewähr-
leistet ist.
Genauso wenig Unterstützung erhalten gesetzlich
versicherte Patientinnen und Patienten, wenn sie wissen
wollen, bis zu welchem Betrag ihnen die Behandlungs-
kosten von ihrer Krankenversicherung erstattet werden
und ob sie gegebenenfalls einen Anteil privat zu tragen
haben. Auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion konnte
die Bundesregierung nicht sagen, wie diese Information
zukünftig sichergestellt werden soll.
Es gibt also weitere drängende Fragen, die wir im
Zusammenhang mit der Richtlinie diskutieren sollten.
Der Antrag der Linken scheint mir da eher wie ein
Schuss ins Blaue zu sein. Wir wissen nicht, wie sich die
Gesundheitsversorgung in den kommenden Jahren in
Europa entwickeln wird. Ich gehe nicht davon aus, dass,
wie die Linke behauptet, die Richtlinie dazu führt, dass
sich die Gesundheitsversorgung in einigen EU-Staaten
dadurch verschlechtern wird, dass vorrangig ausländi-
sche Patienten behandelt werden. Aber die Gefahr eines
Türöffners für ökonomische Erwägungen, hinter denen
die Interessen der Patienten zurückstehen müssen, be-
steht.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/4717. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion DieLinke, Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen undAblehnung durch die anderen Fraktionen abgelehnt.
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10638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENElberaum entwickeln – Nachhaltig, zukunfts-fähig und naturverträglich– Drucksache 17/4554 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Tourismus
Flüsse sind Lebensadern für Kultur, Wirtschaft und
Natur. Sie müssen deshalb viele Funktionen gleichzeitig
erfüllen. Als Wasserstraßen ermöglichen sie den effi-
zienten und umweltfreundlichen Transport von Massen-
gütern. Naturbelassene Flusslandschaften wie das
Elbsandsteingebirge, Kulturlandschaften wie das Welt-
kulturerbe Wörlitzer Gartenreich oder Kunst- und Kul-
turmetropolen wie Dresden locken Tausende von Touris-
ten an und schaffen gerade in wirtschaftsschwachen
Regionen Arbeitsplätze im Gastgewerbe und Tourismus.
Zugleich gehören Flüsse und naturnahe Auen zu den ar-
tenreichsten Naturräumen in unserer Heimat.
Als Koalition bekennen wir uns ausdrücklich zur Na-
türlichkeit der Flüsse und Flusslandschaften, nicht nur
auf Bundesebene, sondern auch in den Bundesländern,
in denen wir Verantwortung tragen. Ich möchte Ihnen
das an zwei Beispielen belegen: erstens am Koalitions-
vertrag zwischen CDU, CSU und FDP im Bund. Hier
heißt es: „Frei fließende Flüsse haben einen hohen öko-
logischen Wert. Die Durchgängigkeit der Flüsse für
wandernde Fische muss wiederhergestellt werden. Für
den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürliche
Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer möglich, re-
naturiert werden.“ Zweitens. Im Koalitionsvertrag zwi-
schen der sächsischen CDU und der FDP ist folgende
eindeutige Formulierung enthalten: „Wir bekennen uns
zur Bewahrung der Natürlichkeit der Elbe. Wir wollen
keinen Ausbau der Elbe beispielsweise mit Staustufen“.
Eine zukunftsfähige nachhaltige Entwicklung der gro-
ßen deutschen Flusslandschaften – nicht nur an der
Elbe, sondern auch an Donau und Rhein – setzt voraus,
dass eine tragfähige Balance zwischen wirtschaftlichen,
sozialen und ökologischen Werten und Interessen ge-
schaffen wird. An der Elbe stehen wir vor einer besonde-
ren Herausforderung. Unser Nachbarland Tschechien
plant in Decin kurz hinter der deutschen Grenze den
Ausbau der Elbe mit einer Staustufe, die uns große Sorge
bereitet. Am 28. Februar läuft die Einspruchsfrist beim
tschechischen Umweltministerium ab. Der sächsische
Staatsminister Frank Kupfer, CDU, wird fristgerecht
eine Stellungnahme übergeben. Der Inhalt der Stellung-
nahme wird Gegenstand einer Pressekonferenz von
Staatsminister Kupfer am 1. März 2011 sein. Dieser Stel-
lungnahme möchte ich an dieser Stelle nicht vorgreifen.
Unabhängig davon setzt der Freistaat Sachsen gemein-
sam mit dem Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit auf die Aufnahme von bila-
teralen Konsultationen mit Tschechien.
Nach meinem aktuellen Kenntnisstand kann anhand
der vorgelegten Umweltverträglichkeitsprüfungsunter-
lagen für die tschechische Staustufe nicht zweifelsfrei
belegt werden, dass im Falle der Realisierung des Pro-
jektes die Ziele der europäischen Wasserrahmenrichtli-
nie für die Elbe auf deutschem Gebiet erreicht werden
können. Dies betrifft insbesondere den „guten Zustand“
nach der Wasserrahmenrichtlinie. Obwohl die einzelnen
Elemente des ökologischen und chemischen Gewässer-
zustands in den vorliegenden Unterlagen betrachtet
wurden, wurde von tschechischer Seite zu den Zielset-
zungen der Wasserrahmenrichtlinie nicht explizit Stel-
lung genommen. Die Vereinbarkeit der geplanten Maß-
nahmen mit den Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie
ist eine wesentliche Zulassungsvoraussetzung. Ohne die
Einbeziehung deutscher Natura-2000-Gebiete entspre-
chend dem europarechtlichen Verfahren gemäß Art. 6
FFH-Richtlinie ist von der Möglichkeit von Beeinträch-
tigungen dieser Gebiete und somit dem mangelnden
Nachweis der europarechtlichen Zulässigkeit dieses
Vorhabens auszugehen.
Neben den wasserwirtschaftlichen bestehen erhebli-
che naturschutzfachliche Bedenken gegen die Staustufe
bei Decin: Es ist zum Beispiel von der Gefährdung der
geschützten Fischotterpopulationen auf sächsischer
Seite auszugehen. Neben der fehlenden Durchgängigkeit
für Wanderfische und dem Verlust natürlicher Laich-
und Aufwuchshabitate schafft eine Staustufe in Tsche-
chien ein zweites ganz wesentliches Problem für die
Elbe auf der deutschen Seite: Die Notwendigkeit der Ge-
schiebebewirtschaftung. Durch die Staustufe wird der
natürliche Transport von Schutt und Geröll auf der
Flusssohle unterbrochen. Dieses fehlende Geschiebe
führt zur weiteren Eintiefung der Elbe mit allen bekann-
ten negativen Folgen für die Grundwasserhaltung und
die Landwirtschaft. Hintergrund für den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen ist die Ablehnung der Staustufe
in Decin.
Als Mitglied der Parlamentarischen Gruppe Frei flie-
ßende Flüsse befürworte ich eine ganze Reihe von Posi-
tionen aus dem Antrag. Es ist sinnvoll, der Elbe durch
die Förderung von Ufer- und Auenrenaturierung, Flut-
rinnen- und Altarmanbindung mehr Raum zu geben. Sol-
che Maßnahmen schaffen einen wertvollen Beitrag zum
Schutz der biologischen Vielfalt, denn Auen gehören zu
den gefährdetsten Naturräumen.
Deichrückverlegungen schaffen mehr Raum für die
dynamische Entwicklung des Flusslaufes und sind der
beste natürliche Hochwasserschutz. Ich unterstütze aus-
drücklich die Förderung einer flussangepassten Binnen-
schifffahrt. Die Entwicklung hin zur Containerschiff-
fahrt benötigt weit geringere Ausbautiefen als bisher.
Auf Staustufen kann verzichtet werden.
Einige der Forderungen aus dem Antrag halte ich im
Sinne einer Balance zwischen Wirtschaft, Ökologie und
sozialen Aspekten nicht für konsensfähig. Auch eine
flussangepasste Binnenschifffahrt braucht Unterhalts-
maßnahmen am Fluss. Sollte die Staustufe in Tschechien
Josef Göppel
(C)
(B)
realisiert werden, wird man an zusätzlichen flussbauli-
chen Unterhaltsmaßnahmen und einer Geschiebebe-
wirtschaftung kaum vorbeikommen. Ich sehe keine akute
Gefahr für den Lebensraum Elbe und halte es nicht für
erforderlich, die grundsätzliche Einstellung des Bundes
zu verändern. Insgesamt sind wir an der Elbe im Ver-
gleich zu den anderen großen Flussgebieten in Deutsch-
land wie Rhein und Donau im Bezug auf nachhaltige
Entwicklung auf einem sehr guten Weg.
Wenn der vorliegende Antrag einen Zweck haben soll,dann kann es nur Wahlpropaganda im Vorfeld der Land-tagswahlen in Sachsen-Anhalt sein. Er konstruiert einenkünstlichen Gegensatz zwischen Schifffahrt und Natur-schutz, der so in der Praxis nicht existiert. Dazu bedienter sich leider falscher Unterstellungen und unrichtigerBehauptungen, und gerade das hat die Elbe nicht ver-dient.Schon der erste Satz des Antrages ist nachweislichfalsch. Es wird behauptet:Die Ober- und Mittelelbe bis Geesthacht ist für ei-nen verlässlichen Gütertransport nach Fahrplannicht geeignet.Nur ein Blick ins Internet hätte zum Beweis des Ge-genteils gereicht. Am 1. März 1995 startete die erste re-gelmäßige Elbe-Container-Linie als Kooperationspro-jekt der Elbehäfen Magdeburg, Aken, Riesa, Dresden,Decin und Usti. Wir feierten deren 15-jähriges Bestehenund konnten in der vorigen Woche erfreut feststellen,dass die Linie zwischen Hamburg und Riesa nicht mehrnur zweimal, sondern dreimal in der Woche, also mitdrei Berg- und drei Talfahrten, verkehrt. Wenn Sie danneine flexible Transportkette im Elberaum fordern, habensie verpennt, dass es die mit „Albatros“ längst gibt.Dann behaupten Sie:Alle bisherigen Versuche, eine ganzjährige Fahr-rinnentiefe von 1,60 Meter … zu garantieren, sindgescheitert.Wenn Ihr glorreicher Umweltminister Trittin nachdem Hochwasser 2002 an der Elbe nicht die Weiterfüh-rung der Unterhaltungsarbeiten gestoppt hätte und so-gar die Beseitigung der Hochwasserschäden an denFlussbauwerken verboten hätte, wäre es wohl möglich,den Unterhaltungsstand so zu verbessern, dass solcheSchadstrecken wie bei Coswig, Anhalt, ohne Behinde-rung passiert werden könnten. Doch auch ohne Ab-schluss dieser Unterhaltungsmaßnahmen war im Jahr2010 nur an 21 Tagen die Fahrrinnentiefe von 1,60 Me-ter unterschritten. Wenn Sie sich der Mühe unterziehenwürden, einmal nachzurechnen: Das Unterhaltungszielvon 1,60 Meter Fahrrinnentiefe an 345 Tagen war damitso gut wie erreicht. Im Gegenteil, auf der Strecke Ham-burg–Dresden war in der Hälfte des Jahres eine Fahr-rinnentiefe von mehr als 2,50 Meter vorhanden.Wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem kanal-artigem Ausbau mit einer Kette von Staustufen sprechen,so ist das die bewusste Unwahrheit, die Sie seit 1990 wieZu Protokolleine Monstranz vor sich hertragen. Im Sommer 1991war ich gemeinsam mit dem letzten Verkehrsminister derDDR und späteren Bundestagskollegen Horst Gibtner inder Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost. Bereits zudiesem Zeitpunkt war klar, dass auf dem deutschen Elb-abschnitt keine einzige Staustufe gebaut würde und dieschon damals angepeilte Fahrrinnentiefe von 1,60 Me-ter sich mit der Rekonstruktion der vorhandenen, aberteilweise stark schadhaften Flussbauwerke erreichenlassen würde. Ausbau, Kanalisierung, Staustufen, dassind alles Gespenster, mit denen Sie friedliche Bürgerschrecken und für sich mobilisieren wollen. Diesen Un-sinn lassen wir Ihnen nicht durchgehen.Sie behaupten, dass mit fortschreitendem Klimawan-del die