Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. –Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!Bevor wir uns den noch ernsteren Aufgaben zuwen-den, möchte ich den Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann,Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter zuihrem 60. Geburtstag gratulieren, den sie in den vergan-genen Tagen gefeiert haben – man möchte es nicht fürmöglich halten.
Im Namen des gesamten Hauses noch einmal herzlicheGratulation und alle guten Wünsche!Der Kollege Leo Dautzenberg hat mit Wirkung vom1. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße icheinmal mehr den Kollegen Cajus Caesar,
womit der Deutsche Bundestag seinen berühmtesten Ab-geordneten endlich zurückbekommt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-Rededene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Vereinbarte Debattezur Entwicklung in Ägypten
ZP 2 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undFDP:Gewalttaten und anhaltende Ausschreitungenin Berlin und anderen Städten im Zuge derRäumung eines besetzten Hauses
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinffahrenErgänzung zu TOP 27zungen 10. Februar 2011.00 Uhra) Beratung des Antrags der Abgeordneten IngeHöger, Paul Schäfer , Jan van Aken, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizie-rung der „Internationalen Konvention gegendie Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierungund die Ausbildung von Söldnern“ der Gene-ralversammlung der Vereinten Nationen– Drucksache 17/4663 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Sozialesb) Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulSchäfer , Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEInternationale Ächtung des Söldnerwesens undVerbot privater militärischer Dienstleistun-gen aus Deutschland– Drucksache 17/4673 –textÜberweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfec) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBrennelemente-Zwischenlager am Forschungs-zentrum Jülich ertüchtigenksache 17/4690 –isungsvorschlag:ss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ss für Bildung, Forschung undachten Ver-– DrucÜberweAusschuAusschuTechnikfolgenabschätzung
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10040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDInstrumente zur Bekämpfung der Steuerhin-terziehung nutzen und ausbauen– Drucksache 17/4670 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSchutz vor Bahnlärm verbessern – VeraltetesLärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen– Drucksache 17/4652 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten SevimDağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESolidarität mit den Demokratiebewegungen inden arabischen Ländern – Beendigung derdeutschen Unterstützung von Diktatoren– Drucksache 17/4671 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder –Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes-regierung zum Thema FrauenquoteZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieluiseBeck , Volker Beck (Köln), Viola vonCramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBelarus – Repressionen beenden, Menschen-rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-schaft stärken– Drucksache 17/4686 –ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehn-ten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-gesetzes– Drucksache 17/4231 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 17/4720 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannUndine Kurth
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDDie Revision der OECD-Leitsätze für multina-tionale Unternehmen als Chance für einenstärkeren Menschenrechtsschutz nutzen– Drucksache 17/4668 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden. Ich nehme an, dass Siedamit einverstanden sind. – Das ist offenkundig so.Dann können wir entsprechend verfahren.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPGestärkt aus der Krise – Der deutsche Mittel-stand als Motor für Wachstum, Wohlstandund Innovation– Drucksache 17/4684 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Techno-logie, Rainer Brüderle.
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deut-sche Wirtschaft läuft auf Hochtouren. Der Economistspricht bereits von „Germany’s New Wirtschaftswun-der“. Unter Schwarz-Gelb wird Deutschland in der Welt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10041
Bundesminister Rainer Brüderle
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geachtet; unter Rot-Grün wurde Deutschland in der Weltverlacht.
Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum von2,3 Prozent. Der DIHK geht nach seiner gestrigen Pro-gnose sogar von 3 Prozent Wachstum für dieses Jahr aus.Die Investitionsabsichten der Unternehmen haben ei-nen Rekordwert erreicht. Ich habe noch gut den SPD-Vorsitzenden im Ohr. Er wollte wegen der angeblichenInvestitionsschwäche eine Art Abwrackprämie für Ma-schinen. Die Grünen wollen jetzt Ähnliches. Die Wirt-schaft investiert ohne Ihre Abwrackfantasien. Der volks-wirtschaftliche Sachverstand der Opposition bewegt sichirgendwo zwischen Voodoo und Wolkenkuckucksheim.
Sie wollen vor allem das Falsche, aber davon reichlich.
Der Motor für die Wachstumsmaschine ist der Mittel-stand. Dieser Aufschwung ist ein Mittelstandsaufschwung.Viele Mittelständler haben ihren Mitarbeiterinnen undMitarbeitern in harten Zeiten die Treue gehalten. Sie ha-ben sogar neue Beschäftigte eingestellt. Das ist gelebteEigenverantwortung, das hat sich bewährt, das ist sozialeMarktwirtschaft, und das ist eine Geisteshaltung.
Aufgrund des Antrags der Koalitionsfraktionen be-fasst sich der Deutsche Bundestag mit dem Mittelstand.Das freut mich sehr; denn der Mittelstand steht im Zen-trum der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Schwarz-Gelb hat den Aufschwungmotor Mittelstand gut geölt.
Wir haben die gröbsten Schnitzer bei der Unternehmen-steuer beseitigt. Wir haben die Erbschaftsteuer refor-miert. Die Opposition dagegen will mit Vermögensteuerund höherer Einkommensteuer den Motor abwürgen.Jetzt haben die Grünen als Deckmäntelchen ein Mit-telstandspapier aufgeschrieben. Für mich hört sich daswie grüner Feudalismus an. Erst nimmt man dem Mittel-ständler ein Schwein weg, dann gibt man ihm gnädig einpaar Koteletts zurück. Dafür soll sich der Mittelstanddann noch artig bedanken. Es ist nämlich so: Eine hö-here Einkommensteuer trifft nicht nur private Einkom-men, sie trifft auch 80 Prozent der deutschen Unterneh-men. Diese sind Personengesellschaften und zahlenEinkommensteuer. Das sollten Sie, Frau Scheel, immerberücksichtigen. Einer muss den Wohlstand erwirtschaf-ten. Das ist der deutsche Mittelstand.
Wir haben Bürokratie im Vergaberecht abgebaut. Wirhaben eine Fachkräfteinitiative in der Wirtschaft ange-stoßen. Drei Viertel der Mittelständler haben bereitsSchwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Dasreicht von der exportstarken Maschinenbaubranche biszur Boombranche Tourismus. Wir haben einen neuenAusbildungspakt mit der Wirtschaft geschlossen. Abermoderne Mittelstandspolitik geht über Programme undInitiativen hinaus.In einer global vernetzten Wirtschaft muss Mittel-standspolitik schnell und flexibel reagieren. Wir unter-stützen den Mittelstand überall und sofort, zum Beispieletwa Unternehmen, die in Nordafrika tätig sind und mitder schwierigen Lage dort konfrontiert sind. Wir habenmit unserem Aktionsplan Nordafrika zehn konkreteMaßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, die inder Region tätig sind, auf den Weg gebracht. Morgenwird es dazu ein Treffen im Bundeswirtschaftsministe-rium geben.Wir sind Anwalt für den Mittelstand. Andere führensich als Genosse der Bosse auf. Sie schauen nach Holz-mann, Hochtief, Opel und Karstadt. Für sie sind Großun-ternehmen das Maß aller Dinge. Sie stellen die Rolle desMittelstands als Jobmotor infrage. Im SPD-Vorfeld wirdder Mittelstand als Trugbild bezeichnet. Meine Damenund Herren, das ist nicht die Politik der Bundesregie-rung. Wir kümmern uns um den Mittelstand.
Wir setzen auf Privatinitiative und Eigenverantwortung.Mein Ideal ist nicht: Oben ein paar Großkonzerne mitGewerkschaftsdominanz, und unten fristen ein paar vomStaat abhängige und subventionierte Ich-AGs ihr Dasein.Ein solches Wirtschaftsmodell lässt sich ganz schnell aufPlanwirtschaft umstellen. Davon mögen aktive oder Alt-kommunisten im Bundestag träumen. Wir machen dasnicht. Wir wollen eine gesunde Mischung von großen,mittleren und kleinen Unternehmen.
Das Wirtschaftsministerium hat letzte Woche eineMittelstandsinitiative gestartet. Wir lösen die Wachs-tumsbremsen für den Mittelstand. Wir müssen das Themader Gewerbesteuer anpacken. Es wäre fatal, wenn die Ge-werbesteuerreform auf dem Hartz-IV-Verhandlungstischhinten herunterfällt.
Wir wollen unseren top ausgebildeten Frauen opti-male Arbeitsbedingungen bieten.
Im Mittelstand und in Familienunternehmen sind dieFrauen bereits auf dem Vormarsch. Es sollen aber nochmehr Frauen auf den Chefsesseln Platz nehmen.
Nach dem Vorbild des nationalen Ausbildungspaktskönnte ein Pakt für Frauen zusätzlich entsprechende Im-pulse liefern.
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Bundesminister Rainer Brüderle
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Wir setzen auf den Mittelstand. Wir setzen auf seinenMut zur Verantwortung und auf seine Leistungsbereit-schaft. Dieses Vertrauen ist gut angelegt. Es zahlt sichdoppelt und dreifach aus. Hier stimmt die Vertrauensren-dite. Die Leistung des Mittelstands verdient Respekt,und die Leistung des Mittelstands verdient insbesondereunsere Unterstützung.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Friedrich für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Brüderle, vielen Dank, dass Sie Ihr routinemä-ßiges Selbstlob heute Morgen kürzer gehalten haben alssonst.
Ich stelle fest: An den Kernpunkten, die dazu beigetra-gen haben, dass wir die Wirtschaftskrise überwunden ha-ben, waren Sie und sind Sie nach wie vor nicht beteiligt.
Wir haben eben wieder gehört, dass Sie all die Reformenund Konjunkturprogramme, die ganz maßgeblich nochin der Großen Koalition und unter Rot-Grün angescho-ben wurden und die uns durch die Krise geführt und Gottsei Dank auch wieder herausgeführt haben, soweit wir esheute sagen können, abgelehnt haben und in der Sacheimmer noch ablehnen. Sie haben nicht begriffen, wieman Wirtschaftspolitik in Deutschland machen muss.
Wir sind froh darüber, dass wir in Deutschland wiederWachstumszahlen haben. Aber wenn Sie sich die Zahlengenau betrachten – so ehrlich sollten Sie zu sich selbstsein –, dann sehen Sie: 2009 hatten wir durch die inter-nationale Wirtschafts- und Finanzkrise einen Absturzvon minus 4,7 Prozent. Danach hatten wir plus 3,6 Pro-zent, wesentlich getragen durch das Konjunkturpaket in2010. Wir sind jetzt wieder auf dem Weg dahin, wo wirbereits einmal waren, bevor uns die internationale Fi-nanzkrise mit in den Strudel gezogen hat. Die Zeche da-für hätten die Menschen und die Mittelständler bezahlt,wenn es das Kurzarbeitergeld, das Konjunkturpaket unddas Investitionsprogramm auch der Kommunen nicht ge-geben hätte. Dies alles wurde durch eine aktive Wirt-schaftspolitik angeschoben – etwas, was für Sie schonper se ein Fremdwort ist.
In dem Antrag, den Sie uns heute auf den Tisch legen,begrüßen Sie die umfangreichen Maßnahmen der Bun-desregierung für den Mittelstand. Sie nennen drei Punkte:die Hightech-Strategie, den Ausbildungspakt und dieMittelstandsinitiative. Wenn wir uns – jenseits der Hoch-glanzbroschüren – in den Antrag vertiefen, dann könnenwir Folgendes feststellen: Beim Breitbandausbau habenSie die Ausbauziele verfehlt. Wir haben das Geld und dieRegulierung auf den Weg gebracht. Trotzdem wurden dieAusbauziele verfehlt. Die Mittelständler und die kleinenBetriebe in den Gewerbegebieten unserer Gemeinden lei-den heute darunter, dass es den entsprechenden Ausbaunicht gibt. Wir alle kennen das aus den Wahlkreisen; da-rüber wird ja auch bei Ihnen eine Debatte geführt. VonHightech kann in den Gewerbegebieten, was den staatli-chen Beitrag angeht, nicht die Rede sein, Herr Brüderle.
Zum Thema Ausbildungspakt – Sie selbst haben ge-rade die Verhandlungen angesprochen –: Wo ist dennSchwarz-Gelb, wenn es darum geht, Schulsozialarbeitauf den Weg zu bringen? Wo ist denn Schwarz-Gelb,wenn es darum geht, dass die Schüler an einen Schulab-schluss herangeführt werden und dass sie einen Wechselwagen können? Was ist denn aus den Ausbildungsbe-gleitern geworden? Sie haben sich allen Hilfen verwei-gert, als es darum ging, Schule eben nicht nur als einenreinen Lernort zu begreifen. Gerade diejenigen, die wirbrauchen, die Talente, werden nicht ausreichend geför-dert. Auch die Organisation der Förderung von kleinstenKindesbeinen an wäre hier zu nennen. All dem habenSie sich gerade in den Verhandlungen verweigert.
Schauen wir uns die faktische Mittelstandspolitik die-ser Regierung einmal an: Schwarz-Gelb hat im Bundes-haushalt bei der Regionalförderung gekürzt; das trifft vorallem den Mittelstand und das Handwerk in den entspre-chenden Gebieten. Schwarz-Gelb hat bei der Städte-bauförderung gekürzt; das trifft vor allem das Ausbauge-werbe und das Handwerk in den Städten und Gemeinden.Auch das Marktanreizprogramm haben Sie gekürzt, wo-durch Sie Zukunftsinvestitionen, Energieeffizienz undbessere Energietechnik verhindern. In der Energiepolitikhaben Sie nicht nur die Monopole und Großkonzerne ge-stärkt, sondern jetzt wollen Sie, wie man lesen kann, auchnoch den Einspeisevorrang zurücknehmen, was dazuführt, dass die vielen Tausend Handwerker und Mittel-ständler, die heute an der Energiewende arbeiten und da-mit Menschen Arbeit bieten, von den Großkonzernenwieder an die Wand gedrückt werden. Darum geht es Ih-nen in Ihrer Energiepolitik. Das, was Sie bei der Energieveranstalten, ist Mittelstandsfeindlichkeit pur.
Nach all dem Eigenlob und all den BeschreibungenIhrer dicken Papiere – Handlungen gibt es von IhrerSeite ja nur wenig – kommen Sie dann in Ihrem Antragzu ein paar Forderungen. Sie sind im Wesentlichen da-von getragen, dass die Regierungskoalition die Bundes-
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Peter Friedrich
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regierung auffordert, sich an den Koalitionsvertrag zuhalten. Das ist in gewisser Weise amüsant, weil der Ko-alitionsvertrag voller Prüfaufträge steckt. Der wichtigstePunkt für Sie – Sie haben ihn gerade noch einmal ange-führt – ist das Thema Gewerbesteuer. In dem Antragschreiben Sie:… entsprechend den Festlegungen im Koalitions-vertrag so bald wie möglich Gesetzentwürfe vorzu-legen, um kleine und mittlere Einkommen stärkerzu entlasten, …
Sie sind übrigens die Koalition, die mit „Mehr Nettovom Brutto“ angefangen und inzwischen bei deutlichweniger Netto aufgehört hat. Durch das, was Sie bei derGesundheitsreform gemacht haben, durch Ihren Mini-steuerkompromiss haben die Leute weniger Netto imGeldbeutel und nicht mehr. Sie sind die Nettolügen-Ko-alition. Insofern ist es gut, wenn Sie in den Antragschreiben, dass Sie dies noch immer vorhaben.
Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter, die Gemeindefi-nanzen sollten wachstumsfreundlich reformiert werden.Herr Brüderle, Sie haben am 1. Februar bei der Vorstel-lung Ihrer Mittelstandsinitiative gesagt, die Abschaffungder Gewerbesteuer sei die sauberste Lösung.
Sie haben selber gesagt, dass Sie das Thema der Gewer-besteuer bei den Verhandlungen über Hartz IV auf denTisch gelegt haben; Sie haben damit die Verhandlungenüberfrachtet. Sie verpassen mit Ihrer Aussage all denGewerbetreibenden, die ihre Steuern – keiner zahlt gernSteuern – in dem vollen Bewusstsein zahlen, damit ihreGemeinde zu unterstützen, eine Ohrfeige. Sie verpassenmit dieser Forderung allen Kommunalpolitikern eineOhrfeige. Es geht bei der Gewerbesteuerreform darum,für eine Gleichbehandlung des Mittelstandes bei der Ge-werbesteuer zu sorgen, indem eben nicht nur der Gewer-betreibende, sondern auch der Freiberufler zur Zahlungherangezogen wird. Es geht darum, eine vernünftigeFinanzierungsbasis für die Gemeinden zu schaffen.
Während wir damals gemeinsam mit der Union einInvestitionsprogramm gerade zugunsten der Kommunenaufgelegt haben, springen Sie nun direkt vom Gaspedalauf die Bremse. Wir erleben jetzt bei der Haushalts-aufstellung in fast allen Kommunen, dass die Investitions-maßnahmen gestrichen werden, dass sie ihren Haushaltnicht ausgleichen können. Sie wollen jetzt auch noch diewesentliche Finanzierungsquelle der Gemeinden kom-plett weghauen. Das sind Kommunalfeindlichkeit undMittelstandsfeindlichkeit in Reinkultur.
Immerhin haben Sie erkannt, dass wir eine neueGründungskultur brauchen. Da passt es hervorragend,dass ausgerechnet diese Koalition an einer Stelle, die fürdie Gründer wirklich wichtig ist, eine Verschlechterungherbeigeführt hat. Hier geht es um die Frage: Habe ichdie notwendige Sicherheit, auch mit Blick auf meine Fa-milie, eine Gründung zu wagen? Verfüge ich trotzdemüber eine soziale Absicherung? Sie waren diejenigen,die die Beiträge der freiwillig Versicherten in der Ar-beitslosenversicherung – das sind gerade Existenzgrün-der, Unternehmer in Kleinbetrieben und Freiberufler –um 300 Prozent erhöht haben. Sie haben es den Grün-dern erschwert, sich in der Gründungsphase abzusichern.Deswegen sind Sie die Allerletzten, die hier zum ThemaGründungskultur etwas sagen sollten.
Immerhin haben Sie erkannt, dass wir bei der Unter-nehmensfinanzierung in eine problematische Situationgeraten. Wir haben Gott sei Dank keine Kreditklemme,auch weil wir damals mit Peer Steinbrück in der Banken-krise mutig gehandelt haben. Herr Brüderle, die Einrich-tung des Kreditmediators ist Ihnen inzwischen selberpeinlich. Sie schreiben in Ihrem Antrag einen sehr ver-schwurbelten Satz, der nichts anderes bedeutet als Fol-gendes: Wir haben das Problem, dass Kredite infolge derUmsetzung der Basel-III-Richtlinien insbesondere fürdie Mittelständler teurer werden. Jetzt frage ich Sie: Wosind all Ihre Vorschläge und all Ihre Maßnahmen, um estatsächlich hinzubekommen, dass Mittelständler Eigen-kapital oder Eigenkapitalersatz zu vernünftigen Bedin-gungen erhalten können? Die Antwort auf die entspre-chende Frage im Ausschuss war: Wir prüfen, wir prüfen,wir prüfen. – Sie sagen inzwischen nicht einmal, was ge-nau Sie prüfen; Sie sagen nur: Wir prüfen. – Sie habenkeine Antwort auf die Frage. Die von Ihnen veranstalte-ten Bankengipfel haben nichts gebracht. Sie drückensich darum herum, zu sagen: Wir brauchen eine staatlichunterstützte Mittelstandsanleihe, um dem Mittelstanddabei zu helfen, neues Eigenkapital aufzubauen.Summa summarum: Ihr Handeln richtet sich gegeneine Unterstützung des Mittelstands, Ihrem Reden zu-folge sind Sie dafür. Es bringt nichts, wenn Sie mitt-wochs, donnerstags oder freitags im Parlament noch ein-mal Sonntagsreden halten. Packen Sie besser die Punktean, die den Mittelstand wirklich betreffen: faire Wettbe-werbsbedingungen, faire Ausbildungsbedingungen undfaire Finanzierungsbedingungen. Damit würden Sie demMittelstand mehr nützen als mit der heißen Luft, die Sieständig produzieren.
Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Friedrich, Sie konnten mit der zeitlichenLänge Ihrer Ausführungen durchaus mit dem Bundes-wirtschaftsminister konkurrieren; aber hinsichtlich derwirtschaftspolitischen Kompetenz und Substanz war esdoch ein bisschen dünn.
Es kann gar keine Frage sein: Die Unternehmen unse-res Landes sind mit den größten ökonomischen Heraus-forderungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutsch-land, mit der Bankenkrise und der Euro-Krise, sehr gutfertig geworden. Das haben wir insbesondere dem Mit-telstand zu verdanken. Der Mittelstand hat sich als dasstabile Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschafterwiesen. Es wird 2011 so sein, dass die meisten der320 000 neu entstehenden Arbeitsplätze – so die Schät-zung – aus dem Mittelstand kommen.
Der Mittelstand ist der Motor für Wachstum, Beschäfti-gung und Ausbildung in Deutschland. Nichts verdeutlichtdies so sehr wie ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen, ins-besondere auf die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschlandund in Europa. Bekanntlich beruht der nachhaltige wirt-schaftliche Erfolg eines Landes darauf, dass gerade denjungen Menschen, den nachwachsenden Generationen,hinreichende Beschäftigungsperspektiven geboten wer-den. Unser Land tut dies glücklicherweise in hohemMaße, übrigens insbesondere dank des Mittelstandes.Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete dieserTage, dass die Werte der Jugendarbeitslosigkeit inEuropa fast überall zweistellig sind. Insbesondere ist dieArbeitslosigkeit bei den jungen Menschen in Europanach der Krise in die Höhe geschossen. In Schweden,dem vermeintlichen Arbeitnehmerparadies vergangenerTage, beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote 22,9 Pro-zent. Bei unserem Nachbarn Frankreich beträgt sie fast25 Prozent. 33,4 Prozent sind es in Griechenland. Mehrals ein Drittel der jungen Menschen zwischen 18 und25 Jahren ist dort arbeitslos. Unrühmlicher Spitzenreiterist Spanien: Dort erreicht die Jugendarbeitslosigkeit denerschreckenden Wert von 43,6 Prozent.
Fast die Hälfte der jungen Menschen in Spanien hat kei-nen Job. Nur in drei europäischen Ländern, der Schweiz,den Niederlanden und Deutschland, bewegt sich die Ju-gendarbeitslosigkeit im einstelligen Bereich. Besondersgut sieht es in Baden-Württemberg aus. Baden-Württem-berg hat nicht nur die niedrigste Arbeitslosenquote inDeutschland, sondern wir haben mit 2,7 Prozent auchdie niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganzEuropa. Das ist ein Spitzenwert, und darüber dürfen wiruns freuen.
Ich möchte es noch einmal sagen: Dies liegt nicht zu-letzt an unserem stabilen Mittelstand. Die mehr als4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen undUnternehmer, die Selbstständigen in den Bereichen In-dustrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen und in denfreien Berufen besitzen in hohem Maße jene Kreativitätund Innovationskraft, die für Wachstum und die Schaf-fung von Arbeitsplätzen unabdingbare Voraussetzungsind. Insofern haben sowohl die amtierende Bundes-regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als auchdie baden-württembergische Landesregierung vonMinisterpräsident Stefan Mappus auf das richtige Pferdgesetzt: Beide Seiten haben dem Mittelstand Aufmerk-samkeit geschenkt, und zwar insbesondere in der Krise.
Die Bundesregierung hat mit einer Steuerentlastungin Höhe von 24 Milliarden Euro Anfang 2010 insbeson-dere dem Mittelstand unter die Arme gegriffen. Wir ha-ben dadurch eine Kreditklemme verhindert, die eineKettenreaktion mit Firmenpleiten ausgelöst hätte. Dieswurde ja 2008 befürchtet und wäre 2009 beinahe Reali-tät geworden. Nichts davon ist eingetreten. Die konjunk-turelle Rückendeckung seitens der Bundesregierung hatfunktioniert. Das gilt auch für die Hightech-Strategie2020, die im Juli des vergangenen Jahres vom Kabinettvon Angela Merkel auf den Weg gebracht wurde. Ihrzentrales Element ist die Stärkung der Innovationskraftdes Mittelstandes. Sie ermöglicht Vernetzungen der Un-ternehmen untereinander, aber auch mit der Wissen-schaft, was Synergieeffekte schafft, deren Wirkung wie-derum neue und attraktive Arbeitsplätze sind. Das Ganzefunktioniert bereits gut.Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass dies auch inZukunft so bleibt. Ausgehend von der Einsicht, dassMittelstandspolitik allen Menschen nützt, ist beim Mit-telstand investiertes Geld gut angelegt. Für die gesamteGesellschaft entsteht so ein Höchstmaß an Mehrwert.Wir wollen uns in Zukunft vor allem auf drei Berei-che konzentrieren:Erstens: Reduzierung der Staatsverschuldung. Nur einStaat, der in der Zeit spart, vermag in der Not solche Ret-tungspakete aufzulegen, wie wir das in der Krise getanhaben. Deswegen ist es oberste Pflicht, nach der Über-windung der Krise die Ausgaben wieder zurückzufahrenund nach Maßgabe der schwäbischen Hausfrau zu agie-ren, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht zumVorbild erklärt hat. Dies ist zwar nicht populär, aber esist notwendig. Wer derzeit Griechenland, Portugal undSpanien dafür kritisiert, dass sie die Sanierung ihrerStaatsfinanzen allzu lang hinausgezögert haben, derkann sich in unserem Land nicht den auf Nachhaltigkeitausgerichteten Sparzielen verweigern. Wir haben dieVerantwortung, in Europa Avantgarde und Vorbild zusein, auch beim Thema Haushaltskonsolidierung.
Das Negativbeispiel können Sie übrigens in Nord-rhein-Westfalen sehen, wo eine rot-grün-dunkelrote Lan-desregierung das Land in eine unverantwortliche Staats-verschuldung hineintreibt. Diesen Weg wollen wir exaktnicht gehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10045
Thomas Strobl
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Zweitens brauchen wir modernste, sauberste und si-cherste Verkehrsinfrastrukturen, wenn wir auch in Zu-kunft wirtschaftspolitisch vorne bleiben wollen. Dazusind wir gewillt, die Grünen aber leider nicht. Sie sinddie Dagegen-Partei, vor allem was die Infrastrukturenangeht.
Wir wussten bereits, dass Sie gegen Straßen und Flughä-fen sind. Seit Stuttgart 21 wissen wir, dass Sie auch ge-gen die Modernisierung einer hundert Jahre alten Bahn-strecke und gegen die Modernisierung von Bahnhöfensind. Und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus:Jetzt sind Sie auch noch gegen Investitionen in die öko-logischsten Verkehrswege überhaupt, gegen Investitio-nen in die Schifffahrt. Der Vorsitzende des Verkehrsaus-schusses, Winfried Hermann, sagte kürzlich, der Ausbauvon Wasserwegen und Schleusen in Baden-Württembergsei sinnlos und habe zu unterbleiben. Sie sind letztlichgegen alles. Sie gefährden damit den wirtschaftlichenErfolg dieses Landes.
Sie gefährden Arbeitsplätze. Sie sind Wohlstandsgefähr-der.Drittens möchte ich das Thema Bürokratieabbau an-sprechen.
Herr Kollege Strobl.
Kaum etwas gefährdet wirtschaftlichen Erfolg so wie
eine übertriebene Bürokratie. Das darf nicht sein.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss
und möchte an Sie alle appellieren: Unterstützen Sie den
Antrag der Koalitionsfraktionen! Die Umsetzung von
dessen 15 Forderungen wird mithelfen, dass wir nach-
haltig aus der Krise herauskommen. Daran sollten wir
alle ein Interesse haben.
Besten Dank fürs Zuhören.
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wun-dern sich, dass die Linke zum Thema Mittelstandspricht. Wir sind die eigentliche Mittelstandspartei. Ichwerde Ihnen das gleich erklären.
Eines steht nun einmal fest: Der Mittelstand ist dasRückgrat unserer Wirtschaft:
70 Prozent aller Beschäftigten und 80 Prozent aller sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in Unter-nehmen und im Handwerk mit weniger als 500 Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern. 90 Prozent der 1,4 MillionenJugendlichen werden in mittelständischen Unternehmenausgebildet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unterneh-men hat zwischen 2001 und 2008 um über 300 000 aufnunmehr 3,75 Millionen zugenommen.
Allerdings gibt es darunter 2,3 Millionen Soloselbststän-dige. Darüber müssen wir uns ein anderes Mal unterhal-ten.Die Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmenarbeitet auf dem Binnenmarkt. Sie brauchen deshalbzahlungskräftige Nachfrage nach Waren und Dienstleis-tungen. Daran mangelt es in Deutschland ganz erheb-lich; denn der Aufschwung geht an der Mehrheit derBürgerinnen und Bürger vorbei.Jetzt müssen Sie sich die Zahlen anhören; das tut mirleid: 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbei-ten im Niedriglohnsektor. Diese nutzen dem Mittelstandgar nichts, um es einmal ganz klar zu sagen. Jede dritteNeueinstellung im sogenannten Aufschwung erfolgt inLeiharbeit. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklave-rei.
Nicht nur die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werdenausgebeutet. Vielmehr werden damit auch noch dieLöhne der anderen Beschäftigten gedrückt. Für die Leih-arbeiterinnen und Leiharbeiter gibt es nicht einmal einenMindestlohn, und zwar dank der FDP, weil sie mit allenMitteln versucht, den Mindestlohn zu verhindern.Rund die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt nur mitbefristeten Arbeitsverträgen. Die Zahl der Aufstockerin-nen und Aufstocker stieg um 100 000 auf 1,4 Millionen.Übrigens auch ganz interessant: Unter den Aufstockernsind 92 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. FrauMerkel und andere finden das Aufstocken toll. Ich sageIhnen Folgendes: Wenn jemand einen Vollzeitjob hat,gute Arbeit leistet und danach zum Sozialamt gehenmuss, um sein Existenzminimum zu sichern, dann ist dasfür die Bundesrepublik Deutschland ein Skandal.
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10046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
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Herr Kollege Gysi, nun haben Sie sich ja beinahe eine
Zwischenfrage bestellt. Die Frage ist, ob Sie diese zulas-
sen wollen.
Es wird zwar keine Frage werden; aber ich lasse sie
natürlich zu. Herr Präsident, Sie müssen aber die Uhr an-
halten.
Sie werden doch nicht auch nur andeuten wollen, dass
ich Ihnen jemals auch nur zehn Sekunden gestohlen
hätte.
Lieber Kollege Gysi, haben Sie eine Berechnung – es
wird doch eine Frage –, wie viele Aufstocker es gäbe,
wenn wir Ihrem Modell, das einen Hartz-IV-Regelsatz in
Höhe von 500 Euro pro Person vorsieht, folgen würden?
Haben Sie einmal ausgerechnet, Kollege Gysi, dass,
wenn man den von Ihnen geforderten Mindestlohn in
Höhe von 11 Euro oder 10 Euro – ich weiß nicht, wie der
Tageskurs bei Ihnen gerade ist – einführen würde –
Ich schicke Ihnen unsere Programme zu, damit Sie
das genau wissen. Das ist kein Problem.
– gerne –, eine vierköpfige Familie etwa 1 000 Euro
weniger hätte als eine Familie in Hartz IV, die nach Ih-
rem Modell einen Regelsatz von 500 Euro pro Person er-
halten würde?
Ihre Forderungen bezüglich eines Mindestlohns und
Hartz IV müssen Sie zusammen betrachten. Wie viele
Aufstocker würde es dann geben? Haben Sie das einmal
ausgerechnet?
Aufstocker gäbe es nach unserem Modell überhauptnicht, weil wir einen flächendeckenden gesetzlichenMindestlohn verlangen, der dies eindeutig verhindernwürde.
Sie müssen unsere Vorstellungen immer im Zusammen-hang sehen. Den Regelsatz, den wir für Hartz-IV-Emp-fängerinnen und Hartz-IV-Empfänger als eine sozialediskriminierungsfreie Grundsicherung fordern, ist daseine; der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn istdas andere.
Dann wäre das Lohnabstandsgebot eingehalten, unddann gäbe es all die Probleme nicht, die Sie dadurch an-richten, dass Sie sowohl die Steigerung des Regelsatzesals auch die Einführung eines flächendeckenden gesetz-lichen Mindestlohns verhindern.
Der Mittelstand braucht den flächendeckenden ge-setzlichen Mindestlohn, den Sie verhindern. Er brauchtauch steigende Löhne. Jetzt müssen Sie sich – auch Sie,Herr Brüderle – einmal mit der Tatsache auseinanderset-zen, dass es nur eine kapitalistische Industriegesellschaftauf der Welt gibt, die in den letzten zehn Jahren einenVerlust beim Reallohn zu verzeichnen hatte, nämlichDeutschland: minus 4,5 Prozent – das gab es weder inden USA noch in Großbritannien noch in Frankreichnoch in Skandinavien. Damit müssen Sie sich einmalauseinandersetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wirdem Mittelstand helfen wollen, brauchen wir jetzt Lohn-steigerungen von mindestens 5 Prozent; besser wären10 Prozent.
– Nein, wir übertreiben ja nicht.Ich sage Ihnen noch etwas zu höheren Sozialleistun-gen; dazu gehört auch Hartz IV. Schauen wir uns docheinmal dieses einzigartige Schauspiel an, das Union,SPD, FDP und Grüne diesbezüglich geliefert haben. DasBundesverfassungsgericht hat gestern vor einem Jahrentschieden, dass das Gesetz, in dem die Hartz-IV-Leis-tungen geregelt sind und das von diesen vier Fraktionenverabschiedet wurde, grundgesetzwidrig ist und dass esbis zum 31. Dezember 2010 eine Neuregelung gebenmuss. Sie haben versagt; es gibt bis heute keine Neu-regelung.
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorge-legt, in dem – auch das ist interessant – alle diskriminie-renden und diffamierenden Strukturen von Hartz IV bei-behalten wurden. Die Steigerung des Regelsatzes um5 Euro hatten Sie schon vor zwei Jahren angekündigt;dafür hätten Sie gar nichts berechnen müssen. Sie habenja auch gar nichts neu berechnet, sondern einfach die5 Euro genommen. Wenn das so einfach ist, warum ha-ben Sie den Gesetzentwurf nicht vor der Sommerpausevorgelegt?
Warum so spät? Warum haben Sie das absichtlich verzö-gert? Sie wollten, dass das Gesetz nicht zustande kommt.
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Dr. Gregor Gysi
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Dann haben Sie auch noch das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts missachtet. Es liegt keine Berechnungdes Bedarfs für Kinder vor, obwohl das Bundesverfas-sungsgericht dies verlangt hat.
– Das kann ich Ihnen sagen: Der Mittelstand brauchtKaufkraft, und diese verweigern Sie dem Mittelstand.Das ist das Problem.
Sie haben die verdeckten Armen nicht aus der Be-rechnung herausgenommen, und Sie haben bei der Ver-gleichsberechnung nicht mehr die unteren 20 Prozentder Einkommen, sondern nur noch die unteren15 Prozent einbezogen, um die 5 Prozent, die etwas bes-ser verdienen, nicht in der Vergleichsrechnung zu haben.Damit verfolgen Sie ein Ziel: Es sollen nicht mehr als5 Euro werden. Das alles halte ich für grundgesetzwid-rig. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht er-neut angerufen werden wird.Nun haben Sie dieses Gesetz beschlossen, der Bun-desrat lehnte es ab, die Bundesregierung berief den Ver-mittlungsausschuss ein, und dieser bildete eine Arbeits-gruppe. Dann passierte das Übliche. Union, SPD, FDPund Grüne waren sich einig: In diese Arbeitsgruppe neh-men wir die Linke selbstverständlich nicht mit hinein.
Warum fürchteten Sie uns dort? Aus zwei Gründen: ers-tens, weil Sie keine prinzipielle Kritik an Hartz IV hörenwollten – denn Sie vier sind sich einig, was Hartz IVdem Grundsatz nach betrifft –, und zweitens, weil Siebefürchteten, dass die Linke dann erfährt, welche Ne-bendeals dort verabredet werden.
Also haben Sie alle einmütig beschlossen: Die Linkedarf nicht daran teilnehmen.
Daraufhin haben wir das Bundesverfassungsgerichtangerufen und eine einstweilige Anordnung beantragt,und das Bundesverfassungsgericht hat dem Vermitt-lungsausschuss Fragen gestellt. Diese Fragen waren sogestellt, dass dem Vermittlungsausschuss klar war: Dieeinstweilige Anordnung wird höchstwahrscheinlich er-gehen.
Daraufhin hat Herr Altmaier von der Union dem Bun-desverfassungsgericht mitgeteilt, dass die Linke natür-lich in diese wunderbare Arbeitsgruppe aufgenommenwird.
– Ja, natürlich; das haben Sie auch gemacht.Am 19. Januar dieses Jahres haben Sie dann – weilSie ärgerte, dass die Linken jetzt doch von den Neben-deals erfahren
und Sie sich immer wieder unsere prinzipielle Kritik an-hören mussten – eine illegale Gruppe außerhalb der Ar-beitsgruppe gebildet. Diese illegale Truppe sollte allesvorbereiten: für den Vermittlungsausschuss, für denBundestag und für den Bundesrat. Das Problem ist nur:Ohne uns ist selbst diese illegale Truppe zu keinem Er-gebnis gekommen. Damit haben wir es jetzt zu tun.
– Ich sage Ihnen eines: Sie sollten einmal darüber nach-denken, warum Ihre Fraktion nie die Hilfe des Bundes-verfassungsgerichts benötigt, um ihre Rechte zu bekom-men, und warum nur die Linke immer wieder den Wegzum Bundesverfassungsgericht gehen muss. Das liegt anIhrer grundgesetzwidrigen Einstellung im Verhältnis zurLinken. So ist das.
– Damit haben Sie, Herr Altmaier, übrigens auch dasVersprechen, das Sie gegenüber dem Bundesverfas-sungsgericht abgegeben haben, gebrochen. Ich weiß,dass die Bundesverfassungsrichter so etwas nicht mö-gen.Jetzt gibt es, wie gesagt, kein Ergebnis. Das bedeutet:6,5 Millionen Betroffene wissen eigentlich nicht, woransie sind.
Das Gesetz, das es einmal gab, ist grundgesetzwidrigund gilt nicht mehr. Ein neues Gesetz liegt aber nichtvor. Unter den 6,5 Millionen Betroffenen sind 1,8 Mil-lionen Kinder.
Schon jetzt steht fest: Für drei Monate ist ihnen der Zu-schuss zum Mittagessen unersetzlich entzogen.
Ich finde das alles skandalös. Wenn der einzige Unter-schied zwischen SPD und Grünen auf der einen Seiteund Union und FDP auf der anderen Seite darin besteht,dass die einen eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro und
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Dr. Gregor Gysi
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die anderen eine Erhöhung um 11 Euro wollen, muss ichIhnen sagen: Auch für arme Leute ist das eine Verhöh-nung. Darum kann es im Prinzip nicht gehen.
Wieder einmal wird die Aufgabe, Politik zu machen,dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Die FDP tutalles, um Lohnniveau, Renten- und Sozialleistungen zusenken. Ich sage Ihnen: Das ist eine mittelstandsfeindli-che Politik.Interessant ist auch Folgendes: Die Interessenver-bände des Mittelstands fordern Steuervereinfachung undBürokratieabbau. Im Unterschied zur FDP fordern sienicht Steuersenkungen, sondern Steuervereinfachungund Bürokratieabbau.
Dabei haben sie in uns einen Partner.
– Es gibt wunderbare Steuervereinfachungen: höhererGrundfreibetrag bei der Einkommensteuer, linearer Ta-rifverlauf, endlich ein Abbau des Steuerbauches für diedurchschnittlich Verdienenden, der überhaupt nicht ge-rechtfertigt ist, und eine Erhöhung des Spitzensteuersat-zes bei der Einkommensteuer von 42 auf 53 Prozent füralle Einkommen, die man oberhalb von 72 000 Euro er-zielt. Ja, dann müssten wir alle mehr Steuern zahlen.Dazu kann ich aber nur sagen: Na und? Das würde fürmehr Gerechtigkeit sorgen und das Allgemeinwohl stär-ken.
Im Übrigen würde das auch Existenzgründerinnen undExistenzgründern nützen.Was machen Sie? Lassen Sie mich ein Beispiel nen-nen: die Abgeltungsteuer. Die Reichen müssen nach derAbgeltungsteuer 25 Prozent Steuern zahlen, unter ande-rem auf Zinseinnahmen. Das ist Geld von Geld. Ein Un-ternehmen, das Gewinn gemacht hat und investiert, mussviel höhere Steuern zahlen. Erklären Sie doch einmal,wieso man fürs Nichtstun, wenn man also Geld be-kommt, so viel weniger Steuern zahlen muss, als wennman etwas tut. Nein, da haben Sie gar nichts verbessert.
– Ich kenne die FDP-Argumentation. Wissen Sie, wieIhre Argumentation immer lautete? Sie lautete: Weil esso viel Steuerhinterziehung gibt, muss man den Steuer-hinterziehern entgegenkommen.
Ich sage Ihnen: Dieses Entgegenkommen gegenüberKriminellen nutzt Ihnen gar nichts – ganz im Gegenteil.
– Ja, es kann schon sein, dass Sie viel mehr von allemverstehen. Aber die Ergebnisse Ihrer Politik sehen wir,und die sind katastrophal, lieber Herr Lindner.
Ich sage Ihnen: Auch Ihre Steuerpolitik ist mittelstands-feindlich.Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir gutausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen.Hier ist Ihnen allerdings ein großer Vorwurf zu machen.Es gibt in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme.
Ich habe Ihnen schon einmal erklärt: Das ist19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Top-Bildungssystemvon Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Davon sindwir meilenweit entfernt. Sie trennen die Kinder so frühwie möglich, um soziale Ausgrenzung zu betreiben. Dasist nicht der Weg, um ausgebildete Mitarbeiterinnen undMitarbeiter zu bekommen.
Allerdings sage ich auch, dass die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen zu wenig ausbilden. Wir brau-chen erstens Top-Schulen. Wir brauchen auch eineAusbildungsumlage für Unternehmen, die jene Unter-nehmen bezahlen müssen, die ausbilden könnten, es abernicht tun. Wir brauchen verbindliche Vereinbarungenüber die Zahl der Ausbildungsplätze und ausreichendeStudienplätze, und zwar ohne Studiengebühren. Dazusage ich Ihnen noch etwas: Die ärmeren Leute in Bayernstudieren inzwischen in Berlin, weil es in Berlin keineStudiengebühren gibt. Sie können nicht alles zulastenBerlins regeln. Das will ich Ihnen auch einmal so deut-lich sagen.
Wir werden in Berlin keine Studiengebühren einführen,selbst wenn Sie sie in Bayern erhöhen. Ich glaube aller-dings, dass wir von den Studiengebühren wegkommenmüssen.Die Forschungsförderung, die Sie planen, planen Sieübrigens zu 80 Prozent für Konzerne und nur zu20 Prozent, lieber Herr Brüderle, für die kleinen undmittelständischen Unternehmen; das sind gerade einmal300 Millionen Euro. Warum erfolgt diese Ungerechtig-keit? – Leider läuft meine Zeit ab. Ich hätte Ihnen nochso viel zu sagen.
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Dr. Gregor Gysi
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– Ich wusste es. Wissen Sie, ich bekomme so selten Bei-fall von Ihnen, dass ich ab und zu einen solchen Satz sa-gen muss, um ihn doch zu bekommen.
Lassen Sie mich den letzten Satz sagen. Die größtenHemmnisse sind übrigens die Banken, die so gut wiekeine Kredite an kleine und mittelständische Unterneh-men vergeben. Diese Unternehmen haben größteSchwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Sie unterneh-men nichts dagegen. Die größten Hemmnisse für denMittelstand sind die Deutsche Bank und die sich nach ihrrichtende Politik dieser Bundesregierung.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Gysi, wenn man einen Großteil der Zeit, die fürdie Mittelstandsdebatte vorgesehen war, über Hartz IVredet, bleibt natürlich nur wenig Zeit, um anschließendnoch etwas zum Mittelstand sagen zu können.
Aber der Minister war nicht besser. Der Minister hates in sechs Minuten geschafft, hier relativ viel heiße Luftabzulassen, aber zu den Problemen, die es zu lösen gilt,kein Wort zu verlieren.
Herr Brüderle, dieses Sich-selbst-Loben, das man vonder FDP kennt – das betreiben ja viele von Ihnen sehrgerne –, wird in den Ländern mittlerweile so gesehen– ich bringe ein kurzes Zitat Ihres Landesvize in Hessen,der Folgendes wörtlich gesagt hat –:Der Slogan ‚Erfolgreich vor Ort‘ verbietet eigent-lich, dass sich Westerwelle vor Ort breit macht.
Das ist zwar hart, zeigt aber, dass das, was Sie hier anguter Politik zu machen glauben, vor Ort anscheinendnicht ankommt.
Das ist die Wahrnehmung der Menschen und ein Grunddafür, warum Sie in den Umfragen so abschneiden, wieSie abschneiden.Es stimmt: Der Mittelstand ist gut durch die Krise ge-kommen. Daher müsste es umgekehrt laufen: Nicht diePolitik sollte sich dafür auf die Schultern klopfen, wassie toll gemacht hat. Vielmehr sollten wir dem Mittel-stand danken; denn wegen der Stärke der Unternehmerund Unternehmerinnen sind wir gut durch diese Krisegekommen. Sie haben es geschafft, das gut zu organisie-ren, und zwar trotz dieser Regierung und nicht wegendieser Regierung.
Was auch auffällt, ist, dass Sie in Ihrem Antrag – dasist dieses 15-Punkte-Papier; es finden momentan in vie-len Bundesländern Wahlkämpfe statt, und daher ist esnicht überraschend, dass wir hier und heute eine Mittel-standsdebatte führen – Forderungen stellen, die dieseRegierung eigentlich schon längst hätte erfüllen können.Es ist bemerkenswert, dass Koalitionsfraktionen ihre ei-gene Regierung auffordern, etwas Vernünftiges zu tun.Sie haben es in der Vergangenheit geschafft, über dieMehrwertsteuergeschenke für die Hoteliers, über Mil-liarden-Gutscheine für Atomkonzerne, über die Ab-wrackprämie für die Automobilindustrie so viel Geld zuverpulvern, dass das, was Sie selbst in Ihrem Antrag alswichtig erachten, nämlich die Forschungsförderung fürdie kleinen und mittelständischen Unternehmen, angeb-lich nicht finanzierbar ist.
Das ist Ihre Denke, die dahintersteckt: Es geht Ihnen inWirklichkeit um Klientelpolitik. Es geht Ihnen nicht da-rum, eine vernünftige Strukturveränderung über eineRahmengesetzgebung herbeizuführen, wie sie beispiels-weise unsere steuerliche Forschungsförderung für denMittelstand eine wäre. Sie sagen bei jeder Veranstaltung:Das ist wichtig; das müssen wir machen. Wenn es aberkonkret wird, dann lehnen Sie ab. Die Grünen hatten jabereits einen Antrag dazu gestellt. Die Union und dieFDP haben ihn abgelehnt. Jetzt haben Sie diese Forde-rungen in Ihr Papier geschrieben. Daran sieht man: Es istirgendwie nett gemeint;
aber sobald es konkret wird, sind Sie abgetaucht.
Das rächt sich aber. Die KMUs erhalten nur etwa15 Prozent der Forschungsausgaben. Gerade die kleinenund mittelständischen Unternehmen sorgen aber doch inder mittleren Perspektive für das, was wir brauchen: fürInnovationen im Bereich der Fahrzeugtechnologie, Inno-vationen im Bereich der Energieversorgung, Innovatio-nen in der chemischen Industrie und den kleinen Unter-nehmen, zum Beispiel der Medizingeräteindustrie. Sie
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10050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Christine Scheel
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müssen erkennen, dass sehr viel an Förderung fehlt, umhier voranzukommen. Darauf sollte man den Fokus le-gen. Ansonsten rächt sich das am Ende; denn wir wollendoch Vorbild sein für vernünftige Produkte auf demWeltmarkt, die ressourcenarm produziert werden undwenig Energie verbrauchen. Dafür ist diese Forschungs-förderung notwendig. Geben Sie sich endlich einenRuck, und machen Sie das.Ein anderes Thema, das Sie auch sträflich vernachläs-sigt haben, ist der Fachkräftemangel. Es wird darübergesprochen, wie viele Fachkräfte fehlen.
Wir wissen, dass die Zeit drängt und dass dem Mittel-stand Kosten in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro ent-stehen, weil es diese Fachkräfte nicht gibt.
Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin.
Herr Minister, es wäre ganz schön, wenn bei dem Be-
mühen der Rednerin, sich an Sie zu wenden, dafür auch
Aufmerksamkeit hergestellt werden könnte.
Ich nehme an, der Herr Minister muss sich zwischen-durch beraten lassen, wie das Problem des Fachkräfte-mangels zu lösen ist. Das genau ist das Problem; denninnerhalb der Koalition gibt es hier keine klare Linie. Eswird immer nur darüber geredet, aber es gibt keine Posi-tion.
Bei der CSU ist es ganz schlimm. Sie diskutiert jetztdarüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist –und das im Zusammenhang mit der Diskussion überFachkräfte. Absurder geht es wirklich nicht mehr.
Wer mittelständische Unternehmen besucht, der weiß,wie schwierig die Situation ist, lieber Ernst Hinsken. Wirwissen, wie schwierig die Situation ist, und wir wissenauch, dass die derzeitigen Regelungen, von denen Sieglauben, dass sie super funktionieren, eben nicht funk-tionieren. Wenn man bei der Regierung nachfragt, dannerfährt man zum Beispiel, dass es keine Daten über Vor-rangprüfungen und darüber gibt, wie lange das dauert.Es gibt einfach keine vernünftige Grundlage, sondern eswird ins Blaue hinein behauptet,
wir hätten hier keine Probleme, was natürlich überhauptnicht stimmt und von den Unternehmen auch völlig an-ders gesehen wird.
Es passiert nichts. Wir haben auch den mehrfach an-gekündigten Entwurf eines Gesetzes zur schnelleren An-erkennung von ausländischen Abschlüssen noch nichtvorliegen.
Es ist ein Problem, wenn eine Ärztin aus einem osteuro-päischen Land hier nicht im Krankenhaus arbeiten kann,weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird, sondern alsReinigungskraft arbeiten muss, weil Sie das nicht voran-bringen, und wir gleichzeitig einen Ärzte- und Ärztin-nenmangel haben.
Daran sieht man, dass diese Regierung nicht in der Lageist, die Probleme, die es zu lösen gilt, auch wirklich an-zugehen.Der Vorschlag, den die Grünen machen, ist: Wir brau-chen eine Kombination. Heimische Arbeitskräfte müs-sen weiter gefördert und qualifiziert werden; gleichzeitigbrauchen wir bedarfsorientiert eine kontrollierte Zuwan-derung. Wir haben eine Absenkung der Mindestver-dienstgrenze auf 40 000 Euro vorgeschlagen. Das erzäh-len Sie draußen auch immer herum. In der Praxis habenSie es aber noch immer nicht politisch umgesetzt.
Sie sagen immer, man müsse Brücken bauen und etwastun; aber Sie sind nicht bereit, hier voranzugehen, weiles zu diesem Punkt keine übereinstimmende Meinung inder Koalition gibt. In Wirklichkeit streiten Sie seit zweiJahren. Das ist schlimm für unseren Standort und wirftuns im internationalen Wettbewerb zurück.
Ein Beispiel dafür, wie kurzsichtig auch Ihre Energie-politik ist, ist die Laufzeitverlängerung für die Atom-kraftwerke, über die wir hier schon öfter diskutiert ha-ben. Dabei geht es auch um die Frage, was das fürunsere kleinen und mittelständischen Unternehmen be-deutet. Denn der Mittelstand wird durch eine solcheMaßnahme, wie Sie sie mit der Laufzeitverlängerung ge-troffen haben, massiv benachteiligt. Der Ausbau der re-generativen Energien wird gestoppt.
Die kleinen dezentralen Energieversorger wie die Stadt-werke werden ausgebremst. Es gibt wütende Briefe ausden Regionen, in denen eine dezentrale Versorgung mitBeteiligung des örtlichen Handwerks gefordert und fest-gestellt wird, dass diese Regierung mit der von ihr ge-troffenen falschen Entscheidung ein gut geplantes Ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10051
Christine Scheel
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schäftsmodell zunichte gemacht hat, und zwar zulastender Unternehmen vor Ort, vor allem der kleinen und mit-telständischen Betriebe.
Die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der KMU über-steigt die in den Atomkonzernen um ein Vielfaches. Dasist bekannt.Sie haben die Förderung des Handwerks angekündigt.Was haben Sie aber gemacht? Sie haben bei der energeti-schen Gebäudesanierung die Förderung zusammen-gestrichen. Sie haben die Förderung reduziert, obwohlalle wissen, dass das Investitionsvolumen in diesem Be-reich über 300 000 Arbeitsplätze in der BundesrepublikDeutschland sichert. Wir wissen, dass 1 Euro öffentlicheInvestitionen gerade in diesem Bereich weitere 9 Euroan Investitionen auslöst und dass der Staat letztlich überdie gezahlte Mehrwertsteuer mehr einnimmt, als er fürFörderung ausgibt. Auch daran wird klar, dass Sie denSchwerpunkt falsch gesetzt haben.Für uns steht fest: Der ökologische Mittelstand istweltmarktführend. Er ist innovativ und steht für die öko-logische Modernisierung. Bremsen Sie sie nicht aus!Denn die Unternehmen wollen ökologische Modernisie-rung. Sie wollen, dass es auf dem Weltmarkt vernünftigeProdukte gibt. Dann sind aber auch die entsprechendenRahmenbedingungen in Deutschland notwendig, umdiese Zukunftsorientierung leben zu können. Durch IhrePolitik machen Sie vielen das Leben ziemlich schwer.Danke schön.
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist derjenige Staat am besten verwaltet und re-giert, in welchem der Mittelstand der zahlreichsteist.
Dieses Zitat ist 2 400 Jahre alt. Es stammt von Aristotelesund trifft den Nagel auf den Kopf. Die Entwicklung inDeutschland 2010 ist der beste Beweis dafür, dass wirden Mittelstand brauchen. Ein guter Staat stärkt den Mit-telstand und macht ihn nicht kaputt. Deshalb hat dieseKoalition die Wirtschaftspolitik konsequent auf eineMittelstandspolitik umgestellt. Das werden wir auch sofortführen.
Der Aufschwung, den wir derzeit erleben, ist zu-nächst einmal von den Unternehmen und den Arbeitneh-mern erarbeitet worden. Das weiß niemand besser als je-mand, der wie ich selber aus einem Handwerksbetriebkommt. Deshalb haben wir gerade als Koalition immerkonsequent deutlich gemacht, dass der Aufschwung vorallem auf die Unternehmen und Arbeitnehmer zurück-geht. Es geht aber auch um vernünftige Rahmenbedin-gungen. Diese hat die Koalition im letzten Jahr in derKrise geschaffen und damit dazu beigetragen, dass esaufwärts ging.
Der Mittelstand war der Motor, der uns aus der Krisegezogen hat. Das war auch deshalb möglich, weilSchwarz-Gelb in Berlin und Stuttgart die größten Bro-cken aus dem Weg geräumt hat.
Wir haben die Wachstumsbremsen beseitigt, beispiels-weise durch die Entlastungen bei der Unternehmensteu-erreform und die mittelstandsfreundliche Regelung derUnternehmensnachfolge, mit der wir die größten Pro-bleme Ihrer Reform korrigiert haben.
Wir haben das auch deshalb getan, weil das Geld, das dabesteuert wird, schon zigmal versteuert worden ist.Sie haben das Thema Zinsen angesprochen, HerrGysi, die Sie höher besteuern wollen. Sie haben von ei-ner Politik für Kriminelle gesprochen. Sehr verehrterHerr Gysi, diejenigen, die in diesem Land sparen unddas tun, was wir von den Menschen erwarten, nämlichetwas von dem, was sie sich hart erarbeiten, fürs Alterzurückzulegen, sind diejenigen, die für ihr Erspartes Zin-sen bekommen, und diese Menschen beschimpfen Sieals Kriminelle.
Über diese Aussage sollten Sie einmal nachdenken, HerrGysi. Wir machen Politik für die Menschen in diesemLand, für den kleinen Mann und die kleine Frau, die sichanstrengen, die arbeiten und die sparen und davon auchetwas haben sollen.
Es war richtig, dass wir das Jahr 2010 mit einer Ent-lastung von 24 Milliarden Euro begonnen und damit ei-nen Impuls für die Binnennachfrage gesetzt haben.
Da komme ich zum Kollegen Friedrich, der hier gesagthat, wir wollten mehr Netto vom Brutto. Ja, wir habenmehr Netto vom Brutto.
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10052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Birgit Homburger
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Das Statistische Bundesamt hat gerade festgestellt, dassdie Nettolöhne so stark steigen wie seit 17 Jahren nichtmehr. Das ist ein Erfolg, den wir erreicht haben.
Herr Friedrich, dann stellen Sie sich hier hin und werfenausgerechnet dieser Koalition, die nachweislich erreichthat
– das sagt auch der Bund der Steuerzahler –, dass dieMenschen mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben,Lüge vor. Das sagt ausgerechnet jemand, der einer Parteiangehört, die einst keine Mehrwertsteuererhöhung wollteund dann eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentvorgenommen hat. Die größte Steuerlüge in dieser Repu-blik haben Sie zu verantworten.
Wir haben unsere Versprechen gehalten.
Sehr verehrter Herr Gysi, jetzt komme ich noch ein-mal zu Ihnen und Ihrer Rede, die Sie im WesentlichenHartz IV gewidmet haben. Wer wirtschaftliche Dynamiküber höhere Hartz-IV-Sätze regeln will,
der verkennt Ursache und Wirkung. Deshalb bleibt esrichtig, dass wir eine Politik zunächst einmal für diejeni-gen machen, die den Wohlstand in diesem Land erarbei-ten; sie müssen mehr haben als diejenigen, die nicht ar-beiten. Diese Politik werden wir konsequent umsetzen.
Dann haben Sie hier so wunderschön gesagt, wir soll-ten nicht alles gegen Berlin regeln. Ich will Ihnen nur sa-gen – vielleicht können Sie einmal mit Herrn WowereitKontakt aufnehmen –:
Sie haben eine riesengroße Chance. Wenn Sie morgenim Bundesrat unserem Vorschlag zur Reform vonHartz IV zustimmen,
dann bekommen Sie eine Entlastung der Länder und derKommunen, indem der Bund auf Dauer die Kosten derGrundsicherung übernimmt.
Das wäre etwas, was tatsächlich Entlastung für die Kom-munen bringen würde; das wäre etwas, was Sie machenmüssten. Deshalb, Herr Gysi, kann ich Ihnen nur emp-fehlen: Stimmen Sie dieser Reform zu!
Wir werden die Mittelstandspolitik konsequent fort-setzen. Wir werden das tun, indem wir entsprechendeRahmenbedingungen bei der Infrastruktur setzen.Frau Scheel, Sie haben die erneuerbaren Energien an-gesprochen. Ich sage Ihnen: Wir fördern erneuerbareEnergien. Wir haben zum ersten Mal einen Fonds für er-neuerbare Energien auf den Weg gebracht, mit dem wiretwas schaffen werden, was Sie nie erreicht haben.
Wir werden den Bereich Speichertechnologie konse-quent fördern; denn wer für die erneuerbaren Energieneine große Zukunftschance will, der muss vor allen Din-gen im Bereich der Speichertechnologie etwas tun. Mitunserem Fonds werden wir etwas reparieren, was Sieüber Jahrzehnte in der Politik verpennt haben.
Frau Kollegin Homburger, der Kollege Gysi möchte
Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, ich möchte gern zum Schluss meiner
Rede kommen.
– Also gut, wenn er unbedingt möchte.
Das wird ohnehin das krönende Finale Ihrer Rede,
weil ich Sie gleich darauf aufmerksam machen möchte,
dass mit der Beantwortung dann auch die Redezeit er-
schöpft ist.
Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Ich nehmeauch an, dass es der krönende Abschluss sein wird. Ichwüsste auch nicht, was sonst noch kommen sollte.
Frau Kollegin Homburger, ich habe zwei Fragen. Siehaben darüber gesprochen, dass Leute, die sparen unddie sich dieses Geld erarbeitet haben, zu unterstützensind. Ich habe nichts dagegen gesagt. Ich habe von denengesprochen, die ihre Steuerzahlungen reduzieren. DasArgument der FDP war immer: Weil bei den Zinsen soviel Steuern hinterzogen werden – und das ist kriminell –,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10053
Dr. Gregor Gysi
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muss man den Kriminellen entgegenkommen und dieSteuersätze senken.
Damit habe ich mich auseinandergesetzt und mit nichtsanderem.
– Ich möchte gerne beantwortet haben, ob sie das auchso sieht. Ich kann es auch als Frage formulieren.
Frau Enkelmann sagt gerade, in der Geschäftsordnungsteht, man kann auch eine Bemerkung machen, manmuss gar keine Frage stellen. Aber ich kann übrigensFragen stellen. Das fällt mir gar nicht schwer.Deshalb meine zweite Frage: Sie haben gesagt, denje-nigen, die das Ganze erarbeiten, solle es besser gehen.Da stimme ich Ihnen voll zu. Dann erklären Sie mirbitte, warum die FDP gegen einen flächendeckenden ge-setzlichen Mindestlohn ist, was generell zu einer Lohn-erhöhung führte. Es sind doch, glaube ich, in erster Liniedie sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die dieWerte in der Bundesrepublik Deutschland herstellen.
Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, das, wonach Sie ge-
rade gefragt haben, hat der Kollege Martin Lindner vor-
hin schon völlig richtig ausgeführt. Ihre Politik passt
überhaupt nicht zusammen. Sie ist in keiner Weise kon-
sistent. Wir wollen, dass durch eine Stärkung der Arbeit-
nehmer sowie durch eine Stärkung des Mittelstandes
möglichst viele Menschen in Deutschland die Chance
auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung er-
halten. Das haben wir ausweislich der Zahlen auch er-
reicht. Die niedrigste Arbeitslosigkeit und die niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit seit 20 Jahren, das ist ein Erfolg
unserer Politik. Diese Politik werden wir fortsetzen, und
zwar im Sinne der Menschen in diesem Lande.
Herr Gysi, Sie dürfen gerne stehen bleiben, denn Sie hat-
ten zwei Fragen gestellt.
Die zweite Frage bezog sich auf die Zinsen. Wir ha-
ben immer wieder deutlich gemacht: Aus unserer Sicht
ist es nicht fair, wenn man auf Erspartes Zinsen be-
kommt und auf diese Zinsen nochmals Steuern bezahlen
muss; denn das ersparte Geld ist bereits zuvor versteuert
worden.
Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb sind wir der
Meinung, dass wir den Menschen möglichst viel von
dem lassen wollen, was sie sich erspart haben.
Wir werden eine konsequente Mittelstandspolitik ma-
chen. Wir werden die Orientierung auf den Mittelstand
in der Steuerpolitik, beim Bürokratieabbau, in der Inno-
vationspolitik, bei Forschung und Entwicklung und bei
der Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Dies wird für die
Menschen in diesem Land die besten Ergebnisse brin-
gen, die man sich vorstellen kann. Wir sind angetreten,
weil wir mehr Chancen für mehr Menschen wollen. Das
werden wir konsequent umsetzen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Andrea Wicklein
für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der Regie-rungsfraktionen. Wenn ich mir den Antrag, den Sieeingebracht haben, anschaue, dann entsteht bei mir derEindruck, dass Sie Ihrem eigenen Minister Untätigkeitvorwerfen. Man könnte fast den Eindruck haben, Siemüssen Ihren eigenen Minister zum Jagen tragen.
Schon im ersten Satz des Antrags schreiben Sie richti-gerweise, dass die Unternehmen für den Aufschwungdes letzten Jahres verantwortlich sind. Ich möchte nochergänzen: Auch die weitsichtige Politik der SPD in derGroßen Koalition war maßgeblich dafür verantwortlich.Welchen Anteil aber der Bundeswirtschaftsminister andiesem Aufschwung hat, kann man nicht erkennen. Of-fensichtlich halten Sie von der Regierungskoalition esfür notwendig, nach anderthalb Jahren Schwarz-Gelb Ih-ren Minister aufzufordern, die beschlossenen Maßnah-men aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag endlich umzu-setzen. Minister Brüderle hat seit seinem Amtsantrittpressewirksam eine ganze Reihe von Initiativen gestar-tet, die angeblich dem Mittelstand zugutekommen: dieInitiative „Gründerland Deutschland“, die Initiative „In-ternet erfahren“ und die Initiative „Zukunftsmarkt zivileSicherheit“. Vor wenigen Tagen schließlich verkündeteder Minister spontan eine neue Technologieoffensive.Am laufenden Band Initiativen zu starten, ist reine An-kündigungspolitik.
Ganz offensichtlich, Herr Minister, sehen das die eige-nen Regierungsfraktionen genauso; denn sie halten esfür nötig, in ihrem Antrag ausdrücklich zu fordern, dassdie neue Technologieoffensive auch zügig umgesetztwird. Das zeugt nicht gerade von einem großen Ver-trauen in Ihr Regierungshandeln.Aber die Krönung des Ganzen ist, dass Herr Brüderlebereits im Januar 2010 einen Neun-Punkte-Plan für den
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10054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Andrea Wicklein
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Mittelstand verkündet hat und exakt am gleichen Tag einJahr später nun einen Sieben-Punkte-Plan für den Mittel-stand neu verkündet.
Wenn ich diese beiden Initiativen nebeneinanderlege,stelle ich fest, dass dem Wirtschaftsminister nichtsNeues eingefallen ist.
Da stelle ich doch ernsthaft die Frage: Was haben Sie indiesem Jahr getan? Offensichtlich nichts.
Entscheidend sind eben Taten, Herr Brüderle, und nichtAnkündigungen.Trotz der momentan guten Konjunktur liegen dochdie Probleme auf der Hand. Ich möchte einige heraus-greifen. Erstens. Stichwort: Gründungen. Auch wenn derTrend positiv ist, sind die Zahlen der Gründungen inDeutschland nach wie vor ernüchternd. Deutschlandnimmt unter den 18 hochentwickelten Volkswirtschaftenbei Existenzgründungen nur den vorletzten Platz ein. Ichfrage Sie: Wie und wann wollen Sie die Rahmenbedin-gungen für eine erfolgreiche Gründungskultur nun kon-kret verbessern? Was wollen Sie für eine bessere sozialeAbsicherung der Gründer tun? Wann intensivieren SieIhre Bemühungen, Genehmigungsverfahren zu vereinfa-chen? Welche Vorschläge haben Sie, gezielte Existenz-gründungshilfen auszubauen? Von Ihnen hört man da garnichts.
Zweitens. In Deutschland haben es Gründer nach wievor schwer, an das nötige Kapital zu kommen. Geradedie Finanzierung von der Geburt bis hin zu den erstenSchritten der jungen Unternehmen ist besonders schwie-rig. Jeder vierte Gründer klagt über große Probleme. Esist beunruhigend, wenn fast zwei Drittel der befragtenExperten die Finanzierungsbedingungen für Gründun-gen in Deutschland als besonders schlecht einstufen.Deshalb wäre es doch dringend geboten, Herr Brüderle,die Bedingungen für Wagniskapital zu verbessern. Ichfrage mich: Wann werden Sie die bereits im Januar 2010angekündigte Überprüfung der steuerlichen Verbesse-rung für Wagniskapital endlich abgeschlossen haben?
Wann können wir mit konkreten Vorschlägen für eineReform des Wagniskapitalbeteiligungsgesetzes rechnen?Als SPD setzen wir auf erfolgreiche Unternehmen, dieWagniskapital bereitstellen, auch unabhängig vom High-Tech-Gründerfonds; denn sie können ihre Erfahrungenmit den Gründern teilen. Das beweisen die Wagniskapi-talgesellschaften, die es bereits gibt. Wir haben das„Corporate Venture Capital“ genannt. Hier sollten Sieschnellstmöglich aktiv werden, um das zu erleichtern.Drittens: die Innovationsförderung. Auch dazu wurdeheute schon zu Recht etwas gesagt. Die Koalitionsfrak-tionen haben die steuerliche Förderung von Forschungund Entwicklung in ihren Antrag hineingeschrieben, ob-wohl sich, wenn ich mich richtig erinnere, Ihr KollegePfeiffer in der Bundestagsdebatte am 20. Januar von derEinführung der steuerlichen Förderung in dieser Legisla-turperiode bereits verabschiedet hat.
Unklar bleibt also, was Sie eigentlich wollen und wannSie damit beginnen wollen. Die SPD ist ganz klar für einesteuerliche FuE-Förderung. Diese soll die Projektförde-rung ergänzen. In Ihrem Antrag wird unter Punkt 7 wiedernur schwammig von der Einführung der FuE-Förderung„unter Berücksichtigung des gebotenen Konsolidierungs-kurses“ gesprochen.Sehr geehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen,zusammenfassend ist zu sagen, dass Sie sich mit Ihremgesamten Antrag nicht gerade mit Ruhm bekleckert ha-ben. Er ist unkonkret, und Sie schieben die Probleme vorsich her. Ich habe die Befürchtung, dass dem Motor Mit-telstand bald der nötige Schmierstoff ausgeht, um aufDauer das notwendige Tempo zu bringen.
Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gysi, Sie wollten sich heute als neuer Mittelstands-beauftragter präsentieren. Ich schätze ja Ihren Sinn fürsubtilen Humor. Ihre Partei ist mitnichten die Mittel-standspartei. Sie schafft es noch nicht einmal zur Mittel-maßpartei.
Sie haben gefragt, wo denn die Spareinlagen sind.Wissen Sie, Herr Gysi, mich würde wirklich interessie-ren, wo die Spareinlagen der SED-Vermögen gelagertsind. Auch das könnte von Interesse sein.
Diese Frage hören Sie nicht gern. Sie haben sich jarechtlich nicht davon losgesagt. Insofern müssten Sieauch wissen, wie gute Geldanlage außerhalb Deutsch-lands funktioniert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10055
Julia Klöckner
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, noch vor wenigen Jahren sprach das WallStreet Journal von Deutschland als dem kranken MannEuropas. Das war 2005 unter der Regierung von Bun-deskanzler Schröder. Und heute? Heute sieht es andersaus.
Heute spricht zum Beispiel die Washington Post davon,dass die deutsche Wirtschaft die stärkste in der Welt sei,und das unter der Regierung von BundeskanzlerinAngela Merkel.
Heute ist Deutschland zur Konjunkturlokomotive inEuropa geworden, und das übrigens in einer Zeit, in dersich andere Volkswirtschaften noch mühselig aus dieserKrise herauskämpfen.
Natürlich gibt es auch noch Nachwehen. Ich denke,an dieses Problem müssen wir mit Demut herangehen.Nichtsdestotrotz ist klar, dass unsere Wettbewerbsposi-tion nach dieser Finanz- und Wirtschaftskrise stärker istals zuvor. Nach etwa 3,6 Prozent Wirtschaftswachstumim vergangenen Jahr schauen wir jetzt auf 2,3 ProzentWachstum im Jahr 2011. Natürlich darf nicht jedesWachstum blind bejubelt werden. Umso mehr freut esmich, dass der Aufschwung an Breite und an Tiefe ge-wonnen hat. Die deutsche Wirtschaft engagiert sich nachwie vor intensiv im Export. Die Exportwirtschaft sichertArbeitsplätze.In diesem Zusammenhang möchte ich der Oppositioneines sagen: Auch die Ernährungswirtschaft sichert Ar-beitsplätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie sagen,es sei unanständig, wenn wir Nahrungsmittel produzie-ren und ins Ausland schicken, Sie sagen, wir würdennicht nachhaltig produzieren, weil wir über Bedarf pro-duzieren. Es ist unanständig, so etwas in den Ausschüs-sen zu behaupten.
Ich habe noch nie gehört, dass Sie sich über das impor-tierte argentinische Rindfleisch beschweren. Ich dankeallen, die an der Exportwirtschaft beteiligt sind, weil sieArbeitsplätze und Zukunft sichern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst das Sorgen-kind, das wir hatten, der inländische Konsum, hat sicherholt. So haben wir für 2011 eine Prognose von rund2 Prozent Steigerung. Und das Allerschönste ist: Auchdie Schröder’sche Massenarbeitslosigkeit haben wir weithinter uns gelassen.
Statt 5 Millionen Arbeitslose noch im Jahr 2005 habenwir jetzt nur noch 3 Millionen Arbeitslose, und die Ten-denz ist weiter sinkend, liebe Kolleginnen und Kollegen.Herr Heil, Sie müssen sich erinnern: Schröder sagte jaim Jahr 1998, er werde die Arbeitslosigkeit halbieren.Das hätte er gern für sich beansprucht.
– Sie sagen: Das haben wir geschafft. Spätestens daransieht man, dass das Bildungssystem an manchen Stellendes Mathematikunterrichts verbesserungsbedürftig ist.
Lieber Herr Heil, 5 Millionen Arbeitslose waren esunter Gerhard Schröder. Diese christlich-liberale Regie-rung hat es in greifbarer Nähe, dass die Arbeitslosigkeithalbiert werden wird. Das danken ihr die Menschen;denn sie sind in Lohn und Brot. 40 Millionen Menschensind in Beschäftigung. Das ist ein Ergebnis guter Politik,die Sie nicht schlechtmachen sollten. Es tut Ihnen weh;das weiß ich.
Aber dieses intelligente politische Krisenmanagement,dieses Szenario, war richtig und war wichtig. Wir habendie Kurzarbeit und die Konjunkturpakete auf den Weggebracht. Und noch eines: Würden Sie einmal mit demMittelstand sprechen, dann würden Sie auch erkennen,dass dabei genau das, was der Kollege Fuchs, was derKollege Brüderle, was die vielen anderen Kolleginnenund Kollegen der christlich-liberalen Koalition erkämpfthaben, nämlich die Entlastung in Höhe von 24 Milliar-den Euro seit Jahresbeginn 2010,
zum Tragen gekommen ist. Dass dies zum Tragen ge-kommen ist, spüren die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter. Deshalb sage ich: Herzlichen Dank all jenen, die be-reit sind zu investieren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es gehörtder Fairness halber dazu, zu sagen, dass Sie durchausökonomischen Sachverstand und Vernunft hatten, als Sienoch auf der Regierungsbank saßen,
zumindest waren Sie der ökonomischen Vernunft gegen-über aufgeschlossen. Das hat sich in der Opposition lei-der etwas gedreht. Wenn man jetzt betrachtet, was beiIhnen auf der Oppositionsbank los ist, dann merkt man,dass der Fachkräftemangel akuter ist als jemals gedacht.
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10056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Julia Klöckner
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Das zeigt schon allein die Tatsache, dass Herr Gabrieldie Liberalisierung der Zeitarbeit – übrigens ein echterErfolg der rot-grünen Agenda 2010 – plötzlich als zen-tralen Fehler bezeichnet und fröhlich die Rolle rückwärtsmacht.Schauen wir zum Beispiel nach Rheinland-Pfalz.
Dort gibt es Unternehmen wie Mercedes-Benz in Wörth,die das Prinzip eines dreistufigen Rekrutierungspro-grammes verfolgen. Dort wird schulbuchmäßig derje-nige, der ausscheidet, durch einen bisher befristet Be-schäftigten ersetzt, der nun unbefristet angestellt wird.Ein neuer Zeitarbeitnehmer erhält wiederum einen be-fristeten Vertrag. So rückt einer dem anderen nach. Sowurden 40 Prozent der Zeitarbeitnehmer zu festen Mit-arbeitern. Das ist ein Erfolgsmodell. Die Landesregie-rung in Rheinland-Pfalz möchte genau dieses abschaf-fen.
Herr Heil hat eine Nachfrage; ich erkläre es ihmgerne.
Dann will ich dem nicht im Wege stehen. Bitte schön,
Herr Kollege Heil.
Liebe Frau Klöckner, sehr gnädig von Ihnen, dass Sie
mir etwas erklären wollen. Deshalb darf ich Sie etwas
fragen: Sind Sie mit uns der Meinung, dass die Zeit- und
Leiharbeit für Unternehmen ein vernünftiges Flexibili-
tätsinstrument sein sollte, um die Auftragsspitzen von
Unternehmen abzudecken, nicht aber – hier mag der Un-
terschied sein – ein Einfallstor für Lohndumping? Ich
sage es noch einmal: Für Auftragsspitzen von Unterneh-
men ist Leiharbeit ökonomisch vernünftig, aber wir erle-
ben es, dass das Fehlen des Grundsatzes „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ zwischen Stamm- und Leihbeleg-
schaften
in der Zeit- und Leiharbeit zu Lohndumping führt.
Meine Frage an Sie, Frau Klöckner, ist: Ab wie vielen
Wochen oder Monaten sind Sie dafür, dass der Grund-
satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ uneingeschränkt
gilt?
Sind Sie wie die FDP der Meinung, dass die Grenze bei
neun Monaten liegen sollte? Ich sage Ihnen: Drei Mo-
nate, innerhalb welcher 50 Prozent der Arbeitnehmer
eingesetzt werden, sind die Grenze.
– Herr Kauder, beruhigen Sie sich doch einmal. Es ist
nicht gut für die Gesundheit, wie Sie sich aufregen.
– Herr Kauder, Dünnhäutigkeit ist das eine, aber wir
wollen doch mit Frau Klöckner die Frage klären.
Meine einfache Frage an die Spitzenkandidatin der
rheinland-pfälzischen CDU: Nach welcher Einarbei-
tungszeit gönnen Sie den Menschen gleichen Lohn für
gleiche Arbeit?
Lieber Herr Heil, es hilft, wenn man ins Gesetzschaut.
Wenn man darin liest, dann kann man einiges verstehen.Ich verstehe, dass es in der Opposition schwierig gewor-den ist, sich eine Position zu erkämpfen.
– Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Es ist unan-ständig, die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer zu beschimpfen, die über die Leiharbeit in feste Ar-beit gekommen sind.
Es ist unanständig, weil es viele Betriebe in Deutschlandgibt, die mithilfe der Leiharbeit die Auftragsspitzen ab-puffern konnten.
Es ist auch unanständig, dass Sie diese kritische Fragenicht Ihrem Parteikollegen Beck in Rheinland-Pfalz stel-len, der beim Nürburgring übrigens 400 Millionen Euroversenkt hat und jetzt als Landeseigentümer dort Lohn-dumping betreibt; denn die Putzkräfte dort verdienenweniger als 5 Euro pro Stunde.
Ich frage Sie: Wann werden Sie glaubwürdig?
– Lesen Sie das Gesetz!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10057
Julia Klöckner
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Ich bedanke mich sehr herzlich bei unserem Wirt-schaftsminister, ich bedanke mich bei unseren Kollegin-nen und Kollegen und vor allen Dingen beim Mittelstandin dieser Republik. Wir müssen es schaffen, die Bildungintensiv voranzutreiben und die Ausbildungsreife jungerMenschen zu garantieren, sodass es für viele Arbeitge-ber nicht mehr einer Lotterie gleichkommt, welchesWissen in welchem Abschluss steckt.
Deshalb müssen wir von dem Flickenteppich in Deutsch-land wegkommen. Ich fordere die SPD auf, sich der Ini-tiative der CDU-Länder anzuschließen, ein gemeinsamesAbitur oder auch gemeinsame Abschlüsse für die Sekun-darstufe I einzuführen;
denn eines ist klar: Nur mit gut ausgebildeten jungenMenschen und mit Freiheit für die Betriebe werden wirin Deutschland weiterhin die Lokomotive in Europasein.Noch einmal: Mein Dank gilt den Unternehmerinnenund Unternehmern sowie den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern.
Seien Sie gewiss: Die CDU und die FDP stehen an derSeite des Mittelstands. Wir werden sie nicht beschimp-fen, wie das die Opposition tut, weil sie damit Punktemachen will.Herzlichen Dank.
Willi Brase ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mansollte sich doch noch einmal an das erinnern, was in denletzten Jahren, vor allen Dingen im letzten Jahr, in denWirtschaftsberichten und von den Fachleuten zur wirt-schaftlichen Entwicklung zum Ausdruck kam. Es warendie Minister in der schwarz-roten Koalition, Steinbrück,Scholz und andere, die Anfang 2009 die Konjunkturpro-gramme I und II, die Kurzarbeitergeldregelung und dieAbwrackprämie auf den Weg gebracht haben. Das wurdeanerkannt. Das war der richtige Weg.
Man wird sich erinnern: Es waren die FDP und dieserHerr Wirtschaftsminister, die dagegen polemisiert ha-ben. Die Kurzarbeitergeldregelung von Scholz war dasabsolute Maß der Dinge. Darauf sind wir als Sozialde-mokraten stolz.
Wenn über Leiharbeit und über den Niedriglohnsektordiskutiert wird, muss man einmal zur Kenntnis nehmen,dass wir jährlich über 11 Milliarden Euro aus öffentli-chen Kassen, Staatsgeld, aufwenden, um Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern, die für wenig Geld arbeitenmüssen, eine Aufstockung zu zahlen. Dieses Geld auszu-geben, ist überflüssig. Deshalb brauchen wir einen ver-nünftigen Mindestlohn, und deshalb brauchen wir ver-nünftige Regelungen in der Leiharbeit.
In der Debatte heute ist nach meinem Dafürhaltendas, was wir kürzlich, am 25. Januar, im Handelsblatt le-sen konnten, nicht ausreichend thematisiert worden.Ernst & Young haben eine Erhebung durchgeführt, nachder die Hälfte der mittelständischen Firmen Umsatzein-bußen befürchten, weil Fachkräfte fehlen, der Fachkräf-tebedarf nicht ganz zu decken ist. Darauf haben wirschon in den letzten Jahren hingewiesen. Wir haben im-mer wieder, hier im Deutschen Bundestag und an-derswo, gefordert: Bildet mehr aus! Denn wer heute aus-bildet, hat morgen keine Probleme mit Facharbeitern.Wer nicht ausbildet, muss anfangen, mit dem Lasso zusuchen. Das ist der falsche Weg.
Rechtzeitig auszubilden, das ist Personalpolitik, sichertBeschäftigung, schafft Umsatz.Wir als SPD haben 2008 Papiere, Konzepte zumFachkräftebedarf vorgelegt. Ich will auf einen Themen-bereich hinweisen, für den heute keine Antwort gegebenworden ist; ich glaube aber, wir müssen ihn angehen.Sehr viele junge Leute im Übergang von der Schule zurBerufsausbildung, fast 400 000, sind im sogenanntenÜbergangssystem. Ich weiß, dass die Bundesbildungs-ministerin mit anderen dabei ist, diesen Dschungel zudurchforsten. Es gibt eine Vielfalt von Maßnahmen, diehöchst ineffizient sind. Es wird Zeit, dass wir hier nachdem Motto „Weniger ist mehr“ verfahren und mehrjunge Leute aus den sogenannten Übergangsmaßnahmenin konkrete Ausbildung führen. Dafür muss man Geld indie Hand nehmen und Aktivitäten entfalten. Das vermis-sen wir bei der Bundesregierung.
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10058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Willi Brase
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Bund und Länder sind in der Qualifizierungsoffensivefür Deutschland die Verpflichtung eingegangen, die Zahlder jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung von17 Prozent in 2008 auf 8,5 Prozent bis 2015 zu halbie-ren. Wenn wir dies tatsächlich schaffen, würden wirnicht nur etwas für den Mittelstand tun, sondern insge-samt für die jungen Menschen und für die Unternehmenin unserem Land.
Wir haben in Deutschland mittlerweile – das ist durchmehrere Studien belegt – über 2 Millionen junge Er-wachsene im Alter von 25 bis 35 Jahren ohne Berufsab-schluss. Wir haben junge Männer und junge Frauen mitMigrationshintergrund – 38 Prozent der Männer, 40 Pro-zent der Frauen –, die keine Ausbildung haben. Das sindMillionen von Menschen.Diese Zahlen verdeutlichen: Wir brauchen mehr In-vestitionen in Bildung, in Qualifikation, in Berufsausbil-dung. Wir sind der Auffassung, hier handelt diese Regie-rung zu wenig. Was macht sie denn? Sie kürzt undstreicht den Ausbildungsbonus, der dazu dient, die Zahlder Auszubildenden zu erhöhen. Entsprechende Umfra-gen – das stellt auch der Bundesrechnungshof in seinerBewertung fest – haben unter anderem ergeben, dass vorallen Dingen kleinere Unternehmen dank dieser finan-ziellen Unterstützung erstmals wieder in Ausbildungeingestiegen sind. Warum wird das gestrichen, wenn wirwissen: „Wir brauchen junge Leute!“?Sie haben den Rechtsanspruch darauf, einen Haupt-schulabschluss nachholen zu können, gestrichen. Sie ha-ben den Eingliederungstitel um 2 Milliarden Euro ge-kürzt. Auch das trifft junge Leute. Stattdessen wird überZuwanderung ausländischer Fachkräfte diskutiert. Mil-lionen junger Erwachsener ohne Berufsabschluss, unddann wollen wir noch welche hereinholen! Das ist derfalsche Weg. Die Arbeit in Deutschland muss mit denengemacht werden, die hier in Deutschland leben, liebeKolleginnen und Kollegen. Das wollen wir als SPD.
Letztendlich geht es doch darum, wenn wir den Mit-telstand stärken und ein Stück weit nach vorne bringenwollen, die Weiterbildungs- und Beschäftigungsfähig-keit zu erhöhen und den Menschen die Chance zu geben,ihre Arbeitskraft zu vernünftigen Bedingungen anzubie-ten. Die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und Wei-terbildung muss erhöht werden. Es müssen eine zweiteund dritte Chance eröffnet werden. Es muss dafür ge-sorgt werden, dass keiner zurückgelassen wird, dass dasNachholen von Schul- und Berufsabschlüssen möglichist – darauf habe ich schon hingewiesen – und dass dieZahl der Geringqualifizierten, die an Weiterbildungs-maßnahmen teilnehmen, bis 2015 auf 55 Prozent gestei-gert wird.Ja, hier stehen wir vor großen Aufgaben. Wir sind derAuffassung, dass man dabei Folgendes berücksichtigensollte: Je höher die betrieblichen Kosten, desto höher diefinanzielle Beteiligung der Betriebe und Unternehmen;je höher der persönliche Gewinn und das persönlicheBildungsnieveau, desto höher die Selbstbeteiligung desIndividuums; je niedriger das vorhandene Bildungs- undQualifikationsniveau und je höher die Benachteiligung,desto mehr Unterstützung vom Staat, vom Bund, vonLändern und Kommunen als Korrektiv für mehr Chan-cengleichheit für Benachteiligte auch im Weiterbil-dungsbereich. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wirauch im Sinne von Integration, im Sinne von Mitnehmenvon Menschen, die hier in unserem Land leben, einegroße Weiterbildungskampagne starten. Wir brauchensie. Sie ist notwendig und wichtig.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der Fachkräfte-mangel – darauf hat die Bundesagentur für Arbeit An-fang des Jahres hingewiesen – kann vermieden werden,wenn wir nicht weiterhin die Frauen von der Arbeitsweltausgrenzen.
Es wurden auch weitere Faktoren genannt: Es geht umQualifizierung und Weiterbildung; es geht um Reduzie-rung der Zahl der Studienabbrecher und der Ausbil-dungsabbrecher; es geht auch darum, die Zahl der Schul-abgänger ohne Abschluss zu reduzieren.Letztendlich lebt der Mittelstand davon, dass er guteArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Ich selberlebe in einer Mittelstandsregion. Das Ziel muss sein,gute Bezahlung für gute Arbeit durchzusetzen, statt denLeiharbeits- und den Niedriglohnsektor auszuweiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Hinsken ist der nächste Redner für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Auf diese heutige Mittelstandsdebatte habe ich mich ge-freut.
Um den Mittelstand steht es momentan Gott sei Dank re-lativ gut. Das ist vor allen Dingen dieser Bundesregie-rung zuzuschreiben.
Das soll auch die breite Öffentlichkeit wissen. Ihnenwerden wir es so oft sagen, bis Sie es endlich einmal ka-pieren und bereit sind, das zu schlucken.
Unser Mittelstand ist eine tief in diesem Staat veran-kerte Gesellschaftskraft: nah am Menschen und für dieGemeinschaft. Dass Deutschland so gut dasteht, dass esweit besser dasteht als alle europäischen Nachbarn, hat es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10059
Ernst Hinsken
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gerade seinem starken Mittelstand zu verdanken. Wenndie Politik also heute eine Lehre aus der Krise zieht – unddas muss sie –, dann die, dass sich Politik für den Mittel-stand lohnt. Daher kommt es jetzt, in Zeiten der kräftigenErholung, ganz entscheidend darauf an, dass die Bundes-regierung an einem mittelstandsgerechten und nachhalti-gen Kurs festhält. Nur so lässt sich der Aufschwung ver-stetigen.Herr Wirtschaftsminister Brüderle, Sie haben es zwarkurz, aber prägnant auf den Nenner gebracht, dass dasIhre Richtschnur für eine Politik im Sinne des Mittel-stands innerhalb der Bundesregierung ist.
Die Unionsfraktion ist die Fraktion zweier Parteienfür den Mittelstand. Wir lassen uns von niemandemübertreffen, wenn es speziell um die Stärkung des Mit-telstandes geht.
Unsere Politik ist zukunftsorientiert, verlässlich und leis-tungsfördernd. Das ist ein bisschen anders als das, waszum Beispiel Sie von den Grünen wollen.
Liebe Christine Scheel, Sie wollen doch den Mittel-stand belasten, indem Sie zum Beispiel die Bürgerversi-cherung einführen wollen und die Beitragsbemessungs-grenze auf 5 500 Euro deutlich anheben wollen.
Sie wollen eine Komplettsanierung aller Gebäude inner-halb von 40 Jahren und die vollständige Erzeugung vonStrom und Wärme aus erneuerbaren Energien. Das führtzu höheren Preisen und Mieten. Sie wollen, dass dieFreiberufler in Zukunft Gewerbesteuer zahlen. Sie wol-len den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anheben.
Das heißt schlicht und einfach auf den Nenner gebracht:Sie wollen die Leistungsträger unserer Gesellschaft nochmehr belasten, als sie ohnehin schon belastet sind. Damachen wir nicht mit.
Vernünftige Rahmenbedingungen sind das A und O, unddafür stehen wir.Selten hat der Mittelstand so zuversichtlich in die Zu-kunft geblickt wie zurzeit. Das möchte ich insbesonderean die Vorredner Herrn Friedrich von der SPD und anSie, Herr Gysi, gerichtet sagen. Das KfW-Ifo-Mittel-standsbarometer erreichte im Dezember 2010 einen Re-kordstand beim Geschäftsklima. Ein wichtiger Indikatordafür, wie der Mittelstand momentan dasteht, ist darin zusehen, dass sich die Eigenkapitalquote in der Krise ver-bessert hat. Sie stieg von 12,8 Prozent auf 15,6 Prozent.In diesem Jahr entstehen, so die Bundesregierung,320 000 neue Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Mittel-stand. Die über 4 Millionen mittelständischen Unterneh-merinnen und Unternehmer, Selbstständige in Industrie,Handwerk, Handel, Dienstleistungen und freien Berufensind damit der Motor für Wachstum, Beschäftigung undAusbildung in Deutschland. Dafür kann nicht genug ge-dankt werden. Dafür gilt es sich nachhaltig immer wie-der einzusetzen.
– Selbstverständlich dürfen Sie.
Bitte sehr, Herr Kollege Gysi.
Herr Hinsken, ich habe nur eine Frage: Haben Sie zur
Kenntnis genommen, dass das Barometer, von dem Sie
gesprochen haben, auch veröffentlicht hat, dass 25 Pro-
zent der Kreditverhandlungen der kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen mit den Privatbanken schei-
tern, das heißt, dass sie keine Kredite bekommen? Was
gedenken Sie denn dagegen zu tun? Sollten wir viel-
leicht eine direkte Förderung unter Umgehung der IKB
und der Geschäftsbanken ins Auge fassen, also andere
Wege einschlagen, um die Zahlungsfähigkeit der ent-
sprechenden Unternehmen zu erhöhen?
Erstens, verehrter Herr Kollege Gysi, sind nicht25 Prozent der Kreditverhandlungen negativ betroffen.
Zweitens möchte ich ausdrücklich darauf verweisen:Wenn es hinten und vorne fehlt, dann geht halt nichts.Das ist ein Stück Ordnungspolitik, der wir Rechnung zutragen haben.
– Ich bin noch nicht fertig.
Wir werden vor allen Dingen das Notwendige ma-chen. Ich finde es gut, dass der Bundeswirtschaftsminis-ter einen Kreditmediator eingesetzt hat
– wenn ich schon gefragt werde, dann möchte ich auchantworten dürfen –, weil ich nach einem Gespräch mitHerrn Metternich in Erfahrung bringen durfte, dass al-lein im letzten Jahr über 1 000 Fälle beraten wurden, wo-
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10060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Ernst Hinsken
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nach davon allein 750 auf die Beratung entfallen unddass bei 247 Fällen intensiv direkt Einfluss genommenwurde. Zu guter Letzt konnten 45 Betriebe mit einemVolumen von 60 Millionen Euro auf der einen Seite unddem weiteren Verbleib von über 3 100 Arbeitsplätzenauf der anderen Seite gerettet werden. Es ist für michschon wichtig, das in der Antwort auf Ihre Frage auszu-führen.
Herr Kollege Hinsken, Sie können jetzt auch in Ihrer
vorbereiteten Rede fortfahren.
Ich lasse eine weitere Zwischenfrage zu.
Ich möchte eine kleine Zusatzfrage stellen. Basel III
wird die Bedingungen für die Kreditvergabe verschär-
fen. Es gibt kein Gegensteuern der Regierung. Meinen
Sie nicht, dass man etwas dagegen tun müsste?
Herr Gysi, auch hier liegen Sie ein bisschen falsch:
Die Regierung steuert selbstverständlich entgegen; sie
hat das Interesse des Mittelstandes im Auge. Die Regie-
rung wird speziell bei Basel III das Notwendige an Maß-
nahmen und Anreizen tun, das unserer Wirtschaft dient.
Sie können versichert sein: Die Regierung kann das bes-
ser als Sie.
Meine Damen und Herren, zurzeit führen wir eine
große Diskussion über die Frauenquote.
Hier möchte ich die Wirtschaft auffordern, es dem Hand-
werk, einem der größten Mittelstandsbereiche, nachzuma-
chen; denn hier sind Frauen in den Betrieben längst auf
dem Vormarsch. Jedes vierte Handwerksunternehmen
wird zurzeit von einer Frau gegründet. Bei den Meistern
ist ein konstanter Frauenanteil von über 20 Prozent, bei
den Lehrlingen von über 27 Prozent festzustellen. Immer
öfter übernehmen die Töchter den Familienbetrieb und
bringen schon in jungen Jahren viel Ideenreichtum und
Gründerwissen mit.
Warum ist diese Mittelstandsdebatte so wichtig? Weil
sowohl in Europa als auch in den USA die kleinen und
mittleren Unternehmen fast überall die Gesamtzahl der
Unternehmen ausmachen: Über 99 Prozent der Betriebe
sind KMU. Im Jahr 2005 waren in der EU fast 20 Millio-
nen Unternehmen im nichtfinanziellen Sektor der ge-
werblichen Wirtschaft tätig. Diese Betriebe zeigen Flexi-
bilität. Sie sind bereit, sich zu behaupten; sie sind bereit,
alles zu machen und zu tun, um nicht unterzugehen.
Was die Gründungsdynamik anbelangt, ist noch etwas
zu machen. Wir brauchen auch in der Bundesrepublik
Deutschland mehr denn je eine starke Gründungswelle.
Ich bin der Meinung, dass die jungen Mitbürger in den
Schulen nicht mehr nur ausgebildet werden sollten, um
einmal tüchtige Arbeitnehmer zu werden, sondern auch,
um einmal tüchtige Unternehmer zu werden, also den
Weg in die Selbstständigkeit zu gehen.
Was den Fachkräftemangel anbelangt, verehrte Frau
Kollegin Scheel, bin ich der Meinung, dass dieses Pro-
blem nicht isoliert gesehen werden darf; es muss viel-
mehr mit dem Thema der Verlängerung der Lebens-
arbeitszeit in Verbindung gebracht werden. Ich kann mir
durchaus vorstellen, dass ein älterer Mitbürger bereit ist,
sich bis zum 67. Lebensjahr voll und ganz einzubringen,
wenn er eine Wochenarbeitszeit von weniger als
40 Stunden – vielleicht von 25 oder 30 Stunden – zu ab-
solvieren hat.
Da ist vor allen Dingen die Wirtschaft gefordert, etwas
zu machen und zu tun. Denn eines steht unbestritten fest:
Bis zum Jahr 2025 wird das Erwerbstätigenpotenzial in
Deutschland um mindestens 5 Millionen Personen zu-
rückgehen.
Meine Damen und Herren, wenn ich bei Veranstaltun-
gen bin, werde ich von einzelnen Mittelständlern oftmals
gefragt: Was tut ihr denn überhaupt? Es ist doch unmög-
lich, diese – –
Herr Kollege, Sie können jetzt nicht ausführlich von
Ihren Gesprächen berichten, sondern allenfalls eine
kurze, zusammenfassende Bemerkung dazu machen.
Jawohl. Ich möchte dann nicht von diesen wichtigenGesprächen berichten,
obwohl das sehr erleuchtend gewesen wäre.Ich erlaube mir, darauf zu verweisen, dass die von unsvorgeschlagenen 15 Punkte viele Maßnahmen beinhal-ten. 10 Punkte davon sind exzellent. Diese gilt es umzu-setzen.
Wir werden das machen und tun, um die Herausforderun-gen zu meistern. Denn wenn wir Deutschland auf Erfolgs-kurs halten wollen, brauchen wir keine „Dagegen“-, son-dern eine „Dafür“-Kultur. Dafür stehen wir, nicht Sie.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10061
Ernst Hinsken
(C)
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Die Kollegin Lena Strothmann erhält nun das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deut-sche Handwerk ist eine echte Jobmaschine. Wir erwartenin diesem Jahr mindestens 25 000 neue Arbeitsplätze.Wenn wir in Deutschland vom Mittelstand als Jobmotorund als Motor für Wachstum und Beschäftigung spre-chen, dann reden wir immer auch über das Handwerk;denn mit seinen rund 1 Million Betrieben macht dasHandwerk rund ein Viertel des gesamten Mittelstands inDeutschland aus. Knapp 5 Millionen Menschen arbeitenin Handwerksbetrieben, und fast 500 000 junge Men-schen bekommen dort eine qualifizierte Ausbildung. Da-mit sind 11,8 Prozent aller Erwerbstätigen und knapp30 Prozent aller Auszubildenden im Handwerk tätig.Leider wird das Handwerk häufig unterschätzt – ichhoffe allerdings, in diesem Hohen Hause nicht mehr –,
obwohl sich das Handwerk seit vielen Jahren als stabili-sierender Faktor unserer Wirtschaft erweist. Mit seinerKraft und mit seiner Substanz hat das Handwerk auchdie Wirtschaftskrise sprichwörtlich gemeistert. Zugege-benermaßen mussten wir mit einigen Maßnahmen unter-stützen. Ich nenne hier zum einen die Verdoppelung desSteuerbonus auf Handwerkerleistungen. Diesen solltenwir in jedem Falle fortführen.
Zum anderen konnten wir mit der Aufstockung der För-dermittel für die energetische Gebäudesanierung und fürenergieeffizientes Bauen
in Deutschland 290 000 Arbeitsplätze sichern. Auch die-ses Programm sollten wir in Zukunft fortführen.
Ohne die grundsätzlich gute Struktur und ohne denWillen, Arbeitsplätze zu erhalten und junge Menschenauszubilden, wäre das Handwerk nicht gestärkt aus derKrise herausgekommen. Auch das gehört zur Wahrheit.Der Aufschwung, an dem wir alle hart gearbeitet haben,ist jetzt da. Die Stimmung im Handwerk ist sehr gut.„Das Handwerk genießt den Aufschwung“, „Das Hand-werk hat Appetit auf den Aufschwung“, so titelte in die-ser Woche die Presse in meiner Heimat Ostwestfalen-Lippe. Bundesweit erwarten wir im kommenden Jahr einUmsatzplus von 5 Prozent. 84 Prozent der Betriebe se-hen ihre Zukunft positiv und sind zufrieden. Das sindimmerhin 10 Prozent mehr als noch im vergangenenJahr.Meine Damen und Herren, ich kenne meine Hand-werker. Sie sind bei Zukunftsprognosen und Konjunktur-umfragen immer eher vorsichtig und eher skeptisch.Deshalb sind die aktuellen Aussagen für mich der besteBeweis für den Stimmungsumschwung in unseremLand. Bürgerinnen und Bürger investieren wieder inWerte, in Haus, Hof und Garten. Die Betriebe erhaltenmehr Aufträge, sie haben wieder Freude an der Zu-kunftsplanung, an Investitionen und Innovationen. Esgeht ihnen gut, und sie haben mit der christlich-liberalenBundesregierung einen verlässlichen Partner.
Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass sich diese posi-tive Entwicklung fortsetzt. Ein wichtiger Grundstein fürdieses Fortkommen sind die Innovationen. Sie sind derMotor für Wirtschaftswachstum. Auch hier ist das Hand-werk gefragt; denn es ist entgegen der landläufigen Mei-nung besonders innovativ. Laut einer Prognos-Studie istes sogar hochinnovativ; denn das Handwerk ist immerdirekt an der Umsetzung neuer Technologien im Großenund im Kleinen beteiligt. Ohne das Handwerk kommtkeine Photovoltaikanlage auf das Dach, und ohne dasHandwerk würden keine schadstoffarmen Autos auf derStraße fahren.
Täglich stellen Handwerker ihre Innovationskraft un-ter Beweis, wenn sie für den Kunden individuelle Lö-sungen entwickeln und einbauen. Die kontinuierlicheEntwicklung innovativer Produkte gehört, auch wenn siein der Regel nicht beim Patentamt landen, zum Selbst-verständnis des Handwerks. Vom Rad aus Stein bis zurLeichtmetallfelge – ohne das Handwerk wäre dieserFortschritt nicht möglich gewesen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, es werden auch in Zukunft große Herausfor-derungen auf uns zukommen. Wir haben in unserer Ge-sellschaft immer mehr ältere Menschen. Die Menschenwerden dank das medizinischen Fortschritts immer älter.Dadurch ändern sich auch die Anforderungen an Woh-nungen, Straßen und öffentliche Gebäude. Wir müssensie seniorengerecht gestalten bzw. umgestalten. Es wer-den also viele neue Dienstleistungen in diesem Senioren-markt notwendig sein. Ohne das Handwerk ist auch dasnicht zu schaffen.Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist nicht nurfür unsere Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch fürunsere Gesellschaft, dass die Innovationskraft des Hand-werks gestärkt wird. Voraussetzung für solche Innovatio-nen sind qualifizierte Fachkräfte.
Leider melden bereits viele unserer Betriebe, dass siekeine Nachwuchskräfte finden. Deswegen brauchen wirdringend gut ausgebildete junge Menschen. Nur mit ih-nen können wir auch im europäischen Wettbewerb unse-ren hohen Qualitätsstandard halten und damit Ausbil-
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10062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Lena Strothmann
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dungsplätze, Arbeitsplätze und unseren Wohlstandsichern.Allerdings fehlten allein im Herbst bereits 7 000 Aus-zubildende. Diese Lücke wird sich noch vergrößern,wenn wir nichts dagegen tun. Deswegen müssen wir mitder Vorstellung aufräumen, im Handwerk gebe es nureinfache Tätigkeiten.In den vergangenen Jahren hat sich im Handwerk vie-les geändert. Die handwerkliche Arbeit erfordert mehrtechnisches Wissen. Sie ist anspruchsvoller geworden,und die Berufsbilder der 150 Ausbildungsberufe verän-dern sich. Gleichzeitig steigen damit aber die Anforde-rungen an die Bewerber und die Berufsausbildung. Des-halb ist es in Zukunft wichtig, leistungsstarke Schülerfür das Handwerk zu gewinnen.Das ist eine Herausforderung, der sich das Handwerkstellen muss; denn die Schulabgänger der Gymnasien ha-ben oft eine andere Lebensplanung, wollen ausschließlichan die Hochschulen. Wir dürfen uns als Politik diesemTrend nicht anschließen und nicht schwerpunktmäßig al-lein die akademische Ausbildung fördern. Eine Ausbil-dung im Handwerk ist eine gute Alternative zum Stu-dium. Außerdem sucht die Wirtschaft junge Menschenmit Praxisbezug. Sie bietet ebenso zahlreiche Chancenund Aufstiegsmöglichkeiten. Meine Damen und Herren,wir brauchen also nicht nur Fachkräfte, sondern auch jungeMenschen, die Unternehmen übernehmen. Wir brauchenqualifizierte Nachfolger für unsere Betriebe.
Die Bundesregierung unterstützt dankenswerterweiseschon jetzt die Betriebe beim Generationswechsel mitder Aktionsplattform „nexxt“.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam-menfassen. Natürlich brauchen wir mehr Akademiker inunserem Land, aber unter dem Fachkräftemangel leidetauch das Handwerk. Deshalb muss die duale Ausbildungein Schwerpunkt unserer Bildungspolitik bleiben. Diesgilt es, nach allen Seiten zu verteidigen. Zusätzlichbraucht das Handwerk Unterstützung beim Fachkräfte-mangel, bei der Unternehmensnachfolge und bei derUmsetzung von Innovationen. Damit verstetigen wir denAufschwung, sorgen für Arbeits- und Ausbildungsplätzeund sichern Wachstum und Wohlstand in unserem Land.Herzlichen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dieter Jasper für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im letzten Jahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum von3,6 Prozent. In diesem Jahr wird mit einem Wachstumvon 2,3 Prozent gerechnet. Die Arbeitslosigkeit ist mitrund 3 Millionen Arbeitslosen so niedrig wie seit zweiJahrzehnten nicht mehr. Die Inflationsrate liegt zwischen1 Prozent und 2 Prozent.Dieser Dreiklang aus hohem Wirtschaftswachstum,sinkender Arbeitslosigkeit und niedriger Inflationsratehat dazu geführt, dass wir vom kranken Mann in Europazur europäischen Wachstumslokomotive geworden sind.Diese überaus positive Entwicklung hat natürlich Ursa-chen. Es sind in erster Linie kleine und mittelständischeUnternehmen, die mit Risiko und LeistungsbereitschaftWachstum, Wohlstand und Innovation gesichert haben.Vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag habeich fast 20 Jahre lang als mittelständischer Familienun-ternehmer gearbeitet. Wir betätigen uns im Bereich desMaschinenbaus. Seit vielen Jahren sind wir es gewohnt,uns dem nationalen und internationalen Wettbewerb zustellen. Somit bin ich dem Mittelstand nicht nur verbun-den, sondern ich weiß aus eigener Erfahrung, wie einMittelständler fühlt und agiert,
welche Erwartungen er hat und welche Dinge für ihnwichtig sind.Eine oft gestellte Frage ist, was wohl das wichtigsteund wertvollste Gut unseres Unternehmens ist. Da brau-che ich nie lange zu überlegen: Es ist der Mensch. Eineder Grundvoraussetzungen für ein mittelständisches Un-ternehmen sind gut qualifizierte und motivierte Mitar-beiter.
Die besten Anlagen und Maschinen sind wertlos, wennkeine Menschen da sind, um diese zu bedienen. Aus die-ser Erkenntnis heraus ist die Akquisition und vor allemder Erhalt von qualifiziertem Personal eine der wichtigs-ten Aufgaben, die ein mittelständischer Unternehmerhat. Gerade vor dem Hintergrund der demografischenEntwicklung muss alles getan werden, um vermehrt leis-tungsstarke Schulabgänger für eine betriebliche Berufs-ausbildung zu gewinnen.Hier hilft der im Oktober letzten Jahres von der Bundes-regierung, den Ländern und der Wirtschaft unterzeichneteNationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs.In diesem Programm wird auch der Tatsache Rechnunggetragen, dass es weiterhin viele junge Leute gibt, dieSchwierigkeiten beim Übergang in die Ausbildung ha-ben. Es ist wichtig, dass wir hier niemanden zurücklas-sen. Dennoch muss immer wieder betont werden – das hatauch meine Kollegin Lena Strothmann getan –, dass auchund gerade im handwerklichen und im industriellen Be-reich eine gute Ausbildung und eine gute Qualifikationvon herausragender Bedeutung sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10063
Dieter Jasper
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Ein zentraler Punkt, über den gerade in den letztenTagen wieder vermehrt diskutiert wurde, ist die Verbes-serung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dastrifft insbesondere auf die Frauen zu.
– Ja, das finde ich. – Wir können es uns nicht erlauben,auf hochqualifizierte weibliche Fachkräfte zu verzich-ten, nur weil keine Möglichkeiten der Kinderbetreuungvorhanden sind. Neben staatlichen Angeboten gibt es inunserer Region bereits etliche Firmen, die sich in diesemBereich besonders hervortun und durch familiengerechteAngebote ganz neue Facharbeiterschichten für sich er-schließen. Für viele Berufstätige sind neben dem Lohngerade auch diese maßgeschneiderten familiengerechtenJobangebote von zentraler Bedeutung, wenn sie sich umeinen Arbeitsplatz bewerben.Noch eines wird deutlich: In Zukunft werden die Un-ternehmen immer mehr um Mitarbeiter und Mitarbeite-rinnen werben und kämpfen. Viele Mittelständler habendiese Situation erkannt und reagieren entsprechend. Umden eigentlichen Arbeitsplatz herum entstehen vielfäl-tige Angebote, um Mitarbeiter zu finden, zu binden undzu motivieren.Das gilt natürlich auch für die älteren Mitarbeiter. Wirmüssen Vorbehalte aufgeben und mit falschen Vorurtei-len aufräumen. Die Erfahrung dieser Menschen ist unbe-zahlbar. Es bedarf oft nur kleiner Hilfestellungen, damitsie weiterhin aktiv und produktiv am Erwerbsleben teil-nehmen können. Das ist nicht nur betriebswirtschaftlich,sondern auch volkswirtschaftlich von hohem Nutzen.Entscheidend ist der richtige Mix aus Auszubildenden,alten und jungen Menschen. Wenn dieser Mix gelingt,dann ist das die beste Voraussetzung für ein erfolgreichesgemeinsames Wirtschaften. Ist dieser Mix einmal gefun-den, dann wird ein Mittelständler alles tun, um diesen zuerhalten. Gerade in den Zeiten der Krise haben viele Un-ternehmer an ihren Mitarbeitern festgehalten, damit imAufschwung wieder eine schlagkräftige Mannschaft zurVerfügung steht.Auch hier zeigt sich wieder, dass insbesondere kleineund mittelständische Unternehmen nicht in Quartalser-gebnissen denken, sondern in längerfristigen Zeiträu-men. Dieses Denken wurde durch die von der Bundesre-gierung beschlossene Regelung zum Kurzarbeitergeldunterstützt. Nur so konnte aus gemeinsamer Kraft gelin-gen, dass wir gestärkt aus der Krise herausgekommensind. Es zeigt sich, dass sich Wirtschaftspolitik nicht inschönen Worten erschöpft, sondern an der richtigenStelle ganz konkret helfen kann.Eine weitere Frage, die oft gestellt wird, ist, was unsMittelständler am meisten beschwert. Da fallen mir zweiStichworte ein: die Bürokratie und die Energie. Dieüberbordende Bürokratie ist für jedes Unternehmen einegroße Last. Gerade die kleinen und mittelständischenBetriebe leiden besonders. Hier fehlt es oft an Know-how und an Personal, um den Abgabe- und Informa-tionspflichten gerecht zu werden. Hier ist nicht nur derDeutsche Bundestag aufgefordert, den Bürokratieauf-wand deutlich zu reduzieren.Der Normenkontrollrat macht in unserem Parlamenteine gute Arbeit und bekommt zunehmend mehr Aufga-benstellungen zugewiesen. Eckart von Klaeden be-schreibt die Situation treffend, wenn er formuliert, dasses mit den Bürokratiekosten so ist wie mit Zahnschmer-zen: Wenn du sie hast, bringen sie dich fast um, wenn sieweg sind, hat man sie auch schnell wieder vergessen. –Dennoch ist nicht nur der gefühlte, sondern auch der tat-sächliche Bürokratieaufwand enorm. Diese Hemmnissemüssen nicht nur auf deutscher, sondern auch auf euro-päischer Ebene konsequent abgebaut werden. Die Unter-nehmen brauchen Luft zum Atmen, für Engagement undEigeninitiative.Auch das Thema Energie möchte ich kurz anreißen.Bei allem Streben nach einer Zukunft mit einer Energie-versorgung aus ausschließlich regenerativen Energie-quellen darf die damit einhergehende immense Kosten-belastung der Unternehmen nicht vergessen werden. Essind gerade die kleinen und mittelständischen Unterneh-men, die standorttreu und standortgebunden sind. DieEnergiekosten sind für sie ein Fixum, da sie in der Regelnicht die Möglichkeit haben, auszuweichen und ihreProduktionsstätten ins Ausland zu verlagern.Zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähig-keit ist es deshalb wichtig, Energiepolitik nicht ideologisch,sondern ökonomisch und sachorientiert zu betreiben. DieBezahlbarkeit und die Sicherheit der Energieversorgungsind normative Voraussetzungen für die Existenz einesBetriebes. Die kumulierte Belastung aus Strompreis,Stromsteuer, EEG-Abgabe, Emissionshandel usw. darfdie Unternehmen nicht erdrücken und ihrer Wettbewerbs-fähigkeit berauben.Es gibt viele Themen, die den Mittelstand berühren:Fragen der Unternehmensnachfolge und der Finanzie-rung, Forschung und Entwicklung, Rohstoffsicherheitund viele andere mehr.Viele dieser Fragestellungen werden von uns in derchristlich-liberalen Koalition richtig erkannt. ZahlreicheAktivitäten wie die Hightech-Strategie, der NationalePakt für Ausbildung, die Mittelstandsinitiative usw. sindmehr als nur Schritte in die richtige Richtung. Der Mit-telstand ist das Herzstück unseres Wirtschaftssystems.Wir müssen daran arbeiten, einen effizienten Ordnungs-und Handlungsrahmen zu schaffen, in dem dieses Herz-stück seine optimale Leistung erreichen kann.Während andere Parteien in diesem Hause kommunis-tischen und sozialistischen Ideologien nachjagen, sindwir bereit, uns den Realitäten zu stellen und auf denGrundprinzipien der Marktwirtschaft eine sachorientierteund zweckgebundene Wirtschaftspolitik zu betreiben.Das ist gut für unsere Unternehmen, und das ist gut für dieMenschen in unserem Land.Danke schön.
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10064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/4684 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, da-
mit sind Sie einverstanden. – Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Petra
Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Festsetzung des Mindestloh-
nes
– Drucksache 17/4665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes für die Einführung flächende-
ckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einfüh-
– Drucksache 17/4435 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung die Aussprache 90 Minuten dauern. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt dem Deut-schen Bundestag heute den Entwurf eines Gesetzes zurEinführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Wir ha-ben dafür gute Gründe. Über 20 Prozent der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeitenderzeit im Niedriglohnsektor. Übrigens: 70 Prozent der-jenigen, die dort arbeiten, sind Frauen. Wir haben die Si-tuation, dass laut Studien mittlerweile über 5 MillionenMenschen in Deutschland weniger als 8 Euro die Stundeverdienen, Herr Hinsken. Weniger als 8 Euro die Stunde!Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass 1,2 Mil-lionen Menschen in diesem Land weniger als 5 Euro dieStunde verdienen,
dann muss man feststellen: Handeln ist geboten. WerLeistungsgerechtigkeit will, wer will, dass es einen gu-ten und anständigen Lohn für gute Arbeit gibt, derbraucht den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland.Es ist Zeit, zu handeln.
Es geht um Anstand, um anständige Löhne, um Leis-tungsgerechtigkeit. Es geht aber auch, meine Damen undHerren von der Koalition, um fairen Wettbewerb zwi-schen Unternehmen. Es findet ein Dumpingwettbewerbzuungunsten bzw. zulasten anständiger Unternehmerin-nen und Unternehmer statt, die anständige Löhne zahlenwollen, die aber den Druck, der entsteht, wenn sie beimLohnniveau mit Schmutzkonkurrenz konfrontiert wer-den, nicht mehr aushalten. Diese Unternehmen brauchenfairen Wettbewerb. Auch deshalb brauchen wir einen ge-setzlichen Mindestlohn in Deutschland.
Außerdem sind es die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler, die uns heute am Fernseher zuschauen oder obenauf den Zuschauerbänken sitzen – –
– Herr Lindner geht und brüllt; so kennen wir ihn. Ichsage Ihnen: Das zeigt auch, welche Wertschätzung er ge-genüber den arbeitenden Menschen in Deutschland indieser Stunde hat.
Es sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in die-sem Land, die Jahr für Jahr insgesamt 11 MilliardenEuro aufbringen und dafür sorgen müssen, dass Armuts-löhne aufgestockt werden können. 11 Milliarden Eurogeben wir im Bundeshaushalt für ergänzendes Arbeitslo-sengeld II aus. Ich gebe zu: Die Hälfte der Betroffenensind nicht in Vollzeitarbeit, sondern sind Minijobber.
Aber auch für diesen Bereich gilt: Es werden Stunden-löhne gezahlt, von denen die Menschen nicht leben kön-nen.Die andere Hälfte ist zum großen Teil in Teilzeit, wer-den Sie sagen. Aber es bleibt ein erklecklicher Teil, über360 000 Menschen in Deutschland, der von morgens bisabends schuftet, nicht genug Geld hat, um leben zu kön-nen, und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amtholen muss. Das ist nicht nur gegenüber den Familienund den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die hartarbeiten, unwürdig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10065
Hubertus Heil
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Es ist ökonomischer Unsinn, dass wir in diesem Landmit immer mehr Geld der Steuerzahler staatliche Ar-mutslohnbewirtschaftung zu leisten haben.
Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt.Wir wollen den Vorrang für tarifvertragliche, branchen-übliche Mindestlöhne, wie wir sie in vielen Branchenschon durchgesetzt haben. Wir wollen im Übrigen dafürsorgen, dass solche Löhne einfacher durchzusetzen sind,indem wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allenWirtschaftszweigen die Möglichkeit eröffnen, zu Min-destlöhnen zu kommen. Wir wollen einen Vorrang für ta-rifvertragliche Lösungen.Wir brauchen allerdings auch den gesetzlichen Min-destlohn. Wir erleben in vielen Bereichen, dass Tarif-autonomie nicht mehr vernünftig funktioniert, weil Ar-beitgeberverbände und auch Gewerkschaften nicht gutgenug organisiert sind. Dies führt zu dem Ergebnis, dasses zu keiner anständigen Lohnfindung kommt.Lassen Sie mich an dieser Stelle, wie es heute Morgenschon geschehen ist, den Bezug schaffen zu den Ver-handlungen, die gestern an der Unwilligkeit und der Un-fähigkeit der schwarz-gelben Koalition vorerst geschei-tert sind.
– Nein. Ich will Ihnen das sagen. Herr Hinsken, ich warja dabei. Ich habe es doch erlebt. – Am Montag undDienstag hieß es, Frau Merkel werde das jetzt zur Chef-sache machen. Die Chefsache, die sie geleistet hat, war,ihre Koalition auf ein Njet zu allen Vorschlägen, die wirgemacht haben, zu verständigen. Wenn das Chefsacheist, Herr Altmaier, dann ist mir angst und bange um dieZukunft des Landes in der Zeit, in der Frau Merkel nochBundeskanzlerin ist. Chefsache bedeutet bei IhnenScheitern.
Wir haben in mehreren Bereichen Vorschläge ge-macht. Wir müssen uns bemühen – darüber wird noch ananderer Stelle zu reden sein –, den Regelsatz im BereichHartz IV verfassungskonform zu gestalten.
Wir haben nach wie vor erhebliche Zweifel an dem,was Frau von der Leyen vorgelegt hat.Beim Bildungspaket fehlt die Berücksichtigung derSchulsozialarbeit. Sie ist notwendig, um tatsächlich da-für zu sorgen, dass Kinder aus sozial schwachen Fami-lien Hilfe bekommen.Ich empfinde es geradezu als ein Stück aus dem Toll-haus, dass diese Koalition überhaupt nicht dazu bereitist, etwas gegen den Missbrauch von Zeit- und Leih-arbeit zu tun.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist weder christlichnoch liberal.Zeit- und Leiharbeit können und sollen ein vernünfti-ges Instrument für Unternehmen sein, um Auftragsspit-zen abzudecken. Aber Zeit- und Leiharbeit dürfen nichtweiter ein Einfallstor für Lohndumping in diesem Landsein.
Deshalb brauchen wir zweierlei. Wir brauchen im Vor-feld des 1. Mai 2011 – ab diesem Datum gilt die volleArbeitnehmerfreizügigkeit in Europa – einen Mindest-lohn auch in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Ich meineallerdings einen richtigen Mindestlohn und nicht das,was Sie vorgelegt haben, nämlich einen Placebomindest-lohn. Sie wollen einen Mindestlohn nur für die verleih-freie Zeit. Wir sagen: Wir brauchen eine absolute Lohn-untergrenze für die Zeit- und Leiharbeit. Sie sind abernicht bereit, dem zuzustimmen.
Wir brauchen also einen Mindestlohn über das Arbeit-nehmer-Entsendegesetz und nicht Ihr Placebokonstrukteines Referenzlohns, den man dann auch noch unter-schreiten kann. Wenn Sie die Leute „verklappsen“ wol-len, dann machen Sie ruhig weiter so. Der Mindestlohnin der Zeit- und Leiharbeitsbranche ist nur das eine.Das andere – das Wichtigere – ist, dass wir denGrundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchset-zen.
Zu Frau Klöckner – jetzt ist auch sie weg – kann ich nursagen: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor dieser Frau.Bernhard Vogel hat damals recht gehabt, als er sagte:Gott schütze Rheinland-Pfalz. Das ist geschehen. DieRheinland-Pfälzer haben seit 1991 klugerweise nichtmehr die CDU an die Macht gewählt. Ich sage Ihnen:Frau Klöckner hat vorhin auf meine Frage, wie das mitdem gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei, geantwortet,dies sei schon im Gesetz verankert. Da hat sie recht.Aber da steht sie in der Tradition von Helmut Kohl, nachdem Motto: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit.Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert, aber esgibt ein Schlupfloch, das zu einem Scheunentor gewor-den ist.
Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, meinet-halben nach einer angemessenen Einarbeitungszeit vonvier Wochen. Im Rahmen des Kompromisses haben wirsogar drei Monate angeboten, was verdammt schwer zu
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Hubertus Heil
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realisieren gewesen wäre. Wir brauchen die Verwirkli-chung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Ar-beit“; Leihbelegschaften und Stammbelegschaften müs-sen bei gleicher Arbeit gleich verdienen. Es ist unfair,wenn zwei an einem Band stehen und der eine einen ho-hen und der andere einen niedrigen Stundensatz be-kommt. Das ist auch deswegen unfair, weil ein Stamm-belegschaftsmitarbeiter mit einem hohen Stundensatzsomit Angst hat, dass er demnächst durch den ersetztwird, der neben ihm als Dumpinglöhner missbrauchtwird. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist eine Fragevon Anstand, Würde und ökonomischer Vernunft.
Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen auch im
Streit um Hartz IV eine Lösung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Wir sind verhandlungsbereit; aber wir stimmen nur
zu, wenn es zur Verbesserung der Lebenssituation von
hart arbeitenden Menschen kommt. Deshalb: Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit und Mindestlöhne in Deutsch-
land!
Herzlichen Dank.
Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Faire Löhne für gute Arbeit gehören zu einer funk-
tionieren sozialen Marktwirtschaft.
Daran machen gerade wir, die Union, die Partei der so-
zialen Marktwirtschaft, keine Abstriche.
Das ist eine Position, die selbstverständlich nicht nur
die Gewerkschaften, sondern Gott sei Dank auch viele
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einnehmen. Der Prä-
sident der Arbeitgeberverbände des Hessischen Hand-
werks ist kürzlich in der FAZ mit den Worten zitiert wor-
den:
Es kann nicht sein, dass unsere guten Mitarbeiter in
eine Lohnspirale nach unten gezogen werden.
Damit hat er recht.
Durch die Anträge, die heute vorliegen und mit denen
die SPD und die Grünen einen vom Staat verordneten
und dekretierten Mindestlohn einführen wollen,
wird allerdings die Tatsache verwischt, dass wir in der
Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten,
Herr Kollege Heil, ein Instrumentarium geschaffen ha-
ben, um Mindestlöhne in Deutschland einzuführen.
Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das Sie
schon erwähnt haben, novelliert und darin eine ganze
Reihe von Branchen neu aufgenommen.
Wir haben das Mindestarbeitsbedingungengesetz novel-
liert,
um in all den Bereichen, in denen es wenige oder keine
Tarifverträge gibt, die Möglichkeit zu schaffen, dass auf
Antrag, zum Beispiel von Arbeitgebern, Arbeitnehmern
oder auch von beiden gemeinsam, Mindestlöhne festge-
setzt werden.
Ich finde es schon bemerkenswert: Kaum sind die So-
zialdemokraten ein bisschen länger als ein Jahr in der
Opposition, können Sie sich offensichtlich nicht mehr an
das erinnern, was Sie mit uns zusammen beschlossen ha-
ben.
Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Pothmer zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10067
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Herr Weiß, Sie haben hier gerade auf die Möglichkei-
ten nach dem MiArbG hingewiesen. Können Sie uns
vielleicht sagen, wie viele Mindestlöhne über das
MiArbG zustande gekommen sind und wie häufig die
Bundesregierung in Kenntnis der Tatsache, dass es große
Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gibt, selber tätig
geworden ist und Branchen vorgeschlagen hat, in denen
Mindestlöhne gezahlt werden sollten?
Frau Kollegin Pothmer, es liegt bislang ein Antrag
der dbb Tarifunion vor, um nach dem Mindestarbeitsbe-dingungengesetz einen Mindestlohn für Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter in Callcentern einzuführen.
Der Vorsitzende des noch von dem früheren Bundes-arbeitsminister Olaf Scholz eingesetzten Hauptausschus-ses,
der nach diesem Gesetz notwendig ist, ist Klaus vonDohnanyi, der bekanntlich ebenfalls einer großen deut-schen Partei angehört.
– Ich wollte den Sozialdemokraten auch einmal etwasNettes sagen. –
Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Klaus vonDohnanyi, muss sich nun mit diesem Antrag beschäfti-gen. Ich gehe einmal davon aus, dass Herr von Dohnanyideswegen noch keine Entscheidung im Hauptausschussherbeigeführt hat, weil seine Gespräche mit den Mitglie-dern dieses Hauptausschusses, der zur einen Hälfte mitArbeitgebervertretern und zur anderen Hälfte mit Arbeit-nehmer- und Gewerkschaftsvertretern besetzt ist, in die-ser Frage noch nicht zu einer Einigung geführt haben.Deswegen ist die Frage, wann dieser Antrag der dbb Ta-rifunion beschieden wird, keine Frage an die Bundes-regierung,
sondern eine Frage an Herrn von Dohnanyi und an denHauptausschuss.
Mindestlöhne! Das MiArbG bringt nichts!)Entschuldigung. Diese Frage richtet sich nicht an dieBundesregierung oder an den Deutschen Bundestag. –
Wir, Herr Kollege Heil, haben in der Großen KoalitionRegelungen geschaffen, nach denen der Hauptausschusszuständig ist.
Der Hauptausschuss entscheidet. Appellieren Sie an denHauptausschuss und an Ihr Parteimitglied Klaus vonDohnanyi! Er ist dafür zuständig, nicht die Bundeskanz-lerin und auch nicht der Deutsche Bundestag.
Wir haben bereits mit dem Arbeitnehmer-Entsende-gesetz, das wir zusammen novelliert haben, allgemein-verbindliche Mindestlöhne für eine Reihe von Branchenin ganz Deutschland festgelegt: im Bauhauptgewerbe, inetlichen Branchen des Baunebengewerbes, für die Ge-bäudereiniger, Wäschereidienstleistungen, die Abfall-wirtschaft und die Pflegebranche. Gestern hätten Sie vonRot und Grün im Vermittlungsausschuss die Chance ge-habt, für drei weitere Branchen in Deutschland eine kon-krete Vereinbarung zur Einführung von Mindestlöhnenzu treffen, nämlich für die Zeitarbeit, das Wach- undSchließgewerbe und die Weiterbildungsbranche.
Herr Heil, wenn Sie das, was Sie zur Notwendigkeitvon Mindestlöhnen vorgetragen haben, wirklich ernstmeinten, dann hätten Sie die ausgestreckte Hand der Ko-alition und der Bundesregierung zur Vereinbarung vondrei zusätzlichen Mindestlöhnen gestern nicht ausschla-gen dürfen.
– Herr Kollege Heil, Sie, die Sozialdemokraten und dieGrünen, haben dieses Thema in die Verhandlungen desVermittlungsausschusses eingebracht, nicht wir.
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10068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Peter Weiß
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Ich wiederhole: Wenn Sie es mit Mindestlöhnen wirklichernst meinten,
dann hätten Sie das Angebot im Vermittlungsausschuss,für drei weitere Branchen eine konkrete Vereinbarung zutreffen, nicht ausschlagen dürfen. Insofern ist alles, wasSie sagen, schlichtweg unglaubwürdig.
Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Heil zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Heil.
Kollege Weiß, ich will Ihnen nichts vorwerfen, son-
dern Sie aufklären, weil Sie an den Verhandlungen nicht
beteiligt waren. Ohnehin hat sich Ihre Fraktion relativ
stark zurückgehalten. Ich muss Ihnen mitteilen: Es sind
keine Mindestlöhne für drei Branchen angeboten wor-
den.
Im Einzelnen war es folgendermaßen: Sie haben kei-
nen richtigen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeit,
sondern einen Placebomindestlohn vorgeschlagen. Sie
haben gestern auf Druck der FDP im Vermittlungsaus-
schuss beim Wach- und Sicherheitsgewerbe noch eine
Änderung vorgenommen, nämlich dass Sie als Bundes-
regierung das Verfahren nur begleiten wollen. Tun Sie
bitte nicht so, als hätten Sie einen Mindestlohn zugesagt.
Last, but not least haben Sie für die Weiterbildungs-
branche keinen Weg aufgezeigt, wie wir tatsächlich zu
einem Mindestlohn kommen.
In Unkenntnis kann man viel Unsinn erzählen, Herr
Weiß. Meine Bitte ist: Machen Sie den Menschen nichts
vor! Sie haben keine Mindestlöhne angeboten. Vor allen
Dingen haben Sie nichts getan, um dem Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gerecht zu werden.
Meine Frage ist: Sind Sie wie Ihr Koalitionspartner
FDP der Meinung, Herr Weiß, dass der Grundsatz „Glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach neun Monaten
gelten soll, wissend, dass die Mehrheit der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in der Zeit- und Leiharbeits-
branche, nämlich fast 90 Prozent, nichts davon hätte? Ist
das die Meinung von Herrn Weiß, dem CDU-Vertreter
der Arbeitnehmerschaft? Bitte nicht ausweichen!
Nein, ich weiche nicht aus, Herr Kollege Heil.Wenn Sie schon über Formalien reden wollen
– doch, das war so –,
dann will ich Folgendes klarstellen: Im Vermittlungsver-fahren können formal nur am Gegenstand des Sozialge-setzbuches II Änderungen vereinbart und vorgenommenwerden. Alles andere sind politische Verabredungen.Dazu hat die Bundesregierung eine Protokollerklärungvorgelegt, die morgen auch dem Bundesrat vorliegenwird. Darin bringt die Bundesregierung ihren klarenWillen zum Ausdruck, nach den Regeln des Arbeitneh-mer-Entsendegesetzes zu verbindlichen Mindestlohn-regelungen bei der Leiharbeit, im Wach- und Dienstleis-tungsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche zukommen.Sie haben nach dem Grundsatz des Equal Pay gefragt.
Equal Pay, die gleiche Bezahlung von Stammbelegschaftund Leiharbeitern, ist Bestandteil des Gesetzes. Die rot-grüne Koalition hat damals
die Sonderregelung in das Gesetz eingefügt, dass per Ta-rifvertrag von dem Equal-Pay-Grundsatz abgewichenwerden kann.
Rot-Grün trägt die Verantwortung dafür, dass inDeutschland nicht nach dem Equal-Pay-Grundsatz be-zahlt wird. Sie haben dieses Gesetz verabschiedet.
– Ich trage alles vor, Herr Heil. – Sie können der Proto-kollerklärung der Bundesregierung entnehmen, was fest-gelegt wurde.
– Ich trage sie doch vor. Sie stellen hier Behauptungenauf. Wie es war, kann jeder in den Drucksachen schwarzauf weiß nachlesen.Die Bundesregierung hat in der ProtokollerklärungFolgendes festgelegt: Wir erwarten jetzt von den Tarif-partnern, dass sie Tarifverträge schließen und Regelun-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10069
Peter Weiß
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gen schaffen, ab wann in der Leiharbeitsbranche EqualPay und kein abgesenkter Lohn gilt. –
Wenn das in einem Jahr nicht erfolgt ist, dann werdenwir gesetzgeberisch handeln. Aber es sollen erst einmaldiejenigen verhandeln, die dafür Verantwortung tragen.
Ich finde es unglaublich, welche Show Sie veranstal-ten und wie Sie sich einfach der Verantwortung entzie-hen. Die Verantwortung liegt bei denen, die dafür zu-ständig sind, Tarifverträge abzuschließen. Das sind dieArbeitgeber und die Gewerkschaften.
Weil es mir aber nicht um Wahlkampf und auch nichtum politische Polemik geht,
sondern weil es mir darum geht, dass das Prinzip „FaireLöhne für gute Arbeit“ in Deutschland durchgesetzt wer-den kann,
habe ich die herzliche Bitte, dass sich die Ministerpräsi-denten der Sozialdemokraten morgen im Bundesrat nocheinmal ernsthaft die Frage stellen, ob sie nicht doch einerVereinbarung mit der Bundesregierung und der Regie-rungskoalition hier im Deutschen Bundestag zustimmenwollen,
die es möglich macht, dass wir für drei weitere Branchenin Deutschland eine konkrete Verabredung zur Einfüh-rung von Mindestlöhnen bekommen und dass das dieBehandlung des Themas Sozialgesetzbuch II, bei demkein Unbeteiligter mehr versteht, worüber wir eigentlichstreiten, zu einem befriedigenden und guten Abschlussgebracht wird.
Herr Weiß, der Kollege Schaaf hat den Wunsch nach
einer Zwischenfrage. Würden Sie sie zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege Weiß, da Sie hier Redlichkeit einfor-
dern: Würden Sie mir recht geben, dass es im Zusam-
menhang mit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes einen Antrag der Tarifparteien in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche gab, über die Allgemein-
verbindlichkeitserklärung den vereinbarten Mindestlohn
zu garantieren,
dass Sie, die Union, die Unterstützung für die Allge-
meinverbindlichkeitserklärung mit dem Hinweis auf
konkurrierende Tarifverträge verweigert haben und dass
die konkurrierenden Tarifverträge, die Sie als Begrün-
dung für einen nicht vereinbarten Mindestlohn in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche angemahnt haben, von ei-
ner Gewerkschaft abgeschlossen worden sind, die nicht
tariffähig war, nämlich von einer CGB-Gewerkschaft?
Sie haben sich darauf berufen, dass es konkurrierende
Tarifverträge gibt. Ginge es nach uns, nach den Arbeit-
gebern und den Arbeitnehmern in der Zeit- und Leihar-
beitsbranche, gäbe es schon seit zwei Jahren einen Min-
destlohn. Sie haben das verhindert, Herr Weiß. Würden
Sie das bestätigen?
Herr Kollege Schaaf, Sie haben diese Frage in Bun-destagsdebatten schon mehrmals gestellt.
Ich muss Ihnen auf diese Frage die gleiche Antwort wiezuvor geben: Es ist richtig, dass wir in der Großen Koali-tion über die Frage gesprochen haben, ob wir Regelungenzur Zeitarbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf-nehmen. Es war damals leider so – ich bedauere, dass esso war –, dass die vier Arbeitgeberverbände, die es inDeutschland in der Zeitarbeitsbranche gibt, dieses Vorha-ben wegen ihrer unterschiedlichen Tarifverträge be-kämpft haben.
So konnten wir die Frage, ob es einen Tarifvertrag gibt,den wir nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für all-gemeinverbindlich erklären können und durch den dieentsprechenden Bedingungen erfüllt werden, nicht klä-ren.
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10070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Peter Weiß
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Es gibt in der Zeitarbeitsbranche in dieser Frage heuteGott sei dank eine Weiterentwicklung:
Auch durch gutes Zureden haben sich alle vier Arbeitge-berverbände in der Zeitarbeitsbranche mit allen Gewerk-schaften auf einen gemeinsamen Mindestlohn verstän-digt. Damit liegen jetzt die Voraussetzungen dafür vor,
dass wir ohne weiteren Streit den gemeinsamen Min-destlohn bei allen Zeitarbeitsverbänden in Deutschlandfür allgemeinverbindlich erklären könnten.
Das ist der große Unterschied zu dem, was in der Zeitder Großen Koalition geschehen ist.
In den Anträgen und auch in der Rede des KollegenHeil ist nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden,dass am 1. Mai dieses Jahres die Arbeitnehmerfreizügig-keit auch für diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürgeraus der Europäischen Union eingeführt wird, deren Her-kunftsländer im Jahr 2004 der EU beigetreten sind.
Herr Weiß, ich hätte noch die Zwischenfrage von
Frau Mast zu bieten. Möchten Sie die zulassen? – Bitte.
Herr Kollege Weiß, ich möchte die Frage wiederho-
len, die Ihnen Hubertus Heil gestellt hat und die Sie
nicht beantwortet haben. Ursula von der Leyen, Angela
Merkel und die FDP haben vor neun Monaten einen
Kompromiss zum Thema „Gleiches Geld für gleiche Ar-
beit“ vorgelegt, den Sie in der Koalition gemeinsam tra-
gen können. Als Leiharbeitnehmerin oder Leiharbeit-
nehmer muss man in Deutschland neun Monate warten,
bevor man das gleiche Geld wie die Kollegin oder der
Kollege bekommt. Meine Frage lautet: Wie ist Ihre Hal-
tung zu diesem Vorschlag?
Frau Kollegin Mast, um es noch einmal festzuhalten:Die derzeitige gesetzliche Regelung in Deutschland istin der Tat so – damals von der rot-grünen Koalition be-schlossen –, dass ein Zeitarbeiter, ein Leiharbeiter perTarifvertrag auf Dauer schlechter gestellt werden kannals ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft.
Das ist die heutige Rechtslage.
– Ja, langsam! – Wir sind bereit und willens, die unbe-fristete Absenkung des Lohns abzuschaffen und dasGanze zu befristen.
Nun ist es so:
Frau Kollegin Mast, die Frage, die Sie mir stellen, mussnicht der Abgeordnete Peter Weiß oder der DeutscheBundestag beantworten,
diese Frage müssen die Tarifpartner beantworten, diediese Tarifverträge abgeschlossen haben.
Frau Kollegin Mast, damit wir nicht unnötig in dieTarifautonomie eingreifen müssen, haben wir gesagt:Wir setzen jetzt eine Frist von einem Jahr. In diesem ei-nen Jahr sollen uns die Tarifpartner ein befriedigendesErgebnis zum Thema Equal Pay vorlegen. Wenn sie dasnicht tun, dann werden wir handeln. Wenn es die Tarif-partner selbst nicht schaffen, dann werden wir einenZeitpunkt festlegen, ab dem Equal Pay in Deutschlandgezahlt werden muss.
– Das ist keine Feigheit von mir, Herr Kollege Heil. Mutmüssen die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerk-schaften aufbringen. Wenn sie ihn nicht aufbringen,dann sind wir willens, zu handeln. Darin besteht derMut.
Obwohl wir im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und imMindestarbeitsbedingungengesetz die Möglichkeiten ge-schaffen haben, branchenbezogene Mindestlöhne festzu-legen, wird vorgeschlagen, einen Mindestlohn per staatli-chem Dekret zu bestimmen. Interessanterweise wird vonden Sozialdemokraten ein Mindestlohn von 8,50 Euro inder Stunde und von den Grünen 7,50 Euro in der Stundevorgeschlagen. In einer ganzen Reihe von Branchen, dieheute schon eine Mindestlohnregelung haben, liegt derMindestlohn über 7,50 Euro oder 8,50 Euro,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10071
Peter Weiß
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weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu derAuffassung gekommen sind, dass es wirtschaftlich ver-tretbar ist, einen höheren Mindestlohn zu zahlen. Das istzu begrüßen.
Die Frage, die Sie sich stellen müssen, heißt: Wirddann, wenn ein staatlicher Mindestlohn festgelegt wird,in all den Branchen, in denen heute schon ein besserer,höherer Mindestlohn gilt, die Bereitschaft abnehmen,überhaupt Vereinbarungen über einen besseren Mindest-lohn zu treffen? Müssen nicht diejenigen, denen schonheute ein höherer Mindestlohn zugesagt worden ist, da-mit rechnen, dass ihre Verträge auslaufen, nicht verlän-gert werden und sie zurückfallen auf das, was per staatli-cher Gesetzgebung verordnet worden ist? Die Fragemüssen Sie beantworten.Diese Frage haben zu Recht auch kluge Gewerkschaf-ter und Sozialdemokraten gestellt. Ich will daran erin-nern, dass der frühere Vorsitzende der IG BCE, HubertusSchmoldt –
– ein kluger Mann; Sie haben recht –, auf die Frage nachder geeigneten Höhe für einen Mindestlohn geantwortethat – ich zitiere –: Das muss in den einzelnen Branchenausgehandelt werden, wie jeder normale Tarifvertragauch. Wo Hubertus Schmoldt recht hat, hat er recht.
Es wäre gut, die Sozialdemokraten wie auch die Grünenwürden diesem Ratschlag von Hubertus Schmoldt Rech-nung tragen.Wir, die Union, stehen für Folgendes: Zur sozialenMarktwirtschaft gehören faire Löhne für gute Arbeit.Wir haben mit zwei Gesetzen das Instrumentarium dazugeschaffen. Wir wollen es nutzen. Das, was Sie beantra-gen, ist letztendlich die Verabschiedung von dem, wasSie selber mit uns zusammen geschaffen haben. Die Tat-sache, dass Sie im Vermittlungsausschuss so gehandelthaben, wie Sie gehandelt haben, zeigt, dass Sie es garnicht ernst meinen. Bitte, korrigieren Sie morgen durchIhre Ministerpräsidenten diese Haltung. Es gibt eineChance für mehr allgemeinverbindliche Mindestlöhne inDeutschland. Nutzen wir sie! Ergreifen Sie die ausge-streckte Hand der Union und der Regierung! SchlagenSie sie nicht aus; dann sind Sie glaubwürdig.
Klaus Ernst hat jetzt für die Fraktion Die Linke das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Sehr geehrter Herr Weiß, Sie haben eben einenglänzenden Auftritt gehabt, als Sie bewiesen haben, wieman um eine Frage herumeiern kann, ohne sie zu beant-worten. Das war wirklich ein Glanzstück.
Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben. Sie haben of-fensichtlich keine Ahnung von der betrieblichen Reali-tät. Wenn Sie die hätten, würden Sie feststellen, dass eskaum einen Menschen gibt, der in einem Betrieb anfängtund dasselbe verdient wie der, der vielleicht schon 5, 10oder 20 Jahre in diesem Betrieb arbeitet. Das ist die Rea-lität. Deshalb ist es überhaupt nicht notwendig, eine Re-gelung zu treffen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leih-arbeitnehmer, wenn sie an einen Betrieb verliehenwerden, auch noch weniger erhalten als die anderen Ar-beitnehmer, die in dem Betrieb anfangen. Warum eigent-lich? Die Neun-Monate-Regelung ist Humbug. Sie ste-hen in dieser Frage offensichtlich auf der Seite der FDP;sonst hätten Sie, Herr Weiß, hier eine klare Antwort ge-geben. Die sind Sie schuldig geblieben.
Sie, Herr Weiß, lenken offensichtlich sehr gern vonder Verantwortung dieser Regierung und auch von Ihrereigenen ab. Sie lenken ab, wenn Sie sagen: „Das sollendoch bitte schön Gewerkschaften und Arbeitgeber re-geln“, nur weil Sie sich weigern, einen flächendecken-den gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Für dieArmut in Deutschland, für die Armut der Menschen, diearbeiten und trotzdem von ihrem Lohn nicht leben kön-nen, sind diese Regierung und Sie, Herr Weiß, mitver-antwortlich. Dafür können sich die Menschen in diesemLand bei Ihnen bedanken, um das in aller Klarheit zu sa-gen.
Um es deutlich zu machen: Angesichts der 1,4 Millio-nen Menschen, die hier trotz Arbeit ihren Lohn aufsto-cken müssen, wovon 330 000 in Vollzeitarbeit arbeiten,angesichts von 6,55 Millionen Niedriglöhnern in diesemLand – wir wissen, dass ihre Zahl steigt, seit Sie regie-ren – könnten Sie ein wenig demütiger sein, wenn Siehier nach vernünftigen Lösungen gefragt werden. Schie-ben Sie die Verantwortung nicht auf andere ab.Das Nichtstun der Bundesregierung ist Ursache fürdiese Armut. Frau von der Leyen ist heute nicht da. Da-für habe ich Verständnis; denn sie musste nachts viel ar-beiten. Sie weiß jetzt, wie das ist.
Die Bundesarbeitsministerin dieses Landes saust immerdurch die Gegend und redet von den Kindern, für die siesich ganz besonders verantwortlich fühlt. Dazu kann ich
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10072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Klaus Ernst
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Ihnen sagen: Kinderarmut ist immer Armut der Eltern.Wenn die Eltern durch nicht vorhandene Mindestlöhnearmgemacht werden, ist auch die Bundesarbeitsministe-rin persönlich dafür verantwortlich, wenn sie sich in die-ser Weise verhält.
Wir wissen, dass insbesondere Frauen von Mindest-löhnen betroffen sind und dass von drei Menschen, dieunter 1 000 Euro verdienen, zwei Frauen sind. Es istzwar schön, dass sich Frau von der Leyen dafür einsetzt– das unterstützen auch wir –, dass auch in den Füh-rungsetagen Frauen sitzen; es arbeiten aber ganz vieleFrauen in den Betrieben, die ihre Existenz nicht sichernkönnen, weil die Bundesarbeitsministerin und diese Re-gierung Mindestlöhne verweigern. Das ist ein Zustand,den Sie ändern müssen. Diesen Zustand können Sienicht einfach weglächeln.
Jetzt zur FDP, weil ich von ihr den einen oder anderennetten Zwischenruf gehört habe. „Leistung muss sichlohnen“, höre ich da. Wissen Sie, was sich bei Ihnen loh-nen muss? Offensichtlich soll sich die Abzockerei beiIhnen lohnen. Ich habe vorhin in der Debatte die RedeIhrer Fraktionsvorsitzenden gehört. Wenn man sich da-gegen verwahrt, dass die CDs veröffentlicht werden, mitdenen die zur Verantwortung gezogen werden können,die Steuerhinterziehung betreiben, dann schützt man da-mit die Abzocker und Steuerhinterzieher und kümmertsich offensichtlich nicht um die Menschen in diesemLand, die einen Mindestlohn brauchen. Das ist die Hal-tung der FDP.
Es ist unglaublich, dass eine Partei, deren Umfrage-werte offensichtlich unter 5 Prozent liegen, vernünftigeLöhne für Millionen von Menschen verhindern kann.Das ist ein unglaublicher Zustand in diesem Land.
Meine Damen und Herren, die Gesetzentwürfe derGrünen und der SPD gehen in die richtige Richtung. Ei-nige Fragen bleiben trotzdem. Eine Frage bezieht sichauf die 7,50 Euro Mindestlohn im Gesetzentwurf derGrünen.
– Mindestens. Das ist ja in Ordnung. – Nun fordern Siebeim Bezug von Arbeitslosengeld II einen Regelsatz von420 Euro. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dassbei einem Regelsatz von 420 Euro beim Arbeitslosen-geld II der Mindestlohn mindestens 7,80 Euro betragenmüsste.
– Könnten Sie vielleicht einmal die Luft anhalten? Sieersticken ja fast. – Ich kann nur sagen: Jeder, der einenMindestlohn unter 7,80 Euro verdient, ist logischerweiseberechtigt, ergänzendes Arbeitslosengeld II zu beziehen,also Aufstocker zu sein. Das kann doch nicht sein. Siekönnen doch nicht Mindestlöhne fordern und gleichzei-tig alle, die den Mindestlohn beziehen, ins Aufstockentreiben.
Zur SPD muss ich sagen: Sie fordern 8,50 Euro. Siewissen genauso gut wie ich, dass jemand mit einemLohn von unter 9,46 Euro in der Stunde nach 45 Versi-cherungsjahren noch eine Grundsicherung im Alter be-kommen muss, weil seine Rente zu niedrig ist. Deshalbsagen wir den Grünen: Jeder Lohn unter 7,80 Euro führtdazu, dass Sie die Leute zu Aufstockern machen unddass der Staat die Löhne zahlen muss, was Sie doch ei-gentlich hier bemängeln. Der SPD muss ich sagen: JederLohn unter der Grenze von 9,46 Euro führt dazu, dassSie die Menschen hinterher in die Altersarmut treiben.Deshalb sagen wir: Es ist schon richtig, dass wir 10 Eurofordern.
Im Übrigen kann ich nicht verstehen, warum sichSPD und Grüne in dieser Frage nicht am Ausland orien-tieren. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von9,73 Euro, in Frankreich gibt es einen Mindestlohn von9 Euro.
Warum, bitte schön, machen Sie den billigen Jakob? Ge-hen Sie doch voran und machen Sie mehr als die ande-ren! Sie sollten nicht immer hinter den anderen herlau-fen, meine Damen und Herren.
Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen noch sa-gen, dass laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung
70 Prozent der Bürger auf die Frage, ob sie einen gesetz-lichen Mindestlohn wollen, mit Ja geantwortet haben.Bei dem reichsten Fünftel der Gesellschaft waren es üb-rigens noch 57 Prozent, die sich für einen Mindestlohnausgesprochen haben. Dass Ihnen Ihre Klientel davon-läuft, haben Sie ja schon gemerkt.
Wenn die Bürger dieses Landes in dieser Frage mehr-heitlich eine klare Position einnehmen und einen Min-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10073
Klaus Ernst
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destlohn fordern, aber diese Regierung einen solchenverweigert, dann handelt diese Regierung gegen dieMehrheit der Bürger dieses Landes. Das ist der eigentli-che Skandal.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Heil,lieber Herr Ernst, liebe versammelte Gesellschaft derZwischenfrager! Vielleicht gestatten Sie, dass ich an die-sem Punkt der Debatte auf die beiden vorliegenden Ge-setzentwürfe eingehe.
Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegen Ge-setzentwürfe vor. In beiden Gesetzentwürfen wird dieEinrichtung einer Kommission gefordert, die einen flä-chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bestimmensoll.
Diese Kommission soll vom Bundesministerium für Ar-beit und Soziales eingerichtet werden. Das kann man,auch wenn man das Ziel an sich nicht teilt, noch nach-vollziehen. Beide Gesetzentwürfe verweisen vollkom-men zu Recht darauf, dass die Kommission die sozialenund ökonomischen Auswirkungen des Mindestlohns beider Fortschreibung berücksichtigen soll.Doch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen vonBündnis 90/Die Grünen und SPD, kommt der große Wi-derspruch in Ihren Gesetzentwürfen. Es ist nämlichüberhaupt nicht nachvollziehbar, warum die Kommis-sion, die Sie einsetzen wollen, nicht entscheiden darf,wie hoch der Ausgangsmindestlohn ist und ob zum Zeit-punkt der Einsetzung einer solchen Kommission einMindestlohn überhaupt sinnvoll ist. Es ist doch erstaun-lich, dass Sie Ihrer eigenen Kommission von Anfang an,noch bevor sie überhaupt eingesetzt ist, misstrauen.Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Sie sind sichselbst nicht sicher, ob Sachverständige, wenn sie gefragtwürden, überhaupt einen Mindestlohn befürworten wür-den, geschweige denn in der von Ihnen vorgeschlagenenHöhe von 8,50 Euro bei der SPD und 7,50 Euro bei denGrünen. Das zeigt, wie viel Vertrauen Sie in Ihre eigeneKommission, in Ihren eigenen Vorschlag haben, nämlichüberhaupt nicht. Entweder sind Sie von der Idee einerunabhängig arbeitenden Kommission und von derenSachverständigkeit überzeugt – dann müssen Sie sie un-abhängig arbeiten lassen – oder Sie sind es eben nicht.So wie Sie es sich vorstellen, ist eine solche Kommis-sion eine bloße Maskerade für politisch willkürlich fest-gesetzte und geschätzte Löhne.Ich möchte auf die von Ihnen stets mantraartig vorge-tragene Begründung eingehen, dass Menschen, die einenMindestlohn nach Ihren Vorstellungen bekommen, dannkeine staatliche Unterstützung mehr benötigen würden.Dabei verkennen Sie die heute schon gültigen Fakten.Diese widerlegen Ihre Vorstellung sehr deutlich und fürjeden nachvollziehbar. Sie wissen ganz genau, dass98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten über ein existenz-sicherndes Einkommen verfügen. Es sind nach Angabender BA nur etwa 4 100 alleinstehende Arbeitnehmer, dietrotz Vollzeitjob auf ergänzende staatliche Hilfen dauer-haft angewiesen sind.
Die Situation, dass der eigene Lohn nicht zum Lebenausreicht, ist heute in aller Regel nur für Alleinerzie-hende und für Paare mit mehreren Kindern zutreffend.
Um diese aber unabhängig von zusätzlichen staatlichenLeistungen zu machen – auch das wissen Sie –, würde eseines Stundenlohns von mindestens 13 Euro bedürfen;aber den fordert noch nicht einmal die Partei Die Linke.Sie werden das Aufstocken, das Sie hier immer diskredi-tieren und problematisieren, weder durch einen Mindest-lohn von 8,50 Euro noch von 7,50 Euro verhindernkönnen. Hören Sie deshalb endlich auf mit der Diskrimi-nierung von Aufstockerinnen und Aufstockern. Es istnichts Ehrenrühriges, seinen Lohn durch Arbeitslosen-geld II aufzustocken.
Es ist auf jeden Fall besser, als arbeitslos zu sein.
Aufstocken ist für viele ein erster Schritt zurück in einErwerbsleben ganz ohne Transferbezug.
Im Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen wer-den die gleichen Fehler wie im SPD-Entwurf gemacht.Auch Sie bestimmen die Höhe des Mindestlohns ersteinmal politisch selbst und lassen dann erst Ihre Kom-mission arbeiten. Auch Sie misstrauen Ihrem eigenenVorschlag, auch Sie misstrauen der SachverständigkeitIhrer Kommission.Ich will auf die Löhne eingehen,
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10074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Pascal Kober
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die Sie vorschlagen: 7,50 Euro bei den Grünen – ichhabe es bereits erwähnt –, 8,50 Euro bei der SPD, unddie Linken schlagen 10 Euro vor. Wer von Ihnen hatdenn nun recht?
Was ist die richtige Höhe des Mindestlohns? Vielleichtkönnen mir die Grünen die Frage beantworten, weswe-gen sie nur 7,50 Euro fordern und nicht 8,50 Euro. FrauPothmer, Sie sprechen nach mir, vielleicht können Siedas erklären. Wieso fordert die SPD eigentlich nicht10 Euro, wenn die Linkspartei 10 Euro für richtig hält?
Warum fordert die Partei Die Linke nicht 12 Euro, wasder baden-württembergische Landesverband der Linken,wie ich von meinem Kollegen Herrn Schlecht erfahrenhabe, bundesweit für richtig hält? Warum folgen Sienicht Ihren Kollegen aus Baden-Württemberg? Sie se-hen: Offensichtlich ist die Höhe des Mindestlohns poli-tisch nicht so leicht festzulegen.
Ich frage mich generell, warum Sie zum Beispielnicht dem von Ihnen sonst immer so geschätzten Wirt-schaftsweisen Peter Bofinger folgen, der sich zwar füreinen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, aber nur inHöhe von 5 Euro, weil – so sagt er – höhere Mindest-löhne Arbeitsplätze kosten würden.Der Mindestlohn, wie Sie ihn sich vorstellen, wirdnicht nur, sondern ist bereits zum politischen Spielballgeworden. Ich bin mir sicher, dass die Grünen bis zurnächsten Bundestagswahl nicht bei einem Mindestlohnvon 7,50 Euro bleiben werden. Falls eine Partei mehr als10 Euro fordern sollte, dann wird die Linke diese sofortüberbieten.
Aber wir sind hier nicht bei einer Auktion, sondern wirsollten nach einer verantwortungsvollen Politik streben,die die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht undnicht gefährdet.Wir als christlich-liberale Koalition setzen uns fürdiejenigen ein, die Arbeit suchen. Wir kümmern uns so-wohl um die Menschen, die im Erwerbsleben sind, alsauch um diejenigen, die dieses Glück gerade nicht ha-ben. Wir bauen nicht mit Mindestlöhnen Mauern auf, so-dass diese Menschen den Arbeitsmarkt nie betreten kön-nen, sondern wollen ihnen Brücken bauen undMöglichkeiten erhalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort Brigitte Pothmer für Bündnis 90/
Die Grünen. Ihr wollen wir sehr herzlich danken, dass
sie uns an ihrem Geburtstag mit einer Rede beehrt, und
von Herzen gratulieren.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Was wäre schöner, alsmit Ihnen allen meinen Geburtstag zu feiern?
– Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass Sie mireinmal zuhören, Frau Krellmann.„Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit ge-kommen ist“, hat Victor Hugo gesagt. Eines kann ich Ih-nen versichern: Der Mindestlohn ist so eine mächtigeIdee.
Die Zeit des Mindestlohns ist längst gekommen. LiebeKolleginnen und Kollegen von der FDP und CDU/CSU,das können Sie schon daran erkennen, dass der Wider-stand bröckelt und dass Sie zunehmend in die Defensivegeraten.
Der Niedriglohnsektor hat sich immer weiter ausge-breitet. Herr Kober, Sie sprachen von einem logischenDenkfehler. Dazu will ich Ihnen einmal sagen: Wir ha-ben nicht nur die im Blick, die alleinstehend sind undaufstocken; wir haben alle die im Blick, die Löhne vonzum Beispiel unter 5 Euro die Stunde bekommen. We-gen dieser Menschen – das sind fast 2 Millionen in die-sem Land – brauchen wir einen gesetzlichen Mindest-lohn.
Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit droht jetzt weitereNiedriglohnkonkurrenz. Deshalb brauchen wir einenordnungspolitischen Rahmen, auch um den sozialenFrieden in diesem Land zu erhalten. Die deutschen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind wahrlich nichtfremdenfeindlich, aber wenn sie die Erfahrung machenmüssen, dass die Polen, die Slowenen, die Litauer alsLohndrücker auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen,dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich die FehlerIhrer Politik gegen die ausländischen Beschäftigten wen-den, und das wollen wir verhindern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10075
Brigitte Pothmer
(C)
(B)
80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger forderninzwischen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber mitt-lerweile, lieber Herr Kober, sind es auch die Führungs-kräfte in Deutschland, die eine gesetzliche Lohnunter-grenze wollen.
Mehr als ein Drittel der Topmanager sagt: Wir brauchengerade wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine ge-setzliche Lohnuntergrenze.
Sie müssen sich einmal fragen, für wen Sie eigentlichnoch sprechen. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Siedie Interessen der 15 Prozent vertreten, die Sie, wennauch irrtümlicherweise, einmal gewählt haben, oder wol-len Sie nur noch die 4 Prozent in den Blick nehmen, diesich jetzt in den Umfragen für Sie entscheiden?
Ihr Kollege Kauch hat das längst verstanden. Wo ister eigentlich? Er hätte heute einmal reden sollen.
Er hat nämlich gesagt: Die ablehnende Haltung meinerPartei zum gesetzlichen Mindestlohn muss infrage ge-stellt werden. Wir müssen die Denkverbote bei der FDPaufheben.
Ihr sächsischer Wirtschaftsminister sagt: Die Ablehnungeines gesetzlichen Mindestlohns darf kein Dogma sein. –Lieber Herr Kober, was hat Herr Kauch, was hat HerrMorlok, was Sie nicht haben?
Jetzt wende ich mich an Sie, die Kollegen von derCDU/CSU. Es ist doch Ihr Kollege Christian Bäumler, derstellvertretende Bundesvorsitzende Ihres Arbeitnehmer-flügels, gewesen, der alle Hoffnung auf die Hartz-IV-Ver-handlungen gesetzt und gesagt hat: Damit wollen wirden Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn schaffen. –Er ist jetzt genauso enttäuscht
wie ich, Herr Weiß, und zwar von Ihren Verhandlungs-führerinnen und Verhandlungsführern.
Es ist wirklich dreist und es ist „Out of Rosenheim“,wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hätten lauterMindestlöhne angeboten. Ich habe mir die Protokollno-tiz zu dem Vorschlag der Einführung von Mindestlöhnenin der Weiterbildungsbranche und in der Sicherheits-branche noch einmal angeschaut. In der Protokollnotizfür den Bundesrat beschreiben Sie nur den Prozess, wieman zur Erstreitung von Mindestlöhnen kommenkönnte. Und dabei verschärfen Sie die Anforderungen andie Erstreckung von Mindestlöhnen noch zusätzlich. Eswäre gut, Herr Weiß, wenn Sie mir einmal zuhören wür-den; in Ihrer Protokollnotiz steht nämlich, dass der Tarif-ausschuss einstimmig darüber entscheiden muss. Das istfalsch. Davon steht überhaupt nichts im Gesetz. Das isteine Verschärfung. Das zeigt auch, dass Sie Mindest-löhne in diesen Branchen gar nicht wollen. Da ist nichts,aber auch gar nichts in trockenen Tüchern.
Über Ihren Vorschlag zu Mindestlöhnen in der Zeitar-beit ist hier schon geredet worden. Dazu brauche ichnicht mehr viel auszuführen. Ich kann Ihnen nur sagen:Das, was Sie vorgeschlagen haben, wird für die Zeit-arbeiterinnen und Zeitarbeiter nicht wirklich eine Lö-sung darstellen, weil nach Ihrem Vorschlag diejenigen,die in Niedriglohnbranchen arbeiten, weiterhin Hunger-löhne bekommen sollen. Der Placeboeffekt von EqualPay ist hier auch schon thematisiert worden. Diese Poli-tik der Anscheinserweckung hilft nun wirklich nieman-dem weiter.Jetzt wollen Sie das alles wieder an die Tarifparteiendelegieren. Diese sollen es richten, und wenn sie es nichtschaffen, soll eine Kommission eingesetzt werden. Sievertagen damit das Problem erstens auf den Sankt-Nim-merleins-Tag. Zweitens frage ich mich, Herr Kober, wo-her plötzlich Ihre Wertschätzung für die Tarifparteienkommt.
Ich habe noch gut im Ohr, was Ihr Parteivorsitzenderüber die Gewerkschaften gesagt hat. Ich will es Ihnennoch einmal in Erinnerung rufen. Es ist noch nicht langeher, da hat Ihr Parteivorsitzender gesagt:Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plagein Deutschland.Er hat weiter behauptet, die Politik der Gewerkschaftenkoste mehr Jobs, als die Deutsche Bank jemals abbauenkönnte. Das vor dem Hintergrund der Politik, die die Ge-werkschaften in der Wirtschaftskrise gemacht haben!
Das vor dem Hintergrund des Beitrags, den sie geleistethaben, dass Arbeitsplätze erhalten werden konnten! Dasist wirklich eine Unverschämtheit.
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10076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Brigitte Pothmer
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Ihre neue Wertschätzung der Gewerkschaften nimmt Ih-nen doch niemand mehr ab. Ihr sozialpolitisches Credolautet doch: gegen mehr Mitbestimmung, immer gegenArbeitnehmerrechte
und jetzt mit voller Kraft gegen den gesetzlichen Min-destlohn.Herr Kober, Sie haben ja noch einmal behauptet, Min-destlöhne vernichten Arbeitsplätze.
– Also, angeblich. – Schauen Sie einmal auf die Home-page des BMAS. Ihr Ministerium ist da schon weiter.Dort heißt es ausdrücklich, dass es keine negativen Be-schäftigungseffekte gibt, wenn Mindestlöhne sinnvolleingeführt werden.
Dazu machen wir Ihnen in unserem Gesetzentwurf einenVorschlag. Wir wollen, dass eine Mindestlohnkommis-sion eingesetzt wird, die sehr genau hinschaut, wie sichMindestlöhne in einer bestimmten Branche auswirken,und entsprechende Anpassungen vornimmt. Das ist un-ser Vorschlag. Natürlich wollen wir, dass die Tarifpar-teien Mindestlöhne oberhalb dieser unteren Lohngrenzeverabreden können. Das haben ja auch Sie, Herr Weiß,noch einmal in den Mittelpunkt gestellt. Ich kann miralso sicher sein, dass auch Sie unserem Gesetzentwurfzustimmen werden.
Ich sage Ihnen noch einmal –
Frau Kollegin!
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –: Rüsten
Sie ab in Sachen Mindestlohn! Nachdem ich Ihre Rede-
beiträge gehört habe, meine ich, zwischen den Zeilen le-
sen zu können, dass auch Sie einen gesetzlichen Min-
destlohn wollen. Herr Weiß, geben Sie es doch zu!
Der Kollege Dr. Johann Wadephul hat sehr viel unter-
nommen, um endlich mit Frau Pothmer gemeinsam Ge-
burtstag zu feiern. Er hat dafür gesorgt, dass wir aus die-
sem Anlass eine Sitzung des Deutschen Bundestages
durchführen.
Wir gratulieren auch Ihnen, Herr Wadephul, sehr herz-
lich und wünschen Ihnen Gottes Segen.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die charmanteBegrüßung!
– Ja, wir beide und Bertolt Brecht. Darüber kann manphilosophieren. Ich sehe, wie Frau Pothmer zu Tränengerührt ist. Ich gratuliere auch ihr von Herzen. Gesund-heit muss man ihr nach dieser vitalen Rede ja gar nichtmehr wünschen. Nachdem sie sich auch phänotypischmit ihrer Kleidung der Union annähert, können wir viel-leicht in Zukunft noch mehr Gemeinsamkeiten suchen,meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich habe das erfreut zur Kenntnis gekommen. Ihre ohne-hin vorhandene Attraktivität wird dadurch nochmals ge-steigert.
– Herr Heil, machen Sie sich keine Hoffnungen.
Von den Sozialdemokraten haben wir in unserem ver-gangenen Lebensjahr, Frau Pothmer, schon einmal etwasÄhnliches in Form eines Antrags bekommen, der jetztvon den Juristen in Gesetzesform gebracht worden ist.Die Argumente dazu sind ausgetauscht, und man fragtsich, was der Gesetzentwurf heute eigentlich soll. Aberwer die Rede von Herrn Heil verfolgt hat, hat das schnellgemerkt: Er hat dieses Thema mit der Regelsatz-Debatteund mit der Blockade verknüpft, die Rot-Grün im Ver-mittlungsausschuss zulasten der Bedürftigen durchge-führt hat. Man erkennt: Hier soll Wahlkampf geführtwerden. Es geht Ihnen nicht um die Bedürftigen und die-jenigen Menschen, die – der Kollege Weiß hat daraufhingewiesen – in drei wichtigen Branchen einen Min-destlohn hätten bekommen können, sondern Sie brau-chen Wahlkampfmunition. Angesichts Ihrer Umfrage-werte verstehe ich das zwar, aber in Ordnung ist es nicht,Herr Kollege Heil.
Wenn wir uns einmal Ihre Aussagen zur beschäfti-gungspolitischen Ausgangslage in Deutschland vor Au-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10077
Dr. Johann Wadephul
(C)
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gen führen, dann könnte man den Eindruck haben, alslebten wir in einem Land, in dem Armut und Not nur sograssierten. Wenn Sie aber die beschäftigungspolitischeSituation und auch die Arbeitslosenstatistiken Deutsch-lands einmal innerhalb der Europäischen Union verglei-chen, dann stellen Sie fest, dass wir gerade aufgrund derEntwicklung des vergangenen Jahres – insofern hättenSie seit der Erstantragstellung vielleicht einmal darübernachdenken müssen – an fünfter Stelle von allen 27 EU-Mitgliedstaaten stehen.
– Der Äthiopien-Vergleich leuchtet mir jetzt nicht unmit-telbar ein.
Dies ist ein Erfolg unserer Politik und einer ausgewo-genen Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutsch-land, in die man, wenn man Erfolg haben will, nur danneingreifen soll, wenn man wirklich ein besseres Regel-werk zu bieten hat. Aber das ist bei nüchterner Betrach-tung der beiden Gesetzentwürfe und der Vorstellungender Linken nicht der Fall.
Der Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen,dass das, was Sie hier vorschlagen, schon in sich nichtkonsistent ist. Man kann einmal bei der Höhe der Sätzeanfangen – Herr Kober hat sie schon aufgezählt –:7,50 Euro, 8,50 Euro, 10 Euro. Man könnte im Grundewie auf einer Versteigerung fragen: Wer bietet mehr?Wenn man Ihren Vorschlag für einen Mindestlohn,Herr Ernst, zugrunde legen und Ihre Regelsatzberech-nungen dazunehmen würde, dann käme man zu demSchluss, dass auch die von Ihnen geforderten 10 Euronicht ausreichen würden. Insofern ist Ihre Berechnungnoch nicht einmal in sich konsistent. Aber das alles mussam Schluss irgendjemand bezahlen, im Zweifel die Steu-erzahlerinnen und Steuerzahler.
Bei der Haushaltslage in Deutschland ist das schlichtund ergreifend nicht verantwortbar. Deswegen, HerrKollege Ernst, sind diese Vorstellungen – sowohl die Ih-rigen als auch die Vorstellungen der Grünen und derSPD – zum jetzigen Zeitpunkt zurückzuweisen.
Herr Kollege, der Kollege Ernst würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Danke, Herr Kollege. – Sie haben gerade gesagt,
wenn im Ergebnis ein Mindestlohn herauskäme, dann
müsste im Zweifelsfall der Steuerzahler die Kosten tra-
gen.
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass der Steuerzahler
durch den nicht vorhandenen Mindestlohn und dadurch,
dass er permanent die zu niedrigen Hungerlöhne aufsto-
cken muss, schon jetzt belastet ist? Vorhin ist in der De-
batte von 11 Milliarden Euro jährlich gesprochen wor-
den.
Zweitens. Würden Sie mir zustimmen, dass bei einer
Erhöhung des Mindestlohns die notwendigen staatlichen
Zuschüsse sinken könnten, der Steuerzahler also, entge-
gen Ihrer Auffassung, eher entlastet und nicht belastet
würde?
Drittens. Sie haben über die Frage einer Untergrenze
diskutiert und in diesem Zusammenhang von einem
Überbietungswettbewerb gesprochen. Sind Sie nicht der
Auffassung – ganz einfach gefragt –, dass es auch zur
Würde des Menschen gehört, dass er von dem Lohn für
seine Vollzeitarbeit leben können muss, ohne der staatli-
chen Fürsorge anheimzufallen?
Herr Kollege Ernst, zunächst einmal habe ich michbei den Ausgaben, die den Steuerzahler treffen würden,auf die Regelsätze bezogen. Sie sind aus unserer Sichtnachvollziehbar berechnet. Wir haben übrigens keinengegenläufigen Vorschlag von der Opposition zur Kennt-nis nehmen können.
Sie behaupten immer nur, Frau Kollegin Ferner, unsereBerechnung sei verfassungswidrig. Aber Sie habenkeine konsistente Gegenberechnung vorgelegt; Sie sindsie uns bis zum heutigen Tage schuldig geblieben, auchin den Nachtsitzungen.
Herr Kollege Ernst, ich finde es übrigens abenteuer-lich, hier Frau von der Leyen vorzuwerfen, sie sei keineNachtarbeit gewohnt.
Sie liegen vollkommen falsch, wenn Sie glauben, Mütterseien keine Nachtarbeit gewohnt.
Frau von der Leyen hat wirklich eine Ahnung davon,was es bedeutet, nachts aktiv zu sein.
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10078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dr. Johann Wadephul
(C)
– Sie haben es vorhin so formuliert. Stellen Sie es gege-benenfalls richtig.Der zweite Punkt. Wir streiten doch nicht über dieFrage, welches Mindesteinkommen ein Mensch braucht,um leben zu können.
– Hören Sie jetzt vielleicht freundlicherweise zu! Auchich habe einen Geburtstagswunsch; er ist identisch mitdem Wunsch der Kollegin Pothmer.
– Danke. – Wie gesagt, darüber streiten wir nicht. DieFrage ist doch, wie sich das Mindesteinkommen zusam-mensetzt und wie wir in einem ganz bestimmten BereichArbeit für Menschen generieren können.Es war Wolfgang Schäuble, der schon in den 90er-Jahren darüber nachgedacht hat, Kombilohnmodelle zuentwickeln. Herr Heil, die Regierung Schröder hat dasdann erfolgreich umgesetzt. Man hatte damals die Idee:Wir müssen im Niedriglohnsektor Arbeit für Menschengenerieren, weil es auch zur Menschenwürde gehört,dass man eine Aufgabe hat und für seine Arbeit eine Ent-lohnung bekommt. Wenn diese Entlohnung nicht aus-reicht, um davon menschenwürdig zu leben, dann ist eseine Selbstverständlichkeit, dass der Staat hier ergän-zend unterstützt und eingreift. Das ist im Kern ein richti-ger Ansatz, zu dem wir weiterhin stehen.
Auch Rot und Grün sollten eigentlich dazu stehen,denn gerade im Niedriglohnsektor haben wir außer-ordentlich viele Arbeitsplätze geschaffen. Natürlich solles nicht bei diesen Arbeitsplätzen bleiben; das sind dochEinstiegsarbeitsverhältnisse, die eine Brücke zu solchenArbeitsverhältnissen schlagen können, in denen mehrEinkommen erzielt werden kann,
sodass keine ergänzende staatliche Unterstützung benö-tigt wird. Das ist doch der Kern.Wir haben hier vorhin eine Debatte über den Mittel-stand geführt. Sie müssen einmal die Kehrseite der Me-daille sehen: Wenn wir hier einen Mindestlohn festset-zen, dann müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber– das sind oftmals beispielsweise kleine Handwerksbe-triebe, von denen in der vorangehenden Debatte dieRede gewesen ist – diesen Mindestlohn in der Folge er-wirtschaften. Wir alle können immer mit dem berühmtenBeispiel von der Friseuse kommen. Nur, schauen Siesich einmal die wirtschaftliche Realität in Deutschlandan: Viele Handwerksbetriebe haben Mühe, höhere Preiseam Markt durchzusetzen.Da befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wieim Lebensmittelbereich. Hier sagen alle immer: Lebens-mittel müssen angemessen Geld kosten dürfen. Nur istder Verbraucher nicht immer bereit, das dafür notwen-dige Geld auszugeben. Das ist nun einmal die Realität.Das finde ich persönlich nicht richtig – Sie wahrschein-lich auch nicht –, aber es ist die Realität. Insofern ist eswohlfeil, zu sagen: Ein Mindestlohn ist sozusagen dasPatentrezept. Nein, ein Mindestlohn – das muss man ehr-licherweise sagen – birgt die Gefahr, dass reguläre,sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse im Nie-driglohnsektor verschwinden und im Bereich derSchwarzarbeit landen.
Das ist die Kehrseite der Medaille. Das ist zwar nichtschön, aber man muss es an dieser Stelle ehrlicherweiseansprechen.Ich würde mich gerne den vermeintlich unabhängigenKommissionen zur Festlegung des Mindestlohns wid-men, die in beiden Gesetzentwürfen auftauchen. Dabeimöchte ich zwei Aspekte beleuchten. Zum einen geht esum die Frage, wie unabhängig solche Kommissionen ei-gentlich sein können: Wie viel Unabhängigkeit trauenSie ihnen zu? Das Ende der Unabhängigkeit beginnt,wenn Sie den Kommissionen vorschreiben würden, dassder Mindestlohn nicht unter 7,50 Euro bzw. 8,50 Europro Stunde liegen darf. Ich frage Sie nach Ihrer realisti-schen Einschätzung: Glauben Sie eigentlich wirklich,dass die entsprechende Zahl, wie auch immer sie festge-setzt würde, aus den politischen Auseinandersetzungenim Rahmen von Wahlkämpfen herausgehalten werdenkönnte? Ich glaube, nicht aus einem Wahlkampf. FrauMast, die Grünen haben auch noch gesagt, wir müsstenregionale Unterschiede machen.
Das heißt, wir müssten in den einzelnen Bundesländerneine unterschiedliche Mindestlohnhöhe definieren.
Dann würde jeder Landtagswahlkampf im Kern aus derAussage bestehen: Ich biete mehr Mindestlohn, und des-wegen wählt bitte meine Partei. Das wäre das Ende derTarifautonomie und der Beginn der politischen Bestim-mung des Mindestlohns.
Ob wir den Menschen damit einen Gefallen tun würden,ist die große Frage.
Lange Rede, kurzer Sinn:
Wir haben in Deutschland – das ist der Unterschied zuden wichtigsten europäischen Nachbarländern, mit de-nen Sie uns hier vergleichen – Tarifautonomie und sta-bile Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind übrigensbeteiligt, wenn vom Mindestarbeitsbedingungengesetzabgewichen wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10079
Dr. Johann Wadephul
(C)
(B)
Das machen nicht irgendwelche gruseligen Arbeitgebe-rinnen und Arbeitgeber allein. Die Gewerkschaften sindimmer dabei, Herr Kollege Heil. Das sollten Sie nichtvergessen. Wir haben eine Tarifautonomie, die sich inüber 60 Jahren bewährt hat. Sie sorgt dafür, dass wir aufschwierige wirtschaftliche Situationen, wie das 2009 derFall war, flexibel reagieren können. Den wirtschaftli-chen Aufschwung, den wir in Deutschland erlebt haben,das Jobwunder, das wir in Deutschland erlebt haben,
haben wir kluger Politik zu verdanken. Wir haben nieverschwiegen, dass das mit der Agenda 2010 begonnenhat. Sie verschweigen das schamhaft, was ich tragischfinde.
Der Aufschwung hat aber auch damit zu tun, dass wirnachfolgend gute strukturpolitische Entscheidungen inDeutschland getroffen haben. Nicht zuletzt verdankenwir das Jobwunder aber der Intelligenz und dem Augen-maß der Tarifpartner.
Die Tarifpartner haben unser Vertrauen. Wir solltensie bei ihrer schwierigen Arbeit unterstützen und versu-chen, politische Einmischung so weit wie möglich zuverhindern.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Ottmar Schreiner von der SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang möchte ich ein paar Bemerkungen zu mei-
nen Vorrednern machen, um die Diskussion etwas zu be-
leben. Zunächst eine Bemerkung zu Herrn Weiß, dem
Vertreter der Arbeitnehmerschaft in der CDU/CSU-
Fraktion:
Herr Weiß, bei allem Respekt, ich finde es sehr bedauer-
lich, dass Sie die Frage, ob Sie eine Neunmonatsfrist, die
von der FDP vorgeschlagen worden ist, als Vorausset-
zung für die Umsetzung des Anspruches „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ für angemessen halten, nicht beant-
wortet haben. Das ist nicht gerade ein Ausweis einer be-
sonders mutigen Haltung.
Vertretern der Arbeitnehmerschaft müsste es doch mög-
lich sein, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um
eine klassisch liberale Position handelt, die an Irrsinn
kaum zu überbieten ist. Wir alle wissen, dass die Be-
schäftigungsverhältnisse in diesem Bereich in der Regel
eine Laufzeit von neun Monaten unterschreiten.
Das zeigt, dass die vorgeschlagene Regelung sich nicht
auf die Realität bezieht. Sie ist nicht für die Wirklichkeit
gedacht, sondern für irgendetwas anderes. Vielleicht ist
sie für die FDP-Wirklichkeit gedacht, aber nicht für die
wirkliche Wirklichkeit.
Es wäre angemessen, wenn auch der CDU/CSU-Ver-
treter der Arbeitnehmerschaft dazu eine klare Position
formulieren würde, zumal es für die Koalition inzwi-
schen peinlich wird. Heute Morgen habe ich in einer
überregionalen Tageszeitung ein Interview mit dem Chef
von Manpower gelesen. Manpower ist weltweit eine der
größten Verleihfirmen. In diesem Interview wird Jeffrey
Joerres, Chef des internationalen Personaldienstleisters
Manpower, zitiert. Er „steht der derzeit diskutierten glei-
chen Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäf-
tigten offen gegenüber“.
Ein wörtliches Zitat aus dem Interview: „Wenn es so
kommt, dann stellen wir uns darauf ein.“
Die sind alle viel weiter als die FDP und im Gefolge
Herr Weiß und die Herren und Damen von der CDU/
CSU.
Wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß
zulassen?
Ja, sicher. Wir wollen ja die Debatte beleben.
Herr Kollege Schreiner, ich finde es persönlich sehrerfreulich, dass der Chef einer großen Zeitarbeitsfirmaeine solche Erklärung abgibt. Es ist aber auch dieseFrage zu beantworten: Warum schließt Manpower nichtbereits morgen mit der Gewerkschaft einen Tarifvertragab, in dem festgelegt wird, dass für Zeitarbeitsmitarbei-terinnen und -mitarbeiter, die über Manpower vermitteltwerden, ab dem ersten Tag Equal Pay gezahlt und derLohn nicht abgesenkt wird?
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10080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Peter Weiß
(C)
(B)
– Herr Kollege Ernst, ich frage jetzt den KollegenSchreiner.Sie haben damals im Bundestag das heute geltendeArbeitnehmerüberlassungsgesetz mitbeschlossen, das vor-sieht, dass eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter undFestangestellte gilt; es sei denn, per Tarifvertrag wirdnach unten abgewichen. Es ist also jederzeit möglich,diese Abweichung per Tarifvertrag wieder aufzuhebenund eine gleiche Bezahlung herzustellen.Dann soll doch Manpower diesen Tarifvertrag schlie-ßen, aber nicht uns, der Politik, dieses Thema zuspielen.Es liegt doch in erster Linie in der Verantwortung der Ta-rifpartner und nicht in der des Deutschen Bundestages,Equal Pay herzustellen.
Herr Kollege, Sie wissen doch selbst, dass das tarifli-che Unterbieten der „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“-Regelung von einer Gewerkschaft angepackt worden ist,der die zuständigen Gerichte die Tarifmächtigkeit abge-sprochen haben. Damit sind natürlich die anderen Ge-werkschaften massiv unter Druck gesetzt worden mitdem Ergebnis, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit“ tariflich nicht mehr gehalten werdenkonnte. Das war die Lage in den vergangenen Jahren.Wenn das so ist, dann ist der Gesetzgeber aus Ge-meinwohlgründen verpflichtet, Schlimmeres zu verhin-dern und seinerseits Regelungen zu treffen.
– Ich weiß nicht, ob der Christliche Gewerkschaftsbundverschwunden ist oder ob es ihn noch irgendwo in Re-serve gibt.
Dieser ist offenkundig in diesen tariflichen Fragen zu al-lem fähig und zu nichts wirklich nutze.
Der Chef von Manpower sagt weiter:Der Grundgedanke, dass gleiche Arbeit gleich be-zahlt wird, ist ja richtig – auch wenn es im Einzel-fall nicht immer so einfach ist.Das ist okay. Das geht aber auch an die Adresse der FDP.Wenn die großen Leiharbeitsfirmen den Grundsatz„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für richtig halten undsagen, dass sie sich damit arrangieren können, wenn derGesetzgeber entsprechende Regelungen trifft, dann stelltsich die Frage, wessen Interessen Sie hier eigentlichnoch vertreten. Wahrscheinlich vertreten Sie nur nochIhre eigenen Interessen. Es gibt aber niemanden mehr,der sich von Ihnen vertreten fühlt.
Hier zeigt sich die Koalition schon relativ hilflos.Weiter weist Manpower darauf hin, auch ein Mindest-lohn von 7,60 Euro für Ungelernte sei akzeptabel. Ersagt:… das zahlen wir sowieso schon, und es würde derBranche guttun. Insofern stehen wir dem Mindest-lohn offen gegenüber.Meine Güte, ich frage mich, wer in dieser Republiknoch Ihre Position unterstützt.Lidl steigt an die Spitze des Klassenkampfes und for-dert einen Mindestlohn von 10 Euro brutto pro Stunde.
Man könnte die Palette der Einrichtungen, die das for-dern, erweitern. Im Kern gibt es niemanden mehr, derdie Position der Koalition bei dieser Frage unterstützt.Das ist die erste Bilanz, die man an dieser Stelle ziehenkann.
Herr Weiß, Sie haben ferner mit Nachdruck darauf be-standen, dass zu Folgendem Stellung bezogen wird. Siesagten, wenn der Gesetzgeber einen allgemeinen gesetz-lichen Mindestlohn festlege, dann entstehe ein Drucknach unten in Richtung dieses allgemeinen Mindestlohns.Sie fragten, wie man damit umgehen solle.Wenn das richtig wäre, müsste es entsprechende Er-fahrungen aus dem Ausland geben. Sie wissen, dass inüber 20 EU-Ländern ein gesetzlicher Mindestlohn gilt.Aus keinem dieser Länder wird berichtet, dass das ein-getreten ist, was Sie befürchten.Im Übrigen gibt es in der Bundesrepublik eine Reihevon sozialpolitischen Regelungen, wie etwa das Bundes-urlaubsgesetz, die Arbeitszeitgesetzgebung usw., mit de-nen der Gesetzgeber Mindeststandards festgelegt hat.Diese Regelungen können jederzeit von den Tarifpar-teien verbessert werden. In der Realität werden sie auchverbessert. Von einer Sogwirkung nach unten kann alsoin keinem Fall die Rede sein.Ich habe nicht so richtig verstanden, worauf HerrWadephul im Ernst hinauswollte.
Herr Wadephul, unter anderem haben Sie gesagt, dass esBesorgnisse hinsichtlich der Beschäftigungseffekte gebe.Sie kommen aus Schleswig-Holstein. Laden Sie docheinmal die Low Pay Commission des britischen Parla-ments nach Deutschland ein. Diese Kommission existiertschon seit etlichen Jahren und setzt sich zusammen ausVertretern der Industrie, des Handwerks, der Gewerk-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10081
Ottmar Schreiner
(C)
(B)
schaften und der Wissenschaft. Auch uns schwebt einesolche Zusammensetzung einer solchen Kommission vor.Fragen Sie die Low Pay Commission aus Großbritanniennach ihren spezifischen Erfahrungen bezogen auf die Fra-gen, die Sie hier formuliert haben. Sie würden sich wun-dern und glauben, Sie hätten es mit einer sozialdemokra-tischen Vereinigung zu tun,
und das ausgerechnet in Großbritannien, wo dies nichtunbedingt zu erwarten ist.Kein Vertreter der Koalition hat auch nur einen einzi-gen Satz zu den neuen Herausforderungen ab dem1. Mai dieses Jahres gesagt.
Was ist, wenn die uneingeschränkte Freizügigkeit der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den mittel- undosteuropäischen Ländern, die seit 2004 EU-Mitglied sind,zum 1. Mai dieses Jahres in Kraft tritt? Was ist, wenn zumBeispiel polnische Arbeitgeber polnische Arbeitnehmeroder baltische Arbeitgeber baltische Arbeitnehmer zu inihrer Heimat üblichen Preisen in Deutschland einsetzen?Wir Sozialdemokraten haben nichts gegen den Wettbe-werb von Regionen und schon gar nichts gegen den Wett-bewerb von Unternehmen, aber wir haben etwas gegenden Wettbewerb von Unternehmen, wenn er auf dem Rü-cken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetra-gen wird. Das werden wir nicht akzeptieren.
Deshalb ist das ein für uns wesentlicher Punkt.Das bisherige Kernargument, die Beschäftigung sei ge-fährdet, ist anscheinend fallen gelassen worden. Wenn die-ses Argument richtig wäre, müssten wir Anhaltspunkte da-für haben, dass es in den acht Branchen, in denen in derletzten Zeit die Allgemeinverbindlichkeit formuliert wor-den ist, zu entsprechenden negativen Beschäftigungsef-fekten gekommen wäre. Davon kann überhaupt keineRede sein. Nehmen Sie die jüngsten amerikanischen Stu-dien; diese zeigen in die gleiche Richtung. Sie sind im Be-reich der wissenschaftlichen Evaluation von Mindestlöh-nen national und international hoffnungslos isoliert.
Der entscheidende Punkt, den ich Ihnen gar nichtmehr richtig darlegen kann, weil ich sehe, dass meineRedezeit gleich abläuft, betrifft die Frage nach den we-sentlichen Antriebsgründen für die Forderung nach Min-destlöhnen. Sie sind nicht primär ökonomischer Art. Siesind zwar auch ökonomischer Art – Stichwort: Binnen-nachfrage und dergleichen mehr –, aber sie sind im We-sentlichen eine Frage des Anstandes und der Fairness aufdem Arbeitsmarkt und eine Frage des Wertes der Arbeit.
Da müssten die Christdemokraten Farbe bekennen. Esist ein klassisch liberaler Grundsatz, dass in einer Markt-wirtschaft die Preise und Löhne, die es auf dem Marktgibt, auf dem Markt gebildet werden. Demnach hättenwir es auf dem Arbeitsmarkt mit einer Art Kartoffel-markt zu tun. Aber der Arbeitsmarkt ist mit einem Kar-toffelmarkt nicht vergleichbar, weil wir es auf dem Ar-beitsmarkt mit Menschen zu tun haben, und Menschenhaben Würde. Daraus ergibt sich der Wert der Arbeit desMenschen.
Das können Sie in vielen Dokumenten der katholischenSoziallehre und in den entsprechenden evangelischenSchriften nachlesen. In diesem Punkt unterscheiden wiruns fundamental von den Liberalen.
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Ich bin eigentlich nicht am Ende, aber ich komme
zum Ende.
Nur das war meine Bitte.
Die Kollegen, die hier immer betonen, dass sie christ-
liche Politik machen, machen insoweit keine christliche
Politik. Sie machen auf diesem Feld FDP-Politik.
Herr Kollege.
Hier wären Sie gut beraten, in sich zu gehen und sich
vielleicht einmal etwas gründlicher mit der Lehre der
christlichen Kirchen zum Thema Arbeit zu befassen.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und gute Bes-
serung.
Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Heil, Sie haben heute das gemacht, waswir auch im Vermittlungsausschuss erlebt haben. Sie ha-ben sich über das Thema, um das es eigentlich geht – indiesem Fall Ihre Gesetzentwürfe zu gesetzlichen Min-
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10082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Johannes Vogel
(C)
(B)
destlöhnen –, hinaus geäußert. Deswegen möchte auchich kurz auf ein anderes Thema, auf die Zeitarbeit, ein-gehen. Wissen Sie, der Unterschied zwischen Ihnen unduns ist, dass wir nicht leichtfertig wegwerfen wollen,was Sie einmal für dieses Land erreicht haben.Es gibt Unterschiede zwischen dem Modell der Zeit-arbeit, das wir in Deutschland haben, und den Modellen,die es im Ausland gibt. In Deutschland ist die Zeitarbeitin den letzten Jahren ein Jobmotor gewesen, übrigensgerade für diejenigen, die aus der Arbeitslosigkeit kom-men.
– Doch. – Zwei Drittel der Menschen in der Zeitarbeitkommen aus der Arbeitslosigkeit, und 40 Prozent derje-nigen, die in der Zeitarbeit arbeiten, sind ohne Qualifika-tion, haben keinen Berufsabschluss. Für diese ist dieZeitarbeit der Weg in den Arbeitsmarkt.
Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist, dass wirdas nicht leichtfertig wegwerfen wollen.Dass Sie uns hier vorwerfen, wir wollten den Miss-brauch bei der Zeitarbeit nicht verhindern – dies wollenwir natürlich machen –,
finde ich bemerkenswert. Diese Koalition hat doch dieSchlecker-Klausel vorgelegt.
Es war diese Koalition, die schon letzten Sommer gesagthat: Wir müssen uns für Equal Pay einsetzen, damitStammarbeitskräfte nicht durch Zeitarbeiter ersetzt wer-den, weil man diesen einen niedrigeren Lohn zahlenkann. Das wollen wir. Deshalb schlagen wir eine Rege-lung zu Equal Pay vor. Allerdings wollen wir dies nach ei-ner klugen Frist, Herr Heil, weil es unser Ziel ist, denSteg, den die Zeitarbeit laut IAB heute in den Arbeits-markt bildet, zu einer Brücke auszubauen, damit mehrMenschen darüber gehen können, und ihn nicht abzurei-ßen, wie Sie es wollen; denn dies würde die Zahl derLangzeitarbeitslosen in Deutschland erhöhen.
Kommen wir jetzt zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Tarif-autonomie in Deutschland ist für uns – das, was unsLiberalen hier unterstellt wurde, ist falsch – ein hohesGut. Wir glauben, dass die Lohnfindung bei Arbeitge-bern und Gewerkschaften in guten Händen ist. Deshalbwollen wir sie dort belassen. Der Punkt ist: Das ist einErfolgsmodell.
Das hat neben der starken mittelständischen Wirtschaft– liebe Frau Kollegin Pothmer, ich komme gleich zu Ih-nen –
und der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft übri-gens entscheidend zum deutschen Jobwunder beigetra-gen. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir dieniedrigste Arbeitslosenquote aller großen Länder in Eu-ropa und die niedrigste Jugendarbeitslosenquote über-haupt haben. Das wollen wir im Gegensatz zu Ihnennicht wegwerfen.Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Glück-wunsch zum Geburtstag.
Alles Gute! Aber gerade weil Ihr Geburtstag eigentlichein Tag der Freude für uns alle ist, ebenso wie der Ge-burtstag des Kollegen Wadephul, muss ich Ihnen sagen:Bei Ihnen habe ich mich gewundert, dass auch Sie heutedas dunkle Bild der drohenden Gefahr aus dem Ostendurch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezeichnet haben.
Sie wissen doch so gut wie ich: Alle Untersuchungen ha-ben gezeigt, dass die Länder, die ihre Arbeitsmärkte imGegensatz zu Deutschland schon geöffnet hatten, keineProbleme hatten, dass dort kein Lohndumping entstan-den ist,
sondern dass ihre Volkswirtschaften – im Gegenteil – so-gar gewachsen sind. Das gilt auch für die Länder, diekeine gesetzlichen Mindestlöhne haben;
denken Sie nur an die Länder in Skandinavien, zum Bei-spiel an unseren nördlichen Nachbarn Dänemark.
Nun zu den Mindestlöhnen. Sie verweisen immer aufGroßbritannien. Ich würde es mir nicht so leicht machen,zu sagen: In den Ländern, die einen Mindestlohn haben,ist alles gut. Wir sehen doch in Europa: Es funktioniert. –Wenn ich mir die Situation in Frankreich und Spanienanschaue, wo es sehr starre gesetzliche Mindestlöhnegibt, dann kann ich nur sagen: Das wünsche ich mirnicht. Eine dreimal bis fünfmal so hohe Jugendarbeitslo-senquote, wie wir sie in Deutschland haben, wünsche ichmir nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10083
Johannes Vogel
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Wir können uns gerne die Situation in Großbritannienanschauen; Ihr Vorbild ist ja die Low Pay Commission.Wenn man das tut, muss man sich aber die Situation inGroßbritannien insgesamt anschauen. Der Arbeitsmarktist nämlich ein Gesamtkunstwerk. Wenn er kein Gesamt-kunstwerk ist, dann besteht die Gefahr, dass es umfas-sender Pfusch ist. Wir können gern über Großbritannienreden. Dann reden wir aber bitte auch darüber, dass esdort keinen Mindestlohn für unter 21-Jährige gibt, dannreden wir auch über den britischen Kündigungsschutzund über eine Commission, die zum Beispiel unabhän-gig von politischer Einflussnahme Löhne festsetzenkann.
Wenn Sie in Deutschland einen Mindestlohn von um-gerechnet 6,97 Euro haben wollen, können wir darüberreden. Aber genau das wollen Sie nicht, liebe Frau Kol-legin Pothmer. In Großbritannien beträgt der Mindest-lohn, umgerechnet in Euro, aktuell 6,97 Euro. Genaudiesen Betrag hat die unabhängige wissenschaftlicheKommission festgelegt. Genau dies wollen Sie abernicht. Sie bringen folgendes Kunststück fertig: Sie sagenauf der einen Seite: „Ja, wir wollen eine solche Kommis-sion“, sagen aber auf der anderen Seite: „Wir legen poli-tisch die Untergrenze fest, eine Grenze, die sie nichtunterschreiten darf.“ Was wäre denn, wenn die Wissen-schaftler herausfinden würden, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, dass der angemessene Min-destlohn 7 Euro beträgt? Dürften sie das dann gar nichtfeststellen? Oder dürften sie das schon wissenschaftlichfeststellen, aber die Politik würde dann etwas anderesmachen? Indem Sie hier politischen Einfluss nehmen,tun Sie genau das, was wir im Zusammenhang mit ge-setzlichen Mindestlöhnen immer als Horrorszenario be-zeichnen,
nämlich dass die Politik ein Lohndiktat ausspricht unddann in der Politik ein Überbietungswettbewerb einsetzt– ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfrage zu –, derArbeitsplätze gefährdet.
Dann sind wir schnell bei einem Mindestlohn von8,50 Euro, den die SPD schon fordert.
Herr Kollege, möchten Sie die Frage von Frau
Hendricks zulassen?
Nein, vielen Dank.
– Nein, das lasse ich mir nicht unterstellen. Bitte stellen
Sie die Zwischenfrage.
Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das mit dem Antidis-
kriminierungsgesetz vereinbar ist.
– Frau Hendricks, bitte.
Herr Kollege Vogel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, die schon früher das Recht auf Freizügigkeit, in
andere europäische Länder zu ziehen, hatten, zum Bei-
spiel aus Polen nach Großbritannien, Irland, Schweden
oder Norwegen, einem Land, das der Europäischen
Union gar nicht angehört – ich will sie einmal Wanderar-
beiter nennen –, in Länder gewandert sind, in denen es
einen Mindestlohn gibt? Ist Ihnen auch bekannt, dass der
von Ihnen gerade angesprochene Mindestlohn in Groß-
britannien von unter 7 Euro nur deswegen zurzeit unter
7 Euro liegt, weil das Pfund im Zuge der Wirtschafts-
und Finanzkrise im Verhältnis zum Euro deutlich verlo-
ren hat, dass der Mindestlohn vorher umgerechnet bei
knapp 9 Euro lag
und dass wegen einer Pfund-Schwäche die Mieten oder
das Brot in Großbritannien nicht teurer geworden sind,
sondern dass es sich nur um eine Währungsrelation han-
delt?
Liebe Frau Kollegin – erstens –, das ist mir bekannt.
Zweitens. Sie müssen dann aber auch über die Länderreden, in denen es keinen Mindestlohn gibt und in diedie Menschen trotzdem eingewandert sind; ich habeeben schon auf unseren nördlichen Nachbarn Dänemarkverwiesen. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, zu sagen,Wanderung sei nur unschädlich, wenn es gesetzlicheMindestlöhne gebe. Das ist schlicht nicht zutreffend.Was das Beispiel Großbritannien angeht, so ist meinPunkt nicht die Lohnhöhe. Darüber können wir gerne re-den, aber – das sagte ich schon – dann müssen wir auchüber andere Konstellationen des Arbeitsmarkts reden.Nein, mein Punkt ist, dass Großbritannien eine unab-hängige Kommission eingesetzt hat. Genau das wollenSie nicht. Sie wollen eine unabhängige Kommission,aber die Untergrenze soll die Politik festsetzen. Dannkommt es zu einem Überbietungswettbewerb. 7,50 Euro
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10084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Johannes Vogel
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(B)
fordern die Grünen. Die SPD macht sich gar nicht mehrdie Mühe, Wissenschaftler in die Kommission einzula-den; das ist in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgese-hen. Großbritannien sehe ich insofern nicht mehr als IhrVorbild. Sie sind dann schon bei 8,50 Euro. Nach langerÜberlegung sind Sie zu dem Schluss gekommen,8,50 Euro könnte die richtige Untergrenze sein. Überra-schenderweise ist es genau die Untergrenze, die auch derDGB vorschlägt. Das ist gleichzeitig eine Reaktion aufdie Linken, die 10 Euro fordern. Hier setzt also einÜberbietungswettbewerb in eine Richtung ein, die wirnicht wollen können.Deshalb geben wir dem Staat nicht das Lohndiktat indie Hand, sondern lassen die Lohnfindung dort, wo siehingehört, nämlich bei Arbeitnehmern und Gewerk-schaften.