Pegelstände keinen wirtschaftlichen Güterver-kehr zulassen. Die Niederschläge des Jahres 2010 ha-ben das Grundwasser gerade auch in der Elbregion soansteigen lassen, dass das Landesamt für Hochwasser-schutz des Landes Sachsen-Anhalt damit rechnet, dasswir noch bis zum Jahr 2013 mit dem Abfluss diesesGrundwassers zu tun haben werden. Wir werden alleindurch die Niederschläge des Jahres 2010 noch in dennächsten Jahren höhere Wasserstände als normal unddadurch bessere Schifffahrtsbedingungen haben. Außer-dem ist für die Wirtschaftlichkeit der Schifffahrt längstnicht mehr die Tonnage und damit die Abladetiefe dasEntscheidende. Sehen Sie sich die Transporte im HafenAken an! Der Maschinenbaustandort Erfurt ist von Akenabhängig, weil er dort große sperrige Anlagenteile ver-laden und sicher nach Hamburg zum Überseehafentransportieren kann. ENERCON in Magdeburg verlädtdie Rotorblätter großer Windkraftanlagen für den Ex-port längst auf das Binnenschiff. Die Containerum-schlagszahlen haben sich vom Jahr 2009 auf das Jahr2010 in Torgau/Riesa/Dresden um 35 Prozent und inRoßlau/Aken um 54 Prozent gesteigert. Vielleicht regist-rieren Sie auch: Im Winter 2010/2011 war die Elbschiff-fahrt eindeutig zuverlässiger als die Bahn, und die Elbewar schiffbar, als auf den Kanälen schon längst nichtsmehr lief. Die eingesetzten flachgehenden Schubeinhei-ten haben auch andere Tauchtiefen.Sie fordern flachgehende Schiffstypen für den Güter-transport. Die ehemalige grüne sachsen-anhaltischeUmweltministerin Heidecke hatte als Korrespondenz zurWeltausstellung in Hannover viel Geld ausgegeben fürdie Entwicklung eines flach gehenden Elbschiffes. Dochkaum war der Medienrummel um die EXPO 2000 verflo-gen, krähte kein Hahn mehr nach diesem Schiff und demdafür ausgegebenen Geld. Weder Frau Heidecke nochHerr Trittin hat jemals wieder danach gefragt. Sie kön-nen sich die verstaubten Konstruktionsunterlagen unddas Modell noch gern in der Werft ansehen. Wenn Siesich heute scheinheilig Sorgen machen um das Geld,was für den umweltverträglichen Ausbau der Elbe aus-gegeben wird, sollten Sie sich wenigstens selbstkritischauch mit der Zeit beschäftigen, wo sie Verantwortungtrugen für das Geld, was Sie in Ihrer Regierungszeit inder Elbe versenkt haben.Immer wieder kommen Sie dann auch auf die Frageder Kosten für die Unterhaltung der Schifffahrt auf derElbe. Die Elbe ist ein Strom in einer Kulturlandschaft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10639
gegebene RedenUlrich Petzold
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Ihre Unterhaltung ist allein zur Landschaftspflege undfür den Hochwasserschutz unumgänglich. Was würdedenn passieren, wenn wir die Elbe aus ihrem definiertenFlussbett ausbrechen ließen, wie es in den Jahrhunder-ten vor uns immer wieder geschehen ist? Wenn Sie jetztin Ihrem Antrag die Behauptung aufstellen, dass die seit20 Jahren laufenden Unterhaltungsmaßnahmen zur Ver-schlechterung des ökologischen Erhaltungszustandesund zur Sohleneintiefung geführt hätten, ist das die vor-sätzliche Unwahrheit. Die Sohleneintiefung auf der Ero-sionsstrecke zwischen Torgau und Roßlau hat sich nachden Begradigungsmaßnahmen um 1900 verschärft undhält seitdem an.Die Bundesrepublik ist mit den Unterhaltungsmaß-nahmen erstmalig fundiert gegen diese Erosion vorge-gangen und führt seit der Wiedervereinigung Geschiebe-versuche auf dieser Strecke durch, um damit einewissenschaftliche Grundlage für die Sohlenstabilisie-rung zu haben. Die von Ihnen geforderten Forschungs-projekte laufen also längst. Ihr damaliger Minister Trit-tin war es, der die Forschung undSohlenstabilisierungsarbeiten 2002 einstellen ließ unddamit dem weiteren Eingraben der Elbe Tür und Tor ge-öffnet hat.Die Behauptung der Verschlechterung des ökologi-schen Erhaltungszustandes der Elbe ist bösartig undspricht den Menschen entlang der Elbe das Ergebnis ih-rer 20-jährigen Bemühungen um die Elbe ab. Mit dieserBehauptung bestreiten Sie, dass das Wasser der Elbewieder sauberer geworden ist und Fauna und Flora sicherholt haben. Viele Menschen haben sich darum bemüht.Denen sagen sie jetzt: Eure Mühe hat nichts gebracht. –Das ist unanständig. Seit einigen Jahren kann man inder Elbe wieder ohne Angst um die eigene Gesundheitschwimmen. Fischarten sind zurückgekehrt, sodass jetztan einigen Stellen der Kormoran der größte Feind derFische ist. Für uns ist es eine Sache der Ehre, den Men-schen für ihre Bemühungen zu danken und sie nicht zubeleidigen.Wenn Sie den Wasserabfluss durch die Elbe verrin-gern wollen, müssen Sie den Menschen in der Elbniede-rung dann auch ehrlicherweise sagen, dass bei Vermin-derung der Abflussverhältnisse an der Elbe sich diederzeitige Grundwassersituation entlang der Elbe aufDauer verfestigen wird. Sie müssen dann den dort leben-den Menschen sagen, dass sie ihre Keller nicht mehrwasserfrei und die Fundamente ihrer Häuser nicht mehrtrocken kriegen und dass das Ihre politische Absicht ist.Sie fordern auch, die Bahnstrecken parallel zu Elbestärker zu nutzen. Ich weiß nicht, wann das letzte Mal je-mand von den Grünen sich nach Bad Schandau in dasElbtal getraut hat. Wir haben dort allmählich Verhält-nisse, die an St. Goar am Mittelrhein erinnern. Mit stei-gender Wirtschaftsleistung der Tschechischen Republiknimmt der Bahnverkehr dort stetig zu. Sie sagen jetztdiesen Menschen: Wir wollen, dass ihr noch mehr Ver-kehr auf der Schiene durch eure Ortschaften kriegt. –Ich glaube nicht, dass Sie sich mit einer solchen Aussagezu den Menschen nach Bad Schandau trauen. EineZu ProtokollErsatzstrecke durch das Erzgebirge – da bin ich mir si-cher – würden Sie genauso bekämpfen wie die Eisen-bahnstrecke parallel zur A 71 durch den ThüringerWald.Ist den Antragstellern aber auch bewusst, welcheProbleme sie mit ihrem Antrag im Verhältnis zu unseremNachbarland Tschechien aufwerfen? Bereits die Überle-gungen des Bundesministeriums für Verkehr, die Unter-haltung der Elbe an das Verkehrsaufkommen anzupas-sen, hat in der tschechischen Regierung für erheblichenUnmut gesorgt und auf tschechischer Seite die Befürch-tung aufkommen lassen, dass Deutschland Tschechienabsichtlich schädigen will. Die Grünen haben in ihrerVerantwortung im Außen- und Umweltministerium ge-nau das grenzüberschreitende Güterverkehrskonzeptnicht zustande gebracht, was sie jetzt mit großer Poseeinfordern. Nicht Anträge mit Paukenschlag, sondernruhige, sachliche internationale Zusammenarbeit ist un-sere Sache und wird sicherlich in einem europäischenVerkehrskonzept zu besseren Ergebnissen führen, als esmit einem plakativen Antrag möglich ist.Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, gewässerökologi-sche Belange bei Unterhaltungsmaßnahmen durch dieWasser- und Schifffahrtsdirektion Ost in deutlich stärke-rem Maß zu berücksichtigen, kann ich Ihnen nur zuru-fen: Auch schon ausgeschlafen?! Seit vielen Jahren istmir bekannt, dass die Baudirektoren Finke und Kautzdes Wasser- und Schifffahrtsamtes Dresden regelmäßigeBeratungen mit dem Biosphärenreservat „Flussland-schaft Elbe“ pflegen, dass der NABU in diese Gesprä-che mit einbezogen wird und dass diese Gesprächedurchaus fruchtbar zu signifikanten Ergebnissen führen.Ihrem Antrag merkt man an, dass er leider, wie so vie-les von Ihnen, am sprichwörtlichen grünen Tisch fernabder Realität entworfen wurde. Naturschutz und Elbun-terhaltung sind heute längst keine Gegensätze mehr. Einsinnvolles Miteinander ist schon lange dem Gegen-einander oder dem Nebeneinander gewichen. Ich kannnur allen die Einbindung in diese Beratungen empfehlen.Sie sind beispielhaft. Und ich kann hier nur dem Bio-sphärenreservat unter Leitung von Herrn Puhlmanndanken, dass hier zukunftsweisend gearbeitet wird. Nurso können sinnvolle Maßnahmen wie Deichrückverle-gungen in Bereichen mit wenig Hochwasserstauraum,Neukonstruktion der Buhnenfüße zur besseren Durch-strömung der Buhnenzwischenräume, Schaffung vonökologisch wertvollen Stillwässern hinter Leitschüttun-gen oder die Öffnung der Elb-Altarme erreicht werden.Dieses ist erreicht worden ohne Demonstrationen, ohneKrawall und ohne Ihr Zutun. Deshalb muss ich IhrenAntrag in aller Deutlichkeit zurückweisen. Wer solcheKlischees bedient und so schäbig mit der Wahrheit um-geht, schädigt gerade das, wofür er sich einzusetzen vor-gibt. Durch den Antrag wird nicht der Naturschutz ge-stärkt, sondern die wunderbare Elbelandschaft insZwielicht einer Naturzerstörung gerückt, die niemandbeabsichtigt. Für Ihre Wahlpropaganda ist mir meineHeimat, mein Fluss Elbe zu schade. Wir werden uns da-mit sicher noch in den Ausschüssen beschäftigen.
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10640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Die Elbe, sie gilt als einer der letzten frei fließenden
Flüsse Deutschlands. Sie durchfließt verschiedenartige
Naturräume, die allein aufgrund der geringen Besied-
lungsdichte zum Teil einmalige Pflanzen- und Tierwelten
hervorgebracht haben. Tourismus zu Wasser und zu
Lande ist daher ein wichtiger Standortfaktor entlang der
Elbe. Ich selbst lebe nördlich von Magdeburg an der
Elbe und habe seit meiner Kindheit das ökologische Ab
und Auf erlebt, und nicht nur wir Sachsen-Anhaltiner
setzen uns für eine zukunftsfähige Elbe, deren Bedeu-
tung für Ökologie und Tourismus zunehmend steigt, ein.
Dies ist auch der Aspekt, auf den in diesem Antrag abge-
stellt wird. Gleichzeitig ist die Elbe eine überregional
bedeutende Wasserstraße. Sie ist eine Wasserstraße, in
die viele auch die Hoffnung auf wirtschaftlichen Auf-
schwung stecken. Politik darf sich aber nicht an Utopien
ausrichten. Die Elbe soll ein natürlicher Fluss bleiben;
niemand wünscht sich einen zweiten Rhein. In Sachsen-
Anhalt hat sich die SPD daher explizit gegen den Bau
des Saale-Seitenkanals ausgesprochen.
Bündnis 90/Die Grünen gehen in ihrem Antrag davon
aus, dass der Versuch, einen wirtschaftlichen Güterver-
kehr auf der Elbe zu ermöglichen, gescheitert ist. Es
stimmt, die reine Menge der transportierten Güter auf
der Elbe nimmt ab. Gleichzeitig ändert sich aber auch
die Art der Güter, die transportiert werden. Neben Mas-
sengüter- und Containerumschlägen nehmen zuneh-
mend hochwertige Transporte von Sperrgütern einen
hohen Stellenwert ein. Turbinen, Transformatoren, Ge-
neratoren, Kompressoren, Schiffskörper von Küstenmo-
torschiffen und Teile für Windkraftanlagen sind als Son-
dertransporte kaum anders zu bewegen als über den
Verkehrsträger Wasserstraße. Welche Bedeutung die
Elbe hat, erkennt man beispielsweise an den Häfen in
Magdeburg, in Roßlau und Bernburg. Ich sehe es vor al-
lem daran, dass dort Arbeitsplätze entstanden sind. Die
Binnenschifffahrt und die Häfen sind für die Elbe-Re-
gion ein Wirtschaftsfaktor, ohne Zweifel.
Das heißt: Auch wenn wir – und da gebe ich Ihnen
recht – über die Ziele der Schiffbarkeit diskutieren müs-
sen: Die gewerbliche Schifffahrt auf der Elbe brauchen
wir weiterhin, dies umso mehr, als wir im Sinne einer
nachhaltigen und umweltschonenden Verkehrspolitik
Transporte so weit wie möglich von der Straße auf
Schiene und Wasserstraßen verlagern müssen. Dazu
müssen die Bundeswasserstraßen eben auch für die ge-
werbsmäßige Binnenschifffahrt nutzbar bleiben. Es ist
aber auch klar: Der Ausbau der Elbe zur Anpassung an
größere Schiffseinheiten ist nicht notwendig. Das lehnen
wir ab. Wir müssen klar definieren, welche Ziele wir mit
der Binnenschifffahrt auf der Elbe verfolgen und was
möglich ist, wenn wir die Naturlandschaften an der Elbe
erhalten wollen. Wir müssen uns klarmachen, welche Al-
ternativen es gibt, welche Folgen diese Alternativen hät-
ten und wo die Vorteile des Schiffes liegen. Ich will nur
ein Problem anführen: Wir diskutieren oft und heftig
über den Lärmschutz an Bahnstrecken. Die Bahntras-
sen, die Alternativen zur Binnenschifffahrt auf der Elbe
sein können, verlaufen direkt durch Städte und Dörfer.
Wie gehen wir damit um? Lärm ist gesundheitsschädi-
Zu Protokoll
gend, noch zu wenig im Fokus, aber zunehmend ernst-
haft problematisiert.
Es geht aus meiner Sicht darum, die Elbe in einem
Zustand zu sichern, der nicht über ein klar definiertes
Maß an Schiffbarkeit hinausgeht. Dieses müssen wir
klar definieren. Es geht genauso darum, die Naturland-
schaften zu erhalten. Es geht darum, die Lebensräume
für die Kraniche, Störche und andere Populationen, die
in Größenordnungen wieder zurückgekehrt sind, zu er-
halten. Auch das muss in einer Zieldefinition klar ent-
halten sein. Ich weiß um den Spagat, der notwendig ist,
die Binnenschifffahrt zu erhalten und gleichermaßen die
Naturlandschaften zu schützen. Seit 1998 versuche ich
mich in dieser Disziplin. Ich weiß, dass es ganz sicher zu
einer Grenze bei der Binnenschifffahrt führen wird. Es
bedeutet auch, dass die erforderlichen wasserbaulichen
Wiederherstellungs- und Unterhaltungsarbeiten zum Er-
halt der Schiffbarkeit und für den Hochwasserschutz
nach neuesten ökologisch verträglichen Methoden erfol-
gen müssen. Dieser Spagat ist nicht einfach. Er ist aber
notwendig und muss von der Mehrheit getragen werden.
Lassen Sie uns im Ausschuss darüber ausführlich disku-
tieren.
In meiner Funktion als Vorsitzender der parlamenta-rischen Gruppe „Frei fließende Flüsse“ habe ich großeSympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Ausdiesem Grund begrüße ich grundsätzlich auch die Ini-tiative der Grünen.Die Elbe ist in Deutschland einer der ökologischwertvollsten Flüsse – und das, obwohl vor 1990 die Elbemit der Saale im Wettbewerb um den Titel „dreckigsterFluss Mitteleuropas“ stand. Mittlerweile bestehen ge-rade entlang der Mittelelbe wieder zahlreiche Biosphä-renreservate, Naturparks oder Naturschutzgebiete. Undtrotzdem: Die Klassifizierung der mittleren Elbe in mä-ßig und stark veränderte Flussabschnitte zeigt auf, dassnoch viel zu tun ist.Die Probleme aus Sicht des Umweltschutzes sind da.Zwischen Saale und Mulde sind viele Altwässer nur un-zureichend an das Elbwasser angebunden. In der Folgedroht vielen Feuchtgebieten die Verlandung. Gerade inden Sommermonaten droht der Sauerstoffgehalt derElbe oftmals zu kippen, mit verheerenden Folgen. Einweiteres Problem stellte auch die 1960 errichtete Stau-stufe Geesthacht dar. Die Durchlässigkeit der Staustufefür Fische war und ist umstritten. Mit der neuen zweiteFischtreppe, die im September des letzten Jahres fertig-gestellt wurde, könnte kann nun theoretisch sogar derStör wieder heimisch werden. Erfolgsmeldungen sind al-lerdings noch verfrüht, wir müssen die weitere Entwick-lung sehr genau beobachten.Wir wollen wie Sie ebenfalls keine weiteren Staustu-fen in der Elbe. Die FDP hat sich bereits in ihrem Wahl-programm von 2009 dazu klar geäußert. Auch die ge-plante Staustufe in Tschechien ist nicht im InteresseDeutschlands und der Elbe insgesamt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10641
gegebene RedenHorst Meierhofer
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Auch hinsichtlich des Auenschutzes sind wir ähnli-cher Meinung. Dies ist nicht nur im Interesse des Natur-schutzes, auch der Schutz der Menschen vor Hochwas-sern erfordert gezielte Renaturierungsmaßnahmen.Dazu gehören Deichrückverlegungsmaßnahmen – wohlwissend, dass dies nur gemeinsam mit den Anwohnernmöglich ist. Sie sehen, in vielen Punkten sind wir unsnahe.An einigen Stellen erscheint mir der Forderungskata-log allerdings nicht ganz stimmig. Ihrem Antrag ist zuentnehmen, dass Sie eine Verbesserung der Schiffbarkeitgenerell mit Argwohn verfolgen. Meines Erachtens kanneine Verbesserung der Schiffbarkeit in engem Rahmendurchaus ermöglicht werden, allerdings nur durch Un-terhaltungsmaßnahmen. Wenn die Schifffahrt sich demFluss anpasst, ist dies begrüßenswert. Der Fluss solltesich nur nicht immer der Schifffahrt anpassen müssen.Die kategorische Kritik an der Schifffahrt ist aus unsererSicht übertrieben.Auch an anderer Stelle möchte ich auf eine Ungenau-igkeit hinweisen. Sie sprechen einerseits davon, dass dasProblem Wasserknappheit angegangen werden sollte,Ihres Erachtens durch den Stopp von Bau- und Unter-haltungsmaßnahmen. Wasserknappheit ist für die mitt-lere Elbe ein massives Problem. So weit gestehe ich Ih-nen diese Position zu. Nur, was dann?Sie fordern gleichzeitig, eine durchgehende Mindest-tiefe von 1,60 Metern zwischen Geesthacht und Dresdenzu erreichen, ohne dafür zur Verfügung stehende Mittelzu benennen. Hinzu kommen die Deichrückverlegungenund die Ausweitung der bestehenden Auen.Was Sie fordern, entspricht in etwa der Quadratur desKreises: mehr Wasser in der Elbe, mehr Wasser in denAuen, den Wasserentzug der umgebenden Flussland-schaft minimieren. Ich halte das alles für wünschens-wert, nur an heißen Sommern können wir leider nichtsändern. Wir müssen uns voraussichtlich darauf einstel-len, dass die Elbe nicht dauerhaft einen Mindestwasser-stand erreichen wird. Mir fehlt an dieser Stelle die Ehr-lichkeit im Antrag, sich einzugestehen, dass nicht allegut gemeinten Ziele miteinander vereinbar sind.Das Bundesverkehrsministerium hat vor wenigen Wo-chen einen Bericht erstellt, wonach Bundeswasserstra-ßen nach Kategorien eingeteilt werden und diese nachihrem Verkehrsaufkommen bewertet werden. Eine Kana-lisierung der Elbe steht demnach ganz sicher nicht an;und das ist eine gute Nachricht. Die Maßnahmen derBundesregierung deuten in die richtige Richtung. VieleIhrer Punkte sind oder werden bereits aufgegriffen. Des-halb und angesichts der genannten Unstimmigkeitenkann ich Ihrem Antrag in dieser Form nicht zustimmen.
Das Anliegen der Antragsteller, die Elbe als letztengroßen, noch relativ wenig verbauten und naturnahenfrei fließenden Fluss in Mitteleuropa zu erhalten, findetdie volle Zustimmung der Linken. In der Tat wäre es einesowohl umwelt- als auch wirtschaftspolitische Torheit,an der Elbe all jene Sünden zu wiederholen, mit denenZu Protokollim Westen der Republik aus Flüssen tatsächlich Wasser-straßen gemacht worden sind: Straßen für immer grö-ßere Schiffe zum Preis immer geraderer Ufer, zum Preisder unwiederbringlichen Hergabe komplexer großerLandschaften mit ihrer flusstypischen Flora und Fauna,unter Preisgabe auch eines sinnvollen naturnahenHochwasserausgleiches zur Katastrophenvermeidungund schließlich unter Preisgabe von Landschaftsschön-heit, die nichts anderes ist als die Preisgabe qualitäts-voller Lebenswelten für die Menschen. Wer meint, dieUmwelt müsse nun mal zurückstehen, wenn es um Wirt-schaftlichkeit geht, dem muss entgegengehalten werden,dass erstens längst erwiesen ist, dass das, was aus be-triebswirtschaftlichem Einzelinteresse heraus als wirt-schaftlich gelten mag, sich unter dem Gesichtspunkt dervolkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oft genug alshöchst ineffizient herausstellt, und dass zweitens allePrognosen, die im Zusammenhang mit den verschiede-nen auf die Binnenschifffahrt bezogenen Verkehrspro-jekten „Deutsche Einheit“ über die Entwicklung dieserSchifffahrt erstellt worden sind, sich als höchst unrealis-tisch herausgestellt haben.Also: Alles spricht dagegen, immer und immer wiederden Versuch zu unternehmen, die Ideen von vorgesternin den Beton von gestern zu gießen.Das sage ich als Abgeordneter aus Sachsen-Anhaltmit Blick nicht nur auf die Elbe selbst, sondern auch aufihren Nebenfluss Saale. Die Pläne zum Ausbau derSaale gehören ebenso in den Papierkorb wie die zumAusbau der Elbe. Niemand braucht einen Saale-Seiten-kanal bei Tornitz, niemand braucht weitere überflüssigeHafenbauten.Wenn wir von der Linken dennoch dem vorliegendenAntrag der Grünen nicht vorbehaltlos zustimmen, danndeshalb, weil wir der Auffassung sind, dass einige Fra-gen einer weiteren Präzisierung bedürfen. So sehen wirDiskussionsbedarf in der Frage, wie mit dem Elbe-Ab-schnitt zwischen Geesthacht und dem 20 Kilometer wei-ter flussauf liegenden Lauenburg umgegangen werdensoll. Dem Antrag folgend soll dieser Abschnitt nicht fürdauerhafte Schiffbarkeit eingerichtet sein. Er schließtaber die Abzweigungen zum Elbe-Lübeck- und zumElbeseitenkanal ein und besitzt daher für die Aufnahmevon Warenströmen aus dem Hamburger Hafen heraus-ragende Bedeutung.Diskussionsbedarf sehen wir auch hinsichtlich derkonkreten künftigen Ausgestaltung jener Schiffsver-kehre, die heute auf der Elbe bis nach Dresden und Ustinad Labem hinauf stattfinden. Hier ist Fantasie gefragt:Fantasie in grenzüberschreitender Zusammenarbeit,Fantasie der Anrainerkommunen, Fantasie der Schiff-fahrtsbetriebe. Die Elbe ohne Schiffsverkehr ist für michebenso unvorstellbar wie eine verbetonierte Elbe. DerAntrag bietet mit seiner Forderung nach Ermöglichungeiner an die natürlichen Wasserstände angepassten Bin-nenschifffahrt gute Ansätze für die diesbezügliche wei-tere Debatte, an der wir uns gern mit dem Ziel der Stär-kung des Anliegens des Antrages beteiligen wollen.Im Fazit gilt: Die Entscheidung darüber, wie mitFlüssen und Flusslandschaften umgegangen wird, wird
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10642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenRoland Claus
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immer ein Prozess der Abwägung zwischen verkehrs-und anderen wirtschaftlichen Interessen und Vorhabenauf der einen sowie ökologischen Interessen und Vorha-ben auf der anderen Seite sein. In diesem Abwägungs-prozess hat für uns der sozial-ökologische Umbauoberste Priorität.