– Vielen Dank, Herr Kollege.Auf ein letztes Argument möchte ich noch einmaleingehen. Uns wird Folgendes immer wieder vorgewor-fen: Indem Sie die Lohnfindung bei Arbeitnehmern undGewerkschaften lassen, lassen Sie in Deutschland Dum-pinglöhne zu, was zur Folge hat, dass Menschen massen-haft auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind.Sie müssen aufstocken und dann Hartz IV beantragen.
– Das ärgert mich, weil es eben nicht stimmt, Frau Kol-legin. Sie behaupten immer wieder, dass 1,2 MillionenMenschen ihren Verdienst mit Hartz IV aufstockenmüssten, weil – die Fachkollegen wissen das; und des-wegen ärgert es mich, dass Sie dieses Argument widerbesseres Wissen immer wieder bringen – die Lohnhöheso niedrig sei. Das ist einfach nicht zutreffend.
Drei Viertel der Aufstocker arbeiten Teilzeit.
Da ist nicht die Lohnhöhe, sondern die Arbeitszeit dasProblem. Bei dem anderen Viertel ist die Größe der Be-darfsgemeinschaften entscheidend. In Deutschland er-fährt man Unterstützung, auch wenn man eine große Fa-milie hat.
Das ist auch gut. Das ist eine sozialpolitische Errungen-schaft, die wir alle verteidigen wollen.
Herr Kollege!
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin.
Das ist gut.
Man muss dann aber auch sagen: Wenn wir erreichen
wollen, dass ein Alleinverdiener den Lebensunterhalt
seiner vierköpfigen Familie mit seinem Lohn bestreiten
kann, ohne auf Hartz IV angewiesen zu sein, dann liegen
wir bei einem Äquivalenzlohn von 12 Euro. Das fordert
noch nicht einmal die Linkspartei.
Herr Kollege, jetzt wäre dann „gleich“.
Ich komme zum letzten Satz. – Die Wahrheit ist
doch: In Deutschland – das zeigen die Aufstockerzahlen
des IAB – müssen 36 000 Menschen aufgrund der Lohn-
höhe aufstocken und Hartz IV beziehen.
Wir können gerne darüber reden, dass das 36 000 Men-
schen zu viel sind. Diese Zahl ist aber weit entfernt von
1,2 Millionen.
Herr Kollege!
Das heißt somit nicht, dass wir dem Staat die Lohn-
findung in die Hand geben sollten. Vielmehr wollen wir
sie dort belassen, wo sie hingehört, nämlich bei den Ar-
beitgebern und Gewerkschaften.
Vielen Dank.
Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Der gesetzliche Mindestlohn in Deutsch-land ist eigentlich schon abgemachte Sache,
wenn man hört, was drei Viertel der Menschen hier inDeutschland sagen, und wenn man sich einig ist, dass einMindestlohn Arbeitsplätze schafft, und wenn man regis-triert, dass mittlerweile sogar Arbeitgeber und ihre Ge-werkschaften für Mindestlöhne sind und dass es in mehr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10085
Jutta Krellmann
(C)
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als 20 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt. Ichpersönlich würde unheimlich gerne über die Höhe einesMindestlohns streiten und mich damit auseinanderset-zen.Ich habe die Debatten sehr genau verfolgt. Der Ge-setzentwurf der Grünen enthält einen Mindestlohn vonmindestens 7,50 Euro. Der Gesetzentwurf der SPD ent-hält einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Linke fordertim Grunde 10 Euro. Heute Morgen habe ich HerrnLindner gehört. Er sprach von 11 Euro. Herr Kobersprach von 13 Euro. Das nehmen wir gerne in unsereÜberlegungen auf und diskutieren über die Höhe desMindestlohns. Wir diskutieren allerdings nicht über dasOb des Mindestlohns.
Ich sage es noch einmal: Über diese Frage würde ich un-heimlich gerne mit Ihnen streiten – aber nicht darüber,ob wir das einführen.Die Oppositionsparteien in diesem Deutschen Bun-destag stehen auf der Seite der Menschen auf der Straße.Ich bitte Sie: Beachten Sie, wer in Deutschland die Ein-führung des flächendeckenden Mindestlohns blockiertund wer sie nicht blockiert.
Wenn man eine Volksabstimmung über die Einfüh-rung eines Mindestlohns durchführen würde, dannwürde – da bin ich mir sicher – sich das Volk für einenMindestlohn aussprechen. Bei einer Abstimmung hierim Deutschen Bundestag würde es allerdings nicht zurEinführung eines Mindestlohns kommen.
Die Antwort auf die Frage, wer in diesem Land ei-gentlich die Einführung flächendeckender Mindestlöhneblockiert, ist ganz klar: Das sind FDP und Union. Ichwill gerne noch einmal drei Beispiele aufgreifen, die inder Diskussion hier auch schon eine Rolle gespielt ha-ben.Erstes Beispiel. Es geht darum, was im Zusammen-hang mit der Mindestlohn-Kommission passiert ist, die2009 im Zuge der Reform des Mindestarbeitsbedingun-gengesetz unter der Großen Koalition wiederbelebtwurde. Deren Aufgabe ist es eigentlich, zu prüfen, ob inBranchen, in denen es kaum Tarifverträge gibt, ein Min-destlohn erforderlich ist. Das traurige Ergebnis nach ein-einhalb Jahren ist gerade einmal eine Sitzung mit nullErgebnissen.
Die Callcenterbranche wartet schon seit über einem Jahrauf eine Reaktion. Die Mindestlohn-Kommission hatnichts erreicht. Absoluter Stillstand!Zweites Beispiel. Die Einführung von Branchenmin-destlöhnen. Vor der Wahl wurde den Beschäftigten in derWeiterbildungsbranche der Mindestlohn versprochen.Kaum ist das Ministerium unter der Fuchtel der CDU,
ist davon keine Rede mehr. Zwei Jahre nichts!
– Da ist nichts passiert. Ich sage: Das ist eine Schlampe-rei. Die Folgen davon tragen die Beschäftigten, HerrWeiß.
Herr Weiß, das müssten Sie eigentlich ganz genauwissen: Wenn ein Betrieb so wie diese Bundesregierungoder dieses Ministerium arbeiten würde, dann wäre erschon fast in der Insolvenz, und wenn Beschäftigte sichso verhalten würden, dann hätten sie schon längst eineKündigung oder Abmahnung bekommen.
Ich hoffe, dass Ihnen die Menschen spätestens bei dennächsten Landtagswahlen die Quittung für dieses skan-dalöse Verhalten geben werden.Im Gegensatz zu der CDU versucht die FDP gar nichterst, den Eindruck zu erwecken, dass sie Arbeitnehmer-interessen irgendwie für wichtig hält. Die Partei der so-genannten Liberalen besteht aus Mindestlohnblockierernerster Klasse. Die Taschen der Bosse werden gefüllt, undes wird dafür gesorgt, dass die Betriebe parallel dazutrotzdem Niedriglöhne für ihre Beschäftigten zahlenkönnen. Es steckt nichts hinter Ihrer Aussage, Arbeitmüsse sich wieder für alle lohnen. Arbeit muss sich loh-nen, aber nur für einige Ihrer Freunde.Drittes Beispiel. Leiharbeitsbranche. Der einzige Be-reich, für den wir keinen Mindestlohn brauchen, ist dieLeiharbeitsbranche. Hier brauchen wir gleiches Geld fürgleiche Arbeit – und das ab dem ersten Tag.
Die einzige Ausnahme: Man muss hinschauen, was inder sogenannten verleihfreien Zeit passiert.Auch hier können Sie Ihre Interessen nicht wirklichverbergen. Ihr Kollege Kolb hat Equal Pay nach dreiMonaten gefordert. Jetzt fordern Sie die gleiche Bezah-lung nach neun Monaten. Neun Monate vereinbarte Aus-beutung: Das ist nichts anderes als ein öffentlicher Knie-fall vor der Leiharbeitsbranche.
Meine Damen und Herren von der FDP und der CDU,Sie sind die Parteien der Lobbyisten. Das Beispiel Mö-venpick lässt im Zusammenhang mit der FDP tief bli-cken.
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10086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Jutta Krellmann
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(B)
Jetzt gibt es die historische Chance zur Einführung vongesetzlichen Mindestlöhnen. Die Zahlen sind bekannt.Kein Mensch glaubt mehr das Märchen von der Jobver-nichtung durch Mindestlöhne, da das in 20 Ländernwirklich einwandfrei funktioniert. Legen Sie endlichIhre Verbohrtheit ab und retten Sie die soziale Absiche-rung der Beschäftigten in Deutschland.Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011ist Grund genug.
Es kann nicht sein, dass Deutschland in 79 Tagen dazubeiträgt, die Löhne in Europa weiter zu drücken. Hierhilft nur ein gesetzlicher Mindestlohn.Für die Linke ist klar: Branchenmindestlöhne alleinereichen nicht aus, um alle Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer abzusichern.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Deswegen brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne,
durch die alle Menschen davor geschützt werden, in den
Niedriglohnbereich zu fallen. Nach unserer Auffassung
ist dafür eine Höhe von 10 Euro notwendig.
Frau Krellmann.
Letzter Satz. – Durch einen Mindestlohn von 10 Euro
wird den arbeitenden Menschen von heute auch eine ar-
mutsfeste Rente von morgen gesichert.
Vielen Dank.
Beate Müller-Gemmeke spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Letztes Jahr hat sich der Wirtschafts-weise Wolfgang Franz in der Frankfurter Rundschaugegen Mindestlöhne ausgesprochen. Er hat darauf hinge-wiesen, dass all diejenigen von der Arbeitnehmerfreizü-gigkeit und der Öffnung der Arbeitsmärkte profitieren,die preisgünstigere Produkte favorisieren. Verlierer seienlaut Franz die hiesigen Arbeitskräfte, die sich nicht an-passen könnten oder wollten. Das war meiner Ansichtnach eine unverantwortliche und ignorante Aussage,
und zwar insbesondere aus Sicht der 21 Prozent der Be-schäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und des-halb mit Existenzsorgen leben müssen. Für sie kannsolch eine Aussage nur wie blanker Hohn klingen.Ich kann nur hoffen, dass diese Haltung und dieseSicht der Dinge in den Regierungsfraktionen nicht mehr-heitsfähig sind. Aber Reden reicht nicht; es muss auchendlich gehandelt werden.Die Beschäftigten, und zwar die in- und ausländi-schen, erwarten von uns verantwortlichen Politikern,dass wir im Zuge der Freizügigkeit für Gerechtigkeit,angemessene Arbeitsbedingungen und faire Löhne sor-gen.
Genau das bezwecken wir mit unserem Gesetzentwurf.Neben dem gesetzlichen Mindestlohn, der nur eine Un-tergrenze sein kann, fordern wir mehr branchenspezifi-sche Mindestlöhne.Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll endlich füralle Branchen geöffnet werden. Es ist allseits bekannt,dass die Tarifbindung durch die Tarifflucht der Betriebeimmer weiter abnimmt. Dem darf man nicht tatenlos zu-schauen. Übernehmen die Betriebe nicht mehr die not-wendige gesellschaftliche Verantwortung, dann muss dieBundesregierung Verantwortung übernehmen und zu-mindest auch mit Blick auf die Freizügigkeit branchen-spezifische Mindestlöhne ermöglichen.
Wir wollen auch den Tarifausschuss im Arbeitneh-mer-Entsendegesetz abschaffen. Hier geht es um Min-destlöhne, die von den zuständigen Tarifpartnern zumTeil sehr hart verhandelt und ausgehandelt wurden. Zu-künftig dürfen diese Mindestlöhne nicht mehr blockiertwerden.Wir wollen den Entgeltbegriff verändern. Beschäf-tigte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssenendlich entsprechend der vertraglich festgelegten Ar-beitszeit entlohnt und somit mit allen anderen Beschäf-tigten gleichgestellt werden. Das verhindert auch Wett-bewerbsverzerrungen und stärkt die Betriebe, die diesesSchlupfloch nicht missbrauchen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Blick aufdie Arbeitnehmerfreizügigkeit habe ich kein Verständnismehr für die ideologische Blockade von Schwarz-Gelb.Ihre Blockade von Mindestlöhnen passt angesichts derhohen Lohnunterschiede zwischen alten und neuen EU-Staaten nicht mehr in die Zeit.Die Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dür-fen nicht dazu missbraucht werden, soziale Standards zuverschlechtern. Sie dürfen auch nicht dazu führen, dasstariftreue Arbeitgeber vom Markt verdrängt und immermehr Beschäftigte in den Niedriglohnbereich getriebenwerden. Öffnen Sie das Arbeitnehmer-Entsendegesetzendlich für alle Branchen und machen Sie den Weg freifür einen gesetzlichen Mindestlohn!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10087
Beate Müller-Gemmeke
(C)
(B)
Vielen Dank.
Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Abermals diskutieren wir, diesmal auf
Initiative der Grünen und der SPD, über die Einführung
flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne in Deutsch-
land.
– Auch von der Linken erwarte ich einen solchen Antrag
in den nächsten Wochen. Das bringen Sie alle paar Wo-
chen vor.
Die Regierungskoalition ist nach wie vor der Auffas-
sung – darauf haben wir schon mehrmals hingewiesen –,
dass ein flächendeckender branchenübergreifender Min-
destlohn die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht verbes-
sert, sondern eher verschlechtert. Dadurch werden näm-
lich keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, meine Damen
und Herren der SPD und der Grünen. Es ist ein einfacher
Zusammenhang: Ist der festgesetzte Mindestlohn zu
hoch, dann vernichtet er Arbeitsplätze und Chancen für
arbeitswillige Arbeitslose mit allen negativen Wirkungen
für die Betroffenen und die Sozialsysteme. Ist er zu nied-
rig, dann entfaltet er keine Wirkung.
Von den Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen,
dass ein Überbietungswettbewerb der einzelnen Parteien
nicht nur in Wahlkampfzeiten einsetzen wird. Wie
schnell das passieren kann, haben wir in dieser Debatte
gemerkt. Vorhin hat Klaus Ernst von einem Mindestlohn
von 9,73 Euro in Luxemburg gesprochen. Herr Ernst,
Sie müssen mal Ihren Redenschreiber ins Gebet nehmen.
Vielleicht sollte er mal genauer nachschauen. Seit
1. Januar liegt der flächendeckende gesetzliche Mindest-
lohn in Luxemburg bei 10,17 Euro. Da sehen Sie, wie
schnell einem bei der Mindestlohnspirale schwindelig
werden kann.
– Oder wie schlecht die Recherche der Linkspartei ist.
Meine Damen und Herren, unser zentrales Ziel muss
es sein, konsequent gegen unzumutbare Billiglöhne vor-
zugehen. Ab dem 1. Mai wird sich der deutsche Arbeits-
markt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus
Mittel- und Osteuropa öffnen. Wie von den Vorrednern
bereits ausgeführt, droht insbesondere in der Branche
der Zeitarbeit ein Import ausländischer Billigtarifver-
träge nach Deutschland. Das ist richtig, da werden wir
aufpassen müssen.
Stundensätze von 3 bis 4 Euro würden die Lohnspi-
rale deutlich nach unten drücken. Gerade die Situation
für Geringverdiener würde dadurch erheblich erschwert.
Deshalb streben wir eine Lohnuntergrenze in der Zeitar-
beit an. Meine Damen und Herren, ich bin zuversicht-
lich, dass bald im Vermittlungsausschuss doch noch ein
Kompromiss für die Zeitarbeit gefunden werden wird.
Ich hatte Mitte Dezember von diesem Pult aus an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD appelliert, noch mal
mit ihren Ministerpräsidenten darüber zu reden, ob man
dem Hartz-IV-Bildungspaket im Interesse der Betroffe-
nen, der Familien, der Kinder nicht doch zustimmen
könnte. Ich appelliere jetzt abermals von diesem Pult aus
an Sie. Ich weiß, Frau Kollegin Lösekrug-Möller spricht
nach mir; sie ist eine sehr weise Frau aus der Fraktion
der SPD.
Vielleicht können Sie diesbezüglich im Interesse der Be-
troffenen noch mal ernsthaft nachdenken. Es geht hier
nicht um Machtkämpfe. Das verstehen die Mitbürgerin-
nen und Mitbürger weder an den Fernsehgeräten noch
hier auf den Tribünen. Es geht darum, eine Lösung für
bedürftige, für arme Kinder zu finden, es geht auch da-
rum, eine Lösung für die Kommunalfinanzen zu finden.
Auch das ist etwas, bei dem ich gespannt bin,
ob die Oberbürgermeister, die von der SPD gestellt wer-
den, ihre Ministerpräsidenten vielleicht noch einmal ins
Gebet nehmen und die dann sagen: Jawohl, wir bekom-
men im SGB-XII-Bereich eine merkliche Entlastung in
Milliardenhöhe, ohne dass dies im Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts explizit erwähnt worden ist. Auch das
ist klar.
Deshalb mein Appell: Denken Sie an die Betroffenen,
denken Sie nicht an die nächsten Landtagswahlen, liebe
Genossinnen und Genossen von der SPD!
– Herr Ernst will eine Frage an mich richten. Ich würde
sie erlauben, Frau Präsidentin.
Bitte schön. Herrn Ernst wollen wir nicht stoppen.
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10088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(C)
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Den kann man nicht stoppen, glaube ich, so einen en-
gagierten Gewerkschafter.
Herr Lehrieder, Sie haben gerade dargestellt, dass es
nun an der SPD und an den Grünen im Vermittlungsaus-
schuss liegen würde, wenn die drei Branchen nicht ins
Entsendegesetz aufgenommen würden. Sie haben ge-
sagt, im Interesse der Kinder müsste man das tun. Wür-
den Sie mir zustimmen, dass die gegenwärtig regierende
Bundesregierung das auch ohne die SPD beschließen
kann, dass sie, wenn es ihr tatsächlich um die Kinder
ginge, die SPD dafür überhaupt nicht brauchte? Sie
könnte das als Regierung einfach machen.
Sie könnte doch, ohne dass sie die SPD jetzt in irgendei-
ner Form um Zustimmung bitten muss, im Interesse der
Kinder und der Betroffenen für diese drei Branchen das
Entsendegesetz zur Anwendung bringen, oder ist das
falsch, Herr Lehrieder?
Lieber Kollege Ernst, es geht hier nicht um die Auf-nahme irgendwelcher Branchen ins Arbeitnehmer-Ent-sendegesetz.
Das ist Verhandlungsmasse, die die SPD verständlicher-weise in den Vermittlungsausschuss mit hineingepackthat. Herr Ernst, Sie wissen, dass wir im Bundesrat34 Stimmen haben. Für eine Mehrheit brauchen wir35 Stimmen. Ganz knapp reicht es nicht. Das heißt, fürein positives Vermittlungsergebnis wären wir der SPDfür eine geneigte Mitwirkung sehr dankbar.
– Selbstverständlich können wir das selber machen.
Wir werden sehen, inwieweit wir ab 1. Mai im Be-reich der Leiharbeit entsprechende Verwerfungen habenwerden oder nicht, und wir werden schauen, was tatsäch-lich an Zuwanderung kommt. Wir haben genau dieselbeDiskussion wegen der demografischen Entwicklung.Wir werden in manchen Branchen über die Zuwande-rung nach Deutschland froh sein. Wir müssen erst malabwarten – das war ja genau die Diskussion, die die Vor-redner schon angesprochen haben –, wie viele Menschenaus den neuen Ländern zu uns kommen. Man hatte ja vorzehn Jahren 200 000 Menschen in der IT-Branche erwar-tet – bleiben Sie bitte stehen, Herr Ernst –, später erwar-tete man 70 000.
Die Erlaubnis wurde für 20 000 ausgestellt. Tatsächlichsind in den Jahren 2001/2002 gerade mal 2 500 bis 3 200IT-Spezialisten nach Deutschland gekommen.
– Ich erkläre es Ihnen liebend gern noch einmal, HerrErnst. Sie sollten mal in den Ausschuss kommen, Siesollten sich als Mitglied für den Ausschuss benennenlassen. Dann kriegen Sie die Diskussion live mit. Für dasBildungspaket für die Kinder brauchen wir die Länder.Ich kann es Ihnen gern noch einmal erklären, ich kann esIhnen nachher auch schriftlich geben, falls Sie dies wün-schen. Aber wir brauchen für das Bedarfspaket für dieKinder schlicht und ergreifend die Mitwirkung der Bun-desländer.Daran scheitert es. Das ist auch der Grund, warum wirim Vermittlungsausschuss in den letzten sechs, siebenWochen zäh verhandelt haben und bedauerlicherweisenoch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Die dreiBranchen sind Nebenkriegsschauplätze. Das ist ein Ver-mittlungsausschuss, und das wissen Sie so gut wie ich.
– Wir werden es beobachten und schauen, was dannkommt. Okay? Sie dürfen sich jetzt setzen, Herr Ernst. –Noch eines, Herr Ernst: Es tut weh, gerade von einemGewerkschafter immer wieder diese Rufe nach einemGesetz für Mindestlohn zu hören. Immer wieder dieseBevormundung.
Sie haben offensichtlich zu wenig Respekt vor Ihrer ei-genen Courage.
– Ich bin jetzt auf Seite 4, aber ich habe noch 14 Seiten.Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, wieSie ihn fordern, ist nicht zielführend. In der Dienstagsaus-gabe des Handelsblattes – hierauf hat die KolleginMüller-Gemmeke von den Grünen zutreffend hingewie-sen – legt der Wirtschaftsweise Professor Wolfgang Franzdar, warum ein flächendeckender gesetzlicher Mindest-lohn volkswirtschaftlich betrachtet falsch ist. Er führt aus,dass der Druck auf Löhne und Arbeitsplätze nicht nur ent-steht, wenn beispielsweise ein polnischer Arbeiter zuniedrigen Arbeitskosten ein preiswertes Produkt auf deut-schem Boden herstellt, sondern auch, wenn dasselbe Pro-dukt in Polen produziert wird und dann nach Deutschlandimportiert wird. Letzteres gehört zu unserem Alltag.Franz argumentiert, dass die Wohlfahrt der Konsu-menten dann am höchsten ist, wenn keine Reglementie-rungen getroffen werden und im Übrigen uneinge-schränkte Mobilität ermöglicht wird. Selbst wenn Franzin der Ablehnung des flächendeckenden Mindestlohneszuzustimmen ist, so gehört es dennoch zum Grundver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10089
Paul Lehrieder
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ständnis unseres Sozialstaats, Benachteiligungen auszu-gleichen.Es ist notwendig, Ausnahmen zu machen und in ein-zelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allge-meinverbindlich zu erklären, wie beispielsweise in derPflegebranche, im Bauhauptgewerbe oder im Bereichder Gebäudereinigung. Es ist richtig, was der KollegeSchreiner vorhin ausgeführt hat: Wir müssen aufpassen,welche Branchen nach der Öffnung der Grenzen am1. Mai dieses Jahres verstärkt nach Deutschland kom-men werden. Reichen die bisherigen Regelungen aus,beispielsweise im Bauhauptgewerbe, in der Pflegebran-che, wo wir bereits branchenspezifische Mindestlöhneeinführen konnten? Müssen wir bei Verwerfungen unterUmständen weitere Branchen einbeziehen? Hier sind wirgesprächsoffen. Wir respektieren – anders als die Lin-ken – die gewerkschaftliche Tarifautonomie und dasSelbstbestimmungsrecht der Gewerkschaften. Sie sind fürdie Lohnfindung zuständig, nicht der Bundestag, nicht diePolitiker. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreterkönnen das allemal besser. Herr Ernst, ich erwarte, dassSie Ihrer Verantwortung als Gewerkschafter auch in Zu-kunft gerecht werden.
Würden Sie die Zwischenfrage von Frau Krellmann
zulassen?
Ja, ich warte darauf, dass Sie mich fragen.
Vielen Dank. – Ich frage Sie als Gewerkschafterin.
Mir ist die Beschlusslage bekannt. Was glauben Sie ei-
gentlich, warum der DGB beschlossen hat, dass es einen
Mindestlohn von 8,50 Euro geben soll? Das geschieht
doch nur deswegen, weil Gewerkschaften hinter einer
Mindestlohnforderung stehen. Das ist nicht nur Thema
der Grünen, der SPD und der Linken, das ist mittlerweile
ein Thema aller Gewerkschaften. Haben Sie das regis-
triert?
Frau Krellmann, die Gewerkschaften hinken sogar
den Mindestlohnforderungen der Linkspartei hinterher.
Sie sind schon bei 10 Euro; damit haben Sie die Gewerk-
schaften um 1,50 Euro überholt.
– Das stimmt doch, oder? Stimmt es nicht? 10 Euro ist
Ihr aktueller Tarif; Herr Ernst bestätigt es. Die Linke ist
bei 10 Euro, die Gewerkschaften sind bei 8,50 Euro, die
SPD ist auch bei 8,50 Euro. Daran sehen Sie, dass die
Tariffindung in politischer Hand nur suboptimal ist. Bes-
ser ist es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Aufgabe
übernehmen.
Frau Krellmann, auch von Vorrednern wurde schon
darauf hingewiesen, dass außer dem dbb bisher keine
Gewerkschaft die Lohnfindungskommission angerufen
hat und über diese Kommission in den letzten zwei Jah-
ren etwaige Verwerfungen hat feststellen lassen. Herr
Kollege Weiß hat darauf bereits völlig zutreffend hinge-
wiesen. An dieser Stelle könnten Gewerkschaften, wenn
sie tatsächlich der Auffassung sind, dass in manchen
Branchen Verwerfungen vorhanden sind, etwas für die
betroffenen Arbeitnehmer ins Feld führen. Das haben sie
aber nicht gemacht. Man muss das Mitwirken der Ge-
werkschaften abwarten; denn sie sind nach meinem Ver-
ständnis von Vertragsfreiheit und Tarifautonomie alle-
mal besser berufen, solche Konditionen – seien es
Arbeitszeiten, Löhne, oder Urlaubsansprüche – auszu-
handeln als wir Politiker. Hier müssen wir bescheiden
sein und nicht so tun, als wüssten wir selber alles besser.
Ziel ist es, allen Menschen in unserem Land die Mög-
lichkeit zu geben, durch Arbeit – dabei ist die Qualifika-
tion egal; auch darauf müssen wir aufpassen – genug
Geld zu verdienen, um die Grundbedürfnisse zu befrie-
digen und am kulturellen und gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen. Jedem Menschen in unserem Land wird
ein Existenzminimum gewährt, den Geringverdienern,
denen, die Arbeit suchen, und denen, die keiner Arbeit
mehr nachgehen können. Was soll ein Mindestlohn von
7,50 Euro oder 8,50 Euro bringen? Zunächst einmal hat
Deutschland schon jetzt eine Grundsicherung für
Hartz-IV-Empfänger durch einen impliziten Mindest-
lohn. Betrachtet man beispielsweise die Hartz-IV-Sätze
für eine vierköpfige Familie – es wurde schon darauf hin-
gewiesen, aber man kann es gar nicht oft genug sagen –, so
käme man auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro.
Herr Lehrieder, ich hätte noch eine Zwischenfrage der
Kollegin Alpers anzubieten.
Sehr gern, es ist noch früh am Tag.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Lehrieder, ich muss doch noch
einmal nachfassen.
Das dürfen Sie.
Sie sprachen von der Tarifautonomie, auf der die Ge-werkschaften bestehen würden. Erstens habe ich folgendeNachfrage: Sie sagten, es sei nur der DGB, der einen ge-setzlichen Mindestlohn fordere. Der DGB ist – vielleichtist das noch nicht zu Ihrer Kenntnis gekommen – derDachverband aller Einzelgewerkschaften. Deshalb hätteich gerne, dass Sie mir das Wort „nur“ erklären. Zweitenssprachen wir nicht über die Höhe des Mindestlohns, son-dern wir haben uns prinzipiell für dessen Einführung aus-gesprochen. Ich möchte wissen: Ist Ihnen bekannt, dassauch die meisten Einzelgewerkschaften dies fordern,nicht nur der DGB? Der Gewerkschaftsbund sagt ebenso
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10090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Agnes Alpers
(C)
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wie wir, dass wir zur Mindestabsicherung einen Mindest-lohn brauchen. Die Tarifautonomie wird dadurch nichtbeeinträchtigt. Vielmehr können die einzelnen Branchendie jeweiligen Tarife aushandeln.
Liebe Frau Kollegin, vielleicht habe ich mich etwas
missverständlich ausgedrückt, vielleicht haben Sie auch
die Buchstaben nicht verstanden, die ich gesagt habe.
Nur der dbb, der Deutsche Beamtenbund, hat den Antrag
auf Feststellung von Verwerfung gestellt. Dass natürlich
eine Vielzahl von Gewerkschaften, darunter auch Verdi,
Mindestlöhne fordert, ist mir nicht unbekannt. Das ist
Punkt eins.
Punkt zwei: Ihre Forderung nach einem Mindestlohn
von 10 Euro ist nicht gänzlich neu. Sie brauchen sich
nicht zu verstecken und brauchen sich auch nicht dafür
zu schämen. Diese Forderung ist bekannt. Wenn Sie sa-
gen, Sie forderten nur einen Mindestlohn und ließen die
Höhe offen – vielleicht tun Sie das in einem Antrag in ei-
nem Vierteljahr –, dann entgegne ich Ihnen: In Ihren Pa-
pieren steht ein Mindestlohn von 10 Euro. Punkt, aus.
Sie brauchen sich deswegen nicht zu verstecken.
Die Zwischenfrage war gestellt. Sie ist jetzt beant-
wortet.
Ich möchte noch etwas zum dritten Teil der Frage sa-
gen. Wie lautete der dritte Teil der Frage, Frau Kollegin?
Ich glaube, dass uns das jetzt nicht viel weiter führt.
Möchten Sie den dritten Teil der Frage wiederholen? –
Dann dürfen Sie das jetzt tun.
Sind wir uns einig, dass alle Gewerkschaften ein-
schließlich des Dachverbandes einen gesetzlichen Min-
destlohn fordern? Der Unterschied liegt nur in der Höhe.
Danke. Ich weiß Bescheid. – Sie sagen, wenn man
8,50 Euro als Basis nimmt, so ist es einem unbenommen,
darüber hinaus noch einen höheren Lohn auszuhandeln.
Dabei besteht aber das Risiko, dass die Löhne in den bis
jetzt bestehenden Tarifverträgen, die etwas höher liegen,
mit der Begründung gesenkt werden, man brauche nicht
mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Es ist nicht auto-
matisch so, dass der Mindestlohn eine Verbesserung ist,
sondern er kann auch zu einer Verschlechterung der Be-
zahlung führen. Das ist also, mit Verlaub, Frau Kollegin,
kein Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn.
Ich hatte darauf hingewiesen, dass eine vierköpfige
Hartz-IV-Familie auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro
käme. Das ist immer noch deutlich höher als der höchste
europäische flächendeckende Mindestlohn, der in Lu-
xemburg bei 10,16 Euro – ich wiederhole es gerne –
liegt. Das ist auch höher als der von der SPD und den
Grünen geforderte Betrag von 8,50 Euro bzw. 7,50 Euro.
Das Argument, die sogenannten Aufstocker, also die so-
zialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zusätzlich
Hartz IV erhalten, gäbe es bei einem Mindestlohn nicht,
ist ebenfalls falsch und wird durch Wiederholung auch
nicht wahrer. Von den Aufstockern arbeiten rund 75 Pro-
zent in Teilzeitarbeit. Ich glaube, es war der Kollege
Vogel oder Pascal Kober, der darauf hingewiesen hat. Je-
der weiß, dass man von Teilzeitarbeit alleine nicht leben
kann. Das restliche Viertel hat im Prinzip auskömmliche
Löhne. Wenn die Löhne nicht reichen, so liegt das meist
daran, dass nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch
seine Familie zu ernähren ist. Auch das ist ausgeführt
worden. Hartz IV als ergänzende Sozialleistung unter-
liegt dem Sozialprinzip. Das heißt, es wird nicht nach
der Arbeitsleistung des Erwerbstätigen gefördert, son-
dern der Bedarf der Familie wird gedeckt. Wenn es nicht
reicht, so liegt dies meist daran, dass eine Familie zu er-
nähren ist, und nicht an der Höhe der Stundenlöhne. Nur
circa 35 000 Personen – Sie, Herr Ernst, haben die Zahl
in Zweifel gezogen – haben bei Vollzeit einen so gerin-
gen Lohn, dass sie ausschließlich davon nicht leben kön-
nen. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind die
Löhne für einfache Arbeit oft so weit angehoben wor-
den, bis diese für viele Unternehmen schlicht zu teuer
wurden. Oft bleiben dann die niedrigsten Tarifgruppen
unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jah-
ren in diesen Branchen Arbeitsplätze zum Teil gestri-
chen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung
neuer Stellen ganz zu schweigen. Das von meinen Vor-
rednern ebenfalls bereits benannte Alternativangebot der
Schwarzarbeit will ich gar nicht noch einmal bemühen.
Ich gehe davon aus, dass sich jeder in Deutschland rechts-
treu verhält.
Dasselbe würde für einen gesetzlichen Mindestlohn
auf hohem Niveau gelten: Er würde zwar ausländische
Billigarbeitskräfte fernhalten, aber bei uns auch Be-
schäftigungschancen für Niedrigqualifzierte verringern.
Den Rest meines Manuskripts will ich Ihnen ersparen.
Ich darf aber die Gelegenheit nutzen, Frau Kollegin
Pothmer, Herr Kollege Wadephul, auch von dieser Stelle
aus zu Ihrem heutigen Geburtstag zu gratulieren. Ich
wünsche ihnen weiterhin eine freudige Debatte und ei-
nen schönen Tag.
Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Lösekrug-Möller das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10091
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Wir haben gleich einen Film in Überlänge hinter uns.Zurzeit läuft hier die Berlinale. Mein Eindruck ist, dassTeile des Hauses einen Film aufgeführt haben, der leidernicht nominiert wurde. Das finde ich sehr bedauerlich,aber ich verstehe es. Vielleicht hätten Sie diese Brillengebraucht, die es möglich machen, 3D zu sehen. Das istja der Renner auf der Berlinale.
Welcher Effekt ist das? Man sieht auf einmal räumlichund plastisch, was ist. Ich denke, diese Hilfe wäre nötiggewesen.Wir reden heute über zwei Gesetzentwürfe, von denen– dessen bin ich mir sicher – die meisten Menschen, dieuns, wo auch immer, zuhören oder zuschauen, sagen:Dafür ist es allerhöchste Zeit. Auch will ich sagen: Wirhaben auch Prominente auf unserer Seite.Mindestlöhne– sagt da jemand –sind weder ein Allheilmittel noch eine Katastrophe,sondern einfach ein Instrument. Ich bin– sagt diese Person –im Grundsatz der Überzeugung: Eine Person, dieVollzeit arbeitet, muss in der Lage sein, den Le-bensunterhalt für sich selbst zu bestreiten.
Jetzt klatschen doch bitte auf alle Fälle die Kollegin-nen und Kollegen von CDU und CSU. Denn es war IhreMinisterin von der Leyen, die dies am 21. Februar 2010,also vor einem Jahr, in einem Gespräch im Tagesspiegelgenau so formuliert hat. Recht hat die Ministerin.
Weil sie nicht da ist, sage ich: Schöne Grüße. Was vor ei-nem Jahr richtig war, ist auch heute noch zielführend.Worüber diskutieren wir hier? Wir diskutieren darüber,wie wir dieses erstrebenswerte Ziel erreichen können.Wir haben heute viele Redebeiträge gehört, die eigentlicheines bewiesen haben: Mit den kleinen Instrumenten, diewir derzeit haben, kommen wir der Lösung nicht näher.Es reicht nicht. Wir haben es erlebt, Branche für Branche.Ich nehme eine kleine Branche, nämlich die der berufli-chen Weiterbildung, heraus. An ihr wird deutlich, warumdas scheitert: weil im Prinzip gar nicht gewollt ist, dass esfunktioniert. Ich finde, das muss man dann auch so sagen.Es ist offenkundig nicht gewollt.
Ich halte mich aus dem Streit über die Ergebnisse desVermittlungsausschusses heraus. Mir geht es so wie vie-len hier im Plenarsaal. Wir sind nicht dabei gewesen; wirsind informiert worden.
Jede Seite sagt, sie habe gute Gründe für ihre Positiongehabt. Das respektiere ich, Herr Kober. Aber was istjetzt das Ergebnis?
Ergebnis ist, dass Sie heute darum bitten, wir sollten Jasagen zu einem Kompromiss, von dem die SPD sagt, erführe überhaupt nicht in die richtige Richtung. Wir wol-len Bildungspakete und Infrastruktur und keine kleinenPäckchen, die in die Familien getragen werden.
Wir wollen – Herr Kollege Weiß, das sind wir allen Ar-beitnehmern schuldig – in Sachen Leiharbeit eine Rege-lung, die die Menschen, die in Leiharbeit sind, nicht ver-albert, sondern mit ihren Anliegen wirklich ernst nimmt.
Wenn man das, was auf dem Tisch liegt, betrachtet,dann stellt man fest, dass wir davon Lichtjahre entferntsind. Deshalb sage ich: Es muss Schluss sein mit demAnscheinerwecken von Emsigkeit. Die Menschen habenes nicht verdient, dass man so tut, als würde man ihnenhelfen, und sie vertröstet und sozusagen mit kleinenSchritten in eine vermeintlich bessere Zukunft führt. Unsist es doch hier im Haus gelungen, die finanziell undwirtschaftlich schwierige Krise durch einen starken Im-puls so zu gestalten, dass Unternehmen gut aus der Kriseherauskamen. Jetzt wird es Zeit, dass wir auch den Ar-beitnehmern und Arbeitnehmerinnen helfen, und helfenkönnen wir ihnen mit einem gesetzlichen Mindestlohn.Das muss die rote Linie sein, die in Deutschland nichtüberschritten werden darf.
Wir haben heute mehr als zehn Argumente für die Ein-führung des Mindestlohns gehört. Sie zieren sich wegender unterschiedlichen Höhe von Mindestlöhnen – bei denGrünen ist sie etwas höher als bei uns, den Sozialdemo-kraten – und behaupten: Das kann man einer Kommissionnicht zumuten. Ich habe genau zugehört und stelle fest:Das ist Ihr einziges Kriterium, warum Ihrer Meinungnach die Gesetzentwürfe nicht in Ordnung sind. Dann er-warte ich aber von Ihnen, dass Sie einen Gesetzentwurfvorlegen, der die Einrichtung einer Kommission vorsieht,aber nicht vorgibt, wo sie anfängt. Einen solchen Gesetz-entwurf kenne ich aber nicht.
Wenn wir auf die Deutschlandkarte blicken, dann stel-len wir fest: Deutschland ist ein Niedriglohnland. Wir
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10092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Gabriele Lösekrug-Möller
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können sagen: Was wir an bestehenden Möglichkeitenhaben, funktioniert so nicht. Schauen wir auf Baden-Württemberg, dann stellen wir fest: Die können zwar keinHochdeutsch, aber dafür können sie Niedriglohn. Dortstockt jede dritte Alleinerziehende auf.
– Ja, aber hören Sie mir doch erst einmal zu. Sie könnendie Zahlen aus Baden-Württemberg doch nicht sozusa-gen durch Einrede eliminieren. In Sachsen, Herr Weiß,ist jeder Vierte Geringverdiener.
In NRW – damit Sie mir keine parteipolitische Einseitig-keit vorwerfen – sind 23 Prozent der Aufstocker Vollzeitbeschäftigt.
Das muss man sich vor Augen führen: Jeder Vierte ra-ckert sich ab und schuftet, und am Ende des Monatsmuss er trotzdem Transferleistungen in Anspruch neh-men. Das finden wir nicht in Ordnung. Das hat mit derWürde von Arbeit nichts zu tun.
Ich bin meinem Kollegen Ottmar Schreiner sehrdankbar; denn er hat auf den Punkt gebracht, worum esden Sozialdemokraten geht. Es geht darum, dass wir dieWürde ernst nehmen.
Ich will allen Christen sagen: Das ist ein biblisches Maß.Lesen Sie bei Matthäus nach, ich glaube, es steht in Ka-pitel 20, 1-16: Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.Das kann eine gute Hilfestellung sein, wenn man nichtmehr weiter weiß, wie man sich politisch orientieren soll.Ich finde, Sie könnten Größe zeigen und sagen: Esliegen zwei Gesetzentwürfe vor. Vielleicht finden wir sienicht in jedem Punkt richtig, aber die Richtung stimmt.Paul, ich würde mich deshalb freuen, wenn du dich derSache annehmen würdest.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Frankfurter Abgeordneter darf man bisweilen an den
großen Sozialethiker und Jesuitenpater Oswald von
Nell-Breuning erinnern,
der zu vielen Themen, die unsere Arbeitsgebiete betref-
fen, kluge Dinge gesagt hat, zum Beispiel zum Thema
Lohnfindung in seinem 1960 erschienenen Buch Kapita-
lismus und gerechter Lohn. Dort heißt es, dass die
menschliche Arbeitskraft keine Ware ist. Es sei historisch
die große himmelschreiende Sünde einiger nationalöko-
nomischer Theoretiker, die Lohnbildung allein den Markt-
gesetzen unterwerfen zu wollen.
Nun haben das die klugen Stammväter des Liberalis-
mus, allen voran Adam Smith, lieber Herr Heil, nie be-
hauptet. Der Lohn, so Smith, müsse hinreichend sein, ei-
nem Menschen Unterhalt zu verschaffen und ihn in die
Lage zu versetzen, seine Familie zu ernähren. Goldene
Zeiten, in denen die Wirtschaftswissenschaft noch Teil
der Moralphilosophie war!
Unsere heutige Debatte dreht sich nicht um eine Dif-
ferenz im Ziel, sondern um den richtigen Weg dorthin.
Keiner von uns will die Lohnbildung allein dem Markt
überlassen. Keiner von uns in der Koalition befürwortet
einen Paläoliberalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn wir
etwa im Koalitionsvertrag davon sprechen, das Verbot
sittenwidriger Löhne gesetzlich festschreiben zu wollen,
dann stellen wir gleichsam fest: Es gibt absolute Unter-
grenzen. – Auf die Sittenwidrigkeit will ich später zu-
rückkommen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Heil zu-
lassen?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen dür-fen, und ich bin mir sicher, dass das Informationsbedürf-nis des Kollegen Heil auf diese Art und Weise nachhaltiggestillt werden wird.
Über viele Jahre war die Lohnfindung das Geschäftder Tarifpartner, ohne dass das hinterfragt worden ist.Das ist problematisch geworden – aus vielerlei Gründen.Wir haben in den vergangenen Jahren Instrumentarienentwickelt, damit umzugehen: die branchenbezogenenMindestlöhne, das Entsendegesetz, das Mindestarbeits-bedingungengesetz und vieles mehr. Das war aus unsererSicht richtig, weil es die Hauptverantwortung bei denTarifpartnern beließ und erst dann, nämlich subsidiär,staatliches Handeln ins Spiel gebracht wurde.Nun sind auch und gerade im christlich-sozialen Be-reich durchaus weiter gehende Forderungen erhobenworden,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10093
Dr. Matthias Zimmer
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die von einer gewissen Ungeduld zeugen. So sprechensich sowohl die Katholische Arbeitnehmer-Bewegungals auch das Kolpingwerk für gesetzliche Mindestlöhneaus.
Auch das gehört zum Gesamtbild der Lage, die wir heutediskutieren.Ich glaube aber nicht, dass es nur einen Weg gibt, zueinem gerechten Lohn zu kommen; mehr noch: Ich haltevieles von dem, was in den vorliegenden Gesetzentwür-fen formuliert wird und auch von KAB und Kolping-werk vorgeschlagen wird, auch und gerade aus christ-lich-sozialer Sicht für falsch.Wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn nach-denkt – ich will dieses Hohe Haus durchaus einmal alsOrt des Nachdenkens und nicht nur des konfrontativenDebattierens nutzen –, dann darf man das Prinzip derSubsidiarität nicht aus dem Blick verlieren. Es müssteam Anfang aller Überlegungen zum gesetzlichen Min-destlohn stehen.Deswegen müsste aus christlich-sozialer Sicht ein ge-setzlicher Mindestlohn die Möglichkeit einer tariflichenÖffnungsklausel enthalten. Tarifautonomie geht vor Ge-setz, aber die Tarifautonomie dürfte nicht alles; denneine gesetzliche Mindestlohngrenze erst gäbe der Mög-lichkeit Gestalt, eine einheitliche Höhe für die Sitten-widrigkeit der Löhne festzusetzen. Anderenfalls bliebedie Feststellung der Sittenwidrigkeit reines Richterrecht,abhängig von der Region, der Branche und vielem ande-ren. Umgekehrt: Wer eine solche Sittenwidrigkeit ein-deutig festlegen wollte, bräuchte eine Bezugsgröße, unddie lieferte nur ein Mindestlohn; er wäre eine normativeBezugsgröße für die Sittenwidrigkeit von Löhnen.Ich bin immer wieder überrascht von der Beliebigkeit,mit der über die Höhe eines Mindestlohns diskutiertwird. Ein wenig ins Blaue hinein wird da geschätzt undgewünscht – genauso wie bei den Hartz-IV-Regelsätzen.
Für mich könnte es aus christlich-sozialer Perspektivenur eine Erwägung geben, die die Höhe eines Mindest-lohns definiert, und die wäre: Wer sein ganzes Berufsle-ben lang rechnerisch nur den Mindestlohn bekommenhat, muss am Ende eine Rentenanwartschaft verdient ha-ben, die über der Grundsicherung liegt.Ein solches Abstandsgebot ist durch den Wert der Ar-beit selbst geboten. Erst aus diesem Abstandsgebot undaus seiner Berechnung heraus ließe sich über die Höhe ei-nes Mindestlohns reden. Mit anderen Worten: Die Höheeines Mindestlohns müsste sich nach der Möglichkeit be-rechnen, eine Rentenanwartschaft über der Grundsiche-rung zu erwerben. Nach allem, was wir bisher wissen: Mit7,50 Euro ist das nicht zu machen.Wenn ich aus christlich-sozialer Sicht über das ThemaMindestlohn nachdenke, würde ich auch keineswegs zudem Vorschlag kommen, eine Kommission zur Festle-gung des Mindestlohns einzurichten, wie es etwa imEntwurf der Grünen formuliert ist. Wie schwierig solcheDiskussionen manchmal sein können, zeigt die Debatteum die Höhe der Regelsätze. Vor Wahlen wird dann re-gelmäßig eine Diskussion zu haben sein über die Höhedes Mindestlohns, darüber, nach welchen Kriterien erfestgelegt wird, und das hielte ich für problematisch.Auch eine formal unabhängige Kommission könnte sichlautstark vorgetragenen politischen Begehrlichkeitenkaum verschließen. Eleganter fände ich dann doch denWeg, einen Mindestlohn an die Rentenentwicklung zukoppeln. Damit wäre zum einen das Abstandsgebot ge-wahrt, zum anderen wäre implizit auch die Mahnung derkatholischen Soziallehre berücksichtigt, dass die ge-rechte Entlohnung natürlich immer mehrere Bestim-mungsgründe hat.Es ist richtig: In der Politik entscheidet nicht dasWünschbare, sondern das politisch Mögliche. Aber einwenig mehr Fantasie darf man auch entwickeln. DieLeitplanken, innerhalb derer sich die Fantasie entwi-ckelt, sind durch die Begriffe „Subsidiarität“, „Tarifauto-nomie“ und „gerechter Lohn“ vorgegeben. Die Gesetz-entwürfe von SPD und Grünen scheinen mir eher davongeprägt zu sein, dass Subsidiarität und Tarifautonomiekaum eine Rolle spielen. Ordnungspolitisch halte ich dasfür falsch. Aber darüber zu streiten, wie wir einen ge-rechten Lohn verwirklichen, scheint mir richtig zu sein,weil wir uns im Ziel, die Arbeit nicht als Ware zu begrei-fen und die Lohnbildung nicht allein den Märkten zuüberlassen, durchaus einig sind. Dass wir damit alle dazubeitragen, im Sinne von Oswald von Nell-Breuning diekapitalistische Wirtschaftsweise normativ zu veredeln,ist für mich ein versöhnliches Ende einer manchmaldurch schrille Töne und tagespolitische Zuspitzungengetragenen Debatte.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heil das
Wort.
Sehr geehrter Herr Dr. Zimmer, ich schätze Sie als re-flektierenden, nachdenklichen Menschen. Allerdings – dasmuss ich Ihnen bei der ganzen Geschichte sagen –, dieMenschen werden von warmen Worten nicht satt.
Deshalb möchte ich Ihnen einmal etwas zum Thema Sub-sidiarität und Lohnfindung erzählen. Wir sind für Tarif-löhne. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, sind wir fürden Vorrang branchenspezifischer Tariflöhne, der auf-grund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes festgeschrie-ben werden kann – und nichts anderes. Wir wissen aberauch, dass es inzwischen Branchen gibt, wo das so nichtmehr funktioniert, wo also ein gesetzlicher Mindestlohnnotwendig ist.
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10094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Hubertus Heil
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Jetzt will ich Ihnen eines sagen: Ich kann es nichtmehr ertragen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktionjedes Mal, wenn wir über das Thema sprechen, Sie, sosonor Sie es auch hier vortragen, als netten Menschenam Schluss reden lässt,
Sie etwas herumphilosophieren, aber am Ende nichts he-rauskommt. Placebo-Mindestlöhne nützen den Men-schen nichts. Herr Dr. Zimmer, was die Festlegung imKoalitionsvertrag, sittenwidrige Löhne gesetzlich als un-terste Kante festzuschreiben, bedeutet, will ich Ihnenpraktisch belegen. Ehe Löhne sittenwidrig werden, kannman heutzutage nach Richterrecht bis zu einem Drittelvom niedrigsten Tarif nach unten abweichen. Bezogenauf das Friseurhandwerk in Sachsen hieße das beispiels-weise, dass erst bei 2,04 Euro Stundenlohn der Lohn sit-tenwidrig würde. Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass2,04 Euro die unterste Kante sein soll? Anhand dieserFrage erkennen Sie, dass Sie nicht um einen gesetzlichenMindestlohn herumkommen.Auch eine zweite Frage kann ich Ihnen als jemandemmit einem sozialen Herz, der sich hier auf Oswald vonNell-Breuning und die katholische Soziallehre, die mirauch als evangelischem Christen sehr sympathisch ist,bezieht, leider nicht ersparen: Ab welchem Zeitpunktsoll nach Ihrer Überzeugung, also Ihrer persönlichen,auch wenn sie im Gegensatz zu der Ihrer Kolleginnenund Kollegen steht, im Bereich der Zeit- und Leiharbeitder Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unab-weichbar gelten? Die FDP spricht von neun Monatenund hat die CDU/CSU in Geiselhaft genommen. Was istIhre Auffassung als Sozialexperte, ab welchem Zeit-punkt der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“gelten soll, Herr Zimmer?
Herr Dr. Zimmer zur Erwiderung, bitte.
Danke schön, Herr Kollege Heil. Ich bin für die Frage
sehr dankbar, obwohl sie in den argumentativen Zusam-
menhang der Punkte, die wir bei Mindestlöhnen disku-
tieren, nicht so recht hereinzupassen scheint; aber sei es
drum.
Ich glaube, ich würde mich zunächst einmal mit Ihnen
und mit anderen, die damals in der rot-grünen Koalition
die Möglichkeit geschaffen haben, von Equal Pay abzu-
weichen, zusammensetzen.
Ich würde dann Sie, lieber Herr Heil – da bitte ich als
neuer Kollege um Verständnis; Sie sind ja schon sehr
viel länger dabei –,
doch einmal fragen: Gab es denn damals eigentlich gute
Gründe, dies zu tun und ohne Fristen zuzulassen,
und sind diese guten Gründe noch valide?
Erst dann, wenn wir darüber gesprochen haben, würde
ich eine zweite Frage anschließen, nämlich, was wir da-
ran ändern müssen. Deswegen sehe ich mich heute au-
ßerstande, mich auf eine entsprechende Frist festzule-
gen, weil ich Ihre Argumente zu dieser Frage überhaupt
nicht kenne.
Der nächste Punkt: Wir sind hier im Plenarsaal des
Deutschen Bundestages. Ich glaube schon, dass Argu-
mente hier eine gewisse Rolle spielen, getreu dem
Hegel’schen Motto: Ist das Reich der Ideen erst revolu-
tioniert, hält die Wirklichkeit nicht stand. – Insofern
habe ich, auch was meine Position zu Mindestlöhnen an-
geht, durchaus die Hoffnung, dass sich der zwanglose
Zwang des besseren Arguments langfristig durchsetzen
möge.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 17/4665 und 17/4435 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 fsowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 f auf:27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Straßenverkehrsgesetzes undanderer Gesetze– Drucksache 17/4144 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
InnenausschussRechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des BVL-Gesetzes– Drucksache 17/4381 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. RosemarieHein, weiteren Abgeordneten und der FraktionDIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10095
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Digitalisierung vergriffener und verwaisterWerke– Drucksache 17/4661 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Mediend) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineZimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit schaf-fen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandeneQualifikationen anerkennen– Drucksache 17/4615 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzunge) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSicherheit hat Vorrang – Atomkraftwerk Gra-fenrheinfeld sofort abschalten– Drucksache 17/4688 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedHermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENRheintalbahn – Modellprojekt für anwohner-freundlichen Schienenausbau– Drucksache 17/4689 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten IngeHöger, Paul Schäfer , Jan van Aken, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizie-rung der „Internationalen Konvention gegendie Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierungund die Ausbildung von Söldnern“ der Gene-ralversammlung der Vereinten Nationen– Drucksache 17/4663 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Sozialesb) Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulSchäfer , Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEInternationale Ächtung des Söldnerwesens undVerbot privater militärischer Dienstleistungenaus Deutschland– Drucksache 17/4673 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfec) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBrennelemente-Zwischenlager am Forschungs-zentrum Jülich ertüchtigen– Drucksache 17/4690 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDInstrumente zur Bekämpfung der Steuerhin-terziehung nutzen und ausbauen– Drucksache 17/4670 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSchutz vor Bahnlärm verbessern – VeraltetesLärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen– Drucksache 17/4652 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten SevimDağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESolidarität mit den Demokratiebewegungen inden arabischen Ländern – Beendigung derdeutschen Unterstützung von Diktatoren– Drucksache 17/4671 –
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10096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe,das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a bis l. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifikations-Gesetzes– Drucksache 17/3800 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/4660 –Berichterstattung:Abgeordnete Kirsten LühmannDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4660, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/3800 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inder dritten Beratung ebenfalls mit den Stimmen des gan-zen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur bestätigenden Regelung verschiedener steu-erlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriftendes Haushaltsbegleitgesetzes 2004– Drucksachen 17/3632, 17/3984 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/4597 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje TillmannLothar Binding
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/4597, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3632und 17/3984 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktionund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegen-stimmen der Fraktion Die Linke.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – DieGegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istmit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweitenBeratung angenommen.Tagesordnungspunkt 28 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzesund anderer Gesetze– Drucksachen 17/3960, 17/4146 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/4596 –Berichterstattung:Abgeorndete Patricia LipsNicolette KresslDr. Birgit ReinemundDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/4596, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3960und 17/4146 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung derFraktionen der SPD und der Linken.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie beider zweiten Beratung angenommen.Tagesordnungspunkt 28 d:Beratung der dritten Beschlussempfehlung desAusschusses für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10097
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahlzum 17. Deutschen Bundestag am 27. Septem-ber 2009– Drucksache 17/4600 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang GötzerMichael Grosse-BrömerBernhard KasterMichael Hartmann
Christian Lange
Stephan ThomaeDr. Dagmar EnkelmannJosef Philip WinklerHier liegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklä-rung zur Abstimmung nach § 31 GO der KolleginKathrin Vogler vor.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zur Abstimmungüber die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-schusses möchte ich folgende Erklärung abgeben:Ich werde der vorliegenden Beschlussempfehlungnicht zustimmen, obwohl meine Fraktion, wie auch dieanderen Fraktionen des Hauses, sie im Grundsatz mit-trägt. Das finde ich erklärungsbedürftig.Die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-schusses enthält in Anlage 47 den Einspruch eines Wäh-lers aus meinem Wahlkreis 129, Steinfurt III, gegen dasErgebnis der Bundestagswahl in diesem Wahlkreis. DerWähler führt dort unter anderem an, dass der Stimmzet-tel für die Wahl nicht korrekt gewesen sei, weil der Kan-didat der CDU, Dieter Jasper, dort mit einem Doktortitelaufgeführt war, den er legal nicht hätte führen dürfen,weil dieser bei einer sogenannten Titelmühle in derSchweiz gekauft und nicht durch wissenschaftliche Tä-tigkeit erworben wurde.
Der Wahlprüfungsausschuss stellt wohl richtig fest,dass der Einspruch dieses Bürgers wegen Fristablaufsnicht mehr zulässig sei. Die Frist zum Einspruch gegendas Wahlergebnis der Bundestagswahl beträgt zwei Mo-nate nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses. Imbeschriebenen Fall war es aber so, dass der Tatbestandder Öffentlichkeit bis nach Ablauf der Frist gezielt ver-heimlicht wurde. Erst im Februar 2010 brachten Me-dienrecherchen den Skandal ans Licht.Zu diesem Zeitpunkt hätte nur noch der Präsident desDeutschen Bundestags die Wahl anfechten können. Ichhabe damals den Präsidenten des Hauses angeschriebenund ihn gebeten, die Wahl im Wahlkreis 129 anzufechtenund Neuwahlen zu veranlassen. Von vielen Wählerinnenund Wählern habe ich damals nämlich gehört, dass sieHerrn Jasper nicht gewählt hätten, wenn sie vorher vonseinem Titelbetrug gewusst hätten. Da sein Vorsprunggegenüber dem Mitbewerber von der SPD, Dr. ReinholdHemker, nicht einmal 2 Prozent der Stimmen betrug,wäre das Direktmandat möglicherweise nicht an HerrnJasper gegangen, wäre den Wählerinnen und Wählernder Titelkauf vorher bekannt gewesen.Obwohl der Fristablauf eindeutig und nicht von derHand zu weisen ist, habe ich den Eindruck, dass in die-sem Fall der Ablauf der Einspruchsfrist bewusst oder zu-mindest fahrlässig herbeigeführt wurde.
Nach seinen eigenen Aussagen, zitiert in den Westfäli-schen Nachrichten, hat Dieter Jasper schon im Oktober2009 gegenüber dem Bundestagspräsidium offengelegt,dass er den Titel nicht legal hätte führen dürfen. Ich gehedavon aus, dass auch die Führung der Unionsfraktion in-formiert gewesen sein muss.
Wenn die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt überden Titelbetrug informiert worden wäre, hätte eine Be-schwerde fristgerecht eingereicht werden können.
Dass Bundestagspräsident Dr. Lammert diese Mausche-lei seines Parteifreunds gedeckt hat, hat mich politischund menschlich schwer enttäuscht.
Zumindest aber hätte der betroffene Kollege den An-stand besitzen können, sein auf Lug und Trug basieren-des Mandat freiwillig zurückzugeben.
Insgesamt stellt sich für mich die Frage, ob die abso-lute Frist für Wahleinsprüche, die der Rechtssicherheitdienen soll, letzten Endes nicht ein Klima der Vertu-schung begünstigt, das für die Demokratie womöglichschädlicher ist als ein geringes Restrisiko an Rechtsunsi-cherheit.
Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind in der Politik un-verzichtbar; sie sind in diesem Fall mit Füßen getretenworden.
Vermutlich könnte nur das Bundesverfassungsgerichtdiese Frage endgültig klären, es sei denn, wir als Gesetz-geber nehmen den Fall zum Anlass, das Bundeswahlge-setz zu ändern; dafür würde ich mich stark machen.Meine Unterstützung gilt in diesem Fall dem Ein-spruchsführer. Auch deswegen stimme ich gegen dieseBeschlussempfehlung.
Vielen Dank.
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10098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
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Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit bei einigen Gegenstimmen aus derFraktion Die Linke, der Fraktion der SPD und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri-gen Mitglieder aller Fraktionen angenommen.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 28 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 210 zu Petitionen– Drucksache 17/4534 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 211 zu Petitionen– Drucksache 17/4535 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Auch die Sammelübersicht 211 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 212 zu Petitionen– Drucksache 17/4536 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 212 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 28 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 213 zu Petitionen– Drucksache 17/4537 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 213 ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 214 zu Petitionen– Drucksache 17/4538 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 214 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Bündnis 90/DieGrünen und SPD bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 215 zu Petitionen– Drucksache 17/4539 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 215 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 216 zu Petitionen– Drucksache 17/4540 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 216 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktionen SPD undDie Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 217 zu Petitionen– Drucksache 17/4541 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 217 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder –Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes-regierung zum Thema FrauenquoteIch eröffne die Aussprache.Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin CarenMarks für die SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10099
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!„Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genom-men. Sie bekommen nichts“, so Simone de Beauvoir.So wird es kommen mit dieser schwarz-gelben Bun-desregierung; denn diese Regierung unternimmt nichts,um die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zuverbessern. So sind Frauen in Führungspositionen im-mer noch mit der Lupe zu suchen. Aber anstatt ent-schlossen als Bundesregierung zu handeln, streiten sicherst einmal die Frauen- und die Arbeitsministerin in allerÖffentlichkeit. Während die zuständige Frauenministe-rin Schröder stur auf Freiwilligkeit der Unternehmensetzt, hat Frau von der Leyen ganz plötzlich die Notwen-digkeit einer gesetzlichen Quote erkannt.
Wirtschaftsminister Brüderle mischt sich auch noch inden Streit ein und springt Frau Schröder zur Seite. Er hatnicht begriffen, dass die Wirtschaft von mehr Frauen ander Spitze profitieren würde. Schade eigentlich, dass dieStreithähne bei der Debatte heute nicht anwesend sind.
Dann kam das Machtwort der Kanzlerin: Mit ihrwerde es keine Quote geben. Frau Merkel lässt dieFrauen zum wiederholten Male im Stich. Dabei zeigenaktuelle Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit derFrauen die Einführung einer Quote für richtig und not-wendig hält.
Hier bleibt nur ein Schluss: Machterhalt durch verordne-ten Koalitionsfrieden steht für die Kanzlerin über erfor-derlichem Regierungshandeln. Das ist eine Klatsche insGesicht der Frauen in unserem Land.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, dassFrau von der Leyen wie bei so vielen sozialdemokrati-schen Forderungen auch in diesem Fall wieder einmalauf die Position der SPD geschwenkt ist. Die SPD-Bun-destagsfraktion fordert schon seit langem eine gesetzli-che Frauenquote von mindestens 40 Prozent in Auf-sichtsräten und Vorständen großer Unternehmen.
In ihrer Zeit als Familienministerin und Frauenministe-rin haben wir von Frau von der Leyen eine solche Forde-rung nicht vernommen. Bereits damals hätte sie sich füreine gesetzliche Quote und somit für die Frauen in die-sem Land starkmachen können.
Doch es geht der Ministerin nicht wirklich um dieFrauen. Die Zeit ist günstig. Es geht ihr – wie so oft –vor allem um eine gute PR.
Ganz aktuell hätte sie sich als Arbeitsministerin beiden Hartz-IV-Verhandlungen für einen gesetzlichenMindestlohn starkmachen können, von dem vor allemFrauen profitiert hätten. Hat sie aber nicht, wie wir wis-sen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Weshalb Frauenministerin Schröder nach wie vor un-beirrt nur auf unverbindliche Selbstverpflichtungen derUnternehmen setzt, ist definitiv nicht nachzuvollziehen.Fakt ist, die vor zehn Jahren von der Bundesregierungmit der Wirtschaft geschlossene Vereinbarung hat keineErfolge gebracht. Der Frauenanteil in Führungspositio-nen ist nach wie vor beschämend gering. Doch FrauSchröder zieht aus dieser Erfahrung keine entsprechen-den Schlussfolgerungen. Das rigorose Nein der Kanzle-rin zur Quote ist nicht nur eine Ohrfeige für Frau von derLeyen, sondern eine Ohrfeige für alle Frauen.
Auch die Kanzlerin hofft wohl darauf, dass die männer-dominierten Chefetagen zukünftig lernfähig werden. Ichdenke, diese Hoffnung ist alles andere als berechtigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftli-che Debatte über die Notwendigkeit einer Frauenquotewurde von Norwegen angestoßen. Norwegen hat als ers-tes Land eine Geschlechterquote von 40 Prozent fürAufsichtsräte eingeführt. Dies ist übrigens im Jahr 2003geschehen. Heute ist eine Quote von 42 Prozent erreicht.Vor der Gesetzesverabschiedung lag die Quote bei7 Prozent.Diese Erfahrungen in Norwegen machen doch mehrals deutlich: Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gesetzli-che Quote; sanktionsbewehrt muss sie zudem sein. DieQuote ist in Norwegen akzeptiert. Sie funktioniert undlöst keine Debatten mehr aus. In Spanien ist im Jahr2007 eine Frauenquote eingeführt worden. Ganz aktuell,im Januar 2011, hat das französische Parlament die Ein-führung einer Frauenquote für die Wirtschaft beschlos-sen. Ein Frauenanteil von 40 Prozent in Vorstandsetagenmuss binnen sechs Jahren erreicht werden.
Was erleben wir aber gegenwärtig bei uns? Kabinetts-mitglieder streiten sich untereinander. Die Kanzlerinversucht, die Diskussion zu ersticken. Doch es wird ihrnicht gelingen, diese Diskussion in der Gesellschaft zuersticken. Im Kabinett hat sie das vielleicht für einenMoment geschafft, in der Gesellschaft wird ihr das abernicht gelingen.Die Forderungen der Frauen werden zu Recht lauter.Die gesetzliche Quote wird kommen müssen, wenn nicht
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10100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Caren Marks
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mit dieser Regierung, dann – so sage ich den Frauen imLand – spätestens im Jahr 2013 mit einer anderen Regie-rung.
Das Wort hat nun die Kollegin Nadine Schön für dieCDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nein, ich mag die Quote nicht – eigentlich. Esmüsste doch auch ohne gehen – eigentlich. Meine Al-tersgenossinnen und ich sind hervorragend ausgebildet,und es gibt doch Möglichkeiten der Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf. Uns stehen doch alle Wege offen.Was sollte uns aufhalten? Eigentlich wissen die Firmen,dass gemischte Teams erfolgreicher sind. Sie wissen,dass sie Frauen auf allen Ebenen brauchen.
Es müsste doch eigentlich auch auf freiwilliger Basis ge-hen. – Es sollte, es müsste, eigentlich. Es sollte undmüsste sich ohne Druck entwickeln. Das hat man schon2001 gesagt. Dann wurde verkündet, dass man keineQuote brauche, weil sich von nun an alles gut entwickelnwerde. Sogar eine freiwillige Selbstverpflichtung wurdeabgeschlossen. So überzeugt war man davon, dass manden Anteil von Frauen in Führungspositionen alsbald er-höhen werde. Klare Ziele hat man nicht definiert.Sehr geehrte Frau Marks, weil Sie sich hier derartechauffieren:
Die Geschichten von damals, als Sie eine Frauenquotegefordert haben und Bundeskanzler Schröder mit seinenBossen Sie zurückgepfiffen und die freiwillige Selbst-verpflichtung präsentiert hat, sind legendär.
Deshalb würde ich mich an Ihrer Stelle hier sehr zurück-halten.
Fakt ist leider: Die Bilanz nach zehn Jahren ist er-nüchternd. In den Vorständen sind nicht einmal 3 Pro-zent Frauen; in den Aufsichtsräten sieht es kaum besseraus. Eine gute Ausbildung und eine familienfreundlicheArbeitswelt hielt man auch in Norwegen und Frankreichlange Zeit für ausreichend. Die beiden Länder sind indieser Hinsicht – das müssen wir zugeben – vorbildlich.
Doch auch hier musste man erkennen: Das allein reichtnicht. Es gab trotzdem nicht mehr Frauen in Führungs-positionen; es gab trotzdem eine gläserne Decke. Des-halb haben sich diese Länder entschlossen, zu strengerenMaßnahmen zu greifen. Damit sind sie, wie in Norwe-gen zu beobachten ist, sehr erfolgreich.
Dass das „es sollte“, „es müsste“, „eigentlich“ und„es wird schon“ nicht funktioniert, diese bittere Erfah-rung haben nun schon genug andere vor uns machenmüssen. Ausbildung ist wichtig, Coaching ist wichtig,Kinderbetreuung ist wichtig, auch der eigene Aufstiegs-wille ist wichtig, doch das alles führt nicht in die Chef-etage. Das belegen zahlreiche Studien und die genanntenBeispiele. Denn der Vorstand wird vom Aufsichtsrat ge-wählt, und wer für den Aufsichtsrat vorgeschlagen wird,das bestimmt der Aufsichtsrat selbst. Interessante Einbli-cke, wie das funktioniert, hat uns neulich das managermagazin ermöglicht. Man spielt zusammen Fußball, gehtzusammen wandern und Ski fahren. Dabei wird dannüberlegt, wer zu einem passt, wen man aufnehmenkönnte. Dadurch bleibt man halt unter sich.
Das ist wahrscheinlich kein böser Wille; aber es ist dieRealität. Es ist eine Realität, die 50 Prozent der Bevölke-rung außen vor lässt. Solange keine Frauen in diesen Zir-keln vorkommen oder nur vereinzelt dort zu finden sind,so lange wird sich daran nichts ändern.
Um diese Strukturen aufzubrechen, braucht man klareVorgaben. Ist erst einmal eine qualifizierte Größe, einegewisse Anzahl an Frauen vorhanden, regelt sich derRest von alleine.
Auf dem Weg zu dieser qualifizierten Größe – damit istnicht die Art der Qualifikation gemeint, sondern eine ge-wisse Mindestanzahl, liebe Kollegin Marks; dies sageich nur zur Erläuterung –
ist nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik ge-fragt. Wir können nicht weiter vor uns hin dümpeln. Wirbrauchen konkrete und verbindliche Schritte mit klarenZielen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10101
Nadine Schön
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Wir müssen dabei nicht alle über einen Kamm sche-ren. Eine feste Quote kann durchaus zu Schwierigkeitenführen.
Jedes Unternehmen kann sich mit der Flexiquote seineneigenen Fahrplan zurechtlegen;
denn ein Automobilunternehmen – das werden wohlauch Sie wissen – ist von Natur aus eher männlich ge-prägt
als zum Beispiel eine Bank, die durchaus viele Juristin-nen und BWLerinnen beschäftigt und eine Quote leich-ter und schneller erfüllen kann.
Klar ist aber: Wir müssen politisch und, wie ichmeine, auch gesetzlich einfordern, dass in großen Kon-zernen in Gremien mit zum Beispiel zehn Mitgliedernsehr bald mindestens drei Stühle von Frauen besetzt wer-den. Das ist, denke ich, das Mindeste, das wir verlangenkönnen.
Ich will keine weiteren zehn Jahre darauf warten. Wirbrauchen einen Stufenplan mit konkreten und verbindli-chen Schritten, um dieses Ziel zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen inNorwegen und Frankreich haben gezeigt – das konntenwir auch in Deutschland beobachten –: Ohne diese kon-kreten, verbindlichen Schritte werden wir nicht voran-kommen. Die Liste derjenigen, die schon immer gegeneine Quote waren, ist lang. Aber immer länger wird dieListe derjenigen, die feststellen: Es geht einfach nichtohne.
In der Titelgeschichte des Spiegel von vor zwei Wochenist sehr deutlich geworden, dass sich diese Erkenntnisbei vielen durchgesetzt hat: Caren Miosga und IlseAigner – sie wurden bereits genannt –,
die beiden Redakteurinnen, 73 Prozent der Frauen und60 Prozent der Männer sind mittlerweile für eine Quotefür Führungspositionen.
Auch ich gehöre zu diesen 73 Prozent der Frauen. Ichhabe mich dazu durchgerungen, eine Quote zu wollen;denn ich will nicht, dass meine Altersgenossinnen undich die nächste Generation sind, die an der gläsernen De-cke kleben bleibt.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das wareine gute Argumentation, die deutlich gemacht hat, wa-rum die CDU-Vorsitzende unrecht hat,
wenn sie sagt, man brauche keine Quote, wie wir soebenvon Frau Schön gehört haben. Es ist bedauerlich, dass eskein einziges der Regierungsmitglieder, die sich immerwieder zu diesem Thema geäußert haben, für notwendighält, mit uns, dem Parlament, darüber zu diskutieren.
Es gab einmal eine Zeit, in der für die Mehrheit un-vorstellbar war, dass Frauen wählen. Heute ist das Frau-enwahlrecht Realität. Aber es lohnt, die Argumente, diedamals ins Feld geführt wurden, um das Frauenwahl-recht aufzuhalten, zu studieren. Die Philosophin und Fe-ministin Simone de Beauvoir gab in ihrem Klassiker Dasandere Geschlecht einen sehr amüsanten Überblick überdie Argumente, die damals galten. Es hieß, die Frauwürde ihren Charme verlieren, wenn sie wähle. Sie be-herrsche den Mann doch auch ohne Stimmzettel. Oder– ganz schlimm –: Politische Diskussionen würden zurAuseinandersetzung zwischen den Eheleuten führen.Eine andere Aussage lautete: Die Hände von Frauen sindnicht bestimmt zum Falten von Stimmzetteln.
Heute rufen solche Argumente bei uns natürlich nuramüsiertes Lachen hervor. Überzeugen können die Ar-gumente niemanden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass innaher Zukunft all die Argumente, die heute noch gegeneine Quote in Aufsichtsräten angeführt werden, dasselbeSchicksal erfahren: dass wir nur noch amüsiert über sie
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10102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Katja Kipping
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lachen und sagen, dass sie eher etwas fürs Museum sind,unter der Überschrift „Es war einmal …“
All den Gegnerinnen und Gegnern der Frauenquote seigesagt: Sie können den Fortschritt vielleicht verzögern;aber Sie können ihn nicht aufhalten. Sie kämpfen gegendie Zukunft.
Leider sind diese Argumente immer noch Realität. In-sofern müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Einklassisches Abwehrmuster besteht in der Unterstellung,es gebe nicht genügend kompetente Frauen. Das ist sehrbezeichnend. Auch als in Norwegen im Jahre 2006 die40-Prozent-Quote eingeführt wurde, warnte manch einervor einem Mangel an kompetenten Frauen. Die Praxiskonnte diese Sorge ausräumen. Glauben Sie ernsthaft,dass all die Männer, die hochbezahlte Posten in Auf-sichtsräten haben, nur aufgrund ihrer Kompetenz dortsitzen?
Glauben Sie ernsthaft, dass dabei nicht auch Vitamin B,also Beziehungen zu – ich sage es einmal so – eher män-nerlastigen Machtnetzwerken, eine Rolle gespielt hat?
Eine weitere Verzögerungstaktik besteht darin, auf dieFreiwilligkeit der Wirtschaft zu setzen. Das haben schonmehrere Regierungen hintereinander versucht. Das Er-gebnis ist bekannt: Weniger als 1 Prozent der Vorständein den 100 größten deutschen Unternehmen sind weib-lich. Insgesamt, so sagt man, besetzen Frauen maximal10 Prozent der Posten in Aufsichtsgremien. Die Bundes-kanzlerin und Ministerin Schröder wollen trotzdem wei-terhin auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft setzen. Ichsage es einmal so: Im Vergleich dazu ist der Glaube anden Weihnachtsmann ein geradezu seriöses Projekt.
Die Linke meint: Wenn wir Geschlechtergerechtigkeitwollen, dann brauchen wir verbindliche Regelungen.Wir dürfen uns von der Wirtschaft nicht länger auf derNase herumtanzen lassen.
Die Frauenquote in Aufsichtsräten ist natürlich keinAllheilmittel zur Überwindung des Patriarchats. Dazusind die Benachteiligungen von Frauen zu tief in unsererGesellschaft verankert. So manches Gesetz verschärftsie sogar. Eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen,sind die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemein-schaft bei Hartz IV. Das Wort „Bedarfsgemeinschaft“ istBehördendeutsch und bedeutet, dass Menschen, die län-ger als ein Jahr zusammenleben, automatisch unterstelltwird, sie hätten eine eheliche Gemeinschaft, sodass ihreEinkommen im Hinblick auf die Höhe von Sozialleistun-gen angerechnet werden.Kürzlich habe ich mich in meiner Funktion als Aus-schussvorsitzende mit Frauenverbänden ganz unter-schiedlicher politischer Couleur getroffen. Mir wurdensehr bewegende Fälle geschildert, die deutlich gemachthaben, dass die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsge-meinschaft gerade Frauen in unerträgliche Situationenbringen. Zum Beispiel wird es Alleinerziehenden, dieTeilzeit arbeiten und deswegen auf Hartz IV angewiesensind, faktisch unmöglich gemacht, eine neue Beziehungeinzugehen. Denn wenn sie einen neuen Partner findenund mit diesem zusammenziehen wollen, wird dessenEinkommen sofort beim Kind angerechnet. Auch das istnicht im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit.
Ich rufe all jenen Frauen und Männern, die sich heuteso engagiert für Geschlechtergerechtigkeit auf den obe-ren Etagen einsetzen, zu: Sorgen wir dafür, dassGeschlechtergerechtigkeit auf allen Etagen der Einkom-menshierarchie herrscht! Wir brauchen Geschlechter-gerechtigkeit in den Chef- und Chefinnenetagen genausowie im Erdgeschoss. Stellen wir endlich die Bedarfsge-meinschaft auf den Prüfstand!
Die Linke meint, es bedarf beides: der Abschaffungder Bedarfsgemeinschaft sowie einer Quote für Auf-sichtsräte. Dafür spricht vieles, unter anderem Folgen-des: Je mehr Chefinnen es gibt, desto mehr wird unsereVorstellung von guter Führung von ihren männlichenPrototypen losgelöst. Diese Vorbildwirkung auf die Be-rufswünsche von jungen Mädchen ist nicht zu unter-schätzen.
Wir wollen schließlich, dass in Zukunft mehr jungeMädchen, die nach ihrem Berufswunsch gefragt werden,nicht „Balletttänzerin“, sondern auch „Chefin“ antwor-ten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist reif füreine geschlechtergerechte Besetzung der Aufsichtsräte.Mindestens jeder zweite Aufsichtsposten gehört in Frau-enhand.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bracht-Bendt fürdie FDP-Fraktion.
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Wenn es nach der SPD-Fraktion ginge, würde man dieGesetzeskeule herausholen, und alle Fragen wären ge-löst.
Erst einmal gibt es eine staatlich verordnete Frauen-quote, und dann werden familienfreundliche Arbeitszei-ten ganz einfach per Gesetz geregelt, wie es die SPD-Fraktion erst vor wenigen Tagen in einer Pressemittei-lung gefordert hat.Die Wirtschaft an die Kandare zu nehmen und ihrvorzuschreiben, wen sie einstellen soll und wie Famili-enfreundlichkeit umzusetzen ist, ist ein Witz. Mit uns Li-beralen ist das nicht zu machen.
Es steht außer Frage: Nach wie vor sind gerade einmal3,2 Prozent der Vorstandsposten der 200 größten Unter-nehmen mit Frauen besetzt. Das ist nicht akzeptabel, unddas muss sich ändern. Aber starre, gesetzlich verankerteFrauenquoten sind der falsche Weg.
Ich bin froh, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel derFrauenquote eine Absage erteilt hat. Starre Quoten sindmit dem Grundgesetz ohnehin nicht vereinbar, wie derVerfassungsrechtler Ossenbühl dem Familienministe-rium gerade bescheinigt hat,
weil sie – ich zitiere – „nicht auf die Herstellung vonChancengleichheit, sondern der Ergebnisgleichheit ge-richtet sind“. Dieses Urteil bestätigt die Einschätzungder FDP-Fraktion.
Für uns ist eine starre Quote nichts anderes als Planwirt-schaft.
Personalauswahl im Betrieb ist keine Sache des Staates.Dass die SPD und die Grünen in der Quote das All-heilmittel sehen, ist nicht neu.
Warum unter rot-grüner Regierung hier nichts passiertist, frage ich mich natürlich.
Ich frage mich aber auch, warum die Arbeitsministerinausgerechnet jetzt, wo es endlich Signale für einen Wan-del in der Wirtschaft gibt, eine starre Quote in der Ver-bindung mit Sanktionen einfordert.
Das steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, unddieser stellt für uns Liberale in dieser Legislaturperiodedie Grundlage dar. Im Koalitionsvertrag haben wir einenStufenplan verabschiedet, und dieser sieht als erstenSchritt die Berichtspflichten, also die Offenlegung derUnternehmen über die Besetzung ihrer Führungspositio-nen, vor.
2013 wollen wir evaluieren, und dann werden wir sehen,was zu tun ist.Wir Liberale setzen auf die Eigenverantwortung derUnternehmen.
Selbstverpflichtung, wie es die Telekom vormacht, istfür die FDP-Fraktion zum jetzigen Zeitpunkt das Instru-ment, das wir von den Unternehmen erwarten. Die Wirt-schaft ist also in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, da-mit Frauen auf dem Weg nach oben nicht längerausgebremst werden.
Die FDP-Fraktion unterstützt die Kanzlerin in ihrem Ap-pell, das nicht auf die lange Bank zu schieben.Für uns ist Diversity das Schlüsselwort. Dabei kannes aber nicht nur um das Geschlecht gehen, sondern esmuss auch um Herkunft und Lebenserfahrung gehen.Die Mischung macht erfolgreich. Jeder feste Prozentsatzist für mich eine Form der Diskriminierung, weil er beider Personalauswahl unter Umständen Anforderungenan die Stelle überlagert. Außerdem degradiert eineQuote alle Frauen, die es auch so geschafft hätten.
Meine Damen und Herren, wenn wir über zu wenigeFrauen auf dem Chefsessel reden, dann haben wir meis-tens die Situation in großen Konzernen vor Augen. Wirsollten uns einmal an mittelständischen Unternehmenorientieren; denn hier sind Frauen in Führungspositionenlängst keine Ausnahme mehr.
Der Mittelstand praktiziert längst, worüber wir die ganzeZeit reden. Viele Unternehmen sind flexibel bei der Ge-staltung von Arbeitszeiten; es gibt individuelle Lösun-gen. Die Grundhaltung ist dort häufig eine andere als in
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10104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Nicole Bracht-Bendt
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den Konzernen: Wer in seinem Beruf gut ist und Kinderhat, ist flexibel, pragmatisch, organisiert und belastbar.Familie ist längst keine Privatsache mehr. VieleFrauen verabschieden sich nach der Geburt eines Kindesnicht mehr für einige Jahre aus der Arbeitswelt – und dasist auch gut so. Jedes Jahr Auszeit aus dem Beruf heißtweniger Gehalt und weniger Rente. Vorbei sind auch dieZeiten, in denen die Väter kein Problem mit langenBürozeiten hatten. Viele Väter sind nicht länger bereit,ihren Nachwuchs nur am Wochenende zu erleben. DieFrage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sichnicht nur mit Kindern, sondern auch, wenn pflegebedürf-tige Angehörige zu versorgen sind.Dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Spit-zenverbänden der deutschen Wirtschaft jetzt die Chartafür familienbewusste Arbeitszeiten unterzeichnet hat,zeigt, dass Politiker und Wirtschaftsvertreter diesesThema ernst nehmen. Langzeitkonten, Telearbeit, Teil-zeit oder Gleitzeit sind die Stichworte, mit denen dieVereinbarkeit erleichtert wird. Familiengerechte Struktu-ren erfordern Kreativität und schaffen Win-win-Situatio-nen. Das ist es, was wir wollen.
Wir wollen keine einseitigen Lösungen, sondern Ar-beitsbedingungen, die den Spagat zwischen Familie undBeruf für Frauen und Männer erleichtern.
Das steigert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter,sondern auch die Produktivität des Unternehmens.Berichtspflichten als erster Schritt des Stufenplans,die Selbstverpflichtung der Unternehmen und flexibleArbeitszeiten – das sind für mich im Moment die wich-tigsten Herausforderungen, denen wir uns stellen müs-sen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nachdem, was Sie heute hier ausgeführt haben, erstaunt esmich schon, dass es Ihnen in der letzten Legislaturpe-riode nicht gelungen ist, gemeinsam mit der SPD denStufenplan auf den Weg zu bringen.
Die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen ist nun die nächste Rednerin.
Meine Damen! Meine Herren! Als wir im Dezemberdes letzten Jahres über den Antrag der Grünen diskutierthaben, eine Mindestquote für Frauen und Männer in denAufsichtsräten von 40 Prozent einzuführen, war die De-batte durchaus kritischer als heute; das will ich durchauskonzedieren. Es könnte hier also einmal Morgenröte amHimmel entstehen.
Trotzdem muss ich sagen, dass die Aufführung zu derQuote mit einer nicht zuständigen Arbeitsministerin, ei-ner zuständigen Ministerin und einer Kanzlerin für michdoch irgendwie ganz großes Kino war.
Ich finde es aber schade, dass dieser Film in den Medienaufpoppen darf, während es keine einzige der Vertrete-rinnen für nötig gehalten hat, hier zu erscheinen und mituns darüber zu diskutieren.
Ich verstehe die Zwischenrufe der Frauen zu einerfrüheren, anderen Regierungsbeteiligung. Ich will abergar nicht nur Aufarbeitung betreiben.
Ich zitiere einen Satz, der von mir kommen könnte, aberin dieser Variante nicht von mir kommt. Der Satz heißt:Es ist ein ziemlicher Skandal, dass in den 200 größtendeutschen Unternehmen nur 3 bis 4 Prozent der Spitzen-funktionen mit Frauen besetzt sind. – Er stammt vonFrau Merkel.
Wer den Mund so spitzt, der muss aber auch pfeifen.
Wer die Richtlinienkompetenz hat, der sollte auch einenVorschlag machen, der hier diskutiert wird. Gutes Zure-den hilft hier nicht.Nach 60 Jahren Verfassung des Grundgesetzes und10 Jahren Selbstverpflichtung müssen wir uns doch fra-gen: Wo ist eigentlich das Primat der Politik?
Wir müssen heute feststellen, dass die Frauen in diesemLand das nicht mehr akzeptieren. Unternehmerinnen ha-ben den Verband FidAR gegründet, eine Initiative fürmehr Frauen in die Aufsichtsräte. Der Deutsche Juristin-nenbund setzt sich seit ewig und drei Tagen dafür ein.Der Verband deutscher Unternehmerinnen ist mittler-weile ganz dicht dran. Alle sagen: Wir wollen nicht mehrwarten; wir wollen jetzt Taten sehen.
Das spricht insbesondere uns Frauen im Bundestag an.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10105
Renate Künast
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Mit Verlaub, ein leichter Spott muss sein: Das Motto„Verpflichtung zur Selbstverpflichtung“, das die Minis-terin ausgegeben hat, erinnert mich an eine Übersetzungdes Wortes „Schizophrenie“ ins Deutsche: Spaltungsir-resein. Sie will eine Verpflichtung zur Selbstverpflich-tung – nach 60 Jahren Grundgesetz und 10 JahrenSelbstverpflichtung. Wir haben zudem nach der Wendeeinen Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz verankert.Denn schon das, was Elisabeth Selbert und andereFrauen seinerzeit im Parlamentarischen Rat erkämpft ha-ben, wurde für zu eng empfunden und in einen aktivenGleichstellungsauftrag umgewandelt. Der Staat muss fürdie Gleichstellung Sorge tragen. Nach alledem reicht unsdie Verpflichtung zur Selbstverpflichtung nicht.
Wenn jetzt jemand sagt, eine Quote sei diskriminie-rend – tatsächlich wäre sie keine Frauenquote, sonderneine Mindestquote beider Geschlechter –, dann solltenwir zunächst einmal die jetzige Situation betrachten.
Eine fast hundertprozentige Männerquote in den Vor-ständen und Aufsichtsräten ist die schärfste Diskriminie-rung. Dieser Zustand ist verfassungswidrig.
Der aktive Gleichstellungsauftrag, dass Frauen überallvertreten zu sein haben, wird nicht ernst genommen undnicht realisiert. In Wahrheit geht es uns nicht darum, Pri-vilegien für Frauen zu schaffen, sondern darum, diesenverfassungswidrigen Zustand endlich abzuschaffen.
Die Frauen machen die Hälfte der Menschen des Landesaus. Nicht wir Frauen müssen begründen, warum wirwohin wollen, sondern die Männer müssen begründen,warum immer nur sie die Stühle besetzen. Das ist dieWahrheit.
Wie erklären wir eigentlich den Abiturientinnen, de-ren Anteil 55 Prozent beträgt, diese Situation? FrauSchön hat vorhin gesagt, ihre Generation solle nichtauch noch warten müssen. Wie erklären wir den Hoch-schulabsolventinnen, deren Anteil 51 Prozent beträgt,dass sie warten sollen? Der Anteil der Absolventinnender Wirtschaftswissenschaften beträgt bei besseren Ab-schlüssen als die männlichen Absolventen 55 Prozent.Wie erklären wir dem deutschen Unternehmerinnenver-band mit seiner Datenbank für topqualifizierte Frauen, inder 400 Frauen geführt werden, die sofort in die Auf-sichtsräte eintreten könnten, dass wir nicht endlich Maß-nahmen ergreifen?
Ich will nicht mit einem Zitat von Elisabeth Selbertschließen, die die SPD in den Parlamentarischen Rat ent-sandt hat, sondern mit einem Satz von Monika Grüttersvon der CDU, die gesagt hat, es wäre naiv, einfach soweiterzumachen. Lassen Sie mich von Herzen einenWunsch an alle Männer, aber vor allem an alle Frauendes Deutschen Bundestags richten. Wer, wenn nicht wirFrauen, ist jetzt gefragt, zu sagen: „Das Recht nehmenwir uns auch raus“? Bei Themen wie Patientenverfügungoder PID nehmen sich oft Frauen, aber auch viele Män-ner mit Hinweis auf die Gewissensfreiheit das Recht he-raus, eine Initiative aus der Mitte des Hauses vorzuschla-gen.
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. – Nachdem wir den Rechts-
anspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt und
erkämpft haben, dass die Vergewaltigung in der Ehe ge-
nauso strafbar ist wie die Vergewaltigung außerhalb der
Ehe, sage ich deutlich: Meine Fraktion ist bereit, den
40-Prozent-Antrag beiseitezuschieben und gemeinsam
mit Ihnen die Initiative zu ergreifen. Darum werbe ich.
Alle Frauen dieses Bundestages verfassen gemeinsam
einen neuen Antrag. Lassen Sie uns mit dem Aufsichts-
rat anfangen.
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit weit über-
schritten.
Wir Frauen müssen das jetzt beginnen.
Die Kollegin Dorothee Bär hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir müssen hier heute nicht debattieren, waswäre, wenn hier vor zehn Jahren seriöse Politiker regierthätten
und nicht Cohiba, Barolo und Brioni die Politik der Bun-desrepublik Deutschland geprägt hätten.
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10106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dorothee Bär
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Man muss sich nur einmal alte Zeitungsartikel an-schauen. Familienministerin Bergmann hat schon imSeptember 2000 Eckpunkte für ein Gleichstellungsge-setz vorgelegt. Dann gab es, wie zu erwarten, Wider-spruch von Hundt und Rogowski bei BundeskanzlerSchröder. Daraufhin hat Herr Uwe-Karsten Heye gesagt– Zitat in der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2001 –:Es gibt auf beiden Seiten keine große Neigung, ein gro-ßes regulatives Gesetz zu machen.
Gleiches Zitat von Wirtschaftsminister Werner Müller:Wir brauchen eine Selbstverpflichtung. Auch bei denGrünen, Frau Margareta Wolf, Parlamentarische Staats-sekretärin, heißt es: Wir setzen auf Eigeninitiative. Ge-setzliche Verpflichtungen brauchen wir nicht.
Im Juli 2001 war es dann so perfide, dass die armeFrau Bergmann von Bundeskanzler Schröder gezwun-gen wurde,
auf Druck das Scheitern auch noch positiv darzulegen.Sie musste bejubeln, dass es quasi zu keinem Ergebnisgekommen war, und hat in einem langen Interview mitder Welt am 5. Juli 2001 gesagt: Wir haben etwas ganzGroßartiges geleistet. Das wird die Republik verändern.
Ich darf sie noch einmal aus 2001 zitieren, als sie gesagthat: Gute Kräfte werden knapp. Das Thema Chancen-gleichheit ist in Deutschland zu lange vernachlässigtworden. – Das spannendste Zitat, das man nicht nur2001 glauben konnte, sondern das auch für 2011 ange-messen wäre: Nach wie vor ist vielen hiesigen Arbeitge-bern, im Vergleich zu den USA, noch nicht klar gewor-den, über welches Potenzial wir hier mit den gutqualifizierten Frauen verfügen, die wir in der nächstenZeit dringend brauchen werden.
Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, dass damals schonerkannt wurde, was sich eigentlich bis zum Jahr 2011überhaupt nicht geändert hat. Jetzt gibt es eine AktuelleStunde mit dem Thema „Unterschiedliche Auffassungenin der Bundesregierung zum Thema Frauenquote“.
Ich muss einmal sagen: Das Thema „Frauenquote“ bzw.„Beteiligung von Frauen“ ist in keiner anderen Regie-rung so angekommen wie in dieser Bundesregierung.
Man kann es negativ sehen, so wie Sie, dass es unter-schiedliche Auffassungen gibt. Man kann das aber auchpositiv sehen. Ich sehe das positiv, weil es bedeutet, dassdas Thema angekommen ist, dass sich in der Zielset-zung, dass wir mehr Frauen brauchen, alle einig sind,dass erkannt wurde, dass wir mehr Frauen in Führungs-positionen brauchen und dass es jetzt um ein Ringen umdie beste Lösung geht.
Man kann machen, was vor zehn Jahren die rot-grüneBundesregierung getan hat, sich nämlich mit erhobenemZeigefinger hinstellen und den Unternehmen sagen:„Du, du, du! Wenn ihr jetzt nichts macht, dann passiertwieder nichts.“
Man kann aber auch einmal überlegen, wie es weiter-geht.Meine Kollegin Nadine Schön hat schon ausgeführt,dass es da etwas ganz Schlimmes gibt. Dieses schlimmeWort heißt Quote. Ich bin der festen Überzeugung, dassdas Schlimmste an der Quote das Wort „Quote“ ist; dennwir haben das Problem, dass das ein verbranntes Wortist.
– Das Problem ist, dass Sie durch Ihr Geschrei überhauptnicht kapieren, was ich hier sage; aber das spricht natür-lich auch eine deutliche Sprache.
Es geht immer auch um das Qualitätsargument. WennSie sich einmal den Bundestag mit seinen etwa600 männlichen und weiblichen Abgeordneten an-schauen, dann stellen sie fest, dass jeder zweite Abge-ordnete und jede zweite Abgeordnete hier ein Quotenab-geordneter und eine Quotenabgeordnete ist.
Jeder Einzelne, der über die Liste gewählt wurde, ist einQuotenabgeordneter, weil jeder auf der Landesliste ge-landet ist, weil man eine Frau oder ein Mann ist, weilman aus einer bestimmten soziologischen Gruppekommt, weil man aus Proporzgründen einen bestimmtenBereich seines jeweiligen Landes vertritt. Wenn es alsoimmer nur bei Frauen heißt, es gehe um die Qualität,dann ist das mit uns nicht zu machen. Ich persönlich binnicht bereit, das, was Rot-Grün vor zehn Jahren ver-murkst hat, noch einmal zehn Jahre lang mitzumachen.
Wir wollen die Zustände jetzt ändern und keine leerenDrohungen mehr. Uns geht es nicht mehr um das Ob, esgeht nur noch um das Wie. Deswegen bin ich unserenMinisterinnen sehr dankbar. Sowohl Frau von der Leyenals auch Frau Schröder haben sich klar dazu bekannt.Das ist wesentlich mehr, als Sie in zehn Jahren gemachthaben. Denjenigen, die behaupten, dass es dramatischwäre, dass die Ministerinnen heute nicht anwesend sind
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10107
Dorothee Bär
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– hören Sie mal zu, Frau Künast; nicht nur an Wahl-kampf denken, sondern auch mal zuhören –,
kann ich nur sagen: Es macht eine gute Chefin aus, sogut zu sein, dass sie sogar an ihren männlichen Staatsse-kretär delegieren kann.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zualler-erst möchte ich den Vorschlag der Kollegin Künast fürdie SPD-Fraktion annehmen. Frau Künast, wir habenaber die Bitte, dass die Kerle auch unterschreiben dür-fen, von mir aus hinten.
Ernsthaft gesprochen finde ich, dass wir uns bei die-sem Thema ein gutes Maß an Souveränität nehmen dür-fen. Wir dürfen doch sagen – das ist der berechtigte Vor-wurf von CDU/CSU und FDP –, dass wir in unsererRegierungszeit die Quote nicht hinbekommen haben.Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt. Wir haben derWirtschaft zu lange geglaubt, übrigens nicht nur da. Ichwar einmal Umweltminister. Fragen Sie doch den jetzi-gen, wie viele Selbstverpflichtungserklärungen die deut-sche Wirtschaft im Umweltschutz abgegeben hat: imDutzend billiger. Der Unterschied zwischen uns und Ih-nen ist nur: Sie wollen denen immer noch glauben. Wirtun das nicht.
Ich kenne Ausnahmen, die der Wirtschaft nicht glaubenwollen. Eine sehe ich vor mir.Lassen Sie es uns nicht so schwer machen. Wir kön-nen zunächst mit dem Stufenplan anfangen. Es gehtdoch um Folgendes: Sie alle, auch die Vorrednerin, wis-sen besser als jeder männliche Kollege, der hier redet,dass die Sichtweise von Männern und Frauen auf dengleichen Alltag oftmals ganz unterschiedlich ist. DieQuote soll dazu dienen, dass die Sichtweise von Frauenin die Vorstands- und Führungsetagen von Unternehmeneinkehrt.
Darum geht es. Warum? Wieso sollten, wenn das nichtder Fall ist, die Männer, die da sitzen, bessere Arbeits-zeiten organisieren? Die Männer haben diese Belastungzwischen Kindern und Beruf oder – noch konkreter –zwischen Karriere und Kindern überhaupt nicht. Dasmüssen doch in der Zeit ihre Frauen machen. Oder siehaben keine Kinder. Es geht doch darum, dass die Ar-beitszeitmodelle verbessert werden, dass wir Arbeit undLeben wieder besser miteinander verbinden können, unddas partnerschaftlich.
In der Rushhour des Lebens, im Alter zwischen 20und Ende 40, sollen wir alles machen: Karriere machen,Kinder bekommen und eine gute Partnerschaft führen.Das wird in Wahrheit nicht funktionieren, wenn nichtauch andere Modelle des Zusammenlebens und des Zu-sammenführens von Arbeiten und Leben möglich sind,zum Beispiel mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen.Das muss doch auch Ihr Interesse sein. Es geht darum,hier etwas voranzubringen, und nicht darum, hier einenSchaumstreit abzuhalten. Ihre Kanzlerin hat jetzt eineMinisterin in den Senkel gestellt und der anderen auchnicht richtig geholfen. Ich sage bei Flexiquoten und allsolchem Quatsch nur eins: Es gibt einen alten Grundsatz:Mit Gänsen können Sie nicht über einen Weihnachtsbra-ten diskutieren.
Das geht nicht, auch nicht, wenn es männliche Gänsesind; da schon gar nicht. Das funktioniert nicht. LassenSie es also sein.Am Ende möchte ich ein Beispiel nennen, wo wir imAlltag etwas nicht tun, was aber den Frauen richtig hel-fen könnte: Ich bin sehr für die Quote, aber ich will mirnicht mehr diktieren lassen, dass das nur für Redaktions-leitungen im Spiegel wichtig ist oder für die Vorständeder 30 DAX-Konzerne. Ich will, dass wir auch für dieFrauen etwas machen, die davon lange Zeit nichts habenwerden: für die Kassiererinnen im Einzelhandel, für dieBeschäftigten im Handwerk und für andere. Für dieseGruppe müssen wir endlich durchsetzen: Gleicher Lohnfür gleiche Arbeit. Darum geht es doch in Deutschland.