Die Elbe ist der letzte große Fluss Europas, der aufcirca 600 Kilometern natürlich fließt. Hier gilt es, ver-stärkt Maßnahmen zu ergreifen, die die einzigartige Au-enlandschaft bewahren. Rückbau- und Renaturierungs-maßnahmen müssen stattfinden, um Lebensräume fürTiere und Pflanzen zu schaffen und zu bewahren. DieElbe stellt ein wunderschönes Naturerlebnis für denMenschen dar; darauf muss der Tourismus in der Re-gion aufbauen. Seit 20 Jahren laufen Bau- und Unter-haltungsmaßnahmen, die zu keiner wesentlichen Güter-verkehrssteigerung auf der Elbe geführt haben. Aber derökologische Zustand der Elbe würde sich bei einem wei-teren Ausbau zur Schiffbarmachung erheblich ver-schlechtern – und das, obwohl die Ober- und Mittelelbeein wahres Naturparadies ist.Der Ausbau der Elbe würde schützenswerte Elbauen,die wichtige Hotspots der Biodiversität darstellen, ge-fährden. Eine konstante Mindesttiefe der Elbe könntenur mit massiven Eingriffen in das Ökosystem Elbe er-möglicht werden. Die sich seit einigen Jahren ansie-delnde Fischerei würde wieder eingehen, weil die Fisch-bestände durch Betonierung und Begradigung ihreLaichplätze verlieren und durch Staustufen an der Wan-derung gehindert würden. Der Fischbestand, der seitder Wende von 12 Arten in der DDR auf 42 Arten heuteangewachsen ist, würde wieder verringert. Um die Bin-nenschifffahrt auf der Elbe zu gewährleisten, soll dieElbe eine Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter zwischenGeesthacht und Dresden und von 1,50 Meter oberhalbvon Dresden an mindestens 345 Tagen aufweisen. Diedazu seit 20 Jahren laufenden Bau- und Unterhaltungs-maßnahmen – 2010 allein 31 Millionen Euro – habendas Ziel, mehr Verkehr auf die Elbe zu verlagern, nichterreicht. Sie führten zur Sohleneintiefung und damit zurAbsenkung der Grundwasserstände.Wir fordern, durch die Förderung von Ufer- und Au-enrenaturierungen mehr Raum für die Elbe zu schaffenund Maßnahmen zur Deichrückverlegung mit den Län-dern zu ergreifen. Eine nationale Biodiversitätsstrategieentlang der Elbe muss endlich umgesetzt werden. An derElbe zeichnen sich gerade zwei gegensätzliche Entwick-lungen ab: Auf der tschechischen Seite soll mit EU-Mit-teln eine Staustufe bei Decin gebaut werden, auf deut-scher Seite hingegen sollen zukünftig keine Investitionenmehr in Ausbaumaßnahmen fließen.Die vom Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung angekündigte Strukturreform der Wasser- undSchifffahrtsverwaltung sieht vor, dass zukünftig die In-vestitionsmittel bei den Bundeswasserstraßen nur nochdort eingesetzt werden, wo auch ein hohes Güterver-kehrsaufkommen stattfindet. Die Elbe kann diese Vorga-ben glücklicherweise nicht erfüllen. Mit unter 1 MillionZu ProtokollTonnen Gütern, die hier jährlich transportiert werden,ist die Elbe in der Kategorie „Nebennetz“ eingestuft.Das ist auch gut, denn die Elbe ist nicht für die Güter-schifffahrt geeignet. Eine ganzjährige Schiffbarkeit istnicht sicherzustellen, denn nicht berechenbare Wasser-stände sind typisch für die Elbe. Die benötigten 1,60 Me-ter Tiefe für die Schifffahrt sind nicht auf der ganzenFlusslänge herzustellen. Der Bau der Staustufe bei De-cin wäre ökonomische Verschwendung und auf deut-scher Seite nur durch einen kanalartigen Ausbau mit ei-ner Kette von Staustufen sinnvoll.Die Stärke der Binnenschifffahrt liegt zweifelsohnebeim kostengünstigen Transport von Massengütern wieetwa Baustoffe, Erze, Kohle und Stahl; sie dominierenmit einem Anteil von rund 70 Prozent an der Gesamt-menge nach wie vor das Geschäft der Binnenschifffahrt.Genau diese Verkehre sind aber grundsätzlich auch ver-lagerungsfähig auf den Verkehrsträger Bahn. Unterneh-men der Grundstoff- und Montanindustrie besitzen auchGleisanschlüsse. Die Elbtalstrecke hat nach Angabender DB Netz AG eine Kapazität von 144 Zügen pro Tagund Richtung. An einem Werktag sind derzeit neun Fern-verkehrszüge, 36 Nahverkehrszüge und 37 Güterzügepro Tag und Richtung unterwegs. Es gibt also noch aus-reichend Kapazität für zusätzlichen Güterverkehr.Bei einem Verkehrsaufkommen von 900 000 Tonnen,2009, auf der Elbe würde bei unterstellter vollständigerVerkehrsverlagerung auf die Schiene eine zusätzlicheBelastung von rechnerischen 2,5 Güterzügen pro Tagauf die Elbtalstrecke zukommen; bei 1,5 Millionen Ton-nen wären es 4,1 Güterzüge bei einer angenommenenAuslastung von 1 000 Nettotonnen je Güterzug. Ange-sichts der derzeitigen Auslastung der Elbtalstrecke, dienoch erhebliche freie Kapazitäten aufweist, ist eine Ver-lagerung kapazitiv kein Problem. Einer derartigen Ver-kehrsverlagerung sind explizit auch keine Infrastruktur-investitionen zuzurechnen.Die hochsubventionierten Binnenhäfen sind auchohne Ausbau der Elbe gesichert. Häfen sind heute Lo-gistik- oder Güterverkehrszentren und Gewerbestand-orte, bei denen nur ein geringer Umschlag über Kai er-folgt.Der Güterverkehr auf der Mittel- und Oberelbe istangesichts der Transportmengen ökonomisch bedeu-tungslos. Hingegen würde der Tourismus durch den Aus-bau des Flusses erheblichen wirtschaftlichen Schadennehmen. Der Elberadweg ist seit Jahren Deutschlandsbeliebtester Fernradweg. Radtourismus ist eine Chancefür kleine Orte. Jeder Radler gibt im Schnitt 60 Euro proTag aus; 155 000 Fernradler pro Jahr, die im Schnittneun Tage auf dem Elberadweg unterwegs sind. DasDessau-Wörlitzer Gartenreich mit jährlich 1,1 Millio-nen Besuchern, 700 festen Arbeitsplätzen und bis zu900 Saisonkräften braucht Elbewasser. Nach Schätzun-gen einer Studie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Professor Dr. Hans-Ulrich Zabel, würdendurch einen kompletten Ausbau der Elbe 20 000 Arbeits-plätze verloren gehen, vor allem im Tourismus, aberauch in der Land- und Forstwirtschaft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10643
gegebene Reden
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10644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
Stephan Kühn
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Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mitden Landesregierungen und den Kommunen ein Konzeptzum Ausbau der wirtschaftlichen Potenziale der Elbe-region zu entwickeln. Die grenzüberschreitende Zusam-menarbeit mit der Tschechischen Republik ist notwen-dig, um die Elbe auf deutscher Seite nicht zu gefährden.Es ist notwendig, dass mit der Tschechischen Republikein gemeinsames Güterverkehrskonzept und auch eingemeinsames Tourismuskonzept entwickelt wird. Hiermüssen klare Abstimmungsverfahren geschaffen wer-den. Die Planungen für den Bau einer Elbestufe bei De-cin müssen dringend verhindert werden. Ich fordere dieBundesregierung ausdrücklich auf, hier tätig zu werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4554 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein wirksames Rückkehrrecht und eine
Stärkung der Rechte der Opfer von Zwangs-
verheiratungen
– Drucksache 17/4681 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Rückkehr-
recht für Opfer von Zwangsverheiratung ist ein neuerli-
cher Beleg für Ihre Absicht in der Ausländerpolitik, je-
den Hebel zu nutzen, um für eine völlig unkontrollierte
Zuwanderung in unser Land zu sorgen. Sie gefährden
damit die Integration der bei uns lebenden Ausländer
und öffnen im Übrigen auch jede Menge Missbrauchs-
möglichkeiten für Schleuser und Schlepper, die sich Ihre
überaus weitgehenden Gesetzesformulierungen zunutze
machen könnten. Die Bundesregierung und die Koaliti-
onsfraktionen haben mit dem hier bereits in erster Le-
sung debattierten Gesetzespaket zur Bekämpfung der
Zwangsheirat und zu anderen Änderungen des Aufent-
haltsrechts überzeugende Lösungen vorgelegt, wie
zwangsverheirateten und verschleppten Frauen wirk-
sam geholfen und wie gleichzeitig durch eine Verlänge-
rung der Mindestehebestandszeit Scheinehen wirksam
begegnet werden kann.
Eine Behauptung muss gleich zurückgewiesen wer-
den, die auch durch Wiederholung nicht richtiger wird.
Sie kritisieren, dass mit der Verlängerung der Mindest-
ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre sich die Opfer
von Zwangsheirat länger in ihrer Zwangslange befinden
müssten, um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu er-
halten. Woher wissen Sie überhaupt, dass es die Absicht
der Frauen ist, in Deutschland zu bleiben, dem Land, in
das sie in aller Regel gegen ihren Willen verbracht wor-
den sind? Es ist ja wohl lebensnäher, dass die Frauen
zunächst überhaupt erst einmal aus ihrer Zwangslage
befreit werden wollen. Dazu haben wir mit den ver-
pflichtenden Deutschkenntnissen vor dem Ehegatten-
nachzug eine Grundlage geschaffen, indem jetzt alle
Frauen zumindest sprachlich in der Lage sind, sich Hilfe
zu holen, und auch auf das Leben in Deutschland und
die Rechte, die Frauen in unserem Land haben, besser
vorbereitet sind. Es ist gerade Die Linke gewesen, die
gegen diese verpflichtenden Deutschkenntnisse Sturm
gelaufen ist. Insofern ist es die reine Heuchelei, wenn
Sie sich jetzt als Wahrer der Interessen der zwangsver-
heirateten Frauen profilieren wollen. Das Gegenteil ist
richtig: Sie verweigern den Frauen das menschenrecht-
liche Rüstzeug, um sich selbst gegen die Zwangslage
wehren zu können.
Außerdem erwähnen Sie selbst in Ihrem Antrag die
Härtefallregelung nach § 31 Abs. 2 des Aufenthaltsge-
setzes. Das ist der Widerspruch schlechthin. Auch bei ei-
ner dreijährigen Mindestehebestandszeit kann einer
Frau zur Vermeidung einer besonderen Härte schon weit
vor dem Ablauf von drei Jahren ein eigenständiges Auf-
enthaltsrecht gewährt werden. Der Schutz des Gesetzge-
bers verringert sich also in keiner Weise. Dies sei auch
den Wohlfahrtsverbänden ins Stammbuch geschrieben,
die sich mit Briefen in diesen Tagen an uns wenden und
die Frage der Härtefallregelung bei ihrer Kritik völlig
außen vor lassen. Ich will an dieser Stelle schon deutlich
machen, dass es mich wundert, wie falsch die beste-
hende und künftige Rechtslage von Verbandsvertretern
dargestellt wird, die schließlich auch in der Beratung
von Ausländern tätig sind.
Zu einer integrationspolitisch notwendigen Steue-
rung der Zuwanderung gehört auch, dass wir effektive
Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen ergreifen.
Wir haben das Thema schon bei der ersten Lesung des
Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsrechts eingehend
erörtert. Insofern sage ich es noch einmal: Gerade die
Fraktion Die Linke erwähnt in ihrem Antrag die Zahl
der festgestellten Scheinehen und verweist darauf, dass
die Zahl heute – bei einer zweijährigen Mindestehebe-
standszeit – niedriger ist als im Jahre 2000, als wir noch
eine vierjährige Mindestehebestandszeit hatten. Es ist
doch wohl einsichtig, dass die Ausländerbehörden mehr
Scheinehen nachweisen können, je länger Zeit sie haben,
entsprechenden Verdachtsmomenten nachzugehen. Inso-
weit sind die Hinweise der Linken eher ein Plädoyer, zur
alten Rechtslage zurückzukehren.
Richtig wäre Ihre Argumentation dann, wenn uns aus
den Visastellen unserer Auslandsvertretungen, in denen
hochprofessionelle Mitarbeiter tätig sind, die sich seit
Jahren mit dieser Problematik befassen, berichtet
würde, dass es heute signifikant weniger Anzeichen für
eine Scheinehe geben würde als im Jahre 2000. Das Ge-
genteil ist aber richtig. Mir haben erst im letzten Jahr
Mitarbeiterinnen des Generalkonsulats in Istanbul ge-
sagt, dass sie davon ausgehen, dass es sich bei rund
30 Prozent der Antragsteller um Fälle von Scheinehen
handelt. In Ankara und Izmir dürften wegen der beson-
Reinhard Grindel
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(B)
deren Gebiete, für die diese Visastellen zuständig sind,
die Zahlen nicht geringer sein, nur um einmal das Land
mit den meisten Fällen von Ehegattennachzug zu erwäh-
nen.
Aus den Visastellen ist gerade die Klage zu hören,
dass die Ausländerbehörden in Deutschland wegen an-
geblichen Personalmangels nur sehr zögerlich bereit
sind, parallele Anhörungen der Ehegatten vorzuneh-
men. Insofern bleibt nur die Möglichkeit, nach der Ein-
reise des jeweiligen Ehegatten dem Scheineheverdacht
nachzugehen. Dafür wollen wir eine längere Zeit ein-
räumen.
Außerdem können Sie nicht bestreiten, dass es natür-
lich die Fälle gibt, bei denen nach Deutschland gezo-
gene Ehegatten unmittelbar nach dem Ablauf von zwei
Jahren sich scheiden lassen und Partner heiraten, mit
denen sie in ihrem Heimatland bereits in erster Ehe ver-
heiratet waren. Natürlich erhoffen wir uns von der Ver-
längerung der Mindestehebestandszeit auch einen ge-
wissen Abschreckungseffekt, damit es gar nicht erst zu
einer Scheinehe kommt.
Integrationspolitisch abwegig sind auch Ihre Anträge
zum Thema Rückkehrrecht. Wir haben in dem Gesetzent-
wurf der Bundesregierung als Koalition dazu eine sehr
sachgerechte Lösung angeboten. Wir lösen vor allem
zwei große Probleme, die der tatsächlichen Inanspruch-
nahme des Rückkehrrechts bisher im Wege standen. Wir
verlängern die Frist, innerhalb derer zurückgekehrt
werden kann, von bisher sechs Monaten auf bis zu zehn
Jahre, und wir verzichten auf den Nachweis der Unter-
haltssicherung. Wie zum Beispiel der Anwaltsverein an-
gesichts dieser weitreichenden Regelung davon spre-
chen kann, dass das alles ohne praktische Bedeutung
bleibt, ist mir schleierhaft. Da soll starke Polemik die
Schwäche der Argumentation überdecken.
Tatsächlich geht es beim Rückkehrrecht doch darum,
dass unser Rechtsstaat seiner sozialen Verantwortung
einem ausländischen Mitbürger gegenüber gerecht wird,
dessen ursprünglicher Aufenthalt zu einer gewissen Ver-
wurzelung in unserem Land geführt hat, sodass es dem
Ausländer nicht zumutbar ist, in dem ihm fremd gewor-
denen ursprünglichen Heimatland zu verbleiben. Inso-
fern muss es doch aber einen Unterschied machen, ob
eine junge Frau in Deutschland aufgewachsen ist, hier
zur Schule ging und eine Ausbildung gemacht hat und
dann in den Ferien in der Türkei zwangsverheiratet
wurde oder ob sie sich nur wenige Monate bei uns auf-
gehalten hat und dann in ihr Heimatland verschleppt
wurde. Insofern ist es integrationspolitisch zwingend,
dass man die Frage, wie lange und unter welchen Bedin-
gungen ein Rückkehrrecht in Anspruch genommen wer-
den kann, von dem Tatbestand abhängig macht, wie
lange sich die betroffene Frau vorher in Deutschland
aufgehalten hat und ob sie in unserem Land verwurzelt
war oder nicht.
Nach dem Antrag der Linken wäre es denkbar, dass
eine Frau mit 18 in die Türkei verschleppt wurde und mit
65 ein Rückkehrrecht geltend macht. Das ist absurd, und
deshalb ist Ihr Antrag absurd. Es liegt auf der Hand,
dass damit dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet ist. Ich
Zu Protokoll
wiederhole es: Sie spielen damit Schleppern und Schleu-
sern in die Hände.
Ebenso absurd ist es, dass Sie auch geduldete Perso-
nen in den Schutzbereich des Rückkehrrechts einbezie-
hen wollen. Wer nie einen legalen Aufenthaltsstatus in
Deutschland gehabt hat, kann nicht in unserem Land
verwurzelt sein und kann deshalb nicht ein Rückkehr-
recht beanspruchen. Mit diesem Vorschlag verwirken
Sie den Anspruch, in der ausländerrechtlichen Debatte
noch ernst genommen zu werden.
Nur ein letztes Wort zur Frage des EUGH-Urteils, auf
das Sie in Ihrem Antrag eingehen. Wenn überhaupt,
kann dieses nur auf solche Ehegatten Anwendung fin-
den, die zum Zeitpunkt der Aufhebung der Ehe erwerbs-
tätig waren. Nur weil möglicherweise eine sehr kleine
Gruppe in den Wirkungsbereich der längeren Mindest-
ehebestandszeit nicht einbezogen werden kann, gibt es
keinen Grund, von dieser richtigen Regelung Abstand zu
nehmen.
Vor gut einem Monat haben wir an dieser Stelle an-lässlich des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zurBekämpfung von Zwangsverheiratungen schon einmalüber das Thema eines erweiterten Rückkehrrechtes fürOpfer von Zwangsehen gesprochen. Positiv ist sowohlbei diesem Antrag als auch bei dem vorliegenden Antragder Fraktion Die Linke auf jeden Fall das Grundanlie-gen, Menschen, die Opfer von Zwangsverheiratung ge-worden sind, die Möglichkeit zu geben, nach einer Be-freiung aus dieser Zwangssituation wieder nachDeutschland zurückzukehren.Wir als SPD-Fraktion haben schon unter der GroßenKoalition für ein erweitertes Rückkehrrecht gestritten,und schon damals wollte die Union einem solchenRecht, das allein die Opfer schützt und stärkt, nur unterder Bedingung zustimmen, dass wir im Gegenzug einerAnhebung der Mindestehebestandszeit von zwei auf vierJahre zustimmen. Das wollten und konnten wir nicht undhaben wir auch nicht getan. Heute sind sich im Grundealle im Parlament vertretenen Parteien einig: Wir brau-chen ein erweitertes Rückkehrrecht für die Opfer vonZwangsverheiratungen. Auch die Union hat erfreuli-cherweise eingesehen, dass sie nur so glaubwürdig er-scheint in ihrer Kampfansage zur Bekämpfung vonZwangsehen.Leider hält sie bislang allerdings an ihrer schon vorJahren praktizierten unsittlichen Verknüpfung der Ein-führung eines erweiterten Rückkehrrechts mit der Anhe-bung der Mindestehebestandszeit von bisher zwei aufzukünftig drei Jahre fest. In der Beschreibung der Pro-bleme und des Ziels, dem mit der Anhebung der Min-destehebestandszeit begegnet werden soll, heißt es imGesetzentwurf der Bundesregierung, dass durch die imJahre 2000 erfolgte Verkürzung der Ehebestandszeit aufzwei Jahre der Anreiz für ausschließlich zum Zwecke derErlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Ehe-schließungen erhöht worden sei. Einfach so. Ich kennekeine einzige Erhebung oder Untersuchung, die das be-legen könnte. Die Union sagt, sie verfolge mit der Anhe-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10645
gegebene RedenRüdiger Veit
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bung der Mindestehebestandszeit das Ziel, Scheinehenzu verhindern. Tatsächlich verdammt sie aber Frauen,die sich in einer schrecklichen Lage befinden und diesvielleicht nicht beweisen können, weil sie Beweise wieFotos, Zeugen und Ähnliches nicht beibringen können,dazu, noch ein weiteres Jahr in dieser unerträglichen Si-tuation zu verharren aus Angst, ansonsten auch nochdurch den Verlust des Aufenthaltsrechts gestraft zu wer-den.Wie wir lehnt auch die Fraktion Die Linke in ihremAntrag eine Anhebung der Mindestehebestandszeit ab.Das ist richtig! Ebenso wie wir in dem von uns vorgeleg-ten Gesetzentwurf für ein erweitertes Rückkehrrecht istauch die Fraktion Die Linke der Meinung, dass ein sol-ches Recht auch dann gewährleistet sein muss, wenn dasOpfer seinen Lebensunterhalt in Deutschland nicht al-leine sichern kann. Unter menschenrechtlichen Ge-sichtspunkten darf die Befreiung aus einer Zwangsehenicht an der Lebensunterhaltssicherungspflicht schei-tern.Sehr weitgehend ist allerdings der Vorschlag des vor-liegenden Antrags, ein erweitertes Rückkehrrecht auchfür Geduldete und Illegale zu fordern. Ich kann zwar dasAnliegen, ins Ausland verschleppten Geduldeten dieRückkehr zu ermöglichen, gut nachvollziehen, halte esaber kaum für systematisch durchsetzbar. Eine Duldungberuht ja in den meisten Fällen darauf, dass die Einreisein das Herkunftsland nicht möglich ist. Nach dem Ge-setzentwurf sollen Geduldete jedoch gerade vom Aus-land her, in das ihre Ausreise eigentlich ja nicht möglichwar/ist, einen Titel für die Wiedereinreise nach Deutsch-land erhalten.Und: Die Einführung eines Rückkehrrechts für Ille-gale würde einer Legalisierung gleichkommen. Auchdas kann ich vom Ansinnen her verstehen, geht es dochvor allem um den Schutz der Opfer, halte es aber den-noch für zu weitgehend. Zusammenfassend möchte ichnoch einmal betonen, wie gut es vor allem für die Betrof-fenen ist, dass es nun so aussieht, als würde es dem-nächst ein erweitertes Rückkehrrecht für Opfer vonZwangsehen geben. Sie gestatten mir, unseren eigenenGesetzentwurf diesbezüglich allerdings am besten zufinden!Hartfrid Wolff (FDP):Zu diesem Thema habe ich bereits im Januar ausge-führt, was ich, da sich die Sachlage und unsere Haltungzu ebendiesem Thema nicht geändert hat, gerne nocheinmal bekräftige: Zwangsheirat ist kein Kavaliersde-likt. Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen.Die Gleichberechtigung der Frau ist einer der wesentli-chen Bestandteile unserer Rechts- und Werteordnung,deren Vermittlung auch eine der entscheidenden Inte-grationsaufgaben ist. Integration funktioniert nur beiRespekt vor dieser Werteordnung. In großfamiliärenStrukturen mit altertümlichen Bräuchen bestehen zu-sätzliche Zwangslagen für junge Menschen. FalscheTraditionen oder intolerante kulturelle Konventionenverhindern eine unabhängige Lebensgestaltung – viel-fach lebenslänglich.Zu ProtokollZwangsheiraten sind dabei kein Einzelphänomen –auch nicht in Deutschland. Erfahrungen zum Beispielaus Berlin, aber auch aus Flächenländern wie Baden-Württemberg zeigen, dass es leider viel zu viele jungeFrauen gibt, die in einer Zwangsehe leben müssen. Derbesondere psychische Druck, der auf Mädchen und jun-gen Frauen in der Zwickmühle zwischen familiärer Soli-darität und eigener Selbstbestimmung lastet, ist hiersehr groß. Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt imRahmen der Nötigung strafbar ist, ist den betroffenenFamilien meist nicht bewusst, daß die elterliche oder ge-schwisterliche Vorschrift des Ehepartners in der deut-schen Rechtsordnung nicht toleriert wird. Den Elternund Familienangehörigen muss ausdrücklich die krimi-nelle Dimension solchen Tuns klar sein. Die selbstbe-stimmte Lebensgestaltung, die Freiheit, einen Ehepart-ner selbst aussuchen zu können, braucht den besonderenSchutz eines eigenen Straftatbestandes.Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdingsauch die Verbesserung des Opferschutzes besonderswichtig. Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen,sondern auch den Opfern wieder eine Perspektivchancegeben. Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw.Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsver-heiratungen geben. Gerade die Verschleppung in einfremdes Land verschärft diese Zwangslage noch.Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitelauch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monatenautomatisch erlischt, ermöglichte es, diese Zwangslagenoch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtper-spektive zu nehmen. Nachdem das Rückkehrrecht nunschon sehr lange diskutiert wird und es weder Rot-Grünnoch Rot-Schwarz gelungen ist, dieses Problem anzupa-cken, ist es der christlich-liberalen Koalition nun zu ver-danken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die Betrof-fenen geschaffen zu haben. Jetzt erhalten Opfer vonZwangsheirat und Verschleppung wieder eine Chance,sich zu befreien. Dem dient auch die Verlängerung derAntragsfrist für die Aufhebung der Ehe.Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr vonideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheu-klappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitikan, um die Chancen der Zuwanderung für unser Landbesser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte un-serer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Her-kunftsländern durchzusetzen, die mit deutschem Rechtnicht vereinbar sind.Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlän-gerung der Mindestehebestandszeit auf drei Jahre zurErlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zuge-stimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchenund Nichtregierungsorganisationen gestoßen. Wir neh-men diese Besorgnis sehr ernst und werden auch in Zu-kunft auf die Wirkung dieser Regelung genau achten.Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchge-setzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vierauf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert.Dem will die Koalition entgegensteuern.