Da fallen Sie den Frauen in den Rücken, Frau von derLeyen vorweg; denn das Prinzip „Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit“ war Gegenstand der Hartz-IV-Verhand-lungen. Dort haben Sie dagegen gestimmt. Die Mehrzahlder Leiharbeitnehmer sind Frauen. 70 Prozent derFrauen müssen für miserable Löhne arbeiten. Sie habenes in der Hand, für diese Frauen etwas zu tun: Gleicher
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10108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Sigmar Gabriel
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Lohn für gleiche Arbeit. Sie aber lassen alles laufen undkümmern sich nicht.
– Nein, es geht nicht um Veralbern. Es geht schon da-rum, dass du nicht nur abstrakte Debatten für einen Teilder Gesellschaft führst, es geht schon darum, dass duzeigst, dass du die im Blick hast, die ganz schlecht ver-dienen.Jedes Jahr werden wir von der Europäischen Kom-mission gemahnt, dass es in Deutschland, was die glei-che Bezahlung von Männern und Frauen betrifft, amschlechtesten bestellt ist. Fast 25 Prozent weniger ver-dienen Frauen gegenüber Männern bei vergleichbarenTätigkeiten. Im selben Betrieb, in derselben Altersstufe,im selben Beruf liegen die Frauenlöhne 12 Prozent unterdenen ihrer Kollegen an der Werkbank oder im Einzel-handel nebenan. Das wird jedes Jahr angemahnt.Olaf Scholz hat als Arbeitsminister in der Großen Ko-alition dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Wer hatden denn gestoppt? Den hat unter anderem Frau von derLeyen im Kabinett gestoppt.
CDU und CSU waren nicht bereit, diesen Gesetzent-wurf, der ein Schritt auf dem Weg zu gleichem Lohn fürgleiche Arbeit war, ins Kabinett einzubringen, ge-schweige denn in den Deutschen Bundestag. Reden Siealso nicht ständig über etwas, was Sie im Alltag inWahrheit nicht wollen, sondern setzen Sie sich als Parla-mentarier und Parlamentarierinnen so durch, wie dieKollegin Künast es gesagt hat! Unsere Unterstützung ha-ben Sie. Aber machen Sie das nicht nur für die DAX-Vorstände, sondern auch für die, die es verdammt schwerhaben, für gute Arbeit endlich gutes Geld zu bekommen!
Nächster Redner ist der Kollege Marco Buschmann
für die FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nichts hat das Desinteresse von Herrn Gabrielam Thema so belegt wie diese Rede. Sie haben nicht zurSache gesprochen,
sondern Sie haben die Aktuelle Stunde missbräuchlichzum Forum für eine Wahlkampfrede gemacht, die zumThema dieser Aktuellen Stunde nichts beigetragen hat.Nichts dokumentiert das Desinteresse mehr als dieserBeitrag.
Jetzt kommen wir zurück zur Aktuellen Stunde, in deres eigentlich um zwei Themenbereiche geht. Der einebetrifft, wenn ich es so nennen darf, den Vorwurf derVielstimmigkeit in der Bundesregierung, der andere be-trifft die Frage, warum man nicht mit starren Quoten ar-beitet. Auf beides möchte ich jetzt eingehen, weil ich dasfür ein wichtiges Thema halte.
Frau Künast, es ist ganz interessant – den Ball nehmeich auf –, dass Sie der Bundesregierung den Vorwurf derVielstimmigkeit machen. Ich kann erst einmal nicht er-kennen, was ein Problem daran sein soll, mit unter-schiedlichen Arbeitshypothesen in eine Diskussion zugehen. Zu diskutieren, muss auch einer Bundesregierungmöglich sein. Dass Sie, ausgerechnet die Grünen, derBundesregierung Vielstimmigkeit vorwerfen, ist dochein Treppenwitz. Ich darf Sie an eines erinnern: Ihre Par-teivorsitzende Claudia Roth, die das Thema offensicht-lich nicht ausreichend interessiert, um hier an der De-batte teilzunehmen, konnte es gar nicht abwarten, umsich auf Frau von der Leyen zu stürzen, als sie ihr Mo-dell vorstellte. Sie hat dann den Vorwurf erhoben – ichdarf die dpa vom 31. Januar zitieren –, das sei eine Mo-gelpackung, weil sich der Vorschlag nur auf die börsen-notierten Unternehmen beziehe, also die großen Unter-nehmen.
Das sei das Schlechte an dem Vorschlag. Das Interes-sante ist, dass die grünen Fachleute, wenn sie hier An-träge stellen, genau das fordern. Zuletzt haben sie das inder Drucksache 17/3296 gefordert. Da heißt es wörtlich:Der Mindestquote unterfallen börsennotierte undder Mitbestimmung unterliegende Gesellschaften.Es sind also nur große Unternehmen.
Es ist doch ein Treppenwitz, dass Sie Frau von derLeyen ausgerechnet in dem Punkt einen Vorwurf ma-chen, bei dem Gemeinsamkeiten mit den Grünen beste-hen. Das zeigt: Frau Roth ging es überhaupt nicht um dieSache – sie hat sich damit überhaupt nicht vertraut ge-macht –, sondern ihr ging es nur um Verhetzung einesMitglieds der Bundesregierung.
Sie hatte dabei so viel Schaum vorm Mund, dass sie garnicht mehr erkennen konnte, was die eigenen Fachleutevortragen. Das ist eben auch eine Form von Misstrauen.Nun komme ich zur Frage der Quote und der Frage,warum wir uns in der Koalition und auch in der Regie-rung dagegen entschieden haben. Einmal ist aus gesell-schaftsrechtlicher Sicht – ich stehe ja als Rechtspolitiker
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10109
Marco Buschmann
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hier – darauf hinzuweisen, dass es Kollateralschädenauch in Norwegen gibt. Sie alle kennen die Beispiele:Rechtsformwechsel, Delistings, also die Rückgabe derBörsennotierung. Sie alle wissen auch, dass die Quoteeben nicht über Nacht dazu geführt hat, dass mehrFrauen in Verantwortung kommen. Vielmehr konzen-triert schlichtweg die gleiche Anzahl an Frauen mehrMandate auf sich. Das hat in Norwegen zu dem ganz un-angenehmen Effekt geführt, dass mittlerweile eine neueDiskriminierung umgeht. Es geht der Begriff der „Gold-röcke“ um. Man schaut eben nicht mehr auf die Leistun-gen der Frauen, sondern macht ihnen neue Vorwürfe.Das ist kein Vorteil für die Frauen.
Sie verweigern sich auch einer fundierten Analyse.Frau Künast knüpft immer an die Berufsabschlüsse anund zieht dann den Rückschluss auf die berufliche Kar-riere. Das Entscheidende ist doch, was dazwischen pas-siert. Wenn wir in die Erwerbsbiografien schauen, stel-len wir fest, dass der entscheidende Dreh für den Sprungin diese Führungspositionen irgendwo zwischen 35 und40 Jahren gesetzt wird. Da kommt der große Swing.
Es ist auch hochinteressant, zu sehen, dass viele top aus-gebildete, kluge und auch erfolgreiche Frauen genau indiese Zeit die Kinderphase legen.
Das heißt doch, dass das Thema der Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf und nicht die Quote das Entschei-dende ist.
Ich sage Ihnen an einem Beispiel, wie das Frauen, dieberuflich sehr erfolgreich sind, sehen. Ich möchteDaniela Weber-Ray, eine fantastische Frau, zitieren. Sieist Partnerin einer internationalen Sozietät, und sieschrieb im Handelsblatt vor zwei Tagen:Wir brauchen Unterstützung des Staates nicht hin-sichtlich einer gesetzlichen Quote, sondern um denWandel der KKK-Kultur weg von Kinder, Küche,Kirche hin zu Kinder, Krippe, Karriere zu vollzie-hen.Das ist es, worum wir uns kümmern müssen.
Zuletzt möchte ich Sie noch an etwas erinnern. Sietun immer so, als würde in Deutschland nichts passieren.Es ist eine ganze Menge passiert, seit diese Regierungim Amt ist. Insofern möchte ich der Kollegin DorotheeBär beipflichten. Seit 2010 – nach der Regierungsüber-nahme –
haben wir einen geänderten Corporate-Governance-Ko-dex, der jetzt auf mehr Diversity inklusive stärkerer Be-teiligungen der Frauen setzt.
Und siehe da: Wir haben eine zuständige und anwesendeMinisterin, die die Wirtschaft in die Pflicht nimmt. Seit-dem sehen wir doch, dass etwas passiert. Wir sehen esbei Eon und bei der Telekom. Daimler bringt Kandida-tinnen ins Spiel, Karstadt bringt Kandidatinnen ins Spiel.
Die extrem prominenten Personalmaklerinnen ChristineStimpel und Yvonne Beiertz sagen doch, sie kommen beider Vermittlung weiblicher Führungskräfte der Nach-frage gar nicht mehr hinterher.Das mag noch zu langsam sein. Vielleicht können wires uns schneller vorstellen. Aber man kann Strukturen,die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte falsch einge-pendelt haben, nicht mit Gewalt über Nacht ändern.Wir gehen einen Weg, der zielgerichtet ist, und wirwerden Erfolg haben. Im Ergebnis muss man Ihnen,Herr Gabriel und Frau Künast, sagen: Der Anlass dieserAktuellen Stunde war nicht die Sache. Sie wollten hierWahlkampf machen und mehr nicht. Das hat das Themanicht verdient. Dafür ist es zu wichtig.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun
Monika Lazar das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Buschmann, Sie waren leider wieder der Tiefpunktder Debatte.
Ich weiß ja nicht, wo die Männer die gebärfähigePhase setzen. Aber wenn Sie eins und eins zusammen-zählen können, kommt vielleicht auch bei Ihnen an, dassdie 30- bis 40-jährigen Frauen dort hineinfallen. Viel-leicht sind Sie irgendwann lernfähig.
Wir diskutieren hier ein Thema, und ich habe das Ge-fühl, wir kommen nur sehr mühsam voran. Es ist wirk-lich absurd, dass eine allgemein als wichtig anerkannteMaßnahme nicht umgesetzt wird. Sogar die FDP disku-tiert wieder über eine parteiinterne Quote. Holen Siesich eventuell bei der Kollegin Bär von der CSU Anre-gungen. Die haben das vor kurzem geschafft.
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10110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Monika Lazar
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Das Schauspiel, das die Koalition und die Bundesre-gierung zu diesem Thema aktuell liefern, befindet sichleider auf Boulevardniveau. Deutschlands Männer undFrauen schauen fassungslos auf das peinliche Stück. Da-bei wäre es längst Zeit für Nägel mit Köpfen.
Stattdessen haben wir das Machtwort der Kanzlerin, dieder Frauenquote wieder einmal eine Absage erteilt. Sietrifft sich lieber gemeinsam mit Ministerin Schröder mitVertretern der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Im-merhin glauben Letztere nicht mehr, dass der Frauenan-teil in Deutschlands Wirtschaft von alleine steigt. Arbeit-geberpräsident Hundt erklärt aber, dass mehr als 95 Pro-zent aller Unternehmen bereits Modelle zur Arbeitszeit-flexibilisierung anbieten. Ich frage mich: Warum brauchtes die x-te Charta dazu? Bezeichnend ist, dass die Chartawieder einmal von vier Männern unterzeichnet wurde.Erfrischend war auch, in den letzten Tagen zu hören, wasHerr Ackermann dazu gesagt hat: Frauen in Führungs-positionen machen das Leben „farbiger“ und „schöner“.Da ätzten selbst das Handelsblatt und Ministerin Aigner,das sei doch ein typischer Ackermann, nach dem Motto„Unser Vorstand soll schöner werden.“Kanzlerin Merkel hat zumindest erkannt: Es ist ein„ziemlicher Skandal“, dass wir kaum Frauen in Füh-rungspositionen haben. Aber skandalöse Zustände än-dert man doch nicht mit einer Charta oder einer Verein-barung. Wir haben in den letzten zehn Jahren gemerkt,dass die Wirtschaft nichts von alleine macht. Die freiwil-lige Vereinbarung von 2001 wurde von Frau Bär schonbreit zitiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von derUnion, wir sind alle etwas weitergekommen, und es hatsich herausgestellt, dass einfach nichts passiert. Von da-her: Bitte keine weiteren freiwilligen Vereinbarungenund Chartas.
Ministerin Schröder spricht immer von der staatlichenEinheitsquote. Schauen Sie bitte über den Tellerrand –die Beispiele sind heute schon genannt worden – nachFrankreich, Spanien oder Norwegen. Überall hat mangemerkt: Ohne Quote geht es nicht. Wenn Ihnen dasWort Quote nicht gefällt, dann nehmen Sie bitte ein an-deres Wort. Es ist uns völlig egal. Sie können „Frauen-qualität“ sagen oder was auch immer. Es kommt nichtauf das Wort an, sondern es kommt darauf an, dass sichin unserem Land etwas bewegt.
In Deutschland gibt es beispielsweise Unterschiedezwischen Ost und West. Die wenigen Frauen in den Füh-rungspositionen finden sich häufiger im Osten unseresLandes. Das zeigt eine aktuelle Studie des IAB. Eine Ur-sache ist zum Beispiel die kürzere Unterbrechung derErwerbstätigkeit. Das liegt unter anderem an der besse-ren Kinderbetreuung im Osten. Eine weitere Kompo-nente kommt hinzu: Im Osten war die Vollzeiterwerbstä-tigkeit von Frauen völlig normal und auch dieÜbernahme von Führungspositionen viel anerkannter,als es teilweise noch heute im Westen der Fall ist. Ichfinde, das ist ein Beispiel, bei dem der Westen einmal et-was vom Osten lernen kann.
Ein weiteres Argument ist der gerade vorgestellteGleichstellungsbericht des Familienministeriums. Auchdort heißt es: Die Quote ist erforderlich. – Ich frage michwirklich: Welche Argumente brauchen Sie noch? AuchFrau Kollegin Grütters wurde heute schon zitiert. Siesagt, es wäre naiv, weiter auf eine Selbstverpflichtung zusetzen. Es ist schön, dass die Justizministerin anwesendist. Sie hat gestern eine Pressemitteilung herausgegeben.Ich zitiere kurz daraus:Dringender Handlungsbedarf besteht bei … Frauenin Führungspositionen. Mehr Frauen in Spitzen-positionen sind nicht nur im Interesse der Gesell-schaft, sondern gerade auch im Interesse der Wirt-schaft.Das sehe ich genauso. Es ist ökonomisch völlig unsin-nig, gut qualifizierte Frauen am Aufstieg zu hindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,macht endlich etwas und gebt nicht nur gute Pressemit-teilungen heraus!
Über unseren Gesetzentwurf hat Renate Künast schonetwas gesagt. Im Mai wird es eine Anhörung im Rechts-ausschuss geben. Herr Buschmann, ich hoffe, dass auchSie dann endlich schlauer werden.
Begrüßenswert ist weiterhin, dass Nordrhein-Westfalenjetzt eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat.Zum Schluss meine Bitte: Lassen Sie uns endlich ge-meinsam in unserem Lande handeln, damit wir von derPosition eines gleichstellungspolitischen Entwicklungs-landes herunterkommen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen undKolleginnen! Wir diskutieren hier über die Äußerungender Ministerinnen und der Kanzlerin. Ich stelle zunächst
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10111
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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einmal fest: Diese Äußerungen haben dem Thema end-lich die Bedeutung und die Aufmerksamkeit verschafft,die es braucht.
Machen wir uns nichts vor: Wir diskutieren seit Mo-naten über einen konkreten Gesetzesvorschlag der Grü-nen. Auch die Frauen in der Unionsfraktion haben Be-schlüsse zum Thema gefasst und der Presse vorgestellt.Es gab auch den einen oder anderen Artikel im Handels-blatt und im Spiegel. Aber erst dieser Hintergrund, dieDiskussion im Kabinett, gibt dem Thema jetzt die Auf-merksamkeit, die es verdient.
Wir haben ganzseitige Anzeigen im Handelsblatt, indenen dazu aufgerufen wird: Macht es endlich freiwillig!Sonst kommt die Quote. – Der Vorstandsvorsitzende derDeutschen Bank – gerade schon genannt – meldet sichzu Wort.
So manche Wortmeldung zeigt, dass diese Diskussionsehr nötig ist.
Sie betonen vor allem die Unterschiede, die Unein-heitlichkeit in den Äußerungen der Ministerinnen undder Kanzlerin. Ich möchte zunächst einmal auf die Ge-meinsamkeiten eingehen. Sie stimmen überein in demBefund, dass der Status quo völlig unakzeptabel ist, dasses gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und dass die Situa-tion den Unternehmen schadet. Sie ist ungerecht für dieFrauen, die den gleichen Zugang einfach nicht erhalten,obwohl sie die gleiche Qualifikation mitbringen. Über-einstimmung besteht auch darüber, dass wir über einenMindestanteil in der Größenordnung von plus/minus30 Prozent reden.Ich möchte die Gelegenheit dieser Diskussion nutzen,um noch einmal zu betonen: Die Quote oder eine grö-ßere Frauenbeteiligung nützt vor allem den Unterneh-men, nicht deshalb, weil Frauen durchweg besser sind– es gibt auch gute Männer in diesen Gremien –, son-dern deshalb, weil die Mischung unterschiedlicher Er-fahrungen und Denkweisen zu besseren Ergebnissenführt.
Wenn zehn Leute in einem Gremium den gleichen Hin-tergrund haben, dann ist das schlichtweg zu schmalspu-rig. Jeder, der mit einer anderen Erfahrung dazukommt,ist eine Bereicherung. Das ist der Ansatz der Diversity.Dafür kämen auch andere Kriterien infrage, aber „Ge-schlecht“ ist sicherlich das Kriterium, das sich als Erstesaufdrängt und das naheliegt. Das ist für diejenigen, diesich mit dem Thema beschäftigen, mittlerweile wirk-lich selbstverständlich. Wer das noch nicht mitbekom-men hat, der kann sich gern einmal die Studien vonMcKinsey und von Catalyst ansehen.Nun müssen wir den Blick sicherlich auch auf die Un-terschiede richten. Die Familienministerin hat einen Stu-fenplan vorgelegt, der positive Elemente enthält.
Er umfasst auch die Vorstände.
Zum ersten Mal wird auch das operative Geschäft in denBlick genommen. Er hat ein flexibles Element; darüberlässt sich sicherlich diskutieren. Er verlangt transparenteAngaben und Vergleichsmöglichkeiten. Ich bin davonüberzeugt, dass schon allein das Wirkung zeigen wird.Ich kann mir hier eine Bemerkung nicht verkneifen:Wenn damals die Vereinbarung zwischen dem Boss derBosse und der Wirtschaft
so konkret gewesen wäre wie die jetzige Vereinbarung,dann wären wir heute an einem anderen Punkt.
Ich kann mir auch nicht verkneifen, zu sagen, dassunsere Partei diejenige ist, die die höchste Führungsposi-tion, die dieses Land zu vergeben hat, mit einer Frau be-setzt hat; wir stellen die Kanzlerin.
Auch das ist sicherlich etwas, was für die Frauen inDeutschland Symbolwirkung hat.Aber ich will auch nicht darum herumreden: Es gibtwesentliche Unterschiede zwischen den Konzepten, wasdie Verbindlichkeit angeht. Ich rede hier nicht zum ers-ten Mal zum Thema Quote. Ich sage ganz klar: Es ist ausmeiner Sicht nicht ausreichend, wenn als schlimmsteSanktion, als Worst Case, die Pflicht zur Selbstverpflich-tung kommt, ohne Zeitplan, ohne feste Zielvorgaben,ohne konkrete Sanktionen. Das kommt mir ein bisschenso vor, als würde man den Aufsichtsräten sagen: Ihrmüsst jetzt hundertmal „Frauen in den Führungspositio-nen in meinem Unternehmen sind wichtig und gut“schreiben, und dann gehen wir wieder zur Tagesordnungüber.
Man muss auch sehen: Die nächsten Wahlen zu denAufsichtsräten sind im Jahr 2013 und dann erst wieder2018. Nun muss es eine Zeitschiene geben; das ist ganzklar. Aus meiner Sicht muss spätestens für 2018 wirklichverbindlich gesetzlich geregelt sein, was passiert.
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10112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Dafür brauchen wir diese gesetzliche Regelung schonjetzt. Das macht dann bereits für 2013 einen Unter-schied. Wenn man weiß: „2018 gibt es keinen Weg mehrdaran vorbei“, dann wird man schon 2013 mit einer an-deren Einstellung darangehen.
Wenn wir aber sagen: „Macht mal bis 2013, dannschauen wir, ob wir etwas anderes brauchen“, dann istdie Dynamik aus der Sache heraus, und wir werden nichtentsprechend weiterkommen.
Ohne verbindliche Regelungen am Horizont werdensich die Closed Shops nicht öffnen. Sie schließen quali-fizierte Frauen aus; sie schließen aber auch gute Männeraus, die nicht ins Schema passen.
Wie fest da die Strukturen gefügt sind, das hat uns dasmanager magazin gerade noch einmal beschrieben.Wenn man das liest, dann stellt man fest, dass das nichtsmit Bestenauslese zu tun hat, sondern dass es dabei umDinge wie Männerfreundschaften, Bergtouren, Jagder-lebnisse und dergleichen geht. Von VW wissen wir ja,was noch so infrage kommt, um die Gruppendynamik zustärken.Ich habe nichts gegen Männerfreundschaften undFreizeit ohne Frauen, aber das kann nicht das Kriteriumsein, wenn es um Führungspositionen in der deutschenWirtschaft geht.
Deshalb lautet mein Petitum: Wir brauchen einen Stu-fenplan. Wir müssen darüber im Gespräch bleiben, beiallen, die es brauchen.Vielen Dank.
Nun hat das Wort die Kollegin Dagmar Ziegler für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wie so oft in dieser Wahlperiode haben wir miterlebenmüssen, wie sich diese Koalition in Widersprüchen undgegensätzlichen Haltungen überbietet. Ob bei den Haus-haltsdiskussionen, in der Steuerpolitik, bei Hartz IV oderin der Außenpolitik, immer gab es etwas anderes, aberleider nie etwas Besseres aus dem Regierungslager.Nun hat Frau Ministerin von der Leyen die Quote fürFrauen in Führungspositionen für sich entdeckt, und daszu einem Zeitpunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wosie eigentlich ganz andere Sorgen umtreiben müssten.
Erinnern wir uns noch einmal kurz: Nach Monaten desNichthandelns bzw. Nichtverhandelns nach dem Urteildes Bundesverfassungsgericht zum SGB II rettete sichFrau von der Leyen mit einer ziemlich sinnfreien Chip-kartendiskussion öffentlichkeitswirksam über das Som-merloch, um uns danach vorzuwerfen, wir würden mitihr nicht über die Umsetzung des Verfassungsgerichtsur-teils reden wollen.Nun entdeckt sie ihre ganz persönliche Betroffenheitund Sorge um die vielen Frauen in unserem Lande, diegut ausgebildet sind, aber nicht in führenden Positionender Wirtschaft zu finden sind, und das wieder sehr öf-fentlichkeitswirksam. Da stört sie auch nicht ihre gegen-sätzliche Haltung zur Familienministerin, auch nicht ihregegensätzliche Haltung zur Bundeskanzlerin. Nein, siekocht ihr ganz persönliches Süppchen, um sich zu profi-lieren und wieder einmal von der Verhandlungsschwä-che der Koalition im Vermittlungsausschuss abzulenken.
Die Bundeskanzlerin hat sie ja nun wieder ins Gliedzurückgeschickt. Was kommt nun für die Frauen in unse-rem Land dabei heraus? Nichts, wieder einmal garnichts.
Vorhin haben Sie mit vielen schrägen Argumenten einenAntrag zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohnsabgelehnt, wohl wissend, dass 70 Prozent der Beschäf-tigten in der Niedriglohnbranche Frauen sind. Es wurdeauch schon dreimal festgestellt, dass weder eine Arbeits-ministerin noch eine Familienministerin noch eine Bun-deskanzlerin dafür Interesse zeigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frauen haben eseinfach nicht verdient. Es ist wirklich eine Frechheit, dassihre Interessen für Machtspielchen von drei Doktorin-nen, die es in Führungspositionen geschafft haben – FrauSchröder im Übrigen auch durch die Hessen-Quote –,missbraucht werden.Sie, liebe Koalitionäre, haben jetzt wirklich die ver-dammte Pflicht – ich bin für viele Ihrer Redebeiträgesehr dankbar –, diesem Eindruck entgegenzutreten. Un-terstützen Sie die Einführung einer gesetzlichen Quotenicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im öffentlichenDienst, auch in den Hochschulen und in der Wissen-schaft! Unterstützen Sie gesetzliche Regelungen zur Ent-geltgleichheit! Machen Sie auch wirklich deutlich, dasses Ihnen tatsächlich ernst ist mit Gleichstellung in unse-rem Lande! Diesen Beweis sind Sie uns noch schuldig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10113
Dagmar Ziegler
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Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ewa Klamt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Man kann die Zahlen nicht oft genug nen-nen: Frauen stellen 55,7 Prozent der Abiturienten inDeutschland, 51 Prozent der Hochschulabsolventen, rund44 Prozent promovieren im Anschluss. Diese Zahlenzeigen das Potenzial junger, gut ausgebildeter Frauen inunserem Land auf.
Wie es in den Aufsichtsräten aussieht, wissen wir: ge-rade einmal 10 Prozent Frauen. Nur 3,2 Prozent Frauenbekleiden Vorstandsposten. In den 30 DAX-Unterneh-men sind von 182 Vorstandsposten gerade einmal 4 mitFrauen besetzt; das sind 2,2 Prozent. Wir müssen alsofeststellen: Irgendwo nach Abitur, Studium und Sprungin die Arbeitswelt verlieren wir viel Frauenpotenzial.Wir verlieren damit Arbeitskraft, Kreativität, Innova-tionsfähigkeit und Wissen. Wir verschenken viel unseresPotenzials, obwohl doch feststeht, dass wir im weltwei-ten Wettbewerb um die klügsten Köpfe stehen.Über das Problem besteht meines Erachtens Einig-keit; die Lösung ist jedoch strittig. Ich sage, dass man indieser Frage durchaus unterschiedlicher Meinung seinkann. Dass wir innerhalb unserer Fraktion debattieren,ist für mich kein Problem. Das ist vielmehr eine gute in-haltliche Auseinandersetzung, und die hat noch nie ge-schadet.
Das ist mir auf jeden Fall lieber als ein BundeskanzlerSchröder, der vor gut einem Jahrzehnt bei Wein undZigarren der Wirtschaft versprochen hat, keine Maßnah-men zur Steigerung des Frauenanteils in Spitzenpositio-nen zu ergreifen.
Dass die Frage „Frauenquote in Unternehmen“ äu-ßerst unterschiedlich gesehen wird, zeigt auch die Dis-kussion innerhalb der verschiedenen Generationen vonFrauen. Ich kann den Frust und den Ärger einer jedenjungen Frau verstehen, wenn sie – berechtigterweise –nach langer Ausbildung nach ihren Fähigkeiten undnicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden möchte.Diese gut ausgebildeten Frauen sind jung, ungebunden,flexibel und meist noch ohne Kinder. Sie befinden sicham Beginn ihrer Karrieren, an einem Punkt, an dem inder Regel noch keine gläserne Decke zu spüren ist. EineFrauenquote kommt aus ihrer Sicht einer Beleidigunggleich, unterstützt durch das unschöne wie auch unsin-nige Wort der Quotenfrau, das reflexartig die Debatte be-gleitet.
Dem halte ich entgegen: Quote und Qualifikation schlie-ßen sich nicht gegenseitig aus.
Im Gegenteil: Die Quote kann ein Instrument sein, derQualifikation zur vollen Entwicklung zu verhelfen;
denn leider – das sage ich mit absoluter Ernüchterung –sind wir mit der freiwilligen Verpflichtung in den letztenzehn Jahren keinen Schritt weitergekommen.
An den nackten Zahlen hat sich seither wenig geändert.Liegt es also daran, dass, wie uns die Wirtschaft immerwieder gern erklärt, die Top-Positionen nur von den Bes-ten eingenommen wurden? Ist es die männliche Exzel-lenz, die gesiegt hat?
Da sage ich etwas populistisch: Eine Weltwirtschafts-krise hätte es dann wohl ebenso wenig wie eine Banken-krise geben dürfen.
Meine Damen und Herren, ich bin ernüchtert. Auchich habe einmal zu jenen Frauen gehört, die glaubten,dass wir Frauen die Zukunft gleichberechtigt mit denMännern gestalten.
Als ich 18 war, sprach kein Mensch über eine Quote. ImGegenteil, mein Vater sagte mir mit großer Begeiste-rung: Du gehörst der Generation Frauen an, denen auf-grund von Bildung und guter Ausbildung alle Türen of-fenstehen. – Wenn mir damals jemand vorausgesagthätte, dass ich fast 40 Jahre später im Deutschen Bun-destag konstatieren muss, dass in Deutschland die Teil-habe von Frauen in den höchsten Positionen der Wirt-schaft auf einer Stufe mit Indien steht und damitweltweit den letzten Platz einnimmt, hätte ich schallendgelacht.
Heute sage ich: Wenn wir einer der leistungsstärkstenWirtschaftsräume der Welt bleiben wollen, können wires uns als Gesellschaft nicht leisten, auf das vorhandenePotenzial von Frauen zu verzichten.
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10114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Ewa Klamt
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Kluge Unternehmer haben das selbst erkannt: Hoch-qualifizierte, kreative und motivierte Frauen sind nach-weislich gut für den wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb er-warte ich, dass die Unternehmen bei der Neubesetzungder Aufsichtsräte im Jahr 2013 beweisen, dass sieFrauen in Führungspositionen wollen. Wenn nicht, müs-sen andere Mittel greifen.
Die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding gibtder Wirtschaft nur noch eine begrenzte Schonfrist. Wenndie Konzerne nicht selbst aktiv werden, will Brüsselrechtliche Vorgaben für eine Frauenquote in Aufsichtsrä-ten machen. Das kann ich dann nur unterstützen.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Christel Humme für die SPD-Fraktion.
Frau Klamt, Sie haben gut angefangen. Ich hatte ge-hofft, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden;aber Sie haben an dieser Stelle wieder einmal IhreChance verpasst.
Ich bin die letzte Rednerin und habe die Chance, allesauf den Punkt zu bringen, was vorhin gesagt worden istund was in den letzten drei Wochen passiert ist. Ich mussschon feststellen, dass die Bundesregierung so etwas wieRealsatire gezeigt hat. Denn was haben wir erlebt? Wasist passiert? Die Frauen in der Bundesregierung streitenüber die gesetzliche Frauenquote; die Männer in derWirtschaft reiben sich die Hände und behalten dank FrauMerkel erst einmal ihre Macht. Klassisch, oder?
Wir alle haben noch die Ratschläge der Kanzlerin undder Frauenministerin im Ohr. Sie haben den Frauen gera-ten: „Seid mutiger und tougher gegenüber euren Chefs,dann klappt es mit der Karriere und mit der Bezahlung.“Dazu muss ich sagen: Die Frauen in der Bundesregie-rung waren wirklich ein sehr schlechtes Vorbild. Nachwelchem Vorbild sollen sich die Frauen richten? DieFrauen in der Bundesregierung haben nämlich gezeigt,dass sie ohnmächtig sind; sie haben ihre Ohnmacht do-kumentiert und erneut deutlich gemacht, wer in der Bun-desrepublik eigentlich das Sagen hat. Auch hier zeigtsich wieder das Markenzeichen von Schwarz-Gelb,nämlich Klientel- und Lobbypolitik statt Politik für dieFrauen.
– Ja, keine Angst, Rita, ich komme gleich noch darauf.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Kanzlerin hatein Machtwort gegen die Frauen gesprochen – das habenwir gehört –: Sie lehnt die gesetzliche Quote ab und setztauf Freiwilligkeit. Dabei ist der Handlungsdruck – daswissen wir alle ganz genau – sehr groß.Frau Bracht-Bendt, Sie unterhalten sich gerade sonett. Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Bracht-Bendt von der FDP, gesagt haben, eine Frauenquote dis-qualifiziere die Frauen. Dann frage ich Sie allen Ernstes:Warum hat der Bundesvorstand der FDP kürzlich – erkommt auf die Spur – eine 30-Prozent-Frauenquote fürdie Parteigremien beschlossen? Warum hat der Frauen-verband der FDP gesagt: „Das reicht uns nicht, wir brau-chen eine 40-Prozent-Quote“?
Inwiefern ist das eine Disqualifizierung der Frauen?
– Wir werden Ihren Bundesparteitag sehr gut beobach-ten.Der Handlungsdruck ist natürlich immens. Wir stehenim europäischen Vergleich nicht besonders gut da. Wirsind keineswegs ein Exportland, wenn es um Gleichstel-lung geht. Im Gegenteil: Wir sind hier ein Entwicklungs-land; bei uns ist die auch heute viel zitierte gläserne De-cke immer noch aus Panzerglas.Wir wissen auch, warum das so ist. Ja, wir haben2001 eine freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaftgeschlossen. Wir waren dabei: Frau Ferner, ich und an-dere. Wir wissen noch ganz genau, dass wir gesagt ha-ben: Wenn die freiwillige Vereinbarung kein Ergebniszeitigt, dann kommt ein Gesetz zur Verpflichtung derPrivatwirtschaft. Das war die Ausgangssituation.
Wir hatten aber Pech: Es kam zu einer Großen Koali-tion, und wir mussten Koalitionsverhandlungen mit Frauvon der Leyen führen.
Das Thema einer gesetzlichen Frauenquote war in denKoalitionsverhandlungen überhaupt nicht zu setzen; dasmuss man an dieser Stelle feststellen.
Insofern verstehe ich Sie, Frau Bär und Frau Schön,überhaupt nicht. Kritisieren Sie doch nicht dauernd dieFreiwilligkeit! Was wollten wir damals erreichen? Wirwollten mehr Chancengleichheit für Frauen im Berufsle-ben. Wir wollten mehr familienfreundliche Betriebe. Wirwissen, die Bilanz ist ernüchternd. Aber was haben Siedaraus gelernt, Frau Bär?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10115
Christel Humme
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– Sie können nur schreien! Hören Sie bitte zu!
Was haben Sie vor zwei Tagen gemacht? Sie haben dieWirtschaft eine Charta für familienfreundliche Arbeits-zeiten unterschreiben lassen.
Was haben Sie genau getan? Sie haben einen Teil aus derfreiwilligen Vereinbarung von 2001 herausgepickt und„Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten“ genannt.
Sie haben den Leuten suggeriert, dass Sie etwas Neuesmachen,
aber in Wirklichkeit führen Sie sie an der Nase herum,weil Sie nämlich gar nichts tun für familienfreundlichereArbeitszeiten. Das ist das Schizophrene an der Situation.
Alle zehn Jahre neue Unterschriften sind kein Fortschrittfür uns. Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Das wäreunserer Meinung nach ein Fortschritt.
– Frau Bär, lassen Sie das doch einmal sein. Das Herum-schreien bringt doch nichts.
Wir wollen – das ist ganz klar – eine Quote von40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlichregeln. Dabei geht es uns nicht nur um die Topmanage-rin – das wurde vorhin zwar schon gesagt, aber dasmöchte ich trotzdem noch einmal deutlich machen –,
sondern es geht uns um die gleichberechtigte Teilhabevon Frauen am Arbeitsmarkt insgesamt. Das ist das Ent-scheidende.Leider müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass zwardie Frauenerwerbsquote gestiegen, aber das Arbeitsvolu-men gesunken ist.
Es hat eine Umverteilung der Arbeit unter Frauen statt-gefunden. Die Frauen haben einen sehr hohen Preis da-für bezahlt.
Ein Großteil der Frauen ist trotz eigener Erwerbstätigkeitvon einer eigenständigen Erwerbssicherung weit ent-fernt. Ich habe erwartet, dass die Frauenministerin unddie Arbeitsministerin Schritte in Richtung eines gesetzli-chen Mindestlohns einleiten; denn der hätte den Frauen,die häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, gehol-fen.
Aber auch hier stelle ich fest: Nichts tun und Klientel-politik, das sind Ihre Markenzeichen.Schönen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Klaus Brähmig, Stephan Mayer ,Wolfgang Börnsen , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie derAbgeordneten Patrick Kurth , LarsLindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertrie-benen – Aussöhnung vollenden– Drucksachen 17/4193, 17/4651 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas Strobl
Dr. h. c. Wolfgang ThiersePatrick Kurth
Dr. Lukrezia JochimsenClaudia Roth
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe, damitsind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debattebeiwohnen wollen, ihre Plätze einnehmen würden, wäreich dankbar; denn dann können wir uns auf die Rednerkonzentrieren.
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen heute über den
Antrag der Koalitionsfraktionen „60 Jahre Charta der
deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollen-
den“ abschließend beraten und entscheiden.
Das Ziel unseres Antrags ist klar: Wir wollen an die in
Stuttgart am 5. August 1950 erfolgte Proklamation der
Charta der Heimatvertriebenen erinnern und anlässlich
dieses Jubiläums erneut die Leistung der Heimatvertrie-
benen unterstreichen. Wir wollen erreichen, dass der
Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahn-
mal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird.
Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und auf den
Beitrag von Vizepräsident Wolfgang Thierse eingehen,
den der Kollege Thierse als Gegner unseres Antrags bei
der ersten Lesung am 16. Dezember 2010 hier zu Proto-
koll gegeben hat, auf den ich daher erst heute hier im
Plenum Bezug nehmen kann.
Verehrter Herr Kollege Thierse, Sie haben sich in Ih-
rer Rede erkennbar bemüht, den Erwartungen Ihrer
Partei zu entsprechen, denen zufolge wie in einem
Pawlow’schen Reflex alles abzulehnen ist, was irgend-
wie mit dem Bund der Vertriebenen zu tun hat.
Wir unterstützen mit unserem Koalitionsantrag die heute
in Stuttgart von dem baden-württembergischen Minister-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dieser Tag hätte es verdient, zu einem nationalen Ge-denktag in Deutschland zu werden.
Herr Kollege Thierse, inhaltlich gravierend waren ei-nige Ausführungen von Ihnen an anderer Stelle, auf dieich eingehen muss. Als Sie den verdienstvollen Verzichtder Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung er-wähnten, relativierten Sie diesen mit dem Hinweis, alsAngehörige der Kriegsverursachernation Deutschlandhabe den Vertriebenen gar keine Rache zugestanden, undman könne es schlecht als Leistung betrachten, auf etwaszu verzichten, das man gar nicht beanspruchen dürfe.In der Ausschussberatung haben Sie sich verstiegen,zu sagen – nachzulesen auf Seite 5 der Beschlussemp-fehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur undMedien –, dies sei ein „moralisch skandalöser Satz“.
Ich möchte Ihnen mit folgendem Zitat entgegnen:Die Charta der Heimatvertriebenen hat dabei– „an einem menschlichen und toleranten Deutschland“ –eine wichtige Rolle gespielt. Zwei Punkte möchteich daraus hervorheben, die auch in Zukunft nichtvergessen werden dürfen: Da ist zunächst der Ver-zicht auf Rache und Vergeltung.So Sigmar Gabriel, weiland Ministerpräsident des Lan-des Niedersachsen und jetzt Vorsitzender der Sozialde-mokratischen Partei Deutschlands.
Ist das ein moralisches Skandalon, Herr KollegeThierse?Der Kollege Thierse kritisiert auch das Ziel unseresAntrags, dem Thema Vertreibung mehr wissenschaftli-che Aufmerksamkeit zu schenken. Herr Thierse, Sie hal-ten die für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-nung“ veranschlagten Forschungsgelder für zu hoch undwollen den postulierten Nachholbedarf in der Forschungnicht erkennen. So Ihre Ausführungen am 16. Dezember2010 ausweislich Ihrer Protokollerklärung im DeutschenBundestag.Gerade gegenwärtig mehren sich indessen die Stim-men von wissenschaftlicher Seite, dass die Aufarbeitungdes Leids der deutschen Heimatvertriebenen zu den be-sonders drängenden Desideraten der Forschung gehört.
Das Hamburger Magazin Der Spiegel, das nicht geradeim Verdacht steht, das Hausblatt des Bundes der Vertrie-benen zu sein, hat in diesen Tagen in seiner renommier-ten Historienreihe eine aktuelle Sonderausgabe zumThema Vertreibung herausgebracht mit dem Titel: „DieDeutschen im Osten – Auf den Spuren einer verlorenenZeit“. Selbst Spiegel Online widmet sich dem Thema miteinem Beitrag mit dem Titel: „Damals in Ostpreußen“.Ich zitiere von Seite 15 dieser Schrift, dass die Deut-schen und ihr verlorener Osten ein noch immer nicht er-ledigtes Kapitel der deutschen Historiografie seien.Tatsächlich bietet die Vertreibung der Deutschen vielStoff, der es verdient, bewahrt, aufgearbeitet und weiter-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10117
Thomas Strobl
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gegeben zu werden, gerade auch an die jüngere Genera-tion.
Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jede Ge-schichte von Flucht und Vertreibung ist es wert, dassman sie hört.
Das sagt im Übrigen der bekannte polnische RegisseurJan Klata, dem das Thema sehr am Herzen liegt. Vertrei-bung, so Klata in der besagten Spiegel-Ausgabe, sei eineGeschichte von einem Menschheitstrauma, das sich täg-lich wiederholt: in Darfur, im Kosovo, in Bosnien. Ichfinde, er hat recht.In der Tat kann man viel erfahren, wenn man sich demThema Vertreibung als Bestandteil der eigenen National-identität stellt und mehr über das in Erfahrung bringt,was die Ostgebiete für Deutschland einst bedeutet haben.Ich war zum Beispiel überrascht, im Heft des Spiegelsvon der deutschen Gemeinde Budakeszi zu erfahren. Bu-dakeszi liegt bei Budapest und ist mir als ungarischerPartner der Stadt Neckarsulm bekannt, der größtenLandkreisgemeinde in meinem Wahlkreis. Dass Buda-keszi von Deutschen gegründet wurde, von Donau-schwaben, und noch heute viele Deutsche dort leben, da-runter auch die Verwandten des hier im Hause nicht ganzunbekannten Grünenpolitikers Joschka Fischer, war mirneu. So lernt man immer dazu. Es gibt viele solche In-formationen, die in Vergessenheit geraten sind, aber wie-derbelebt werden sollten, weil sie zur Geschichte unse-res Volkes gehören.
Das Gute ist: Man kann dieses Wissen unschwer er-werben, wenn man die Forschung hinreichend unter-stützt und das Thema Vertreibung ohne ideologischeScheuklappen angeht. Dies tut übrigens seit Jahren derLiteraturnobelpreisträger Günter Grass, zu dessen nachmeiner Auffassung nicht geringsten Verdiensten gerech-net werden darf, dass er die jahrzehntelange Verdrän-gung des Themas Vertreibung als „bodenloses Versäum-nis“ erkannt hat. Er machte diese Verdrängung mithilfeeines Romans rückgängig und führte so das ThemaFlucht und Vertreibung einer breiteren Öffentlichkeit zu.Grass dabei zu unterstützen, das von ihm erkannte undso benannte Versäumnis wiedergutzumachen, ist einZweck – und nicht der geringste – unseres Antrags.Nicht mehr und nicht weniger.Damit komme ich zum Schluss und plädiere in die-sem Sinne erneut und eindringlich für die Zustimmungzu diesem Antrag. Wenn Sie von der Opposition dieseZustimmung nicht uns zuliebe gewähren wollen, so tunSie es zumindest aus Respekt vor Günter Grass, der ja,wenn ich richtig informiert bin, seit Jahrzehnten ein en-gagiertes Mitglied der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands ist.
Tun Sie es Ihrem Genossen zuliebe und dokumentierenSie damit auch, dass Sie nicht zu systematischen Ver-drängern und bodenlos Säumigen gehören wollen.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse für
die Fraktion der SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binnicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruch-nahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher ent-setzt.
Kollege Strobl, darum geht es auch gar nicht.
Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht undVertreibung geschrieben werden muss und wir uns im-mer wieder neu mit ihr zu beschäftigen haben. Das istunbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man dastut.
Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich,weshalb Sie sich ausgerechnet auf die Charta der deut-schen Heimatvertriebenen berufen, wenn Sie doch – sosteht es in Ihrem Antrag – Aussöhnung wollen. DieCharta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als einzeitgenössisches Dokument, eine Stimme aus dem Jahr1950. Vertriebene hatten viel Leid erfahren, große Noterduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrerneuen, kalten Heimat angekommen sein.
So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, dieihn trägt. Die Charta mag zur Integration von Vertriebe-nen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rache-gefühle und Vergeltungsverlangen.Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehr-fach darauf hingewiesen – ich finde: sehr treffend –, dassman nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf maneinen Anspruch hat.
Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonne-nen Krieg und den von ihnen begangenen Verbrechenkeinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf Rache.
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Darin sind wir uns doch hoffentlich einig.
Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, dieheute, denke ich, als falsch erkannt sind und die niemandmehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese– ich zitiere –:Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortungam Schicksal der Heimatvertriebenen als der vomLeid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp-finden.
Welch fatale moralische Anmaßung – als hätte es denHolocaust und zig Millionen Tote des Krieges nicht ge-geben.
Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und demAbstand von 60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vol-lem Ernst auf diese Charta zu berufen, sie gewisserma-ßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch einzuordnenund sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutra-gen, wie Sie es tun,
das ist weder moralisch noch politisch legitim.
Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzteinen ehrlichen Dialog mit denjenigen voraus, mit denenman sich versöhnen will.
Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbe-sondere unseren östlichen Nachbarn, nichts weniger alszutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nichtverschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die dasbedeutete.Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor70 Jahren wurden Polen – nur als ein Beispiel – als ras-sisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavtund entrechtet werden. Die Polen hatten einen längerenWeg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint eswie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heutenoch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Fluchtund Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutsch-land sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehrdie heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenen-politiker durch zwiespältige Äußerungen.
Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitikzu nehmen, geben Sie sich europäisch. Sie wollen sich,so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintesEuropa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhalt-bare Aussagen wie diese – ich zitiere wieder aus IhremAntrag –:Die Deutschen nehmen Vertreibungen … mit be-sonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrerjüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Ge-schehen.
Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngerenGeschichte massiv andere Völker vertrieben und unend-liches Leid über sie gebracht haben und danach auchselbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte istimmer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung fürjeden Fall zu benennen und korrekt einzuordnen, kann esauch kein Verständnis für die Umstände und Folgen ge-ben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine Versöh-nung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist dasGrundproblem Ihres Antrags.
Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorie-ren, versäumen Sie es, das schon Erreichte zu würdigen.Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zu-nächst die enormen Integrationsleistungen der Bundesre-publik Deutschland – sie gehören zu ihrer Erfolgsge-schichte – und die großen Anstrengungen der Vertrie-benen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufin-den. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ih-rer Herkunft bestand weiter.Unvergessen ist – ich nenne nur ein Beispiel –: Als1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, unter-stützten viele, auch Vertriebene, aktiv die GewerkschaftSolidarnosc.
Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ichaus eigener Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertrie-benen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trau-ernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in derKirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zuschweigen. Umso größer ist heute meine Freude über dieMöglichkeiten des Austausches und der Begegnung, dieuns die Einigung Europas eröffnet hat.Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Ein-zelnen und der vielen Initiativen ehemals Vertriebener,die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öf-fentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte indie Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es ge-geben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wieviele Partnerschaften und Freundschaften sind entstan-
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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den? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurie-rungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmä-lern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zurVerständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass fürein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Be-gegnung, die in den letzten Jahrzehnten eine großartigeEntwicklung genommen haben, erweist sich Ihr Antragschlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der For-derungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wieder-hole mich. So muss die Stiftung „Flucht, Vertreibung,Versöhnung“ nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, voran-gebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptio-nelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stif-tung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt.Von einem Nachholbedarf bei der Forschung – Sie ha-ben davon gesprochen – kann ebenfalls nicht die Redesein. Die Bundesregierung hat ein akademisches Förder-programm zur Erhaltung und Auswertung deutscherKultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt.Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 MillionenEuro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenenProgramm nicht erst einmal eine Chance geben? TrauenSie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung die-ses Programms nicht zu?Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, nicht als bundesweiter Gedenktag für die Opfer vonVertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe,selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. So-wohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestags-präsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Ge-denktag ausgesprochen. Die beiden haben recht.
Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Ko-alition, aus Polen ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitatenaus einem gestern erschienenen Kommentar von Profes-sor Dr. Krzysztof Ruchniewicz – er ist Mitglied des Wis-senschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung „Flucht,Vertreibung, Versöhnung“ – belegen:Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und An-gehörige anderer Nationen, die von den Deutschenim Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und er-mordet wurden, stellt das Dokument– die Charta –keine Grundlage für eine Versöhnung dar.Weiter:Es überrascht, dass Abgeordnete des DeutschenBundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrerVerkündung so einseitig und reflexionslos betrach-ten können.Weiter:Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen … istkein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die1965 erschienene Ostdenkschrift der EvangelischenKirche in Deutschland und der im gleichen Jahr er-schienene polnische Bischofsbrief an ihre deut-schen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: „Wirgewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitischdas völlig falsche Signal.Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseiteschie-ben. Professor Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er istein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen An-strengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibungund die Leiden und Opfer dieses Unrechts.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland warund bleibt es, den demokratischen Staat, unseren demo-kratischen Staat, seine politische Praxis und seine politi-sche Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheitzu begreifen. Das ist unser gemeinsames politischesFundament, unser gemeinsames moralisches Funda-ment. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tagdes Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ge-wählt.Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, heißt: Unsere, der Deutschen Sensibilität für dieLeiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiertnicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbstOpfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche an-dere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser dop-pelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhaftemoralische Verpflichtung. Genau diesen, den entschei-denden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falschund überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab.
Nächster Redner ist der Kollege Lars Lindemann für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bespre-chen heute ein für viele sehr emotionales Thema. Kaumwar der Antrag eingeführt – ich erinnere mich an unsereAusschussdebatte –, gab es nicht nur entrüstete Gesich-ter, sondern schwand vor allem auf den Oppositionsbän-ken die Fähigkeit, zuzuhören. Ich nehme sehr wohlwahr, dass das heute anders ist. Ich denke, wir haben ge-nügend Grund, die Sache mit etwas mehr Bedacht zudiskutieren und uns gegenseitig zuzugestehen, dass wiralle lautere Motive haben, wenn wir das hier besprechen.Im Antrag der Koalition wird der Brief der polnischenBischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965zitiert; Herr Thierse hat das eben auch getan. Darin heißtes: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Um Ver-gebung kann man für sich aber nur bitten, wenn manselbst bereit war und es auch bleibt, über die eigene
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10120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Lars Lindemann
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Schuld offen zu sprechen, nicht zu leugnen und aufrich-tig und glaubhaft auf denjenigen zuzugehen, an demman sich vergangen hat.
Dies hat Deutschland getan. Wir alle als deutsche Parla-mentarier stehen dafür ein, dass es Teil der Staatsräsonist und bleibt, dass wir zu der Schuld stehen, die im Na-men unseres Volkes durch die Nationalsozialisten aufuns geladen wurde.
Deutschland hat aufrichtig um Vergebung gebeten. Icherinnere hier an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Wiralle kennen das Bild, das hier gemeint ist.
Wir setzen uns mit diesem Thema sehr bewusst aus-einander, und Deutschland ist so heute ein für seineAufrichtigkeit und Leistungen geachtetes Mitglied derinternationalen Staatengemeinschaft. Durch diese unsereEinstellung – das will ich hier für meine Fraktion ganzausdrücklich und ganz deutlich sagen – nehmen wir dieeigene, bis in die meinige Generation hineinwirkendeVertreibungserfahrung von uns Deutschen als zentralesElement mit in die weiteren Bemühungen um die Ver-söhnung auf und geben wir dieser Erfahrung einen ent-sprechenden Platz, wie es im Antrag der Koalition ge-schehen ist.Die Vertreibungen beispielsweise aus Polen undTschechien nach dem Zweiten Weltkrieg dürfen von denBetroffenen als Unrecht empfunden werden. All diejeni-gen, die den Verlust an Heimat zu beklagen haben, wasan sich schon schlimm genug ist, oder die Gewalt gegensich oder Angehörige ihrer Familie ertragen mussten,habe eine ganz persönliche Erfahrung, die in den Fokusder Überlegungen der Regierungskoalition gerücktwurde.Durch einen solchen Ansatz wird nicht relativiert,sondern versucht, die Erfahrungen der Betroffenen undeben nicht die Emotionen, die einige hier mit einbringen,aufzunehmen und verantwortungsvoll in die Überlegun-gen zu der weiteren Arbeit der Stiftung „Flucht, Ver-treibung, Versöhnung“ nach innen und nach außen ein-zubeziehen. Darum werbe ich um Ihre Zustimmung zuunserem Antrag.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Luc Jochimsen für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblen-dung von historischen Tatsachen und so viel Ver-drehung wie in diesem Antrag zur Charta der Hei-matvertriebenen kommt aus meiner Sicht seltenzusammen.
Das habe ich am 16. Dezember vorigen Jahres hier andieser Stelle gesagt. Dem habe ich heute nichts hinzuzu-fügen
außer dem Bedauern, dass es der gesamten Oppositionseitdem nicht gelungen ist, die Koalitionsfraktionen da-von zu überzeugen, diesen Antrag zurückzunehmen.Keine Analyse, kein Appell, keine Kritik von Fachleutenhat irgendetwas genutzt. Das ist sehr zu bedauern.
So entsteht mit der heutigen Abstimmung über denAntrag, den Sie mit Ihrer Mehrheit kalt durchsetzen wer-den, großer Schaden für unser Parlament und seine Wir-kung nach innen wie nach außen. Ja, Sie schädigen mitdiesem Antrag das Ansehen dieses Hohen Hauses. Da-von bin ich fest überzeugt.
Allein mit Ihrem Ansinnen – das vertreten Sie in Ih-rem Antrag –, dass sich anlässlich des 60. Jahrestagesder Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenender Deutsche Bundestag zu eigen machen soll, dieseCharta als Gründungsdokument der Bundesrepublik zubetrachten, schädigen Sie das Ansehen des Parlaments.Die Fraktion Die Linke wird nie und nimmer in diesemDokument ein Gründungsdokument der Bundesrepubliksehen.
Sie schädigen das Ansehen des Parlaments auch mitIhrem Ansinnen, den 5. August zum bundesweiten Ge-denktag zu erheben, den Tag also, an dem die Charta vor60 Jahren veröffentlicht wurde. Mitverfasser und Unter-zeichner dieses Dokuments waren Rudolf Wagner, SS-Obersturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheits-polizei in Paris, Belgrad und der besetzten Sowjetunion,SS-Sturmbannführer von Witzleben, Franz Hamm,Fraktionsführer des Blocks der deutschen NS-Reichs-tagsmitglieder Ungarns, Angehöriger der deutschenVolksgruppenführung, die im Sommer 1944 die Vernich-tungsaktion an über 400 000 ungarischen Juden unter-stützte und deren Eigentum mit verteilte, Alfred Gille,SA-Scharführer, Gebietskommissar in der Ukraine, SS-Hauptsturmführer Waldemar Kraft, Rudolf Lodgmanvon Auen, Mitbegründer der radikal antisemitischenDeutschen Nationalpartei in der CSR, der 1960 einen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10121
Dr. Lukrezia Jochimsen
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flammenden Protest gegen den Menschenraub an AdolfEichmann auf argentinischem Boden und den Prozess inIsrael veröffentlichte,
Axel de Fries, Umsiedlerfunktionär in Westpolen, Kreis-landwirt und Sonderführer bei der Partisanenbekämp-fung in Weißrussland.Wissen Sie das nicht, oder lässt Sie das tatsächlichvöllig gleichgültig, dass das die Mitverfasser und Unter-zeichner dieses Dokuments sind, zu dem Sie von uns imJahr 2011 die Zustimmung dieses demokratischen Parla-ments verlangen? Lässt Sie das völlig gleichgültig, odersind Sie einfach unwissend?In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieses Parlamentder Charta und ihren Verfassern Zustimmung im Namender Aussöhnung ausspricht. Das nenne ich einen Skan-dal.
„Es kann keine Aussöhnung geben, die auf einem ‚Ver-zicht auf Rache‘ beruht. Das ist völlig undenkbar.“ Diesschrieb gestern Professor Krzysztof Ruchniewicz vonder Universität Wroclaw – Vizepräsident Thierse hat ihnvorhin schon zitiert – in einem Gastbeitrag in der Frank-furter Rundschau.Am Ende der Charta heißt es:Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortungam Schicksal der Heimatvertriebenen als der vomLeid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp-finden.Auch das ist schon zitiert worden. Hier wird die ganzeVerkehrung der Geschichte und der Beginn einer gigan-tischen deutschen Opferzählung nach 1945 deutlich:Nicht mehr die 25 Millionen toten Sowjetbürger, nichtdie 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, nein,die Heimatvertriebenen sind die vom „Leid dieser Zeitam schwersten Betroffenen“.
Eine solche Form der Verkehrung von historischerDimension, der Relativierung deutscher Schuld und derVerkehrung von Ursachen und Folgen war und ist ty-pisch für die Geschichte der Vertriebenenverbände. DassUnion und FDP eine solche Geschichtssicht noch heuteals verbindlich vom Bundestag preisen lassen wollen, istungeheuerlich.
Meine Eltern, 1900 und 1901 geboren, haben Hitlernicht gewählt, waren nie Parteimitglieder, waren nichtdabei, als die deutschen Massenverbrechen an Juden,Polen, Tschechen, Slowaken und Russen verübt wurden.Aber in einer Bombennacht 1943 in Düsseldorf verlorensie ihr ganzes Hab und Gut. Meine Mutter und wir Kin-der erlitten schwere Phosphorverbrennungen. Den Restdes Krieges erlebten wir in einer Notwohnung in Frank-furt: frierend, hungernd, in Todesangst. Nie wäre meinenEltern in den Sinn gekommen, sie hätten ein Recht aufRache und Vergeltung, auf das sie großmütig verzichtenkönnten – 1945 nicht, 1950 nicht, zu keiner Zeit.Wenn Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von den Ko-alitionsfraktionen, an Aussöhnung wirklich gelegen ist,an Aussöhnung der Deutschen mit den Deutschen, anAussöhnung mit all den Nachbarvölkern, dann ziehenSie diesen Antrag zurück. Es ist noch nicht zu spät.
Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streitin dieser Debatte geht nicht um die Frage, ob wir dasSchicksal der Heimatvertriebenen anerkennen. DieserStreit geht auch nicht um die Frage, ob wir die Ge-schichte der Vertreibung in ihrem historischen Kontextaufarbeiten wollen. Dieser Streit geht im Kern um dieFrage, ob wir als Deutscher Bundestag uns auf das Do-kument der Charta der Heimatvertriebenen positiv bezie-hen und das Ganze auch noch dadurch unterstreichen,dass wir den Tag ihrer Unterzeichnung zum Gedenktagder Bundesrepublik Deutschland machen. Dazu sage ichNein.
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlandhat es das noch nicht gegeben, dass ein Antrag, in demdie Einführung eines Gedenktages verlangt wird, imDeutschen Bundestag mit knapper Koalitionsmehrheitdurchgeprügelt wird. Der vorliegende Antrag enthält ersteinmal nur einen Prüfauftrag.
Leider ist das Außenministerium auf der Regierungs-bank nicht mehr vertreten; ansonsten hätte ich FrauPieper gebeten, mit der FDP dafür zu sorgen, dass diePartei von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscherverhindert, dass wir unsere osteuropäischen Nachbarn,die ehemaligen Kriegsgegner, die uns die Hand zur Ver-söhnung gereicht haben, einem solchen Affront ausset-zen.
Frau Steinbach, Krzysztof Ruchniewicz, Mitglied desWissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung „Flucht,Vertreibung, Versöhnung“ – der BdV hat sie durch eineGesetzesänderung von der Bundesrepublik Deutschlandpraktisch gekapert –, schreibt Ihnen meines Erachtenssehr sensibel ins Stammbuch, wie man die Charta in ih-rer Genese und in ihrem Sinngehalt verstehen kann. Er
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10122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Volker Beck
(C)
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nennt sie das „Produkt einer traumatisierten Gruppe“. Erschreibt:Relativierend kann man sagen, dass die Charta einKind ihrer Zeit war, das Produkt einer traumatisier-ten Gruppe, die sich bemühte, die eigene Lebens-welt neu aufzubauen, wobei sie sich in den Mythosdes unschuldigen Opfers flüchtete. Aus diesemGrund wurde in den in diesen Kreisen geschriebe-nen Büchern und Materialien über die alte Heimatdie Zeit des Nationalsozialismus fast völlig ausge-blendet. Man kann das historisch und psycholo-gisch nachvollziehen, muss es aber nicht gutheißen.Gegenüber der historisch verständlichen Genese müs-sen wir nicht verurteilend auftreten. Wir können verste-hen, woher diese Menschen kamen, dass sie sich neu zu-rechtfinden wollten und dass sie sich auch mit ihrereigenen Genese ein bisschen selbst betrogen haben.Aber wir als Deutscher Bundestag können uns das nichtzu eigen machen – heute, über 60 Jahre danach, nach al-lem, was wir darüber wissen, was von deutscher Hand inden besetzen Gebieten, in den überfallenen Ländern undin unserem eigenen Land gegenüber vielen Opfern desNationalsozialismus verbrochen wurde. Das darf nichtsein.
Wir haben deshalb einen Änderungsantrag gestellt.Darin ist der ganze Feststellungsteil mit seiner ganzenhistorischen Wirrnis und Klitterung gestrichen. Wir be-ziehen uns auf die entsprechenden Forderungen zur his-torischen Aufarbeitung und zum Gedenken – ich meine,da müssen wir wirklich Klartext reden –, wenn wir fest-stellen: Über einen Gedenktag kann man mit uns reden;aber der 5. August kommt nicht infrage, weil das eineAkklamation der Aussagen der Charta der Vertriebenenbedeuten würde. Es würde anerkannt, dass die Vertriebe-nen diejenigen waren, die am meisten in dieser Zeit ge-litten haben, dass man großzügig auf das Recht verzich-tet, Vergeltung zu üben. Das sind Aussagen, die sich derDeutsche Bundestag nicht zu eigen machen darf, auchwenn er über ein solches Gedenken konstruktiv nach-denkt. Nehmen Sie diese Geste der Anerkenntnis als Er-mahnung entgegen, hier nicht mit dem Kopf durch dieWand zu gehen.Warum nehmen wir als Gedenktag nicht den 20. Juni,den Weltflüchtlingstag? Die UN-Vollversammlung hatden 60. Jahrestag der Schaffung des Amtes des UNHCRzum Anlass genommen, diesen Tag zum Weltflücht-lingstag zu proklamieren.Der UNHCR ist für Vertriebene und Flüchtlinge glei-chermaßen zuständig. Damit würden wir ein Zeichensetzen, dass wir die Versöhnung mit den ehemaligenKriegsgegnern wollen, dass wir denjenigen vergeben,die auch Deutschen gegenüber Unrecht verübt haben,und dass wir aus der Geschichte die Lehre ziehen, dasswir als Deutsche eine besondere Verantwortung für Ver-triebene und Flüchtlinge haben, die es auf dieser Weltimmer noch gibt, zum Beispiel in Darfur, im Kosovound in anderen Gegenden dieser Erde.Wenn Sie sich von der Koalition mit so großer Vervegegen Vertreibung und Verfolgung, die zu Flucht führt,engagieren, dann ist es für uns umso unverständlicher,dass Sie noch immer die Aufnahme von weiteren irani-schen Flüchtlingen aus der Türkei blockieren, dass Sieweiterhin Roma aus dem Kosovo abschieben lassen unddass Sie sogar traumatisierten Flüchtlingen einen jahre-langen schwierigen Prozess um die Anerkennung alsVerfolgte aufbürden.Wenn es Ihnen mit dem ernst ist, was Sie hier so groß-spurig behaupten, nämlich dass wir angesichts unsererGeschichte besonders sensibilisiert sind, dann sind dieseFragen der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit IhrerAussage. Diese Ernsthaftigkeit kann ich leider nicht er-kennen. Vielleicht führen aber die Überlegungen, wiewir dieses Thema historisch angemessen bearbeiten undwie wir dieses Themas angemessen gedenken, dazu,dass sich in unserer Gesellschaft etwas produktiv verän-dert.Ich bin durchaus für eine Ausstellung zum ThemaVertreibung. Allerdings bin ich dafür, sie auf andereFüße zu stellen. Zum einen sollte das ganze Haus mitseinen Gremien daran beteiligt werden. Zum anderensollte der Einfluss des BdV zurückgefahren und dafürgesorgt werden, dass historische Wahrhaftigkeit und dieEinordnung der Schicksale in den historischen Kontextauch dort Platz greifen kann.Ich möchte Ihnen als Kind einer Vertriebenenfamilieetwas erzählen. Das, was der polnische Wissenschaftler,der dem Wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehört, gesagt hat,ist wahr; das kenne ich aus der Geschichte meiner eige-nen Familie. Meine Großeltern sind nach dem ErstenWeltkrieg aus Slowenien ins Sudetenland vertriebenworden. Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie – ichstamme aus einer österreichischen Offiziersfamilie – ausdem Sudetenland vertrieben. In unserer Familienge-schichte gab es die Sage, dass es mit den Tschechen vordem Krieg irgendwie ganz schwierig war. Gleichzeitighatte mein Großvater dem tschechischen Staat gegen-über das Angebot ausgeschlagen, als General in dertschechischen Armee zu dienen. So schlimm kann es mitder Diskriminierung der Deutschen im Vielvölkerstaatder Tschechoslowakei nicht gewesen sein.
Angeblich war auch niemand Nazi, niemand in derSudetendeutschen Partei. Als ich kürzlich beim Umzugmeiner Mutter Unterlagen aufgeräumt habe, habe ich he-rausgefunden, dass ein Teil der Narration der Geschichteunvollständig war: Natürlich war mein Vater in der Su-detendeutschen Partei. Als er 1939 ins Reich gegangenist, war er auch Mitglied im NationalsozialistischenKraftfahrerbund. Er war zwar kein engagierter Nazi,kein SS-Offizier wie die Unterzeichner der Charta derHeimatvertriebenen; trotzdem hat man sich in die Taschegelogen, wie man sich vor der Vertreibung gegenüberden ehemaligen tschechischen und slowakischen Nach-barn gebärdet hat, wie man sich politisch positioniert hatund dass man als österreichische Minderheit im tsche-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10123
Volker Beck
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choslowakischen Staat nicht bereit war, sich zu integrie-ren und an diesem gemeinsamen Staat mitzuwirken, weilman in der Minderheit war.
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.
Diese Geschichten – nicht nur das schwere Schicksal
der Vertreibung, das nach diesem Kapitel folgte – müs-
sen in einer solchen Ausstellung, wenn sie Wahrhaftig-
keit und Aufarbeitung befördern soll, ebenfalls erzählt
werden.
Das Wort hat nun Klaus Brähmig für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Wer in diesen Tagen nach wahrer Versöhnungsucht, sollte nicht in ein Fernsehstudio nach Hamburgfahren, sondern das Edith-Stein-Haus in Breslau besu-chen. Wer in der schlesischen Geburtsstadt von TeresiaBenedicta vom Kreuz die Geschichte der heiliggespro-chenen Ordensschwester studiert, erfährt, dass die Patro-nin Europas eine Frau war, die vorbildlich im Hinblickauf Versöhnung war. Das Geheimnis der Versöhnungheißt nämlich nicht Abrechnung, sondern Erinnerung.Das Thema „Flucht und Vertreibung“ muss im21. Jahrhundert in einen größeren, mitteleuropäischenZusammenhang gestellt werden. Die deutschen Heimat-vertriebenen leisten an der Basis echte Versöhnungsar-beit. Ich verweise nur auf zwei bemerkenswerte Bei-spiele. Zum einen fand im letzten Jahr das erste deutsch-polnische Heimattreffen in Kolberg statt. Zum anderenbedauerte der rumänische Innenminister auf dem Hei-mattag der Siebenbürger Sachsen 2010 die Aussiedlungder deutschen Minderheit und kündigte neue Beziehun-gen an. Hinter der Brückenfunktion steht eben keineleere Formel, sondern die Chance zu wahrer Aussöh-nung. Nur aus der positiven Bewältigung der Kriegs-und Nachkriegsgeschichte erwächst gegenseitiges Ver-ständnis, aus dem sich vielleicht sogar ein Mehr an euro-päischer Solidarität ergibt.
Angesichts der aktuellen Entwicklung in Minsk undKiew könnte ein neuer Zusammenhalt in Mitteleuropaeines Tages von zentraler Bedeutung sein.Das Thema des Antrags ist deshalb für Deutschlandwie für Europa von großem Gewicht. Um die teils hyste-rische Debatte wieder auf den Boden der Tatsachen zubringen, sind ein paar grundsätzliche reflektierende Äu-ßerungen angebracht. Der Zweite Weltkrieg stellt bisheute den größten und verheerendsten Konflikt in derMenschheit dar. Tatsache ist – das findet sich im vorlie-genden Antrag wieder –, dass die deutsche Kriegsschuldaußer Frage steht – Punkt. Diesem Satz darf kein Aberfolgen; sonst wäre er tatsächlich, lieber Kollege Thierse,ein Alibisatz. Neben dem jährlichen Holocaustgedenk-tag, der in diesem Hohen Haus stets begangen wird, gibtes laut einer Dokumentation der Bundeszentrale für poli-tische Bildung bundesweit über 2 000 NS-Gedenkstät-ten, die täglich von Hunderten Schulklassen und Zigtau-senden Besuchern besichtigt werden. Dieses Faktumwiderlegt als konkretes Beispiel den diffusen Vorwurf,es gebe hierzulande Tendenzen, sich jetzt als Opfervolkzu stilisieren. Es gibt keine solche Geschichtspolitik, undChristdemokraten wie Liberale weisen dies mit allerEntschiedenheit zurück.
Kein Land weltweit hat sich mit seiner jüngsten Vergan-genheit und Geschichte so intensiv auseinandergesetzt,wie wir es getan haben und wie wir es auch zukünftigtun werden.
Wer außerdem allen Ernstes eine neue Kollektiv-schulddebatte vom Zaun bricht, zeugt nicht gerade vonKlugheit und Weitsicht.
Sollte sich dahinter schieres Misstrauen verbergen, hätteman tatsächlich nichts aus dem Kalten Krieg gelernt.Wohl aber gilt es, den Eindruck zu vermeiden, von denmassenhaften Gräueln des Zweiten Weltkriegs seien le-diglich zwei Gruppen, Juden und Deutsche, betroffen ge-wesen. Deshalb haben wir in unserem Antrag ausdrück-lich festgehalten, dass mit Gedenkvorhaben des Bundesin Berlin auch die Aufgabe verbunden sein muss, an dieVertreibung von über 1 Million Polen aus den damaligenpolnischen Ostgebieten und Hunderttausender Ukrainerim Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen Westver-schiebung Polens zu erinnern.Bei allem Respekt vor berechtigter Kritik – ich habealle Reden der ersten Lesung und die Wortbeiträge desKulturausschusses gründlich analysiert –: Dabei ist dieOpposition deutlich über das Ziel hinausgeschossen.
Ich habe den Eindruck, Sie haben das Kernanliegen un-seres Antrags nicht einmal ansatzweise erfasst. Ja, dieStuttgarter Charta ist ein Zeitdokument, dessen Spracheuns heute fremd erscheint und dessen Entstehung manaus den damaligen Umständen erklären muss.
Dies ist nach wie vor eine Forschungslücke. Aber Sieverbeißen sich in der Textkritik, anstatt die historischeBedeutung des Dokuments zu erkennen, die gerade in
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10124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Klaus Brähmig
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der Absage an radikale Kräfte und in der Eigenverpflich-tung zur Integration liegt.
Natürlich erwähnt niemand von Ihnen das im Antragwiedergegebene Zitat des ehemaligen Bundesinnenminis-ters Schily. Er räumte auf dem Tag der Heimat 1999 inBerlin offen ein, dass die politische Linke zeitweise überdie Vertreibungsverbrechen und das Leid der Vertriebe-nen hinweggesehen habe.
Oder ist Otto Schily nicht mehr Mitglied der SPD?Anstatt einen konstruktiven Beitrag zu leisten, hängenSie sich lieber mit blindem Eifer an Personalien auf, diein dem Antrag überhaupt nicht zur Disposition stehen.
Weder haben Sie sich die Mühe gemacht, einen eigenenAntrag zu entwerfen, noch ist es Ihnen eingefallen, eineausgewogene wissenschaftliche Befassung mit der Chartaanzuregen.Meine Damen und Herren, es ist schon im persönli-chen Bereich oft schwer genug, sich auszusöhnen. Wiesoll da Versöhnung zwischen Völkern möglich sein,wenn es um millionenfaches Leid auf beiden Seitengeht? Muss es uns nicht wie ein Wunder anmuten, dasswir Deutsche gerade in den Ländern, in denen derZweite Weltkrieg am Schlimmsten gewütet hat, heutzu-tage wieder freundlich aufgenommen werden? Das letzteKapitel dieses Krieges ist jedoch noch nicht abgeschlos-sen, und dessen Aufarbeitung darf von unserer Nationnicht unterschätzt werden.
So wie der damalige Umzug der Regierung nach Ber-lin dazu diente, die innere Einheit Deutschlands zu voll-enden, zielt unser Antrag zum Thema „Flucht und Ver-treibung“ in erster Linie auf die Versöhnung derDeutschen mit sich selbst. Die nationale Katastrophe amEnde des Zweiten Weltkrieges muss endlich von der ge-samten Gesellschaft als Teil der deutschen Geschichtebegriffen werden. Daher ist ein Zeichen der Verbunden-heit, ein nationaler Gedenktag mit den Vertriebenen undderen Nachkommen, notwendig, um die Versöhnung zuvollenden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Nein. – Dies ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe
ersten Ranges, die wir ruhig, aber beharrlich angehen
und auch meistern werden.
An dieser Stelle danke ich meinen Kollegen Patrick
Kurth und Wolfgang Börnsen besonders herzlich für die
vertrauensvolle und ausgezeichnete Zusammenarbeit.
Wir haben nicht nur in dieser Legislaturperiode gemein-
sam noch viel vor. Meine Bitte ist: Stimmen Sie diesem
Antrag zu.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Volker Beck das Wort.
Herr Kollege Brähmig, Sie haben mich gerade mit ei-
ner Aussage in Ihrer Rede etwas stutzen lassen. Sie ha-
ben gesagt, das Kapitel des Zweiten Weltkrieges sei
nicht abgeschlossen.
Meinten Sie die Aufarbeitung, oder wollten Sie damit
offene Rechtsfragen ansprechen, die sozusagen noch der
Klärung bedürfen? Ich finde es wichtig, dass wir in die-
ser Debatte wissen, auf welcher Grundlage wir reden.
Oder sehen Sie es wie Frau Steinbach, dass wir im Osten
eine Grenze haben, die eigentlich nicht unsere Zustim-
mung finden sollte?
Kollege Brähmig, Sie haben Gelegenheit zur Ant-
wort. – Keine Reaktion.
Dann erteile ich dem Kollegen Patrick Kurth für die
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Ich bin dankbar dafür, dass Sie, HerrThierse, heute hier reden konnten, obwohl Sie Dienst ha-ben. Ich habe es bedauert, dass Sie beim letzten Malnicht reden konnten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrteFrau Jochimsen, die Vertriebenen haben sich nach demKrieg Gott sei Dank nicht so benommen wie die SEDnach der Wende. Sie verklären und relativieren die Ge-
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Patrick Kurth
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schichte, Sie drehen die Historie um. Das haben die Ver-triebenen nicht getan.
Keine Organisation in der Geschichte der Bundesrepu-blik hat derart die Geschichte verklärt, Verbrechen ver-tuscht, Gewalt verharmlost oder sich eines unanständi-gen Revanchismus und Relativismus bedient, wie Sie esgetan haben. Sie haben kein Recht, so zu reden,
erst recht nicht, da in der jüngeren GeschichteDr. Gregor Gysi von Ihrer Partei beim letzten Vertrei-bungsdiktator, Herrn Milosevic, in Serbien war und ihmden Hof gemacht hat.
Herr Beck, ich möchte kurz darauf hinweisen: DieNamen, die Sie nennen, sind verabscheuungswürdig.Das ist so. Aber mehr als zwei Drittel der Vertriebenenwaren Frauen und Kinder. Auch das muss man zurKenntnis nehmen. Das müssen Sie, wenn es um Fragenvon Schuld und Ähnlichem geht, mit berücksichtigen.Ich hatte schon beim letzten Mal das Gefühl und habe esdieses Mal wieder, dass Sie hier einen persönlichen Igelbürsten wollen und dazu die Plenardebatte des Deut-schen Bundestages nutzen.
Das können Sie zwar auf persönlichem Wege machen,aber nicht im Deutschen Bundestag angesichts eines sol-chen Themas.
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Jochimsen?
Ja, bitte.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
Sie mir absprechen, hier im Parlament das Wort ergrei-
fen zu können? Ich möchte in diesem Zusammenhang
– obwohl es eigentlich überflüssig ist – darauf hinwei-
sen, dass ich nie Bürgerin der DDR war. Ich gehöre auch
nicht zur Familie des früheren Präsidenten Milosevic.
Ich sage das, weil Sie beides erwähnt haben. Aufgrund
welcher Tatsachen wollen Sie mir das Recht absprechen,
hier im Bundestag zu reden?
Sie können über das Thema reden, aber ob Sie dabeidie moralische Keule schwingen können, ist eine andereFrage. Angesichts der Tatsache, dass ein ehemaligerVorsitzender Ihrer Partei bei Milosevic Hof gehalten hat,müssen Sie sich schon fragen, ob das in Ordnung warund ob Sie hier so reden können.
Außerdem: Ihre Vorsitzende hat eine Debatte losgetreten– in dieser Woche hat sie übrigens nachgelegt –, indemsie sinngemäß sagte, dass der Kommunismus von Stalin,Mao und Pol Pot nichts, aber auch gar nichts mit demKommunismus in der Theorie zu tun hat.
Wenn Stalin nun nicht mehr als Kommunist durchgeht,dann rate ich Ihnen, sich mit den Stalinisten in Ihrer Par-tei zu unterhalten, was die davon halten.
Sie können darüber reden – wir haben Sie auch ungestörtreden lassen –, aber ich spreche Ihnen ab, die moralischeKeule zu schwingen.
Der Zeitgeist bei der jüngeren Generation – daraufmöchte ich verweisen – ist ein anderer als der, den Siehier unterstellen. Es gibt ein neues und frisches Interessean Geschichte.
Es gibt ein neues und frisches Interesse auch an den Ge-bieten. Es gibt einen intensiven Austausch mit Polen undTschechien, der sehr gefragt ist, und es gibt entspre-chende Literatur, zahlreiche Romane; Günter Grasswurde erwähnt. Das hat nichts mit irgendwelchen Trach-tenzeiten oder Funktionärsinteressen zu tun. Es gibt beiden jungen Leuten ein unbefangenes Verhältnis, auf dasman aufbauen möchte.Im Gegensatz dazu betreten Sie ausgetretene Pfade.Auch in der Diskussion werden die alten Fronten sicht-bar. Sie machen den entscheidenden Fehler, die Chartaals rückwärtsgewandtes Dokument zu sehen, das nur umder Aufarbeitung des Krieges willen geschrieben wordenist. Aus meiner Sicht ist es das nicht. Vor allen Dingenim Jahr 2011 kann man das so nicht sehen.
Die Charta war und ist wegweisend und der Zukunftzugewandt. Sie spricht von einem geeinten Europa. Siespricht von der Ächtung der Vertreibung weltweit. DassVertreibung nach wie vor aktuelle und traurige Realitätist, das mag doch niemand bestreiten. Es wäre wün-schenswert, dass sich die Vertriebenen, die es weltweitgibt, so verhalten würden wie die deutschen Vertriebe-
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Patrick Kurth
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nen. Das wäre ein gutes Zeichen. Das ist die Strahlkraftder Charta.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Bitte schön.
Offensichtlich halten Sie alle Oppositionsredner in
dieser Debatte für unehrlich.
– Das hat er mir gegenüber zum Ausdruck gebracht und
auch gegenüber der Kollegin Jochimsen. Aber vielleicht
kann er das klarstellen.
– Herr Strobl, ich habe jetzt das Wort.
Ich möchte eine Frage stellen.
– Herr Präsident, ich rede, sobald ich das Ohr des Hau-
ses habe.
Kollege Beck, einfach durchhalten!
Ich bin da ganz gelassen.
Wir haben vorhin aus einem Artikel der Frankfurter
Rundschau zitiert. Es ging um einen Beitrag eines Mit-
glieds des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Dieser stellt
eindeutig klar, wie die Charta und die Bezugnahme des
Bundestages auf diese Charta in Polen verstanden wird.
Mir ist auch schon zu Ohren gekommen, dass es in der
polnischen Regierung bereits Irritationen darüber gibt,
was heute hier beschlossen werden soll.
Halten Sie ein solches Signal an Polen, an Tsche-
chien, an die Slowakei wirklich für außenpolitisch ange-
messen? Sie von der FDP stellen den Außenminister.
Sind Sie ernsthaft der Ansicht, dass die alle – wie wir in
der Opposition – zu blöd sind, die Charta historisch rich-
tig einzuordnen? Sie sollten einmal darüber nachdenken,
welche eindeutige Botschaft die Charta für unsere Nach-
barn hat: die Relativierung der deutschen Verbrechen
und das Dramatisieren und Singularisieren des Leidens
der deutschen Heimatvertriebenen. Das muss doch auch
Ihnen als Liberale zu denken geben. Das vermute ich zu-
mindest, wenn ich an die FDP von früher denke.
Herr Beck, ich weise mit aller Entschiedenheit zu-rück, dass ich – oder jemand anders aus der Regierungs-koalition – der Opposition oder irgendjemandem in die-sem Hause abspreche, sich hier äußern zu dürfen, oderdass ich jemandem unterstelle – Ihre Worte –, gänzlichblöd zu sein;
im Gegenteil. Ich weise aber darauf hin, dass einige hiersehr vorsichtig sein müssen, wenn sie die moralischeKeule schwingen.Ich sage Ihnen, dass das Dokument, die Charta, imZeitzusammenhang gesehen werden muss. Damals wares so, dass alle Parteien erklärten – ich will eigentlichgar keine Namen nennen; Otto Grotewohl sprach vonder Amputation des deutschen Reichsgebietes; denkenSie auch an Kurt Schumacher! –, dass man sich so mitdieser Abtrennung nicht abfinden werde. Inhaltlichstütze ich das überhaupt nicht; es ist überhaupt nichtmehr Komment. Es ist völlig klar, dass das heute nie-mand mehr in irgendeiner Weise unterstützen würde.
Die Charta ist in einer Zeit entstanden, in der manüberall hörte, auch von alliierter Seite: Da ist das letzteWort noch nicht gesprochen.
Die Charta ist wegweisend und sagt: Wir als Betroffenemischen uns dort nicht ein.
Wir verzichten darauf. Wir überlassen diese politischeAuseinandersetzung denen, die Politik machen. Nachdieser Charta werden wir das so nicht mitmachen.
Wenn wir an andere Gebiete heute denken, erkennenwir: Es wäre wirklich wichtig, dass Opfer sich in dieserWeise äußern. Es geht dabei nicht darum, Schuld aufsich zu nehmen, sondern um die Notwendigkeit, zu einerEinigung zu kommen. Zu den Reaktionen in Polen kannich Ihnen sagen: Hier ist alle Vorsicht geboten.
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Patrick Kurth
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Irgendjemand hatte gefragt, warum der Charta-Antragso spät kam. Wir haben auf alle möglichen internationa-len Notwendigkeiten Rücksicht genommen. Wir habensehr intensiv und lange daran gearbeitet.
Ich kann Ihnen auch sagen, dass es nicht nur die Regie-rungsfraktionen waren, die daran mitgearbeitet haben.Ich versichere Ihnen, dass es hier ausschließlich darumgeht, die Charta in ihrer internationalen Verhältnismä-ßigkeit zu sehen.
Ich könnte das folgende Thema natürlich mit in dieBeantwortung der Frage nehmen, aber ich will daraufverzichten.
Thema Gedenktag. Das ist ein Punkt, über den mansich im Moment streitet. Damit das hier ganz klar ist:Ein Gedenktag für Vertreibungen gilt nach unserer Vor-stellung für alle Vertreibungen. Die Fokussierung auf dieVertreibung der Deutschen wäre wieder ein Rückgriffauf die Vergangenheit. Wir schauen nach vorn, und wirhaben auch die Vertreibungen im Blick, die seit jenerZeit geschehen sind. Für uns gilt: Es geht um Vertreibun-gen, unabhängig von Ort, Zeit oder Umständen.Ähnlich ist es beim Thema Gedenkstätte. Es werdenzum Teil Ängste geschürt, dass hier eine Gedenkstättenur für die deutschen Opfer entstehen soll. Ich sage deut-lich: Das ist falsch. Es soll über eine Gedenkmöglichkeitin der Dokumentationsstätte nachgedacht werden, dieaber nicht nur für die deutschen Opfer da ist; nein, esgeht – da wiederhole ich mich gern und so oft, wie Siemöchten – um Vertreibungen weltweit.Thema Rache. Ähnlich ist das mit der Begrifflichkeitdes Wortes „Rache“. Niemand hat das Recht auf Rache.Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg und für alle Sei-ten. Das ist ein Leitgedanke, der bei den aktuellen Kon-flikten heute viel zu selten eine Rolle spielt. Ich sagedazu auch deutlich: Verbrechen der Deutschen rechtferti-gen nicht Verbrechen an Deutschen, aber Verbrechen derDeutschen werden eben auch nicht kleiner durch dieVerbrechen an Deutschen. Schuld und Leid, das ist im-mer individuell.Ich möchte zusammenfassen: Wir sorgen mit demAntrag dafür, dass die junge Generation diesem Themagegenüber weiterhin aufgeschlossen bleibt, ohne ideolo-gische Verblendungen, und dass über dieses Thema of-fen gesprochen wird – nach allen Seiten. Das ist notwen-dig. Wir tun das nicht nur, damit sich die Leute erinnernkönnen, sondern auch – das ist das Entscheidende –, da-mit sie urteilsfähig bleiben.
Man muss urteilsfähig bleiben, egal ob es das eigeneLand oder eine andere Region betrifft.Wir wollen die internationale Aufgabe. Wir wollennichts verklären. Es geht darum, dass wir friedlich mitunseren Nachbarn zusammenleben und über alles das re-den, was in der Vergangenheit über uns gekommen ist –positiv, negativ.Ich bedanke mich recht herzlich.
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die Fraktion der
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Lassen Sie mich mit dreiZitaten beginnen. Das erste Zitat:12 Millionen Vertriebene gründen keine militantenFreikorps, die sich an den Gefühlen der Gekränktenund Zukurzgekommenen mästen. Sie gründen auchkeine Untergrundarmee. Sie wurden nicht zum so-zialen Sprengstoff – wie Stalin es wollte –, sondernsie verzichteten früh auf Rache und wurden damitzu etwas wie sozialem Sauerteig.Sie beginnen sich Stück für Stück aus den Minder-wertigkeitsgefühlen gegenüber den glücklicherenEinheimischen zu befreien, ringen denen einen Las-tenausgleich ab, schlucken den Groll über die All-tagsdemütigungen herunter, vertrauen auf ihre ei-gene Kraft und werden damit zum eigentlichenMotor einer gewaltigen sozialen, wirtschaftlichenund kulturellen Modernisierung ihrer ganzen Um-gebung.Das zweite Zitat:Umso beeindruckender liest sich auch aus heutigerPerspektive die Charta, welche die deutschen Hei-matvertriebenen gleichsam als ihr „Grundgesetz“verfassten. Unter Punkt eins heißt es da: „Wir Hei-matvertriebenen verzichten auf Rache und Vergel-tung.“ Und zweitens: „Wir werden jedes Beginnenmit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaf-fung eines geeinten Europas gerichtet ist, in demdie Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“Ich denke, diesem Ziel sind wir heute – jedenfallsauf dem größeren Teil unseres Kontinents – näherals jemals in der Vergangenheit.Und nun das dritte Zitat:Alle, die in unserem Land leben – die Jungen unddie Älteren, Frauen und Männer, Arbeitnehmer undArbeitgeber, Deutsche und Ausländer, Vertreterin-nen und Vertreter aus Bildung, Kirche, Kultur,Medien, Politik, Sport, Verbänden, Vereinen undWissenschaft – haben daran mitgewirkt. An einemDeutschland mit Chancen für alle. An einemmenschlichen und toleranten Deutschland. DieCharta der Heimatvertriebenen hat dabei eine wich-tige Rolle gespielt.
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10128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Stephan Mayer
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Diese Zitate stammen nicht von Vertretern des Bun-des der Vertriebenen, sie stammen auch nicht von Vertre-tern der CDU, der CSU oder der FDP, diese drei Zitatestammen in der Folge von Frau Dr. Antje Vollmer, diedamals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war,vom Altbundeskanzler Gerhard Schröder aus dem Sep-tember 2000 und vom derzeitigen Parteivorsitzenden derSPD, Sigmar Gabriel, damals in seiner Funktion alsMinisterpräsident des Landes Niedersachsen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was michbeschwert und traurig macht, ist nicht, wie ProfessorRuchniewicz gestern in der Frankfurter Rundschau ge-schrieben hat, dass unser Antrag ein „Rückfall in Zeitendes Kalten Kriegs“ sei, was mich wirklich traurigstimmt, ist, dass die Beiträge der Opposition einen Rück-fall in Zeiten darstellen, von denen ich eigentlichglaubte, dass sie schon überwunden seien.
Ich möchte deshalb dringend an Sie appellieren: Besin-nen Sie sich wieder der Auffassung und der Positionen,
die führende Vertreter Ihrer Parteien schon einmal vormehreren Jahren vertreten haben.
Man muss doch gar kein Anhänger und vielleichtauch gar kein Freund des Bundes der Vertriebenen sein,um anzuerkennen, dass die Charta der Heimatvertriebe-nen vom 5. August 1950 ein historisch herausragendesDokument ist, ein singuläres Dokument, ein Akt derSelbstüberwindung, wie es die Präsidentin des BdV, dieKollegin Erika Steinbach, genannt hat.
Ich möchte auch in aller Deutlichkeit betonen, dasswir uns davor hüten sollten, uns zu überheben – ich spre-che da auch ganz bewusst den Herrn Kollegen Thiersean –, indem wir die Charta der Heimatvertriebenen jetzt,60 Jahre später, hier im wohltemperierten Plenarsaal desBundestages losgelöst von ihrem historischen Kontextbewerten.
Die Charta der Heimatvertriebenen wurde verab-schiedet von leidenden, gedemütigten, traumatisiertenMenschen.
Damals, 1950, lebten 49,5 Prozent der Heimatvertriebe-nen in Westdeutschland noch in Lagern,
34 Prozent der Heimatvertriebenen lebten in Notunter-künften. Ich bitte Sie wirklich eindringlich, dieses histo-risch herausragende Dokument, ein Gründungsdoku-ment der Bundesrepublik Deutschland, als das es derBundestagspräsident bezeichnet hat, wirklich im histori-schen Kontext zu betrachten.
Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, ich glaube wirk-lich, dass wir einen Fehler machen würden, wenn wir be-haupten, man hätte den einen oder anderen Satz in derCharta anders formulieren können. Die Heimatvertriebe-nen konnten doch gar nicht auf Rache und Vergeltungverzichten, weil sie rechtlich gar keinen Anspruch da-rauf hatten. Die Charta der Heimatvertriebenen war keinrechtliches Gutachten. Sie war auch keine historischeAbhandlung. Deswegen ist der Vorwurf verfehlt, zu sa-gen, die Heimatvertriebenen hätten in der Charta histo-risch plausibel zu wenig auf die Ursachen der Vertrei-bung Rücksicht genommen und seien zu wenig daraufeingegangen. Nein, meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen, alle Deutschen – egal ob sie Vertriebenesind oder nicht, egal ob sie einen Vertriebenenhinter-grund haben oder nicht – können auf diese Charta stolzsein,
und zwar ohne Schaum vor dem Mund und ohne Ideolo-gie. Sie ist ein Zeichen der Kraft, der Zuversicht und derAufbruchsstimmung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Korte von der Fraktion Die Linke?
Sehr gerne.
Sehr geehrter Kollege Mayer, ich möchte auf die
Frage zurückkommen – Sie haben sie gerade angespro-
chen –, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist. Möchten
Sie wirklich behaupten, dass die von der Kollegin
Jochimsen vorhin detailliert genannten ehemaligen Mit-
glieder der SS – das waren zum Teil ranghohe SS-Offi-
ziere – Opfer gewesen sind? Ist das ernsthaft Ihre Posi-
tion?
Herr Kollege Korte, ich möchte eines in aller Deut-lichkeit festhalten: Die Tatsache, ob jemand vertrieben
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10129
Stephan Mayer
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wurde oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ihm persönli-che Schuld nachgesagt werden kann oder nicht.
Es sind Menschen vertrieben worden, die in das natio-nalsozialistische Unrechtsregime mit eingebunden wa-ren. Es sind aber weitaus mehr – millionenfach – Men-schen vertrieben worden, die vollkommen unschuldigwaren. Herr Kollege Korte, der Umstand, ob man ver-trieben wurde oder nicht, war nur darauf zurückzufüh-ren, wo man lebte. Das war also ein zufälliger Aspekt.
Viele Menschen in Westdeutschland, die vielleicht selbstgroße Schuld an den grausamen Verbrechen des Natio-nalsozialismus gehabt haben, sind nicht vertrieben wor-den. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach demZweiten Weltkrieg sind aber weitaus mehr Menschenvertrieben worden, die vollkommen unschuldig waren.
Deren Schicksal zu gedenken, dafür sind wir nach wievor in vollem Umfang verantwortlich.
Die Charta war und ist ein herausragendes Dokument,das für die weitere Erfolgsgeschichte der Bundesrepu-blik Deutschland wegweisend war.
Wie schon erwähnt: Darauf können wir alle sehr stolzsein.Die Integrationsleistung von 12 Millionen Heimatver-triebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist aus meinerSicht eine der größten gesellschaftspolitischen Leistun-gen des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Wir Deutsche haben den Auftrag, den wir nach demZweiten Weltkrieg bekommen haben, meines Erachtenssehr stringent und auch sehr behände angenommen undauf politischer Seite dann 1952 mit dem Lastenaus-gleichsgesetz und 1953 mit dem Bundesvertriebenenge-setz entsprechend begleitet. Ich finde, diesem histori-schen Dokument sind wir nach wie vor verantwortlich.Deswegen ist es richtig, dass der 5. August endlich zumnationalen Gedenktag erhoben wird, um dem schreckli-chen Schicksal von 12 Millionen Heimatvertriebenenund 3 Millionen Menschen, die bei der Flucht ums Le-ben gekommen sind, weiterhin dauerhaft zu gedenkenund um in die Zukunft gerichtet als Mahnung zu dienen.Damit wollen wir erreichen, dass sich Derartiges inDeutschland, aber auch auf dem ganzen Globus nie mehrwiederholt.
In diesem Sinne möchte ich abschließend dringend anSie alle appellieren.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Opposition darf ich die Haltung des früheren
Bundesinnenministers Otto Schily, seines Zeichens SPD-
Mitglied, in Erinnerung rufen, der 1999 selbstkritisch
eingeräumt hat, dass es insbesondere aufseiten der Lin-
ken in Deutschland über Jahrzehnte hinweg eine Ver-
harmlosung und eine Verniedlichung des Schicksals der
Heimatvertriebenen gegeben hat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Erika
Steinbach.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!Manches an den Beiträgen von der linken Seite warschon erschütternd; das muss ich wirklich sagen.
Ein Teil der Deutschen hat aufgrund des Wohnortes eineKollektivstrafe über sich ergehen lassen müssen, obwohlsie an den Verbrechen des Nationalsozialismus nichtmehr und nicht weniger schuld gewesen sind als einHamburger, ein Berliner oder ein Münchner. Obwohl– so sagt man – die „Hauptstadt der Bewegung“ Mün-chen gewesen ist, sind die Münchner nicht vertriebenworden. Die Deutschen, die in Ost- und Mitteleuropa ge-lebt haben, sind kollektiv einer Strafe unterzogen wor-den, die sie nicht mehr und nicht weniger als alle ande-ren verdient haben, nämlich gar nicht. Vertreibung ist einVerbrechen gegen die Menschlichkeit.
Jetzt muss man eines hinzufügen. Es wird immer ge-sagt, dass in der Charta der deutschen Heimatvertriebe-nen steht:Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache undVergeltung.Es gibt kein Recht auf Rache und Vergeltung; aber inganz vielen Menschen gibt es ein Gefühl, das auf Racheund Vergeltung beruht. Ich hätte mir gewünscht, dass je-mand wie der frühere Außenminister Fischer – er hat in
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Erika Steinbach
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seinen Straßenkämpferzeiten Arafat, einen gewalttätigenMenschen, der Rache für das Schicksal der Palästinensergeübt hat, besucht – das Thema einmal anders betrachtethätte.In der Charta kommt eine innere Überzeugung zumAusdruck: Wir wollen das Gefühl der Rache nicht zulas-sen; wir wollen unseren Schicksalsgefährten mit auf denWeg geben, dass dieses Gefühl in uns nicht wachsendarf; wir wollen den Weg des Friedens, der Versöhnungund des Miteinanders gehen; wir wollen Europa in Frie-den mit aufbauen, damit die Völker versöhnt miteinan-der leben können.
Mit der Art und Weise, wie Sie heute überheblich aufall das schauen, was sich damals in den Menschen abge-spielt hat, blenden Sie aus, dass die Verabschiedung ei-nes solchen Dokuments in der damaligen Situation eineübermenschliche Handlung war: acht- und zehnjährigeJungen hatten erlebt, wie ihre Mütter vergewaltigt wur-den; Frauen hatten gesehen, wie ihre Kinder erschlagenwurden;
viele haben noch 1955 hier in Berlin, im Gasometer, zusechst auf 6 Quadratmetern gelebt, ohne Fenster, ohnealles. Das heute auszublenden, zeugt von wenig Mitge-fühl für diejenigen, die ein Sonderschicksal erlitten ha-ben.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „60 Jahre
Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung
vollenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4651, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck-
sache 17/4193 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Grünen auf
Drucksache 17/4693? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stimmen
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4651? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar
Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch
und barrierefrei gestalten
– Drucksachen 17/3433, 17/4659 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Körber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Nach der Ausschussberatung befassen wir unsheute abschließend mit dem Antrag der Linken „Grund-recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-stalten“.
– Ja. – Dieser Antrag, den wir schon im Ausschuss bera-ten haben, macht deutlich, dass die Linken in Deutsch-land bezüglich der Wohnungspolitik kein kompetenterGesprächspartner sind.
Der Antrag zeigt, dass die Linke die tatsächliche Ent-wicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt vollkom-men ignoriert.
Wir Abgeordnete können den Wohnungsmarkt beiuns sehr wohl mit dem Wohnungsmarkt in anderen euro-päischen Ländern vergleichen. Ich finde, der Wohnungs-markt in Deutschland ist vorbildlich. Dieser Antrag istrealitätsfremd und unsachlich. Ich möchte nur einenPunkt herausgreifen. In dem Antrag steht:Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschlandexistiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohn-raum.Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Diese Aussage ist durchweg falsch.Mir ist es wichtig, dass wir ein realistisches Bild vonder Wohnungsmarktsituation in Deutschland zeichnenund die falschen Behauptungen der Linken korrigieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10131
Gero Storjohann
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Das Wichtigste vorweg: Die Wohnraumversorgung inDeutschland ist gut.
2006 gab es in Deutschland 39,6 Millionen Wohnungen.Ich freue mich schon auf die Wohnraumerfassung; denndann werden wir aktuellere Daten haben. Von diesen39,6 Millionen Wohnungen waren knapp 24 MillionenWohnungen Mietwohnungen. Das geht aus dem Berichtüber die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft des Bun-desbauministeriums hervor. Von diesen 39,6 MillionenWohnungen standen 2006 3,1 Millionen Wohnungenleer. Das sind 8 Prozent des kompletten Wohnungsbe-standes. Selbstverständlich existieren regionale Unter-schiede bei der Wohnraumversorgung. Dennoch habenwir keinen Wohnraummangel. Der Wohnungsmarkt ent-wickelt sich stabil.Das gilt auch für die Mietpreise. Die Nettomieten sindzwischen 1997 und 2007 jährlich um durchschnittlich1,1 Prozent gestiegen. Die durchschnittliche Preissteige-rungsrate in diesen Jahren lag mit 1,5 Prozent deutlichhöher. Die von den Linken beschworene dramatischePreissteigerung bei den Mieten hat es nicht gegeben.
– Und wo leben Sie? Ich spreche von den Nettomieten.Zwischen brutto und netto sollten Sie unterscheiden kön-nen. Das zu vertauschen, haben früher schon andere ver-sucht.Auch die Linke sollte Statistiken zur Kenntnis neh-men. Richtig ist, dass der Wohnungsmarkt sich selbst-verständlich geänderten Rahmenbedingungen anpassenmuss. In einer sozialen Marktwirtschaft wird er das auchtun.In Deutschland ist ein Trend eindeutig feststellbar:Mehr und mehr Menschen zieht es in die Städte und indie Ballungsräume. Die Kehrseite dieser Entwicklungist, dass die Bevölkerungsdichte im ländlichen Raumweiter abnimmt. Insbesondere in den neuen Bundeslän-dern ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Es ist unsereAufgabe, darauf zu reagieren.In einer älter werdenden Gesellschaft müssen außer-dem mehr Wohnungen barrierefrei ausgestaltet werden.Deshalb hat das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung das KfW-Programm „Altersgerecht Um-bauen“ aufgelegt. Hierdurch schaffen wir von der PolitikAnreize zum barrierefreien Ausbau bestehender Woh-nungen. Gleichzeitig müssen wir die CO2-Einsparpoten-ziale des Wohnungsbereichs möglichst optimal aus-nutzen. Durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm istes gelungen, in den Jahren 2006 bis 2008 rund800 000 Wohnungen energetisch zu sanieren. Auch hiersind wir auf einem richtigen und guten Weg. Politischwird das begleitet. Es wäre schön, wenn das auch ohneAnreizsysteme, aufgrund von Überzeugungen klappenwürde.Grundsätzlich muss gewährleistet sein, dass alle Men-schen in unserem Land, auch die sozial Schwächeren,angemessen und menschenwürdig wohnen können. Indiesem Zusammenhang möchte ich das Wohngeld alsgut funktionierendes Instrument herausstellen. Mithilfedes Wohngeldes können auch einkommensschwacheHaushalte in einer angemessenen und familiengerechtenWohnung leben. Das Wohngeld wirkt dabei sehr zielge-richtet. Seine Höhe bemisst sich sowohl nach den regio-nalen Gegebenheiten am jeweiligen Wohnungsmarkt alsauch nach den individuellen Bedürfnissen des Wohn-geldempfängers. Es ist das flexible und treffsichere In-strument der Wohnungspolitik.
Das sind nur einige der Maßnahmen, mit denen wireinen zunehmend barrierefreien, umweltfreundlichenund sozial ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutsch-land anregen. Vieles, was die Linke in ihrem Antrag for-dert, ist bereits heute gängige Praxis.
Nun zur Forderung der Linken, ein Grundrecht aufWohnen gesetzlich zu verankern. Das Sozialstaatsprin-zip unseres Grundgesetzes verpflichtet den Staat bereitsjetzt, die Versorgung der Bevölkerung mit angemesse-nem Wohnraum sicherzustellen. Der Staat hat die Auf-gabe, Obdachlosigkeit, Wohnungsmangel und men-schenunwürdiges Wohnen zu bekämpfen. Die Zahlenbeweisen, dass diese Bundesregierung und frühere Bun-desregierungen diese Aufgabe stets gut erfüllt haben.Ein von den Linken gefordertes in der Verfassungverankertes Grundrecht auf Wohnen würde an der Le-benswirklichkeit überhaupt nichts ändern. Wir als christ-lich-liberale Koalition sehen es stattdessen als unsereAufgabe an, unseren ausgewogenen Wohnungsmarktweiter zu optimieren. Dies wird insbesondere durchwohldosierte Neuregelungen im Mietrecht gelingen.Unser Mietrecht ist seit jeher Garant sozial ausgewo-genen Wohnens in Deutschland. Das deutsche Mietrechthatte stets beides im Blick, die Interessen der Vermieter,die natürlich ein Interesse an der Wirtschaftlichkeit ihrerInvestition haben, und den Schutz der Mieter. Mieternund Vermietern sollte also über das Mietrecht die Mög-lichkeit gegeben werden, einen angemessenen Vertragzu schließen, sodass beide wissen, woran sie sind, damitsie eine gute Investitionsentscheidung oder die Entschei-dung treffen können, in diesem Haus zur Miete zu leben.CDU/CSU und FDP werden die Ausgewogenheit desdeutschen Mietrechts weiter erhöhen. Insbesondere imBereich der energetischen Sanierung sind Anpassungendringend notwendig. Im Sinne des Klimaschutzes wol-len wir verstärkt Anreize zur energetischen Sanierungschaffen.Gleichzeitig haben die Mieter ein berechtigtes Inte-resse daran, dass ihre Wohnsituation nicht über Gebühr
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Gero Storjohann
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durch Sanierungsmaßnahmen belastet wird. Auch hier-bei streben wir eine sachgerechte Lösung an. EinenRechtsanspruch auf die Durchführung energetischer Sa-nierungen, wie ihn die Linke fordert, lehnen wir striktab. CDU und CSU sind Mietern und Vermietern glei-chermaßen verbunden. Wir suchen nach dem wunderba-ren Mittelweg.Meine Damen und Herren, meine Kollegen werdenweitere Aspekte dieses Antrags in die Debatte einführen.Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Ausschussnoch über das Mietnomadentum debattieren werden.
– Sie haben das wunderbar gelesen. Sie haben auch gele-sen, dass das keine statistische Grundgesamtheit war,sondern dass das Fälle waren, anhand derer das Miet-nomadentum in Deutschland untersucht wurde.Ich halte es für wichtig, dass wir uns dieser Problema-tik widmen und dass wir Vermieter vor solchen Fällenschützen. Das werden wir noch intensiv tun.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass wir einen ausge-wogenen Wohnungsmarkt in Deutschland haben. Dassdas so ist, dafür ist allen Bundesregierungen der Vergan-genheit zu danken. Wir bitten, der Beschlussempfehlungdes Ausschusses zuzustimmen.
Der Kollege Bartol hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im Großen und Ganzen haben wir in Deutschland einenausgeglichenen Wohnungsmarkt. Das ist gut so; dennangemessener Wohnraum in einem lebenswerten Um-feld ist ein Grundbedürfnis, für dessen Befriedigung wiruns immer eingesetzt haben. Das ist eine zentrale Moti-vation sozialdemokratischer Bau-, Wohnungs- undStadtentwicklungspolitik.Der Wohnungsmarkt stellt sich regional aber sehr un-terschiedlich dar. Darauf weisen Sie zu Recht hin, liebeKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Leerständein bestimmten Gebieten stehen steigenden Mieten zumBeispiel in Ballungszentren gegenüber. Es gibt alsodurchaus Herausforderungen, die es anzupacken gilt.Doch leider wird der vorliegende Antrag der Links-fraktion uns bei diesen Aufgaben überhaupt nicht voran-bringen. Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlichmachen.Erstens. Wohnungslosigkeit war Ende vergangenenJahres Thema hier im Plenum. Wir sind gerade dabei,uns auf Berichterstatterebene intensiv damit zu beschäf-tigen. Ich finde es übrigens toll, dass sich die zuständi-gen Abgeordneten aus allen Fraktionen daran beteiligen.Wir werden uns morgen mit Experten treffen und da-rüber beraten, welche Maßnahmen auf Bundesebenevielleicht sinnvoll sein könnten.Wohnungslosigkeit konnten wir bisher zum Beispielüber Mietrecht und Wohngeld ganz gut begegnen. Diequantitative Entwicklung der Wohnungslosigkeit in denletzten 20 Jahren ist sehr positiv. Für Wohnraumpolitiksind seit der Föderalismusreform hauptsächlich die Län-der zuständig. In einigen Landesverfassungen ist einGrundrecht auf Wohnen verankert. Deshalb stellt sichdie Frage, ob uns eine besondere bundesgesetzliche Re-gelung, wie sie die Linksfraktion fordert, an dieser Stellewirklich weiterbringen würde.Die Länder bekommen für die soziale Wohnraumför-derung Geld aus dem Bundeshaushalt. Hier haben wireinen Hebel, um den Wohnungsmarkt positiv zu beein-flussen. Ich fordere die Regierung auf, sicherzustellen,dass die Länder die Mittel sinnvoll einsetzen.
Über 500 Millionen Euro pro Jahr sind kein Pappenstiel.Bei derartigen Beträgen ist eine strenge Erfolgskon-trolle, lieber Kollege Döring, sehr wichtig.Zweitens. Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrageine deutliche Ausweitung des Wohngelds. Niemand,der unterdurchschnittlich verdient, solle mehr als 30 Pro-zent seines Einkommens für seine Wohnung, für Miete,Heizung, Wasser und Nebenkosten, ausgeben müssen.Der Rest soll vom Staat übernommen werden. Nun hatSchwarz-Gelb das Wohngeld gerade erst gekürzt. DieHeizkostenkomponente, lieber Kollege Storjohann, istgerade abgeschafft worden. Sie war 2009 auf Betreibender SPD eingeführt worden. Lieber Herr Kollege, als Sievon der Sinnhaftigkeit des Wohngeldes gesprochen ha-ben, hätten Sie vielleicht kurz erwähnen sollen, dass esein großer Fehler war, die Heizkostenkomponente abzu-schaffen.
Das Wohngeld kräftig aufzustocken, steht also leiderim Moment nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr müs-sen wir gemeinsam versuchen, mühsam Erreichtes zuverteidigen und Abgeschafftes wieder einzufordern. IhrAntrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Links-partei, ist – wie so oft in sozialpolitischen Angelegenhei-ten – leider völlig unrealistisch und in keiner Weisedurchsetzbar.Die Kosten für Haushaltsenergie werden mittelfristigimmer weiter steigen. Daran kann niemand ernsthaftzweifeln. So ist zum Beispiel Heizöl in den knapp zweiJahren seit der Einführung der Heizkostenkomponenteum über 20 Prozent teurer geworden. Die Regierunglässt Einkommensschwache, für die steigende Heizkos-ten besonders schwer zu verkraften sind, völlig alleine.So werden die Menschen in Arbeitslosengeld-II-Bezugund in die Grundsicherung gedrängt. Das ist zurzeit dieEntwicklung. Eine solche Politik wird dafür sorgen, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10133
Sören Bartol
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sich Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können.Wohngeld ist mehr als eine soziale Transferleistung, esträgt auch zu ausgewogenen Bevölkerungsstrukturen inden Stadtteilen und damit zur Lebendigkeit und Attrakti-vität der Städte bei.
Schwarz-Gelb betreibt nicht nur unsoziale Rotstift-politik zulasten von Einkommensschwachen, Rentnernund Alleinerziehenden, sondern verschärft auch die so-ziale Spaltung in den Städten. Wir fordern von der Re-gierung, das Wohngeld als zielgerichtetes Instrument füreine angemessene Wohnraumversorgung wieder zu stär-ken. Die Einbeziehung der Heizkosten, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Koalition, ist dabei ein ganzwichtiger Aspekt.
Drittes und letztes Beispiel: die Städtebauförderung.Ich freue mich, dass wir von der Opposition uns darineinig sind, dass die Kürzungen der Mittel für die Städte-bauförderung und insbesondere der Mittel für das Pro-gramm „Soziale Stadt“ nicht hinnehmbar sind. Gemein-sam mit dem gerade gegründeten „Bündnis für eineSoziale Stadt“ werden wir dafür eintreten, dass dieseKürzungen im Haushalt 2012 zurückgenommen werden.Dort, wo die Länder das Ausfallen der Bundesmittel fürGebiete der „Sozialen Stadt“ nicht kompensieren – Ber-lin und Nordrhein-Westfalen tun dies –, sind viele Stadt-teilprojekte ohne Zukunftsperspektiven. Wir fordern dieBundesregierung auf, ihrer Verantwortung für eine so-zial ausgewogene Entwicklung der Städte und Gemein-den wieder gerecht zu werden.
Die Forderung der Linken nach einer Zusammenle-gung der Städtebauförderungsmittel in einem Topf halteich für nicht hilfreich.
Steuerungsmöglichkeiten des Bundes bei programmati-schen Schwerpunktsetzungen und einen expliziten Pro-blembezug der einzelnen Programme möchte ich nichtaufgeben. Die bisherige differenzierte Programmstrukturhat sich bewährt und sollte aufgrund der programmbe-gleitenden Evaluation im Dialog mit den Ländern, denKommunen und den an der Programmumsetzung Betei-ligten fortentwickelt werden.Im Oktober letzten Jahres fand die erste Lesung die-ses Antrags statt. Ich kann mich nur an sehr wenige An-träge erinnern, die so kurzfristig vor der entsprechendenPlenarsitzung verteilt wurden. Anscheinend haben Sieihn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspar-tei, erst im letzten Moment fertiggestellt. Ich muss es lei-der sagen: Er wirkt an vielen Stellen wie mit der heißenNadel gestrickt.
Unter dem Strich kann man sagen: Die Linksfraktionmacht mit diesem Antrag eine ganze Reihe von Fässernauf, beschränkt die Begründung aber leider immer aufein paar Sätze. So ist ihr Antrag keine Grundlage füreine zielführende Debatte. Das ist schade; denn ange-sichts der unökologischen und unsozialen Wohnungs-politik dieser Bundesregierung wären es einige Aspektesicher wert gewesen, sich ernsthafter mit ihnen zu befas-sen.Wir brauchen eine gut ausgestattete Städtebauförde-rung, die sich nicht auf die Finanzierung von Beton be-schränkt. Wir brauchen mehr energetisch sanierte Woh-nungen, um sinnvolle Klimaschutzziele zu erreichen.Dabei muss unter anderem die Politik dafür sorgen, dassdas Wohnen in den Innenstädten auch für Menschen mitkleinem Einkommen bezahlbar bleibt.Schwarz-Gelb macht bei all dem das Gegenteil. DieRegierung kürzt die Mittel und beschränkt so die Städte-bauförderung, sie streicht die Mittel für die CO2-Gebäu-desanierung zusammen, sie stellt Wohngeldempfängerschlechter, und – das haben wir gerade vom KollegenStorjohann gehört – sie plant eine Mietrechtsnovelle, diedie Rechte der Mieterinnen und Mieter noch weiter ein-schränken soll.
Gegen diese Entwicklung stellt sich die SPD-Bundes-tagsfraktion. Ich würde mich freuen, wenn sich auch dieKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion auf ver-nünftige Art und Weise daran beteiligen würden.
Die Kollegin Müller hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäfti-gen uns heute mit dem Thema „Wohnen in Deutsch-land“. Ich muss ganz ehrlich sagen: Etwas Zielführendeskonnte ich, als ich den Antrag das erste Mal gelesenhabe, nicht unbedingt erkennen, liebe Kolleginnen undKollegen der Fraktion der Linken. Ich glaube, wir solltenuns mit diesem Thema beschäftigen, weil dem HohenHaus und uns allen bewusst ist, welch große Bedeutungdas Thema „Wohnen in Deutschland“ hat. Wir in derchristlich-liberalen Koalition tun das mit unserer Politikder Städtebauförderung,
des Wohngeldes, der CO2-Gebäudesanierung und der so-zialen Wohnraumförderung.
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Petra Müller
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– Ich wusste noch gar nicht, dass Sie im Hotel wohnen,Herr Bartol.
Haben Sie denn wenigstens auch etwas davon, dass dieMehrwertsteuer für die Hotellerie gesenkt wurde?
Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken, zu Ihrem Antrag. Darin beschreiben Sie,dass die Bundesregierung, alle wichtigen Fachverbändeund der Fachausschuss unseres Hauses – ich zitiere –„ein weitgehend zutreffendes Bild der Situation desdeutschen Wohnungsmarktes“ zeichnen. Diese Bundes-regierung und die Fachverbände, so schreiben Sie wei-ter, gehen davon aus, dass die Wohnungsversorgung inDeutschland gut ist. So weit, so gut.Nur einen Absatz weiter kommen Sie in Ihrem Antragaber zu der absurden Behauptung – Zitat –:Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschlandexistiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohn-raum.
Ich muss ehrlich sagen: Damit verblüffen Sie mich.
Einerseits sagen Sie: Alle Beteiligten zeichnen ein zu-treffendes Bild. Andererseits sagen Sie: Nirgendwo gibtes ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. Ichmuss Sie wirklich fragen: Was wollen Sie eigentlich?
Ich muss Sie noch etwas fragen: Ist das Ihre scharf-sinnige Analyse des deutschen Wohnungsmarktes, aufder Sie Ihre politischen Forderungen aufbauen? Dannkann ich nur eines sagen: Das ist eine sehr ideologischdurchsetzte und untermauerte Analyse.
Die Versorgung mit Wohnraum in der BundesrepublikDeutschland ist seit Jahren grundsätzlich sichergestellt.
Für die natürlichen regionalen Unterschiede auf demWohnungsmarkt machen Sie die Immobilienbrancheverantwortlich.
Die Immobilienbranche, zu der vorwiegend kleine undmittlere Unternehmen sowie Einzeleigentümer gehören,ist also Ihrer Meinung nach daran schuld. Richtig ist na-türlich, dass es regionale Unterschiede gibt. In einigenRegionen gibt es ein Überangebot, und in den megaurba-nen Ballungsräumen ist die Angebotslage ausbaufähig.Der Markt reguliert das von ganz alleine,
durch Angebot und Nachfrage.
Sie aber fordern ein Diktat aus Berlin. Sie fordern indi-rekt sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften.
Was Menschen zu tun oder zu lassen haben, was Men-schen denken oder nicht denken und bauen oder nichtbauen, das ist ihre eigene freie Entscheidung.
– Ich kann auch schreien.Wir leben in einer freiheitlich-sozialen Marktwirt-schaft. Eigentum ist in diesem Land ein geschütztes Gut.
Jeder hat das Recht, seine Lebensziele zu bestimmen,seine Chancen zu suchen und zu nutzen.
– Ja, jeder.
Die Immobilienwirtschaft, die hier ein wenig an denPranger gestellt wird, ist von großer Bedeutung für dieVolkswirtschaft. Rund eine halbe Million Erwerbstätigearbeitet in der Immobilienwirtschaft. Deshalb müssenwir kleine und mittlere Unternehmen, die privatenEigentümer, die kommunalen und die gewerblichenWohnungsbaugesellschaften unterstützen. Die unterneh-merische Freiheit durch ein ideologisches Korsett einzu-engen, kann nicht unser Anliegen sein.
Deutschland ist ein Mieterland.
Sechs von zehn Deutschen leben in einer Mietwohnung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10135
Petra Müller
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Ziel muss es daher sein – und das war immer unser An-liegen –, die Wohneigentumsquote zu erhöhen.
Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam die Bedeu-tung des Wohneigentums betont; denn es stärkt die re-gionale Verbundenheit und ist traditionelle Altersvor-sorge. Das nenne ich bürgerliche Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DieLinke, was Sie vorschlagen, ist ein ganzer Katalog anForderungen – mal sind es Forderungen, die in die Län-derhoheit fallen, mal sind es Forderungen, die in derkommunalen Verantwortung liegen, und mal ist die Bun-desebene zuständig. Ehrlich gesagt, so etwas ist Schau-fensterpolitik.
Ich gehe auf die Punkte ein. Fakt ist – und da sind wiruns wahrscheinlich alle einig –: Die Gesellschaft wirdälter. Wir erleben den demografischen Wandel. Wirmöchten, dass ältere Menschen lange und selbstbe-stimmt in ihren eigenen vier Wänden, in ihren eigenenWohnungen und in ihrem Quartier leben können.
Das ist es, was wir unterstützen. Wir unterstützen dasmit dem KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“.Wir unterstützen auch die Verbesserung der Energie-effizienz; diese steht bei uns ganz oben auf der Agenda.Mit dem Energieeffizienzgesetz ist es uns das erste Malgelungen, die Finanzierung der Förderung alternativerEnergien sicherzustellen, und wir reagieren mit demCO2-Gebäudesanierungsprogramm. Beide Maßnahmensetzen Investitionsanreize. Das ist ganz wichtig für diedeutsche Wirtschaft, für die Eigentümer, für die Nutzer.Beide Programme sind überaus erfolgreich.Vielleicht noch ein Punkt – es wurde gerade ange-sprochen –: die Ausgleichszahlungen an die Länder.Diese belaufen sich auf 518 Millionen Euro; das ist rich-tig. 518 Millionen Euro werden für soziale Wohnraum-förderung eingesetzt. Gefördert wird die Barriereredu-zierung im Bestand. Gefördert wird Modernisierung.Gefördert werden Alten- und Pflegeheime und selbstver-ständlich auch der Neubau.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städtebau ist viel-schichtig. Er muss differenziert betrachtet werden: nachRegion und Eigentümerstruktur, nach ökonomischenund ökologischen Erfordernissen und natürlich nach so-zialen Belangen. Genau das tun wir, und zwar zielfüh-rend und erfolgreich über die Städtebauförderung undKfW-Programme.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen derLinken, Sie fordern eine bedarfsgerechte Versorgung derMenschen mit Wohnraum. Sie stellen eingangs Ihres An-trags fest, dass die Wohnungsversorgung gut ist. DerMeinung sind wir auch, weil wir das leisten, und zwardurch ein soziales Mietrecht, durch Wohngeld, durchWohnraumförderung der Länder.
Was Sie fordern, ist ein Diktat aus Berlin.
Deshalb sagen wir Nein zu Ihrem Antrag.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Bluhm für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen vor allem der Koalitionsfraktionen!Was wir von Ihnen immer wieder hören, ist Folgendes:Hartz IV ist gut. Die Wirtschaft ist gut. Auch der Woh-nungsmarkt ist gut. Alles ist gut. – Sie haben die Mög-lichkeit, hier immer wieder zu verkünden: Alles, was Siemachen, ist gut. – Es gibt Gott sei Dank die Opposition,die Ihnen zeigt, dass es auch eine Kehrseite Ihrer Politikgibt, und das will ich hier heute versuchen.
Eines der Kernanliegen der Linken ist es, die sozialenBedürfnisse der Menschen zu sozialen Rechten zu ma-chen.
Die Realität sieht aber anders aus: Wohnungen werdenimmer mehr zur gewöhnlichen Handelsware – mittler-weile auch auf dem internationalen Parkett.
Immobilien machen heute – und auch das sagt derWohnungsbericht – mit rund 86 Prozent den herausra-genden Anteil am deutschen Anlagevermögen, also nichtam Sozialvermögen des Staates, sondern am Anlagever-mögen der Bürgerinnen und Bürger, aus.Die Regierungen der letzten 20 Jahre haben diesenTrend mit ihrer Politik stets befördert: mit Sonderab-schreibungen für Anleger, mit der Förderung privatenWohnungsbaus, durch die der soziale Wohnungsbau ver-drängt wurde, oder gar mit der Riester-Rente, mit dersuggeriert wird, dass man sich damit vor Altersarmutschützen kann. Damit zieht sich der Staat immer weiteraus der sozialen Verantwortung zurück: zum Beispieldurch weitere Privatisierungen und den Verkauf an insti-tutionelle Anleger, zum Beispiel durch die Kürzung von
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10136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Heidrun Bluhm
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Wohngeld im Haushaltsplan 2011, zum Beispiel durchdie Abschaffung der Gemeinnützigkeit von Wohnungs-gesellschaften. Kurzum: Jeder soll sich selber kümmern,der Markt soll das regeln.
Die Linke sieht das Wohnen als elementares mensch-liches Bedürfnis an. Das Recht, unter menschenwürdi-gen Bedingungen zu wohnen, gehört nach unserer Über-zeugung zu den existenziellen sozialen Rechten einesjeden Menschen unseres Landes.
Wohnen darf unter gar keinen Umständen zum Luxusgutoder zum Armutsrisiko unserer Bürgerinnen und Bürgerwerden.
Genau auf diesem schlechten Weg ist die Bundesregie-rung mit ihrer Politik aber.Das gilt zum Beispiel für Hamburg. Hier herrschtmassive Wohnungsnot. Derzeit fehlen über 40 000 Woh-nungen. Die Mieten sind in den letzten Jahren deswegenregelrecht explodiert und im Durchschnitt um 28 Prozentgestiegen. Damit meine ich nicht die Wohnungen in denLuxusvillenvierteln.
Tausende Menschen versuchen verzweifelt, irgendwonoch eine bezahlbare Wohnung zu finden.
Man fragt schon gar nicht mehr nach dem Zustand dieserWohnung, sondern man ist froh, wenn man überhaupteine bekommt.Viele Haushalte mit niedrigem Einkommen müssenschon jetzt mehr als die Hälfte ihres Monatsbudgets fürsWohnen aufbringen – und das zum Teil für unsaniertenWohnraum. Der krasseste Fall, der uns bekannt ist, isteine Steigerung der Miete nach energetischer Sanierungum 244 Prozent.
Dadurch zeigt sich doch, dass der Markt hier, wo es umGrundbedürfnisse eines jeden Menschen geht, absolutversagt, wenn man es ihm alleine überlässt.
In Hamburg sind 150 000 Haushalte auf staatlicheZuschüsse angewiesen, um die Miete noch irgendwiezahlen zu können. Weil diese Leute dank der verfehltenRegierungspolitik trotz Arbeit immer ärmer werden, hatinzwischen jede zweite Familie in Hamburg einen An-spruch auf eine Sozialwohnung und einen Wohnberech-tigungsschein. Dieser nützt ihnen aber nichts; denn siefinden mit diesem Wohnberechtigungsschein keineWohnung mehr in Hamburg.
Auch in München, Köln, Düsseldorf und andernortskönnten Sie Ähnliches beobachten, wenn Sie einmaldorthin gingen, wo der größte Teil der Menschen lebtoder wenigstens versucht, zu leben. Die Kehrseite ist:gähnender Leerstand in schrumpfenden Regionen undabgehängte Quartiere mit verfallender Infrastruktur undzerstörten sozialen Beziehungen.
Einige Kolleginnen und Kollegen in diesem Hausetrösten sich mit dem Durchschnitt und sagen immer wie-der tapfer: Die Wohnungsversorgung in Deutschland istgut. Klar, Sie hätten recht, wenn diese Wohnungsuchen-den in Hamburg, München, Köln oder Düsseldorf nachSchwerin, Eisenhüttenstadt, Bitterfeld oder Stendal zie-hen könnten oder wollten.Die Linke will eine Wohnungs- und Städtebaupolitik,mit der die tiefgreifenden ökologischen, demografischenund wirtschaftlichen Veränderungen, vor denen dieseGesellschaft steht, konzeptionell und allumfassend be-trachtet werden und auf die sich die Menschen in dieserund in den kommenden Generationen, die Länder undKommunen, die Hauseigentümer, die Bauwirtschaft unddie Mieterinnen und Mieter verlassen können,
weil sie eben nicht der jeweiligen Kassenlage, den kurz-fristigen Renditeerwartungen und irgendwelchen Klien-telinteressen, sondern nur dem Grundgesetz und damitallen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ver-pflichtet ist.
Wir wollen eine neue Objektförderung, die die Lastengerecht auf alle Schultern verteilt, die die Mieterinnenund Mieter, aber auch die Wohnungseigentümer nichtüberfordert, die langfristige Investitionsanreize für dieBauwirtschaft gibt und die die Länder und Kommunenentsprechend ihrer regionalen Erfordernisse mitbestim-men lässt.Wir wollen eine neue Subjektförderung, die es allenBürgerinnen und Bürgern ermöglicht, moderne, fami-liengerechte, altersgerechte und dem Bedarf entspre-chende barrierefreie Wohnungen zu bezahlbaren Mietenzu finden.
Wir werden diese ehrgeizigen Ziele nicht erreichen,wenn wir allein der jährlichen Kassenlage und den Haus-haltsvorgaben folgen und die Fördermittel zusammenstrei-chen, bis sie ins Haushaltskonzept passen, und wenn wirdie Bauwirtschaft sich ständig neu auf unberechenbareMarktbedingungen einstellen lassen, sodass sie zum Bei-spiel heute mit Konjunkturprogrammen rechnen kann,um sich schon morgen mit der Kürzung der Fördermittelauseinandersetzen zu müssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10137
Heidrun Bluhm
(C)
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Wohnen ist Daseinsvorsorge und damit vorrangigAufgabe des Staates, der Länder und der Kommunen.Deshalb gehört das Wohnen ins Grundgesetz.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Daniela
Wagner das Wort.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsiden-tin! Ein Merkmal der Wohnungspolitik ist, dass sie zwi-schen einer enormen Vielfalt an gesellschaftspolitischenund wirtschaftlichen Interessen, Herausforderungen undAnforderungen vermitteln und abwägen muss. DasSpektrum der Akteure umfasst international agierendeInvestmentfonds oder Aktiengesellschaften, private oderkommunale Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaf-ten oder Kleinstbesitzer, Amateurvermieter, Kleinstver-mieter und letztlich auch die Mieter.Dem Antrag der Fraktion Die Linke liegt eine weitge-hend richtige und zutreffende Analyse der aktuellenWohnungsmarktsituation in Deutschland zugrunde: ge-nug Wohnungen, aber leider falsch verteilt. Die zweizentralen Herausforderungen der Wohnungspolitik sindderzeit die energetische Gebäudesanierung und der al-tersgerechte Umbau: Allein 40 Prozent der deutschland-weit verbrauchten Endenergie wird im Gebäudebereichverbraucht. Bis 2013 brauchen wir nach Angaben derExpertenkommission „Wohnen im Alter“ 2,5 Millionenaltersgerechte Wohnungen zusätzlich.Diese Herausforderungen müssen so gemeistert wer-den, dass sie für Mieterinnen und Mieter sozialverträg-lich, aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümerwirtschaftlich tragbar sind.
Wir brauchen neben dem ordnungs- und mietrechtlichenRahmen auch entsprechende Anreize für die Kleineigen-tümer sowie für die Wohnungs- und Immobilienwirt-schaft.Ihre Ansätze zur Objektförderung sind nicht rundwegabzulehnen. So halte ich zum Beispiel Ihren Vorschlag,die Förderung des Mietwohnungsbaus von der grünenWiese verstärkt auf Innenstädte zu lenken und dort zukonzentrieren, durchaus für richtig. In einer schrumpfen-den Gesellschaft muss man nicht ständig weitere Flä-chen im Außenbereich bzw. an den Stadträndern versie-geln.
Die im Antrag vorgeschlagene Zusammenlegung derStädtebauförderungsprogramme klingt in Kombinationmit integrierten Stadtentwicklungskonzepten zwar inte-ressant, birgt aber auch hohe Risiken wegen fehlenderpolitischer Steuerungsmöglichkeiten. Zudem bedarf sieeiner eingehenden rechtlichen Überprüfung, meine Da-men und Herren von der Linken. Wichtiger wäre aus un-serer Sicht vor allem eine massive Stärkung der Städte-bauförderung.
Leider gehen Sie in Ihrem Antrag in keiner Weise aufdie Möglichkeiten der Objektförderung im Rahmen derstaatlichen Programme zur CO2-Gebäudesanierung undzum altersgerechten Umbau ein, obwohl gerade dieseProgramme erhebliche Potenziale der Objektförderungenthalten, wenn die Mittel dafür erhöht werden, statt siezu kürzen, wie es zuletzt in den Etatberatungen der Fallwar.Unter dem Punkt „Subjektförderung“ schlagen Sie inIhrem Antrag vor, das Recht auf eine menschenwürdigeWohnung und auf die Versorgung mit Wasser und Ener-gie gesetzlich zu garantieren. Wenn Sie das in die Ver-fassung aufnehmen möchten, dann müssen Sie das auchdeutlich formulieren. An der Stelle würde mir mehrKlarheit gefallen. Anzumerken ist auch, dass ein sol-chermaßen formuliertes Grundrecht maßlos Illusionenerzeugen und falsche Hoffnungen wecken kann.
Das würde ich gerade für diejenigen, die am Wohnungs-markt Schwierigkeiten haben, äußerst schade finden.
Denn der garantierte Wohnraum muss auch zur Verfü-gung stehen, und zwar dort, wo er gebraucht wird.Ihre Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnenbleibt unserer Meinung nach ohne konkrete Hinterle-gung materiell wirksamer Maßnahmen folgenlos. Siedient auch nicht der Auseinandersetzung mit den beste-henden Interessenkonflikten und ist ein Luftschloss nachdem Motto „Wir schreiben alles, was wünschenswert ist,in die Verfassung, und dann wird es gut“. So einfach istes leider nicht.
Ich glaube, dass das auch keine Antwort auf Gentrifi-zierungsprozesse und Segregation ist; es sind vielmehrAnreize für die Immobilienwirtschaft notwendig undmöglich. Denn gerade diese muss bei angespanntenWohnungsmärkten zunehmend in den Neubau und sozialverträgliche Mietwohnungen investieren. Zusätzlichmuss die Wohnungsbauförderung – aber das ist ja künf-tig vor allen Dingen Angelegenheit der Länder – so aus-gestaltet werden, dass sie von der Wohnungswirtschaftauch abgerufen wird. Derzeit passiert das nämlich kaum.So sieht unserer Meinung nach auch aktiver Mieter-schutz vor überhöhten Mietpreisen aus.Sie fordern außerdem, dass die Räumung von Wohn-raum unzulässig sei, wenn kein zumutbarer Ersatzwohn-raum zur Verfügung steht. Eine solche Regelung ist ausmeiner Sicht nicht vertretbar;
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10138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Daniela Wagner
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denn sie würde die Hauseigentümer zu sehr in ihrenRechten einschränken.
Man muss sich von Mietparteien auch trennen können,wenn sie wirtschaftlich schädigen. Anders geht es nicht.
Wer kein Geld verdient, wird nicht investieren, wirdnicht mal instand halten.Unser Mieterschutz ist im internationalen Vergleichdurchaus hervorragend aufgestellt. Wir haben mithin diebesten Mieterschutzrechte im europäischen Raum. Daswerden Sie auch feststellen, wenn Sie sich mal im euro-päischen Ausland umschauen.Zum Schutz vor Obdachlosigkeit besteht übrigensschon jetzt das Wiedereinweisungsrecht durch die Kom-munen.
Sie können bei drohender Obdachlosigkeit wieder in dieWohnung einweisen und müssen für die Kosten aufkom-men.
Deswegen sage ich, es würde schon ausreichen, wenn ander Stelle die Kommunen die präventiven Instrumentewie zum Beispiel die Wohnungssicherungsstellen aus-bauen könnten.Ihre Forderung zur Neuausgestaltung des Wohngeldesist meiner Meinung nach vor allen Dingen eine Vermie-tersubvention. Die hätten keinerlei Veranlassung mehr,preiswerten Wohnraum zu bauen, preisbewusst zu ver-mieten bzw. preiswerten Wohnraum zur Verfügung zustellen,
weil der Staat ja letztlich für jedwede Miethöhe einsteht.Wir Grünen wollen eine passgenaue und zielgerichteteSubjektförderung, wir wollen einen dynamischen An-passungsmechanismus im Wohngeldrecht, und wir wol-len vor allen Dingen auch die Einkommensgrenzen inden Blick nehmen. Schließlich wollen wir auch dieHeizkostenkomponente, die Sie jetzt leider wieder abge-schafft haben,
zu einem Klimawohngeld weiterentwickeln, damit künf-tig das Bewohnen, das Anmieten einer energetisch her-vorragend sanierten Wohnung aus Steuermitteln mit be-zahlt oder zumindest subventioniert und unterstützt wirdund nicht das Heizen zum Fenster hinaus.
Das fände ich wichtiger, und das würde auch weiter denAnreiz erhöhen, energetisch zu sanieren und die Häuserin einen erstklassigen Zustand zu bringen, was mehr alsüberfällig ist.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir sindder Auffassung, man kann sich bei dem Antrag der Lin-ken auf jeden Fall enthalten.
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Ludwig das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Frau Wagner, Sie haben mir in ganzvielen Punkten sehr aus der Seele gesprochen. Dasmöchte ich an der Stelle sagen. Wenn Sie jetzt Ihre Rededamit abgeschlossen hätten, dass Sie gesagt hätten, wirkönnen dem Antrag nicht zustimmen, wäre ich wesent-lich zufriedener gewesen. Denn ich glaube, das hätte ih-rem Inhalt deutlich mehr entsprochen.
– Nein, das spricht nicht für den Antrag. Da würde ichmir mal keine falschen Hoffnungen machen.
Ich glaube, es gibt ein paar wichtige Punkte, in denenwir uns durchaus einig sind und die wir auch gern auf-greifen möchten. Wir haben zum einen über die energeti-sche Gebäudesanierung im Bestand gesprochen. Da istwirklich noch richtig Musik drin, wenn ich das an dieserStelle mal sagen darf. Ich bin ganz der Auffassung vielerKollegen, die hier schon gesprochen haben: Wir müssenhier von staatlicher Seite, auch wenn wir sonst nicht dieganz großen Fans von Subventionspolitik sind, Anreizefür die Eigentümer schaffen, denn wir bekennen uns andieser Stelle zunächst ganz klar zu einem privat domi-nierten Wohnungsmarkt. Ich finde es ausgesprochenwichtig, dass wir private Eigentümer haben, die vermie-ten. Ich kann hier überhaupt keinen Nachteil erkennen;denn auch ein privater Vermieter muss sich am Marktbehaupten, muss sehen, was er anbieten und vermietenkann. Hier müssen wir eine Sensibilisierung herbeifüh-ren, und zwar auf der Vermieterseite und auf der Mieter-seite. Der Vermieter muss sehen, dass es sich lohnt, ener-getisch zu sanieren. Der Mieter muss merken – FrauKollegin, Sie haben es völlig richtig ausgeführt –, dasses sich lohnt, eine Niedrigenergiewohnung – so nenneich es mal – anzumieten, weil er dadurch letztlich Mietespart. Hier tritt neben den wirtschaftlichen Aspekt derökologische, weil die Umwelt geschützt wird. Das ist einstaatliches Steuerungsargument, über das wir noch vielintensiver nachdenken müssen; denn es lohnt sich. Wirtun etwas für die Wirtschaft, wir tun etwas für die klei-nen und mittelständischen Bauunternehmen, die davonprofitieren. Wir tun etwas für die Umwelt und für dieMieter. Eine bessere Kombination gibt es an dieserStelle fast nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10139
Daniela Ludwig
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Weiterhin ist mir etwas anderes sehr wichtig. Angebotund Nachfrage spielen auf dem Wohnungsmarkt natür-lich eine ganz große Rolle. Ich kann die Menschen nichtzwingen, in verödende Gebiete zu ziehen, bloß weil dortdie Wohnungen leer stehen, sondern ich muss mich nachden Bevölkerungsströmen richten, ob es mir passt odernicht. Außerdem muss ich mich nach den gesellschaftli-chen Entwicklungen richten. Heute haben wir schon vielüber das Programm „Altersgerecht Umbauen“ gehört.Ich möchte nicht nur vom altersgerechten Umbauen,sondern auch vom behindertengerechten Umbauen spre-chen.
Wir alle führen zunehmend die Diskussion über Integra-tion und Inklusion behinderter Menschen in der Schule,im Kindergarten oder am Arbeitsplatz. Diese Diskussionumfasst auch die Inklusion behinderter Menschen amMietmarkt. Wenn wir wollen, dass diese Menschen mög-lichst zügig in die Mitte unserer Gesellschaft rücken unddaran so weit wie möglich teilnehmen, müssen wir ihnenauch ermöglichen, entsprechende Wohnungen zu be-wohnen und sich dort so selbstständig wie möglich zubewegen.
– Es ist doch okay, beruhigen Sie sich. – Deswegen müs-sen wir nicht nur altersgerecht, sondern auch behinder-tengerecht umbauen. Eine kleine Anmerkung am Rande:Wenn ein Rollstuhl durch die geöffnete Tür passt, ist dasschön. Wenn ein Kinderwagen hindurchpasst, ist dasauch sehr schön. Das heißt: Auch familiengerechte Woh-nungen sind für die Zukunft wichtig.
Wir sind auf einem ausgesprochen guten Weg. Völligrichtig ist, dass der Bund nicht der Alleinhandelnde ist,ebenso wenig wie der Vermieter der Alleinhandelndesein soll. Klar ist auch, dass wir sehr viel Verantwortungan die Länder abgegeben haben. Ebenso klar ist, dass dieKommunen darauf werden reagieren müssen.Trotz Sparzwangs möchte ich das neue Städtebauför-derprogramm des Bundesverkehrsministeriums „Klei-nere Städte und Gemeinden – überörtliche Zusammenar-beit und Netzwerke“ erwähnen. Das halte ich fürausgesprochen wichtig. Warum? Viele kleine Kommu-nen sind solitär, für sich genommen, nicht in der Lage,eine Vielzahl an infrastrukturellen Herausforderungenallein zu stemmen. Sie müssen in die Lage versetzt wer-den, solche Herausforderungen gemeinsam mit Dörfernund kleinen Gemeinden in der unmittelbaren Nachbar-schaft zu bewältigen und entsprechende Angebote ge-meinsam zu unterbreiten. Das schafft Synergieeffekte invielerlei Hinsicht. Wenn das Städtebauförderprogramm,das Minister Ramsauer neu auflegt, in dieser Legislatur-periode genau diese Synergieeffekte zeitigt, können wirausgesprochen zufrieden sein.Zum Mietrecht: Es ist schon gesagt worden, dass wirsicherlich eines der sozialsten Mietrechte der Welt ha-ben. Seien Sie versichert, dass wir nicht vorhaben, daranetwas zu ändern. Wir haben aber vor, Missstände zu be-seitigen. Einer der Missstände ist das Mietnomadentum.Man kann sich über die Quantität nunmehr trefflichstreiten, aber die Qualität ist doch unbestritten. WennWohnungen bewusst unter dem betrügerischen Vorsatzangemietet werden, den Mietzins nicht zu entrichten, dieWohnungen entweder zu vermüllen oder komplett zuzerstören und sie dann zu verlassen, dann kann man na-türlich sagen, das seien bedauernswerte Einzelfälle.Aber was sagen Sie dem Vermieter, dessen Altersvor-sorge vermüllt wurde? Ist das dann auch nur ein bedau-ernswerter Einzelfall? Ist es nicht vielmehr so, dass wirim Mietrecht da, wo wir die Möglichkeit haben, ohneüberzuregulieren vernünftige Lösungen genau für diesenbetroffenen Personenkreis schaffen müssen?
Das trifft dann sicherlich nicht die Falschen. Deswegengilt: Der Schutz des Mieters ist selbstverständlich. Da-rüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Diese Fragesteht für uns nicht zur Debatte. Ebenso wichtig ist einausreichender Schutz des Vermieters. Beides gehörtzwingend zusammen. Sonst bringe ich die Menschennicht mehr dazu, in Wohnungen oder Häuser zu investie-ren und diese zu vermieten. Stattdessen zwinge ich siedazu, zu sagen: Ich baue nur noch für den Eigenbedarf,und der Rest ist mir völlig egal. Das wollen wir allenicht.Der Großteil der Vermieter – entgegen der unter-schwelligen Darstellung im Antrag der Linken – ist an-ständig und hat anderes im Sinn, als nur die Mieter abzu-zocken oder zu vertreiben. Die Vermieter wollen schlichtund ergreifend die ihnen zustehende Miete erhalten.Dann sind sie auch bereit, zu investieren und freuen sichüber zuverlässige Mieter. Das ist der Normalfall in die-ser Republik. Wir brauchen uns über gar nichts andereszu unterhalten.Abschließend möchte ich sagen: Lieber KollegeBartol, ich freue mich sehr auf unser morgiges Fachge-spräch. Ich finde das ausgesprochen gut. Wir haben unsbisher gerne an den Gesprächen beteiligt und werden unsauch morgen gerne an dem Gespräch beteiligen; denndas Thema Wohnungslosigkeit ist immer mit menschli-cher Tragik verbunden. Oft gibt es nicht nur finanzielle,sondern auch tiefergehende soziale Hintergründe. Denenwollen wir uns annähern. Ich denke, das ist ein wichtigesAnsinnen. Deswegen sind wir morgen gern dabei. Ichbin gespannt, zu welchem Ergebnis wir kommen wer-den.Vielen herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Groß das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
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10140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Michael Groß
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Ludwig, ich bin froh, dass Sie doch einige Kritikpunktegefunden haben. Sie haben angesprochen, dass wir nochviel im Bereich Klimaschutz und Gebäudesanierung zutun haben. Sie haben von Inklusion, von barrierefreiemZugang zu Wohnungen und altersgerechtem Wohnen ge-sprochen. Bei der Rede Ihres Kollegen Storjohann habeich gedacht, wir lebten in einer Welt der Idylle. Er sprachdavon, dass der Wohnungsmarkt vorbildlich ist, wir unskeine Sorgen mehr zu machen brauchen und uns zurück-lehnen können.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke – dashat Herr Bartol schon deutlich gemacht – stellt die richti-gen Fragen. Auch die Analyse ist zum großen Teil rich-tig. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass zum Teil diefalschen Schlüsse gezogen und die falschen Antwortengegeben werden. In dem Antrag wurde auch darauf hin-gewiesen, dass eine bloße Zusammenlegung der Förder-programme nicht weiterführend ist. Ein Teil der Pro-gramme ist sehr effektiv gewesen. Allerdings müssenwir dafür sorgen, dass die Programme evaluiert undletztendlich mit den Ländern und Gemeinden weiterent-wickelt werden, damit sie zielgenau die Wirkungen ent-falten, die wir beabsichtigen.Lassen Sie mich ergänzend auf vier Punkte und damitauch kurz auf meine Vorredner eingehen. Besonders inden Ballungsgebieten steigen die Mieten – das ist nichtabzustreiten – und die Preise für Wohneigentum. ImDurchschnitt bleiben die Ausgaben für das Wohnen dergrößte Einzelposten der Konsumausgaben, insbeson-dere auch durch die wachsenden Nebenkosten für Strom,Heizung und Warmwasser. Prognostisch werden dieseKosten weiter steigen. Zum Vergleich: 1991 betrugendie Ausgaben noch circa 19 Prozent des Familienein-kommens. Ende des letzten Jahrzehnts waren es schonweit über 25 Prozent. Wir haben viel über die Wohn-geldreform gehört, wir haben aber auch heute schon ge-hört, dass die Heizkostenpauschale von der jetzigenBundesregierung zum 1. Januar 2011 wieder einkassiertwurde. Das geht natürlich zulasten der niedrigsten Ein-kommen. Das wird sicherlich dazu führen, dass die Men-schen wiederum mehr auf ihren Geldbeutel achten müs-sen.War die Reform des Wohngeldes 2009 auch eine guteNachricht, so ist damit doch verbunden, dass immermehr Menschen dieses Wohngeld in Anspruch nehmenmussten, weil ihre Realeinkommen abgenommen haben,und zwar in den letzten zehn Jahren um 4 Prozent. Manspricht davon, dass es ein verlorenes Jahrzehnt für Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer war. In Deutschlandarbeiten zudem zu viele Menschen für wenig Geld.2 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohnvon unter 6 Euro. Darauf gibt es eine richtige Antwort:Wir müssen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohneinführen.
Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage vom Januar2011 wollen zwei Drittel der über 70-Jährigen im eige-nen Wohnraum verbleiben. Dazu müssen wir die Voraus-setzungen schaffen. Barrierefreiheit war das Stichwort.Wir müssen dafür sorgen, dass sie Netzwerke haben undsich darauf verlassen können, in ihren eigenen vier Wän-den verbleiben zu können. Nach Schätzungen werdenbis 2025 über 2 Millionen senioren- und altersgerechteWohnungen gebraucht. Der jetzige Bestand liegt nachSchätzungen bei 400 000 bis 500 000 Wohnungen. NachAngaben der Befragten können Umbaumaßnahmen undServiceleistungen durchschnittlich nur – ich betone: nur –im Umfang von monatlich 280 Euro mitgetragen wer-den. Ich halte das schon für sehr viel. Also, es gibt vielzu tun, um die Menschen zu begleiten und diesen Pro-zess sozialverträglich zu gestalten.
Entsprechende KfW-Programme wie „AltersgerechtUmbauen“ müssen also unbedingt finanziell ausgebautund fortgeführt werden.Wir müssen beim Thema Klima und Energie handeln.Zügiges und planvolles Handeln ist angezeigt, um dieKlimaschutzziele zu erreichen und insbesondere die Ver-braucher vor zu hohen Energiepreisen zu schützen.Beim Gebäudebestand besteht ein hohes Einspar-potenzial. Die Sanierungsrate und die Modernisierungs-quote sind mit circa 1 Prozent pro Jahr viel zu niedrig.Nach Schätzungen von Experten benötigen wir 5 Mil-liarden Euro pro Jahr, um die Zielsetzung zu erreichen.Eigentümer und Vermieter müssen also insoweit moti-viert werden, und wir müssen die hohen Sanierungskos-ten sozial abfedern. Haushaltskürzungen, wie von derBundesregierung im Bereich der energetischen Gebäu-desanierung und des Städtebauförderprogramms vorge-nommen, sind kontraproduktiv und nicht zielführend.Der Antrag der Linken sieht vor, die Kommunenfinanziell zu beteiligen. Ich befürchte, dass sie mit ihrerForderung den Kommunen einen Bärendienst erweisenwerden. Den Kommunen fehlt heute schon viel Geld,und tatsächlich brauchen sie mehr Geld, um den Anfor-derungen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zuwerden. Wir brauchen Lebensqualität in den Städten. Ichglaube nicht, dass dies durch eine weitere finanzielle Be-lastung der Kommunen, die letztlich nicht durch denBund abgefedert wird, zu erreichen ist. Für uns Sozial-demokraten ist eine Abstimmung in und mit den Kom-munen und Ländern und mit den Menschen vor OrtDreh- und Angelpunkt des Erfolgs.
Wir müssen Beteiligungsmodelle entwickeln und so-wohl die Hauseigentümer als auch die Bewohnerinnenund Bewohner, die Gewerbetreibenden vor Ort und dieInitiativen und Vereine mitnehmen. Städtebauliche In-vestitionen können durch die Einbeziehung aller Akteuredie gelebte Demokratie voranbringen. Eine bloße Forde-rung nach mehr Rekommunalisierung reicht nicht aus.Die Kommunen brauchen mehr Geld, um die Entwick-lung ihrer Städte, die Lebensqualität und gleichwertigeLebensverhältnisse zu sichern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10141
Michael Groß
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Vielen Dank und Glück auf!
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Götz das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem An-
trag, den wir heute diskutieren, wollen sich die Linken
im Deutschen Bundestag das Mäntelchen der Beschützer
der Mieter umhängen.
Es ist schon eine Frechheit. Der rot-rote Berliner Senat
versuchte, locker über 38 000 kommunale Wohnungen,
davon allein 20 000 in der Stadt Berlin, an einen arabi-
schen Fonds zu verkaufen, und hier fordert die Linke,
die Veräußerung kommunaler Wohnungsbestände zu
verbieten.
Auch wenn der Milliardendeal in Berlin vorgestern ge-
scheitert ist, macht dies die Widersprüchlichkeit zwi-
schen dem Reden hier und dem Handeln dort, wo Ver-
antwortung besteht, sehr deutlich.
Im Bundestag sozialistische Lehre in Reinkultur einzu-
fordern und vor Ort mit dem Kapital zu verhandeln, das
ist mehr als scheinheilig.
Man kann ja darüber diskutieren, ob eine Stadt wie
Berlin so große Wohnungsbestände im Eigentum vorhal-
ten muss. Diese Frage ist durchaus berechtigt, und diese
will ich auch nicht kritisieren. Aber dann darf man hier
nicht solche Anträge stellen.
Wir sehen für die Einführung eines speziellen Grund-
rechts auf Wohnen auf der Bundesebene weder einen
Bedarf noch halten wir ein solches Recht für geeignet,
die Lebenssituation der von Obdach- bzw. Wohnungslo-
sigkeit betroffenen Menschen zu verbessern.
Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich?
Ja, warum nicht? Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege Götz, Sie haben auf die
Politik hier im Land Berlin Bezug genommen. Sie haben
recht, dass nach der Klage von CDU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP gegen den rot-roten Landeshaushalt in
der Wahlperiode 2002 eine große Wohnungsbaugesell-
schaft verkauft werden musste.
Das ist eine Entscheidung, die wir aus heutiger Sicht
falsch finden.
Aber ich will noch etwas zur gegenwärtigen Politik
sagen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
es genau zwei Parteien gibt, die sich dafür einsetzen,
dass der gesamte kommunale Wohnungsbestand in öf-
fentlicher Hand verbleibt, und dass es genau drei Par-
teien gibt, die genau diese Position infrage stellen, näm-
lich CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Ist Ihnen
das bekannt, und sind Sie bereit, dies in Ihre Argumenta-
tion mit einfließen zu lassen?
Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem da-mit, darüber zu diskutieren, dass kommunale Wohnungs-bestände verkauft werden. Das ist nicht mein Problem.Mein Problem ist – hier verhalten Sie sich widersprüch-lich –, dass Sie in Berlin, wo Sie im Senat Regierungs-verantwortung tragen, die Wohnungsbestände verkau-fen, aber hier den Eindruck erwecken wollen, als seienSie die Retter der Mieter. Sie fordern die Aufnahme desRechts auf Wohnung ins Grundgesetz, und gleichzeitigfordern Sie ein Verbot des Verkaufs von kommunalenWohnungsbeständen. Auf diese Widersprüchlichkeitwollte ich aufmerksam machen.
Wir haben in Deutschland durch die Garantie derMenschenwürde in Art. 1 unseres Grundgesetzes unddurch das in Art. 20 verankerte Sozialstaatsprinzip dieVerpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungenfür ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zuschaffen. Dazu gehört auch eine Unterkunft. Deshalbgibt es seit Jahrzehnten den sozialen Wohnungsbau, dieAbsicherung der Mietkosten durch Wohngeld und diesoziale Wohnraumförderung der Länder. In der heutigenDebatte haben wir einiges darüber gehört. Das sind In-strumente, die sich bewährt haben. Hinzu kommt auchdie Unterbringung Obdachloser aufgrund der polizei-und ordnungsrechtlichen Vorschriften auf kommunalerEbene.In Deutschland gibt es für jeden Wohnungssuchendeneine Bleibe. Einen anderen Eindruck zu erwecken, istpopulistisch und unredlich. Vielleicht findet nicht jederseine Traumwohnung, das mag wohl sein, aber niemandin Deutschland muss auf der Straße übernachten.
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10142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Peter Götz
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Nach meiner festen Überzeugung sind Maßnahmen, dieunmittelbar auf die Lebenssituation der von Obdach-bzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Personen Einflussnehmen, wesentlich sinnvoller als symbolische Verfas-sungsänderungen. Insofern sind wir auf die Empfehlun-gen der Altkommunisten mit dem Erfahrungshorizontder DDR nicht zwingend angewiesen.
Insgesamt hat die Wohnungsversorgung in Deutsch-land seit Mitte der 90er-Jahre einen Stand erreicht, beidem breite Schichten der Bevölkerung gut bis sehr gutmit Wohnraum versorgt sind. Dies gilt insbesondere füreinkommensschwache Haushalte. Deshalb haben wir,wie ich finde, zu Recht, im Jahr 2006 im Rahmen derFöderalismusreform die Zuständigkeit für die sozialeWohnraumförderung auf die Länder übertragen. Dafürgeben wir ihnen jährlich zweckgebunden mehr als500 Millionen Euro, sodass regional differenziert, ge-zielt und bedarfsgerecht gefördert werden kann. Das istbesser als Zentralismus aus Berlin. Die geforderte Be-schränkung dieser Wohnungsbauförderung auf den öf-fentlichen Mietwohnungsbau ist eine klassische Ideolo-gienummer der Linken. Für uns sind auch die privatenVermieter zur Sicherung des Wohnens von großer Be-deutung.Besonders wichtig sind uns aber auch diejenigen, diesich den Wunsch nach den eigenen vier Wänden erfüllenwollen. Deshalb ist Wohneigentum eine der besten Mög-lichkeiten der Altersvorsorge. Wohneigentum schütztwesentlich vor Altersarmut. Die Stärkung des Wohn-eigentums sollte daher unser gemeinsames Ziel sein.Wir haben in unserem Land ein sehr ausgeprägtes unddifferenziertes System der sozialen Sicherung, gerade inder Wohnraumversorgung. So zählt nach dem Sozialge-setzbuch II die Übernahme der gesamten Kosten – ichbetone: der gesamten – für Unterkunft und Heizung zuden Leistungen für Hartz-IV-Empfänger. Das wird beider aktuellen Debatte über die Höhe der Regelsätze fürdiesen Personenkreis, die wir in diesen Tagen führen,gerne übersehen. Auch Erstausstattungen für die Woh-nung, einschließlich Haushaltsgeräte, Wohnbeschaf-fungs- und Umzugskosten oder Mietkautionen, gehörenzu dem Leistungskatalog für Hartz-IV-Empfänger. ZurErinnerung: Der Bund beteiligte sich im vergangenenJahr mit 3,4 Milliarden Euro an den Kosten der Unter-kunft. Die Kommunen sind mit mehr als 10 MilliardenEuro dabei. Dieses Geld bringen die Menschen auf, dietäglich zur Arbeit gehen und ihre Steuern zahlen.Natürlich gibt es bei der Wohnungspolitik noch Hand-lungsbedarf. Das ist unstrittig. Das Bessere war schonimmer der Feind des Guten. So ist vor dem Hintergrundder demografischen Entwicklung und einer zunehmendälter werdenden Gesellschaft dem Aspekt der Barriere-freiheit ein größerer Stellenwert einzuräumen. Auch dieenergetische Sanierung der Wohngebäude, von der vor-hin gesprochen wurde, ist eine Herausforderung, die unsnoch viele Jahre begleiten wird.Bei der Städtebauförderung ist es in einer großenKraftanstrengung gelungen, die Haushaltsansätze, dieerheblich heruntergefahren waren, wieder zu erhöhen.Wir sollten jedoch nicht, wie im vorliegenden Antrag ge-wollt, Einzelprogramme der Städtebauförderung ab-schaffen, sondern wir sollten die inhaltliche programma-tische Schwerpunktsetzung neu definieren und dieProgramme optimieren und effizienter gestalten.Für alle in Ihrem Antrag aufgeworfenen Themen sindin Deutschland in vielen Jahren gute Instrumente – obnun Förderprogramme oder gesetzliche Regelungen –entwickelt worden, die sich dem Grunde nach bewährthaben. Diese können und sollten wir gemäß den verän-derten Rahmenbedingungen – die Themen „Klimaschutz“,„Barrierefreiheit“, „behindertengerechtes Wohnumfeld“und viele andere mehr sind angesprochen worden – ge-meinsam maßvoll weiterentwickeln.Der kommunistische Rundumschlag, den Sie hiervorhaben,
würde viel Gutes zerstören. Wir lehnen in Verantwor-tung für die Bürgerinnen und Bürger diesen Antrag ab.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu demAntrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Grund-recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-stalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/4659, den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/3433 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b sowie denZusatzpunkt 5 auf:7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPBelarus – Repressionen beenden, Menschen-rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-schaft stärken– Drucksache 17/4685 –b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDBelarus – Repressionen beenden, Menschen-rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-schaft stärken– Drucksache 17/4667 –ZP 5 Beratung des Antrags der AbgeordnetenMarieluise Beck , Volker Beck (Köln),Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10143
Vizepräsidentin Petra Pau
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neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENBelarus – Repressionen beenden, Menschen-rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-schaft stärken– Drucksache 17/4686 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-mit einverstanden? – Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am19. Dezember 2010, also am Abend der Präsident-schaftswahl in Belarus, hat das Regime von AlexanderLukaschenko sein wahres Gesicht gezeigt. Obwohl die-ser im Vorfeld die Legitimität der Wahl als wichtig be-zeichnet hatte, sah die Realität am Wahlabend ganz an-ders aus. Politische Reformen – das wissen wir heute –waren dort nie geplant. Lukaschenko brauchte die EUund brauchte Russland, um die größtmöglichen Vorteilefür sein marodes Wirtschaftssystem zu erreichen.Wir hatten aufgrund der langsamen Annäherung vonBelarus an die EU die berechtigte Hoffnung auf eineÖffnung des Landes, die berechtigte Hoffnung auf eineDemokratisierung. Doch die Realität hat mit erschre-ckender Härte gezeigt: Ein demokratisches Belarus wirdes nur ohne Alexander Lukaschenko geben können.Noch am Wahlabend setzte er auf die Sprache der Ge-walt. Über 600 Personen wurden seitdem inhaftiert.Menschenrechtsorganisationen und Medien müssenAngst haben vor der Gewalt des Staates. ElementareMenschenrechte werden vom Staat und von Sicherheits-organen mit Füßen getreten.Doch auf Lukaschenkos Tricks lassen wir uns nichtmehr ein; in diesem Punkt sind sich alle Demokraten indiesem Hause einig. Wir erkennen im Deutschen Bun-destag die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nichtan.
Sie waren nicht frei. Sie waren nicht fair. Sie waren ma-nipuliert und hatten mit demokratischen Wahlen nichtszu tun.Wir fordern daher die Regierung Lukaschenko auf,sofort alle politischen Gefangenen freizulassen. Wir for-dern die Regierung in Belarus auf, sofort alle Repressio-nen gegen die Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungs-organisationen und gegen unabhängige Medien zubeenden.
Die völlige Missachtung europäischer Werte und Re-geln, die völlige Missachtung elementarer Menschen-rechte durch die Regierung Lukaschenko können undwerden wir nicht hinnehmen. Deshalb haben wir eineganze Reihe konkreter Maßnahmen entwickelt, mit de-nen wir die Bundesregierung unterstützen wollen, diesich bisher schon vorbildlich eingesetzt hat. Dabei ste-hen die Freilassung politischer Gefangener und die Hilfefür die Opfer von Repression und Gewalt im Vorder-grund.Wir brauchen weitere Programme zur Unterstützungvon Studierenden und Jugendlichen, deren Wertesystemsich nicht am Diktator orientiert, sondern an Demokra-tie, an Freiheit und an Europa. Das müssen wir verstärktfördern.
Wir begrüßen das Engagement des Europarates zurStärkung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit undDemokratisierung. Das muss weiter so vorbildlich fort-geführt werden. Wir begrüßen auch die Entscheidungdes Rates für Auswärtige Angelegenheiten, Reisebe-schränkungen und Sanktionen zu veranlassen für Präsi-dent Lukaschenko und diejenigen, die für Gewaltaktio-nen, für politische Repressionen und für die Fälschungder Wahlergebnisse verantwortlich sind.Die EU muss weiter den Menschen in Belarus denRücken stärken. Dazu gehört natürlich, weiterhin eineeuropäische Perspektive für Belarus offenzuhalten. Dazugehört aber zunächst auch, dass die EU an den Sanktio-nen gegen die Führung des Regimes festhält, und zwarso lange, bis diese den Weg für einen demokratischenWandel freigibt. Dazu gehört jetzt auch, dass die EU anRussland herantritt, um es zu gemeinsamen Handlungengegenüber dem Regime in Belarus zu bewegen. Russ-land erhebt den Anspruch, mit der EU dieselben Ideenund Wertvorstellungen über Europas Identität und Zu-kunft zu teilen. Es sollte jetzt nicht wieder seine schüt-zende Hand über den belarussischen Präsidenten halten.
Als Mitglied in der Parlamentarischen Versammlungder OSZE ist mir wichtig, auch dort das Thema weiter zubegleiten. Das OSZE-Büro in Minsk und der Medienbe-auftragte müssen ebenso ungehindert wieder arbeitenkönnen wie das Büro für Demokratische Institutionenund Menschenrechte. Die OSZE sollte eine unabhängigeinternationale Kommission einsetzen, um die Vorgängevom 19. und 20. Dezember 2010 untersuchen zu lassen.Dabei ist es auch wichtig, ein genaues Bild über die Si-tuation der Menschenrechte zu bekommen.Am Abend des 19. Dezember wurde in Belarus einesklar: Die Autorität Lukaschenkos bröckelt. Er wird sieauch nicht durch Schlagstöcke und durch Repressionenwiedererlangen können. Wir sagen deutlich: Wir stehenauf der Seite der Demokratie. Wir stehen auf der Seiteder Zivilbevölkerung, die den demokratischen Wandelwill. Und: Wir müssen hart bleiben, bis dieser Weg ein-geschlagen wird.
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10144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dr. Bijan Djir-Sarai
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Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für IhreAufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dereine oder andere, der gut aufgepasst hat, denkt vielleicht,wir alle sind ein bisschen meschugge, da wir drei fastgleichlautende Anträge vorgelegt haben. Ich sage aber:Das bedeutet, dass wir uns fast einig sind. Vielleichtschaffen wir es auch noch, uns ganz zu einigen. Ansons-ten müssen wir vielleicht einen anderen Weg beschrei-ten.Der Antrag der Grünen unterscheidet sich von denbeiden anderen Anträgen, von dem der SPD und vondem der Koalition, durch einen Vorschlag, der in Bezugauf die Erteilung von Schengen-Visa in näherer Zukunftetwas vorprescht.
– Ja, ich habe das ja auch begriffen. – Ich glaube nur, wirmüssen jetzt handeln, und zwar, ehe der ganze Prozessbezüglich Rückführungsabkommen etc. zum Abschlussgebracht worden ist. Wir wissen nämlich noch nicht ein-mal, ob Herr Lukaschenko dabei mitmachen würde. In-sofern sollte man loben, was die BundesrepublikDeutschland am Dienstag gemacht hat, indem eine Visa-Regelung eingeführt wurde, die wir in diesem HohenHause im Übrigen schon einmal beschlossen hatten.
Diese erleichtert in der Tat einer ganzen Reihe von Men-schen das Leben, indem der Zugang zu Visa vereinfachtwird und dafür nicht mehr so viel oder sogar gar nichtsbezahlt werden muss. Ich denke, hier sind wir uns einig.Es gibt einen zweiten Punkt, von dem wir erst heutebeim Treffen der OSZE-Parlamentariergruppe Kenntniserlangt haben. Es geht um Punkt 10, der ja auch auf eineDiskussion, die wir hier schon geführt haben, zurück-geht. Mein Vorschlag, den Moskauer Mechanismus an-zuwenden, ist von unserem Auswärtigen Amt aufge-nommen worden; es hat uns aber zugleich daraufaufmerksam gemacht, dass wir ein bisschen zu kurzspringen. Denn wir haben ja nicht gesagt, dass dieGruppe, die aufgrund dieses Mechanismus eingesetztwird, eigentlich mehr tun soll, als nur die Geschehnisseam 19. und 20. Dezember aufzuklären. Darüber hinaussollte sie sich nämlich auch ein Bild von der Lage derMenschenrechte und der Grundfreiheiten in Belarus ma-chen können. Sie müsste auch Gefangene besuchen undProzesse beobachten können.
Deshalb bin ich dafür, dass wir uns überlegen, ob wirnicht in einem Schnellverfahren in der nächsten Sitzungdes Auswärtigen Ausschusses die Punkte 3 und 10 über-arbeiten, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kom-men; denn sonst wäre das Resultat Stückwerk. Dannmüsste nämlich jeder seinem eigenen Antrag zustimmenoder sich enthalten. In einem Nachklapp müssten wirdann versuchen, einen Antrag zu diesem Moskau-Me-chanismus zustande zu bekommen. Aber auch das würdesehr kurzfristig sein. Ich stelle anheim, ob wir im Laufedieser Debatte vielleicht eine gemeinsame Linie findenkönnen, entweder durch Überweisung oder mit einemAbstimmungsverfahren, das vielleicht merkwürdig aus-sieht.Wir alle wollen prinzipiell das Gleiche. Wir wollen,dass die Situation in Belarus, wie sie jetzt besteht, auf-hört. Ich finde ganz erstaunlich, was ich heute inBelaPAN gefunden habe, nämlich dass Herr Lawrow,der Außenminister Russlands, gegenüber der belarussi-schen Regierung zum Ausdruck gebracht hat, dass das,was geschehen sei, absolut unnötig und unakzeptabelsei. Alle inhaftierten Journalisten, die Kandidaten unddie Human Rights Defenders sollten entlassen und dieAnklagen sollten fallen gelassen werden. Er hat das mitgroßem Nachdruck gesagt.Ich muss bezüglich einer Diskussion vom letzten MalAbbitte tun. Hier geht es um den Punkt, wie weit manMoskau einbezieht. Herr Mißfelder hat das damals mit gro-ßem Nachdruck gesagt. Ich habe allerdings ein bisschendavor gewarnt, weil mein Eindruck war, dass Moskaunicht unbedingt wild darauf ist, Lukaschenko zu einemdemokratischen Europäer zu erziehen. Aber vielleichtkann man das, was Lawrow jetzt in dieser Stellungnahmegesagt hat, tatsächlich als einen Ansatzpunkt nehmen, ummit Russland zusammen etwas zu bewirken.Wir wollen auch eine Unterstützung für die zivile Ge-sellschaft und für die Opposition. Gerade hat es eine Ge-berkonferenz gegeben, auf der viele eine ganze MengeGeld zur Verfügung gestellt haben. Ich denke, es ist ganzwichtig, dass wir Wege finden, um sowohl die Opposi-tion, die zwar leider zersplittert, aber dennoch demokra-tisch orientiert ist, als auch Menschenrechtler und Rechts-anwälte zu unterstützen, die im Moment sogar davonabgehalten werden, die Präsidentschaftsprätendenten,also die Herausforderer von Lukaschenko, zu verteidigen.Darüber hinaus müssen wir aber auch Gewerkschafter,Journalisten und Studenten unterstützen.Mittlerweile sind 42 Menschen dafür angeklagt, dasssie Aufstände angefacht hätten. Ihnen droht bis zu15 Jahre Gefängnis. Insofern ist es sehr wichtig, dass wirauch für sie sehr stark eintreten.Soweit meine Kenntnisse reichen, sind zwei der Kan-didaten, nämlich Statkevich und Lebedko, wobei ichbeim Letztgenannten nicht so ganz sicher bin, noch im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10145
Uta Zapf
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Hungerstreik. Das muss man sich einmal vorstellen. Daswird langsam dramatisch, liebe Kolleginnen und Kolle-gen. Zwar sind zwei der Angeklagten in den Hausarrestentlassen worden. Aber wenn man sich einmal anguckt,was für eine Art von Hausarrest das ist, dann kann einemdas Grausen kommen. Da sitzen zwei Geheimdienstler,KGB-Leute, mit in der Wohnung. Das sind nicht sogroße Wohnungen, wie man sie bei uns hat, sondern dassind nur zwei Zimmer.
Sie dürfen nicht telefonieren, nicht zum Fenster hinaus-gucken, kein Internet benutzen und nur mit der eigenenFrau reden, wenn es hochkommt. Das sind Irina Chalip,die Ehefrau von Sannikow, und Nekljajew.Wir haben unsere Forderungen formuliert. Die Bun-desregierung hat zur Unterstützung von solchen Maß-nahmen bereits Geld zur Verfügung gestellt. Dafür be-danke ich mich ausdrücklich; ich finde das sehr gut. Wirhaben schon in der Vergangenheit immer solche Grup-pen bilateral unterstützt. Damals wurden die entspre-chenden Gelder vor allen Dingen vom BMZ vergeben.Damit haben wir die Projekte des IBB unterstützt, diealle auf die zivile Gesellschaft gemünzt waren. Ich binfroh, dass die Bundesrepublik sowohl in Bezug auf dieVisa als auch bei der Bereitstellung von Geldern gehan-delt hat.Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen: die Situa-tion der Studenten in Belarus. Bei der letzten Wahl imJahr 2006 gab es ja auch widerspenstige Studenten; dashat uns sehr erfreut. Damals sind 600 Studenten ihrerUnis verwiesen worden. Im Moment scheint es eine klei-nere Zahl zu sein. Der Rektor einer Uni hat gesagt: Nein,nein, keiner wird relegiert. – Tatsächlich sind aber schon8 Studenten relegiert worden, 60 weiteren wurde ange-droht, dass ihnen dasselbe blüht. Deshalb noch einmaldie Bitte, insbesondere bei dieser Gruppe das zu tun, wasandere Länder auch tun, nämlich ihnen Stipendien undStudienplätze zu verschaffen. Wir haben damals nur einesehr kleine Zahl von Studienplätzen vergeben. Ichglaube, das ist eine lohnende Aufgabe.Es gab einen Artikel mit dem Titel: „WeißrusslandsWutstudenten“. Alle Welt beruft sich im Moment auf dieWut. Ich glaube, das sind keine „Wutstudenten“, sondernganz wache, bewusste Bürger, die ein besseres, demo-kratisches Land haben wollen und große Solidarität mitihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zeigen. Sie verdie-nen unsere Solidarität.
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ratder Außenminister hat Ende Januar harte Sanktionen ge-gen Belarus beschlossen. Wir werden heute einen Antragbeschließen, in dem diese Sanktionen begrüßt und weitergehende Forderungen gegenüber Minsk erhoben wer-den.Uns wird immer die Frage gestellt: Warum engagie-ren wir uns bei Belarus mehr als bei anderen Staaten, indenen die Situation der Menschenrechte unbefriedigendist? Die Antwort ist leicht: Belarus gehört zu Europa,ebenso übrigens Russland. Wolfgang Ischinger hat ge-rade gesagt: Belarus ist ein europäisches Land mit einereuropäischen Mission und einer europäischen Sprache. –Recht hat er.Im allergrößten Teil Europas sind die universellenWerte – Menschenrechte, Demokratie – umgesetzt. Inso-fern können wir es nicht akzeptieren, dass die Regierungeines europäischen Landes diese Werte sich selbst undder Bevölkerung verweigert. Das behindert die Entwick-lung und den Wohlstand in dem Land; es enthält denMenschen, die dort leben, eine gute Entwicklung vor.Die Menschenrechtslage in Weißrussland bleibt weithinter dem europäischen Standard zurück, übrigens auchweit hinter dem, was Lukaschenko selbst erst im Dezem-ber in Astana unterschrieben hat.Nicht nur die Menschenrechtslage, sondern auch dieökonomische Lage ist angespannt; Lukaschenko brauchtGeld und Kredite. Er glaubt bisher, er könne mit einerPolitik des Lavierens zwischen Ost und West weiterkom-men. Wenn ich mir die russische Wirtschaft und Industrieansehe – das Fehlen von innovativen Industrien, Korrup-tion, Rückgang der Auslandsinvestitionen –, dannkomme ich zu dem Schluss: Es ist nicht Russland, daseine blühende Entwicklung der belarussischen Wirtschaftversprechen kann. Ganz objektiv betrachtet, ist also einestärkere Öffnung gegenüber der EU die einzige Chancefür Belarus.Ich danke ganz besonders dem Ost-Ausschuss derDeutschen Wirtschaft. Er hat sehr klare Worte dafür ge-funden, dass die gegenwärtige Menschenrechtssituationin Belarus weitere Fortschritte im ökonomischen Be-reich verhindert. Im 21. Jahrhundert und in einer globali-sierten Welt kann man ein Land nicht wie eine Kolchoseführen. Das führt politisch und ökonomisch ins Nirwana,und wo das hinführt, kann man gerade auf den StraßenTunesiens und Ägyptens studieren.Meine Damen und Herren, wir wollen den Dialog mitMinsk nicht abwürgen. Aber es ist jetzt ausschließlichSache der dortigen Regierung, die Voraussetzungen fürein erneutes Gespräch, eine erneute Kooperation zuschaffen. Ohne eine Verbesserung der Menschenrechts-lage wird hier nichts gehen, ohne eine sofortige Freilas-sung der politischen Gefangenen sowieso nicht.Die Reaktion dieses Regimes – darauf sollten wir im-mer wieder hinweisen – ist in erster Linie ein Zeichender Schwäche. Wir wissen, dass die politische Opposi-tion in Minsk nicht besonders gut und stark aufgestelltwar und es keine revolutionäre Stimmung im Land gab.
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10146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Karl-Georg Wellmann
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Wer auf eine so schwache Organisation einprügelt, wieLukaschenko das getan hat, zeigt nur Schwäche. „Angst-beißen“ nennt man es, wenn ein Tier aus Angst aggressivwird.Brasilien hat kürzlich 14 Tage lang gefeiert undSamba getanzt, als Frau Rousseff mit 56 Prozent zurPräsidentin gewählt wurde. Lukaschenko ist angeblichmit 80 Prozent gewählt worden. Die Reaktion in Belarusist: Friedhofsruhe. Das ist der Unterschied zwischen ei-ner Demokratie und einer Diktatur. – Jetzt könnt ihr ru-hig einmal klatschen. Das wäre gut für das Protokoll.
– Samba geht auch, Herr Kollege, gerne.Wir müssen die Zivilgesellschaft nicht nur unterstüt-zen, sondern wir müssen den Menschen auch mehr Gele-genheiten geben, zu uns zu kommen. Ich sage hier: DasVisa-Regime darf die Spaltung Europas nicht vertiefen.
Wir können nichts Besseres tun, als möglichst vielejunge Leute, Schüler und Studenten, hierherzuholen undihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Way of Lifekennenzulernen. Das ist das Beste, was wir tun können.
Herr Staatsminister Hoyer, ich freue mich sehr, dassdie Bundesregierung bereits viel getan hat. Schon jetztwerden Visa insbesondere an Schüler und Studenten, dielänger als sechs Monate bleiben, kostenfrei erteilt. Ichhabe beeindruckende Zahlen vorliegen: über 23 000 ge-bührenfreie Schengen-Visa. Machen Sie weiter so! Dasist der richtige Weg.
Jetzt kommen wir einmal zu den Anträgen. Die Grü-nen haben unter Ziffer 3 beantragt, die Visumpflicht auf-zuheben.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie sich damit ein-handeln. Dann hätten Herr Lukaschenko und seineFreunde Gelegenheit, nach Europa einzureisen. Wennkein Visum erforderlich ist, kann er einreisen. Ich weißnicht, ob Sie das bedacht haben.
– Herr Liebich, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten,
hätten Sie festgestellt, dass wir, übrigens in Übereinstim-mung mit den Sozialdemokraten, insbesondere für Schü-ler und Studenten mehr Liberalisierung haben wollen.
Jetzt haben wir zwei praktisch gleichlautende An-träge. Liebe Frau Zapf, ich habe mir das noch einmal ge-nau angeschaut. Ihr Antrag enthält drei Worte mehr alsunserer. Ich schlage vor, dass Sie auf diese drei Worteunter Ziffer 3 verzichten
und wir dem Antrag dann gemeinsam zustimmen. Wirbrauchen ein starkes Signal. Eine breite Mehrheit wäreein solches Signal. Ende des Monats tagt die Parlamen-tarische Versammlung der OSZE. Wir wollen einen Be-schluss nach Wien mitnehmen. Es wäre schön, wennsich der Deutsche Bundestag mit möglichst breiterMehrheit entscheiden könnte.Meiner Fraktion und mir ist nicht nur wichtig, dasswir Visa-Erleichterungen vornehmen, womit die Bun-desregierung schon angefangen hat, sondern auch, dasswir dies mit zusätzlichen Maßnahmen flankieren. DieBundesregierung hat ihre Hilfe für die Zivilgesellschaftin Belarus um 6,6 Millionen Euro aufgestockt. Die Ge-berkonferenz in Warschau hat die Mittel für Belarus ge-rade vervierfacht. Herr Hoyer, es ist wichtig, dass dieGelder jetzt schnell in konkrete Programme fließen, da-mit die Betroffenen schnell davon profitieren, also Schü-ler und Studenten. Herr Hoyer, koordinieren Sie bitte dieArbeit der Verantwortlichen in Ihrer Behörde, in der EUund in den Bundesländern. Die Haushälter, die Bil-dungspolitiker und die Hochschulen müssen sich auf denWeg machen, damit wir möglichst bald eine großeGruppe belarussischer Studenten bei uns begrüßen kön-nen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seitunserer letzten Debatte hier zum Thema Belarus hat sichdie Lage vor Ort wenig verbessert. Präsident Lukaschenko
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10147
Stefan Liebich
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hat seit seinen Repressionen gegen seine Gegenkandida-ten und seit seinem Agieren gegenüber Demonstrantenwenig Milde gezeigt. Er hat kein Einlenken erkennen las-sen. Auch die Freilassung einiger Inhaftierter – darunterwaren der Kandidat Wladimir Nekljajew und die Journa-listin Irina Chalip – ist kürzlich nur aufgrund des massi-ven internationalen Drucks erfolgt.Aber immer noch laufen Verfahren weiter. Immernoch gibt es eine Beobachtung durch den Geheimdienst.Und immer noch gibt es politische Gefangene. Das wer-den wir nicht unwidersprochen hinnehmen.Präsident Lukaschenko darf nicht darauf hoffen, dasswir wegen der dramatischen Entwicklung im NordenAfrikas unsere europäischen Nachbarn vergessen. Wirstehen auch in Belarus weiter an der Seite derjenigen, diefür Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eintreten.
Gerade eben – die Vorredner haben darauf hingewie-sen – haben wir die nächste Beratung der Parlamentari-schen Versammlung der OSZE in Wien vorbereitet. Siedürfen sicher sein, dass die Delegation des DeutschenBundestages parteiübergreifend und gemeinsam die Kri-tik, die wir hier formulieren, auch bei der OSZE-Parla-mentarierversammlung vortragen wird.Der Vorschlag, der uns heute vom Auswärtigen Amtunterbreitet wurde, eine weitere Konkretisierung zumThema Moskau-Mechanismus vorzunehmen, ist sehr gut.Ich finde, wir sollten nach einem vernünftigen Weg su-chen, diesen sehr guten Vorschlag möglichst in einen ge-meinsamen Antrag einfließen zu lassen. Herr KollegeWellmann, das funktioniert natürlich nicht so, wie Sie esgerade vorgeschlagen haben.
Klar ist – das ist bisher von allen Rednern gesagt wor-den –, dass wir bei 90 Prozent der Fragen, die hier disku-tiert werden, einen Konsens haben. Wenn alle Seiten gu-ten Willen zeigen würden, dann bekäme man auch einenAntrag aller Fraktionen hin.Allerdings gibt es schon eine ernste Differenz. Diesedürfen Sie auch nicht wegreden, Herr Wellmann, oderden Kollegen von der Sozialdemokratie vorschlagen,dass diese Differenz dadurch gelöst wird, dass Ihre Posi-tion übernommen wird. Es gibt doch eine Differenz in-nerhalb der CDU/CSU-Fraktion: Sie haben selbst beimletzten Mal zum Ausdruck gebracht, dass Sie für eineviel stärkere Visa-Freiheit sind als Ihre Kolleginnen undKollegen Innenpolitiker. Das ist die Differenz.Deshalb unterscheiden sich auch die Anträge so sehr.Zwischen der rechten Seite und der linken Seite diesesHauses besteht die Differenz darin, wie viel Freiheit manden Menschen in Belarus tatsächlich gewähren möchte.Darum können Sie hier nicht herumreden. Ich muss Ih-nen sagen: Ihre Freiheitsreden würden dann besser klin-gen, wenn Sie den Leuten dort wirklich helfen würden.
Ich darf den Sacharow-Preisträger und Präsident-schaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch zitieren.Dieser hat nicht Wirtschaftssanktionen gefordert. Viel-mehr hat er gesagt, dass wir unsere Tore für die Weißrus-sen öffnen sollen. Die Bundesregierung überhört diesenWunsch, und beide Regierungsfraktionen überhören die-sen Wunsch. Die Tore bleiben geschlossen. Das ist ge-nau das falsche Signal, das Sie aussenden.
Wenn es die Möglichkeit gibt, den Antrag von Ihnenund die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/DieGrünen an den Auswärtigen Ausschuss zurückzuüber-weisen, dann sollten wir das tun.
– Ich komme noch zu unserem Abstimmungsverhalten.Wir sollten in Ruhe über einen gemeinsamen Antragreden. Sie haben hier aber zum Ausdruck gebracht, dassSie das nicht wollen. Sie wollen an dieser Differenz fest-halten. Die Tore sollen geschlossen bleiben. Dem kannman definitiv nicht zustimmen.Jetzt zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen.
– Ja. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und zumAntrag von der SPD-Fraktion.Sie beziehen sich in Ihren beiden Anträgen auf dieBeschlussfassung des Europäischen Parlaments und hei-ßen sie gut. In dieser Beschlussfassung des Europäi-schen Parlaments wird leider auch zu nicht näher spezifi-zierten Wirtschaftssanktionen und zum Einfrieren allermakrofinanziellen Hilfen und IWF-Darlehen aufgerufen.Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Das habeich hier im Plenum bereits beim letzten Mal gesagt.Wenn wir diesen Passus beiseitelassen könnten und diePunkte nehmen würden, auf die wir uns einigen könnten,dann würden wir auch einen gemeinsamen Antrag hin-bekommen. Dieser Formulierung des Europäischen Par-laments können wir allerdings nicht zustimmen.Aber die Forderungen an die Regierung Lukaschenko,umgehend alle inhaftierten politischen Gefangenen frei-zulassen, die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft,gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unab-hängige Medien zu beenden, das ist doch eine Position,die alle Fraktionen dieses Hauses vertreten. Ich verstehenicht, warum wir es nicht schaffen, diese Position hier zurAbstimmung zu stellen und so zu einer gemeinsamen Be-schlussfassung des ganzen Hauses zu kommen.Ich danke Ihnen recht herzlich.
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10148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(C)
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Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin ein bisschen in Sorge, seitdem sich die öffentliche
Aufmerksamkeit von Belarus nach Ägypten orientiert
hat. Ich hoffe, dass wir Alexander Lukaschenko nicht die
Gelegenheit geben, die Gunst der Stunde zu nutzen und
die Opposition noch weiter zu zerschlagen, als er es bis-
her schon getan hat.
Wir brauchen – da sind wir uns einig – eine sehr ent-
schiedene und sehr standhafte Politik gegenüber dem
Regime Lukaschenko. Ich will nicht darüber hinwegre-
den, dass es im Umgang mit solchen autokratischen Re-
gimen immer eine schwierige Abwägung zwischen Dia-
log und Isolierung gibt, wobei wir uns, glaube ich, nach
wie vor einig sind, dass die Dialogpolitik mit Weißruss-
land zwar durchaus positive Seiten entfacht hat, zum
Beispiel das Aufblühen der Zivilgesellschaft, dass sich
Lukaschenko aber nach dieser dramatischen Verletzung
der Geschäftsgrundlage selbst in die Isolierung getrieben
hat.
Mir ist sehr wichtig, dass wir den Blick noch einmal
auf Russland richten; Kollegin Zapf hat das eben ange-
sprochen. Tatsächlich hat sich Außenminister Lawrow
sehr deutlich geäußert, nachdem der Rat zur Entwick-
lung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte am 1. Fe-
bruar dieses Jahres über Präsident Medwedew sehr stark
Druck gemacht und gefordert hat, dass sich Russland
deutlich für die Einhaltung der Menschenrechte aus-
spricht. Wir müssen der russischen Seite sagen, dass sie,
die sie in einer politischen Union mit Weißrussland ist – –
Herr Präsident, es ist ein bisschen schwierig, hier zu
sprechen. Können Sie die Kollegen bitten, ihre Verhand-
lungen außerhalb des Saales zu führen?
Es geht um das anschließende Abstimmungsverfah-
ren. – Können wir die Debatte fortführen, Frau Zapf?
Dann müssen wir die Sitzung vor der Abstimmung kurz
unterbrechen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Die Uhr ist übrigens weitergelaufen; das finde ich
nicht in Ordnung.
Ich lasse die Uhr gleich ein bisschen länger laufen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):In Ordnung.Wir müssen sehr deutlich machen, dass Russland fürdie Menschen, die in KGB-Haft sind, Verantwortunghat. Auch Präsidentschaftskandidaten, die von russischerSeite aufgebaut worden sind, sind unter den Gefangenen.Wir müssen bei ihnen Angst um Leib und Leben haben.Sannikow hatte seit dem 27. Januar keinen Außenkon-takt. Hier ist Russland ganz deutlich gefragt. Das sageich auch in Richtung des Auswärtigen Amtes.
Wir sind uns in sehr vielen Fragen einig, dass sichLukaschenko selbst isoliert hat, dass es keine anti-bela-russische Sanktionspolitik geben kann, aber eine deutli-che Isolation des Regimes Lukaschenko. Damit sind wirbei dem Juckepunkt unserer Debatte, bei der Frage, wiewir es mit den Visa halten. Es ist manchen nicht ganz klar,dass wir mit der Einbeziehung von Polen und dem Balti-kum in den Schengen-Raum von unserer Seite die Mauerin Europa wieder errichtet haben. Die jungen Menschenaus Weißrussland konnten im kleinen Grenzverkehr voll-kommen unproblematisch für 5 Euro pro Visum nach Po-len und in das Baltikum reisen. Das heißt, sie waren quasiTeil unseres europäischen Hauses. Mit der Verlagerungdes Schengen-Raums an die polnische Außengrenze ha-ben wir den jungen weißrussischen Menschen den Wegversperrt.Herr Kollege Wellmann, erzählen Sie keinen Unsinn,um Ihr schlechtes Gewissen zu verdecken. Es ist Unfug,zu sagen, dass wir, wenn es Visumsfreiheit gebe, keineEinreisen mehr verhindern könnten, zum Beispiel ge-genüber Lukaschenko. Auch er müsste seinen Pass vor-weisen; auch ihn könnte man an der Grenze abweisen.Dass wir uns jetzt in diesem Punkt, der die größte Hilfefür die weißrussische Zivilgesellschaft bedeuten würde,durch die Schengen-Politik die Hände binden lassen, istnicht richtig.Deswegen lautet unser klar formulierter Vorschlag,im Rahmen der Schengen-Politik in der EU dafür zu sor-gen, dass unsere notwendige außenpolitische Hand-lungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Wir müssen inder Lage sein, das zu tun, was unter den Gesichtspunktender Demokratie und der Menschenrechte außenpolitischnotwendig ist. Es geht um nicht mehr und nicht weniger.Deswegen sollten Sie hier keine Camouflage machen.
Ich war mit dem Kollegen Vaatz vergangene Wochebei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herr Milinkewitschund die jungen Leute dort – gestern habe ich mit LawonWolski, der Popikone der belarussischen Jugend, gespro-chen – sagen: Es ist schwierig, zu entscheiden, was manjetzt machen soll. Aber eines wissen wir: Ein wirksamesInstrument wäre die Reisefreiheit. – Deswegen müssenwir uns hier die Freiheit nehmen, das auszusprechen,was notwendig ist; darauf sollten wir dann auch hinar-beiten. Wir dürfen den Innenpolitikern nicht die Außen-politik überlassen. Das führt in die Irre.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10149
Marieluise Beck
(C)
(B)
Ich danke Ihnen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Michael Frieser von der CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Parlamentarismus hat tatsächlich et-
was sehr Lebendiges. Es geht um die Frage, ob man in
einer vorgegebenen Redezeit in der Lage ist, ein gemein-
sames Abstimmungsverfahren herbeizuführen. Ich bin
sehr dankbar, dass wir heute eines deutlich machen kön-
nen: Die Kritik am Regime Lukaschenko und der Protest
gegen das, was er Weißrussland antut, einen dieses Haus,
von einigen Ausfällen abgesehen.
Wir haben mit einer gewissen Hoffnung auf dieses
Land geblickt. Es gab Anhaltspunkte, insbesondere wirt-
schaftliche Blüten, die diese Hoffnung in den letzten
Jahren genährt haben. Am Wahltag, am 19. Dezember
2010, wurden wir aber in unserer Gewissheit bestärkt:
Wir erleben ein Regime, das wir Europäer mit allen Mit-
teln, die uns zur Verfügung stehen, bekämpfen müssen.
Voller Schamlosigkeit wurde deutlich gemacht, dass in-
ternationaler Protest das Regime nicht irritiert. Ich bin
dem Kollegen Klimke, der als Wahlbeobachter dort war,
dankbar; ich glaube, auch Frau Kollegin Beck war mit
von der Partie. Wer dort war, konnte beobachten, dass es
in Belarus eine Art Schaufenster gab. Man hat so getan,
als seien es tatsächlich demokratische Wahlen gewesen.
Das Gegenteil war der Fall.
Heute geht es darum, dass wir uns möglichst effektiv
und möglichst schnell in die richtige Richtung bewe-
gen. – Wie Sie sehen, laufen manche Kollegen immer
noch eifrig hin und her. Sie unternehmen den Versuch,
einen gemeinsamen Antrag zu erreichen.
Worum geht es? Es geht um effektive, schnelle und
konkrete Hilfe. Wir wollen deutlich machen, dass wir
den mutigen Menschen in Belarus helfen wollen: den
mutigen Journalisten, den Politikern, den Vertretern der
Zivilgesellschaft und den mutigen Anwälten, die sich für
die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Wir wol-
len dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, auch außer-
halb von Belarus für ihre Anliegen und die Menschen zu
kämpfen.
Im Hinblick auf unsere weitreichenden Forderungen
an die Bundesregierung müssen wir versuchen, in der
zentralen Frage: „Wie können wir den Menschen in
Weißrussland möglichst schnell den Weg nach Europa
ebnen?“ den effektivsten Weg zu gehen. Unserer Auffas-
sung nach – dafür werden Sie Verständnis haben, Frau
Kollegin Beck – muss dieser Weg wirksam sein, er muss
sofort umsetzbar sein, und er muss effektiv sein. Es ist
ein sehr wichtiges politisches Signal, an die Behörden zu
appellieren: Bitte erhebt nach Möglichkeit keine Gebüh-
ren und geht so unbürokratisch wie möglich vor, aber na-
türlich im Rahmen der bestehenden Gesetze. – Dann gibt
es, wie ich glaube, keine Unsicherheiten, und wir kön-
nen effektiv arbeiten.
Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Beck?
Selbstverständlich, wenn ich diesen Satz noch been-
den darf.
Bitte schön, ja.
Frau Kollegin Beck, man muss fast folgenden Ein-druck haben: Man muss sich am Rande Europas und derEU nur so aufführen wie Herr Lukaschenko, man mussalso nur so tun, als lebe man tatsächlich in einer Demo-kratie, obwohl man eigentlich eine Form der Diktatur er-richtet, und schon sind wir bereit, die Visumsfreiheitauszudehnen. Diesen Fehler dürfen wir nicht begehen.
Jetzt zu Ihrer Zwischenfrage. – Bitte schön.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Kollege Frieser, ich danke Ihnen für diesesStichwort.Zum Ersten möchte ich Sie fragen, ob Sie die Haltungder EU-Kommission teilen, die die Absenkung der Vi-sumsgebühren, wie sie im Fall der Ukraine und andererLänder gewährt wurde, gegenüber Weißrussland abge-lehnt hat mit der Begründung: Solange Weißrussland ei-nen Diktator hat, kann man die Visumsgebühren nichtabsenken. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wirdem Diktator dabei helfen, das Reisen für die Menschenmöglichst schwer und teuer zu machen.Zum Zweiten möchte ich Sie fragen, ob Ihnen be-wusst ist, dass wir in diesem Hause vor etwa drei Jahrenschon einmal in genau derselben Weise über die Not-wendigkeit einer Visumsliberalisierung im Hinblick aufWeißrussland gesprochen haben, dass damals Anträgevorgelegen haben, über die abgestimmt worden ist, ver-bunden mit der Aufforderung an das Auswärtige Amt, inder Visumsfrage liberal zu sein, und dass Sie mit Ihremheutigen Antrag keinen Schritt weiter gehen, als wir esvor drei Jahren getan haben.
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10150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(C)
(B)
Frau Kollegin Beck, ich glaube, das hieße, die Ge-
schichte aus dem Auge zu verlieren. Die Debatte von da-
mals ist mir sehr wohl bewusst. Das Thema hat aber
durch den Wahltag, den 19. Dezember 2010, so an
Schärfe gewonnen, dass wir die Situationen nicht mit-
einander vergleichen können.
Ich will Sie aber trotzdem auf den Widerspruch in
dieser Darstellung hinweisen. Natürlich hat es Signal-
wirkung, dass von den Staaten der ehemaligen Sowjet-
union bisher nur Estland, Lettland und Litauen tatsäch-
lich eine Visumsfreiheit erlangt haben. Wenn wir jetzt im
Fall Weißrussland die Visumspflicht fallen ließen, sähe
dies wie ein Gnadenakt aus, würde aber nicht aus der
Überzeugung eines sich öffnenden Europas heraus erfol-
gen. Ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie sich
dafür einsetzen; denn Sie handeln aus dem Impetus he-
raus, zu helfen. Aber im Ergebnis liefe es meines Erach-
tens tatsächlich in die falsche Richtung.
Die Frage, warum sich auch andere dieses Themas
annehmen, hat auch etwas mit der Diskussion über die
Gebührenhöhe der Visa zu tun. Deshalb ist es unserer
Meinung nach notwendig, dass wir alles unternehmen,
was auf diplomatischem Weg möglich ist, damit die Visa
so unbürokratisch wie irgend möglich erteilt werden.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir dieses Signal
aussenden, und zwar in einer möglichst einheitlichen Art
und Weise. Aus dem eifrigen Umherlaufen hier im Ple-
narsaal schließe ich, dass wir uns vielleicht auf einen ge-
meinsamen Antrag zubewegen. Insofern bedanke ich
mich herzlich bei den Kollegen der SPD. Wenn wir diese
Frage inhaltlich so beantworten können, dass wir uns
nicht gegenseitig niederstimmen müssen, dann ist dies
mit Sicherheit ein Beleg dafür, dass die große Mehrheit
dieses Hauses ein starkes Signal nach Belarus sendet.
Wir müssen Herrn Lukaschenko deutlich machen, dass
wir es weder akzeptieren noch tolerieren, dass er Men-
schen in seinem Land verfolgt und nach wie vor so tut,
als errichte er eine Demokratie, obwohl er eine Diktatur
befehligt.
Ich schließe die Aussprache.
Ich darf Ihnen mitteilen, dass mir von einigen Kolle-
ginnen und Kollegen persönliche Erklärungen zu
Tagesordnungspunkt 7 vorliegen. Diese nehmen wir zu
Protokoll.1)
Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich die Ge-
schäftsführer zu mir bitten.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über drei Anträge
mit dem gleichlautenden Titel „Belarus – Repressionen
beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren,
Zivilgesellschaft stärken“, und zwar zunächst zur Ab-
stimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/4685. Wer stimmt für
1) Anlage 2
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der
Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4667. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der
SPD-Fraktion und Enthaltungen der Fraktion Die Linke
und der Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4686.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
der Grünen, Enthaltung der SPD und der Linken und
Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Krite-
rien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wah-
ren
– Drucksache 17/3687 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einemist diese Koalition bisher eigentlich unschlagbar: im An-kündigen von Überprüfungen und Evaluierungen.
Das fängt mit der Koalitionsvereinbarung an. Im Bereichder Innenpolitik, Frau Kollegin Piltz, sollen zum Bei-spiel die Telefonüberwachung, der Datenschutz, dasWaffenrecht und die Internetsperren überprüft werden.Bisher kannte man den schönen Satz: Wenn ich nichtmehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Bei Ih-nen kommt hinzu: Wenn ich gar nicht einig bin, Evaluie-rung ist immer noch drin. – Danach handeln Sie.
Darin sind Sie ja Spezialist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10151
Wolfgang Wieland
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Schwarz-Gelb haben wir netto seit einem Jahr – bruttonoch länger –, und noch kein einziges dieser Evaluie-rungsergebnisse liegt vor. Im Gegenteil: Sie streiten sichjetzt sogar darüber, ob vorliegende Ergebnisse präsentiertwerden sollen – siehe Terrorismusbekämpfungsergän-zungsgesetz. Erst haben Sie also Angst vor dem gemein-samen Handeln, weswegen eine Evaluierung durchge-führt wird, und dann haben Sie Angst davor, das Ergebnisdieser Evaluierung vorzulegen. Sie machen aus einem ansich guten Instrument ein Verzögerungsinstrument. Siemachen aus einer guten Idee ein innerkoalitionäres Ver-zögerungsmittel bzw. – ich sage es anders – eine schlechteAusrede in Ihrer Koalition. Das ist einfach nicht akzepta-bel. Deswegen leisten wir heute Hilfestellung, indem wirdiesen Antrag vorlegen.
Ich gebe zu: Das ist unsere Idealvorstellung. Mankann hier anderer Meinung sein und sagen: Ein solchesGremium wollen wir nicht. Darüber wollen wir ja reden.Deswegen machen wir diesen Vorschlag. Was man abernicht machen kann, ist, zu sagen: Es soll alles so bleiben.Den schlechten Zustand, den wir jetzt haben und derweitestgehend eine Selbstevaluierung der Exekutive be-deutet, verändern wir nicht. – Das geht auf gar keinenFall.