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10646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenHartfrid Wolff
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Opfern von Gewalt, insbesondere auch häuslicherGewalt, die es leider in viel zu großer Anzahl gibt unddie als Argument gegen die Anhebung der Ehemindest-bestandszeit angeführt werden, kann durch die Härte-fallregelung geholfen werden. Dies wird auch nochmalsklargestellt. Wir mahnen die Ausländerbehörden zu ei-ner großzügigen Handhabung im Sinne der Opfer.Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete undAsylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäfti-gung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbe-such zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen vonjungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassenund sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.Die Koalition wird durch Fördern und Fordern dieChancen der Zuwanderung für unser Land besser er-schließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durchZuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken. Die-ses Ziel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen.Wir lehnen ihn daher ab.
In der ersten Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfungder Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfervon Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufent-halts- und asylrechtlicher Vorschriften gerierte sich dieRegierungskoalition als Vertreter der Frauenrechte. Sowürden sie Zwangsverheiratungen, Scheinehen und ge-nerell Gewalt gegen Frauen – seien sie nun physischeroder psychischer Natur – energisch bekämpfen. Dochwie Frauen aus leidvoller Erfahrung aus den letztenJahrzehnten wissen, stehen CDU/CSU und FDP nichtals frauenpolitische Avantgarde für die Rechte derFrauen ein, schon gar nicht, wenn es um Migrantinnengeht. Deshalb überrascht es auch nicht, dass geradeFrauenorganisationen und Beratungsstellen kein gutesHaar am Gesetzentwurf der Bundesregierung hinsicht-lich der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen lassen.Denn es ist unglaubwürdig, wenn die Bundesregierungvorgibt, vor allem im Interesse der Opfer von Zwangs-verheiratungen zu handeln. Ginge es der Bundesregie-rung tatsächlich um die Opfer von Zwangsverheiratun-gen, hätte sie bereits vor Jahren Verbesserungen für diebetroffenen Frauen und im geringeren Umfang auch fürbetroffene Männer geschaffen. Zur Stärkung der Opfervon Zwangsheiraten hätte man in Bezug auf flächende-ckende, niedrigschwellige Beratungsangebote und Not-fallunterbringungen oder in Bezug auf verfahrensrecht-liche Änderungen zur Gewährleistung der Sicherheitund Anonymität der Opfer im Gerichtsverfahren aktivwerden können und müssen. Die umfassenden Forderun-gen der Fraktion Die Linke lassen sich in unserem da-maligen Antrag mit der Bundestagsdrucksachennummer16/1564 nachlesen. Entsprechende Vorschläge derFraktion Die Linke aus dem Jahr 2006 wurden in der16. Wahlperiode des Bundestages jedoch von der Gro-ßen Koalition abgelehnt. Genauso wurde die Forderung,ein effektives Rückkehrrecht im Aufenthaltsgesetz zuschaffen, abgelehnt; abgelehnt, obwohl sich im Rahmeneiner Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend alle Sachverständigen mit einerZu ProtokollAusnahme hierfür ausgesprochen hatten. Auch dies lässtsich nachlesen. Und zwar im Ausschussprotokoll 16/13und in der Ausschussdrucksache 16(13)91g.Die Linke stand damals an der Seite der Frauen-rechtsorganisationen und tut dies auch heute.Im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung willsie nun die Mindestehebestandszeit von zwei auf dreiJahre unter dem Vorwand verlängern, Scheinehen zu be-kämpfen. Diese Behauptung ist abwegig, und dieser Be-hauptung widersprechen eklatant die vorliegenden Datenzur Zahl polizeilich erfasster Scheinehe-Verdachtsfälle,die im Jahr 2009 mit 1 698 nicht einmal ein Drittel desWerts aus dem Jahr 2000 erreichte, und 2000 gab esnoch eine Mindestehebestandszeit von vier Jahren.Die Erhöhung der Ehebestandszeit ist ein Skandal,und das weiß auch die Bundesregierung. Sie ist nicht zu-letzt deshalb ein Skandal, weil sie auch gegen Europa-recht verstößt. Wie die Bundesregierung einräumenmusste, ist die geplante Verlängerung der Mindestbe-standszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenstän-digen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegattenbei türkischen Staatsangehörigen aus europarechtlichenGründen nur bedingt anwendbar. So hat der EuropäischeGerichtshof mit dem „Toprak“-Urteil vom 9. Dezember2010 entschieden, dass die geplante Verlängerung derMindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre auf diegrößte Gruppe der Migrantinnen und Migranten aus eu-roparechtlichen Gründen nur sehr bedingt anwendbarist. Denn das Assoziationsrecht sieht ein Verschlechte-rungsverbot für türkische Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer und ihrer Familienangehörigen vor: Einmalgewährte Erleichterungen im Aufenthalts- und Arbeits-recht dürfen nicht wieder zurückgenommen werden.Wider besseres Wissen versucht die Bundesregierungdie Verschlechterungen beim Schutz der Opfer vonZwangsverheiratungen dadurch zu verschleiern, dassein eigenständiger Straftatbestand geschaffen und dasRückkehrrecht erweitert wird. Ersteres ist lediglich Sym-bolpolitik und hat mit einer realen Verbesserung nichtszu tun. Diejenigen, die sich bisher nicht mit dem Strafge-setzbuch beschäftigt bzw. es ignoriert haben, werden esauch weiterhin tun. Da spielt es keine Rolle, ob Zwangs-verheiratung nun in § 240 des Strafgesetzbuches als be-sonders schwerer Fall der Nötigung oder in einem eige-nen § 237 Abs. 4 des Strafgesetzbuches geregelt wird.Und die einzige wirkliche Verbesserung – nämlich dieEinführung eines Rückkehrrechts – ist entsprechend nurhalbherzig angegangen worden.Das vorgeschlagene Wiederkehrrecht für Opfer vonZwangsverheiratungen, die von einer Rückkehr nachDeutschland abgehalten werden, ist unzureichend. § 37Abs. 2 a des Aufenthaltsgesetzes ist im Entwurf zunächstnur als eine bloße Ermessensregelung ausgestaltet. Er-schwerend kommt hinzu, dass dieses Ermessen eine mitdem Gedanken eines effektiven Opferschutzes unverein-bare Nützlichkeitsprüfung enthält. So ist Bedingung füreine Rückkehr, dass sich die Betroffenen aufgrund „derbisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in dieLebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschlandeinfügen“ können. Ein Regelanspruch auf Rückkehr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10647
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim Dağdelenohne eine solche Prüfung der „Integrationsfähigkeit“ist nur nach achtjährigem rechtmäßigem Aufenthalt undsechsjährigem Schulbesuch in Deutschland vorgesehen.Die geplante Regelung wird wegen dieser Restriktionennach Einschätzung des Deutschen Anwaltvereins nur„ein plakatives Signal gegen Zwangsehe“ setzen undwegen seiner unzureichenden Ausgestaltung „wenigPraxisrelevanz haben“, wie ihrer Stellungnahme zu ent-nehmen ist. Auch die nur dreimonatige Bedenkzeit„nach Wegfall der Zwangslage“ zur Stellung einesRückkehrantrags wird sich sicher angesichts der beson-deren Ausnahmesituation und Belastungen der Betroffe-nen als viel zu kurz erweisen. Regelungen für ver-schleppte Personen ohne gefestigten Aufenthaltsstatusin Deutschland wie zum Beispiel Geduldete fehlen indem Gesetzentwurf völlig.Die Linke fordert deshalb ein wirksames Rückkehr-recht für zwangsverheiratete und verschleppte Perso-nen. Zwangsverheirateten oder von Zwangsverheiratun-gen bedrohten oder gegen ihren Willen ins Auslandverschleppte Personen, die rechtmäßig ihren gewöhnli-chen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten und an einerRückkehr nach Deutschland gehindert werden, muss einunbeschränktes Recht auf Wiederkehr eingeräumt wer-den. Grundsätzlich darf der Aufenthaltstitel nicht durcheinen längeren Auslandsaufenthalt erlöschen. Die Fristdes Erlöschens muss vorsorglich auf drei Jahre verlän-gert werden. Und Die Linke fordert auch, dass fürzwangsverheiratete und ins Ausland verschleppte Perso-nen mit gewöhnlichem Aufenthalt, aber ohne rechtmäßi-gen Aufenthaltstitel in Deutschland ein Rückkehrrechtund Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnisaus humanitären Gründen geschaffen wird.Eine weitere zentrale Forderung der Linken bleibt,dass auf die geplante Verlängerung der Mindestehebe-standszeit verzichtet wird. Wir brauchen vielmehr eineHärtefallregelung für ein eigenständiges Aufenthalts-recht von Ehegatten. Das muss durch entsprechendeKlarstellungen so ausgestaltet werden, dass sie insbe-sondere von Opfern von Gewalt und Zwangsheirat ohneAngst vor einer Abschiebung jederzeit effektiv in An-spruch genommen werden kann. Das wäre dann auchfrauenfreundlich.
Bündnis 90/Die Grünen haben mit ihrer Anhörung„Zwangsverheiratung ist keine Ehrensache“ im Juli2003 als erste Fraktion im Deutschen Bundestag aufdiese Menschenrechtsverletzung hingewiesen. Im Jahr2005 hat die rot-grüne Koalition Zwangsverheiratungenals einen Fall „besonders schwerer Nötigung“ im Straf-gesetzbuch ausdrücklich verankert. Seit dem Ende derrot-grünen Koalition hat die Bundesregierung keine ad-äquaten Versuche unternommen, um Migrantinnen, dievon Zwangsverheiratungen bedroht oder betroffen sind,zu helfen.Was die Bundesregierung nun in ihrem Gesetzentwurfzur Bekämpfung von Zwangsheirat und zum besserenSchutz der Opfer von Zwangsheirat vorlegt, ist schäbig.Zu ProtokollSie ist offenbar nicht gewillt, für adäquaten Schutz derBetroffenen zu sorgen.Wir haben daher als Alternative einen eigenen Antrag„Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützendurch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Län-der-Initiative“ in den Bundestag eingebracht. Unser An-trag sieht einen umfassenden Aktionsplan vor, der vonden Betroffenenverbänden ausdrücklich unterstütztwird. Kernforderungen unseres Antrags sind die Gewäh-rung eigenständiger Aufenthaltsrechte und wirksamerRückkehrrechte für Migrantinnen und Migranten, dievon Zwangsverheiratungen betroffen sind. So soll jun-gen Ausländerinnen und Ausländern, die seit fünf Jah-ren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind, von Amtswegen und unabhängig von der Sicherung des Lebens-unterhalts eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden.Die Niederlassungserlaubnis erlischt auch dann nicht,wenn sich die betreffende Person – zum Beispiel auf-grund einer Zwangsverheiratung – länger als sechs Mo-nate im Ausland aufhält. Des Weiteren wollen wir insAusland verschleppten Opfern von Zwangsverheiratun-gen ein umfassendes Rückkehrrecht gewähren, und zwarunabhängig von einer bestimmten Voraufenthaltsdaueroder der Sicherung des Lebensunterhalts.Daneben schlagen wir die Gründung einer dauerhaf-ten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zwangsverheiratun-gen“ vor, um mit den Ländern verbindliche Regelungenfür das regelmäßig notwendige länderübergreifendeHandeln zu vereinbaren, damit den Opfern von Zwangs-verheiratungen schnell, unbürokratisch und langfristiggeholfen werden kann. Frauen, die vor einer Zwangs-verheiratung flüchten, befinden sich in einer physischenund psychischen Extremlage. Für langwierige, bürokra-tische Zuständigkeitsstreitigkeiten, insbesondere beijungen Volljährigen, haben sie keine Zeit.Die Bund-Länder-AG soll im Rahmen einer Koopera-tionsvereinbarung für einen flächendeckenden Ausbauvon niedrigschwelligen Schutzeinrichtungen und Bera-tungsstellen sorgen. Daneben soll sie Aufklärungskam-pagnen entwickeln und finanzieren und hierbei insbe-sondere darauf hinwirken, dass an Schulen die ThemenZwangsverheiratung und häusliche Gewalt in die Lehr-pläne aufgenommen werden, dass Lehrerinnen und Leh-rer entsprechend fortgebildet und sensibilisiert werdenund dass Anlaufstellen geschaffen werden, an die sichSchülerinnen und Schüler wenden können, wenn sie di-rekt oder indirekt von Zwangsverheiratungen betroffensind.Schließlich fordern wir Änderungen im Ehe-, Unter-halts- und Erbrecht, um die Aufhebung der Ehe zu er-leichtern und die betroffenen Frauen finanziell abzusi-chern.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skanda-lös und ein falsches Signal. Hier möchte ich nur zwei Re-gelungen hervorheben, die dringend einer Änderung be-dürfen, um die Situation der Opfer von Zwangsehen zuverbessern.Es ist zwar positiv, dass die Bundesregierung endlicherkannt hat, dass den betroffenen Frauen ein Rückkehr-
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10648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10649
Memet Kilic
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recht gewährt werden muss. Diese Rückkehrmöglichkeitmacht die Bundesregierung allerdings von einer positi-ven Integrationsprognose abhängig. Sie lässt alsoFrauen mit einem niedrigen Bildungsgrad oder solcheohne finanzielle Absicherung in ihrer prekären Lage imStich. Ein unterschiedliches Schutzniveau lässt sichnicht begründen, insbesondere wenn man immer wieder,wie die Bundesregierung, zu Recht betont, welchschwerwiegende Straftat die Zwangsheirat ist. Wir sinddafür, allen Opfern von Zwangsheirat ein umfassendesRückkehrrecht einzuräumen ohne Prüfung der Vorauf-enthaltsdauer, der Sicherung des Lebensunterhalts oderanderweitiger Integrationsprognosen.Die zweite Regelung, von der die BundesregierungAbstand nehmen sollte, ist die Verlängerung der Min-destehebestandszeit von zwei auf drei Jahre für eineigenständiges Aufenthaltsrecht. Anstatt wie vom Ge-setzentwurf angeblich vorgesehen, die Opfer vonZwangsehen besser zu schützen, führt die Verlängerungder Mindestehebestandszeit zu einer gravierenden Ver-schlechterung der Situation der Opfer. Schon heute blei-ben viele misshandelte Migrantinnen aus Angst vor ei-ner Abschiebung in einer ungewollten und gewalttätigenEhe. In Zukunft sollen sie noch ein Jahr länger in dieserLebenssituation ausharren. Auch die Härtefallregelungkann hier nicht ausreichend weiterhelfen, sie entfaltetaus verschiedenen Gründen in der Praxis leider nichtdie erhoffte Wirkung. Um Mädchen und junge Frauenstark genug zu machen, um sich aus ihrer Zwangslagebefreien zu können und ihnen die notwendige Unterstüt-zung und den notwendigen Schutz zu bieten, bitte ich umZustimmung zu unserem Antrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4681 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Tarifverhandlungen für Beschäftigte im öf-
fentlichen Dienst der Länder – Höhere Löhne
absichern
– Drucksache 17/4841 –
Dies ist eine merkwürdige und in jedem Fall überflüs-
sige Debatte. Ich möchte kurz etwas zur Art und Weise
sagen, wie dieser Antrag eingebracht wurde. Wir kennen
den Tagesordnungspunkt schon seit etwa einer Woche,
allerdings nur seine Überschrift. Den Antragstext selbst
haben wir erst vor zwei Tagen erhalten. Leider stimmen
Überschrift und Inhalt nicht im Mindesten überein. Es
gehört wohl zu den parlamentarischen Gepflogenheiten
der Linken, Texte von Anträgen erst sehr kurzfristig be-
kannt zu geben, sodass man die innere Widersprüchlich-
keit des Antrags erst im letzten Moment erfährt. Gemäß
der Überschrift geht es der Fraktion der Linken um hö-
here Löhne für die Beschäftigten des öffentlichen Diens-
tes der Länder. Der Hintergrund ist klar: Es gibt dort
derzeit wieder Tarifverhandlungen, in denen wie immer
hart gerungen wird. Erst im Antragstext offenbart sich
dann das eigentliche Thema: nämlich die Finanzsitua-
tion der Länder.
Ich zitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die
Bundesregierung auf: gesetzliche Vorschläge für die
dauerhafte Verbesserung der finanziellen Ausstattung
der Länder vorzulegen, zum Beispiel durch Veränderung
der Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Die Länder
müssen so in die Lage versetzt werden, einen erfolgrei-
chen Tarifabschluss für die Angestellten im öffentlichen
Dienst der Länder zu gewährleisten.“
Ja, die Finanzsituation der Länder ist angespannt.
Allerdings war sie dies auch schon in früheren Tarifrun-
den. Und es geht auch nicht nur den Ländern so: Der
Bund und die Kommunen müssen ebenso seit Jahren mit
einer angespannten Kassenlage leben, müssen sich der
Aufgabe der Haushaltskonsolidierung stellen. Tatsäch-
lich sind wir mit einer Rekordverschuldung der Länder
konfrontiert, aber auch hier muss man die Lage differen-
ziert betrachten:
Erstens. Es gibt Länder, die durchaus sparsam haus-
halten und sich mit einer ernsthaften Haushaltskonsoli-
dierung finanzielle Spielräume erarbeiten. Und es gibt
eben Länder, die dies nicht tun, und für die schreien Sie
hier um Hilfe.
Zweitens. Die aktuell angespannte Finanzlage ergibt
sich bekannterweise größtenteils aus der zurückliegen-
den Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch diese wird von
den Ländern unterschiedlich gut und kompetent bewäl-
tigt.
Drittens. Der erkennbare Wirtschaftsaufschwung
wird allen öffentlichen Kassen nutzen: den kommunalen
genauso wie denen in Bund und Ländern. Deutschland
kommt gut aus der Krise, viel besser übrigens als die
meisten anderen EU-Staaten. Aber auch hier gilt: Die
Länder sind ihres eigenen Glückes Schmied. Die einen
nutzen den Aufwind zur strikten Konsolidierung, andere
Länder wie NRW haben nicht nur nicht verstanden, was
jetzt beim Thema Schuldenabbau zu tun ist. Nein, dort
wird noch kräftig draufgepackt. Diese Suppe muss die
Regierung NRW schon alleine auslöffeln. Es kann doch
niemand von uns verlangen, dass wir groben haushalte-
rischen Unfug von hier aus noch unterstützen.
Viertens. Das zurückliegende Finanz- und Wirt-
schaftskrisenmanagement des Bundes, zum Beispiel in
Form der Kurzarbeiterregelungen und der Qualifizie-
rungsprogramme, war eine Milliardeninvestition und
somit die größte Unterstützungsleistung, die wir den
Kommunen und Ländern angedeihen lassen konnten.
Wir haben Massenarbeitslosigkeit verhindert, wir haben
Jugendarbeitslosigkeit in der Krise reduziert, wir haben
Firmenpleiten abgewendet. Aber auch diese Startvo-
Armin Schuster
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raussetzungen wurden in den Ländern leider sehr unter-
schiedlich genutzt.
Nehmen wir zu dieser Krisenbewältigungsleistung
jetzt auch noch die Segnungen des Länderfinanzaus-
gleichs für die Nehmerländer, dann ist Ihre Forderung,
meine sehr verehrten Damen und Herren von den Lin-
ken, grotesk. Selbst beim Verhandlungsergebnis um
Hartz IV haben wir auf die finanziellen Belange von
Ländern und Kommunen in besonderem Maße geachtet.
Gerne führe ich mit Ihnen als baden-württembergi-
scher Abgeordneter auch eine Debatte über Haushalts-
disziplin und den Willen einzelner Landesregierungen zu
großen Sparanstrengungen. Vielleicht können Sie dabei
etwas lernen. Wenn die Linke sich ernsthaft für die Be-
schäftigten der Länder einsetzen will, dann kann sie es
in den Ländern tun, wo sie politische Verantwortung
trägt. Wie alle im Bundestag vertretenen Parteien ist
auch die Linke zumindest in einigen Landesparlamenten
vertreten und in mehreren Ländern Teil einer Landesre-
gierung. Das wären die richtigen Orte, um die hier for-
mulierten politischen Ziele umzusetzen. So stellt die
Linke beispielsweise in Brandenburg den Finanzminis-
ter. Über diesen Weg könnten Sie Einfluss nehmen und
gleichzeitig den Landesparlamenten und der Öffentlich-
keit erklären, wie Sie Ihr Ansinnen – oder soll ich sagen:
Ihre sozialen Wunschkonzerte – zu finanzieren geden-
ken. Auch ich wünsche mir ausreichend Geld für drin-
gende Investitionen, für die finanzielle Anerkennung an
die Beschäftigten, für Bildung und Forschung. Dies
funktioniert aber nur, wenn alle Beteiligten ernsthafte
Anstrengungen unternehmen, um Einnahmen und Aus-
gaben ins Gleichgewicht zu bringen. Ansonsten gilt: Die
Tarifpartner werden angemessene Ergebnisse herbei-
führen. So haben sie es auch in der Vergangenheit gehal-
ten. Und so wie wir es in der Vergangenheit gehalten ha-
ben, so wird sich der Bundestag nicht in die
Verhandlungen einmischen. Wir halten an der Tarifauto-
nomie fest.
Dieser Antrag ist also juristisch wie politisch verfehlt
und indiskutabel. Man fragt sich abschließend, ob es ein
eklatanter Mangel an Kenntnissen in Haushalts-, Fi-
nanzpolitik und Tarifrecht ist oder lediglich politische
Schaustellerei. Der Antrag ist natürlich abzulehnen.
Der vorliegende reichlich dürre, unvollständige und
dem Problem wirklich nicht angemessene Antrag der
Fraktion Die Linke führt uns wieder einmal eindrucks-
voll vor Augen, was der Unterschied zwischen „gut“
und „gut gemeint“ ist: Denn der Bund und damit auch
der Deutsche Bundestag sind weder für die Tarifver-
handlungen der Länder noch für die knapp 600 000 ta-
rifbeschäftigten Landesbeschäftigten zuständig. Die
finanzielle Lage vieler Länder erfordert mehr, als nur
mit den Personalkosten zu argumentieren.
Im Übrigen ist es schon mehr als enttäuschend, dass
der Antrag die Kommunen mit keinem Wort erwähnt.
Die Gemeinden und Kreise sind aber von der schädli-
chen Politik von Schwarz-Gelb genauso betroffen. Ne-
ben dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat allein
Zu Protokoll
die Absenkung der Unternehmensbesteuerung bei Funk-
tionsverlagerungen und Finanzierungsdienstleistungen
zu Mindereinnahmen von mindestens 650 Millionen
Euro geführt. Das kann man in diesem Zusammenhang
nicht oft genug erwähnen. Gemeindefinanzreformkom-
mission, Finanzkrise und Staatsverschuldung, Schulden-
bremse und Länderfinanzausgleich – nur diese wenigen
Stichwörter genügen, damit klar wird: Das Thema
Finanzverfassung ist und bleibt ein echtes Bohren dicker
Bretter. Der Antrag aber schafft nicht mehr, als auf die-
sem Brett oberflächtlich herumzukratzen.