Eine Evaluierung ist bisher völlig unsystematischvorgesehen: einmal hier, einmal da und dann wieder garnicht. Deswegen sagen wir erstens: Alle Gesetze, die indie Grundrechte eingreifen und die dem Zitiergebot un-terliegen, müssen eine Evaluierungsklausel und eineEvaluierungsfrist enthalten. Zweitens kann es doch nichtsein, dass sich die Exekutive selber evaluiert, wie beidem sogenannten Terrorismusbekämpfungsgesetz. Dahat sich die Innenverwaltung selber aufgeschrieben, wietoll sie ist. Das hat sie dann auch noch VS-Vertraulichgestempelt und geschlussfolgert: Selbst Befugnisse, dienie angewendet wurden, behalten wir bei. Man weiß janie, was kommt. – Das ist so sinnvoll, als würde man dieEvaluierung staatlicher Schauspielbühnen an die Inten-danten übertragen. Jeder weiß, welches Ergebnis dannherauskommen würde. Niemand würde diesen Irrsinnmachen; aber im Bereich der inneren Sicherheit war erbisher Methode. Das muss aufhören.
– Herr Grindel, wir werden sehen, was dabei heraus-kommt, wenn man es richtig macht.Wir als Gesetzgeber müssen bei der Evaluierung denHut aufhaben. Wir müssen das in die Hand nehmen; essind unsere Gesetze. Dieses Pingpongspiel mit Karls-ruhe, dass hier Gesetze gemacht werden und uns danneine permanente verfassungsgerichtliche Nachhilfe er-teilt wird, wie es Jutta Limbach einmal gesagt hat, mussaufhören.
Wir müssen in die Lage versetzt werden, durch eine Eva-luierung der Wirkung unserer Gesetze selber zu einerKorrektur zu kommen. Um dieses Stück Autonomie desGesetzgebers geht es hier.Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit istschwierig; das wissen wir. Aber eine Evaluierung kanndabei helfen. Wir schlagen eine Evaluierung auf hohemNiveau vor, und wir erwarten, dass Sie sich ernsthaft da-mit auseinandersetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Franz Josef Jung
von der CDU/CSU-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrKollege Wieland, ich denke, Ihr Antrag, den wir heuteberaten, geht völlig an der Sache vorbei. Er ist aus mei-ner Sicht einer Behandlung im Rahmen einer Plenarde-batte unwürdig und überflüssig wie ein Kropf.
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlandhat keine Bundesregierung so viel für die Evaluierungvon Sicherheitsgesetzen getan wie die Bundesregierungunter christlich-liberaler Verantwortung. Deshalb ist IhrAntrag abzulehnen, Herr Wieland.
Es stimmt: Freiheit ist ohne Sicherheit nicht möglich.Aber Sicherheitsgesetze müssen den Grundrechten unddem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.Deshalb ist es, denke ich, auch richtig, dass die Sicher-heitsgesetze evaluiert bzw., auf Deutsch, überprüft undentsprechend bewertet werden und dass auch die Behör-denstrukturen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie ha-ben es angesprochen: Beim Terrorismusbekämpfungsge-setz und bei der Antiterrordatei ist die Evaluierungbereits gesetzlich vorgesehen.
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10152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dr. Franz Josef Jung
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Sie sollten übrigens hinzufügen, dass im Terrorismusbe-kämpfungsergänzungsgesetz, das im Oktober 2006 in denDeutschen Bundestag eingebracht worden ist, eine Eva-luierungsklausel mit Parlamentsbeteiligung vorgesehenist. Das war in rot-grüner Regierungszeit gerade nicht derFall. Ich halte es für richtig, dass der Gesetzgeber, der dieVerantwortung für die Gesetze trägt, an einem solchenProzess beteiligt ist. Damit hat die christlich-liberale Ko-alition den richtigen Schritt unternommen.
Die Antiterrordatei soll bis Ende dieses Jahres evalu-iert werden. Es soll eine umfassende Analyse und Bewer-tung des Instruments der Antiterrordatei im Hinblick aufseine gesetzlich definierte Zielsetzung erfolgen. Ob dieAntiterrordatei die Zusammenarbeit der Teilnehmer ef-fektiv unterstützt und damit einen erfolgreichen Beitragzur Terrorismusbekämpfung leistet, ist ein weiterer ent-scheidender Punkt, der im Rahmen der Evaluierung zuprüfen ist.Hinzuzufügen ist auch – das haben Sie ebenfalls nichterwähnt, Kollege Wieland –,
dass die Evaluierungsregelungen im Gemeinsame-Da-teien-Gesetz die Einbeziehung eines Sachverständigenerfordern, und zwar im Einvernehmen mit dem Deut-schen Bundestag und unter Wahrung von Objektivitätund Neutralität des Sachverständigen. Eines muss aberimmer klar sein: Bei der gesamten Überprüfung und Be-wertung durch eine derartige Evaluierung von Sicher-heitsgesetzen liegt letztlich die Verantwortung bei derBundesregierung
respektive beim Deutschen Bundestag. Sie darf nicht inirgendwelche Experimentierzirkel abgeschoben werdenund zu „Gutachteritis“ führen; hier ist vielmehr die Ver-antwortung des Verfassungsorgans gegeben.
Deshalb muss die Verantwortung beim Verfassungsor-gan bleiben.
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt – daraufhaben Sie hingewiesen –, dass die Sicherheitsdaten unddie gemeinsamen Zentren, die Telekommunikations-überwachung und das Gesetz zur Verfolgung der Vorbe-reitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten zuüberprüfen sind. Die Arbeiten daran sind ebenfalls inGang. Hinzu kommt – das haben Sie nicht erwähnt –,dass selbstverständlich auch die Schnittstellen der zivi-len Sicherheitsbehörden, nämlich Bundeskriminalamt,Bundespolizei und Zollverwaltung, entsprechend über-prüft werden. Dazu hat die Werthebach-Kommission
jetzt ihre Arbeiten vorgelegt. Das Ministerium wertet ge-rade die Ergebnisse aus. Wir haben das bereits im Innen-ausschuss diskutiert.
Ich finde die Ziele richtig, zu mehr Effektivität zu kom-men, Überschneidungen zu vermeiden, Aufgabenbünde-lungen vorzunehmen und Synergieeffekte zu erzielen.Eines ist aber klar: Es darf keine Funktion, die zur Ein-gliederung von Institutionen führt, in Betracht kommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie habenin Ihrem Antrag die Hinzuziehung von Sachverständigenim Zusammenhang mit der Evaluierung angesprochen.Hier, denke ich, sind die Kriterien klar. Die Unabhängig-keit muss gewahrt werden. Der derzeitigen Auswahl hatder Deutsche Bundestag zugestimmt. Das haben Sie hierebenfalls nicht erwähnt, Kollege Wieland.
Ebenfalls zu ergänzen ist, dass das Terrorismusbekämp-fungsergänzungsgesetz vorsieht, dass ein Staatsrechtlerbeauftragt wird, der, lieber Kollege Wieland, auch aufgrundrechtliche Fragestellungen den Fokus legt.Ich will noch einmal darauf hinweisen: Ich bin undbleibe der Auffassung, dass die Verantwortlichkeit beimVerfassungsorgan bleiben muss und nicht an ein Exper-tengremium abgegeben werden kann.
Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt im Zu-sammenhang mit derartigen Überprüfungen.
Es liegt in der Verantwortung des Deutschen Bundesta-ges, die Sicherheitsgesetze einer verantwortlichen Eva-luierung zuzuführen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10153
Dr. Franz Josef Jung
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Der Forderung nach einer, wie Sie es in Ihrem Antragformuliert haben, umfassenden, transparenten und ernst-haften Evaluierung wird von der Bundesregierung be-reits Rechnung getragen.
Ich habe gerade gesagt: Noch keine Regierung hat diesin einem derartigen Ausmaß durchgeführt. Die Forde-rung nach einem institutionalisierten Expertengremiumhalte ich für falsch, weil ich der Auffassung bin, dasshier die Verantwortung des Verfassungsorgans gegebensein muss. Aus all diesen Gründen ist Ihr Antrag abzu-lehnen.Besten Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das Thema „Evaluierungvon Sicherheitsgesetzen“ liegt mir seit langem am Her-zen und ist für den Rechtsstaat von herausragender Be-deutung. Insofern rennen die Grünen bei mir und bei unsoffene Türen ein.
Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen ist eineGroßbaustelle, bei der noch viel zu tun ist. Die Materieist wissenschaftlich noch nicht völlig durchdrungen.Gute Ansätze sehe ich zum Beispiel bei Marion Albers,die zur grundrechtsbezogenen Evaluierung gearbeitethat, und bei Gusy aus Bielefeld, der zur Telefonüberwa-chung evaluiert hat. Aber auch das Max-Planck-Instituthat schon beachtliche Ergebnisse geliefert. Fest steht fürmich und für uns: Die Politik muss sich an der Entwick-lung und Gestaltung von Evaluierungskonzepten beteili-gen und muss diese vorantreiben.Das Innenministerium hat in 2010 Vorschläge zurEvaluierung des Terrorismusbekämpfungsergänzungs-gesetzes und des Gemeinsame-Dateien-Gesetzes vorge-legt. Wir alle haben die Entwürfe gesehen. Darin seheich misslungene Versuche.Herr Jung, Sie haben gesagt, keine Bundesregierunghabe für die Evaluierung mehr getan, und die Parla-mentsbeteiligung hervorgehoben. Ich kann Ihnen nur sa-gen: Herr Benneter und ich waren es, die dies bei diesenGesetzen durchgesetzt haben, und zwar gegen großenWiderstand aus Ihrer Fraktion.Wenn ich mir jetzt anschaue, was aus dem Ministe-rium kommt, dann habe ich den Eindruck, es sieht diesals eine lästige Pflichtübung, nicht als Evaluierung.
Ich sehe keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zuvorangegangenen sogenannten Evaluierungen. Die Hin-zuziehung einer externen Beratungsfirma ist eine Farce,wenn sie keinen rechtsstaatlichen Mehrwert darstellt –und sie stellt in diesem Zusammenhang keinen rechts-staatlichen Mehrwert dar.
Schauen Sie sich es einmal genau an: Das Innenmi-nisterium will autonom die Forschungsfragen der Evalu-ierung festlegen und die Auswertung und Bewertung al-leine durchführen; es braucht den Sachverständigenlediglich als Methodenberater. Das ist mir entschiedenzu wenig. Damit kann das BMI den gesamten Prozessund auch das Ergebnis steuern. Ungewollte und kritischeAnmerkungen von Sachverständigen können so wir-kungsvoll verhindert werden. Ich nenne das „Scheineva-luierung“.Die Regierungskoalitionen haben sich im Koalitions-vertrag die Evaluierung des Sicherheitsgesetzes auf dieFahne geschrieben. Aber in der Verwaltung, in derSpitze der Ministerien, gelten weiterhin die alten Ver-waltungsgrundsätze: „Das haben wir schon immer so ge-macht“, „Das haben wir noch nie so gemacht“ und „Dakönnte ja jeder kommen“. Ich erwarte eine unabhängige,ergebnisoffene Begutachtung und Bewertung von Geset-zen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Herr Jung,das ist bei Ihnen auch deutlich geworden. Für Sie liegtdas Schwergewicht auf Praxistauglichkeit und auf Effek-tivität. Das sind nur zwei wichtige Aspekte. Für Sie sindes jedoch die einzigen Punkte. Das ist falsch.Ich denke zurück an die Evaluierung im Zusammen-hang mit der Bundespolizeireform. Dieser Evaluierungs-bericht ist kräftig in die Hose gegangen. Das Innenmi-nisterium hat sich ein passendes Ergebnis gebastelt, unddie Realität sah ganz anders aus. Deshalb ist auch eineAnhörung durch den Innenausschuss durchgeführt wor-den. Die Kritik der Sachverständigen und der Betroffe-nen war vernichtend. Evaluierungen sind eben keineSchönwetterberichte.Eine rechtsstaatsorientierte Evaluierung von Sicher-heitsgesetzen darf nicht allein die Effektivität der Ver-waltungstätigkeit zum zentralen Maßstab haben. Dieentscheidenden Fragen müssen lauten: Welche Grund-rechte sind berührt? Wie tief und wie häufig sind dieEingriffe? Sind die Rechtsstaatsprinzipien gewahrt?Nun zum Vorschlag der Grünen. Sie schlagen ein in-stitutionalisiertes Expertengremium vor. Damit würdeich vorsichtig umgehen. Institutionen mit festen Organi-sationsstrukturen entwickeln immer ein Eigenleben. Wirbrauchen die Unabhängigkeit der Sachverständigen, dieselbstständig eine Bewertung vornehmen und die sich
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Frank Hofmann
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auch dem wissenschaftlichen Wettbewerb stellen. Überdiese Punkte müssen wir noch reden.Einheitlich festgelegte Kriterien sind nicht sinnvoll.Es gibt in diesem Bereich nicht so etwas wie ein Jackettvon der Stange, das für alle Gesetze gleichermaßenpasst. Jedes Gesetz benötigt seinen eigenen Maßanzug.Deshalb bin ich skeptisch. Wir müssen auch noch überden Zeitpunkt reden. Wenn der wissenschaftliche Sach-verständige erst im späteren Stadium hinzukommt, dannfehlen schon alle Voraussetzungen, um richtige Statisti-ken führen zu können. Ich halte es für wichtig, dass erbereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Prozesseingebunden wird.Es gibt noch eine Menge zu tun. Die SPD-Fraktionwill hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten. Wir wer-den morgen eine renommierte Expertin auf dem Gebietder Gesetzesevaluierung in unserer Arbeitsgruppe hören.Sie wird uns mit ihrem Know-how unterstützen. DieBundesregierung sollte diesem Beispiel folgen und beiEvaluierungsfragen auch unabhängigen externen Sach-verstand mit ins Boot holen.Deshalb wünsche ich mir, dass das BMI selbstständigohne gesetzlichen Zwang die Sicherheitsgesetze auchwissenschaftlich evaluieren lässt. Damit wäre es auf derHöhe der Zeit. Nur so kann der Gesetzgeber seiner per-manenten Verfassungsbindung genügen und gegebenen-falls Nachbesserungen am Gesetz vornehmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegen von den Grünen, bei der Lektüre IhresAntrages war ich mir nicht sicher, ob ich nun erfreutoder erstaunt sein sollte.
Erfreut, weil ich zur Kenntnis nehmen konnte, dass es inIhrer Fraktion zu früheren Zeiten einen Lernprozess ge-geben hat,
oder erstaunt über die Dreistigkeit, uns diesen Antragvorzulegen.Da schreiben Sie doch tatsächlich, dass Sie in Ihrer –da war es nämlich – rot-grünen Regierungszeit etwasTolles, nämlich eine unabhängige Evaluierung einge-führt hätten. Im nächsten Satz beklagen Sie sich dann,dass der Gesetzgeber dies aber nicht umgesetzt habe.Sie schreiben da:Deshalb hat die rot-grüne Koalition … das Instru-ment einer gesetzlich vorgesehenen Evaluierungs-pflicht eingeführt.
Evaluierung wurde dabei als unabhängige Überprü-fung der Grundrechtsverträglichkeit und Verhältnis-mäßigkeit verstanden.Jetzt kommt mein Lieblingssatz:Dies wurde allerdings nicht so vom Gesetzgeberausformuliert.Da muss ich doch einmal fragen: Wer war denn da-mals Gesetzgeber? Warum haben Sie das denn nicht ge-schafft, wenn Sie das alles so toll finden? Warum stehtdas nicht direkt im Gesetz?
Weil Sie es damals nicht für nötig gehalten haben odersich nicht durchsetzen konnten? Waren Sie – ich könnteauch direkt fragen – nicht eigentlich selbst der Gesetzge-ber, der es verbockt hat?
Das ist nämlich genau das Problem. Sie haben es damalsnicht richtig gemacht und wollen uns das jetzt anhängen.Das ist nicht redlich, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen.
Dazu kann ich eines sagen: Inhaltlich sind wir garnicht so weit auseinander. Wir sind der Auffassung, dassEvaluierung richtig ist. Sie muss zwingend die Verhält-nismäßigkeit in den Blick nehmen. Sie darf sich vor al-len Dingen nicht auf die Praktikabilität der ausführendenBehörde beschränken,
und sie soll auch nicht nur von den Betroffenen durchge-führt werden. Der Satz, dass die Frösche nicht ihren ei-genen Teich trockenlegen würden, ist hier schon oft zi-tiert worden. Er trifft auch hierauf zu.
Wenn hier gesagt wird, wir täten gar nichts, was Eva-luierung angeht, dann muss ich fragen, wo Sie eigentlichwaren, als es im Innenausschuss um das Informations-freiheitsgesetz ging. Wir sind gesetzlich nicht verpflich-tet, dieses zu evaluieren, wir tun es aber.
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Gisela Piltz
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– Wir sind in dieser Legislaturperiode nicht verpflichtet,das zu machen. – Wir beauftragen einen Externen, dasInformationsfreiheitsgesetz zu evaluieren. Das ist mehr,als Sie geschafft haben. Daher ist Ihr Verhalten nichtrichtig.
– Wenn er möchte. Dann habe ich Spaß.
Ich höre, dass Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wieland zulassen.
Ja.
Schön. – Bitte, Herr Wieland.
Mir würde sonst etwas fehlen.
Liebe Frau Kollegin Piltz, sind Sie bereit, zur Kennt-
nis zu nehmen, dass wir durchaus gelernt haben, dass die
Pflicht zur Evaluierung in das Terrorismusbekämpfungs-
gesetz geschrieben wurde, im Übrigen auch in das Infor-
mationsfreiheitsgesetz? Sie liegen mit Ihrer Meinung
falsch. Es wurde nur versäumt, eine Frist festzusetzen.
Die Evaluierungspflicht aber steht im Informationsfrei-
heitsgesetz.
Aufgrund des Lernprozesses, dass dabei eine Selbst-
evaluierung der Exekutive herauskam, haben wir gesagt:
So geht es nicht weiter. – Den ersten Schritt, den der
Kollege Hofmann genau geschildert hat, nämlich dass in
einem Gesetz steht, dass ein Externer hinzugezogen wer-
den muss, finden wir unzureichend, weil es sich um eine
Gesellschaft handelt, die nur methodische Vorschläge
unterbreitet, ansonsten aber Managementberatung oder
dieses und jenes macht. Alles dies hat dazu geführt, sich
abstrakt in Form eines Antrags zu überlegen, wie eine
bessere Evaluierung aussehen kann. Wäre es nicht bes-
ser, statt immer nur Vergangenheitsbewältigung zu be-
treiben, uns zu sagen, ob Sie wie der Kollege Jung
schroff sagen: „Abgelehnt!“, ob Herr Jung auch in Ihrem
Namen die Ablehnung ausgesprochen hat oder wie Sie
sich hierzu verhalten wollen?
Eigentlich kann ich den Rest meiner Rede auf IhreKosten halten und noch ganz lange weiter reden; denndas alles hätte ich noch gesagt. Herr Kollege Wieland,erstens waren wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht ver-pflichtet, die Evaluierung des Informationsfreiheitsge-setzes vorzunehmen. Wir tun es aber trotzdem. Das wi-derspricht dem, was Sie und Ihre Kollegen hier gesagthaben, nämlich dass wir so etwas nicht tun würden.
– Die Aussage war, dass wir überhaupt keine Evaluie-rung vornehmen. Das habe ich eben widerlegt.
Zweitens haben wir uns im Zusammenhang mit denanderen Gesetzen auf ein Verfahren verständigt, dass ex-terner Sachverstand hinzugezogen wird, der sich natür-lich auch der Frage der Verhältnismäßigkeit widmensoll. Die Koalitionsfraktionen werden das sehr genauverfolgen und natürlich mit evaluieren. Insofern gebe ichmeinem Kollegen Jung – das wird Sie jetzt erstaunenund ihn vielleicht erfreuen – völlig recht. Wir sind unsvöllig einig, dass Ihr Antrag abzulehnen ist, weil in ihmetwas gefordert wird, was wir ohnehin schon tun.
Wir tun das, und wir werden mehr tun, als Sie getan ha-ben; denn Sie waren nicht in der Lage, das in das Gesetzzu schreiben. Wir setzen jetzt um, was Sie nicht ins Ge-setz geschrieben haben. Das ist der Unterschied zwi-schen Ihnen und uns.Mit Evaluierungsklauseln – das möchte ich auch sa-gen – kann sich Politik auch nicht reinwaschen. Mankann nicht sagen: Wir greifen jetzt einmal in die Grund-rechte ein, aber wir haben am Ende eine Evaluierungund schauen, wie schlimm es ist. – Auch das ist unred-lich. So gesehen muss ich auch noch einmal daran erin-nern, dass sich die Kollegen der SPD durchaus damit ge-schmückt haben, eine Evaluierung vorzunehmen. Diesist aber kein Trostpflaster dafür, dass Sie die Grund-rechte mit dem BKA-Gesetz eingeschränkt haben.Wir werden das anders machen. Das Bundesinnen-ministerium und das Bundesjustizministerium sind sichbeim TBEG und bei der Antiterrordatei einig, welchesVerfahren angewendet wird. Wir legen damit die Grund-lage für eine echte Evaluierung.
– Wissen Sie, was ich eine Farce finde, Herr Kollege?
Dass Sie nicht in der Lage waren, mit Grün, mit anderenKoalitionspartnern eine ordentliche Evaluierung ins Ge-setz zu schreiben. Wenn wir es jetzt besser machen alsSie, dann ist es ein Erfolg. Eine Farce ist Ihre Gesetzge-bung und nicht unsere Evaluierung. Das muss ich hierdeutlich sagen. Man muss auch einmal in die Geschichteschauen.
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10156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Gisela Piltz
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– Jetzt ist es auch einmal gut. Wenn Sie eine Frage ha-ben, dann stellen Sie sie ordentlich, so wie der KollegeWieland. Stellen Sie sich meiner Antwort, und quakenSie hier nicht andauernd dazwischen!
– Jetzt ist es aber auch gut.Eines muss man auch sagen: Wenn Sie den Koali-tionsvertrag einmal anschauen, dann werden Sie sehen,dass wir keine Verschärfung von Sicherheitsgesetzenplanen. Ganz gleich, was Sie uns vorwerfen, wir planendas nicht. Das muss man hier auch deutlich sagen.
Das heißt auch, dass wir bei allen Gesetzesvorhaben dieVerhältnismäßigkeit lieber direkt prüfen und dies nichtauf nachfolgende, möglicherweise andere Mehrheitenverschieben. Wir stellen uns bei den Grundrechten derVerantwortung und lassen nicht hinterher jemand ande-ren prüfen.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ichmich schon darauf freue, mit Ihnen darüber zu diskutie-ren, ob Maßnahmen, die Sie den Sicherheitsbehördenüberhaupt erst ins Gesetz geschrieben haben, verlängertwerden sollten oder nicht. Ich meine eine Diskussion aufder Grundlage der von der schwarz-gelben Koalition inAuftrag gegebenen Evaluation mit Blick auf Zweckmä-ßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Ich freue mich auf eineernsthafte Diskussion mit der Opposition, und ich hoffe,sie gerät nicht zur Farce.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Jan Korte von der Fraktion Die
Linke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist schon interessant, was heute aus den Reihen der Ko-alition so alles geboten wird. Ich muss sagen, der ge-stellte Antrag ist in der Tat sehr sinnvoll. Ich glaube, daskann man erst dann richtig würdigen, wenn man sich an-schaut, welche Eingriffe in die Bürgerrechte in den letz-ten Jahren stattgefunden haben. Die Gesamtsumme derEingriffe zeigt in der Tat, dass wir dringend eine Evalu-ierung brauchen, weil Evaluierung immer auch ein Stückweit Selbstkorrektur – man könnte auch sagen, Selbst-kritik; wie auch immer – bedeutet. Wir brauchen näm-lich eine Abrüstung nach innen und außen. Das ist ange-messen.
Der Kollege Wieland hat das Beispiel schon genannt.Es ist ein relativ lustiger Vorgang, dass, ich sage einmal,die härtesten Innenpolitiker ihre härtesten innenpoliti-schen Gesetze evaluieren, überprüfen und – potz Blitz! –zu der Erkenntnis kommen, dass die Ergebnisse spitzesind und man sogar noch viele neue braucht. Das ist inetwa so, als sollte sich die CDU/CSU-Fraktion in der Öf-fentlichkeit selbst im Hinblick darauf evaluieren, wieihre Politik ist. Sie ist natürlich nachweislich schlecht,aber Sie werden logischerweise sagen, dass sie gut ist.So kann man nicht seriös evaluieren. Das muss unabhän-gig geschehen.
Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel dafür nen-nen, dass man schon von hier aus evaluieren kann. Wirerinnern uns an die harten Debatten, die wir zur Befug-nis der Onlinedurchsuchung im BKA-Gesetz geführt ha-ben. Das ist nun recht interessant. Wir wollten konkretevaluieren und haben eine Kleine Anfrage an die Bun-desregierung gestellt. Nachdem die Onlinedurchsuchungin das BKA-Gesetz aufgenommen worden ist, wolltenwir wissen: Wie oft hat das BKA eigentlich eine Online-durchsuchung durchgeführt? Von der Bundesregierung ha-ben wir die Antwort bekommen – das ist wirklich toll –:Inder Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 21. Mai 2010, alsorund ein Jahr, wurde keine einzige Onlinedurchsuchungdurchgeführt. – Keine einzige! Wenn man eine seriöseEvaluierung durchführen würde, käme man zu folgen-dem Schluss: Das müssen wir streichen. Weg mit derOnlinedurchsuchung. Man braucht sie gar nicht. Sie ge-fährdet die Bürgerrechte. – Das wäre die richtigeSchlussfolgerung. Davor drücken Sie sich aber. Das istder Grund, weswegen Sie diesen Antrag nicht wollen.
Weshalb wollen Sie diesen Antrag nicht? Diese Frageist in der Tat sehr interessant. Wir brauchen eine Evalu-ierung der beiden Pole Freiheit und Sicherheit. Sind sienoch im Lot? Eine solche Evaluierung muss vor allemunabhängig sein. Wir brauchen keine harten Sheriffs ausIhren Reihen, die die Gesetze überprüfen, sondern Bür-gerrechtler, unabhängige Rechtsanwälte, Journalistenund viele andere. Die Bürger- und Persönlichkeitsrechtemüssen ebenfalls evaluiert werden, um herauszufinden,inwieweit sie in Mitleidenschaft gezogen worden sind
bzw. nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind;auch das ist möglich.Ganz sicher ist das – das haben wir jetzt mehrfach ge-hört; das richtet sich auch an diejenigen, die im Innen-ausschuss sitzen –: Wir müssen evaluieren, wie die Si-cherheitslage in der Innenpolitik aussieht; denn darauffußt eine seriöse Gesetzgebung. Wir bekommen ständigTerrorwarnungen. Zum Glück ist dies seltener gewor-den. Es war dennoch erst kürzlich der Fall. Das Problem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10157
Jan Korte
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ist, dass man nicht überprüfen kann, wie groß die Gefahrwirklich ist. Wie will man da sachlich über solche Geset-zesvorhaben reden? Deswegen sind Sie in der Pflicht,endlich offenzulegen, wie die Sicherheitslage ist. Erstdann kann man solche Gesetzesvorhaben seriös behan-deln.
Natürlich werden wir diesen Antrag unterstützen. Ei-nes will ich den Grünen aber noch mit auf den Weg ge-ben.
Noch besser, Kollege Wieland, als Evaluierungsdebattenzu führen, wäre es für die Grünen, solch schlechten Ge-setzesvorhaben erst gar nicht zuzustimmen. Dann brau-chen wir sie nämlich nicht zu evaluieren.
Die Linke stimmt so etwas niemals zu.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3687 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung einer Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung zu einem Antrag auf
Genehmigung zur Durchführung eines Straf-
verfahrens
– Drucksache 17/4680 –
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4680, die Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Republik Serbien andererseits
– Drucksache 17/3963 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses
– Drucksache 17/4500 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
Marieluise Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Debatte am 8. Oktober 2010 hat sich der DeutscheBundestag fraktionsübergreifend für eine Weiterleitungdes serbischen EU-Beitrittsantrags an die EuropäischeKommission ausgesprochen. Damit wurde das bekräf-tigt, was unserer europäischen Überzeugung entspricht:Wir wollen die Überwindung der Teilung Europas voll-enden. Dazu gehört die EU-Perspektive für die Länderdes westlichen Balkan.
Das gilt natürlich auch für Serbien. Es steht außer Frage,dass ein rechtsstaatliches und demokratisches Serbienseinen Platz in der europäischen Familie hat.Heute steht im Bundestag die Entscheidung über ei-nen weiteren wesentlichen Zwischenschritt auf diesemWeg nach Europa an. Es geht um die Ratifizierung desStabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. DiesesAbkommen ist ein wesentlicher Bestandteil des Stabili-sierungs- und Assoziierungsprozesses. Das ist ein Pro-zess, den die Europäische Union nach den Kriegen imehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen hat. DieserProzess bildet nach wie vor den Kompass für Stabilitätund nachhaltige Reformen in der Region, gerade weil ereine nachhaltige Perspektive beinhaltet.Serbien bekennt sich in dem Stabilisierungs- und As-soziierungsabkommen zu den europäischen Werten:Menschenwürde, Demokratie, Schutz von Minderheiten,Rückkehrrecht der Flüchtlinge, uneingeschränkte Zu-
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Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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sammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshoffür das ehemalige Jugoslawien und Entwicklung gut-nachbarlicher Beziehungen. Das sind große, das sind ge-wichtige Worte, wenn man an die Geschichte dieser ge-schundenen Region Europas denkt. Das alles in dieRealität umzusetzen, wird kein Selbstläufer sein; das istnoch ein langer Weg.Das Abkommen bietet die Grundlage für eine schritt-weise Angleichung des serbischen Rechts an den EU-Acquis. Es eröffnet in vielen Bereichen eine intensiveund umfassende Zusammenarbeit zwischen Serbien undder EU, auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Nach erfolg-reicher Umsetzung des Abkommens wird Serbien einenerheblichen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandesder Europäischen Union übernommen haben. Das isteine notwendige, wenngleich noch längst nicht hinrei-chende Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäi-schen Union.Die europäische Perspektive bleibt der wirksamsteHebel für unumkehrbare Reformen in Serbien und dergesamten Region. Die Europäische Union steht zu ihreneingegangenen Verpflichtungen und erwartet umgekehrt,dass Serbien vor einem Beitritt zur Europäischen Unionalle Kriterien für eine Mitgliedschaft uneingeschränkterfüllt. Meine Damen und Herren, da dürfen wir unsnichts vormachen: Das ist noch ein längerer Weg. Wirmüssen aus der Geschichte der europäischen Erweite-rungspolitik lernen und auf der Einhaltung der klar for-mulierten Erwartungen an einen Beitrittskandidaten be-stehen.Serbien muss unter Beweis stellen, dass es nicht nuranspruchsvolle Reformagenden abhandeln kann, son-dern auch die Werte der Europäischen Union in vollemUmfang teilt und dafür eintritt, übrigens nicht nur zumZeitpunkt des Beitritts, sondern auch danach, wenn manin das europäische Haus eingezogen ist.
Hierzu gehören auch – das ist ganz zentral – das Eintre-ten für Versöhnung, regionale Zusammenarbeit und gut-nachbarliche Beziehungen. Hierauf werden wir und wirddie Kommission ein waches Auge richten müssen.Um im Prozess der Versöhnung auch in Bezug aufKosovo weiterzukommen, erwarten wir, dass der Dialogzwischen Belgrad und Pristina über praktische Fragen sobald wie möglich beginnt und konstruktiv geführt wird.Auch bei den Beziehungen zu einem anderen Nach-barstaat, nämlich Bosnien und Herzegowina, mussSerbien deutlich zeigen, dass es die konstruktiven undkompromissorientierten Kräfte unterstützt und sich un-zweideutig für die europäische Zukunft eines ungeteiltenBosnien und Herzegowina einsetzt.
Die Grenzen auf dem Balkan sind endgültig gezogen.Der Internationale Gerichtshof hat im letzten Jahr bestä-tigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovonicht gegen Völkerrecht verstoßen hat. Auch Kosovo hateine europäische Perspektive. Diese müssen wir eben-falls voranbringen, soll das Land kein Hort der Instabili-tät in Europa werden. Ich sage klar: Wir erwarten vonSerbien, dass es diese Perspektive, so schwierig sie seinmag, nicht blockiert.
Offene bilaterale Fragen dürfen nicht erneut in die Euro-päische Union importiert werden, will die EuropäischeUnion ihre Handlungsfähigkeit bewahren. Auch hier ha-ben wir aus den Erfahrungen gelernt.Serbien hat den richtigen Weg eingeschlagen. Nichtzuletzt in New York im letzten Herbst ist es mit großempersönlichen Engagement auch von europäischen Au-ßenministern wie William Hague, Guido Westerwelleund Cathy Ashton gelungen, eine gemeinsame Resolu-tion auf den Weg zu bringen, die nicht neue Gräben auf-reißt.Auch die jüngsten Gesten zwischen dem serbischenund dem kroatischen Staatspräsidenten stimmen hoff-nungsfroh. Der Besuch von Präsident Tadic in Vukovar,die Resolution des serbischen Parlaments zu Srebrenicaund das serbische Bekenntnis zur territorialen IntegritätBosniens zeigen, dass der Weg zur Versöhnung begangenwerden kann. Serbien – allen voran Präsident Tadic – hatden Mut bewiesen, diese Schritte zu gehen. Dass das in-nenpolitisch nicht leicht war, ist uns allen bewusst. Nunmüssen weitere mutige Schritte folgen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitder Ratifizierung des vorliegenden Abkommens, die wirgleich vornehmen, kommt Serbien einen Schritt näher andie EU heran. Ich denke, das ist für Serbien gerade in deraugenblicklichen Situation ein ganz wichtiges Zeichender Ermutigung. Die Situation in Serbien ist ja nun weißGott nicht goldig. Serbien wurde sehr stark von der Wirt-schaftskrise getroffen. Die Arbeitslosigkeit beträgt26,7 Prozent, die Löhne sinken, und der IMF verlangtsogar noch weitere schmerzliche Reformen, auch undbesonders in Form von Einsparungen im öffentlichenDienst, was wiederum sinkende Löhne mit sich bringt.Die Ärzte und das Klinikpersonal streiken, sie gehen aufdie Straße und drohen mit weiterem Ausstand, weil ihrVerdienst nicht ausreicht, um einen anständigen Lebens-unterhalt zu sichern. Es ist ja verständlich, dass mansich, wenn sich die Zukunftsperspektiven verschlech-tern, große Sorgen macht. Darum ist es wichtig, jetzt zuschauen, wie eine positive Stimmung entstehen kann.Dass es dazu kommt, ist, wie ich glaube, dringend not-wendig.
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Uta Zapf
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Gerade in den letzten Tagen sind, wie wir aus einigenInformationsquellen entnehmen konnten, 70 000 Natio-nalisten unter Führung von Tomislav Nikolic auf dieStraße gegangen und haben Neuwahlen verlangt. Siefordern: „Change!“, und werfen der Regierung Unfähig-keit und Korruption vor. Nun wissen wir, dass Korrup-tion in Serbien in der Tat ein Problem ist. Wir hattenheute ein Gespräch mit dem serbischen Botschafter, dergesagt hat: Korruption ist eines unserer größten Pro-bleme, aber Präsident Tadic nimmt es sehr ernst. Es gibteine Antikorruptionsbehörde, die aber zu wenig Befug-nisse und zu wenig Instrumente hat. Der Präsident selbsthat allerdings den Arzt seiner Kinder, nachdem er ge-merkt hat, dass dieser korrupt ist und Bestechungsgeldnimmt – weil er zu wenig verdient, aber auch lebenmöchte –, vor Gericht gebracht. – Man ist also davonüberzeugt, dass es nötig ist, diese Korruption zu be-kämpfen, und bemüht sich glaubhaft darum.Ich denke, es ist in diesem Fall nicht angebracht, im-merfort nur auf Tunesien und Ägypten zu verweisen, wiees Herr Nikolic gemacht hat. Er bedient sich bei seinerForderung nach Neuwahlen des Vorwurfs, dass trotzproeuropäischer Einstellung der Regierung die Anbin-dung an die EU nur schleppend vorangehe. Auch unterdiesem Gesichtspunkt wäre es jetzt an der Zeit, die pro-europäischen Maßnahmen durch einen entsprechendenSchritt zu honorieren.Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommissionwerden die Fortschritte Serbiens auf dem Weg zur EUhervorgehoben. Laut der Schlussfolgerungen des Ratesvom 25. Oktober 2010 hat die Kommission mit den Vor-bereitungen einer Stellungnahme zum BeitrittsantragSerbiens begonnen, die 2011 veröffentlicht werden soll.Der Botschafter hat heute sehr deutlich signalisiert, dassman nicht nur hofft, dass die Stellungnahme positiv aus-fällt, sondern auch, dass ein Termin für die Aufnahmevon Beitrittsverhandlungen genannt wird. Ich denke,dies wäre eine sehr große Ermutigung in einer dochschwierigen Lage, die sich wohl nicht so schnell bessert.Trotz der Bescheinigung, dass Serbien Fortschrittebei der Erfüllung der politischen Kriterien gemacht hat,bleibt in wichtigen Feldern natürlich noch viel zu tun.Ich habe die Bekämpfung von Korruption schon er-wähnt. Weiterhin ist eine Justizreform umzusetzen; eineReform der öffentlichen Verwaltung ist auf den Weg zubringen; es muss die organisierte Kriminalität bekämpftwerden usw. Die serbische Regierung hat aber schon ei-nen entsprechenden Aktionsplan beschlossen und diesenauch in Brüssel vorgelegt. Dieser ist sehr umfangreichund geht auf alle Erfordernisse ein. So kann man in derTat sagen: Es gibt ein ernsthaftes, aufrichtiges Bestrebendieser Regierung. Nikolic dagegen, der bei Wahlen im-mer noch gute Ergebnisse erzielt, allerdings keine Koali-tionspartner findet, versucht, diese schwierige Situationals Hebel zu benutzen, um die Regierung zu stürzen. Fürdie Serben kann der Weg nicht sein, in eine wirklich un-übersichtliche Situation zu kommen.Was noch aussteht, ist die sichtbare Zusammenarbeitmit dem Strafgerichtshof; das wurde schon erwähnt.Noch immer sind Ratko Mladic und Goran Hadzic auffreiem Fuß. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, wennman endgültig über Beitrittsverhandlungen entscheidet.Aber das wissen die Serben selbst, und es bleibt dieHoffnung.Die Hoffnung, dass die Probleme überwunden wer-den, bleibt auch in einem anderen schwierigen Punkt,nämlich in der Frage des Kosovo, der Gerichtsentschei-dung und der Akzeptanz der Resolution, die nach etwasschwierigem Ringen gelungen ist. Das, was vereinbartwurde, kommt jetzt auf den Weg. Ich hoffe, dass die Ge-spräche mit dem Kosovo bald beginnen werden. Es gabjedenfalls Meldungen, dass sich die Gruppe jetzt for-miert hat.Herr Füle hat mit Recht Folgendes gesagt, als die EU-Kommission den Bericht angenommen hat:Serbien hat seinen Platz in der EU. Die Tür ist of-fen, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. …Wir messen Serbien eine zentrale Rolle für denAussöhnungsprozess und eine positive regionaleZusammenarbeit im Westlichen Balkan bei.Aber sie werden das nicht ganz alleine schaffen kön-nen. Ich finde, wir müssen auch einen Blick auf die Eu-ropäische Union werfen, die verschlungen ist in Diskus-sionen über den Euro, über die Finanzkrise und über ihreOrientierung und die vergessen hat, dass die Europäi-sche Union insgesamt ein Projekt des Friedens, ein Pro-jekt der Stabilität und ein Projekt der Reformen zur De-mokratisierung, zur Kooperation, zur Aussöhnung ist.Wir haben das den Westbalkanländern 2003 in Thessalo-niki angeboten und haben es immer wieder bestätigt.Aber es ist doch kontraproduktiv, wenn dann die CDU inihr Programm schreibt: Kroatien wird selbstverständlichnoch aufgenommen, aber dann ist Schluss. – Das kannnicht sein. Damit ermutigen wir niemanden. Damit er-mutigen wir Serbien nicht. Damit ermutigen wir aberauch andere Länder nicht, die im Moment in ihrem Inne-ren jede Menge Schwierigkeiten haben, diese Perspek-tive als Anreiz für die Entwicklung weiterer Reformenund zum weiteren Fortschreiten in Demokratisierungs-prozessen zu nehmen.Wir haben schwere Probleme in Mazedonien, nichtnur weil die Griechen im Namensstreit stur sind, sondernweil auch die Mazedonier stur sind und eher auf nationa-listische Töne ausweichen, als sich im Reformprozesstatsächlich einmal weiterzubewegen.Auch Montenegro, das von der Europäischen Kom-mission eine gute Beurteilung bekommen hat, ist meinerAnsicht nach schwer reformbedürftig, was zum Beispieldie Behandlung der Presse, die Frage der Korruption unddie Frage der organisierten Kriminalität, die bis in dieobersten Etagen der politischen Elite reicht, betrifft.Wir haben sehr viel zu tun. Aber wenn wir diesenEntmutigungsprozess gerade in den eigenen Reihen, inder Europäischen Union nicht aufhalten, dann haben wirvergessen, wozu die Europäische Union eigentlich ge-gründet worden ist und welche positiven Effekte es füruns und auch für andere gegeben hat und dass es Zeit ist,dass sich die Europäische Union wieder auf ihre Glaub-
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Uta Zapf
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würdigkeit besinnt, um das Friedensprojekt wirklich sta-bil weiterzuführen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Beyer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor siebenWochen haben wir in erster Lesung unsere Reden zuProtokoll gegeben. Ich halte es für eine gute Sache – esist an der Zeit –, dass wir heute über den Tagesordnungs-punkt debattieren.Die Beziehungen zu Serbien, einem Schlüsselstaatdes Balkans, sind von herausgehobener Bedeutung. Diegemeinsame deutsch-serbische Vergangenheit war nichtimmer einfach. Insbesondere im kulturellen Bereich abersind die Beziehungen mit einer langen Tradition verse-hen. Beispielsweise haben im vergangenen Herbst inBelgrad die Deutschen Tage stattgefunden. Im Rahmender Deutschen Tage wurden rund 90 Veranstaltungen ausden Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft und Jugend an-geboten. Im nächsten Monat, im März, ist Serbien sogarSchwerpunktland der Leipziger Buchmesse. Mehr undmehr Literatur und Buchtitel werden aus dem Serbischenübersetzt; das sorgt hierzulande für einen steigenden Be-kanntheitsgrad. Es tut sich also etwas.Meine Damen und Herren, es muss sich auch etwastun; denn die Situation in Serbien ist, wie Frau KolleginZapf so treffend formuliert hat, „weiß Gott nicht goldig“.Die Finanznot ist groß; die Regierung muss tagtäglicheinen Balanceakt am Rande eines Staatsbankrotts hinbe-kommen. Viele Menschen in Serbien leben an derGrenze zum Existenzminimum. Circa 1 Million Men-schen hat keine Arbeit bzw. kann von der Arbeit, die sieausüben, nicht in Würde leben.Es war mithin nur eine Frage der Zeit, bis auch dergeduldige Bürger auf die Straße gegangen ist. So ge-schah es am vergangenen Samstag: Zehntausende De-monstranten sind durch Belgrads Innenstadt gezogen. Eswar die größte Oppositionskundgebung seit vielen Jah-ren, ein lautstarker Protest gegen Arbeitslosigkeit undsoziale Missstände im Lande. Die Demonstranten zogensodann vor das Parlamentsgebäude, übten dort heftigeKritik an der eigentlich proeuropäischen Regierung undverlangten Neuwahlen.Es ist bemerkenswert, dass bei alldem keine Kritik amKurs der Annäherung Serbiens an die EU zu vernehmenwar. Das belegen auch die Umfragen in Serbien: Über50 Prozent der Bevölkerung unterstützen den angepeil-ten Beitrittsprozess. Dabei ist es insbesondere erfreulich,dass gerade die junge Generation im Prozess der Annä-herung an die EU eine Chance für die Zukunft sieht.An allem, was man beobachten kann, erkennt man,dass die serbische Regierung mit Hochdruck an der Um-setzung des EU-Fahrplans für ihr Land arbeitet. Erst vorwenigen Tagen – auch meine Vorredner wiesen daraufhin – hat das Land die Antworten auf die Fragen des um-fangreichen Fragebogens zur Beitrittsbereitschaft desLandes an die Europäische Kommission übersandt. Sowerden Vertreter der Kommission, ebenso Parlamenta-rier aus unseren Reihen in den nächsten Wochen nachSerbien reisen und sich vor Ort informieren. Die Stel-lungnahme der Kommission wird für den Herbst diesesJahres erwartet.Dabei ist schon jetzt klar: Der Weg Serbiens in die EUist noch lang. Der Fortschrittsbericht der EuropäischenKommission hat die Palette der Problemfelder klar be-nannt: Korruption, organisierte Kriminalität, mangelndeFunktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen,ausstehende Klärung von Eigentumsrechten, ungeklärterStatus von Flüchtlingen, unzureichende Bekämpfung desSchwarzmarktes. Das ist nur eine Auswahl. Ich benenneausdrücklich zwei weitere Punkte.Erstens. Die uneingeschränkte Kooperation Serbiensmit dem Internationalen Strafgerichtshof ist einzufor-dern. Serbien arbeitet wahrnehmbar an der historischenAufarbeitung der Rolle, die das Land beim Auseinander-fallen des jugoslawischen Staates gespielt hat. PräsidentBoris Tadic hat Ende letzten Jahres nicht nur Zagreb be-sucht, sondern auch Vukovar, zusammen mit seinemkroatischen Amtskollegen Ivo Josipovic. Das ist ein star-kes Signal der Versöhnung an dem Ort, der so sehr fürdie Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländernsteht. Auch in Srebrenica hat Tadic Verantwortung über-nommen. All das wird auch auf internationalem Parkettsehr wohl registriert. Dennoch müssen wir auch mitBlick auf den Internationalen Strafgerichtshof endlichkonkrete Schritte einfordern, die sodann folgen müssen.Zweitens. Ich nenne die Regelung der Beziehungenzum Kosovo. Der ungelöste Konflikt ist auch für Serbieneine Belastung. Schwierige bilaterale Fragen sind zu lö-sen: die Frage des Wirtschaftsverkehrs, aber auch dieFrage der Klöster. Diese Fragen, so schwierig sie auchimmer sein mögen, müssen gelöst werden. Sie könnenaber nur dann gelöst werden, wenn das gegenseitige Ver-trauen zwischen Serbien und Kosovo erheblich wächst.Meines Wissens sind direkte Gespräche zwischen Bel-grad und Pristina in der konkreten Planung. Jedenfallshat die serbische Regierung mit Borislaw Stefanovic erstkürzlich ihren Delegationsleiter benannt. All dies lässthoffen. Aber auch Serbien muss wissen, dass es eine Lö-sung ohne Zugeständnisse, ja, auch ohne schmerzhafteZugeständnisse nicht geben kann. Serbien wartet aufeine konkrete zeitliche Perspektive für den EU-Beitritts-prozess. Das ist legitim. So weit ist Serbien im Momentaber noch nicht. Die skizzierten Probleme, die ich an-sprach, müssen vor einem Beitritt geklärt und gelöstwerden. Das ist schon allein deshalb nötig, um die füreine neuerliche EU-Erweiterung wichtige Akzeptanz derBürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union zu sichern.
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Peter Beyer
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Die Vorgeschichte und der Beitrittszeitpunkt Bulga-riens und Rumäniens können bei all dem jedenfalls nichtals Vorbild dienen. Am Ende des Tages gelten für Ser-bien wie übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiran-ten die gleichen Kriterien. Kein Beitrittsland darf zeit-lich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur beistrikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien.Das ist Voraussetzung. Es muss das Motto gelten: Werbeitritt, muss beitragen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! In der ersten Beratung am16. Dezember 2010 haben alle Fraktionen bis auf dieLinke das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommenmit Serbien als wichtigen Schritt und große Chance fürSerbien bezeichnet.
Ein wichtiger Schritt wohin, Herr Stinner, und einegroße Chance für wen?Die Linke sagt Ihnen, was für ein Schritt das Stabili-sierungs- und Assoziationsabkommen ist. Es bedeutetschlicht eine Unterstützung von Liberalisierung, Dere-gulierung und auch Privatisierung. Das Abkommen istAusdruck einer Politik, die die Europäische Union undzahlreiche ihrer Mitgliedstaaten in eine schwere Krisegeführt hat. Die Lage für die serbische Bevölkerung istbereits jetzt desaströs. Infolge eines noch schärferen Li-beralisierungskurses werden sich die Massenarmut unddie Massenarbeitslosigkeit in Serbien aber noch weitervergrößern.
Die Linke fordert deshalb eine Abkehr von diesemCrashkurs. Was sich in der EU als falsch erwiesen hat,können wir nicht ernsthaft exportieren wollen.
Das Abkommen sei eine Chance für Serbien, heißt esbei Ihnen. Eine Chance für wen? Die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in Serbien können damit jedenfallsnicht gemeint sein. Ihre Lage ist schon jetzt katastrophal.Das gilt insbesondere für diejenigen, die in deutschenUnternehmen beschäftigt sind, zum Beispiel für die Mit-arbeiter des deutschen Unternehmens Dräxlmaier in derVojvodina. Sie beklagen in dem Betrieb, der Kabel unteranderem für Audi, Mercedes-Benz, BMW und VW her-stellt, schlimmste Arbeitsbedingungen. Die Unterneh-mensleitung geht mit üblen Methoden gegen die gewerk-schaftlich aktiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor.So wurde zum Beispiel eine sogenannte gelbe Gewerk-schaft installiert, um den gewerkschaftlichen Kampf derBeschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen zu behin-dern. In einem Schreiben wandte sich der zweitgrößteGewerkschaftsdachverband Serbiens – SLOGA – an diedeutschen Kollegen von IG Metall und BMW. Sie for-derten Solidarität gegen – ich zitiere – „Willkür, Über-heblichkeit, Arroganz und Verstoß gegen Gesetze“ ein.Ich frage mich: Warum unternimmt die Bundesregierungnichts dagegen?
Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn deutscheUnternehmen die Rechte von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern und gewerkschaftliche Rechte mit Füßentreten, auch nicht, wenn das in Serbien der Fall ist. Des-halb steht die Linke auch an der Seite der Beschäftigtenin Serbien.
Derzeit wird Druck von IWF, EU und Deutschlandgemacht für ein Gesetz zur Privatisierung kommunalerBetriebe in Serbien. Dieser Druck soll jetzt noch weitererhöht werden. Meine Damen und Herren, das ist einefalsche Politik.Bereits bis zum 31. März 2011 soll die serbische Tele-kom an einen ausländischen Investor verkauft werden.Die Deutsche Telekom AG nimmt an diesem Privatisie-rungsverfahren teil und wird als möglicher Käufer ge-handelt.
– Sie sagen „bravo“. Das zeigt, was Sie für einen volks-wirtschaftlichen Sachverstand haben.
Die serbische Telekom ist das erfolgreichste Unter-nehmen in Serbien und erwirtschaftet jedes Jahr Ge-winne. 2009 waren es 197 Millionen Euro. Für wen istdas also eine Chance? Das ist mit Sicherheit keineChance für diejenigen, die infolge dieser Privatisierun-gen ihren Job verlieren werden und schlechtere Arbeits-bedingungen hinnehmen sollen.Deshalb denken wir, dass das, was schon bisher ge-schehen ist, eine falsche Politik ist. Dieses Abkommen,das mehr Privatisierung, mehr Deregulierung und mehrLiberalisierung beinhaltet, ist eine Fortsetzung dieserfalschen Politik. Deshalb fordern wir eine Umkehr.
In diesem Zusammenhang ist es völlig inakzeptabel,dass Druck auf Serbien hinsichtlich der Statusfrage desKosovo ausgeübt werden soll. Das zeigt, wes GeistesKind die Bundesregierung ist. Sie hat sich zum Führerder sogenannten Kosovo-Regierung, Hashim Thaci, bis-her nicht klar geäußert. Thaci wird in einem Bericht des
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Sevim Daðdelen
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Sevim DağdelenEuroparats schwerster Kriegsverbrechen und kriminellerMachenschaften beschuldigt. Warum ignoriert die Bun-desregierung diesen Bericht, der von einem SchweizerLiberalen, von Dick Marty, stammt, der auch schon denBericht zu den CIA-Folterflügen angefertigt hat? Wirkönnen den Grund nur vermuten.
Man steht in Nibelungentreue zu diesem Mann, der ei-nem auch während des NATO-Angriffskrieges gegenJugoslawien gute Dienste geleistet hat.Frau Beck, auch von Ihnen höre ich nichts. In IhrerHaltung zu Thaci zeigt sich, dass sowohl die schwarz-gelbe Koalition als auch Rot-Grün weiter nicht bereitsind, über die Leichen im Keller der deutschen Außen-politik zu sprechen.
Die Linke ist der Meinung, dass das inakzeptabel ist.Es ist Zeit für eine demokratische, friedliche und auchsoziale Außenpolitik. Das ist möglich, meine Damenund Herren, auch wenn es der Umkehr sowohl der Bun-desregierung als auch der SPD und insbesondere derGrünen bedarf.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich ab-
schließend meine Freude über die Meldung ausdrücken,
dass der Rücktritt von Mubarak heute anstehen wird. Ich
hoffe, das wird so geschehen. Meine Damen und Herren,
Mubarak ist ein Mann, den Sie jahrzehntelang unter-
stützt haben. Ich denke, eine andere Außenpolitik ist
mehr als nötig.
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck vonBündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte für die Bürgerinnen und Bürger in Serbien kurzfesthalten: Die Linke ist der Meinung, dass sie es besserweiß als weite Teile der serbischen Bevölkerung; die ser-bische Bevölkerung sei im Irrtum, wenn sie in die Euro-päische Union möchte.
Sie sorgen dafür, dass sie draußen bleiben. Dass Sie sichdamit immer an der Seite von nationalistischen Kräftenbefinden, ist allerdings ein Problem Ihrer Politik.
Wir Grünen unterstützen die Ratifizierung des Stabili-sierungs- und Assoziationsabkommens für Serbien.
Allerdings sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dassSerbien in der Tat noch einen sehr langen Weg vor sichhat und sich zudem in einer sehr schwierigen innenpoli-tischen Lage befindet.Die serbische Regierung tut sehr viel zu Respektie-rendes. Sie bekennt sich zur EU-Perspektive. Sie be-kennt sich zu einer konstruktiven Rolle in der Region.Da ich sowohl 2005 als auch 2010, als Präsident Tadic inPotocari an der Gedenkstätte am 11. Juli aufgetreten ist,dabei war, kann ich sagen, dass das ein sehr bewegenderMoment war und dass das für die Menschen und die Op-fer von Srebrenica überaus wichtig war.Es gibt aber eine Spaltung in der serbischen Gesell-schaft. Insofern ist Präsident Tadic immer auch geneigt,Konzessionen zu machen, die hochproblematisch sind.Dazu gehört die schwer nachvollziehbare Entscheidung,mit Präsident Dodik gemeinsam Wahlkampf zu machenund sich gemeinsam mit Biljana Plavsic abbilden zu las-sen, die die rechte Hand von Radovan Karadzic gewesenist.Auch in der Kosovo-Frage ist die serbische Politiknicht eindeutig. Offensichtlich ist der Amputations-schmerz immer noch sehr groß. Viele serbische Men-schen sagen, dass es immer noch um die Auseinander-setzung mit der eigenen Geschichte geht und um dasVerständnis, dass nicht Serbien das Kosovo verspielt hat,sondern dass es Milosevic war, der aggressiv gegen denkosovo-albanischen Teil der Bevölkerung aufgetreten istund ihnen die Autonomie genommen hat. DramatischeMenschenrechtsverletzungen und eine Apartheidspoli-tik – all das hat dazu geführt, dass sich das Kosovo letzt-lich nicht mehr unter das Dach eines gemeinsamen Staa-tes drängen lassen wollte.
Die ökonomische Situation in Serbien ist unter ande-rem deswegen so schwer, weil das Milosevic-Erbe auchin ökonomischer Hinsicht noch nicht überwunden ist. Esgibt nach wie vor seine Tycoons, die in der serbischenWirtschaft deutlich mitmischen. Sie sind es übrigens, diedie Wettbewerber aus dem Ausland abwehren, verehrteFrau Kollegin. Diese Tycoons spielen nach wie vor einezu große Rolle.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10163
Marieluise Beck
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Dass die Korruption in Serbien – wie in vielen anderenLändern des Balkans leider auch – geradezu endemischist, hat Präsident Tadic vor kurzem im Europarat selbersehr deutlich betont. Dass der Populist Nikolic das nunfür sich zu nutzen weiß, muss uns sehr sorgenvoll ma-chen. Denn er ist, auch wenn er das jetzt behauptet, nichtproeuropäisch. Dass er so deutlich sagt, die Telekomdürfe nicht verkauft werden, weil dann die Österreicherkommen würden, legt den antieuropäischen Geist offen.Er ist und bleibt ein Nationalist.
Wie gesagt, er findet sich logischerweise auf der SeiteIhrer Argumentation wieder.Noch ein Punkt, was die Frage der Konditionierungder Beitrittsperspektive anlangt. Wir sollten nicht daraufhoffen, dass es eine biologische Lösung für GeneralMladic und für Hadzic gibt.
Wir haben sehr deutlich gesagt, dass Serbien hier eineBringschuld hat. Es ist nicht nachzuvollziehen, dassdiese beiden Verbrecher in diesem vergleichsweise klei-nen Land angeblich nicht zu finden sind. Dass wir im-mer wieder Angst vor unseren eigenen Konditionenbekommen und, wenn es ernst wird, unter ihnen wegtau-chen, halte ich für heikel.
Darüber müssen wir wirklich noch einmal sprechen. Esgeht auch um einen aufrechten Gang für unsere Werte.
Entweder man setzt Konditionen oder keine; aber diesesverschwiemelte Wegtauchen ist kein guter Ausweis fürunsere EU-Politik.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt der Kollege Roderich Kiesewetter von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchteich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass der Bot-schafter der Republik Serbien heute der Debatte bei-wohnt. Ich denke, das zeigt, mit welch hohem Interessedie Republik Serbien die heutige Debatte bei uns imBundestag verfolgt.
Zweitens möchte ich auf den jugoslawischen Litera-turnobelpreisträger Ivo Andric verweisen. Er hat vorüber 50 Jahren geschrieben:Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibtes nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess isteine solche Brücke. Nach dem, was vor 20 Jahren aufdem Balkan passiert ist, reichen wir damit der RepublikSerbien die Hand. Das ist ein wunderbares Zeichen derbeginnenden Aussöhnung.Wir helfen, diese Brücke zu bauen, aber wir sagen:Wer beitritt, muss auch beitragen. Wir fordern deshalbdie Erfüllung aller Beitrittskriterien: Rechtsstaatlichkeit,Kriminalitätsbekämpfung, funktionierendes Justizwe-sen und die Zusammenarbeit mit dem InternationalenStrafgerichtshof. Aufgrund der Erfahrungen frühererBeitrittsverhandlungen sagen wir, dass das vor dem Bei-tritt geschehen muss. Wir machen das vor Ort deutlich.Erst vor kurzem war eine Delegation der ArbeitsgruppeEuropa dort; Michael Stübgen hat das angesprochen.Heute entscheiden wir darüber, ob Deutschland dieservertraglichen Bindung zwischen Serbien und der EUzustimmt. Ganz nebenbei: In unserem Land leben700 000 Menschen aus Serbien; über die Hälfte davonhat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.Die Umfragen, die der Kollege Beyer vorhin ange-sprochen hat, beinhalten einen weiteren Aspekt: Über70 Prozent der jungen Generation in Serbien wünschenden EU-Beitritt. Ich glaube, auch das ist ein wichtigesZeichen. Lassen Sie uns doch die Demonstrationen, dieletzte Woche Samstag in Belgrad stattfanden, auch alsZeichen des Reformwillens und der erstarkenden Demo-kratiebewegung sehen. Es sind notwendige Reformen.Ich glaube, seit der Debatte am 8. Oktober letzten Jahreshaben auch wir etliche Fortschritte zu verzeichnen. Ichmöchte einige nennen.Erstens gibt es den Aktionsplan, mit dessen Umset-zung die Republik Serbien im Dezember letzten Jahresbegonnen hat.Zweitens liegt der Bericht der staatlichen Antikorrup-tionsbehörde vom letzten Monat vor. Diese Behörde, dieunabhängig ist, prangert systematische Korruption inSerbien an. Die Regierung hat zum Beispiel die Gehälterder Richter erhöht, damit sie unabhängig werden, undfestgestellt, dass Bildung, Gesundheitswesen, Polizeiund auch das Gerichtswesen intensiver Arbeit und Nach-sorge bedürfen; das hat auch Präsident Tadic erkannt. Esist gut, dass das offen angesprochen werden kann.Ein dritter Punkt ist – auch als Folge der Stellung-nahme von Herrn Brammertz –, dass Präsident Tadic imJanuar dieses Jahres vor dem Europarat noch einmal dieZusage gegeben hat, mit dem Internationalen Strafge-richtshof intensiver zusammenzuarbeiten. Ich glaube,
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Roderich Kiesewetter
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das ist das klare politische Signal, das der UN-Chef-ankläger gefordert hat.Noch ein weiterer Punkt lässt hoffen: Die RepublikSerbien hat der Europäischen Kommission innerhalbkürzester Zeit, nämlich von November letzten Jahres bisEnde Januar dieses Jahres, 2 480 Fragen beantwortet.Die ersten Signale aus Brüssel sind erfreulich.Ich möchte auf zwei weitere Aspekte eingehen, die indieser Debatte bisher nicht erwähnt worden sind. DieMittel, die die Republik Serbien als Instrument für dieHeranführungshilfe von der EU erhält, umfassen etwa200 Millionen Euro. Von 2007 bis zum Jahr 2012 sinddas rund 1,2 Milliarden Euro, mit denen die EU diesenProzess unterstützt. In diesem Jahr sind es 190 MillionenEuro.Als potenzieller Kandidat, also jetzt, kann Serbiendiese Mittel nur für den Aufbau der Verwaltung und fürdie grenzüberschreitende Zusammenarbeit einsetzen;dass sie wichtig ist, wurde bereits vorhin eindrucksvolldargelegt. Aber entscheidend ist: Wenn Serbien einenKandidatenstatus hat, dann sind die Mittel umfassendereinsetzbar. Es gibt zwar nicht mehr Mittel, aber sie kön-nen wesentlich flexibler eingesetzt werden: für regionaleEntwicklung, für Umweltschutz und, wie auch die De-monstrationen gezeigt haben, für sozialen Zusammen-halt. Dann können die Gelder auch gezielt in Gesell-schaft und Wirtschaft eingesetzt werden.Natürlich brauchen wir eine konstruktive Nachbar-schaftspolitik; Staatsminister Hoyer hat es angespro-chen. Ich finde es schade, Frau Dağdelen, dass Sie sichdie Erklärung des Staatsministers nicht angehört haben,sondern erst zu Ihrer Rede gekommen sind.
Für uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, hatSorgfalt bei der Umsetzung der Reformen und bei derErfüllung der EU-Kriterien oberste Priorität. Unsere Ab-sicht ist, dass wir weiter auf die Umsetzung der Refor-men drängen, insbesondere bei Rechtsstaatlichkeit, Kor-ruptionsbekämpfung und Investitionssicherheit.Ich möchte an dieser Stelle auch einen Appell an dieEU-Staaten, die das Abkommen noch nicht ratifiziert ha-ben, richten – es gibt noch 15 Länder, die es nicht ratifi-ziert haben, wenn wir heute zustimmen –: Stimmen Siezu! Erleichtern Sie Serbien den Weg in die EuropäischeUnion! Wir in Deutschland jedenfalls werden den Pro-zess mit Augenmerk und Aufmerksamkeit begleiten undfür die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziie-rungsabkommen stimmen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Stabilisie-
rungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien ande-
rerseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4500, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3963
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe , Sönke Rix, Petra Crone, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck
, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, son-
dern fördern – Bestätigungserklärung im Bun-
desprogramm „TOLERANZ FÖRDERN –
KOMPETENZ STÄRKEN“ streichen
– Drucksache 17/4551 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeit für Demokratie und Menschenrechte
braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in
die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen
– Drucksache 17/4664 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Wolfgang Thierse von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2002fördert die Bundesregierung eine mittlerweile vielfältige,bunte und lebendige Landschaft zivilgesellschaftlicherInitiativen und Projektträger, die sich in ihren Städten undGemeinden für eine Stärkung der demokratischen Kultureinsetzen.Diese Bundesförderung war von Anfang an vor allemvon einem Grundgedanken getragen: dem Gedanken desVertrauens. Der Bund stellte Fördermittel für zivilgesell-schaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10165
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
(B)
sie selbst am besten wissen, welche lokalen Handlungs-strategien den demokratischen Gemeinsinn am ehestenaktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebietenkönnen.Unsere Demokratie bedarf gerade in der Auseinan-dersetzung mit dem Extremismus des alltäglichen Enga-gements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es gera-dezu absurd, dass das Bundesfamilienministerium denLeitgedanken der bisherigen Programme – ich wieder-hole: Vertrauen in das demokratische Engagement derBürger – nun ins Gegenteil verkehrt.
Das Familienministerium verlangt von den Antrag-stellern, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischenGrundordnung bekennen
und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auchfür eventuelle Kooperationspartner gilt. Sie sollen alsofür die Gesinnung Dritter haften. Wer die entsprechendeErklärung nicht unterschreibe, erhalte keine Förderung.Dieses Vorgehen ist, so finde ich, demokratiepolitischfatal. Es ist kontraproduktiv.
Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung.Meine Damen und Herren von der Koalition, es gehthier nicht um das routinierte, gewissermaßen banale Ver-waltungshandeln einer Behörde, um das Kleingedrucktein Bescheiden, um Detailbestimmungen in Auflagen.Diese Extremismusklausel berührt elementare Fragender Demokratie.
Was darf der Staat von seinen Bürgern eigentlich verlan-gen? Darf er ihnen ein Bekenntnis – und sei es ein Be-kenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung –abringen? Oder muss er dies nicht vielmehr aus Respektvor dem Bürger voraussetzen?
Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfungunterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ih-rer Mitbürger zu überprüfen?
Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstesdes Deutschen Bundestages findet auf diese Fragen fol-gende Antworten – ich referiere den Befund –:Erstens. Der Staat missachte die verfassungsrechtlichgarantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits beider bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Be-kenntnis zwinge.Zweitens. Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zurGesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu ver-pflichten.
Auch im Zuwendungsrecht sei der Staat an die objektiveWerteordnung des Grundgesetzes gebunden.
So der Befund.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nichtdarum, über die Gefahren des Linksextremismus naivund blauäugig hinwegzusehen. Die Kritik richtet sichauch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstüt-zung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das istlegitim und geboten. Doch ein so deutliches und prinzi-pielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriumsgegenüber potenziell allen Bürgern können und wollensich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen.
Welche bizarren Blüten, Kollege Geis, das Vorgehendes Ministeriums treibt, zeigt ein Fall aus Sachsen. Hierwurde selbst der Stadt Riesa im Gegenzug für Förder-mittel ein Demokratiebekenntnis abverlangt.
Der Bürgermeister der Stadt unterschrieb mit großenBauchschmerzen, erklärte aber zugleich, er könne undwolle mit seiner Unterschrift keinesfalls für die beidenNPD-Abgeordneten in seinem Stadtrat bürgen.
So können Sie es in der Sächsischen Zeitung vom12. Januar dieses Jahres nachlesen. Man fragt sich beidieser Sachlage, warum die liberale Justizministerin undihr Staatssekretär, warum Bürgerrechtsliberale, wenn essie denn noch gibt, dies alles stillschweigend ertragen,ja, mittragen.
Die Reaktionen sind – nicht nur bei den Betroffenen –sehr eindeutig. Die Kritik kommt von allen Seiten. Nurein Beispiel: Der Generalsekretär des Zentralrats der Ju-den, Stephan Kramer, erklärte gestern in der Bundes-pressekonferenz – ich zitiere –:Die Extremismusklausel der Bundesregierung istein Symbol für den Überprüfungswahn, die Büro-kratisierung und schließlich das Misstrauen dieserRegierung und damit von Teilen der konservativ-liberalen Politik in die eigenen Bürger.
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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(B)
Frau Schröder verlangt ein Bekenntnis zum Grund-gesetz und verliert dabei das Wesentliche aus demBlick.
Die Tatsache, dass so viele Menschen in unseremLande aufstehen und sich gegen Nazis und Rechts-extremisten engagieren, ist das deutlichste undemotionalste Bekenntnis zum Grundgesetz und zurfreiheitlich-demokratischen Grundordnung, was esüberhaupt nur geben kann.
Kramer sagte weiter:Wer das nicht sieht, wem das nicht Bekenntnis ge-nug ist, der hat wirklich nicht verstanden, was Bür-gergesellschaft und Demokratie ausmacht.
Herr Kramer hat vollständig recht.Das ist nur ein Beispiel von vielen für die Kritik andem, was Sie hier vorhaben. Ich sage das im Hinblickauf viele, die sich mit ihrem oft ehrenamtlichen Engage-ment für die Demokratie als mögliche Verfassungsfeindeverdächtigt sehen.Demokratie muss sich verteidigen. Wer würde dieseLehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen?
Zunächst einmal beruht Demokratie aber auf Vertrauen.Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokrati-sche Kultur, also für die Grundlagen des demokratischenStaates, eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgernnicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Wer den Ini-tiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für diedemokratische Gesinnung ihrer Mitglieder übertragenwill, der sät eine Kultur des Misstrauens und der erzeugtein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nichtgestärkt, sondern gebremst werden.
Wer Demokratie stärken will, der sollte gerade jungeMenschen einladen, sich in ihr und für sie zu engagieren,und sie nicht unter den Generalverdacht der Verfas-sungsfeindlichkeit stellen.
Es geht um eine Kultur der Anerkennung von Enga-gement, um Vertrauen statt Misstrauen und um Ermunte-rung statt Kontrolle. Verzichten Sie auf diese Erklärung,bevor das Verfassungsgericht Sie dazu zwingen muss.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Hermann Kues.
Dr
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die aktu-
elle Diskussion, weil dadurch Gelegenheit gegeben wird,
einiges klarzustellen. Ich will ausdrücklich sagen: Es
geht nicht um Ächtung, es geht um Förderung. Diejeni-
gen, die sich teilweise seit Jahren in Beratungsnetzwer-
ken gegen Extremismus jeglicher Art, von rechts, aber
auch von links, engagieren und die da, wo es nicht er-
wartet wird, Zivilcourage zeigen, haben – auch das sage
ich ausdrücklich – Dank und Anerkennung verdient. Das
ist auch die Meinung des Ministeriums.
– Warten Sie einmal ab.
Es ist auch völlig klar, dass der Staat, wenn er Pro-
gramme gegen Extremismus auflegt, darauf achtet, dass
nicht gerade diejenigen gefördert werden, die selbst in
extremistischen Kategorien denken und danach handeln.
Das ist der entscheidende Punkt.
Deswegen ist das auch kein ungewöhnliches und unseriö-
ses Anliegen.
Ich meine: Wenn der demokratische Staat so etwas
macht, dann ist das eine Selbstverständlichkeit.
Wir sorgen dafür, dass jemand aktiv bestätigen muss,
dass er und seine Projektpartner auf dem Boden des
Grundgesetzes stehen, und zwar nicht nur bei Projekten
gegen Rechtsextremismus, sondern auch bei Projekten
gegen Linksextremismus.
Jetzt sage ich etwas zur Entstehungsgeschichte der
Demokratieerklärung.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfragedes Kollegen Bockhahn?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10167
(C)
(B)
Dr
Im Moment nicht. Er kann sie gleich oder später stel-
len. – Im Jahr 2004 ist vom damals sozialdemokratisch
geführten Bundesinnenministerium – der Minister hieß
Otto Schily – diese Initiative ausgegangen. Es wurde ge-
sagt, dass niemand materielle oder immaterielle Leistun-
gen erhalten könne, der sich nicht zur freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung bekenne, und dass jeder
Anschein einer Tolerierung extremistischer Auffassun-
gen, zum Beispiel durch offizielle Einbindung extremis-
tischer Positionen oder Institutionen in Veranstaltungen,
vermieden werden müsse. So weit das von Otto Schily
geführte Ministerium.
Seit 2005 ist das in den Bescheiden enthalten. Daran
knüpft die Demokratieerklärung an.
Es gibt einen einzigen Unterschied, nämlich dass die
Erklärung jetzt ausdrücklich unterzeichnet werden muss,
statt sie nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn man den Zu-
wendungsbescheid empfängt. Ich wiederhole: Man muss
sie ausdrücklich unterzeichnen.
Es gibt verschiedene Untersuchungen. Herr Thierse
hat eben eine Expertise erläutert. Sie wissen, wer sie er-
stellt hat. Wenn Sie sie genau lesen, dann wird deutlich,
dass eine Demokratieerklärung eine Möglichkeit neben
anderen ist. Sie ist nicht zwingend vorgeschrieben. Mei-
netwegen kann man darüber streiten.
Ich will Ihnen etwas berichten, damit Sie ein Gefühl
für das Maß bekommen. In Mecklenburg-Vorpommern
gibt es seit dem 20. Juli 2010, also seit gut einem halben
Jahr, im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kinderta-
geseinrichtungen einen Erlass des Ministeriums für So-
ziales und Gesundheit – die Ministerin ist uns allen be-
kannt –, nach dem nur diejenigen eine Betriebserlaubnis
erhalten, die eine gesonderte Selbsterklärung unter-
schreiben.
Jeder Träger muss dort ausdrücklich versichern, dass er in
keiner Weise Bestrebungen unterstützt, deren Ziele gegen
die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder gegen
eines ihrer grundlegenden Prinzipien gerichtet sind.
Wenn ein Träger diese Unterschrift verweigert, dann
besteht laut Erlass „begründet Zweifel, ob der Träger die
Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderli-
che Arbeit bietet“, wie es in dem Erlass weiter heißt.
Deutlicher geht es nicht. In dem Erlass wird unter ande-
rem festgestellt, wann die Betriebserlaubnis zu versagen
ist.
Das hatte in Mecklenburg-Vorpommern den Hinter-
grund – darauf will ich ausdrücklich hinweisen, Herr
Thierse –, dass dort NPD-Kreise versucht haben, sich
unter interessanten Namen in die Trägerschaft von Kin-
dertageseinrichtungen einzuschleichen. Genau das wol-
len wir mit unserem Programm gegen Extremismus ver-
hindern.
– Sie kennen den Zusammenhang genau.
Sie wissen, dass es in den vergangenen Jahren – ich weiß
nicht, wie lange Sie schon dabei sind – mehrfach Anfra-
gen auch aus dem parlamentarischen Raum gegeben hat
und dass viele Träger geklagt haben, dass extremistische
Gruppen versuchen, ihre Organisation zu unterwandern.
Der Innenminister von Sachsen-Anhalt hat gestern in
einer Pressekonferenz zugegeben – das haben Sie nicht
berichtet –, dass etwa die NPD immer wieder versucht,
Vereine zu unterwandern. So viel zur Bekämpfung des
Extremismus. Was Extremismus betrifft, geht es um den
Kampf gegen rechts, aber auch gegen links. Links ist
ebenso wie rechts eine legitime Kategorie. Problema-
tisch wird es dann, wenn es extrem wird.
Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Wortmeldung
zu einer Zwischenfrage, und zwar von dem Kollegen
Rix.
D
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Bei der „Extre-mismusklausel“, wenn Sie es so nennen wollen, inMecklenburg-Vorpommern geht es um Kindergärten.Hier geht es um die Förderung von Demokratie und To-leranz.
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Sönke Rix
(C)
(B)
Das ist ein grundlegender Unterschied. Sind Sie bereit,das anzuerkennen?Ein weiterer Unterschied zu Mecklenburg-Vorpom-mern ist, dass in dieser Extremismuserklärung mit unter-schrieben werden soll, dass alle weiteren Partner derProjekte ebenfalls auf dem Boden des Grundgesetzesstehen. Das wird von den Trägern in erster Linie kriti-siert, weil Sie damit einen Keil in die Zivilgesellschafttreiben.
Dr
Der Erlass in Mecklenburg-Vorpommern ist sehr de-
tailliert formuliert. Man wundert sich vielleicht sogar
manchmal darüber. Es muss ausdrücklich auch darauf
hingewiesen werden, dass man bei seinen Partnern da-
rauf hinwirkt, dass sie sich an demokratische Prinzipien
zu halten haben.
Sie müssen insofern auch dafür einstehen, als man davon
die Förderung abhängig machen kann.
Aber ein Partner, der das nicht ausdrücklich tut – so
heißt es in Mecklenburg-Vorpommern –, der kann keine
Betriebserlaubnis bekommen, weil dann Zweifel daran
begründet sind, dass er die Gewähr für eine den Zielen
des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet. Ich finde,
wir sollten uns abgewöhnen, auf einem Auge blind zu
sein.
Das gilt für das rechte Auge genauso wie für das linke
Auge.
Wir haben hier an einem der letzten Freitage eine sehr
heftige Debatte über die Aussagen von Frau Lötzsch
über den Kommunismus geführt. Da waren wir uns
größtenteils einig. Wir haben gesagt: Diese Staatsform
wollen wir unter gar keinen Umständen. Da ist sehr en-
gagiert diskutiert worden. Auf der ganz linken Seite war
da sehr viel Ruhe; da wurde keine Position bezogen.
Ich finde, wenn man sich für Demokratie einsetzt,
dann muss man sich gegen Rechtsextreme genauso wie
gegen Linksextreme und gegen Islamisten wehren. Das
ist einfach die Wahrheit.
Herr Staatssekretär, ich habe weitere zwei Meldungen
zu Zwischenfragen. Ich frage, ob Sie der Kollegin Wolff
und dem Kollegen Bockhahn noch die Gelegenheit ge-
ben wollen oder nicht.
D
Von mir aus sollen sie gerne fragen.
Die Kollegin Wolff ist zunächst an der Reihe.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, anzuerkennen,
dass es in Sachsen-Anhalt – das ist mein Bundesland –,
dessen Innenminister Sie eben angesprochen haben, eine
große zivilgesellschaftliche Gruppierung gibt, die sich
gegen Rechtsextremismus wendet? Sind Sie auch bereit,
hier Ihre Aussage gegenüber Herrn Hövelmann zurück-
zunehmen? In Bezug auf diese Extremismusklausel hat
sich dieser Innenminister nämlich sehr kritisch geäußert.
Dr
Ihr Innenminister hat sich zur Extremismusklauselgeäußert. Dazu hat sich manch einer in den letzten Tagengeäußert.
Ich glaube, dass er sich mit dem Sachverhalt aber nichtimmer intensiv beschäftigt hat.
Es ist jedenfalls so, dass Herr Hövelmann in der Bundes-pressekonferenz zugeben musste – das hatte er zuvornämlich nicht erwähnt –, dass es darum ging, die NPDzu verhindern. Das war der entscheidende Punkt. Darumgeht es hauptsächlich auch in Mecklenburg-Vorpom-mern.Man muss natürlich kritisch bleiben und sich gegenRechtsextremismus engagieren.
Aber es kann nicht sein, dass Rechtsextreme Linksextre-mismus bekämpfen und umgekehrt. Das ist das, was wirausdrücklich nicht wollen. Da sind wir uns völlig einig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10169
(C)
(B)
Können wir jetzt noch zur Frage des Kollegen
Bockhahn kommen?
Dr
Ja, okay.
Weitere Zwischenfragen zu diesem Beitrag lasse ich
dann aber nicht zu.
Herr Dr. Kues, bezugnehmend auf Mecklenburg-Vor-
pommern: Ich denke schon, dass es einen Unterschied
gibt zwischen der Aufforderung, seine Projektpartner auf
die Notwendigkeit der Verfassungstreue hinzuweisen,
und der jetzt durch Ihr Haus angeforderten Erklärung,
verpflichtend zu garantieren, dass bei Partnern eine Ver-
fassungstreue besteht, soweit man selbst in der Lage ist,
dies nachzuweisen. Das Problem sind natürlich die Aus-
führungsbestimmungen, die so schwammig sind, dass
kein Träger ernsthaft garantieren kann, ob er das ge-
macht hat, was Ihnen recht ist oder auch nicht. Das ist
der eine Punkt.
Zweitens. Eingangs Ihrer Rede haben Sie darauf hin-
gewiesen, dass es schon seit Jahren den Hinweis an die
Projektpartner gibt, dass sie ihre Verfassungstreue garan-
tieren sollen. Aber bisher war es ein Hinweis. Das Ganze
wurde nicht zur Verpflichtung, zur Bedingung, zur unbe-
dingten Notwendigkeit für den Erhalt einer Förderung
gemacht. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass es einen
qualitativen Unterschied zwischen einem Hinweis,
etwas zu tun, und dem Zwang gibt, etwas zu garantieren,
wofür man im Zweifel nicht einstehen kann? Können Sie
sich vorstellen, dass es bei Projektträgern durchaus
Misstrauen geben kann?
Dr
Ich glaube nicht, dass in der Breite Misstrauenherrscht. Der infrage kommende Bereich ist relativ über-schaubar. Es ist auch gesagt worden, es gebe eine großeKampagne. Wir haben 750 E-Mails bekommen. Wenn eseine Massenbewegung über das Internet gibt, dann erhältman ganz schnell zehntausend E-Mails; das will ich aus-drücklich sagen.
– Lassen Sie es bitte sein. Die müssen wir dann alle be-arbeiten. Das muss nicht unbedingt sein.Im Kern ist es kein Unterschied. Ich gebe zu: Diesesausdrückliche Unterschreiben ist eine Präzisierung. Mankann meinetwegen rechtlich und politisch darüber strei-ten, ob das notwendig ist. In dem Gutachten, das HerrThierse zitiert hat, wird sogar festgestellt, das könntedurchaus ein Weg sein. Der Grundansatz ist der gleiche:Wir wollen verhindern, dass sich Extremisten einschlei-chen. Das gilt für die Kindertagesbetreuung ebenso wiefür die politische Bildungsarbeit.
Das halte ich für richtig. Wir hatten dazu in den vergan-genen Jahren – Sie wissen es doch ganz genau – immerwieder Anfragen aus dem parlamentarischen Raum.
Darin hieß es: Diese oder jene Initiative wird gefördert.Wir erwarten die Mithilfe derjenigen, die gefördert wer-den. Ihnen ist der Kinder- und Jugendplan gut bekannt.Wenn Sie in diesem Bereich einen Zuwendungsbescheiderhalten, müssen Sie unterschreiben, dass sich die Ver-wendung der Zuwendung im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt. An dieser Stellehaben wir uns entschieden, ein kleines Informationsblattzur Kenntnisnahme hinzuzufügen, sodass man nicht sa-gen kann: Ich habe es übersehen.Im Übrigen – das sei zur Beruhigung gesagt – habenwir jede Menge Verfügungen erlassen, darunter auchviele Zuwendungsbescheide. In keinem Fall hat ein Trä-ger die Unterschrift verweigert.
– Sie können sagen: Sonst bekommt man kein Geld. Ichsage Ihnen – das wurde auch von Herrn Thierse ange-sprochen –: Das Anne-Frank-Zentrum in Berlin, dieJüdische Gemeinde, die Zentralwohlfahrtsstelle der Ju-den haben ebenfalls Zuwendungsbescheide bekommenund haben die Zuwendungsvoraussetzungen wie selbst-verständlich unterschrieben.
Diese Einrichtungen haben damit keine Probleme. Pro-bleme bekommen sie nur dann, wenn sie falsch infor-miert werden.Das Land Berlin beispielsweise hat gesagt, man habedagegen geklagt.
– Sie hören gleich auf, zu klatschen. – Länder und kom-munale Körperschaften müssen diese Erklärung garnicht unterschreiben, weil wir davon ausgehen – das istauch meine Gedankenwelt –, dass sie selbstverständlichkeine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgen.
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10170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
(C)
(B)
Das setzen wir auch für das Land Berlin voraus.
Wir führen hier eine politische Debatte. Das ist legi-tim. Sie sollten aber nicht so tun, als gehe es hier umkomplizierte rechtliche Fragen und um den hohen mora-lischen Anspruch, wie Sie ihn formuliert haben, HerrThierse. In der Demokratie geht es auch um Vertrauen.
In der Demokratie geht es darüber hinaus um Regeln, andie sich alle zu halten haben. Wer diese Regeln bewusstverletzt, indem er beispielsweise gewalttätige Auseinan-dersetzungen bei Veranstaltungen fördert, muss sich sa-gen lassen, dass er nicht zugleich öffentliche Mittel fürdie Bekämpfung des Extremismus in Anspruch nehmenkann.
Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder,der in diesem Land gegen Neofaschismus, Rassismusund Antisemitismus kämpft, verdient unsere größte An-erkennung. Das muss man zu der gesamten Debatte ersteinmal sagen.
Die Extremismusklausel, die den aktiven Projektengegen rechts nun abgepresst werden soll, droht jedochkaputtzumachen, was in jahrelanger Arbeit aufgebautwurde.Die Regierung will – so hat sie auf eine Anfrage derLinken geantwortet – die Projekte gegen rechts zu – Zi-tat – „Verantwortung und Sensibilität“ gegen Extremis-mus erziehen. Wenn jemand sensibilisiert ist, dann sindes diese Projekte gegen rechts, die seit Jahren durchge-führt werden und die garantiert keinen Nachhilfeunter-richt von Ihnen brauchen.
Die Bundesregierung tut so, als seien diese Projektegegen Rechtsextremismus scharf darauf, mit ausge-machten Verfassungsfeinden zu kungeln. Die Regierungverlangt den Trägern ab, Berichte des Verfassungsschut-zes aus Bund und Ländern zu lesen, dazu Referenzenüber mögliche Bündnispartner einzuholen sowie Medi-enberichte und Literatur zu diesem Bereich zu studieren.Den Projekten wird ein Wust von Schnüffeldiensten ab-verlangt. Wir sind froh, dass es Landesregierungen wieBerlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt gibt, die ganzklar kritisieren, dass diese Vorgehensweise Misstrauenund Verunsicherung sät und dass dadurch der Kampf ge-gen die Rechtsextremisten sabotiert wird. Man musswirklich sagen: Die Einzigen, die sich zurzeit darüberfreuen, sind die Neonazis selbst.
Ihnen, liebe Kollegen von der Union und der FDP,wird sicherlich nicht entgangen sein, dass auch der Zen-tralrat der Juden und der Zentralrat der Muslime dieExtremismusklausel ablehnen – wir haben es schon ge-hört –, weil dadurch couragierte und engagierte Men-schen unter Generalverdacht gestellt werden. Ich möchtein diesem Zusammenhang die 1 500 Persönlichkeitenund Organisationen erwähnen, die eine entsprechendeProtesterklärung unterzeichnet haben.
Diese Klausel erhebt den Verfassungsschutz zur un-fehlbaren Messlatte.
Ich nenne drei Beispiele für das Handeln des Verfas-sungsschutzes.Erstes Beispiel. Erst letzte Woche hat das Verwal-tungsgericht Köln bestätigt, dass der Rechtsanwalt undMenschenrechtler Rolf Gössner 40 Jahre zu Unrechtvom Verfassungsschutz beobachtet wurde.Zweites Beispiel. Der bayerische Verfassungsschutzhat die Antifaschistische Informations-, Dokumenta-tions- und Archivstelle München, a.i.d.a., ebenfalls zuUnrecht als extremistisch diffamiert, wie ein Gerichtklarstellte.Drittes Beispiel. Ich will daran erinnern, dass der Ver-fassungsschutz nicht gerade sehr hilfreich bei dem Ver-botsverfahren gegen die NPD war. Auch hier haben wirgesehen, dass das Ganze überhaupt nichts gebracht hat.Mit der Extremismusklausel sollen missliebige linkeOrganisationen an den Pranger gestellt werden, etwa dieVereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die Rassis-mus und Demokratiefeindlichkeit auch in der Mitte die-ser Gesellschaft, in den etablierten Parteien und in denMedien immer wieder kritisiert. Doch das passt nicht indas schlichte und falsche Extremismusbild der Unionund der FDP. Deswegen wollen Sie aus den Projektengegen rechts extreme Vorfeldorganisationen des Verfas-sungsschutzes machen. Dabei werden sowohl die Orga-nisationen als auch wir nicht mitmachen.
Ich möchte Sie zum Schluss auffordern: Ziehen Siediese schädliche Extremismusklausel zurück. Sie dientnicht der Demokratie, und sie dient vor allen Dingennicht dem Vertrauen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10171
Ulla Jelpke
(C)
(B)
Ich möchte Sie alle auffordern, am übernächsten Sams-tag in Dresden zur Demonstration zu kommen und zuverhindern, dass Nazis wieder durch Dresden marschie-ren. Blockieren Sie zusammen mit uns und den vielenTausend antifaschistischen Organisationen und Men-schen. Da können Sie wirklich etwas Sinnvolles tun.Danke.
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer von
der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen und der an-
dere von der Linken. Lassen Sie mich kurz einen Satz
zum Antrag der Linksfraktion sagen. Wer die sogenannte
Extremismusklausel mit dem Radikalenerlass der
1970er-Jahre vergleicht, hat meiner Meinung nach in
dieser Debatte jedweden Anspruch verloren, ernst ge-
nommen zu werden.
Aber auch die Vergleiche von SPD und Grünen sind
an dieser Stelle nicht wesentlich erträglicher. Ich möchte
Sie daran erinnern, worum es hier geht.
Es geht darum, dass sich Träger von Maßnahmen gegen
Extremismus, die vom Bund gefördert werden, zur frei-
heitlich-demokratischen Grundordnung bekennen müs-
sen.
Ich nenne das eine Selbstverständlichkeit.
Frau Roth spricht vom kruden Weltbild dieser Koalition.
Dass sich Perspektiven ändern, wenn man von der
Regierungsbank auf die Oppositionsbank wechselt, kann
man sich vorstellen; aber dass sich gleich ganze Weltan-
schauungen ändern, finde ich schon merkwürdig. Dass
Sie so tun, als ob diese Extremismusklausel eine Erfin-
dung von Frau Schröder oder Schwarz-Gelb wäre, ist
abenteuerlich. Herr Kues hat es bereits gesagt; aber ich
möchte es wiederholen, damit es bei Ihnen wirklich an-
kommt. Lutz Diwell, SPD-Staatssekretär im Innenminis-
terium, schrieb in einem Brief an alle Ministerien am
4. März 2004 – Sie können es gerne nachlesen –, dass
die missbräuchliche Inanspruchnahme von Förderpro-
grammen durch Organisationen mit rechts-, links- und
ausländerextremistischem einschließlich islamistischem
Hintergrund auf jeden Fall zu verhindern sei. Mich über-
rascht schon der breite Ansatz im Kampf gegen den Ex-
tremismus, den es heute leider nicht mehr in der SPD
gibt. Herr Diwell bietet sogar an, dass bei der Überprüfung
der Maßnahmen gerne das Bundesamt für Verfassungs-
schutz tätig wird. So viel zum Thema Schnüffelstaat.
Daraufhin prüfte das Familienministerium, wie man
mit dem Diwell-Erlass umgehen sollte. Es schrieb – zur
rot-grünen Regierungszeit – an alle Träger von Maßnah-
men gegen Extremismus Folgendes:
Für die Bundesregierung ist klar: Personen oder Or-
ganisationen, die nicht die Gewähr für eine den Zie-
len des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten,
dürfen weder direkt noch indirekt durch Bundesbe-
hörden gefördert werden.
Am Ende dieses Briefes hieß es:
Der Träger der geförderten Maßnahme hat im Rah-
Partner ausgewählten Organisationen, Referenten
etc. … zu prüfen.
Dieser Satz kommt Ihnen bekannt vor, weil es genau
der gleiche Satz ist, der jetzt in der angeblich so neuen
Extremismusklausel von Frau Schröder steht.
Kollege Bernschneider, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Kolbe?
Nein. – In der aktuellen hektischen Debatte wird auchüber Gutachten gesprochen. Wir können gern fachpoli-tisch darüber diskutieren, ob wir diesen Satz nachschlei-fen sollen, damit er für die Träger vor Ort deutlicherwird.
Darum geht es Ihnen heute aber nicht. Sie wollen sofortabstimmen. Sie wollen in den Ausschüssen nicht auffachlicher Ebene darüber sprechen.
Das zeigt, worum es geht: Es geht Ihnen bei diesemThema, das Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht anders ge-sehen haben, um Wahlkampf. Damit gewinnt man alles,aber keine Wahlkämpfe und erst recht nicht unsere Zu-stimmung.Vielen Dank.
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10172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(C)
(B)
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kolbe das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte jetzt gar
nichts mehr zu dem schon hinlänglich bekannten Skan-
dal sagen, dass die Bundesregierung den Initiativen, die
sich mit all ihrer Macht für Demokratie und gegen Men-
schenfeindlichkeit einsetzen, das Misstrauen ausspricht.
Ich möchte vielmehr bei der rechtlichen Positionierung
nachhaken.
Wir sind uns ja im Ziel einig – zumindest unterstelle
ich das –, dass Verfassungsfeinden kein staatliches Geld
zufließt. Unsere Position ist, dass schon jetzt ausrei-
chend Möglichkeiten bestehen, etwaige Geldflüsse zu
unterbinden. Da dies bisher nicht der Fall war, sprechen
Sie den Initiativen ohne Anlass Ihr Misstrauen aus.
Herr Bernschneider, Sie und Ihre Partei halten die
Bürgerrechte und sicherlich auch das Grundgesetz hoch.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass in mehreren Gutachten
Bedenken geäußert werden, ob diese Klausel wirklich
verfassungsrechtlich legitim ist und ein legitimes Mittel
darstellt, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen Sie des Wei-
teren zur Kenntnis, dass selbst die schwarz-gelbe Lan-
desregierung im Land Sachsen die bislang geplante
Demokratieerklärung oder Extremismusklausel abge-
schwächt hat. Aus meiner Sicht ist sie damit zwar immer
noch nicht ganz verfassungskonform. Aber selbst die
schwarz-gelbe Landesregierung hat gesagt, die Extre-
mismusklausel, wie Sie sie hier fordern, sei in dieser
Weise nicht legitim.
Mich interessiert, was die FDP dazu sagt.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Kollegin, ich habe gerade versucht, Ihnen zu er-
klären, dass es Gutachten gibt, die besagen, dass die
Sätze 2 und 3 durchaus kritisch gesehen werden können.
Es gibt auch zahlreiche Gutachten, die besagen, es gebe
überhaupt kein Problem.
Um auch das einmal klarzustellen: Kein Gutachten
bezweifelt, dass es richtig ist, sich zur freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung zu bekennen. Das bezweifelt
nicht ein Gutachter.
Nicht ein Gutachten bezweifelt, dass man das unter-
schreiben kann.
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau die-
ser Satz, der in einigen Gutachten kritisch gesehen wird,
nicht von uns stammt, sondern von einem Ihrer Staatsse-
kretäre während Ihrer Regierungszeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Lazar das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte um die sogenannte Extremismusklausel hatin den letzten Tagen und Wochen richtig Fahrt aufge-nommen. Allerdings, Kollege Bernschneider, diskutie-ren wir über diese Klausel schon seit mehreren Monaten,unter anderem im Ausschuss. Es gibt sehr wohl viel Kri-tik.
Da Sie den heute von uns vorgelegten Anträgen nichtzustimmen, werde ich jetzt etwas ausholen und Ihnen er-klären, welche Argumente es noch von anderen gibt:Das von Professor Battis angefertigte Gutachten besagt,dass weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nochdem Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen wird.
Die Fragen, welche Mittel der Überprüfung angewandtwerden sollen, welcher Verdachtsgrund die Ablehnungeiner Gruppe oder Person als Partner rechtfertigt undwelche Rechtsfolgen drohen, werden nicht beantwortet.Sie werden auch in den nachgereichten Hinweisen zur„Erklärung für Demokratie“, die den Trägern zur Verfü-gung gestellt wurden, nicht beantwortet. Der Tipp derMinisterin, die potenziellen Partner einfach zu googlen– das hat sie im Ausschuss gesagt –, empfinde ich alsHohn. Es ist peinlich und höhnisch.
Ich hatte heute früh mit einer Amerikanerin zu tun, diezu mir gesagt hat, all das erinnere sie an die McCarthy-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10173
Monika Lazar
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Ära. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern voneiner Amerikanerin, die hier in Deutschland lebt.Inzwischen liegt auch das Gutachten des Wissen-schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vor;Kollege Thierse hat dazu schon einige Ausführungen ge-macht. Das eigene Bekenntnis zur freiheitlich-demokra-tischen Grundordnung ist nicht das Problem; das habenwir heute bereits festgestellt. Das Problem ist die Gesin-nungsschnüffelei bei potenziellen Partnern. Die Trägerfühlen sich in ihrer Existenz bedroht; denn im Falle derfalschen Partnerwahl kann es zur Rückforderung vonFördermitteln kommen.
So bleibt die ohnehin vorhandene Unsicherheit selbstnach einem positiven Fördermittelbescheid erhalten.
Der Parlamentarische Staatssekretär Bergner sprachvon einer „heilsamen Wirkung“ der Erklärung, da die Zu-wendungsempfänger zum Nachdenken angeregt würden.Er bemühte sogar den Vergleich mit der Anti-Doping-Erklärung, um die Extremismusklausel als im Zuwen-dungsrecht etwas völlig Normales darzustellen. Ichfinde, das war eine sehr fantasievolle Begründung.
Die zivilgesellschaftlichen Initiativen wehren sich zuRecht gegen ein Klima des Misstrauens. Im Rahmen desAktionstages „Extreme Zeiten“ am 1. Februar 2011 gabes sehr viele Protestschreiben, die das Ministerium er-reicht haben. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit– das wurde heute schon gesagt – ist nicht ein Problemvermeintlich extremer Ränder, sondern ein Problem derMitte. Damit hat diese Erklärung leider gar nichts zu tun.
Es gibt weitere prominente Leute, die sich kritisch ge-äußert haben – ich weiß nicht, wer sich positiv geäußerthat; Herr Kues, vielleicht können Sie uns diese Informa-tion noch zur Verfügung stellen –: Anetta Kahane, Leite-rin der Amadeu-Antonio-Stiftung, DGB-Chef MichaelSommer sowie Gesine Schwan, die im Rahmen der Ver-leihung des Sächsischen Demokratiepreises in Dresdensehr kritische Worte gefunden hat. Sogar die Bundesar-beitsgemeinschaft „Kirche für Demokratie – gegenRechtsextremismus“ – liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Union, hören Sie jetzt zu – wendet sich gegendas Druckmittel der eingeforderten Unterschriftserklä-rung.Auch in den Ländern ist einiges in Bewegung geraten.Die Sächsische Staatsregierung erklärte auf Nachfragemeines Landtagskollegen Miro Jennerjahn, dass es unterden zwischen 2005 und 2010 im Landesprogramm„Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ ge-förderten Projekten keine gibt, die unter Extremismus-verdacht stehen. Damit müsste die Anti-Extremismus-Erklärung für das Land Sachsen doch eigentlich hinfälligsein. Stattdessen hat Innenminister Ulbig die Klauselweiter verschärft. Jetzt müssen auch die Kooperations-partner noch unterschreiben.Die verschiedenen Bundesländer, die Protest einge-legt haben, wurden schon genannt: Berlin, Sachsen-An-halt, Brandenburg und Thüringen. Die gemeinsamePressekonferenz vom Zentralrat der Juden und Zentralratder Muslime, die gestern stattgefunden hat, sollte Ihnenauch zu denken geben. Auch sie haben sich explizit undmit sehr scharfen Worten dagegen gewandt.
Zum Schluss möchte ich noch ein Wort an die FDPrichten: Der Kollege Ruppert hat sich ebenfalls kritischgeäußert. Er wird nachher noch reden. Ich hoffe, Siekönnen auf Ihre Koalition dahin gehend einwirken, dasssie die Erklärung vielleicht doch noch zurücknimmtbzw. sie zumindest so gestaltet, dass sie der Verfassungentspricht.Ganz zum Schluss mein Wunsch: Demokratinnen undDemokraten sollten vertrauensvoll zusammenarbeitenund sich nicht gegenseitig des Extremismus verdächti-gen.