Die Fraktion Die Linke hat dem Bundestag einen An-trag vorgelegt, der den Bund auffordert, sich über eineVerbesserung der finanziellen Ausstattung der Länder indie Tarifverhandlungen einzumischen. Mit der Födera-lismusreform wurde das öffentliche Dienstrecht in denKompetenzbereich der Bundesländer verlagert. Auchfür die Angestellten des öffentlichen Dienstes kam es zueiner Trennung der Tarifverhandlungen zwischen Bundund Kommunen auf der einen und den Bundesländernauf der anderen Seite. Der Vorschlag der Fraktion DieLinke ist daher aus meiner Sicht ein systemwidriger Ein-griff.Der Bund hat Anfang letzten Jahres die Tarifverhand-lungen für die Angestellten des Bundes und der Kommu-nen geführt. Der Weg zu einer Einigung zwischen Ar-beitgebern und Arbeitnehmern war steinig und konnteletztendlich nur über die Einschaltung von Schlichternerreicht werden. Am 4. Februar 2011 hat nun die Ein-kommensrunde für die Bundesländer begonnen. Auchhier zeichnet sich kein schnelles Übereinkommen ab. Zuweit liegen die Forderungen der Gewerkschaften undder Vertreter der Länder auseinander. Verdi oder derDeutsche Beamtenbund dbb fordern insgesamt rund5 Prozent mehr Lohn, aufgeteilt auf 50 Euro Sockelbe-trag plus 3 Prozent lineare Erhöhung. Die Forderungnach einer Beteiligung der Arbeitnehmer am Auf-schwung ist verständlich. Die angespannte finanzielleSituation der Länder muss jedoch in den Tarifverhand-lungen ebenfalls berücksichtigt werden.An dieser Stelle sei jedoch auf das Prinzip der Tarif-autonomie verwiesen. In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzesist das Recht vereinbart, Tarifverträge frei von staatli-chen Eingriffen zu schließen. Der Bund hat nicht dasRecht, sich in irgendeiner Form in die laufenden Ver-handlungen zwischen den Ländern und den Arbeitneh-merorganisationen einzuschalten. Beide Parteien müs-sen über den Weg der Verhandlungen miteinander zueinem fairen Tarifabschluss kommen.Die Fraktion Die Linke erkennt die Unmöglichkeitder Lohnforderungen aufgrund der finanziellen Situa-tion der Länder an. Sie fordert daher ihre finanzielleUnterstützung durch den Bund. Ein Blick auf die Situa-tion des Bundes jedoch zeigt, dass auch dieser nicht diefinanziellen Kapazitäten hat. Die Neuverschuldungkonnte dank der günstigen Konjunkturlage Anfang die-ses Jahres weiter reduziert werden. Der Bundesfinanz-minister Dr. Wolfgang Schäuble strebt eine Aufnahme
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10650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
gegebene RedenDr. Stefan Ruppert
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von Neuschulden in Höhe von rund 40 Milliarden Euroan. So positiv diese Entwicklung ist, so wichtig ist es je-doch, weiterhin am Abbau von Schulden festzuhalten.Die im Grundgesetz vorgeschriebene Schuldenbremse,die eine Begrenzung der Nettokreditaufnahme auf maxi-mal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab 2016vorsieht, kann nur durch intensive Sparbemühungen ein-gehalten werden. Eine konjunkturelle Komponente istübrigens bei der Schuldenbremse bereits integriert. Inkonjunkturell schlechteren Zeiten ist zwar eine höhereNeuverschuldung erlaubt, in konjunkturell besseren undguten Zeiten wird aber eine stärkere Rückführung derNeuverschuldung durch verschärfte Sparanstrengungenoder Mehreinnahmen verlangt.Als möglichen Weg zu einer finanziellen Besserstel-lung der Länder fordern die Antragsteller eine verän-derte Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Lassen Siemich zunächst unterstreichen, dass der Bund mit derHartz-IV-Regelung die Kommunen deutlich entlastethat. Der Bund nimmt ihnen ab 2012 in drei Schritten dieKosten für die Grundsicherung im Alter ab, bis sie ab2014 vollständig beim Bund liegen soll. Damit hat dieschwarz-gelbe Bundesregierung bereits ein deutlichesZeichen zur finanziellen Entlastung der Kommunen ge-setzt.Eine veränderte Verteilung der Gemeinschaftssteuernhingegen ist nur möglich, wenn eine strukturelle Verän-derung des Verhältnisses zwischen Ein- und Ausgabenvon Bund und Ländern stattfindet. Eine regelmäßig so-wohl auf Länder- als auch auf Bundesebene stattfin-dende Tarifrunde im öffentlichen Dienst erfüllt diesesKriterium nicht. Die Tarifverhandlungen sind nicht aufdie Beseitigung struktureller Lohndefizite, sondern imWesentlichen auf die Teilhabe am konjunkturellen Auf-schwung gerichtet. Außerdem würde eine Veränderungdes Anteils an den Gemeinschaftssteuern das Ergebnisder Verhandlungsrunde gewissermaßen vorwegnehmen:Würden aufgrund der zu erwartenden Personalmehr-ausgaben Veränderungen im Verteilungsschlüssel be-schlossen, so entstünde daraus der politische Druck, die„bereits finanzierten“ Forderungen der Gewerkschaftentsprechend zu erfüllen. Dies widerspräche aber so-wohl der Unabhängigkeit der Tarifpartner in den Ver-handlungen als auch der Finanzhoheit der Länder undihrer föderalen Unabhängigkeit vom Bund. Den vorlie-genden Antrag lehnen wir aus den genannten Gründenab.
Der zarte Aufschwung nach der schwersten Wirt-schaftskrise seit 80 Jahren kommt bei der Mehrheit derMenschen nicht an. Die Bevölkerungsmehrheit hat fürdie Krise gezahlt, aber die Beschäftigten haben nichtsvom Aufschwung. Auch die Bundesregierung weiß, dassdies nicht lange gut gehen kann. Der Export wird diedeutsche Wirtschaft nicht auf Dauer tragen, weil in ganzEuropa Kürzungspakte gegen die Bevölkerungsmehrheitanstehen. Wenn unsere Handelspartner aber sparen,werden unsere Unternehmen nicht dauerhaft vom Aus-landsgeschäft leben können. Selbst die Bundesregierungstreitet dies nicht länger ab. Der Wirtschaftsminister hatZu Protokolldaher für deutliche Lohnerhöhungen plädiert. Zugleichbetonte er, Lohnerhöhungen lägen in der Verantwortungder Tarifpartner. Die Bundesregierung weiß natürlich,dass dies angesichts der Agenda 2010 und der Hartz-IV-Gesetzgebung ein schlechter Witz ist. Denn diese Ge-setze wurden ja zu dem Zweck gemacht, die Löhne zudrücken. Denn wer Angst vor dem sozialen Abstieg hat,der streikt nicht. Aber nehmen wir den Wirtschaftsminis-ter dennoch beim Wort: Wenn höhere Löhne in der Ver-antwortung der Tarifparteien liegen, dann ist bei der Ta-rifrunde für den öffentlichen Dienst der Länder diePolitik gefragt. Denn die Politik sitzt nun am Verhand-lungstisch als Arbeitgeber.Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst derLänder sind ein wichtiges Signal für die Lohnforderun-gen der Beschäftigten in der privaten Wirtschaft. DieDienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert für die Tarif-beschäftigten der Länder 50 Euro Sockelbetrag plus3 Prozent lineare Erhöhung. Die Laufzeit des neuen Ta-rifvertrages soll 14 Monate betragen, und das entsprichteiner Anhebung der Bezüge um 5 Prozent. Dies ent-spricht laut Niedersachsens Finanzminister HartmutMöllring, CDU, einem Mehrbedarf der Bundesländervon 4,5 Milliarden Euro jährlich. Die Bundesregierungist daher gefordert, gesetzliche Vorschläge für die dau-erhafte Verbesserung der finanziellen Ausstattung derLänder vorzulegen, zum Beispiel durch Veränderung derAufteilung der Gemeinschaftssteuern.Die Länder müssen so in die Lage versetzt werden, ei-nen erfolgreichen Tarifabschluss für die Angestellten imöffentlichen Dienst der Länder zu gewährleisten. Das istgerecht: Feuerwehrleute, Polizisten, Lehrer und Richterleisten unverzichtbare und harte Arbeit für unsere Ge-sellschaft. Sie arbeiten am Anschlag und pfeifen auf demletzten Loch. Und es ist finanzierbar: Höhere Löhne sindmachbar, wenn die Bundesregierung ihre unsinnigeSteuerpolitik korrigiert. Durch die Änderungen der Steu-ergesetze seit 1998 sind für die Länder jährlich Steuer-einnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe weggebro-chen. Für das letzte Jahr beziffern Steuer- und Finanz-experten die so entstandenen Mindereinnahmen auf25 Milliarden Euro. Durch die Auswirkungen des soge-nannten Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vom De-zember 2009 sind die Haushalte der Länder mit weiteren2 Milliarden Euro belastet worden. Deutschland ist inEuropa Schlusslicht beim Anteil der Beschäftigten im öf-fentlichen Dienst. Selbst in den USA liegt er höher. Nurim kleinen Luxemburg sind es noch weniger öffentlicheBeschäftigte im Vergleich zu allen Beschäftigten. Aber:In Luxemburg ist die Entlohnung besser.Diese Entwicklung muss umgekehrt werden, und hierliegt die Verantwortung der Bundesregierung. Wer denAufschwung durch höhere Löhne sichern und gute öf-fentliche Dienste für die Bevölkerung will, muss dieLohnforderungen von Verdi unterstützen. Dazu müssenden Ländern die erforderlichen finanziellen Mittel be-reitgestellt werden. Wer es ernst meint mit der Forde-rung von Herrn Brüderle nach höheren Löhnen, dersollte den Antrag meiner Fraktion unterstützen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011 10651
gegebene Reden
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10652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2011
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Heute morgen meldete das Statistische Bundesamt
das staatliche Finanzierungsdefizit Deutschlands im
Jahr 2010: 82 Milliarden Euro. Aufgeteilt auf die staat-
lichen Ebenen betrugen die Defizite des Bundes
57,9 Milliarden Euro, der Länder 17,2 Milliarden Euro
und der Gemeinden 10 Milliarden Euro. Wenn man sol-
che Zahlen betrachtet, dann ist es ausgesprochen unver-
ständlich, wenn aus den Reihen der Koalition schon wie-
der Steuersenkungspläne für 2013 geäußert werden. Da
wird so lange mit dem Feuer gespielt, bis unser Gemein-
wesen vollständig abgebrannt ist. Schon jetzt beträgt die
staatliche Verschuldung fast 2 Billionen Euro.
Daher ist das Anliegen richtig, die finanzielle Aus-
stattung der Länder zu verbessern. Eine Veränderung
der Aufteilung der Gemeinschaftsteuern halte ich aber
nicht für den richtigen Weg. Wir haben für eine bessere
finanzielle Ausstattung aller staatlichen Ebenen in unse-
rem Haushaltskonzept einen Weg vorgelegt: Durch den
BA-Haushalts in gleicher Höhe gegenüber. Damit wird
die Handlungsfähigkeit dieser zentralen Sozialversiche-
rung infrage gestellt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise
haben wir auf dem Arbeitsmarkt so gut überstanden,
weil die BA eine Rücklage in Höhe von deutlich über
10 Milliarden Euro hatte und so die Kurzarbeit erfolg-
reich finanziert werden konnte. Jetzt steckt in der BA
schon ein Milliardendefizit, das sich durch diese Ent-
scheidung im Vermittlungsausschuss heftig verschärft.
Die BA selbst rechnet bis 2015 mit einem Defizit von
knapp 10 Milliarden Euro – bei einem unterstellten, kon-
stant guten Konjunkturverlauf.
Wir müssen in der Haushalts- und Finanzpolitik drin-
gend umsteuern. Dies muss sich konkret in der Ausga-
ben- und Einnahmenstruktur auf allen Ebenen wider-
spiegeln. Wichtige Zukunftsaufgaben müssen finanziert
werden, gleichzeitig aber müssen die Gesamtausgaben
maßvoll bleiben. Das ist der Anspruch, den die Bürge-
rinnen und Bürger zu Recht an die Politik stellen. Steu-
Abbau von Subventionen und durch selektive Steuerer-
höhungen für diejenigen mit starken Schultern könnten
wir auch Länder und Kommunen entscheidend entlas-
ten.
Mit dem im Vermittlungsausschuss zu den Hartz-
Reformen ausgehandelten Kompromiss zur Übernahme
der Kosten für die Grundsicherung im Alter wird auf den
ersten Blick zumindest die Finanzsituation der Kommu-
nen verbessert. Ab 2015 sollen diese Kosten nach dem
vorliegenden Vorschlag ausschließlich vom Bund getra-
gen werden. Grundsätzlich ist es auch nicht verkehrt,
wenn der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter
von den Kommunen übernimmt. Aber der jetzt verein-
barte Kompromiss ist ein Geschäft zulasten Dritter,
nämlich zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, aber auch zulasten der Unternehmen, die ja paritä-
tische Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen.
Derzeit wenden die Kommunen für die Grundsiche-
rung im Alter rund 3,5 Milliarden Euro auf – mit stark
steigender Tendenz. Der Bund beziffert die Entlastung
der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden Euro
netto. Dieser Nettoentlastung steht eine Belastung des
ersenkungen sind darauf keine Antwort; sie würden die
bereits dramatische Lage der Staatsfinanzen weiter ver-
schärfen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4841. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen Frak-
tionen abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 25. Februar 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.