Uns liegen heute die entsprechenden Anträge vor. Wirhaben in den letzten Wochen sehr viel diskutiert. Des-halb meine Bitte: Stimmen Sie diesen Anträgen zu undnehmen Sie diese unsägliche Extremismusklausel heuteendgültig zurück!Danke.
Der Kollege Geis hat für die Unionsfraktion das Wort.
Verehrte Frau Lazar, es geht nicht darum, dass wir unsgegenseitig des Extremismus verdächtigen, sondern esgeht darum, dass wir den Staat vor Extremisten schüt-zen. Darum geht es auch in der Bestätigung, die zu un-terschreiben ist. Ich weiß nicht, was daran so fatal ist.
Verehrter Herr Thierse, ich stimme mit Ihnen darinüberein, dass der Staat wehrhaft sein muss. Das Prinzipder Wehrhaftigkeit der Demokratie steht neben demPrinzip der Sozialstaatlichkeit, neben dem Prinzip derDemokratiestaatlichkeit und neben dem Prinzip, dassunsere Grundrechte justiziabel sind. Die wehrhafte De-mokratie ist eines der Grundprinzipien unserer Verfas-
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10174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Norbert Geis
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sung. Wir haben immer darin übereingestimmt. Sie ha-ben das vorhin auch selber erklärt. Die Wehrhaftigkeitsteht dabei neben der Rechtsstaatlichkeit, der föderati-ven Grundordnung und der sozialen Ordnung. Diese Be-griffe markieren jeweils eine besondere Ausgestaltungunserer Verfassung.Das Prinzip der wehrhaften Demokratie ist ein Ver-fassungsprinzip, das eigenständige Bedeutung gewon-nen hat. Die Idee der wehrhaften Demokratie kam in un-sere Verfassung, weil die Mütter und Väter desGrundgesetzes in der Weimarer Zeit schlechte Erfahrun-gen gemacht haben. In der Weimarer Zeit galt das Prin-zip der Toleranz, was an sich ein gutes Prinzip ist. Aberdamals war es Toleranz im Sinne von Werterelativismus.Was wir an dieser Verfassung heute als Mangel sehen,war damals eine Tugend, nämlich dass man alle mögli-chen politischen Ideen, Gestaltungen und Überlegungenzugelassen hat, ohne sie bekämpfen zu können. Deshalbwar die Demokratie der Weimarer Republik in sich brü-chig. Sie ist deswegen zugrunde gegangen. Sie war nichtin der Lage, sich gegen innere und äußere Feinde zuwehren. Deswegen haben wir heute das Prinzip derwehrhaften Demokratie.
– Ich komme zum Thema. Mit dieser Vorbemerkungwollte ich das aufnehmen, was Ihr Kollege Thierse vor-hin gesagt hat, nämlich dass wir eine wehrhafte Demo-kratie brauchen.Unser Verfassungsgericht hat das Prinzip der wehr-haften Demokratie in seinen Entscheidungen ausgestal-tet.
Denken wir an die berühmte Entscheidung zum Verbotder KPD, denken wir aber auch daran, dass die Bemü-hungen um das Verbot der NPD bislang nicht zum Erfolggeführt haben, was ich bedauere.
– Fragen Sie bitte das Verfassungsgericht!
– Das ist nicht mein Problem. Vielleicht waren die da-mals eingereichten Klagen auch nicht so beschaffen,dass man darauf ein Verbot wirklich hätte stützen kön-nen.Mit den beiden Programmen, dem Programm „Tole-ranz fördern – Kompetenz stärken“ gegen den Rechts-extremismus und der Initiative „Demokratie stärken“ ge-gen den Linksextremismus und den islamistischenExtremismus, kommt das Ministerium für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend dieser Verpflichtung zurwehrhaften Demokratie nach. Diese Programme sehennicht direkt staatliches Handeln vor, sondern richten sichan Bürgerinitiativen und an Organisationen, die aus derGesellschaft kommen, also bürgerschaftliche Organisa-tionen sind. Nicht Beamte sind dort tätig,
sondern Bürger aus der Gesellschaft können die Initia-tive ergreifen. Ich halte das für richtig und für gut.
Das hat vielleicht sogar noch eine größere Wirkung,
als wenn wir es über Beamte, also auf staatlichem Wege,machen würden.
Wenn das so ist, dann kann es doch nicht falsch sein– im Übrigen sagt auch Battis nicht, dass das falsch ist –,dass wir das von denen verlangen, die sich darum bemü-hen, dass die Demokratie in unserem Volk verwurzeltbleibt, dass die demokratischen Grundsätze bei uns insBewusstsein übergehen, und zwar jeden Tag. Mit Rechtsagt Herr Thierse, dass die Demokratie von Zustimmunglebt.
Wir brauchen die Gemeinsamkeit der Demokraten.Diese Institutionen und Organisationen können dabeimithelfen.
Aber es kann doch nicht verkehrt sein, dass wir von die-sen Organisationen eine Bestätigung verlangen, dass siesich tatsächlich für die demokratische Grundordnungeinsetzen.
Warum soll denn das unmöglich sein?
– Das ist doch kein Misstrauen. Wir verlangen nur dieseBestätigung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10175
Norbert Geis
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– Sie können noch so laut schreien. Es ist nichts anderesals ein klares Bekenntnis zur demokratischen Grundord-nung.
Sie gehen davon aus, dass demokratisches Grundver-ständnis überall vorhanden ist. Wenn das der Fall wäre,brauchten wir solche Organisationen nicht, dann brauch-ten wir solche Initiativen nicht.
Herr Kollege Geis, möchten Sie noch eine Frage be-
antworten kurz vor Ablauf Ihrer Redezeit?
Ich beantworte nachher die Frage, aber ich möchte
erst meinen Gedanken zu Ende führen.
Sie haben leider nur noch 34 Sekunden.
Na gut, dann werde ich die Frage jetzt zulassen.
Herr Rix.
Herr Geis, ich will mal nicht so sein und Ihnen noch
ein bis zwei Minuten zusätzliche Redezeit geben.
Können Sie mir erklären, was sich in den Jahren, seit-
dem die Programme aufgelegt wurden, bis zu dem Zeit-
punkt, wo die Extremismusklausel eingeführt wurde,
verändert hat? Können Sie mir also erklären, was Frau
von der Leyen falsch gemacht und Frau Schröder jetzt
wohl richtig macht?
Bitte erklären Sie mir auch noch ein Zweites: Warum
müssen Organisationen, die sich für Demokratie und To-
leranz einsetzen, diese Erklärung unterschreiben, wäh-
rend andere Organisationen, die staatliche Mittel aus
dem Jugendetat des Ministeriums oder anderswoher er-
halten, solche Klauseln nicht zu unterschreiben brau-
chen? Wo liegt da der Unterschied? Diese beiden Fragen
hätte ich gerne noch beantwortet.
Wenn Organisationen dazu da sind, die verfassungs-rechtliche Grundordnung ins Volk hereinzutragen, dannhaben sie nach dem, was jetzt vorliegt und zur Debattesteht, genau das Gleiche zu unterschreiben wie jene Or-ganisationen, die ich eben genannt habe. Wir könnennicht von vornherein davon ausgehen, dass in all diesenOrganisationen demokratische Grundsätze völlig gleich-mäßig verwurzelt sind. Wir wollen durch diese Bestäti-gung eben erreichen,
dass sie unsere Demokratie anerkennen und sich auf ihreGrundsätze verpflichten. Im Übrigen sagt Battis, den Sieals Gutachter ausgewählt haben
und den ich im Übrigen auch schätze, in dem von ihmerstellten Gutachten genau das Gleiche. Er sagt, es istmöglich, dass von diesen Organisationen diese Bestäti-gung verlangt wird.Jetzt kommt der zweite Punkt: Diese Organisationenmüssen eine entsprechende Bestätigung natürlich auchvon denen verlangen, die sie als Mithelfer, als Unterstüt-zer ihrer Bemühungen heranziehen.
Wenn sie selbst diese Bestätigung abgeben müssen, dannist es doch logisch und richtig, dass auch die Partner, dieihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mithelfen, eben-falls diese Bestätigung abgeben.
– Da unterscheide ich mich von Battis. – Ich bin derMeinung, dass dieses nicht mehr als recht und billig ist.
Es kann doch nicht sein, dass sich unter Umständenlinks- oder rechtsextremistische Kreise engagieren las-sen, um angeblich für die demokratische Grundordnungeinzutreten, und dafür Geld bekommen,
obwohl sie diesen Staat im Grunde genommen ablehnenund zugrunde richten wollen.
Wir können doch nicht Steuergeld zur Verfügung stellen,um diese Leute auch noch zu unterstützen. Da denke ichwirklich an Lenin: „Nur die dümmsten Kälber wählenihre Metzger selber.“ Das kann es doch nicht sein, meinesehr verehrten Damen und Herren.
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Der Staat macht zwar viele Fehler, aber er darf einenFehler bestimmt nicht machen: Er darf nicht zulassen,dass er lächerlich gemacht wird. Der größte Fehler wärejedoch, wenn er sich selbst lächerlich macht. Dass manvon Menschen bzw. bürgerschaftlichen Gruppierungen,die sich im Rahmen von Initiativen, die vom Ministe-rium ausgehen, darum bemühen sollen, in der Bevölke-rung des Landes ein demokratisches Bewusstsein zuverwurzeln, entsprechende Verpflichtungserklärungenverlangt, kann doch nicht dazu führen, dass bei Ihnen soein starker Widerspruch entsteht, wie das jetzt der Fallist. Ich bedauere das sehr. Im Grunde genommen handeltes sich um eine sehr vernünftige Sache.Danke schön.
Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wer wie ich häufiger zu Fragen des Extremis-mus und seiner Bekämpfung spricht, der erlebt leiderimmer wieder die gleiche Dramaturgie. Ich erinnere anden Koalitionsvertrag. Darin haben wir die Bekämpfungdes Linksextremismus und den Islamismus aufgenom-men. Damals haben Sie uns vorgeworfen, wir würdenvon nun an den Rechtsextremismus nicht mehr bekämp-fen wollen.Dann haben Sie gesagt, wir würden im Haushalt si-cherlich die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremis-mus streichen wollen, weil wir unsere Aufmerksamkeiteinseitig dem Linksextremismus zuwenden würden.Auch das war nicht richtig. Jetzt sagen Sie: Es ist unzu-mutbar – das haben Sie in der Vergangenheit selbst ge-macht –, von Trägern, die solche Aufgaben wahrneh-men, ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischenGrundordnung zu verlangen.Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle einmal überdas Ob und das Wie unterhalten. Ich finde es sehr bedau-erlich, dass Sie anfangen, über die Frage des Ob, alsoüber die Frage, ob es für einen Träger zumutbar ist, zuerklären, dass er selbst auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, zu diskutieren.
Natürlich ist das jedem zumutbar. Sie sagen, darum gehees nicht. Aber sogar das von Herrn Thierse zitierte Gut-achten aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundes-tages besagt: Die Befürchtungen des zuständigen Minis-teriums, dass durch Projektmittel auch unerwünschteOrganisatoren gefördert werden, ist damit nicht von derHand zu weisen. – Insofern ist es sicherlich richtig undsinnvoll, dass wir hier sagen: Dieses Ob muss außerhalbjeder Diskussion stehen.
Leider kommen wir wegen dieser Debatten niemalsdazu, sauber zu klären, welchen Extremismusbegriff wirin Deutschland eigentlich zugrunde legen. Meiner Mei-nung nach haben wir auf der linken Seite dieses Hausesimmer das Problem, dass es von Ihnen eine Art konze-dierten vermeintlichen moralischen Rabatt für denLinksextremismus gibt, während Sie engagiert und mitgroßem Einsatz – das will ich gar nicht verkennen – ge-gen den Rechtsextremismus vorgehen. Es ist an der Zeit,diese Unausgewogenheit endlich einmal abzulegen.
– Das mögen Sie behaupten. Ich habe als wissenschaftli-cher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht dasNPD-Verbotsverfahren betreut. Ich kann also sicherlichüber einige Jahre der Auseinandersetzung mit Extremis-mus in Deutschland reden. Man könnte viel darüber sa-gen, was dabei schiefgelaufen ist.
Aber eines ist aus meiner Sicht unerträglich – das sageich als jemand, dessen Wahlkreisbüro schon Ziel autono-mer Gewalt geworden ist, weil ich für den Ausbau desFrankfurter Flughafens bin oder weil ich dem Energie-konsens zugestimmt habe –, nämlich dass Sie mit demlinken Auge nicht hinschauen.
Jetzt habe ich relativ viel Zeit meiner Rede damit zu-gebracht, mich mit der aus meiner Sicht leider wiederverpassten Chance von Ihrer Seite zu befassen. Ich willam Ende nicht verhehlen, dass der positivistische Verfas-sungsjurist in mir mit Satz 2 durchaus nicht glücklich ist,was die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit angeht.
Ich halte das zwar nicht für verfassungswidrig, wie vonIhnen unterstellt. Aber ich finde, dass die vom betreffen-den sächsischen Ministerium gewählte Formulierung– wie wir alle wissen, ist Sachsen ein sehr gut regiertesBundesland –
eindeutig praktikabler und sachlicher ist. Aber um dieFrage, ob es so oder so besser ist, ging es Ihnen heute garnicht. Ihnen ging es heute leider wiederholt nur um die
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Dr. Stefan Ruppert
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Feststellung, dass wir nicht bereit sind, den Extremismusauf rechter Seite zu bekämpfen. Das ist schlicht Unsinn.Insofern können wir Ihre Anträge nur ablehnen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/4551 mit dem Titel „Demokratieinitia-
tiven nicht verdächtigen, sondern fördern – Bestätigungs-
erklärung im Bundesprogramm ‚Toleranz fördern – Kom-
petenz stärken‘ streichen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? –
Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Opposi-
tionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktio-
nen.
Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/4664 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflö-
sung und Abwicklung der Anstalt Absatzför-
derungsfonds der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft und der Anstalt Ab-
satzförderungsfonds der deutschen Forst- und
Holzwirtschaft
– Drucksache 17/4558 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall.
Ein erfolgreiches Instrument für die deutsche Agrar-
und Ernährungswirtschaft neigt sich dem Ende zu. Der
Absatzfonds wird abgewickelt. Das Bundesverfassungs-
gericht hat am 3. Februar 2009 das Urteil dazu gespro-
chen. Die Kläger haben recht bekommen. Mit Beschluss
vom 12. Mai 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die
gesetzliche Aufgabenstellung des Holzabsatzfonds sowie
dessen Finanzierung über die Sonderabgabe ebenfalls
für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
Ich persönlich bedaure diese Entwicklung sehr, ist
doch gerade unser Bundesland Bayern auf überregio-
nale Märkte und den heimischen Absatz angewiesen.
Wenn ich den Selbstversorgungsgrad bei Milch von
mehr als 170 Prozent und bei Rindfleisch von mehr als
200 Prozent sehe, dann hat diese Förderung immer wie-
der für Absatz im Ausland gesorgt. Das heißt, wir waren
dank des Absatzfondsgesetzes und der Arbeit der CMA
sehr erfolgreich im Exportgeschäft und ein konjunktur-
stabiler Faktor, was in Zeiten von Finanzmarktkrisen
und Wirtschaftsrezession hoch einzuschätzen war und
ist.
Das Gesetz zur Auflösung und Abwicklung der beiden
Fonds ist deshalb notwendig, weil sowohl der Absatz-
fonds als auch der Holzabsatzfonds durch Gesetz als
rechtsfähige Anstalt des Öffentlichen Rechts errichtet
wurden. Von den Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts sind bestimmte Vorschriften des Absatz-
fondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes unbe-
rührt geblieben. Sie sind auch aufzuheben. Das Nähere
über die Erhebung der Beiträge ist jeweils in der Verord-
nung über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz und
der Holzabsatzfondsverordnung geregelt, die ebenfalls
aufzuheben sind.
Für den Fall, dass beim Absatzfonds oder beim Holz-
absatzfonds zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Arbeit
Vermögensüberschüsse verbleiben, bedarf es außerdem
einer Regelung über deren Verwendung. Vielen Wirt-
schaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein deutlich gewor-
den, wie wichtig eine zentrale Absatzförderung ist und
welche gute Arbeit CMA und ZMP geleistet haben; über
Einzelheiten kann man streiten. Zwischenzeitlich sind
auf Initiative der Wirtschaft sowohl in der Ernährungs-
branche als auch im Holzbereich Nachfolgeorganisatio-
nen gegründet worden.
Fakt ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht
nicht nur die Vorschriften zur Beitragserhebung für
nichtig erklärt hat, sondern auch die Vorschriften zur
Aufgabenstellung der Fonds. Nach Anhörung der Ver-
bände leitete das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten daraus ab, dass eine Ver-
wendung etwaiger Überschüsse zugunsten der ur-
sprünglichen Beitragszahler rechtlich nicht geboten ist.
Dennoch werden wir uns als Unionsfraktion im Deut-
schen Bundestag im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
dafür einsetzen, die rechtlichen Möglichkeiten auszunut-
zen, um die Verwendung der Restmittel im Sinne der ur-
sprünglichen Beitragszahler zu ermöglichen. Auch der
Bundesrat hat sich im Dezember letzten Jahres dafür
ausgesprochen, etwaige Überschüsse, die nach Abwick-
lung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verblei-
ben, zugunsten der Land- und Forstwirtschaft zu ver-
wenden. In ihrer Stellungnahme zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf sprach sich die Länderkammer damit ge-
gen die Absicht der Bundesregierung aus, die Mittel
ohne Zweckbindung dem Bundeshaushalt zuzuführen.
Die Sonderabgabe sei von den Betrieben der Land- und
Ernährungswirtschaft sowie der Holz- und Forstwirt-
schaft erbracht worden. Daher müssten die Restmittel
auch diesen Betrieben wieder zugutekommen.
Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur
Nichtigkeit der Sonderabgabe lasse sich nicht ableiten,
dass diese in den allgemeinen Bundeshaushalt eingehen
müssten. Stattdessen müsse es ermöglicht werden, dass
Restmittel in der Land- und Ernährungswirtschaft bei-
spielsweise für Messebeteiligungen, Präsentationen,
Marktstudien sowie Markterschließungsmaßnahmen ein-
gesetzt werden. Von den übrig bleibenden Holzabsatz-
Marlene Mortler
(C)
(B)
fondsmitteln müssten wieder Forstbetriebe, Waldbesit-
zer und Unternehmen der Holzwirtschaft profitieren.
Diese Meinung teile ich ausdrücklich. Das heißt, soll-
ten nach vollständiger Abwicklung Restmittel zur Verfü-
gung stehen, können diese in den Haushalt zurückflie-
ßen. Wir Abgeordnete haben es dann als Haushalts-
gesetzgeber in der Hand, das verfügbare Geld im Sinne
der Beitragszahler einzusetzen. Den entscheidenden
Zeitpunkt werden wir im Auge behalten.
Heute debattieren wir über die Restmittel zweier
Fonds, die seitens der Wirtschaft seit 1969 mit Abgaben
gefüllt wurden. Diese gesetzlich auferlegten Abgaben
waren nie besonders beliebt. Jahrelang wurde in
Deutschland über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von
Zwangsabgaben für das land- und forstwirtschaftliche
Gemeinschaftsmarketing gestritten. Und tatsächlich:
Ihre ursprüngliche Zielsetzung haben die Abgaben
schon seit langem verloren. Im Jahr 2009 rügte der Bun-
desrechnungshof äußerst deutlich, dass die Marketing-
gesellschaft für Agrarwirtschaft, CMA, Beiträge ver-
schwende und ihre Aufgabe verfehle. Nach dem internen
Bericht des Bundesrechnungshofes habe die Absatzor-
ganisation viele Marketingmaßnahmen bezahlt, die „ge-
gen interne Vorgaben verstießen, unwirtschaftlich oder
weitgehend wirkungslos waren“. Der Bundesrechnungs-
hof untermauerte damit die Kritik vieler Land- und
Forstwirte. Schlussendlich hat das Bundesverfassungs-
gericht Anfang 2009 ein klares Urteil gesprochen, Az.:
2 BvL 54/06 vom 3. Februar 2009. Die millionen-
schwere Zwangsabgabe ist seit 2002 als rechtswidrig
anzusehen. Damit konnten die deutschen Land- und
Forstwirte die Zahlungen für die zentrale Vermarktung
ihrer Produkte einstellen. Zuletzt waren im Schnitt in die
Fonds jährlich fast 88 Millionen Euro geflossen. Mit
durchschnittlich 0,4 Prozent wurde der jeweilige Waren-
wert belastet.
Werner Hilse, der Präsident des niedersächsischen
Landvolkverbandes, hat ja kurz nach Bekanntgabe des
Urteils diese hochrichterliche Entscheidung als „Kon-
junkturbremse und nicht passend in die derzeitige Wirt-
schaftslage“ bezeichnet. Nach anfänglicher Schwarz-
malerei sind der Berufsstand und die Agrar- und
Ernährungswirtschaft dann doch sehr schnell aktiv ge-
worden. Zusammen mit der Politik hat die Wirtschaft
neue Konzepte und Finanzierungsmodelle für die Ab-
satzförderung entwickelt. Und, liebe Kolleginnen und
Kollegen, siehe da: Es funktioniert, auch ganz ohne
Zwangsabgabe.
Wir müssen aber auch feststellen, dass wir die auf
EU-Ebene bereitgestellten Mittel für das Absatzmarke-
ting nicht in dem Umfang abrufen, wie das wünschens-
wert wäre. Hier müssen die einzelnen Branchenorgani-
sationen mehr über ihren Tellerrand schauen. Wir
brauchen eine gemeinsame Strategie, um unsere heimi-
sche Agrar- und Ernährungswirtschaft voranzubringen.
Heute geht es um die Verwendung der vorhandenen
Restmittel aus den Absatzfonds. Und dabei muss nach
meiner Überzeugung ganz klar der Grundsatz gelten:
Zu Protokoll
Die Restmittel müssen so verwendet werden, dass dieje-
nigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon profitie-
ren. Daher halte ich das jetzt vorgesehene Verfahren der
schwarz-gelben Koalition in der Sache für nicht tragbar.
Die Absatzfondsmittel sind vorrangig von den land- und
forstwirtschaftlichen Betrieben aufgebracht worden.
Folgerichtig müssen die vorhandenen Restmittel zweck-
gebunden ausgegeben werden. Klar ist, dass wir nicht
die Restmittel im Umfang von ein paar Euro und dann
noch auf den Cent gerundet den Abgabenzahlern zu-
rückzahlen können. Der bürokratische Aufwand wäre
viel zu groß. Die SPD lehnt es aber ab, dass der Vermö-
gensüberschuss nach Abwicklung in den Bundeshaus-
halt überführt wird. Dieser muss den früheren Abgaben-
zahlern zugutekommen.
Meine Vorschläge dazu: Legen Sie ein einmaliges und
auf zwei Jahre befristetes Fortbildungsprogramm für
Landwirte auf. Aus einem breitgefächerten Angebot mit
dem Schwerpunkt Unternehmensmanagement könnten
sich die Betriebsleiter dann kostenfrei die Module aus-
suchen, die sie für die Weiterentwicklung ihrer Höfe be-
nötigen. Die Vermögensüberschüsse aus dem Absatzför-
derungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft
sollten dazu genutzt werden, die Nachfrage nach hoch-
wertigem und nachhaltig zertifiziertem Holz mit den La-
bels FSC, Naturland oder PEFC zu steigern.
Die SPD lehnt den Gesetzentwurf der Regierungsko-
alition mit der jetzigen Zweckbestimmung ab.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatim Sommer 2009 entschieden, dass die verpflichtendeErhebung einer Sonderabgabe zur Finanzierung einerzentralen Einrichtung der Wirtschaft und deren Aufga-ben verfassungswidrig ist. Bereits die im Jahr 2007 imAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz durchgeführte Anhörung zum Absatzfondshatte gezeigt, dass die damit verbundene Zwangsabgabenicht verfassungskonform ist. Das Gerichtsurteil warsomit vorhersehbar. Solche Zwangssysteme müssen sichin einem Rechtsstaat rechtfertigen und zeigen, dass sienicht durch freiwillige Lösungen ersetzt werden können.Bereits im Jahr 2002 hatte der Europäische Gerichtshoffestgestellt, dass eine Werbung allein für deutsche land-wirtschaftliche Produkte europäischem Recht wider-spricht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt musste über dievorhandenen Strukturen nachgedacht werden. Warumsollte ein deutscher Obstbauer mit seiner Abgabe denAbsatz von Obst ganz allgemein fördern? Im Übrigenwar nie einzusehen, dass die Landwirtschaft für die Ex-portförderung eigene Mittel aufbringt, während in denübrigen Wirtschaftsbereichen die Exportförderung Auf-gabe des Wirtschaftsministeriums ist. Die nun unterchristlich-liberaler Regierung betriebene Exportförde-rung für landwirtschaftliche Produkte hat dazu beige-tragen, die Land- und Ernährungswirtschaft zu stärken,und ist daher ein wesentlicher Beitrag für die Struktur-förderung des ländlichen Raumes.Jetzt legt die Bundesregierung den Gesetzentwurf vor,mit dem die Auflösung und Abwicklung der Anstalt „Ab-
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10178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene RedenDr. Christel Happach-Kasan
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satzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh-rungswirtschaft“ und der Anstalt „Absatzförderungs-fonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft“ geregeltwerden soll. Schon im Vorfeld hat die FDP wie nun auchder Bundesrat gefordert, das Restvermögen beider An-stalten gruppenspezifisch zu verwenden. Der Zentral-ausschuss der Deutschen Landwirtschaft wie auch dieArbeitsgemeinschaft der Deutschen Waldbesitzer-verbände – um nur die beiden größten Verbände zu nen-nen – haben ebenfalls diese Forderung erhoben. DieSonderabgabe ist von Unternehmen der Land- und Er-nährungswirtschaft wie auch der Forst- und Holzwirt-schaft geleistet worden. Die Verwendung dieser Mittelsollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht ha-ben, erfolgen. Das von der Bundesregierung mit demGesetzentwurf verfolgte Ziel, die Restmittel ohne Zweck-bindung dem allgemeinen Haushalt zuzuführen, wirdvon der FDP abgelehnt. Es mag, wie in der Begründungausgeführt, rechtlich nicht geboten sein, die Mittel grup-pennützig zu verwenden. Im Sinne des Vertrauensschut-zes ist dies jedoch politisch geboten.Um die Beitragszahler und die Steuerzahler nicht zubelasten, sind die Kosten der Abwicklung selbst zu-nächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Be-kanntgabe des Gerichtsbeschlusses gab es zahlreicheKlagen gegen die monatlichen Beitragsbescheide. Nachder Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wur-den diese für erledigt erklärt, die zu Unrecht eingezoge-nen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt.Es muss über die Forderung der Länder entschiedenwerden, dass die Prozesskosten der anhängigen Klagenvom Bund getragen werden.Es gibt bereits verschiedene Ideen, in welcher Weisedas Restvermögen der beiden Anstalten verwendet wer-den kann, zum Beispiel Einbringen in eine Stiftung oderdie Unterstützung bestehender Vermarktungsstrukturen,die sich in der Nachfolge der beiden Anstalten gegrün-det haben. In jedem Fall muss sichergestellt sein, dassdiejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon ei-nen Nutzen haben. Unser Grundgesetz fordert von uns,die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamtenBundesgebiet zu gewährleisten. Die Diskussion umGlasfasernetze zeigt, dass der ländliche Raum mit demProblem der Errichtung einer gleichwertigen Infra-struktur zu kämpfen hat. Vor diesem Hintergrund ist espolitisch kaum vertretbar, von Betrieben des ländlichenRaumes aufgewandte Mittel in den allgemeinen Haus-halt fließen zu lassen, statt sie dort zu verwenden, wohersie kommen und wo sie auch gebraucht werden, nämlichim ländlichen Raum.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht aus Sichtvieler Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aberauch vieler Beschäftigter der Absatzfonds ein unrühmli-ches Kapitel politischen Versagens zu Ende.Viele Jahre haben sich vor allem Teile der Agrarwirt-schaft gegen die Zwangsbeiträge zur Finanzierung vonAbsatzförderung über Werbemaßnahmen der CMA ge-wehrt. Die teilweise sexistischen Kampagnen der obers-Zu Protokollten Lebensmittelwerbeagentur Deutschlands hatte auchdie Linke seit langem kritisiert. Ich erinnere in diesemZusammenhang an die unrühmlichen Werbespots wie„Kleine Schweinerei gefällig?“ oder „Und ewig locktdas Fleisch“. Auch an der Verfassungsmäßigkeit diesesGeschäftsmodells hatten nicht nur wir Zweifel.Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch dasUrteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar2009 war nur folgerichtig und wurde durch uns begrüßt,auch wenn damit gleichzeitig sehr sinnvolle Einrichtun-gen wie die ZMP zur Disposition gestellt wurden. IhreMarkt- und Preisberichterstattung war sehr bedeutsam,und die Linke hatte gefordert, dies auch nach Abwick-lung des Absatzfonds als öffentliche Aufgabe fortzufüh-ren. Stattdessen wurde diese Aufgabe privatisiert unddie Agrarmarkt Informations-GmbH, AMI, als Nachfol-gerin der ZMP gegründet. Sie verkauft nun die Informa-tionen. Sie erstellt natürlich vor allem Daten, die sichgut verkaufen lassen. Öffentlich finanzierte Daten hättendagegen auch öffentlich und unentgeltlich zugänglichgemacht werden können. Damit wären Daten vorhan-den, die vielleicht nicht wirtschaftlich verwertbar, aberdafür für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. DieseChance wurde bewusst vertan.Das ist eine der Kehrseiten der Absatzfondshistorie.Als weitere Kehrseite erweist sich die von der Bun-desregierung vorgeschlagene Verwendung der Restmit-tel, die nach Bezahlung aller noch offenen Rechnungendes Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben.Diese Reste nicht verfassungsgemäß eingetriebenerGelder sollen aber nicht den Zahlenden, sondern demBundeshaushalt zugutekommen. Das ist widersinnig.Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom17. Dezember 2010 betont, dass die überschüssigenGelder einer „gruppennützigen Verwendung“ zugeführtwerden sollten. „Gruppennützig“ kann für die Linke nureines bedeuten: Landwirtinnen und Landwirte bzw. dieForstwirtschaft müssen von den Restgeldern profitieren,statt dass damit politisch geschaffene Löcher im Bun-deshaushalt gestopft werden. Dabei geht es nicht um dieberühmten Peanuts. Der hessische Landesverband desBundes Deutscher Forstleute, BDF, geht davon aus,dass allein beim Holzabsatzfonds nach Abzug aller offe-nen Rechnungen und Gerichtskosten noch 2,8 MillionenEuro übrig bleiben. Der Vorschlag des BDF, diese Gel-der an die „Zukunft Holz GmbH“ zu übergeben, könntedie Gelder im Interesse der in der Branche Beschäftig-ten sichern. Im Bundeshaushalt ist das höchst unsicher,erst recht nach den Erfahrungen der vergangenen Wo-chen.Die Linke thematisiert schon sehr lange, dass geradein der regionalen Absatzförderung große Potenziale fürWertschöpfung und Arbeitsplätze ungenutzt sind. Des-halb könnten wir uns gut vorstellen, dass die Restgeldernach der Abwicklung der beiden Fonds gerade dafürverwendet werden. Die Nutzung der Gelder zur Stärkungvon Agrarfördergesellschaften würde auch in meinemHeimatbundesland Brandenburg den Verband „proagro“ unterstützen. Leider ist die Bundesregierung aufsolche Vorschläge bisher nicht eingegangen. Auch die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10179
gegebene RedenDr. Kirsten Tackmann
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Kritik des Bundesrates wurde beiseite gewischt, weil dasBundesverfassungsgericht nicht nur die Zwangsgelder,sondern auch die gesetzliche Aufgabenstellung derFonds für verfassungswidrig erklärt hätte. Die Linkefordert, ernsthaft nach einer verfassungskonformen Lö-sung zu suchen, damit Land- und Forstwirtschaft zumin-dest noch indirekt von den verfassungswidrig eingezoge-nen Geldern profitieren können. Noch fairer wäre sicherdie direkte Rückzahlung an die Beitragszahlerinnen undBeitragszahler, aber dies wird organisatorisch kaum zuleisten sein.Entsetzt bin ich nach wie vor darüber, dass sich dieBundesregierung und die damalige schwarz-rote Koali-tion vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts überra-schen lassen haben. Seriöse, vorausschauende Politiksieht anders aus. Dabei hatte sich in der Anhörung imAgrarausschuss des Bundestages am 7. März 2007 derVerdacht der Verfassungswidrigkeit sogar noch erhärtet.Das habe ich der Bundesregierung auch klar gesagt.Aber sie hat bedingungslos am Zwangswerbebeglü-ckungsinstrument festgehalten, statt rechtzeitig einenPlan B zu erarbeiten. Insbesondere gegenüber den Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtungen wardas grob fahrlässig. Die Fürsorgepflicht hätte verlangt,sich rechtzeitig gemeinsam über Alternativen Gedankenzu machen.Heute stehen wir vor einem weiteren Scherbenhaufeneiner eitlen und ignoranten Regierungspolitik. Denn dasWerbekonzept des Absatzfonds wurde nicht nur ver-fassungswidrig finanziert, sondern es war unnütz. Dervon der Linken benannte Sachverständige ProfessorDr. Tilman Becker vom Institut für Agrarpolitik undLandwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohen-heim brachte es bei der Anhörung auf den Punkt. DieArbeit der CMA sei herausgeworfenes Geld, unnütz undgehöre abgeschafft.Die beiden Fonds sind nun – fast – Geschichte. Dasist im Grunde auch gut so. Leidtragende sind die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter von CMA, ZMP und Holz-absatzfonds. Ich hoffe sehr, dass sie ihr Fachwissen undihre Fähigkeiten nun sinnvoll an anderer Stelle zumWohle unserer Land- und Forstwirtschaft werden einset-zen können.
Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsge-richt die Zwangsabgabe der Land- und Forstbetriebezum Absatzfonds endlich für verfassungswidrig erklärt.Jahrelang wurden Bäuerinnen und Bauern zu Unrechtgezwungen, die unsinnigen und allzu oft geschmacklo-sen und frauenfeindlichen Werbemaßnahmen der CMAsowie deren üppig ausgestatteten Apparat samt Funktio-nären zu finanzieren. Nach der Abwicklung werden ausdem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 MillionenEuro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euroverbleiben – Geld, das von den Bauern zu Unrecht ein-gezogen wurde. Um das Unrecht komplett zu machen,will die Bundesregierung dieses restliche Geld im Bun-deshaushalt verschwinden lassen.Zu ProtokollDer Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert,ihren Gesetzentwurf zu ändern und die Gelder gruppen-nützig zu verwenden. Die Bundesregierung hat dies zu-rückgewiesen. Sie zeigt keinerlei Bereitschaft, die Gel-der im Sinne derer zu verwenden, die sie bezahlt haben.Wir begrüßen die Forderung des Bundesrates nacheinem gruppennützigen Einsatz der verbleibenden Ab-satzfonds- und Holzabsatzfondsgelder. Gruppennützigkann für uns aber nur heißen: Verwendung im Sinne deslandwirtschaftlichen Gemeinwohls. Die Mittel müssender Landwirtschaft insgesamt zugutekommen und demdauerhaften Wohl der Landwirtschaft und des Waldesdienen. Wir schlagen daher zur Verwendung der verblei-benden Mittel aus dem Absatzfonds und dem Holzab-satzfonds die Einrichtung einer Stiftung BäuerlicheLandwirtschaft vor. Ziel der Stiftung sollte es sein, not-wendige gemeinnützige Leistungen für die Land- undForstwirtschaft zu fördern, die heute weder von der Pri-vatwirtschaft noch vom Staat in ausreichendem Maßegeleistet werden.Die vom Bundesrat geforderte Gruppennützigkeit be-steht im höchsten Maße da, wo es um die Erbringunglandwirtschaftlicher Gemeingüter geht und wo demlangfristigen landwirtschaftlichen Gemeinwohl gedientwird. Die Land- und Forstwirtschaft lebt wie kein ande-rer Wirtschaftsbereich von den Vorleistungen vergange-ner Generationen: Ohne die jahrhundertelange Züch-tungsarbeit stünden die heutigen Kulturpflanzen undNutztierrassen nicht zur Verfügung. Ohne den Aufbauder Bodenfruchtbarkeit über Generationen wären dieheutigen Erträge in der Landwirtschaft nicht möglich.Nicht ohne Grund stammt der Begriff der Nachhaltigkeitaus der Forstwirtschaft, denn wie nirgendwo sonst ar-beitet im Forst eine Generation für die nächste, erntenwir heute, was unsere Vorgänger uns hinterlassen ha-ben.Der enorme ökonomische Druck in der Land- undForstwirtschaft führt heute dazu, dass diese elementarenGemeinleistungen immer weniger erbracht werden unddass die Nachhaltigkeit allzu oft dem kurzfristigen Profituntergeordnet wird. Am Beispiel der Eiweißpflanzen er-leben wir heute, was passiert, wenn landwirtschaftlicheGemeingüter wie die langfristige Züchtungsarbeit nichtmehr erbracht werden. Züchtung findet heute nur nochda statt, wo ein großer Markt besteht. Kleinere, nur re-gional angebaute Sorten sind für Züchtungsunterneh-men wirtschaftlich uninteressant. Das führt dazu, dassdie Züchtungs- und Vermehrungsarbeit an vielen wichti-gen Kulturpflanzen, etwa bei den Leguminosen, ver-nachlässigt wird. Ein wesentlicher Grund für den dra-matischen Rückgang des Eiweißpflanzenanbaus ist diebrachliegende Züchtung.Die Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft soll Pionier-arbeit von Bäuerinnen und Bauern, Waldbäuerinnenund Waldbauern fördern, die dem langfristigen Wohl derLand- und Waldwirtschaft dient. Nicht die Industrie,sondern die Pioniere, die insbesondere in der nachhalti-gen Züchtungs- und Erhaltungsforschung, beim Aufbauder Bodenfruchtbarkeit und in der nachhaltigen Wald-bewirtschaftung wertvolle gemeinnützige Entwicklungs-
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10180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10181
Friedrich Ostendorff
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arbeit leisten, sollten durch eine solche Stiftung unter-stützt werden. Den Einsatz der Restgelder zurExportförderung lehnen wir ab. Die Exportförderungdient allein kurzfristigen Einzelinteressen der Ernäh-rungsindustrie und ist nicht im Interesse der Landwirt-schaft insgesamt.Wir fordern die Koalition auf, sich mit uns gemein-sam für die Nutzung der Absatzfondsgelder im Sinne deslandwirtschaftlichen Gemeinwohls einzusetzen und zuverhindern, dass die Gelder der Bäuerinnen und Bauernim Bundeshaushalt verschwinden. Nachdem über dieJahre Hunderte von Millionen Euro mit Unterstützungder Politik zu Unrecht eingezogen und in unsinnigenKampagnen verschwendet wurden, müssen wenigstensdie Restmittel im Sinne der nachhaltigen Land- undForstwirtschaft verwendet werden. Das ist das Min-deste, was wir den Bäuerinnen und Bauern schuldigsind.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4558 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung
– Drucksache 17/4678 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 14. Februar wird der Bundesumweltminister eineweitere Offensive in Gorleben starten; er ruft zu einemsogenannten Dialog auf. Wahrscheinlich bereitet er sei-nen Dialog gerade vor, sodass er der heutigen Debatte zudiesem Tagesordnungspunkt leider nicht beiwohnenkann.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUund der FDP, Sie haben heute die Chance, ein Zeichenzu setzen, damit am 14. Februar keine Alibiveranstal-tung stattfindet. Sie haben heute Abend die Gelegenheit,hier zu beweisen, dass es nicht um eine Art Pseudodia-log geht, auch nicht um ein Handeln nach dem Motto„Diktat statt Dialog“ geht, wie Sie es in den letzten Mo-naten vorgemacht haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben Sie hierall die Monate gemacht? Sie haben Fakten geschaffen.Sie haben dafür gestimmt, mehr Atommüll zu produzie-ren. Sie haben still und heimlich die Weichen dafür ge-stellt, dass Sachverständige aus alten Zeiten mittlerweilewieder Sicherheitsanalysen in Gorleben durchführen.Das geht so nicht. Wenn Sie es mit dem Dialog ernstmeinen, dann sollten Sie – dazu rufen wir Sie heute auf –unserem Antrag zustimmen.
Worum geht es? Wir machen Ihnen, um in der Sozial-arbeitersprache zu reden, ein niedrigschwelliges Ange-bot.
Wir könnten viel mehr fordern, aber wir verlangen ei-gentlich nur zwei kleine Signale. Ich denke, wenn manes ernst meinen würde, dann könnte man den beidenPunkten zustimmen. Worum geht es?Erstens. Nehmen Sie das sogenannte Enteignungsge-setz zurück. Sie setzen das schärfste Schwert des Grund-gesetzes ein und wollen dann einen Dialog führen. Daspasst nicht zusammen.
Zweitens. Sie sind Parlamentarier. Herr Grindel, neh-men Sie Ihr Parlamentsrecht ernst und stimmen Sieheute mit uns dafür, zumindest die Ergebnisse des Unter-suchungsausschusses abzuwarten und bis dahin ein Mo-ratorium für die Erkundung in Gorleben zu beschließen.
Diese Signale würden auch in Gorleben ankommen.Der Bundesumweltminister hat gegenüber der Han-noverschen Presse erklärt, die Gegner seien feige und ermutig. Ich frage: Was ist das für ein Mut, wenn mannach dem Motto „Mit dem Kopf durch die Wand“ han-delt? Was ist das für ein Mut, wenn man sagt: „Wir ge-hen da rein. Es gibt keine Alternativen. Es ist egal, waswir im Untersuchungsausschuss festgestellt haben undwie die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind“? Inwie-fern beweist der Bundesumweltminister Mut, wenn ernach Gorleben geht, um die Entscheidung zu vertreten?Die Folgen dieser Entscheidung müssen letztlich andereausbaden. Wenn sich herausstellt, dass Gorleben allesandere als geeignet ist, ist der Bundesumweltministergarantiert nicht mehr in dieser Verantwortung, sondernbestenfalls Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen.
Ich glaube, es ist an der Zeit, zu erkennen, dass manmit diesem Thema sehr sorgfältig umgehen und Alterna-tiven in Betracht ziehen muss. Der Umweltminister sagt,
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10182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dr. Matthias Miersch
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Gorleben bzw. die Endlagersuche sei eine nationale He-rausforderung. Ich frage Sie: Warum wird diese natio-nale Herausforderung nur in Gorleben gesucht? Daskann doch nicht die wahre Antwort sein. Uns liegen in-zwischen Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchun-gen vor – Stichwort: Gasvorkommen –, durch die – unddie Asse beweist das – massive Zweifel an der Eignungvon Salzformationen geweckt werden.Ich glaube, die überparteiliche Initiative, deren ganz-seitige Anzeige wir heute in der Elbe-Jeetzel-Zeitung le-sen können, hat recht. Es geht darum, dass man Verant-wortung ernst nimmt, dass man die Risiken ernst nimmt.Wir müssen für nachfolgende Generationen eine guteLösung finden. Wir dürfen nicht in zehn Jahren plötzlichvor dem Dilemma einer fehlenden Alternative stehen,weil wir diese Frage nicht beantwortet haben. Die An-zeige schließt mit den Worten:Reden Sie nicht von Verantwortung – handeln Sieverantwortlich!Dass Sie verantwortlich handeln wollen, können Sieheute beweisen. Das wäre ein erstes Zeichen, liebe Kol-leginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP. Wirsind gespannt, wie Sie sich verhalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute Abend geht es mal wieder um Gorleben. Nach-dem man sich in den 60er- und 70er-Jahren des letztenJahrhunderts im Konsens aller damals agierenden Par-teien für die friedliche Nutzung der Kernenergie ent-schieden hat, lagert inzwischen der gesamte Müll inoberirdischen Zwischenlagern, verteilt über die ganzeRepublik. Das entspricht tatsächlich keinen guten Si-cherheitsstandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Bun-desminister Röttgen den Erkundungsstopp, der vor zehnJahren von Rot-Grün beschlossen wurde, aufgehobenhat und der Salzstock in Gorleben seit Oktober 2010wieder ergebnisoffen erkundet wird.
In Ihrem heute zu diskutierenden Antrag, liebe Kolle-gen von der SPD, wiederholen Sie schon oft vorgetra-gene Argumente, die durch Wiederholung nicht besserwerden.
Die Weitererkundung sei schon deshalb abzulehnen,weil nach Bergrecht vorgegangen werde.
Dass die Erkundung auf Grundlage des Bergrechts so-wohl rechtens als auch angemessen ist, ist bereits zwei-mal, 1990 und 1995, höchstrichterlich bestätigt worden.
Ich zitiere aus dem Urteil. Dort steht ausdrücklich, dassdie untertägige Erkundung eines Standorts noch nichtder Beginn der Errichtung einer entsprechenden Anlagesei und deshalb auch die Planfeststellung nach Atom-recht nicht notwendig und auch nicht sinnvoll sei, weilnoch offen gelassen werden müsse, ob denn an diesemStandort eine solche Anlage tatsächlich errichtet werdenkönne oder nicht.Es gehört einfach zur politischen Kultur in einer De-mokratie und einem Rechtsstaat,
dass man höchstrichterliche Urteile auch dann akzep-tiert, wenn sie einem nicht passen. Der Minister hatmehrfach zugesagt: Die Erkundungsarbeiten sollen er-gebnisoffen sein. Sie sollen unter Beteiligung der Öf-fentlichkeit, der kommunalen Mandatsträger und derBürgerinitiativen vorgenommen werden.
Zusätzlich soll es im Rahmen eines Peer-Review-Ver-fahrens eine Überprüfung durch internationale Expertengeben. Erst danach findet gegebenenfalls eine Planfest-stellung nach Atomrecht statt.
Jetzt geht es zunächst um die Zusammenfassung undBewertung der bislang erhobenen Daten aus der Erkun-dung im Rahmen einer vorläufigen Langzeitsicherheits-analyse. Ich kann nachfühlen, dass die Seriosität der Si-cherheitsanalyse von Gorleben-Kritikern in Zweifelgezogen werden kann und dass sie sagen: Es sind mögli-cherweise nicht die richtigen Experten, nicht die richti-gen Fragen, die letztendlich auf den Tisch kommen.Herr Röttgen bietet ganz konkret die Einbeziehungder Kritiker an, um tatsächlich alle stritten Fragen zu be-trachten und um kritische Experten mit einzubeziehen.Das wird der Minister sicherlich bei seinem Besuch inLüchow-Dannenberg am 14. Februar konkretisieren.Meine Damen und Herren, ich kann Menschen verste-hen,
die die friedliche Nutzung von Kernenergie zur Stromer-zeugung für nicht verantwortbar halten. Ich akzeptiereaber nicht, dass versucht wird, mit der Verzögerung der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10183
Dr. Maria Flachsbarth
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Endlagersuche die Nutzung von Kernenergie zu diskre-ditieren.
Deshalb ist die Forderung der SPD, einen Erkundungs-stopp zu veranlassen, um das Ergebnis des Untersu-chungsausschusses abzuwarten, nichts anderes als einweiterer untauglicher Versuch, zu verzögern.
Wenn die rot-grüne Bundesregierung im Juni 2000 inder sogenannten Ausstiegsvereinbarung schriftlich dieEignungshöffigkeit des Standortes bescheinigt – ich zi-tiere: „Somit stehen die bisher gewonnenen geologi-schen Befunde einer Eignungshöffigkeit des SalzstocksGorleben … nicht entgegen.“ –, dann verstehe ich ein-fach nicht,
warum jetzt nicht weiter untersucht werden kann, obsich diese Eignungshöffigkeit tatsächlich verifizierenlässt. Ich frage mich auch, warum gerade in dieser Wo-che eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studieveröffentlicht wird, die angeblich die Untauglichkeit desSalzstocks zur Endlagerung wegen des Vorkommensvon Kondensaten, Öl und Gas nachweist.Ich stelle dazu fest: Erstens. Die Erkundungsbefunde,die dieser Studie zugrunde liegen, sind mindestens zehnJahre alt. Zweitens. Die Weiteruntersuchung dieser Fra-gestellung wurde durch das Moratorium verhindert.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Voß?
Aber sehr gern, aber erst dann, wenn ich diese Pas-
sage beendet habe.
Drittens. Die Daten sind öffentlich zugänglich; denn
sonst hätte Greenpeace sie letztendlich nicht bewerten
lassen können. Viertens. Warum wurde denn dann diese
Studie nicht schon viel früher vorgelegt?
Sie hatten eigens dazu eine zehnjährige Denkpause ein-
geschoben. Ich denke, es war keine Pause vom Denken,
sondern eine Pause zum Denken.
Frau Kollegin Voß, bitte.
Frau Flachsbarth, wir waren heute im gleichen Unter-
suchungsausschuss. Es ist zum wiederholten Male er-
klärt worden, dass das Wort „eignungshöffig“ nicht ge-
eignet ist, um im Zusammenhang mit der Eignung von
Gorleben als Endlager für radioaktiven Müll benutzt zu
werden.
Die Eignungshöffigkeit ist ein Begriff aus dem Berg-
bau. Ich sage es Ihnen gerne noch einmal. Diesen Begriff
können wir verwenden, wenn ein Bergwerk aufgefahren
wird und erkundet werden soll, ob es dafür taugt, dass
Bodenschätze gefördert werden. Wenn erwartet werden
kann, dass genügend Bodenschätze zutage treten, spricht
man von Eignungshöffigkeit. Wenn Atommüll, der
nichts mehr wert ist und bei dem es sich nicht um einen
Wertstoff handelt, eingelagert werden soll – darüber sagt
das Bergrecht überhaupt nichts aus –, sagt das Wort „eig-
nungshöffig“ gar nichts, aber auch gar nichts aus.
Ebenso wenig kann nach dem veralteten Bergrecht
darüber geurteilt werden, ob Gorleben ein geeigneter
Standort für ein unterirdisches Atommülllager sein kann.
Ich möchte wissen, ob das bei Ihnen nicht angekom-
men ist, ob Sie das nicht wissen wollen und warum Sie
so hartnäckig dieses Wort, das nicht zutreffend ist, ver-
wenden.
Liebe Frau Kollegin Voß, ich schlage vor, dass Sie zu-nächst einmal die rot-grünen Kollegen fragen, wie dasWort „eignungshöffig“ in diese Ausstiegsvereinbarunggeraten ist.
Wenn es sich um eine völlig unzutreffende Vokabelhandeln sollte, dann verstehe ich nicht, warum Politiker-generationen vor uns diese Vokabel benutzt haben. Wirnutzen Sie vielleicht noch zum historischen Andenken.
Außerdem kommt das Bergrecht lediglich hinsicht-lich der Untersuchung dieses Salzstocks zur Anwen-dung, um festzustellen, ob sich ein atomrechtliches Plan-feststellungsverfahren lohnt. Genau das hat uns dasBundesverwaltungsgericht in den Jahren 1990 und 1995bestätigt. Es hat gesagt, dass es überhaupt nicht zulässigist, bei der Untersuchung eines Salzstocks das Atom-recht zugrunde zu legen, weil die erforderlichen Datennoch gar nicht vorhanden sind.
Diese müssen erst im Rahmen eines bergrechtlichen Ver-fahrens erarbeitet werden. Danach findet selbstverständ-lich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren statt.Man kann in einer Demokratie nicht mehr machen,als politische Entscheidungen und Verwaltungsentschei-dungen höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Wenn sieüberprüft sind, dann muss man diese Urteile akzeptieren.Denn sonst lässt sich Rechtsfrieden, der für eine zu-
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10184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dr. Maria Flachsbarth
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kunftsfähige Politik dringend notwendig ist, nicht erzie-len.
Ich frage mich: Warum versucht man mit allen Mit-teln, die Weitererkundung in Gorleben zu verhindern,die unter Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung, derkommunalen Mandatsträger, der Kirchen, der Bürgerini-tiativen, kritischer Wissenschaftler und unabhängigerausländischer Wissenschaftler in einem transparentenVerfahren erfolgt?
Ich frage mich: Warum hat die Opposition eigentlich sol-che Angst vor der Wahrheit in Gorleben?
Deutschland hat in einem demokratisch legitimiertenEntscheidungsprozess und im großen gesellschaftlichenKonsens vor circa 50 Jahren mit der Nutzung der Kern-energie zur Stromerzeugung begonnen. Wir sind jetztaufgefordert – dies ergibt sich aus der Verantwortungvon Demokraten für das Gemeinwesen, die auch fürKonsequenzen aus dem Handeln und Entscheiden in derVergangenheit einstehen müssen –, uns ernsthaft undzielorientiert der Aufgabe der Entsorgung zu stellen.
Frau Kollegin, auch Herr Kelber hat den Wunsch
nach einer Zwischenfrage.
Das ist fantastisch. Dann habe ich noch mehr Rede-
zeit; das ist klasse.
Wenn die längere Redezeit hilft, die Sachlage aufzu-
klären, ist das in Ordnung.
Genau, Herr Kelber.
Sie versuchen in jeder Rede, immer und immer wie-
der mit den gleichen Worten die Behauptung aufzustel-
len, die Opposition hätte Angst vor dem klaren transpa-
renten Verfahren, das Schwarz-Gelb gewählt hat.
– Ja, gröhl, gröhl, gröhl, das geht wunderbar. – Warum
verwenden Sie zwar das Bergrecht – darauf bestehen
Sie; gerade haben Sie sich zum Atomrecht geäußert –,
nehmen aber das veraltete Bergrecht, das weder den Ex-
pertinnen und Experten noch den Bürgerinnen und Bür-
gern die Beteiligung rechtlich zusichert, und nicht etwa
das vor einigen Jahrzehnten novellierte Bergrecht, in
dem diese Rechte verbrieft sind und nicht vom Minister
je nach Gusto eingezogen und erteilt werden können?
Glauben Sie nicht, dass die Bürger Sie ernster nehmen
würden, wenn sie das Recht hätten, das seit zwei Jahr-
zehnten jeder andere Bürger in dieser Republik hat,
wenn etwas nach Bergrecht geplant wird? Warum trauen
Sie sich da nicht? Sie können nicht daran vorbeireden.
Weil wir, ehrlich gesagt, Herr Kelber, mitten im Ver-fahren sind, eigentlich auf den letzten Metern eines100-Meter-Laufes, die wir jetzt hinter uns bringen wol-len,
um so zügig wie möglich endlich herauszufinden, obdieser Salzstock in Gorleben geeignet sein könnte odernicht.
Minister Röttgen hat ausdrücklich angeboten, dass esBeteiligung geben wird, sowohl in Bezug auf die Benen-nung der Expertinnen und Experten im Rahmen derLangzeitsicherheitsanalyse als auch in Bezug auf dasStellen eigener Fragen zu kritischen Punkten bezüglichdes Salzstocks Gorleben. Ich nenne die GorlebenerRinne und Kondensatvorkommen. Hier ist es ohneZweifel so, dass Experten von außen mithelfen sollen,diese Punkte zu verifizieren oder zu falsifizieren. Auf je-den Fall wollen wir jetzt zügig Klarheit darüber bekom-men, ob dieser Salzstock als Endlager geeignet ist odernicht, ob dort ein atomrechtliches Planfeststellungsver-fahren eröffnet werden sollte oder nicht. Herr Kelber, ichkann die Behauptung, dass dieses Verfahren die Interes-sen der Menschen vor Ort nicht vollumfänglich mit be-rücksichtigt, nicht nachvollziehen.
Ich kann nicht erkennen, Herr Kelber, dass das Insis-tieren auf den Wortlaut aktualisierter Gesetze die Situationwirklich verbessert. Hier verweise ich auf Stuttgart 21, wotatsächlich alles an öffentlicher Beteiligung, so wie dieGesetze es vorschreiben, und an parlamentarischen Ent-scheidungsprozessen, so wie die Gesetze es vorschreiben,erfolgt ist, aber dennoch keine öffentliche Akzeptanz er-zielt worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass dieMenschen vor Ort, die Bürgerinitiativen, die Kirchen, dieGewerkschaften, die kommunalen Vertreter, jeder, der einberechtigtes Interesse hat, in diesen Prozess einbezogenwerden.
– Wenn das so ist, freue ich mich ganz besonders.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10185
Dr. Maria Flachsbarth
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Wir bieten Ihnen an, an diesem Dialogprozess mitzu-wirken. Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Dialog-prozess unterstützen würden, sodass wir unserer gesell-schaftlichen Verantwortung für diesen Standort, aberauch für die Entsorgung von hochradioaktiven Abfällengemeinsam nachkommen können.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wenn es der Bundesregierung um einen Dialog mit denBürgerinnen und Bürgern des Wendlands gegangenwäre, dann hätte sie nicht ein Dreivierteljahr verstrei-chen lassen, nachdem die Bürgerinitiativen, die örtlichenInitiativen und der Kreistag um ein Gespräch gebetenhaben. Darum wurde letztes Jahr im Frühjahr oder Früh-sommer gebeten. Aber nein, erst jetzt hat der MinisterZeit: erst jetzt, nachdem das Atomrecht verändert wurde,erst jetzt, nachdem die Laufzeiten der Atomkraftwerkeverlängert wurden.
Was bedeutet die Laufzeitverlängerung? Die Lauf-zeitverlängerung bedeutet circa 500 weitere Castorenmit hochradioaktivem Müll.
Die Änderung des Atomgesetzes – sie wurde angespro-chen – bedeutet unter anderem, dass Enteignungsmög-lichkeiten geschaffen wurden, um Gorleben – so nenntman es – weiter zu erkunden.Dass jetzt ein Gespräch stattfinden soll, das müssendie Bürgerinnen und Bürger, das muss der Kreistag alsAlibiveranstaltung verstehen. Sehr deutlich formuliert erdies in einem offenen Brief, der von allen möglichen ge-sellschaftlichen Gruppen und fast allen Fraktionen imKreistag unterschrieben ist, übrigens auch von der FDP-Fraktion.
Wie ich höre, ist auch die CDU-Fraktion nicht besondersglücklich über das Vorgehen.Ich möchte zwei Stellen aus diesem offenen Brief zi-tieren.Sie aber– so dieser offene Brief –bieten uns lediglich einen „Dialog“ an, der „die Ar-beiten im Salzstock Gorleben begleiten“ soll. Wäh-rend dort die Baumaschinen bereits Fakten schaf-fen.Es wird deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger betrach-ten das als eine Alibiveranstaltung und haben das Ge-fühl, es werden Tatsachen geschaffen, wie seit 30 JahrenTatsachen geschaffen werden, ohne dass sie wirklich ge-hört und ihre Ängste und Bedenken wahrgenommenwerden.Weiter heißt es:Herr Bundesumweltminister, wir wollen eine offeneund transparente Debatte über das Atommüllprob-lem. In ganz Deutschland. Keinen regionalenScheindialog.Recht haben die Bürgerinnen und Bürger; das wird Wo-che für Woche auch im Untersuchungsausschuss deut-lich. Es wird in diesem Land nicht über die Frage disku-tiert: Wohin mit dem Müll, den wir seit 50 Jahrenproduzieren? Es wird weiter in Gorleben erkundet, ob-wohl seit 30 Jahren klar ist, dass es zumindest sehr großeZweifel an der Eignung dieses Salzstockes gibt.Es wird weiter erkundet, weil dieser Salzstock derEntsorgungsnachweis für die in Betrieb befindlichenAtomkraftwerke ist. In dem Moment, in dem klar wäre,dass Gorleben ungeeignet ist, müssten die Betriebsge-nehmigungen zurückgenommen werden. Dass das imMoment politisch nicht passt, ist vollkommen klar. Aberdaran wird deutlich, dass im Moment, genau wie in denletzten 30 Jahren, nicht die Sicherheit der Bürgerinnenund Bürger, nicht der Stand von Wissenschaft und Tech-nik und nicht die Sorge um zukünftige Generationen imFokus Ihrer Betrachtungen stehen, sondern nur der Wei-terbetrieb und die Möglichkeit, den Konzernen weiterhinGeld zuzuschustern. Das hören wir Woche für Wochevon Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.Schließen möchte ich mit einem Zitat aus der heuti-gen Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der einmit der Erkundung befasster Ingenieur sagte:
Selbst mit den besten technischen Bauwerken – die manbei Brücken oder Tunneln vielleicht verantworten kann,die man bei Zeiträumen von 1 Million Jahre aber nichtverantworten kann, weil man die Havarie unter Umstän-den nicht mehr feststellen wird – und unterirdischenMaßnahmen wird man aus einem maroden Kübelwagenkeinen Mercedes machen. – Genau darum geht es. Es istlängst widerlegt, dass die Grundvoraussetzungen, die Sieam Anfang immer eingefordert haben, zum Beispiel einintaktes Deckgebirge, erfüllt sind. Sie versuchen weiter-hin, Möglichkeiten zu finden, um diesen Salzstock zu
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10186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Dorothee Menzner
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rechtfertigen, obwohl längst deutlich ist: Die Eignung istnicht gegeben.Ich danke.
Angelika Brunkhorst ist nun die nächste Rednerin für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die SPD nimmt das Angebot des Bundesumweltminis-ters zum offenen Dialog mit den Bürgern vor Ort heutezum Anlass, um erneut die Unterbrechung der Erkun-dungsarbeiten für die Dauer des Untersuchungsaus-schusses zu fordern. Das haben Sie schon mehrfach ver-sucht. Sie wissen ganz genau, dass das unsinnig ist;
denn im Untersuchungsausschuss zu Gorleben wird dasRegierungshandeln der Vergangenheit untersucht, nichtaber die Eignung bzw. Nichteignung
des Salzstockes Gorleben festgestellt.
Das sollten wir hier doch noch einmal festhalten.Ihre Forderung ist entlarvend; das hat meine Vorred-nerin, Frau Flachsbarth, auch schon gesagt. Es geht Ih-nen nicht um Aufklärung, um zu wissen, was mit demSalzstock ist, sondern es geht Ihnen darum, die Entschei-dung über die Endlagerfrage weiter zu verzögen. Ichkann Ihnen sagen: Das machen wir so nicht mit. Denndem Bund obliegt die Aufgabe, die Endlagersuche vo-ranzutreiben. Die christlich-liberale Koalition stellt sichdieser Verantwortung, und wir werden diesen Standortauch weiterhin ergebnisoffen erkunden lassen. Dasheißt, wenn er nicht geeignet ist, dann wird dort auchkein Endlager gebaut.
Ich muss an dieser Stelle noch einmal sagen: In denrund zehn Jahren, in denen die SPD mit an der Regierungwar – ich betone dies natürlich immer wieder gerne –,sind wir keinen Schritt weitergekommen. Damals wurdeder Ausstiegskonsens mit dem Hinweis bestätigt, dassdie geologischen Befunde nicht gegen eine Eignungs-höffigkeit des Standorts Gorleben sprechen. Darüberkann man sich ja streiten, aber ich frage Sie: Warum ha-ben Sie diese zehn Jahre verdammt noch mal nicht ge-nutzt? – Sie hätten vieles auf den Weg bringen können.Es ist aber nichts passiert.
Meine Damen und Herren, wir finden in Ihrem An-trag das große Wehgeschrei darüber, dass die Erkundungnach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. DieArbeiten im Rahmen der Erkundung betreffen die Natur;es sind bergmännische Tätigkeiten. Es geht um Fragender Geologie und Hydrologie. Diese Aspekte finden na-türlich im Bergrecht ihren Niederschlag.
Das Atomrecht kümmert sich um Strahlenschutz. ImMoment gibt es im oder um den Berg herum allerdingsnoch keine strahlenden Abfälle. Deswegen ist das Atom-recht im Moment nicht relevant.
– Die Zwischenlager sind auf Initiative des damaligenUmweltministers Trittin eingerichtet worden, FrauKotting-Uhl. Bitte erinnern Sie sich doch einmal.
Im Untersuchungsausschuss ist auch klar geworden,dass es bereits in der Vergangenheit Öffentlichkeitsbetei-ligung, Aufklärung und Informationen gab.
Es sind viele Fachvorträge gehalten worden. Es sindBohrergebnisse veröffentlicht worden, und es ist natür-lich auch die Gorleben-Kommission zur Information derKommunalpolitiker und Verbände eingerichtet worden.Letztendlich hat es auch das Informationszentrum gege-ben. Insofern können wir uns überhaupt nicht darum he-rumdrücken.Die Erkundungen werden fortgeführt.
– Warten Sie es doch ab.Darüber hinaus wollen Sie, dass wir die Möglichkeitder Enteignung zurücknehmen. Es gibt zwei Gründe,weswegen wir das nicht machen werden.Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf. Damuss ich Ihnen sagen: Über Gesetzesänderungen ent-scheiden immer noch wir im Parlament, also der Deut-sche Bundestag. Insofern ist die Bundesregierung derfalsche Adressat.
Zweitens. Die Möglichkeit der Enteignung ist das al-lerletzte Mittel zur Sicherstellung der Endlagerung. DasGrundgesetz und auch viele Fachgesetze sehen die Ent-eignung als Ultima Ratio für Großprojekte ausdrücklich
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Angelika Brunkhorst
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vor. Sie wird natürlich nur dann zur Anwendung kom-men, wenn es absolut unumgänglich ist.Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dassdie Umsetzung des gesetzlichen Auftrags des Bundes,eine Endlagereinrichtung zu erkunden und einzurichten,durch die Weigerung eines einzigen Eigentümers ge-stoppt werden kann. Die Rechte und Möglichkeiten desEigentümers, das Land zu nutzen, um weiterhin Land-und Forstwirtschaft zu betreiben, werden noch nicht ein-mal beeinträchtigt. Vielmehr geht es darum, im tiefenUntergrund Schächte auffahren zu können, um Erkun-dungen vorzunehmen.
– Doch, das ist wahr.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Bereitsvon 1998 bis 2002 war die Enteignungsmöglichkeit Be-standteil des Atomgesetzes. Wenn Sie von der SPD odervielleicht auch andere hier im Raum daran glauben,
dass man solche Großprojekte konsensual durchsetzenkann, dann bewundere ich Sie für Ihre Träume.
– Auch dort wird es Proteste geben, wenn es letztlich zurUmsetzung kommt.Ich möchte hier an dieser Stelle noch einmal zwei Zi-tate bringen:Es hat 2001 ja eine Anhörung zum Atomkonsens ge-geben. Das BfS hat dort damals gesagt – ich zitiere –:Die Enteignungsvorschriften werden zwar zurzeitnicht benötigt, müssen aber zum gegebenen Zeit-punkt im Atomgesetz vorhanden sein.In das gleiche Horn hat damals die Industriegewerk-schaft Bergbau, Chemie, Energie gestoßen:Die jetzige Aufhebung dieser Bestimmungen wirdalles andere als hilfreich sein, wenn die zügige Er-richtung von Anlagen zur Endlagerung notwendigist.
Derzeit gibt es weder im Bergrecht noch im Atom-recht Möglichkeiten der Enteignung zum Zwecke derErkundung. Deswegen haben wir das in den § 9 d ff. desAtomgesetzes wieder eingeführt.Ein weiterer Sachverständiger, Herr Professor GeorgHermes – er ist Professor für Öffentliches Recht –, hat indieser Anhörung damals gesagt – ich zitiere –:Die Aufhebung von den Enteignungsvorschriften… kann nur so verstanden werden, dass ein Endla-ger nicht ernsthaft verwirklicht werden soll.Wollen Sie sich anheften lassen, dass Sie gar kein Endla-ger wollen? Sie waren ja auch dafür, das Moratorium bisin alle Ewigkeiten fortzuführen. Man muss Ihnen wirk-lich unterstellen, dass Sie am Endlager nicht wirklich in-teressiert sind.
Ich sehe die 12. Atomgesetz-Novelle als richtige Vo-raussetzung an. Sie wird uns handlungsfähig machen. Je-der Eigentümer kann die Rechtmäßigkeit der Enteignungnatürlich auch gerichtlich überprüfen lassen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. – Ich möchte gerne noch Frau Menzner ganz kurz
ansprechen. Sie haben gesagt. Wenn Gorleben als mögli-
cher Standort entfällt, dann ist die Laufzeitverlängerung
nicht mehr legitimiert. – Ich muss Ihnen sagen: Auch un-
ter Rot-Grün sind die Kernkraftwerke gelaufen. Auch
damals hatte man Zwischenlager. Wir haben diese Zwi-
schenlager weiterhin. Die Zwischenlager waren und sind
Legitimation dafür, dass die Laufzeiten auch verlängert
werden können.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was hat die Koalition in Bezug auf Gorleben als Erstesgetan? Sie hat die Wiederaufnahme der Arbeiten an Gor-leben beschlossen, anstatt das Instrumentarium, das nachder Zeit von Rot-Grün endlich vorlag, zu nutzen, umeine transparente, ergebnisoffene Endlagersuche vorzu-nehmen.Warum sie das getan hat, ergibt sich logischerweiseaus der geplanten und dann auch beschlossenen Lauf-zeitverlängerung. Es ging wieder einmal um den Entsor-gungsvorsorgenachweis, den man dringend brauchte,und man konnte sich wieder einmal keine Verzögerungleisten. Das kennen wir ja spätestens aus dem Untersu-chungsausschuss zu Gorleben. Es geht immer darum,dass die Zeit drängt und dass man vorankommen will,weil man ein Atomprogramm im Kopf hat. So fügt sicheines zum anderen.Als Nächstes haben Sie dann den § 9 d ins Atomge-setz eingefügt. Sie wollen nach Atomrecht enteignen,um dann nach Bergrecht weiterzubauen, und zwar nacheinem uralten Rahmenbetriebsplan von 1983, der in kei-
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Sylvia Kotting-Uhl
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ner Weise etwas mit dem zu tun hat, was dort seitdemgebaut wurde.
Die Schächte stimmen nicht, die Erkundungsbereichestimmen nicht, und die Richtstrecken gehen nach Nor-den statt nach Süden. Nichts stimmt mit diesem altenRahmenbetriebsplan überein.Warum nehmen Sie den? Auch das liegt völlig auf derHand: Sie wollen keine Öffentlichkeitsbeteiligung, esgeht ausschließlich nach altem Bergrecht. Das ist dereinzige Grund dafür, dass Sie das machen.
Jetzt bieten Sie großzügig den Dialog an. Ich habediese schöne große Anzeige, mit der hier geworben wird,einmal mitgenommen und möchte einfach einmal einpaar Stellen daraus zitieren. Sie werben:Sollte sich der Salzstock als ungeeignet erweisen,müssen wir neue Wege finden.Worauf warten Sie denn? Sie sind offensichtlich da-von überzeugt – das stelle ich Ihnen anheim; Sie habenja manchmal eigenartige Vorstellungen –, dass dieserSalzstock trotz allem, was gerade Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen, im Untersuchungsausschuss hören, geolo-gisch geeignet ist. In Ihren Augen ist das so. Er ist abergesellschaftspolitisch nicht geeignet. Wie wollen Siedenn heilen, dass dort kein sozialer Prozess stattgefun-den hat?
– Mit Ihnen rede ich im Moment gar nicht.Ich zitiere eine Zeugin aus dem Untersuchungsaus-schuss. Sie sagte: „Ich habe mein Vertrauen in Politikerverloren.“ Marianne Fritzen, eine konservative alteDame, ist die Begründerin der BI Lüchow-Dannenberg.Sie hat uns im Untersuchungsausschuss berichtet, dasssie sich beobachtet, bedroht und mit ihren Fragen nichternst genommen gefühlt hat und dass sie sich den Zu-gang zur Gorleben-Kommission erschleichen musste,wenn sie an dem damaligen Dialogangebot teilnehmenwollte.
– Das ist die Wahrheit, Herr Grindel. Sie dürfen gerneeine Zwischenfrage stellen.
Dann gehe ich gerne darauf ein. Aber auf Ihre dummenZwischenrufe, die ich schon aus dem PUA kenne, re-agiere ich nicht.
Ich mache weiter und zitiere noch einmal aus derschönen Anzeige:Sicherheit steht für uns kompromisslos an allerers-ter Stelle.Warum ignorieren Sie dann das nicht intakte Deckge-birge, die Nähe zum Anhydrit und die Gasvorkommen?Warum werden warnende Wissenschaftler diskreditiert?Warum das alles, wenn Sicherheit kompromisslos an ers-ter Stelle steht? Das glauben Ihnen die Menschen vor Ortnicht mehr, und zwar zu Recht.
Anschließend soll ein Peer Review das Ganze heilen.Wer aber hat denn weltweit Erfahrungen mit Salz? KeinLand außer Deutschland versucht Endlagerung im Salz.Wir haben die Erfahrungen in Asse und Morsleben. Dassind die Erfahrungen mit Salz, die es gibt.
Ich zitiere weiter:Zur Unterstützung des Dialogs werden finanzielleMittel zur Verfügung gestellt – zum Beispiel fürdie Hinzuziehung von Experten, für Weiterbil-dungsmaßnahmen oder auch für geeignete Räum-lichkeiten für Veranstaltungen. Wir stellen uns vor,in regelmäßigen Diskussionsveranstaltungen ge-meinsam über die Ergebnisse zu beraten. Außerdemmuss es umfangreiche Möglichkeiten für Besuche-rinnen und Besucher geben, sich selbst ein Bildvom Erkundungsbergwerk Gorleben zu machen.Das sagt ein Minister, der bis zum Beschluss der AtG-Novelle den Salzstock Gorleben noch nie von innen ge-sehen hatte.
Sie haben eine Menge Fehler gemacht. Sie habenohne Not die Laufzeitverlängerung und die Vermehrungdes Atommülls beschlossen. Sie halten trotz aller Zwei-fel an Gorleben fest und machen da weiter, wo Merkelund Kohl 1998 gestoppt wurden. Als letzte vertrauens-bildende Maßnahme schreiben Sie die Enteignung imAtomgesetz fest.Jetzt kommen Sie mit einem vergifteten Dialogange-bot. Wundern Sie sich nicht, dass die Menschen vor Ortdas nicht annehmen. Es ist höchste Zeit, mit Menschen,
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Sylvia Kotting-Uhl
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die ernst genommen werden müssen, anders umzugehen.Lernen Sie das!
Nun hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ergebnisoffen und transparent soll der Salzstock
Gorleben zu Ende erkundet werden. Dies war nicht nur
ein Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf 2009,
sondern es wird von Minister Norbert Röttgen mit der
Vorstellung des Dialoges auch eingelöst.
Das Dialogkonzept wird, wie bereits gesagt wurde,
am kommenden Montag im Kreistag von Lüchow-Dan-
nenberg in Hitzacker präsentiert. Ich finde es sehr inte-
ressant, Herr Dr. Miersch, dass Sie das Konzept schon
im Vorfeld als Pseudodialog und Makulatur verurteilen.
– Sie kennen es doch gar nicht. Nun warten Sie erst ein-
mal ab, was kommt. Die christlich-liberale Koalition
wird die Menschen umfassend über jeden einzelnen
Schritt der Sicherheitsanalyse, der Erkundungsmaßnah-
men und auch des Peer Reviews umfassend informieren.
– Hören Sie zu! – Zudem werden die Menschen in der
Region die Möglichkeit haben, sich bei der Gestaltung
des Dialoges einzubringen.
Wir haben doch selbst ein großes Interesse daran, dass
alle Argumente, egal ob für oder wider die Eignung Gor-
lebens, auf den Tisch kommen. Ich kann Sie daher nur
alle einladen, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, die ausgestreckte Hand des Ministers zu ergreifen
und sich an dem Dialog zu beteiligen.
Als direkt gewählter Abgeordneter dieses Wahlkrei-
ses habe ich auch laufend mit dem Thema Gorleben zu
tun. Die Menschen in der Region Gorleben und in der
Samtgemeinde Gartow sehnen sich nach einer Antwort,
ob der Salzstock Gorleben geeignet ist oder nicht.
Sie argumentieren, wir hätten die Entscheidung zur
Erkundung getroffen, ohne die Bürger zu beteiligen.
Rot-Grün hat das Moratorium auf maximal zehn Jahre
begrenzt. Dieses Moratorium ist jetzt ausgelaufen, und
die logische Konsequenz ist ja dann, dass die von Ihnen
festgelegten zehn Jahre vorbei sind, sodass ergebnis-
offen weiter erkundet wird.
Es muss nun endlich Schluss sein! Zehn Jahre lang
haben Sie diese Region und ihre Menschen in Geiselhaft
genommen, zehn Jahre lang haben Sie die Suche nach
einem Endlager nicht vorangetrieben, auch anderswo
nicht.
Auch bis heute ist nicht klar, wie die SPD mit der Pro-
blematik hochradioaktiver Abfälle umgehen will. Brin-
gen Sie doch erst einmal vernünftige, konkrete Kon-
zepte!
Sie stellen sich überall auf die Marktplätze und tönen
herum, der Salzstock Gorleben sei ungeeignet und da-
rüber hinaus sowieso ein Schwarzbau. Aber während
Ihrer Regierungszeit haben Sie es auch nicht fertig-
gebracht, das Projekt Gorleben einfach zu beerdigen.
Den sogenannten Schwarzbau haben Trittin und Gabriel
jahrelang munter geduldet. Warum hat Rot-Grün denn
nicht den Deckel auf das Erkundungsbergwerk gelegt?
Erstens, weil Sie dann die Frage nach einem anderen
möglichen Standort hätten beantworten müssen. – Frau
Vogt, in Baden-Württemberg.
Zweitens, weil die Herren Trittin und Schröder am
14. Juni – wir haben es schon gehört – die Äußerung un-
terschrieben haben, dass die bisher gewonnenen geologi-
schen Befunde einer Eignungshöffigkeit, Frau Voß, des
Salzstocks Gorleben – dieser Ausdruck kommt ja auch
aus den Reihen von Rot-Grün – nicht entgegenstehen.
Das haben sie unterschrieben.
Ferner bemängeln Sie erneut, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Wir
haben das schon gehört. Bloß, die Erkundung kann ja
nur nach Bergrecht erfolgen, weil es sich um ein Erkun-
dungsbergwerk und nicht um eine nukleare Anlage han-
delt.
Herr Kollege Pols, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Herrn Kollegen Kelber?
Herr Kelber.
Je häufiger Sie Nein schreien, desto mehr Spaß machtes mir ja. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir keinVerfahren begonnen hätten, um auch mögliche andere
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Ulrich Kelber
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Standorte zu finden. Sie sind ja seit 2009 Mitglied desDeutschen Bundestags. Haben Ihre Kolleginnen undKollegen, die schon länger Mitglied sind, Sie nicht da-rüber informiert, dass die Fraktion der CDU/CSU imJahr 2006 einen Entwurf für ein Endlagersuchgesetz inder Großen Koalition abgelehnt hat?
Ja, darüber haben sie mich informiert, aber die Kolle-
gen haben gleichzeitig gesagt, dass wir Gorleben zu
Ende erkunden wollen. Wir wollen die Erkundung von
Gorleben nicht abbrechen; denn wir wollen wissen, was
in Gorleben möglich ist. Ist Gorleben geeignet oder
nicht? Das ist die ganz einfache Frage, die wir beantwor-
ten wollen, und nichts anderes, Herr Kelber.
Frau Menzner, auch die Behauptung, das Angebot des
Dialogs komme zu spät, ist ein sehr schwaches Argu-
ment. Denn bereits im Mai 2010, also ein gutes halbes
Jahr nach der Bundestagswahl, hat sich Minister Röttgen
gemeinsam mit gewählten Vertretern der Standortkom-
munen – und das auch unter Beteiligung der örtlichen
SPD – darüber unterhalten, wie ein Dialog aussehen
könnte.
Also ist dieses Argument auch nur ein Scheinargument.
Wir haben auch gegenüber den nachfolgenden Gene-
rationen die Pflicht, dieses Entsorgungsproblem zu lö-
sen. Denn unsere Generation hat die Kernenergie ge-
nutzt, wir haben davon profitiert. Zudem brauchen wir ja
auch eine Lösung für die Zeit – das ist ja das, was Sie
auch wollen –, wenn die Kernkraftwerke zurückgebaut
werden. Dann müssen die kontaminierten Bauteile ja
auch irgendwo gelagert werden. Auch darüber muss man
sich dann mal Gedanken machen.
Dann noch mal zur Forderung, die Möglichkeit zur
Enteignung zurückzunehmen. In der Diskussion wird
immer wieder der Eindruck erweckt, wir würden dem
Grafen Bernstorff seinen Wald wegnehmen. Das ist na-
türlich völliger Quatsch. Wir wollen auch keine Bürger
aus ihren Häusern vertreiben. Es geht hier tatsächlich um
Salzrechte in Tausenden von Metern Tiefe, die wir gege-
benenfalls mal erkunden wollen.
Die Möglichkeit zur Enteignung ist im Übrigen bei In-
frastrukturmaßnahmen natürlich eine ganz normale
rechtliche Regelung – Frau Brunkhorst hat das schon an-
gesprochen –,
die wir im Bundesbaugesetzbuch finden.
Die Allgemeinheit muss also die Möglichkeit haben,
sich bei national bedeutsamen Maßnahmen auch über
den Weg der Enteignung und der damit verbundenen
Entschädigung die entsprechenden Flächen – in diesem
Falle die Salzrechte in Gorleben – zu sichern.
Rot-Grün hat mit dem Moratorium die Region in eine
über zehnjährige Ungewissheit gestürzt. Ich finde es
schon sehr anmaßend, dass ausgerechnet Sie glauben, zu
wissen, wie die Bürgerinnen und Bürger das Dialogkon-
zept bewerten, zumal es ja noch gar nicht bekannt ist,
wie ich am Anfang auch schon ausführte.
Ich frage Sie: Wo war die Bürgerbeteiligung unter
Trittin, und wo war sie unter Gabriel? Die gab es gar
nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, au-
ßer Ihrem Dagegensein präsentieren Sie leider wieder
einmal gar nichts. Nehmen Sie doch lieber die Chance
zum Dialog wahr, die wir Ihnen anbieten. Beteiligen Sie
sich mit naturwissenschaftlich fundierter Kritik an die-
sem Dialog zum Erkundungsprozess, und präsentieren
Sie uns Vorschläge, wie wir mit dem Problem dieser
hochradioaktiven Abfälle verfahren sollen.
Dann nehmen wir Ihre Anträge wieder ernst. Ihr An-
trag ist viel zu dünn. Sie haben es gerade einmal auf eine
DIN-A4-Seite gebracht. Das ist angesichts dieses hoch-
brisanten Themas von nationalem Interesse sehr schwach.
Vielen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute
Vogt für die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin,mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Umweltminister zi-tieren. Er sagt:Da geht es nicht nur um Information und Transpa-renz. Das ist das Angebot einer aktiven Teilhabe,das es so noch nicht gegeben hat.
Nachdem im Deutschen Bundestag im Herbst letztenJahres ein Gesetz verabschiedet worden ist, das dieMüllmenge beim atomar strahlenden Müll um mehrereTausend Tonnen zusätzlich erhöht, das für Gorleben
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Ute Vogt
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mehrere hundert Castoren zusätzlich bedeutet, nachdemSie im Herbst 2010 beschlossen haben, dass in GorlebenEnteignungen stattfinden sollen und es zur Neuerkun-dung des Bergwerks kommt, stellt sich der Minister hinund erzählt etwas von einem Dialog. Das ist kein Dialog.So, wie der Minister es vorbringt, ist es ein Pseudodia-log, der die Menschen im Wendland verhöhnt.
Ein Dialog hat dann einen Sinn, wenn mitgeredet wer-den kann und noch die Möglichkeit zu einer Entschei-dung besteht. Ein Dialog, der nur noch dazu dient, die ei-genen Entscheidungen zu rechtfertigen, hat nichts mehrmit einem Gespräch zu tun. Es ist vielmehr der Versuch,zu beschönigen und Publizität zu erlangen. Das ge-schieht in einer Atmosphäre, in der man die Menschenvor vollendete Tatsachen stellt.
– Frau Flachsbarth, wenn Sie sagen, in dem Gorleben-Untersuchungsausschuss gehe es nur um Regierungs-handeln in der Vergangenheit,
dann haben Sie insofern recht, als das der Untersu-chungsgegenstand ist.
Ich bitte aber die Kolleginnen und Kollegen aus demUntersuchungsausschuss, deutlich wahrzunehmen, dassdas Regierungshandeln aus der Vergangenheit für dieMenschen im Wendland heute handfeste und spürbareFolgen nach sich zieht.
Ihr Verhalten können wir nicht akzeptieren. Wir kom-men mehr und mehr zu dem Ergebnis, dass es damalsnicht mit rechten Dingen zuging, dass wissenschaftlicheErkenntnisse nicht zum Tragen gekommen sind,
dass man noch nicht einmal die Empfehlungen zu alter-nativen Standortuntersuchungen wahrgenommen hat,dass der Stand von Wissenschaft und Technik nicht be-rücksichtigt worden ist. Das haben wir heute Morgenerst gehört. In einer solchen Situation sagen Sie: Wir ma-chen weiter wie bisher, das, was in der Vergangenheitwar, interessiert uns nicht.
Was in der Vergangenheit rechtswidrig war, kann dochnicht heute plötzlich rechtmäßig sein, nur weil es 20oder 30 Jahre her ist.
Das ist ein falsches Rechtsverständnis, das Sie hier anden Tag legen.
Es war interessant, dass Sie vorhin selbst gesagt ha-ben – das fand ich bemerkenswert, liebe FrauFlachsbarth –, es gehe bei Gorleben um die letzten Me-ter.
Da habe ich in der Tat aufgemerkt. Nach der Maßgabedes Ministers geht es doch eigentlich gar nicht um dieletzten Meter. Der Minister erzählt uns immer, er wollealles ergebnisoffen gestalten. Sie haben die Wahrheit ge-sagt: Es sind die letzten Schritte, weil Sie Gorleben brau-chen. Gorleben ist für Sie notwendig, um die Atomkraftüberhaupt noch rechtfertigen zu können. Ohne diesesLager könnten die Laufzeiten nicht verlängert werden,und die Atomkraftwerke müssten schon längst geschlos-sen sein.Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir esin unserem Moratorium geschafft, ein Verfahren für einealternative Standortsuche zu entwickeln, bei der die Bür-gerinnen und Bürger einbezogen werden. Wenn Sie wis-sen möchten, wie das funktioniert, dann empfehle ich Ih-nen einen Blick in die Schweiz. Dort werden sogarBürgermeister Ihrer Partei, die in Südbaden leben, in dieVerfahren einbezogen. Man redet von Anfang an mit denMenschen, und Alternativen werden geprüft, um diebeste Lösung zu finden.Das ist das Verfahren, das Rot-Grün entwickelt hat.Sie haben 2006 verhindert, dass dieses Verfahren inDeutschland zur Anwendung kommt.
Das hätte Akzeptanz geschaffen,
aber nicht Ihre Beschlüsse und die Politik der vollende-ten Tatsachen, die Sie hinterher mit einem Pseudodialogrechtfertigen wollen. Sie haben nur noch die folgendeMöglichkeit: Nehmen Sie unser niederschwelliges An-gebot an. Stimmen Sie dem Antrag zu. Dann können Siewenigstens ein bisschen von der Dialogbereitschaft ret-ten und zeigen, dass es Ihnen ernst damit ist, die Men-schen mitzunehmen.
Ich schließe die Aussprache.
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4678 mit demTitel „Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt esEnthaltungen? – Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafürhaben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen dieKoalitionsfraktionen.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehn-ten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-gesetzes– Drucksache 17/4231 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 17/4720 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannUndine Kurth
Interfraktionell wurde vereinbart, dass die Reden zuProtokoll gegeben werden, sodass wir gleich zur Ab-stimmung kommen.1) Der Ausschuss für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4720, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/4231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und derFraktion Die Linke und Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei derzweiten Beratung angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan vanAken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAlle Waffenexporte des Oberndorfer Klein-waffenherstellers verbieten– Drucksache 17/4677 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
1) Anlage 3Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sindSie einverstanden.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke dasWort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HeuteAbend geht es um Maschinenpistolen und um Sturmge-wehre, es geht um einen deutschen Waffenhersteller, dermöglicherweise solche Waffen illegal exportiert hat, undes geht darum, dass die Bundesregierung darauf bisheute überhaupt nicht angemessen reagiert hat. Wir vonden Linken finden es grundsätzlich falsch, dass Deutsch-land überhaupt Geld damit verdient, Waffen in alle Weltzu exportieren. Das ist schmutziges Geld,
weil alle diese Waffen irgendwann irgendwo im Krieglanden. Das gilt vor allem für Kleinwaffen. Kleinwaf-fen – das hört sich immer so niedlich an, aber Kleinwaf-fen sind Maschinenpistolen, Sturmgewehre und Kalasch-nikows und wie sie alle heißen. In den Kriegen dieserWelt sterben mehr Menschen durch Kleinwaffen als durchalle anderen Waffensysteme zusammengenommen.Es gibt eine Zahl von UNICEF, die wirklich beeindru-ckend ist. Jeden Tag werden über 1 300 Menschen mitKleinwaffen erschossen, in jeder einzelnen Minute gibtes einen Toten durch Kleinwaffen. Einer der größten Ex-porteure für Kleinwaffen ist der deutsche HerstellerHeckler & Koch aus Baden-Württemberg. Es gibt Schät-zungen, dass Heckler & Koch mittlerweile 7 Millionenbis 10 Millionen Waffen weltweit im Umlauf hat. Es gibtkeinen einzigen Konflikt auf der Welt, in dem nicht aucheine Waffe von Heckler & Koch dabei ist. Ob das einVolksaufstand in Thailand ist, ob das in Ägypten ist oderin Saudi Arabien – überall finden Sie diese Waffen. Daszeigt vor allem eines: dass die deutsche Rüstungsexport-kontrolle praktisch nicht existiert. Sie ist löcherig wieein Schweizer Käse; denn es gibt fast keine Waffe, dienicht in fast alle Länder dieser Welt exportiert werdendarf. Es wird fast alles erlaubt.Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Eine dieser Ausnah-men betraf Heckler & Koch. Damit sind wir bei demFall, um den es geht. Heckler & Koch hatte die Geneh-migung, Sturmgewehre nach Mexiko zu liefern. DieBundesregierung hat aber die Auflage erteilt, dassHeckler & Koch in vier Provinzen von Mexiko nicht lie-fern darf, weil es dort blutige Unruhen gibt. Seit Jahrenkämpfen dort Drogenbarone gegen die Polizei. Das sindUnruheprovinzen. Die Bundesregierung hat gesagt: dort-hin nicht.Es gab eine Strafanzeige, es gibt Ermittlungen derStaatsanwaltschaft, weil der dringende Tatverdacht be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10193
Jan van Aken
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steht, dass Heckler & Koch trotzdem auch in diese vierProvinzen Sturmgewehre geliefert hat. Das Verfahrenläuft noch. Aber was macht die Bundesregierung? Siehat eine Entscheidung getroffen, die absolut unlogischund unverständlich ist. Das muss man sich einmal vor-stellen. Sie sagt: Okay, es gibt ein staatsanwaltschaftli-ches Verfahren, deswegen werden die Genehmigungenfür Heckler-&-Koch-Exporte nach Mexiko ausgesetzt.Das müssen Sie mir einmal erklären. Entweder istdiese Firma zuverlässig. Dann darf sie überall hin expor-tieren. Oder man sagt: Nein, es besteht ein dringenderTatverdacht, es wird eine kriminelle Machenschaft ver-mutet. Dann ist die Firma insgesamt unzuverlässig, unddann darf sie nicht nur nicht nach Mexiko, sondern in dieganze Welt nicht exportieren.
Wir fordern heute als Einziges, dass Heckler & Kochbis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersu-chung überhaupt nichts mehr exportieren darf. Ich findedas nur logisch. Mir muss bitte irgendjemand von derFDP, von der CDU oder von der CSU erklären, wiesoSie dieser Firma, bei der im letzten Dezember eineHausdurchsuchung stattgefunden hat, immer noch erlau-ben wollen, dass sie ihre Kleinwaffen in die ganze Weltaußer nach Mexiko liefern darf. Das ist einfach nur unlo-gisch.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandüberhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte, und ichfinde, es ist eine richtig gute Idee, bei den tödlichsten al-ler Waffen, bei den Kleinwaffen, damit anzufangen.Ich danke Ihnen.
Die Kollegen Fritz, Hempelmann und Breil haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzte
Rednerin in dieser Debatte die Kollegin Katja Keul für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort hat.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das letzte Wort für heute wollte ich nun dochnicht der Linksfraktion überlassen.
Die im Raum stehenden Vorwürfe gegen Heckler &Koch wiegen schwer. Dem Rüstungsunternehmen wer-den Verstöße gegen das Waffen-, das Außenwirtschafts-1) Anlage 4und das Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. ImRaum steht die bewusste Missachtung von Auflagen unddie Täuschung der Bundesregierung.Im Sommer 2006 wurde die Ausfuhr von G-36-Ge-wehren nach Mexiko mit Einschränkungen genehmigt.Vier Unruheprovinzen sollten wegen der dort herrschen-den Menschenrechtslage explizit nicht beliefert werden.Im Norden Mexikos herrscht seit fünf Jahren ein erbit-terter Krieg zwischen Polizei, Militär und Drogenkartel-len, dem bereits mehr als 30 000 Menschen zum Opfergefallen sind. Menschenrechtsverletzungen sind an derTagesordnung, und regelmäßig werden neue Massengrä-ber entdeckt.Die Bundesregierung ließ sich die Einhaltung derAuflagen per Endverbleibserklärung versichern. Den-noch tauchten kurze Zeit später die Gewehre genau inden verbotenen Provinzen auf.2007 beantragte Heckler & Koch sogar die Genehmi-gung für die Ausfuhr von Ersatzteilen in ebenjene Re-gionen, in denen die Gewehre eigentlich gar nicht hättenin Umlauf sein dürfen. Dokumente und Aussagen ehe-maliger Mitarbeiter legen den Verdacht nahe, dass dasUnternehmen eine weitaus aktivere Rolle eingenommenhat, als stets behauptet wird. Reiseunterlagen und Dan-kesschreiben mexikanischer Stellen deuten auf Ausbil-dungsmaßnahmen hin, die Heckler & Koch in den Unru-heprovinzen durchgeführt haben soll. Von Bestechungund Täuschung ist die Rede.Ich teile daher die Einschätzung der Bundesregierung,dass die erforderliche Zuverlässigkeit für die Genehmi-gung von Waffenexporten durch diese Firma nicht mehrvorausgesetzt werden kann.
Daher war es konsequent, die laufenden Ausfuhran-träge auszusetzen. Nicht konsequent war es aber, dieAusfuhranträge nur in Bezug auf Mexiko auszusetzen.Denn das Kriterium der Unzuverlässigkeit bezieht sichauf den Absender und nicht auf das Empfängerland.
Sollten sich die Vorwürfe im Rahmen der Ermittlun-gen bestätigen, wären aufgrund der erwiesenen Unzu-verlässigkeit keine Waffenexporte mehr zu genehmigen,nicht nach Mexiko und nicht sonst wohin in der Welt.Der Fall macht deutlich, wie sehr das deutsche Rüs-tungskontrollsystem derzeit allein auf die Verlässlichkeitund das Vertrauen in die Rüstungsexportunternehmenangewiesen ist. Genehmigt wird der Export nur bei Vor-lage einer Endverbleibserklärung. Der tatsächliche End-verbleib wird aber durch die staatlichen Behörden man-gels Kontrollmechanismus nicht überprüft. Gerade wennes um die Ausfuhr todbringender Waffen geht, müssenwir aber für die Verlässlichkeit der Lieferanten unbe-dingt einstehen.
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10194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Katja Keul
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Jahr für Jahr werden weltweit 370 000 Menschendurch Kleinwaffen getötet. Wir bräuchten daher drin-gend bessere Mechanismen, um den Verbleib deutscherWaffen und ganz besonders auch deutscher Kleinwaffentatsächlich überprüfen zu können.Als drittgrößter Waffenexporteur der Welt tragen wireine große Verantwortung für den Verbleib dieser Waf-fen. Unser Rüstungskontrollsystem hat zwar einen gro-ßen Anspruch, funktioniert aber nur, wenn die Exportun-ternehmen verlässlich handeln. Solange irgendwelcheZweifel an der Verlässlichkeit der Unternehmen beste-hen, dürfen keine weiteren Ausfuhren genehmigt wer-den. Deshalb halten auch wir es für sachgerecht, bis zumEnde der laufenden Ermittlungen die Genehmigung vonWaffenexporten durch Heckler & Koch auszusetzen,egal für welches Land sie bestimmt sind.
Nun zu Ihnen: Warum allerdings in diesem Zusam-menhang die Forderung nach einer Änderung desGrundgesetzes erhoben wird, erschließt sich mir nicht.Neben Rüstungsexporten gibt es noch eine ganze Mengeanderer Dinge, die ich nicht ausstehen kann. Sollen wirdie alle ins Grundgesetz schreiben? Das Grundgesetz istkein Verbotsgesetz und kein Strafgesetzbuch. Ins Grund-gesetz gehören die Grundrechte und das Staatsorganisa-tionsrecht. Das soll auch so bleiben.
Ein eigener Grundgesetzartikel wäre deutlich zu vielder Ehre für Heckler & Koch.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4677 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung und Bera-tung einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, beidenen die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Sind Siedamit einverstanden, dass ich auf die Verlesung der Red-nernamen verzichte? – Das ist der Fall.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b so-wie Zusatzpunkt 7 auf:14 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Volker Beck ,Marieluise Beck , Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMenschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät-zen für multinationale Unternehmen stärken– Drucksachen 17/4196, 17/4613 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeUllrich MeßmerSerkan TörenStefan LiebichVolker Beck
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVerpflichtender Menschenrechtsschutz beiden OECD-Leitsätzen für multinationale Un-ternehmen– Drucksache 17/4669 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDDie Revision der OECD-Leitsätze für multina-tionale Unternehmen als Chance für einenstärkeren Menschenrechtsschutz nutzen– Drucksache 17/4668 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungDie Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)Zunächst zu Tagesordnungspunkt 14 a. Der Aus-schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4613, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/4196 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-men.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 14 b sowieZusatzpunkt 7. Interfraktionell wird hier die Überwei-sung der Vorlagen auf Drucksachen 17/4669 und 17/4668 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie, wie ich sehe,einverstanden. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.1) Anlage 5
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10195
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Artikel-115-Gesetzes– Drucksache 17/4666 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAuch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.1)Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/4666 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damitsind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten EdelgardBulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDFairen Rohstoffhandel sichern – Handel mitSeltenen Erden offenhalten– Drucksache 17/4553 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAuch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.2)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf Drucksache 17/4553 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sindSie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan vanAken, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEEU-Freihandelsabkommen mit Indien stop-pen – Verhandlungsmandat in demokrati-schem Prozess neu festlegen– Drucksachen 17/2420, 17/4616 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzDie Reden wurden zu Protokoll gegeben.1) Anlage 62) Anlage 7
Wir haben die Debatte zum Freihandelsabkommen,
FTA, der EU mit Indien im Deutschen Bundestag bereits
am 30. September 2010 ausführlich geführt. An der Hal-
tung der Unionsfraktion und an den aufgezeigten Argu-
menten, die für die Ablehnung des Antrages der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/2420 sprechen, hat
sich seitdem nichts geändert. Den Kolleginnen und Kol-
legen der Linksfraktion rate ich deshalb an, noch einmal
im Plenarprotokoll, Drucksache 17/62, S. 6564, nachzu-
lesen. Entgegen der Behauptung der Linken ist der poli-
tische Dialog seit April 2007 – der Europäische Rat hat
der Kommission während der deutschen Ratspräsident-
schaft das Mandat zu Verhandlungen über ein Freihan-
delsabkommen, FTA, mit Indien erteilt – dicht und kon-
kret. Mehrere Verhandlungsrunden haben zu Beginn des
neuen Jahres stattgefunden, zuletzt ein Treffen der Chef-
unterhändler vom 24. bis 28. Januar 2011 und eine Un-
terrichtung im handelspolitischen Ausschuss am 4. Fe-
bruar, in dem die Mitglieder fortlaufend über den Stand
der Verhandlungen unterrichtet wurden.
Ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen
Union liegt ausdrücklich in Indiens Interesse, auch
wenn die Fraktion Die Linke es gerne so darstellt, als
würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU zustande
kommen. Der auf indischer Seite verantwortliche Han-
dels- und Industrieminister Anand Sharma hat in der na-
tionalen und internationalen Presse mehrfach klarge-
stellt, dass das Abkommen mit der EU, die der größte
Handelspartner des Schwellenlandes ist, für Indien von
großer Bedeutung ist. Ein Fünftel seiner Exporte gehen
nach Europa. Schätzungen zufolge könnte durch das ge-
plante FTA das Handelsvolumen zwischen Europa und
Indien bis 2015 um 100 Milliarden auf 170 Milliarden
Euro anwachsen. Davon würden beide Akteure profitie-
ren. Besonders der Handel mit Dienstleistungen ist mit
einem Volumen von 16 Milliarden Euro von wachsender
Bedeutung für Indien und Europa.
Treu dem Motto „Täglich grüßt das Murmeltier“ ver-
sucht die Fraktion Die Linke, der EU und unserer Bun-
desregierung stets einen Vorwurf daraus zu machen, den
eigenen wirtschaftlichen Vorteil im Blick zu haben. Das
ärgert mich. Selbstverständlich muss die EU auch da-
rauf achten, dass ihre Interessen ausreichend vertreten
sind. Es kommt allen 27 Staaten, die der Europäischen
Union angehören, zugute, dass die EU Zutritt zum gro-
ßen Marktpotenzial Indiens erhält und sich unter ande-
rem für den Abbau tarifärer und nichttarifärer Handels-
hemnisse und für eine ansehnliche Marktöffnung im
Industriesektor, bei Banken, Versicherungen, Post und
Telekommunikation einsetzt.
Die Bundesrepublik Deutschland plädiert seit langem
als Indiens wichtigster Handelspartner in der EU für
den Abbau von Handelshindernissen. Nur so konnte der
deutsch-indische Handel nach Angaben des Bundesver-
bandes der Deutschen Industrie, BDI, im Jahr 2009
13 Milliarden Euro erreichen. Ziel sowohl Deutschlands
als auch Indiens ist es, bis 2012 den gemeinsamen Han-
del auf 20 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit dieses
ehrgeizige Ziel auch erreicht werden kann, unterstützt
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung
in ihren Bemühungen um weitere Liberalisierung im
Erich G. Fritz
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Zollbereich und einer Öffnung des indischen Marktes für
öffentliche Beschaffungen. Vor allem für unsere deut-
schen Unternehmen, die im Jahr 2009 Waren- und
Dienstleistungen im Wert von 8 Milliarden Euro expor-
tierten, wäre ein umfassender Zollabbau für Industrie-
güter von Vorteil. Dieser Wert könnte höher sein, wenn
Hemmnisse beim Marktzugang abgebaut würden. Un-
sere Exporte werden durch hohe Zölle, Zusatzabgaben
und Normen behindert. Einfuhrzölle bis zu 60 Prozent
im Automobilsektor und zusätzliche Einfuhrabgaben er-
höhen die Gesamtbelastung teilweise auf mehr als
100 Prozent. Möglichkeiten für Kooperationen zwischen
deutschen und indischen Unternehmen sind aber nicht
nur in der Automobilindustrie erkennbar. Auch in der
Lebensmittelindustrie, bei der Verbesserung der indi-
schen Infrastruktur, aber auch in Branchen wie der
Pharmaindustrie und der Bio- und Nanotechnologie bie-
ten sich Felder der Zusammenarbeit an.
Selbst Manmohan Singh erkennt das Potenzial
Deutschlands als Wirtschaftsmotor der Welt und äußerte
sich, anlässlich des 11. EU-Indien-Gipfels „neue Hori-
zonte der Ausweitung des Handels zu ermöglichen“.
Diese Position des indischen Premiers nährt die Hoff-
nung des baldigen Abschlusses der FTA-Verhandlungen
mit der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens. Bisher sind
eine Reihe von Kapiteln fast abgeschlossen, die Ver-
handlungen zu Wettbewerb, Zollverfahren und Han-
delserleichterungen sind auf gutem Wege. Allerdings er-
fordert das ehrgeizige Ziel, ein Abkommen im Verlauf
dieses Jahres zu paraphieren, einen Durchbruch in den
politischen Verhandlungen im sensiblen Bereich des
Zollabbaus. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet
die Bundesregierung ausdrücklich darum, sich nach al-
len Kräften dafür einzusetzen, dass hier Fortschritte ge-
lingen können.
Unsere Bundeskanzlerin sagte anlässlich des 41. Welt-
wirtschaftsforums im schweizerischen Davos, eine ent-
scheidende Antwort zur Bewältigung der Wirtschaftskrise
sei der freie Welthandel. Damit gehen wir in der Union
d’accord! Trotz Erholung der Weltkonjunktur – auch In-
dien wurde eine Rückkehr zu seiner Wirtschaftsaktivität
von verschiedenen Seiten bescheinigt – ist es weiterhin
wichtig, dass Industrie- und Schwellenländer im Zusam-
menschluss globalen Handelsungleichgewichten vor-
beugen. Deshalb sind wir froh, zu hören, dass nun neue
Dynamik in die zähen WTO-Verhandlungen zum Ab-
schluss der Doha-Runde gekommen sind. Das Volumen
des zusätzlichen Handels, den das Abkommen ermögli-
chen würde, ist in einer Studie, die anlässlich des G-20-
Gipfels in Seoul von Deutschland, Frankreich und Groß-
britannien in Auftrag gegeben wurde, auf 360 Milliar-
den Dollar pro Jahr beziffert. Dies ist Anreiz genug, um
die nur noch verbleibenden 20 Prozent des Abkommens
auszuhandeln. Einigkeit muss bei den Subventionen für
Baumwolle und bei den Dienstleistungen erzielt werden.
Noch nie war die Gelegenheit so groß, das Abkommen
noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss
zu bringen. Indien sollte dabei in den Verhandlungen mit
einbeziehen, wie schnell die Entwicklung im eigenen
Land voranschreitet und wie sehr Indien selbst bereits
auf offene Märkte angewiesen ist. Mit einem Freihan-
delsabkommen der Europäischen Union und Indien bie-
Zu Protokoll
tet sich zugleich für die Bundesrepublik Deutschland die
Perspektive einer Intensivierung der Strategischen Part-
nerschaft, nicht nur, wie aufgezeigt, bei der Verstetigung
unserer guten Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch in
den Bereichen Ausbildung und Forschung.
Vor diesen aussichtsreichen Federn der künftigen Zu-
sammenarbeit schließen wir in der Union nicht die Au-
gen. Wir unterstützen das nach dem jüngst beschlosse-
nen Abkommen mit Südkorea zweite große erfolgreiche
Handelsprojekt der Europäischen Union und entspre-
chen der Beschlussempfehlung des federführenden Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie, Drucksache
17/4616. Der Antrag ist abzulehnen.
Der Auf- und Ausbau eines fairen multilateralen Frei-handels ist Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftli-chen Entwicklung aller Länder und trägt gleichzeitigdazu bei, den Wohlstand in Europa und Deutschland zuwahren und zu mehren. Zusätzlich zu den multilateralenBemühungen können Freihandelsabkommen sinnvolleErgänzungen sein, jedoch müssen multilaterale VerträgePriorität vor bilateralen Freihandelsabkommen haben.Ich denke, darin stimmen wir mehrheitlich überein.Nach wie vor muss oberstes Ziel sein, ein funktionieren-des multilaterales Wetthandelssystem unter dem Dachder WTO auf- und auszubauen. Dabei ist das Gebot derStunde, die seit 10 Jahren laufende Doha-Runde zumAbschluss zu bringen. Ich denke, wir sind uns einig, dassder derzeit zu verfolgende Trend zu bilateralen Abkom-men als Indikator für das Versagen wichtiger Akteure immultilateralen Verhandlungsprozess zu bewerten ist.Alle Bemühungen, den Doha-Prozess wieder anzukur-beln und zum Laufen zu bringen, dürfen nicht durch bi-laterale Freihandelsabkommen zunichte gemacht wer-den. Bilaterale Abkommen dürfen keine Motivation ausden multilateralen Verhandlungen des Doha-Prozessesherausnehmen.Nun zum aktuellen Freihandelsabkommen der Euro-päischen Union mit lndien. Aus Sicht der SPD-Bundes-tagsfraktion müssen bei allen Verhandlungen überFreihandelsabkommen ökonomische und politische Fak-toren, aber auch die sozialen und menschenrechtlichenAspekte berücksichtigt werden. Dies gilt natürlich auchbei dem EU-Freihandelsabkommen mit Indien. Jedochhalten wir dieses Thema für zu wichtig, um, wie im hierdiskutierten Antrag der Linksfraktion, die Frage derAusgestaltung von Freihandelsabkommen mit einer un-differenzierten Systemkritik an der europäischen Markt-wirtschaft zu verbinden. Diese Kritik gehört nicht hier-her. Aus diesem und weiteren Gründen wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Antrag in dieser Form nicht zu-stimmen.Ziel des Freihandelsabkommens der EuropäischenUnion mit Indien sollte sein, dass die EU ihren Handelund ihre Investitionen mit Indien intensivieren kann,ohne dass die in Indien vorhandenen ökonomischen undsozialen Infrastrukturen beeinträchtigt werden. Diekünftigen Möglichkeiten einer Ausweitung des Handelsund der Investitionstätigkeit im Verhältnis EU-Indienmüssen insgesamt beiden Seiten dienen. Jedoch ist bei
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10196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene RedenRolf Hempelmann
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der Bewertung und Verhandlung der vorhandenen sek-torspezifischen Schwierigkeiten darüber nachzudenken,eine asymmetrische Marktöffnung vorzunehmen, um einwirtschaftliches Ungleichgewicht zu verhindern. Hiergilt es, einer Überforderung Indiens vorzubeugen.Denkbar sind eine konsequente Marktöffnung der EU imAgrar- und Textilbereich und die Ermöglichung sektor-spezifisch unterschiedlicher Marktöffnungsschritte In-diens.Wir müssen weiter auf den konkreten Verlauf der Ver-handlungen schauen. Diesbezüglich haben die Mitglie-der des Bundestages schon verschiedene Aktivitäten un-ternommen. Im Frühjahr 2010 haben sich sowohl derAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung als auch der Unterausschuss „Gesundheit inEntwicklungsländern“ des Deutschen Bundestages mitden Folgen eines Freihandelsabkommens für die indi-sche Generikaproduktion und den Zugang zu Medika-menten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommensbefasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren fraktions-übergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordnetenklare Forderungen zur Ausgestaltung des europäisch-indischen Freihandelsabkommens formulierten. DieseForderungen ähneln denen des hier behandelten An-trags. Nachdem diese Forderungen im Frühsommer2010 an die Kanzlerin, die mit dem Thema befasstenBundesminister, den Präsidenten der EuropäischenKommission, José Manuel Barroso, sowie den europäi-schen Generaldirektor für Handel, Ignacio Garcia Ber-cero, versandt wurden, teilten erfreulicherweise derKommissionspräsident Barroso und HandelsdirektorBercero in einem Schreiben vom August 2010 mit, dasssich die Europäische Union die genannten Forderungender Ausschüsse des Bundestages zu eigen macht. Beidebetonten, dass eine Verlängerung der Patentlaufzeitdurch ergänzende Schutzzertifikate in den Verhandlun-gen mit Indien nicht mehr diskutiert werden. Dies ist einwichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für viele Patien-ten in Entwicklungs- und Schwellenländern lebenswich-tigen Generikaproduktion. Zudem wird von europäi-scher Seite unmissverständlich betont, dass die für dasAbkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des geis-tigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPS-Stan-dard hinaus verstärkt werden.Die SPD-Bundestagsfraktion sieht es, wie fraktions-übergreifend schon beschlossen, als unverzichtbar an,dass die Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhan-delten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziel-len Medikamenten nicht einschränken. Außerdem sollendie Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im Frei-handelsabkommen dem Standard von TRIPS entspre-chen. Es muss zudem natürlich darauf geachtet werden,dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen nicht überden TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden.Das alles haben wir schon formuliert. Daran fühlen wiruns gebunden. Die Europäische Kommission hat sichdies, wie gesagt, zu eigen gemacht, und es ist nicht ab-sehbar, dass sie davon abkehrt. Die deutsche Bundesre-gierung ist gut beraten, sich ein Beispiel zu nehmen undunseren Forderungen zu folgen.Zu ProtokollIch habe aufgezeigt, dass sich die Fachpolitiker allerFraktionen bereits seit längerem mit den Forderungendes heute diskutierten Antrags befassen und wichtigeAktivitäten entwickelt haben. Wir werden weiter denVerlauf der Verhandlungen von Freihandelsabkommenbeobachten, damit auch zukünftig diese Abkommen kei-ner neoliberalen Ideologie nachlaufen, sondern denMenschen auf beiden Seiten nutzen.
Das Freihandelsabkommen der EU mit Indien hat dasPotenzial, neuen Schwung in den Welthandel zu bringen.Beide Seiten sind sich einig, dass ein Handels- und In-vestitionsabkommen mit einer breiten Basis im gemein-samen Interesse liegt. Indien schickt sich an, eine Füh-rungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischendem boomenden Fernen Osten und dem an Energiequel-len reichen Nahen Osten und Zentralasien zu überneh-men. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichenund politischen Potenziale von Indien für uns zu nutzen.Wir dürfen den Markt nicht dem schon starken wirt-schaftlichen Einfluss Amerikas oder Chinas überlassen.Gerade in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanz-krise gilt es, protektionistische Tendenzen abzuwehrenund den fairen und freien Welthandel zu gewährleisten.Nachdem sich der Wert des Warenverkehrs der EU 27mit Indien zwischen 2000 und 2008 mehr als verdoppelthat, fiel er im Jahr 2009. In den ersten neun Monatendes Jahres 2010 zeigte sich ein erneutes Wachstum desEU-27-Warenhandels mit Indien. Dies muss unbedingtdurch eine vernünftige, nach vorne gerichtete Wirt-schaftspolitik wie die unserer schwarz-gelben Regie-rungskoalition fortgesetzt werden. Die Wirtschaftsbezie-hungen zu Indien haben in den letzten Jahren deutlichan Intensität und Dynamik gewonnen. Heute sind schonetwa 1 500 deutsche Unternehmen in Indien vertreten.Die Forderungen der Fraktion Die Linke zeigen nur ein-mal mehr die protektionistischen, antiquierten Wirt-schaftsvorstellungen wie zu Zeiten des Ostblocks. Wirwollen keine ideologischen Mauern errichten. Geradedurch unsere guten und intensiven Wirtschaftsbeziehun-gen werden neue Märkte erschlossen und bringen imZuge der Marktöffnung auch eine Öffnung des Landesmit sich. Wir stehen als bürgerlich-liberale Koalition fürdiesen goldenen, demokratischen Weg nach vorne. DieStärkung der Kontakte zwischen den Menschen in Indienund in der Europäischen Union ist nur einer der positi-ven Effekte neben wirtschaftlichen Belangen.Die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik unter der Fe-derführung des Bundeswirtschaftsministers RainerBrüderle sichert Wachstum und Arbeitsplätze und trägtso zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Mit neuenHandelsstrategien werden Märkte geöffnet, und Europahält Anschluss an die wichtigsten Wachstumszentren derWelt. Wir wollen dafür sorgen, dass faire Bedingungenfür die europäische Wirtschaft herrschen, sodass alleBürger, sowohl in Deutschland als auch in Indien, vomHandel profitieren können.Unsere Außenpolitik ist freiheitlich, orientiert anMarktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur Selbsthilfe.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10197
gegebene RedenDr. Martin Lindner
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Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und auf den Mul-tilateralismus – anstelle nationaler Alleingänge, wie vonden Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märktemuss konsequent fortgeführt werden. Denn durch dieweiteren wirtschaftlichen Fortschritte in Indien, die dasAbkommen mit sich bringen wird, wird auch der politi-sche Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nachaußen ist eine Öffnung der Märkte für eine höhere Wett-bewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU muss andereStaaten wie Indien von den Vorteilen freier Märkte über-zeugen. Daran kann auch der Appell der Fraktion DieLinke, Importzölle auf indische Landwirtschaftspro-dukte zu erheben und weiterhin auf Exportzöllen in an-deren Bereichen zu bestehen, nichts ändern. Die protek-tionistischen Forderungen nach der Einführung von Ex-portzöllen und Verhinderung von transparenten Struktu-ren zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen inIndien zeigten nur die Antiquiertheit der linken An-schauungen. Dies zeigt sich auch bei der Forderungnach einem Verzicht auf einen effektiven Patentschutznach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die euro-päischen Grenzen hinaus wirksamer Patentschutz garan-tiert, dass die mit einem Patent einhergehende Offenle-gung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. DasZurückweisen der längeren Patentlaufzeiten der Frak-tion Die Linke und der Verzicht auf Datenexklusivitätwürde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzu-weisen.Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung derEntwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten undärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mitSchwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grund-lage gestellt werden muss. Statt klassischer Entwick-lungszusammenarbeit mit den Schwellenländern müssenwir eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaats-und Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik,Wissenschaft und Forschung eingehen und sie für dieEntwicklung noch immer bedürftiger Länder gewinnen.In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernet-zung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nachAufrechterhalten von Exportzöllen utopisch. NationaleAlleingänge gegen gemeinsame europäische Interessenwird es mit der FDP und der CDU/CSU-Fraktion nichtgeben. Die Kritik der Fraktion Die Linke an dem Frei-handelsabkommen EU-Indien zeichnet sich durch dasSchüren von Ängsten und den Wunsch nach Abschottungvom Weltmarkt aus. Sie lässt die, nicht nur wirtschaft-lich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherungder EU und Indiens außer Acht. Deshalb ist dieser An-trag der Linken abzulehnen.
Das geplante EU-Freihandelsabkommen zwischender Europäischen Union und Indien ist Teil der neuenAußenhandelsstrategie „Global Europe: Competing in aGlobalized World“. Ziel dieser ökonomischen Strategieist die Durchsetzung neuer und umfassender Freihan-delsabkommen, mit denen die Staaten der EuropäischenUnion einen vereinfachten Zugang zu Rohstoffen und dieÖffnung der Märkte in diesen Ländern für europäischeWaren verfolgen. Das geplante FreihandelsabkommenZu Protokollmit Indien ist Teil der verfehlten neoliberalen Außen-handelsstrategie der EU. Die Fraktion Die Linke lehntdieses Abkommen ab und hat mit ihrem Antrag Alterna-tiven für eine solidarische Außenhandelspolitik der EUmit Indien vorgelegt.Das EU-Freihandelsabkommen mit Indien nimmt inder Prioritätenliste der EU-Kommission eine Schlüssel-stellung ein. Die indische Wirtschaft ist in den letztenJahren zwischen 8 und 10 Prozent jährlich gewachsen.Trotzdem lebt in Indien weltweit der größte Anteil armerMenschen. Etwa 92 Prozent der 457 Millionen erwerbs-tätigen Inder sind im informellen Sektor beschäftigt. Sieleben meist von Subsistenzwirtschaft und einem minima-len Einkommen. Häufig sind sie als Tagelöhner oder fürzeitlich befristete Tätigkeiten beschäftigt. Darüber hi-naus müssen aufgrund der Altersstruktur in Indien bis2020 etwa 200 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen,damit das Land nicht in eine beschäftigungspolitischeKatastrophe rennt.Gerade in der Weltwirtschaftskrise zeigte sich über-deutlich, dass stärker regulierte Volkswirtschaften inden Schwellenländern wesentlich weniger krisenanfälligwaren als die stärker liberalisierten und exportabhängi-gen Volkswirtschaften. Länder wie zum Beispiel Indienprofitierten gerade in der Krise von den vorhandenenSteuerungsmöglichkeiten des Staates und der Kommu-nen. Deshalb sind die massiven Liberalisierungsforde-rungen der Europäischen Kommission vor diesem Hin-tergrund völlig unverantwortlich.Durch das Freihandelsabkommen soll der indischeMarkt noch mehr als bisher für die Produkte und Dienst-leistungen aus der EU geöffnet werden. Die EU-Kom-mission nimmt dabei bewusst in Kauf, dass Millionenvon Arbeitsplätzen in der indischen Landwirtschaft unddem informellen Bereich massiv bedroht werden. Durchdie bisherigen Vorschläge der EU-Kommission für einFreihandelsabkommen wird die Ernährungssicherheitund damit auch die Existenzgrundlage für Hunderte vonMillionen Menschen in der indischen Landwirtschaftund Industrie massiv gefährdet.Die Linke tritt deshalb dafür ein, dass allen Forde-rungen der EU-Kommission, den indischen Finanzmarktweiter zu liberalisieren, eine klare Absage erteilt wird.Es war gerade der noch immer stark regulierte indischeFinanzmarkt, der sich in der Weltfinanzkrise relativ sta-bil gezeigt hat. Deshalb warnen auch viele Vertreterin-nen und Vertreter sowohl aus Indien als auch aus derEuropäischen Union vor einer Liberalisierung des Fi-nanzmarktes. Die derzeitigen Verhandlungen zeigen,dass die Europäische Kommission nichts aus der Wirt-schaftskrise gelernt hat und mit ihrer unverantwortli-chen Wirtschafts- und Finanzpolitik dabei ist, die Ge-fahr, dass auch andere Regionen in den Strudel derunkontrollierten Finanzmärkte gezogen werden, weiterzu verschärfen. Wir treten in unserem Antrag dafür ein,dass alle Forderungen an Indien, die Handelshemm-nisse bei Finanzdienstleistungen abzubauen, sofort zu-rückgenommen werden müssen. Vielmehr müssen Regu-lierungsmaßnahmen zum Schutz der Stabilität desFinanzsystems, wie sie Indien im Kontext der Weltfi-
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10198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene RedenAnnette Groth
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nanzkrise ergriffen hat, ausdrücklich erhalten und aus-gebaut werden.Eine Liberalisierung des Marktes für landwirtschaft-liche Produkte hätte katastrophale Folgen für die über-wiegende Anzahl der Bäuerinnen und Bauern in Indien,da etwa 90 Prozent von ihnen marginalisierte Kleinpro-duzenten sind. Sie leben ausschließlich von der Land-wirtschaft. Die Liberalisierung dieses Marktes durch einFreihandelsabkommen würde ihre Lebensgrundlagemassiv bedrohen. Die Folgen für die Betroffenen wurdenbesonders sichtbar, als im Jahr 2002 Indien die Zölle fürMilchprodukte abschaffte. Dadurch drängten die zumTeil exportsubventionierten Milchprodukte aus der EUmassiv auf den indischen Markt und drückten denMilchpreis in Indien derart nach unten, dass Millionenvon landwirtschaftlichen Betrieben nicht mehr konkur-renzfähig waren und viele in den Bankrott stürzten. Umeine soziale und ernährungspolitische Katastrophe zuverhindern, führte Indien wieder Zölle in Höhe von zur-zeit 30 Prozent ein. Eine erneute Marktöffnung imMilchbereich hätte für die soziale Situation der indi-schen Subsistenzbauern fatale Auswirkungen.Die EU versucht, das Freihandelsabkommen mit In-dien gegen den Widerstand der indischen Bauernver-bände und vieler NGOs durchzusetzen, da sie Indiensgrößter Handelspartner ist und Indien an neunter Stelleim EU-Außenhandel steht. 20 Prozent des indischen Gü-terhandels werden mit der EU abgewickelt; das Han-delsbilanzdefizit zur EU beträgt drei Milliarden Euro.Die EU wickelt etwa 2,1 Prozent ihres Handels mit In-dien ab.Die treibenden Kräfte des geplanten Freihandelsab-kommens sind mächtige deutsche und europäische Lob-bygruppen wie der Bundesverband der Deutschen In-dustrie, BDI, das European Services Forum, ESF, unddie European Federation of Pharmaceutical Industriesand Associations, EFPIA. Erst vor wenigen Tagen for-derte der Europäische AutomobilherstellerverbandACEA die EU-Kommission auf, bei den Verhandlungenmit Indien noch mehr Druck zu machen. Der Verbandbeklagte, dass für die Autobranche die bisherigen Ver-handlungsergebnisse noch nicht zufriedenstellend seien.Die Industrielobbyisten nehmen mit ihren Forderungendabei bewusst in Kauf, dass sich die Ernährungssitua-tion der Menschen in Indien massiv verschlechtern wirdund die Gefahren von Instabilitäten in Indien zunehmen.Kurzfristige Profitinteressen der europäischen Groß-konzerne werden hier über die mittelfristigen Entwick-lungsmöglichkeiten der indischen Volkswirtschaft ge-stellt.Die Direktorin der indischen Nichtregierungsorgani-sation ANTHRA, Dr. Sagari R. Ramdas, weist daraufhin, dass bei einer Liberalisierung von Investitionen fürlandwirtschaftliche Flächen, Land Grabbing nochschneller vorangetrieben wird. Weiter führt sie aus, dassalle Bäuerinnen und Bauern, wie auch große Teile derindigenen Einwohner Indiens, Produzentinnen und Pro-duzenten und gleichzeitig Konsumentinnen und Konsu-menten zugleich sind. Fast alle sind für die eigeneVersorgung auf die öffentlichen Beschaffungs- und Ver-Zu Protokollteilungssysteme für Getreide angewiesen, um die Ernäh-rungssicherheit in den Haushalten zu gewährleisten.Genau hier setzt das Freihandelsabkommen der EU mitIndien an und will den Unternehmen in der EU denfreien Zugang zu den öffentlichen Beschaffungssystemenin Indien eröffnen. Dies würde die bisherige Absiche-rung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für die armenTeile in der indischen Bevölkerung noch weiter erschwe-ren.Durch die geforderte Öffnung der Rohstoffmärkte unddurch einen freien Zugang zu Explorationsmöglichkei-ten von indischen Rohstoffen durch europäische Kon-zerne würden darüber hinaus die Lebensbedingungender indigenen Einwohner Indiens infrage gestellt. Vielevon ihnen leben in Wäldern, in denen teilweise Eisenerz,Granit, Halbedelsteine und vieles mehr zu finden ist.Durch einen massiven Abbau dieser Vorkommen bestehtdie Gefahr, dass viele von ihnen vertrieben werden undsich das Heer der Armen in den Megastädten weiter ver-größert.Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dieVerhandlungen über ein EU-Freihandelsabkommen mitIndien sofort zu stoppen. Wir wollen, dass Verhand-lungsmandate der EU in Zukunft durch demokratisch le-gitimierte Prozesse festgelegt werden und alle Abkom-men, die Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung inden betroffenen Ländern und Regionen fördern, nichtmehr verfolgt werden dürfen.
In Indien leben über 40 Prozent der Bevölkerung un-terhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag,und knapp 80 Prozent leben mit weniger als 2 US-Dollarpro Tag. Auch das Pro-Kopf-Einkommen in Indien liegtweit unter dem europäischen Niveau. Die EuropäischeUnion und Indien sind keine Partner auf gleicher Au-genhöhe.Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäi-schen Union und Indien steht kurz vor dem Abschluss; essoll noch in diesem Frühjahr unterzeichnet werden. Seitmehr als vier Jahren verhandeln die beiden ungleichenPartner über ein solches Abkommen. Handel ist nur fair,wenn wir die ökologischen und sozialen Erfordernisserespektieren und wenn wir Entwicklungspotenziale för-dern und nicht ersticken. Handelsliberalisierung untergleich starken Partnern kann Wohlstand und Entwick-lung fördern, aber nur dann, wenn sie nachhaltig undfair gestaltet ist. Gegenseitige Marktöffnung zwischenungleichen Partnern wie zwischen der EU und Indiendagegen kann jedoch gravierende Folgen für den wirt-schaftlich und sozial schwächeren Partner haben.Ich kritisiere die von der Bundesregierung unter-stützte fragwürdige Handelspolitik der EU. Diese Han-delspolitik steht im Widerspruch zum Lissabon-Vertrag,der die Entwicklung und die Beseitigung der Armut alsZiel seiner Außenbeziehungen definiert. Meine beson-dere Sorge gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrech-ten. Indien ist weltweit einer der größten Generikaher-steller, gilt als die Apotheke der Armen und produziertunter anderem weltweit 80 Prozent der Medikamente zur
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10199
gegebene Reden
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10200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Uwe Kekeritz
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Behandlung von HIV/Aids. Die europäischen Forderun-gen zu den geistigen Eigentumsrechten bedrohen massivden Zugang zu kostengünstigen, lebensrettenden Medi-kamenten für die Armen der Welt. Insbesondere die vor-gesehene Datenexklusivität wäre ein Schlag gegen dieGenerikaproduktion und damit auch gegen das Men-schenrecht auf Gesundheit. Dies käme für unzähligeKranke weltweit einem Todesurteil gleich. Diese Sorgeteilt mit mir auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung. Auf Initiative des Un-terausschusses „Gesundheit in Entwicklungsländern“hat der Ausschuss in einem interfraktionellen Beschlussdie Bundesregierung und die Europäische Kommissionaufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass es im Freihan-delsabkommen zwischen der EU und Indien keine Rege-lungen gibt, die über den Standard von TRIPS hinausge-hen.Dem Antrag der Fraktion Die Linke stimmen wirnicht zu. Teilweise sind die Forderungen veraltet. Teil-weise liegen die Forderungen nicht im Kompetenzbe-reich der nationalen Parlamente. Für die Ratifizierungvon Handelsabkommen in nationalen Parlamenten bei-spielsweise gilt es zunächst juristisch zu klären, ob essich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt;denn nur dann gäbe es einen nationalen parlamentari-schen Auftrag. Auch andere Forderungen können wirnicht uneingeschränkt mittragen. Allerdings teile ich dieAnsicht, dass wir ein entwicklungsförderliches Verhand-lungsmandat für ein Abkommen mit Indien brauchen.Das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Ver-sorgung oder das Menschenrecht auf Nahrung dürfennicht durch wirtschaftliche Interessen in Gefahr ge-bracht werden. Menschenrechte sind nicht verhandelbarund müssen zu jedem Zeitpunkt gewahrt werden. Ich for-dere daher die Bundesregierung auf, sich für ein Frei-handelsabkommen einzusetzen, das die Hunderte Millio-nen von Menschen nicht aus den Augen verliert und dieMenschenrechte zur obersten Priorität macht.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4616, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2420 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 a und b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von
Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantie-
ren
– Drucksache 17/4439 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerech-
tes europäisches Asylsystem
– Drucksache 17/4679 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Die Grünen und die Linke tun etwas, das man nicht
tun sollte, sofern man den europäischen Gedanken nicht
beschädigen will. Sie wollen über den Umweg der euro-
päischen Ebene versuchen, asylpolitische Vorstellungen
zu verwirklichen, für die es weder im Deutschen Bundes-
tag noch in unserer Bevölkerung eine Mehrheit gibt. Sie
wollen über den Umweg Brüssel demokratische Mehr-
heitsentscheidungen ausspielen. Das ist nicht nur unde-
mokratisch, sondern sie verstärken das Gefühl, das lei-
der in unserer Bevölkerung verbreitet ist, dass die EU
weit weg ist von der Stimmung der Menschen vor Ort.
Insofern beschädigen sie mit ihren Anträgen den euro-
päischen Gedanken.
Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass sie
sogar die berechtigte Hoffnung haben könnten, dass sie
in der Sache in Brüssel auf ein offenes Ohr stoßen. Ich
will diese Debatte ausdrücklich dafür nutzen, zu bekla-
gen, dass Grünbücher und Richtlinienentwürfe der Ge-
neraldirektionen Innen und Justiz der EU-Kommission
oftmals davon geprägt sind, dass sie von der Rechtslage
in Deutschland und gerade auch von der Stimmungslage
der Menschen in unserem Land erheblich abweichen.
Die ursprüngliche Fassung des Richtlinienentwurfs zum
Asylrecht hätte zur Folge gehabt, dass der Asylkompro-
miss von 1993, der zu einer erheblichen Reduzierung
des Asylmissbrauchs geführt und die aufgeregte Stim-
mung der damaligen Zeit beträchtlich beruhigt hat, so
nicht mehr haltbar sein würde. Unsere Fraktion ist dem
Bundesinnenministerium deshalb sehr dankbar, dass es
sich auf EU-Ebene erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass
diese Richtlinienentwürfe so nicht kommen werden.
Ein schlichter Skandal ist der Antrag der Linken.
Man muss ganz klar deutlich machen, was dieser Antrag
zur Folge hätte. Sie lassen jede Art von Kontrolle von
Zuwanderern in unser Land fallen. Sie wollen FRON-
TEX abschaffen. Sie wollen, dass wir anderen EU-Län-
dern viele Asylbewerber abnehmen, damit diese EU-
Länder keinen Grund mehr haben, für eine ordnungsge-
mäße Sicherung ihrer Grenzen zu sorgen. Ihr Antrag
hätte zur Folge, dass im Grunde jeder Mensch aus aller
Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben.
Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hundert-
tausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde
jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen.
Reinhard Grindel
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Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit
schüren. Sie würden damit die Kommunen vor erhebli-
che Unterbringungsprobleme stellen. Es würden wieder
Sporthallen umgewandelt werden müssen zu großen
Sammelunterkünften, von den vielen Milliarden, die das
kosten würde, einmal ganz abgesehen. Das ist alles eine
völlig unverantwortliche Politik, mit der sich die Linke
endgültig aus dem Kreis derjenigen verabschiedet, die
in der Integrations- und Asyldebatte den Anspruch erhe-
ben können, ernst genommen zu werden. Mit dem absur-
den Vorschlag, die EU-Rückführungsrichtlinie wieder
abzuschaffen, sorgt die Linke dafür, dass wir weder
Menschen, die jahrelang nur Sozialleistungen kassiert
haben, noch verurteilte Straftäter in ihre Heimat zurück-
führen können. Das ist ein Beitrag, der den sozialen
Frieden gefährdet und ein wichtiges präventives Ele-
ment im Kampf gegen Ausländerkriminalität zunichte
macht, weil für viele ausländische Kriminelle die Angst
vor der Abschiebung in ihr Heimatland größer ist als die
Angst vor einer Gefängnisstrafe.
Aber auch die Grünen zeichnen in ihrem Antrag ein
Zerrbild der Lage der subsidiär Schutzberechtigten im
Verhältnis zu denjenigen, die als politisch Verfolgte oder
Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention an-
erkannt sind. Die Grünen verschweigen einen ganz we-
sentlichen Grundsatz, nämlich dass von unseren Behör-
den die subsidiär Schutzberechtigten nicht einheitlich
behandelt werden, sondern es sich dabei um eine sehr
heterogene Personengruppe handelt, die sich durch
ganz unterschiedliche Schutzbedürfnisse auszeichnet.
Es ist gängige Praxis der Ausländerbehörden, dass bei
drohender Folter oder drohender Todesstrafe im Her-
kunftsland, ähnlich wie bei GFK-Flüchtlingen, ein län-
gerfristiges Schutzbedürfnis anerkannt wird. Dement-
sprechend erhalten sie nicht nur ein mehrere Jahre
geltendes Aufenthaltsrecht, sondern auch Zugang etwa
zu Integrationsangeboten. Es gilt der Grundsatz, den die
Grünen völlig verschweigen, dass bei denjenigen subsi-
diär Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie
für lange Zeit und möglicherweise sogar auf Dauer in
unserem Land leben werden, im Grunde genommen die
gleichen Bedingungen herrschen wie bei GFK-Flücht-
lingen. Andererseits macht es aber auch Sinn, solchen
Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie nur
über einen begrenzten Zeitraum Schutzes bedürfen und
auch relativ plötzlich wieder in ihr Heimatland zurück-
geführt werden können, in dieser Weise keine Integra-
tionsangebote zu machen. Das gilt etwa bei Kriegs- oder
Bürgerkriegsflüchtlingen, bei denen das Schutzbedürf-
nis typischerweise eher vorübergehender Natur ist. Die-
ser Heterogenität der Gruppe der subsidiär Schutzbe-
rechtigten können die Mitgliedstaaten nur Rechnung
tragen, wenn ihnen Regelungsspielräume verbleiben
und keine schematische Gleichstellung der subsidiär
Geschützten mit GFK-Flüchtlingen erfolgt.
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass die Inte-
grationsbeauftragte der Bundesregierung, die ja eine
breite Kenntnis der Praxis in unseren Ausländerbehör-
den hat, in der Vergangenheit immer wieder darauf hin-
gewiesen hat, dass es bei Fragen der Ausbildungsför-
derung oder Sozialleistungen sowie beim Arbeitsmarkt-
Zu Protokoll
zugang es keine großen praktischen Unterschiede in der
Behandlung der Ausländerbehörden von GFK-Flücht-
lingen und subsidiär Schutzberechtigten gibt. Gerade
was die Frage des Arbeitsmarktzugangs anbelangt,
macht das ja auch großen Sinn, dass die Schutzbedürfti-
gen in unserem Land etwa Kompetenzen erwerben, die
sie später in ihrem Heimatland nutzen können. Und es
macht auch großen Sinn, dass sie, anstatt Sozialleistun-
gen zu erhalten, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.
Das gilt in gleicher Weise für jüngere Schutzbedürftige,
wenn man an die Förderung für einen Ausbildungsplatz
denkt. Außerdem will ich hervorheben, dass es auch bei
der medizinischen Versorgung selbstverständlich in der
Praxis keine unterschiedliche Behandlung gibt. Insofern
muss man den Grünen vorhalten, dass sie mit ihrem An-
trag einen Popanz aufbauen und sich daran abarbeiten,
obwohl die ausländerrechtliche Praxis völlig anders
aussieht.
Man kann die Anträge von Linken und Grünen also
insoweit zusammenfassen: Der Antrag der Linken ist in-
tegrationsfeindlich, kommunal unfreundlich und würde
unser Land in einen Zustand versetzen, wie wir ihn An-
fang der 90er-Jahre hatten. Das kann niemand politisch
ernsthaft wollen. Die Grünen zeichnen ein Zerrbild der
praktischen Lebenssituation von subsidiär Schutzbe-
dürftigen. Insofern sind beide Anträge abzulehnen.
Im „Stockholmer Programm“, das direkt an das„Haager Programm“ – 2005 bis 2009 – anschließt, wer-den für den Zeitraum von 2010 bis 2014 die Prioritätender europäischen Innenpolitik definiert. Mit der Absicht,„ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zumSchutz der Bürger“ zu schaffen, bekräftigt das neueFünf-Jahres-Programm im Bereich der Migrationspoli-tik das Ziel einer vorausschauenden und umfassendeneuropäischen Politik, die auf Solidarität und Verant-wortlichkeit beruht. Im „Stockholmer Programm“ istein einheitlicher Status für Personen, denen internatio-naler Schutz gewährt wird, vorgesehen.Die Begründung für die Einführung des subsidiärenSchutzstatus war gewesen, dass es diesen Schutz nur vo-rübergehend geben würde und die Menschen, denen ergewährt wurde, nicht längere Zeit bleiben würden. Inder Praxis hat sich diese Annahme jedoch als falsch er-wiesen. Die Hürden, um einen subsidiären Schutzstatuszuerkannt zu bekommen, sind gravierende Menschen-rechtsverletzungen wie drohende Todesstrafe, Folterund Krieg. In diesem Sinne ist es nicht „leichter“, einensubsidiären Schutzstatus zu erhalten, als als Verfolgterim Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zuwerden. Zudem sind die dargestellten Umstände keines-falls solche, die sich schnell ändern. Wenn aber davonausgegangen werden muss und die Erfahrungen gezeigthaben, dass Menschen mit einem subsidiären Schutzsta-tus dieses Schutzes nicht nur vorübergehend bedürfen,dann ist ihre Ungleichbehandlung gegenüber der Be-handlung von anerkannten Flüchtlingen nicht gerecht-fertigt und muss aufgehoben werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10201
gegebene RedenRüdiger Veit
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(B)
Wie in der Neufassung der Flüchtlingsanerkennungs-richtlinie vorgesehen, sollten subsidiär Geschützte so-fortigen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkthaben, sie müssen Leistungen entsprechend denen vonanerkannten Flüchtlingen erhalten und vor allem müs-sen sie Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Wennsie auf Dauer bei uns leben, dann macht es allein undausschließlich Sinn – nicht nur, aber auch aus finanziel-len Erwägungen, weil wir ja alle mittlerweile längst wis-sen, dass eine nachholende Integration schwerer und imErgebnis teurer ist –, sie so frühzeitig wie möglich zu in-tegrieren. Schließlich müssen sie auch den gleichen Zu-gang zu medizinischer Versorgung haben.Auch wir möchten die Bundesregierung auffordern,ihre Vorbehalte gegen Art. 24 der Anerkennungsrichtli-nie aufzugeben, nach dem einer Person nach Zuerken-nung des Schutzstatus ein verlängerbarer Aufenthaltsti-tel mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens dreiJahren ausgestellt werden muss. Wichtig für die Anglei-chung der Rechte von Flüchtlingen mit einem subsidiä-ren Schutzstatus und der Anerkennung als Flüchtling istauch Art. 26 der Richtlinie, der den unmittelbaren Zu-gang zu einer Erwerbstätigkeit und die Teilnahme an be-schäftigungsbezogenen Bildungsanboten für Erwach-sene und berufsbildende Maßnahmen ermöglicht. Vonebenso großer Bedeutung ist schließlich Art. 29 derRichtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten Personen mitAnspruch auf internationalen Schutz die notwendige So-zialhilfe im selben Umfang gewähren wie Staatsangehö-rigen des betreffenden Mitgliedstaates. Schließlich be-grüßen auch wir Art. 34 des Neufassungsvorschlages,nach dem der schutzgewährende Mitgliedstaat die Inte-grationsmaßnahmen zu gewährleisten hat, die den be-sonderen Bedürfnissen von Personen mit Anspruch aufinternationalen Schutz Rechnung tragen. In dem Punktder Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einemsubsidiären Schutzstatus an den von Flüchtlingen stim-men wir mithin mit den Positionen in den Anträgen vonBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linkeüberein.Diesem Ansinnen kann auch nicht entgegengehaltenwerden, dass die Angleichung der Rechte der beidenSchutzarten der sonstigen Systematik der Rechtsetzungauf EU-Ebene widersprechen würde. Denn wie es imAntrag von Bündnis 90/Die Grünen steht, haben sichdas Europäische Parlament und der Rat im Dezemberletzten Jahres auf eine Neufassung der „Daueraufent-haltsrichtlinie“ dahin gehendgeeinigt, dass nunmehr auch Personen mit internationa-lem Schutzstatus mit einem fünfjährigen rechtmäßigendauerhaften Aufenthalt in den Anwendungsbereich derRichtlinie aufgenommen werden sollen.Auch wenn es in keinem der beiden vorliegenden An-träge erwähnt wird, möchte ich an dieser Stelle sagen,dass wir das Abstimmungsergebnis im LIBE-Ausschussdes Europäischen Parlamentes über die Anerkennungs-richtlinie am 1. Februar 2011 begrüßen, nachdem nun-mehr in der neuesten Fassung der Richtlinie die Defini-tion der Familie nicht mehr beinhaltet, dass dieVerbindung zu dem einen internationalen Schutzstatuserhalten habenden Flüchtling im Herkunftsland entstan-Zu Protokollden sein muss. Ebenso begrüßen wir die nunmehr er-folgte Klarstellung, dass nur staatliche Akteure solchesein können, die Schutz gewähren, und dass nicht wienoch in den Entwürfen zuvor – leider auch auf Drängender Bundesregierung hin – vorgesehen auch eine nicht-staatliche Einheit schutzgewährende Organisation seinkann, wie zum Beispiel eine Stammesgruppe. In der Ab-stimmung im LIBE-Ausschuss wurden zudem auch meh-rere Einwände gegen die Angleichung der beidenSchutzstatute abgelehnt. In der neuesten Fassung ist dieForderung nach deren Angleichung mithin weiterhinenthalten. Das begrüßen und unterstützen wir.Was den Antrag der Fraktion Die Linke anbelangt, soenthält er neben Forderungen zu der Anerkennungs-richtlinie auch noch Forderungen nach einer Neufas-sung des Dublin-II-Systems und eines Systems zur ge-rechten Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas.Diese Forderungen sind im Kern richtig und berechtigt,und auch wir suchen nach Möglichkeiten, die bestehen-den Systeme vor allem im Interesse der Flüchtlinge zuverbessern. Wie konkret allerdings solche Systeme aus-gestaltet sein sollen, dazu sagt der Antrag der Linkennichts. Wir sind jedoch bereits jetzt schon dabei, kon-krete Vorstellungen zu diesen Themen zu entwickeln.Darüber würden wir uns in Zukunft gerne noch einmalunterhalten.Hartfrid Wolff (FDP):Der Antrag der Linken enthält die übliche Forderungder Linken: Reisefreiheit für illegale Migranten. Es magja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungs-bedarf auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystemgeben. Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinieist jedoch ebensowenig ein ernstzunehmender Vorschlagwie die Auflösung von FRONTEX.Die Abschiebehaft ist – bei aller Notwendigkeit, sichdie Bedingungen hierzu nochmals genau anzusehen – le-gitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu ge-währleisten und damit ein leider notwendiges Instru-ment im Rahmen des Vollzugs des demokratischzustande gekommenen Aufenthaltsrechts.Die Abschaffung der EU-Rückführungs-RL ist kon-traproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststandardsfür alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden sind.Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforderungnicht mehr, sondern sogar weniger Rechte für die Be-troffenen. Der Linke-Populismus schadet den Schwächs-ten in der Migrationspolitik.Nicht zuletzt der Verhältnisse in Griechenland, desUrteils des EGMR und der Beschlüsse des BVerfG zuDublin wegen muss man über das System nachdenken.Aber man muss betonen, dass die Bundesregierung sehrverantwortungsvoll mit dem Mechanismus umgeht: Fürein Jahr sind nun Rückführungen ausgesetzt; bereits imletzten Jahr sind nur 50 Personen nach Griechenlandzurückgeschoben worden, beim Rest wurde vom Selbst-eintrittsrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig könnenauch Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden,wenn sie die Standards nicht einhalten: Der Druck mussaufrechterhalten bleiben. Konkrete Hilfe hat die
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10202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene RedenHartfrid Wolff
(C)
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Bundesregierung für die griechischen Behörden auchangeboten; hinsichtlich der menschenwürdigen undschnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rah-menbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie zur stärke-ren Grenzsicherheit vonnöten.Die Grenzschutzagentur FRONTEX aufzulösen, istauch so eine typische Forderung von offenkundig unter-beschäftigten Abgeordneten der Oppositionsfraktion aufder Suche nach dem verlorenen Kommunismus. Die Ab-schaffung von FRONTEX ist nicht sinnvoll, sondern ge-radezu rückwärtsgewandt: Es ist richtig, dass ange-sichts des gemeinsamen Binnenraums über FRONTEXdie Einsätze koordiniert werden. Vorfälle auf dem Mit-telmeer etwa müssen rückhaltlos aufgeklärt werden;rechtsstaatliche und völkerrechtliche Unsicherheitenwerden angegangen werden. Auch hat es in den letztenJahren viele Verbesserungen bei FRONTEX gegeben.Jedenfalls hat aber Europa und der Welt eine „Europäi-sche Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen undrechtsstaatlichen Aufnahme von Flüchtlingen“ geradenoch gefehlt.Die FDP ist der Meinung: Illegale Migration darfnicht verharmlost werden. Sie stellt ein Problem dar. DieLinken wollen am liebsten Tür und Tor für alle öffnen.Das ist sicherlich kein gangbarer Weg. Der Antrag derGrünen kommt da schon seriöser daher. Deutschkurseetwa auf subsidiär Schutzbedürftige auszuweiten, ist inder Sache durchaus eine begründbare Idee, allerdingsmüssen wir auch sehen, was finanzierbar ist – nicht nurim Blick auf die Quantität, sondern auch die Legitimitätder eingesetzten Mittel. Die Integrationskurse müssenvor allem den Menschen offenstehen, die tatsächlichdauerhaft oder zumindest längerfristig in Deutschlandbleiben.Die FDP wird die Asylpolitik weiterhin verantwor-tungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Pla-nungen konstruktiv begleiten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatam 21. Januar ein Urteil gegen Belgien gefällt, das auchDeutschland und die ganze EU betrifft. Dem Gericht zu-folge hätte Belgien einen Asylsuchenden nicht nachGriechenland zurückschicken dürfen, weil ihm dort un-menschliche und erniedrigende Behandlung drohten.Auch den fehlenden Rechtsschutz gegen die Abschie-bung hat der Gerichtshof als Verstoß gegen die Europäi-sche Menschenrechtskonvention verurteilt. Dieses Ur-teil ist ein Urteil über die gesamte Asylpolitik der EUund die Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland da-bei spielt. Grundlage des Vorgehens der belgischen Be-hörden ist das sogenannte Dublin-System. Demnachmüssen Asylsuchende ihr Asylverfahren in dem Staat be-treiben, in dem sie ihren Fuß zuerst auf EU-Territoriumgesetzt haben. Kern dieses Systems ist die Drittstaaten-regelung, wie sie 1993 im sogenannten Asylkompromissin Deutschland festgelegt wurde. Wer über einen siche-ren Drittstaat nach Deutschland einreist, dessen Antraggilt als unbeachtlich. Der oder die Betroffene wird in je-nen vermeintlich sicheren Drittstaat zurückgeschoben,Zu Protokollaus dem er oder sie gekommen ist. Um diese Asylbewer-ber auch wirklich schnell wieder loszuwerden, hat sicheine Große Koalition aus Union, SPD und FDP damalsnoch einen weiteren Kniff einfallen lassen. Die aufschie-bende Wirkung einer Klage gegen die Abschiebungwurde abgeschafft. Es ist der einzige Fall, in dem imdeutschen Verfahrensrecht kein wirksamer Rechtsschutzgegen eine Behördenentscheidung möglich ist. Mit demDublin-System wurde daraus EU-Recht. Dieses Systemermöglicht die organisierte Flucht aus der Verantwor-tung für Schutzsuchende und Flüchtlinge. Ein Kommen-tar in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. Januar 2011unter der Überschrift „Enthüllendes Urteil“ hat dies aufden Punkt gebracht. Ich zitiere: „Das gegenwärtige Sys-tem dient vor allem einem Zweck: einigen großen Staa-ten wie Deutschland möglichst alle Asylbewerber vomHals zu halten – auf Kosten der Flüchtlinge und der amRand der EU liegenden Staaten, die sich kaum noch zuhelfen wissen.“Es sind diese Staaten wie Griechenland, die sichüberlastet sehen und schon allein deshalb die Standardsdes Flüchtlingsrechts nicht einhalten. Eine weitereRunde in der Harmonisierung des Asylrechts in der EUmuss daher zwingend mit einer grundlegenden Reformeinhergehen. Das Verhalten der Bundesregierung in die-sem Zusammenhang ist jedoch beschämend. Sie blo-ckiert jede Initiative, die das Aufweichen der starrenDublin-Regelungen vorsieht. Sie torpediert Richtli-nienentwürfe, die den Status und die Rechte von Schutz-suchenden und Flüchtlingen verbessern könnten. Siewirkt stattdessen an der Abschottung der FestungEuropa mit, die jährlich ungezählte Todesopfer fordert.Ein frappierendes Beispiel aus der jüngsten Vergangen-heit ist die Teilnahme am Einsatz der Grenzschutzagen-tur FRONTEX an der türkisch-griechischen Land-grenze. Ihre Aufgabe dort ist unter anderem, dieFlüchtlinge an der Grenze abzufangen und in die grie-chischen Aufnahmelager und Abschiebeknäste zu brin-gen. Genau diese Einrichtungen sind es, auf die das Ur-teil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zielt.Die Unterbringung der Flüchtlinge dort ist unmensch-lich und erniedrigend.Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierungauf, sich endlich für einen effektiven Flüchtlingsschutzauf EU-Ebene einzusetzen, der den Bedürfnissen derFlüchtlinge wie den Aufnahmekapazitäten der EU-Staa-ten gerecht wird. Die Abschottungsagentur FRONTEXmuss endlich aufgelöst werden. Sie ist Sinnbild einerPolitik, die Flüchtlinge zu illegalen Migrantinnen undMigranten erklärt und mit polizeilichen und militäri-schen Mitteln bekämpft. Wir feiern in diesem Jahr das60-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention.Dies muss sich endlich auch in der deutschen und dereuropäischen Flüchtlingspolitik niederschlagen.
Im Dezember hat Bundesinnenminister de Maizièrenun endlich die Katze aus dem Sack gelassen: Gemein-sam mit anderen konservativen Innenministern und derEVP-Fraktion hat er das Positionspapier „Perspektiven
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10203
gegebene Reden
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10204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Viola von Cramon-Taubadel
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des EU-Asylsystems“ vorgestellt. Anstatt Perspektivenfür ein längst überfälliges, qualitativ besseres Asylsys-tem in der EU zu entwerfen, haben wir es hier mit einemechten Rollback zu tun. Es geht nämlich in dem Papiernahezu ausschließlich darum, wie eine weitere Harmo-nisierung des Flüchtlingsschutzes verhindert werdenkann. Mittlerweile wird Flüchtlingsschutz nur noch vonder Haushaltslage der europäischen Nationalstaatenabhängig gemacht; die Einhaltung universaler Men-schenrechte ist zweitrangig. Nicht anders ist zu erklären,dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundes-innenministerium, Ole Schröder, das Positionspapierauf einer parteilichen Pressekonferenz der EVP mit derzentralen Aussage vorstellte, dass man sich Verbesse-rungen im Flüchtlingsschutz derzeit einfach nicht leistenkönne.Im Einzelnen begrüßt die Bundesregierung den Ab-bruch der Neuverhandlungen der Asylverfahrensricht-linie und der Richtlinie über Aufnahmebedingungen fürAsylbewerber. Beides hat sie durch ihre Blockade im Ratmitzuverantworten. Damit macht sie deutlich, dass ihran Fortschritten beim EU-Flüchtlingsschutzes nicht ge-legen ist. Im Gegenteil: Sie versucht, mit ihren konserva-tiven europäischen Kollegen den politischen Kampfbe-griff des Asylmissbrauchs wieder salonfähig zu machen.Das ist angesichts der Menschenrechtslage in denHauptherkunftsländern der Flüchtlinge mehr als zy-nisch. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem li-beralen Koalitionspartner, der – wenn er es mit libera-len Grundsätzen im Bereich der Flüchtlingspolitik ernstmeint – unmittelbar einschreiten müsste. Es gibt an die-ser Stelle zwei Vermutungen. Erstens. Die FDP ist überdie neue Marschroute von de Maizière gar nicht unter-richtet worden. Zweitens. Die Koalitionsdisziplin hat ge-griffen, und die FDP ist verstummt. Beides wäre fatal.Denn interessanterweise gab es auf europäischer Ebenedurchaus liberale Stimmen, die das Vorgehen der Kon-servativen kritisiert haben. Nadja Hirsch, die integra-tionspolitische Sprecherin der Liberalen im Europäi-schen Parlament, bezeichnete den „Versuch derKonservativen, ein gemeinsames EU-Asylsystem auszu-hebeln“ als „unverantwortlich und verlogen“. Bedauer-lich, dass sie mit dieser Stimme nicht weiter in die Na-tionalstaaten vorgedrungen ist.Vollkommen unverständlich ist weiterhin, wie dieBundesregierung ihre eigene Beschlusslage konterka-riert: Bereits beschlossene Reformanliegen, denen sienoch vor etwa einem Jahr zusammen mit allen anderenEU-Mitgliedstaaten zugestimmt hat, werden damit wie-der ausgehebelt. Im Stockholmer Programm erinnerteder Europäische Rat an die Notwendigkeit, die Rechtevon subsidiär geschützten Personen an die von Flücht-lingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anzu-gleichen. Dies wurde nicht erst dort, sondern seit demHaager Programm 2004 in unterschiedlichen Beschlüs-sen des Europäischen Rats immer wieder betont. Mitt-lerweile erscheint das Ziel, die Reform bis 2012 umge-setzt zu haben, allerdings in weite Ferne gerückt zu sein,da neben Tschechien Deutschland als einziger Mitglied-staat eine Schutzangleichung im Rat komplett blockiert.Zu Ihrer Erinnerung: Derzeit leben knapp 26 000subsidiär geschützten Personen in Deutschland. Bei die-sen Menschen haben das Bundesamt für Migration undFlüchtlinge oder Verwaltungsgerichte festgestellt, dassihnen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter,Todesstrafe oder andere gravierende Menschenrechts-verletzungen drohen. Dies wird sich so schnell nicht än-dern. Daher ist davon auszugehen, dass diese Menschendauerhaft in Deutschland leben werden. Es ist integra-tionspolitisch völlig unbegreiflich, dass sie bisher mit ei-ner Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Aufenthalts-gesetz in Deutschland – anders als anerkannteFlüchtlinge – weder einen Anspruch auf einen Integra-tionskurs noch einen Anspruch auf Erlaubnis einer Er-werbstätigkeit haben. Subsidiär geschützte Personenerhalten Kinder- und Erziehungsgeld erst nach drei Jah-ren bzw. BAföG-Leistungen sogar erst nach mindestensvier Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in Deutsch-land.Warum wehrt sich die deutsche Bundesregierung inBrüssel mit Händen und Füßen dagegen, subsidiär ge-schützte Personen künftig ebenso wie anerkannteFlüchtlinge zu behandeln? Wir fordern Sie, Herr Bun-desinnenminister, mit dem vorliegenden Antrag auf:Kehren Sie zur gemeinsamen Beschlusslage der EU zu-rück. Diese Menschen müssen endlich einen Anspruchauf einen Integrationskurs, uneingeschränkte Sozial-hilfe, medizinische Betreuung und gleichberechtigtenZugang zu Wohnraum, beschäftigungsbezogenen Bil-dungsangeboten sowie berufsbildenden Maßnahmen er-halten. Mit Ihrer Politik verschließen Sie nicht nur vorder Ungleichbehandlung von bleibeberechtigten Flücht-lingen in Deutschland die Augen. Auch europapolitischist Ihr Vorgehen fatal. Für einen europäischen Asyl- undFlüchtlingsschutz, der diesen Namen auch verdient hat,muss die Bundesregierung zwei Maßgaben beachten, diesie beide im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi-schen Union, AEUV, findet. Sie muss dem Grundsatz derSolidarität gemäß Art. 80 AEUV endlich zustimmen undso eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen unterden EU-Mitgliedstaaten gewähren. Das wäre für dieEU-Randstaaten wie Griechenland oder Italien drin-gend notwendig.Zu einer verantwortungsvollen Politik gehören ein-heitliche Schutzstandards und Verfahrensrechte auf ho-hem Niveau in ganz Europa. Deshalb fordern wir dieBundesregierung in unserem Antrag auf, ihre Vorbehaltegegen die von der EU-Kommission vorgeschlageneSchutzangleichung aufzugeben. Nur damit kann sie sichan die Vorgaben des Stockholmer Programms halten, indenen es heißt, bis spätestens 2012 gemäß Art. 78 AEUV„ein gemeinsames Asylverfahren und einen einheit-lichen Status für Personen, denen Asyl oder subsidiärerSchutz gewährt wird, zu schaffen“. Wir fordern die Bun-desregierung dazu auf, diesen Grundsatz bei anstehen-den Gesetzgebungsverfahren auf nationaler Ebene zuberücksichtigen und umzusetzen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/4439 und 17/4679 an die in der Ta-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10205
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Tagesordnungspunkt 19:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-PeterBartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDNeue Initiative für Neuheitsschonfrist imPatentrecht starten– Drucksachen 17/1052, 17/4725 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Stephan HarbarthMarianne Schieder
Stephan ThomaeJens PetermannDie Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion der SPD
wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auf euro-
päischer Ebene für die Einführung einer Neuheitsschon-
frist im Patentrecht einzusetzen. Hierdurch soll dem Be-
dürfnis Rechnung getragen werden, dass die Wissen-
schaft ihre gewonnenen Erkenntnisse frühzeitig veröf-
fentlichen kann, um im internationalen Forschungswett-
bewerb bestehen zu können, ohne eine mögliche spätere
Patentierbarkeit zu gefährden. Diese Forderung ist
nicht neu. Die Diskussion darüber, ob auch in das deut-
sche und europäische Patentrecht die Neuheitsschon-
frist aufgenommen werden sollte, begegnet uns seit den
1980er-Jahren in regelmäßigen Abständen. Der Deut-
sche Bundestag hat sich bereits mehrfach auf Initiative
von fast allen im Bundestag vertretenen Fraktionen mit
dieser Frage auseinandergesetzt.
Bei der Einführung einer Neuheitsschonfrist handelt
es sich um eine facettenreiche Thematik, bei der die Vor-
und Nachteile einer besonders sorgfältigen Abwägung
bedürfen und deren Beurteilung entscheidend von ihrer
näheren Ausgestaltung abhängt. Der von der SPD vor-
gelegte Antrag geht jedoch auf zahlreiche Fragen, de-
nen im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung entschei-
dende Bedeutung zukommt, nicht ein. Dies gilt zum
Beispiel für die genaue Ausgestaltung einer Neuheits-
schonfrist. Der Antrag der SPD-Fraktion lässt auch den
Personenkreis offen, der in den Genuss der Neuheits-
schonfrist kommen soll. Dies betrifft namentlich etwa
die Frage von Vorveröffentlichungen, die nur mittelbar
auf den Erfinder zurückgehen. Darüber hinaus berück-
sichtigt der vorgelegte Antrag nicht hinreichend, dass
eine Neuheitsschonfrist – wenn man sie einführen wollte –
sinnvollerweise nicht nur auf europäischer, sondern
auch auf internationaler Ebene einheitlich ausgestaltet
werden sollte.
Der vorliegende Antrag ist daher schon aus diesen
Gründen nicht zustimmungsfähig.
Die Geschichte des Einsatzes für die Einführung ei-
ner Neuheitsschonfrist liest sich ein wenig wie der be-
kannte Kampf gegen Windmühlen. Die Bundesregierung
vermittelt zwar den Eindruck, sie stehe einer solchen
Einführung positiv gegenüber; gleichzeitig sehen Parla-
ment und Öffentlichkeit jedoch keinerlei Bewegung in
dieser Sache. Uns allen ist klar: Wir brauchen ein inno-
vations- und forschungsfreundliches Patent- und Urhe-
berrecht. Patente sind ein zentraler Bestandteil des Wis-
sens- und Technologietransfers, auch wenn sich die
Reform von Teilen des Patentrechts möglicherweise
nicht so öffentlichkeitswirksam und attraktiv in der Öf-
fentlichkeit darstellen lässt wie andere Projekte.
Der Deutsche Bundestag hat sich dennoch wiederholt
mit dem Plan zur Einführung einer Neuheitsschonfrist
im Patentrecht auseinandergesetzt. Worum geht es hier-
bei? Wissenschaft und Forschung in Deutschland stehen
durch das Nichtvorhandensein einer Neuheitsschonfrist
vor einem grundlegenden Dilemma. Auf der einen Seite
müssen sie Erkenntnisse zügig publizieren, um im inter-
nationalen Forschungswettbewerb zu bestehen und um
ihre Exzellenz nachzuweisen. Auf der anderen Seite steht
häufig jedoch auch der Wunsch nach einer ökonomi-
schen Verwertung der eigenen Erfindung, der aber zur-
zeit mit der Notwendigkeit der Geheimhaltung einher-
geht. Im Zuge einer solchen Patentanmeldung sind
Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen, und nicht selten
ergibt sich das konkrete Verwertungspotenzial erst nach
Austausch im Kollegenkreis. Die Bearbeitungszeit für
einen Patentantrag verzögert den wissenschaftlichen
Austausch, und die Angst vor einem Verlust des Rechts
zur Patentanmeldung behindert den offenen Austausch
mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftler-
gemeinde sowie mit Unternehmen und Investoren.
Eine Neuheitsschonfrist würde sicherstellen, dass
dem Erfinder eine gewisse Zeit – wir als SPD fordern
eine Frist von einem Jahr unter Verweis auf internatio-
nale Erfahrungen – zur Verfügung steht, in der der Er-
finder seine Erfindung bereits publik machen kann, ohne
dass dies einer späteren Patentanmeldung entgegen ste-
hen würde. Was jeder Beobachterin und jedem Beobach-
ter auf den ersten Blick als schlüssiges Konzept er-
scheint, findet bis heute in unserem Patentrecht keine
Berücksichtigung. Während andere Länder bereits seit
Jahren erfolgreich auf das Instrument Neuheitsschon-
frist setzen, hat sich in Deutschland unter Federführung
von Bundesforschungsministerin Schavan im Bereich
Patentrecht für Wissenschaft und Forschung jedoch
nichts getan. Dabei hat sich der Deutsche Bundestag be-
reits im Mai 2006 klar für die Einführung einer Neu-
heitsschonfrist ausgesprochen. Auf Initiative der SPD
hatten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit der
Drucksache 16/1546 die Bundesregierung aufgefordert,
die Bemühungen zur Einführung einer Neuheitsschon-
frist zu intensivieren. Auch die FDP hatte in Opposi-
tionszeiten auf Drucksache 14/9567 vom Juni 2002 die
Einführung einer Neuheitsschonfrist gefordert. Zu Re-
gierungszeiten haben beide Fraktionen offenkundig ihre
Forderungen von damals vergessen. Wenn die Regie-
rungsfraktionen nun – absehbar – unseren Antrag
René Röspel
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ablehnen werden, so ist dies kein guter Tag für ein inno-
vationsfreundliches und Forschung förderndes Patent-
recht.
Nun mag man den Regierungsfraktionen zugute hal-
ten, dass sie unseren Antrag ablehnen, da wir uns in der
Opposition befinden. Dabei ist unser Antrag bewusst so
angelegt, dass wir nicht die – unrealistische – Forde-
rung nach einer sofortigen Festschreibung der Neu-
heitsschonfrist aufstellen – so wünschenswert dies auch
wäre –, sondern ja eher zurückhaltend formulieren. Wir
fordern die Bundesregierung lediglich auf, in dieser Sa-
che endlich sichtbar aktiv zu werden. Außerdem soll die
die Bundesregierung dem Bundestag Vorschläge unter-
breiten, wie man das nationale und internationale
Patentwesen zur Stärkung von Wissenschaft und For-
schung verbessern – sprich: reformieren – könnte. Auch
die verbesserte Ausstattung des Deutschen Patent- und
Markenamtes sowie des Europäischen Patentamtes
sollte eigentlich unstrittig sein. Ohne unseren Antrag
wäre dieses Thema jedoch seit Beginn der schwarz-gel-
ben Koalition vollkommen unter den Tisch gefallen. Wir
fordern Sie auf: Beenden sie die Sonntagsreden von ab-
strakten Hightech-Strategie-Plänen und die Märchenge-
schichten über eine angeblich irgendwann einmal anste-
hende steuerliche Förderung von Forschung und
Entwicklung. Sehen sie sich stattdessen konkret an, wo-
ran es der deutschen Wissenschaft und Forschung fehlt.
Unsere Defizite liegen nicht in der geringen Zahl von
bunten Broschüren über Wettbewerbe, Strategien und
Rahmenprogramme; wir haben vielmehr sehr konkrete
Herausforderungen etwa im Patentrecht oder auch im
Urheberrecht, über das wir hier bald diskutieren wer-
den. Schauen Sie noch einmal in das Gutachten zu For-
schung, Innovation und technologischer Leistungsfähig-
keit 2009 der Expertenkommission „Forschung und
Innovation“. Hier finden Sie die Probleme, die die Re-
gierung zügig angehen sollte, und die Neuheitsschon-
frist ist hier eines, es jedoch ein besonders wichtiges
Beispiel.
Auch wenn Sie heute – absehbar – allein aus koali-
tionspolitischen Gründen unseren Antrag ablehnen wer-
den: Drängen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und FDP, ihre Ministerinnen und Minis-
ter zu einer Umsetzung unserer Forderungen. Wir geben
das Copyright für unsere Pläne gerne an Sie ab, wenn
Sie endlich aktiv werden, um die Wettbewerbsfähigkeit
unseres Landes in Wissenschaft und Forschung im Be-
reich Patentrecht zu verbessern.
Heute diskutieren wir den Antrag der SPD, mit demsie eine „Initiative für eine Neuheitsschonfrist im Pa-tentrecht“ starten will. Die Mitglieder dieses HohenHauses haben über die Frage, ob im deutschen Patent-recht wieder eine Neuheitsschonfrist eingeführt werdensoll, in der Vergangenheit mehrfach debattiert. Die Ini-tiativen dazu kamen aus unterschiedlichen Fraktionen.In der 14. Wahlperiode war es die FDP, die sich „für eineffizientes, kostengünstiges und konkurrenzfähiges euro-päisches Gemeinschaftsrecht mit Neuheitsschonfrist“Zu Protokolleinsetzte. Die Fraktionsparteien der großen Koalitionhatten im Jahr 2006 einen Antrag eingereicht, der dieBundesregierung aufforderte, die Bemühungen um dieEinführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht aufinternationaler Ebene zu intensivieren. Diese Anträgeblieben bislang ohne erkennbaren Erfolg. Selbst der An-trag der Regierungsfraktionen aus dem Jahr 2006konnte die damalige Regierung nicht dazu bewegen, dieNeuheitsschonfrist im deutschen Patentrecht wieder ein-zuführen.Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nachdem Für und Wider einer Neuheitsschonfrist. Die Befür-worter der Neuheitsschonfrist, und so auch der Antragder SPD, erhoffen sich in erster Linie, dass die Neuheits-schonfrist den Forscherinnen und Forschern mehr Zeiteinräumt. Diese soll es den Wissenschaftlern und Wis-senschaftlerinnen ermöglichen, sich mit Kolleginnenund Kollegen auszutauschen, um so zu noch besserenErgebnissen zu kommen.Gleichzeitig könnten nach Vorstellung der SPD in dergewonnenen Zeit auch Gespräche mit Unternehmen undInvestoren geführt werden, die eine möglichst erfolgrei-che Verwertung der Erfindung zum Ziel haben.So die Theorie hinter dem Antrag der SPD. Aberbrauchen wir das in der Praxis? Mögliche Geschäfts-partner und Investoren kann man zur Verschwiegenheitverpflichten. Dadurch wäre die für eine Patentanmel-dung erforderliche Voraussetzung, dass die Erfindungnoch nicht veröffentlicht ist, gewährleistet. Darüber hi-naus sind die meisten Wissenschaftler bereits heute gutüber das Patentrecht informiert. Oftmals verfügen Uni-versitäten und Forschungseinrichtungen über eigeneoder mit Partnerinstitutionen betriebene Patentverwer-tungsabteilungen. Die betroffenen Forscher wissen also,wie wichtig es ist, ihr Patent anzumelden, bevor sie esveröffentlichen.Neben den unbestrittenen Vorteilen bringt eine Neu-heitsschonfrist auch erhebliche Nachteile mit sich. Sieerhöht die Rechtsunsicherheit, da für die Beteiligtennicht von vornherein klar ist, ob eine Veröffentlichungbereits als „Stand der Technik“ von allen genutzt wer-den kann oder später rückwirkend für eine Patentanmel-dung in Anspruch genommen wird. Die Rechtsunsicher-heit hat weitere Folgen: Die Verfahren zur Anmeldungvon Patenten werden komplexer, da noch umfassendergeprüft werden muss, was noch als „nicht veröffent-licht“ angesehen werden kann oder was gegebenenfallsder Neuheitsschonfrist unterfällt. Besonders kompliziertkann dies bei Folgepublikationen werden, die erst durchvorherige Veröffentlichungen ausgelöst wurden. DieseRechtsunsicherheit macht das Patent nicht nur streitan-fälliger, sie mindert auch die Bereitschaft, in patent-trächtige Forschungsbereiche zu investieren und aktivzu werden. Dies schadet letztlich nicht nur der For-schung, sondern auch der Allgemeinheit. Aus diesemGrund wird eine Neuheitsschonfrist von großen Teilender deutschen Industrie mit guten Gründen abgelehnt.Wir wollen die Tür hier aber nicht ganz zumachen.Die Einführung einer Neuheitsschonfrist in das europäi-sche Patentrecht wäre im Rahmen einer internationalen
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10206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene RedenStephan Thomae
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Patentrechtsharmonisierung denkbar. Dies würde je-doch voraussetzen, dass mit anderen großen Patentna-tionen, insbesondere den USA, in zentralen Fragen Kon-sens erzielt werden kann. Hierzu zählen vor allem dieEinführung des Erstanmelderprinzips und die Offenle-gung aller Patente nach 18 Monaten. Gegenwärtig isteine Annäherung der USA an Europa in diesen Punktenaber nicht zu erkennen; entsprechende Verhandlungenliegen auf Eis. Solange aber eine internationale Lösung,die auch von den USA mitgetragen wird, nicht absehbarist, überwiegen die Nachteile, die eine Neuheitsschon-frist im Patentrecht auf europäischer Ebene mit sichbringen würde. Der Antrag ist daher abzulehnen.
Die SPD fordert die Bundesregierung auf, eine Initia-tive für eine Neuheitsschonfrist von bis zu einem Jahr imeuropäischen Patentrecht zu starten. Ziel ist es, Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Veröffentli-chung neuer Forschungsergebnisse eine Frist einzuräu-men, innerhalb derer diese Ergebnisse patentiert werdenkönnen. Bisher stehen sie hierzulande vor der Entschei-dung, entweder zu publizieren oder zu patentieren. DieErfahrungen aus den USA zeigen, dass eine solcheSchonfrist dazu beiträgt, einerseits die Zahl der Publi-kationen zu erhöhen und andererseits die Qualität derPatente durch entsprechende Transparenz zu verbes-sern. Im Moment ist es so, dass jede Erfindungsidee, dievor ihrer Anmeldung beim Patentamt schon öffentlichgemacht wurde, nicht mehr patentiert werden kann. Öf-fentlich gemacht ist eine Erfindung dann, wenn sie au-ßerhalb des Betriebes in einem Probelauf auf ihre Ent-wicklungsreife hin getestet wurde oder wenn über sie einwissenschaftlicher Austausch stattgefunden hat. DieWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gezwun-gen abzuwägen: Einerseits müssen sie ihre Forschungs-ergebnisse zeitnah publizieren, um im internationalenForschungswettlauf mitzuhalten und Reputation zu er-werben. Auf der anderen Seite wird dadurch eine ökono-mische Verwertung der eigenen Erfindung ausgeschlos-sen, da vor einer Patentanmeldung die Geheimhaltungder Erfindung verlangt wird. Mit diesem Konflikt hattendie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im deut-schen Patentrecht nicht immer zu kämpfen. Denn biszum Ende der 70er-Jahre gab es in Deutschland einesechsmonatige Neuheitsschonfrist. Diese wurde jedochim Zuge des Straßburger und des Europäischen Patent-übereinkommens 1978/1979 abgeschafft. Eine Wieder-einführung der Neuheitsschonfrist allein in Deutschlandwürde aber eine deutsche Patentanmeldung im Ver-gleich zu Anmeldungen aus konkurrierenden Staatenschwächen. Deshalb ist es geboten, die Neuheitsschon-frist im europäischen Patentrecht zu verankern.Meine Fraktion kann dem Anliegen der Sozialdemo-kraten zustimmen, jedoch nicht ohne einige kritische An-merkungen zum Beschlusstext gemacht zu haben. Es istrichtig, dass die derzeitige Regelung, welche eine Ge-heimhaltung von Forschungsergebnissen bis zu einermöglichen Patentierung verlangt, niemandem hilft. EineÖffnung ist hier geboten, um praktische Hindernisse zurVereinbarung von wirtschaftlichen und wissenschaftli-Zu Protokollchen Interessen an Forschungsergebnissen aus dem Wegzu räumen. Anders als die SPD hier proklamiert, kann esaber nicht vor allem darum gehen, die Zahl der Patenteendlos auszuweiten. Dies widerspräche dem Ziel, hoch-qualitative und sinnvolle Patente zu fördern. Aus unse-rer Sicht muss Ziel der vorgeschlagenen Regelung viel-mehr sein, Forschungsergebnisse der Öffentlichkeitnicht vorzuenthalten. Forscherinnen und Forscher müs-sen publizieren können, ohne Rücksicht auf eventuellePatentierungsmöglichkeiten zu nehmen. Häufig ergebensich mögliche Verwertungskanäle auch erst nach einerVeröffentlichung von Forschungsergebnissen.Patente und ihre Durchsetzung haben jedoch inzwi-schen auch Dimensionen erreicht, in denen sie innova-tionsfeindlich wirken oder an ethische Grenzen stoßen –etwa im Bereich der Computersoftware, der Biomedizinoder der Medikamentenherstellung. Die Linke setzt sichdafür ein, dass im Zuge der im Antrag geforderten Neu-gestaltung des Patentsystems auch diese Grenzen derAnsammlung von geistigem Eigentum mitbedacht wer-den. Wir brauchen klare Regelungen, was alles nicht zupatentieren ist. Wir wollen eine klare Durchsetzung desVerbotes von Patenten auf Leben – etwa Pflanzenarten,Gene oder Saatgut. Keine Firma darf sich unsere Le-bensgrundlagen aneignen. Wir wollen eine faire und ge-rechte Patentierung von medizinischer Forschung, da-mit mit öffentlichen Geldern finanzierte Neuheiten auchdenjenigen in armen Ländern zugute kommen, die keineKaufkraft, dafür aber umso mehr Gesundheitsproblemehaben. Wir brauchen keine weltweite Patentpolizei, wiesie im Rahmen des ACTA-Abkommens installiert wird,sondern eine Kultur der Open Innovation. Der Kampfgegen den Klimawandel ist nutzlos, wenn Umwelttech-nologien aus Deutschland außerhalb der G-8-Staatennirgendwo erschwinglich sind. Wissen sollte stärker einGemeingut werden. Vorschläge dazu lässt die SPD ver-missen.
Bei der Behandlung des Themas Neuheitsschonfristfällt sofort auf: Die Forderung nach der Einführung ei-ner Neuheitsschonfrist wird heute zum wiederholtenMale in diesem Hause behandelt. In der Wissenschaftwerden entsprechende Forderungen seit den 80er-Jah-ren erhoben. Forderungen nach der Einführung sind voneinem auffälligen parteiübergreifenden Konsens ge-prägt. Zuletzt hat etwa die schwarz-rote Koalition 2006dieselbe Forderung erhoben. Das gibt zu denken. Nicht,dass Konsens etwas Schlechtes wäre! Offenbar handeltes sich um eine mit einfachen Argumenten kaum von derHand zu weisende Forderung. Zu denken aber gibt, dasssich bis heute keine Bundesregierung offiziell den Schuhhat anziehen wollen, die entsprechende Neuheitsschon-frist durchzusetzen. Das müssen wir näher diskutieren.Zunächst aber lassen Sie mich kurz zusammenfassen,weshalb sich die Wiedereinführung der Neuheitsschon-frist aufzudrängen scheint. In der Sache geht es um eineEffektivierung der Ziele des Patentrechts. Es dient demFortschritt der Technik durch Förderung technischerErfindungen. Es verleiht Monopole auf Zeit für den Auf-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10207
gegebene RedenDr. Konstantin von Notz
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weis und geschickten Nachvollzug in der Natur anzutref-fender technischer Regeln, die zur Konstruktion innova-tiver Technologien beitragen können. Die staatlicheGewährung dieser Rechte soll damit einen Ansporn füroft kostenträchtige Investitionen in Forschung liefernund ist damit ein Teil der Forschungs- und Technologie-politik, die auf laufende verwertbare Innovationen alsMotor der Wirtschaft abzielt. Die Neuheitsschonfristkann mittelbar auch Anreize für den notwendigen Aus-bau des Wissenstransfers zwischen öffentlichen For-schungseinrichtungen und Industrie schaffen. Dasvorübergehende Ausschließlichkeitsrecht an der Ver-wertung der Erfindung verspricht einen Return on In-vestment insbesondere hinsichtlich der getätigten Inves-titionen und zählt damit zu einem Kranz möglicherMarktanreize. Übrigens unterscheidet es sich in seinemAusgangspunkt des Nachvollzuges der technischen Re-gel deutlich vom Urheberrecht, bei dem – gut kontinen-taleuropäisch – der „kreative schöpferische Geistes-blitz“ zur Schutzanknüpfung konstruiert wird.Forschung erfolgt auch und gerade im Hochschulbe-reich, nicht nur in den Forschungsabteilungen von Un-ternehmen. Will man auch hier die Patentanmeldungensteigern, kommt es zu einem Zielkonflikt. Denn öffentli-che Hochschuleinrichtungen ticken anders als die In-dustrie. Die Finanzierung dort wird nicht unmittelbarselbst erwirtschaftet, sondern stammt aus öffentlichenMitteln sowie etwa aus Drittmitteln. Der Erfolg von For-schungseinrichtungen bemisst sich nach wie vor nichtdanach, ob man selbst die Ergebnisse der Forschung ei-ner wirtschaftlichen Verwertbarkeit zuführt, sondernnach anderen Faktoren wie etwa dem ausgewähltenForschungsfeld, der Qualität und vielen mehr. Der Zeit-faktor spielt sowohl in der Industrie als auch in der öf-fentlich finanzierten Forschung eine ganz entscheidendeRolle. Für öffentliche Forschungseinrichtungen verbin-det sich mit dem Erfolg, als erster durch das Ziel zu ge-hen, der Ertrag symbolischen Kapitals. Wer zuerstkommt, oft in einem internationalen Wettbewerb, gilt alsexzellent, erhält die größten Zuwendungen und zieht diebesten Köpfe an. Als Nachweis des Zieldurchlaufes dientin erster Linie die Veröffentlichung der Ergebnisse, dieSicherung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ist nachwie vor zumeist nachrangig. Nach geltendem Patentrecht hat das erhebliche Kon-sequenzen. Wer veröffentlicht, verliert damit zumeist dieMöglichkeit des Erwerbs von Patentrechten. Denn dieErfindung gilt damit nicht mehr als „neu“ im Sinne desGesetzes. Sie übertrifft nicht mehr den Stand der Tech-nik, denn sie ist bereits in der Welt und definiert diesenStand bereits selbst mit. Damit führt das gegenwärtigePatentrecht insbesondere im Hochschulbereich zu einermisslichen Weichenstellung des Entweder-Oder: Veröf-fentlichung oder Geheimhaltung. Nur wer die Ergeb-nisse bis zur Patentierungsreife und Patentanmeldunggeheimhält, erhält sich die Chance zur Erlangung desvorübergehenden Monopols der wirtschaftlichen Ver-wertung. Offenbar entscheidet sich die Praxis nach wievor und überwiegend für die Veröffentlichung.Mit einer Neuheitsschonfrist, wie wir sie im deut-schen Recht nur aus § 3 Abs. 1 des Gebrauchsmusterge-Zu Protokollsetzes kennen, wird der Erfinder von den patentrechtlich
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hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
– Drucksache 17/4672 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.
Auf dem Tisch liegt heute ein Antrag der Fraktion Die
Linke. Dieser basiert auf einer Mitteilung der Europäi-
schen Kommission an das Europäische Parlament und
den Europäischen Rat mit dem Arbeitstitel: „Auf dem
Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenab-
wehr: die Rolle von Katastrophenschutz und Humanitä-
rer Hilfe“. Bevor ich zum Antrag komme, erlauben Sie
mir, dass ich zunächst auf die Mitteilung selbst eingehe.
Die Europäische Union ist bemüht, seit der Tsunami-Ka-
tastrophe am 26. Dezember 2004, an der Seite anderer
Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen,
ihre Reaktionsfähigkeit in Krisenfällen zu verbessern. In
diesem Kontext ist auch die Mitteilung der EU-Kommis-
sion zu sehen. Die Kapazität der Europäischen Union in
diesem Bereich soll – sowohl im Hinblick auf den Kata-
strophenschutz als auch in Bezug auf die humanitäre
Hilfe – gestärkt werden. Damit wird – wie der Mitteilung
zu entnehmen ist – eine doppelte Zielsetzung verfolgt.
Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitä-
ten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausge-
baut werden, und zweitens sollen ein europäisches
Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Infor-
mationsaustausch und eine verstärkte Koordinierung
auf EU-Ebene im Katastrophenfall eingerichtet werden.
Vor diesem Hintergrund habe ich mit einiger Verwun-
derung Ihren Antrag zur Mitteilung der Kommission zur
Kenntnis genommen. Wer ihn genau verfasst hat, weiß
ich natürlich nicht. Es muss aber jemand sein, der nicht
im Innenausschuss war bzw. nicht weiß, dass wir auf
meine Anregung hin – uns sehr intensiv mit dieser Mit-
teilung auseinandergesetzt haben. Die Bundesregierung
hat zusätzliches Material bereitgestellt. Auch hier gilt,
dass Lesen bildet; und hilfsweise das Zuhören im Innen-
ausschuss. Das, was Sie fordern, ist sowohl realitätsfern
als auch zeitlich überholt.
Einige Punkte will ich noch einmal herausgreifen. Sie
schreiben: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-
desregierung auf, sich im Rat aktiv für eine zivile und
von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige
Katastrophenabwehr einzusetzen und für den Ausbau
entsprechender Kapazitäten, die vom Militär unabhän-
gig sind, einzutreten.“ Diese Forderungen ignorieren
die Praxis und die Erfahrungen aus der Vergangenheit;
denn eine Katastrophenabwehr bei Großschadenslagen
ohne militärische Hilfe ist heutzutage undenkbar bzw.
kaum leistbar. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest,
dass die Naturereignisse immer größer werden.
Ich nehme dabei Bezug auf Ihre Formulierung im An-
trag – ich zitiere –: „Der Bundestag wolle beschließen
… Der Deutsche Bundestag stellt fest … Der Bundestag
verweist auf den in der Mitteilung der Kommission dar-
gestellten Anstieg von schlimmen Naturkatastrophen mit
hohen Verlusten an Menschenleben …“ Meine Damen
und Herren von den Linken, welches Mitgliedsland kann
es sich heutzutage finanziell erlauben, eine leistungsfä-
hige Armee und – parallel dazu – eine Katastrophenein-
satztruppe für Großschadenslagen bereitzuhalten? Wir
können in Deutschland stolz sein auf unser bestehendes
Schutz- und Hilfesystem. Denn nur beim gemeinsamen
Einsatz von unterschiedlichen Hilfsorganisationen auf
kommunaler Ebene und den Behörden auf Bundesebene
sind wir gut aufgestellt.
An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den
zahlreichen Freiwilligen und Ehrenamtlichen von Her-
zen für ihre unverzichtbare Arbeit zu danken. Mit ihrem
Engagement, mit ihrem Verzicht auf viel Freizeit und ih-
rer ständigen Einsatzbereitschaft geben sie ein besonde-
res Beispiel für bürgerliches Engagement. Das ist mehr,
als der von Ihnen gewünschte hauptamtliche Einsatz; sie
prägen den Charakter unserer Gesellschaft und entspre-
chen dem Subsidiaritätsprinzip in besonderem Maße.
Nicht zuletzt machen sie es möglich, dass Deutschland
in Europa ein beispielgebendes Mitgliedsland ist.
Die Bundesregierung unterstützt die EU beim Ausbau
jeglicher Form der Zusammenarbeit zwischen Katastro-
phenschutz, der humanitären Hilfe, dem Militär, um
durch Nutzung auch militärischer Ressourcen die Ver-
besserung der entsprechenden Strukturen und Verfahren
der Zusammenarbeit zu erreichen, sowohl die der
EU-Institutionen untereinander als auch zwischen EU
und NATO. Allerdings drängt die Bundesregierung da-
rauf, dass der Konsens zur humanitären Hilfe und die
Oslo-Guidelines dabei beachtet werden.
Beatrix Philipp
(C)
(B)
In einem weiteren Punkt Ihres Antrages soll der Deut-
sche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die in
der Mitteilung der Kommission angekündigten Rechts-
akte zur Weiterentwicklung der europäischen Katastro-
phenabwehr abzulehnen. Ja, was ist das denn? Meinen
Sie das wirklich ernst? Eine Seite zuvor schreiben Sie
noch vom Anstieg schlimmer Naturkatastrophen, und
nun soll eine Weiterentwicklung der europäischen Kata-
strophenabwehr abgelehnt werden.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen, wie zum
Beispiel, Überschwemmungen in Australien, Zyklone
und Blizzards in den Vereinigten Staaten, zeigen, dass
die Naturgewalten ein immer größeres Ausmaß anneh-
men. Selbst die zu diesen Ereignissen im Verhältnis ste-
henden kleinen Katastrophenlagen in Deutschland – ich
sage nur am Rhein, an der Elbe und an der Oder – ma-
chen deutlich, dass eine in Gemeindegrenzen, eine in
Ländergrenzen oder eine in Staatengrenzen bestehende
Denkweise hier absolut verfehlt ist. Naturkatastrophen
kennen keine Begrenzungen und keine Grenzen; das
sollten auch Sie wissen.
Eine Stagnation in der Weiterentwicklung der Kata-
strophenabwehr können und wollen wir uns nicht leis-
ten. Es ist also notwendig, dass Notfallpläne für den
Einsatz erstellt werden. Dafür ist es wichtig, über die
Ressourcen der einzelnen Mitgliedstaaten Bescheid zu
wissen. Eine Weiterentwicklung der Katastrophenab-
wehr bedarf der nun geplanten Rechtsakte; das liegt in
der Natur der Sache bzw. in dem Charakter des Europa-
rechts. Eine Ablehnung ist völlig undenkbar. Aber auch
hier steckt der Teufel im Detail. Es ist halt wie im
schlichten Leben. Meine Damen und Herren von den
Linken, wenn Sie schon etwas aufgreifen wollen, dann
übersehen Sie einen viel wichtigeren Punkt, bei dem wir
gefordert sind. Gemäß der Mitteilung ist der Aufbau ei-
ner von den Mitgliedstaaten unabhängigen, eigenständi-
gen Katastrophenabwehr auf EU-Ebene geplant. Dies
lehnen wir ab, und wir waren uns im Innenausschuss da-
rin auch immer einig. Eine vorgesehene Aufstellung EU-
eigener Kapazitäten unter eigener operativer Befugnis
und Verfügungsgewalt läuft Art. 196 des Vertrages über
die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, entge-
gen, ist auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst und
würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widerspre-
chen, auf das ich eben schon hingewiesen habe. Bei all
der Hilfe innerhalb und außerhalb der EU muss den Mit-
gliedsländern ein sogenanntes Letztentscheidungsrecht
verbleiben. Das heißt, die Verantwortung für den Kata-
strophenschutz verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Dies
ergibt sich aus der Kompetenzzuweisung des Vertrages
von Lissabon und entspricht eben dem Subsidiaritäts-
prinzip.
Dem steht nicht entgegen, dass eine Kooperation und
eine Koordination durch die Kommission nicht nur mög-
lich, sondern sogar wünschenswert sind. Wir sind der
Ansicht, dass die Kommission zu Recht mehrfach die
grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten selbst
betont hat.
Zu Protokoll
Zusammengefasst und wie bereits oben dargestellt, ist
der Antrag der Linken überholt und realitätsfern. Wir
lehnen ihn daher ab.
Dem vorliegenden Antrag der Linken gebührt zumin-dest das Verdienst, die Frage der Weiterentwicklung desKatastrophenschutzes und der humanitären Hilfe auf eu-ropäischer Ebene zum Gegenstand der Debatte in die-sem Hause gemacht zu haben. Dieses Verdienst wird lei-der dadurch geschmälert, dass die Linke der Versuchungnicht widerstehen konnte, die durchaus notwendige kri-tische Auseinandersetzung mit dem Kommissionsvor-schlag und der diesen begleitenden Diskussion auf euro-päischer Ebene – dazu gehören auch der Beschluss desEuropäischen Parlamentes zur Stärkung des Katastro-phenschutzes und der Beschluss des Europäischen Par-lamentes zur Zusammenarbeit zwischen zivilen und mili-tärischen Akteuren – allein aus ihrer ideologischen Sichteiner überall drohenden Militarisierung der europäi-schen Außenpolitik und der Katastrophenhilfe als Gan-zes zu sehen.Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir Sozial-demokraten treten angesichts der wachsenden Gefahrenund Herausforderungen durch den Klimawandel, ange-sichts der steigenden Verwundbarkeit und Verletzlichkeitkomplexer moderner Gesellschaften und der zunehmen-den globalen Vernetzung und Verkettung von Risikenund Gefahren für eine Stärkung der Fähigkeiten und Ka-pazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitärenHilfe ein, und dies sowohl auf nationaler als auch auf in-ternationaler Ebene.Ich erinnere nur an einige aus einer Reihe von vielfäl-tigen Initiativen, etwa die unter rot-grün vorgenommeneEinrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutzund Katastrophenhilfe oder auch die von der großen Ko-alition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungs-schutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durchdas Zivilschutzergänzungsgesetz. Es gab durchaus auchfraktionsübergreifende Initiativen wie das aus dem Par-lament initiierte und von Vertretern aller Parteien getra-gene „Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit“.Da wir wissen, dass Katastrophen und Krisen nichtvor Ländergrenzen halt machen, und wir Sozialdemo-kraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationa-ler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung derinternationalen Instrumente ein, auch auf europäischerEbene. Dabei haben wir immer betont – das wurde auchin der Vergangenheit von allen Koalitionen dieses Hau-ses im Innenausschuss so gesehen –, dass sich das Sub-sidiaritätsprinzip im Bereich des Katastrophenschutzesbewährt hat und auch für die europäische Ebene geltenmuss. Darum haben wir, übrigens bislang auch einmütigin diesem Hause, alle Versuche auf europäischer Ebene,eigene Katastrophenschutzkapazitäten aufzubauen undzusätzlich aufzustellen, zurückgewiesen. Gerade vordem Hintergrund der zunehmenden Gefahren undHerausforderungen muss es im Interesse aller europäi-schen Länder sein, zuvörderst die örtlichen und natio-nalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stär-
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ken und auszubauen. Nur so können die Grundlageneiner tragfähigen gesamteuropäischen Stärkung der Ka-tastrophenabwehr und der humanitären Hilfe gelegtwerden.Subsidiarität bedeutet aber auch, dass dort, wo ei-gene Mittel nicht mehr ausreichen, der überregionaleAusgleich und die überregionale Unterstützung gesuchtund vorangetrieben werden. Dies gilt sowohl für Kata-strophenlagen und humanitäre Krisensituationen inner-halb der Europäischen Union als auch außerhalb dereuropäischen Union. Darum unterstützen wir den Vor-schlag, die Koordinierungsinstrumente auf Europäi-scher Ebene zu stärken. Durch die Identifizierung vonModulen, die innerhalb der nationalen Katastrophen-abwehrkapazitäten bereitgestellt werden, und durchzusätzliche Ausbildung können diese untereinanderkompatibel und bei der Hilfe gegenüber Dritten hand-lungsfähig gemacht werden. Diese Strategie halten wirgrundsätzlich für richtig und sollten sie auch vomGrundsatz her bei der Bildung des in den LissabonnerVerträgen vorgesehenen europäischen Freiwilligen-korps verfolgen.Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokraten ent-scheidend, angesichts der Herausforderung und derGröße drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeitendes Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärktAnstrengungen zur Katastrophenprävention zu unter-nehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindäm-mung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrate-gien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen.Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stär-kere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastruktu-ren, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Ge-sellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungenund Steuerungssysteme. In diesem Zusammenhang be-grüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung mitder geplanten Einrichtung eines zivilen Cyberabwehr-zentrums einen Schritt in die richtige Richtung setzt unddie Gefahren nicht allein unter Cyber War subsumiert.Denn die Reduzierung auf den militärischen Verteidi-gungsbegriff wäre deutlich zu kurz gegriffen. Nebenstaatlichen Aktionen liegt das Gefährdungspotenzialnicht nur im Terrorismus, sondern auch in organisierterKriminalität und im wachsenden Schadenspotenzialdurch Individualtäter. Die Zunahme internationaler Kri-senherde fordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeitender Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zudenen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastro-phenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtigeRolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivileHilfsorganisationen oder die Bundesanstalt TechnischesHilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielthaben und spielen. Wir Sozialdemokraten sind bereits inder Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, diezivile gegenüber der militärischen Komponente bei derBewältigung von Krisenlagen – die Vereinten Nationensprechen nach meinem Dafürhalten zu Recht von soge-nannten Complex Emergencies – zu stärken, und diesnicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rah-men der internationalen Mechanismen. Wir halten esausdrücklich für richtig, dass auch die KoordinierungZu Protokollder europäischen Katastrophenhilfe und humanitärenHilfe sich im internationalen Kontext unter das Primatder Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationenstellt, so wie sich die Bundesrepublik Deutschland auchauf bilateraler Ebene nicht nur in die Koordinierungsin-strumente der Vereinten Nationen einfügt, sondern dieseauch aktiv und tatkräftig unterstützt.Wir Sozialdemokraten stehen klar zur zivilen Aus-richtung des Katastrophenschutzes und der humanitärenHilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationalerEbene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne,die es in der Union zu einer stärkeren Militarisierungdes Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei derFöderalismusreform I als auch in der großen Koalitionam klaren Widerstand der sozialdemokratischen Parteigescheitert sind.Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich mi-litärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der AmtshilfeKatastrophenschutz unterstützen können, so wie dies un-ser Grundgesetz vorsieht. Dies gilt nicht nur im Inland,sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Da-bei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeitenkommen, und gerade in so genannten komplexen Krisen-lagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militäri-schen klar und eindeutig sein. Dies gilt nach meinemDafürhalten nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auchfür internationale Unterstützungsmechanismen. AberSubsidiarität muss möglich sein.Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von derLinken, ist Ihr Antrag eindeutig über das Ziel hinausge-schossen. Offensichtlich haben Sie einige Zusammen-hänge entweder nicht verstanden aus ideologischenGründen oder bewusst mißgedeutet. Lassen Sie mich auseigener Erfahrung sagen: In bestimmten Lagen ist diezivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch mi-litärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen.Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und imSpeziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre üb-rigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eineSchmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressour-cen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Ma-terial noch einmal zivil vorhalten wollte.Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäi-schen und internationalen Rahmen auch, die Besonder-heiten anderer europäischer Länder zu respektieren. Inden meisten anderen europäischen Ländern ist der Be-völkerungs- und Katastrophenschutz in Form der Zivil-verteidigung organisiert, was übrigens auf unser THWauch zutrifft. So sind etwa die österreichischen Ret-tungseinheiten bei Erdbeben, mit denen das THW auf in-ternationaler Ebene zusammenarbeitet, unbewaffneteTeile des österreichischen Bundesheeres. In Frankreichwird diese Aufgabe von der Sécurité Civile wahrgenom-men, einer kasernierten militärischen Formation, diedem Innenministerium unterstellt ist. Aber nicht nurdas: Die von Ihnen kritisierte Nutzung von militärischenMitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenanntenOsloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10ausdrücklich Bezug nimmt. Diese Osloer Leitlinien um-fassen eben nicht nur militärisches Gerät und Einrich-
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tungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondernauch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zudenen nach der Definition dieser Leitlinien auch dasTechnische Hilfswerk gehört. Ich kann mir nicht vorstel-len, dass Sie mit Ihrem Antrag wirklich fordern wollen,dass die Bundesrepublik Deutschland künftig auf denEinsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitärenHilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichtet, weildies eine Militarisierung derselben sei, oder gar aus dengleichen Gründen die Auflösung des THW im Inland for-dern.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sieschießen mit Ihrem Antrag weit über das Ziel hinaus unddarum ist er für uns Sozialdemokraten nicht zustim-mungsfähig.Hartfrid Wolff (FDP):Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bishe-rige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz mussüberwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden.Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am bes-ten geeignet – mit allein am Schadensausmaß und anden schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten aus-gerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlich-keiten.Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zu-sammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugenuns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrtbleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an denZentralisierungsabsichten der EU. Der Schutz der Be-völkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eineder grundlegenden Aufgaben des Staates. Es gibt jedochnur selten Großschadenslagen, die im Sinne des unmit-telbaren Bevölkerungsschutzes mehrere EU-Staaten zu-gleich treffen. EU-Rechtsakte auf diesem Gebiet sindhöchst überflüssig. Das gezierte antimilitärische Brim-borium des Linken-Antrags entspricht nicht unseremAnliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechts-akten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wieder Linken-Antrag völlig zu Recht sagt, ist davor zu war-nen, „die Sichtbarkeit der und Koordination durch dieEU als Selbstzweck zu verfolgen.“
Für den Katastrophenschutz kann man nie zu viel tun;man kann aber das Falsche tun.Die Europäische Kommission hat sich des Themasangenommen, und das ist an sich gut. Es ist gut, eine In-ventarisierung der zur Verfügung stehenden Kapazitätenin den Mitgliedstaaten durchzuführen und auch Pla-nungsszenarien zu entwickeln, wie länderübergreifen-den Großschadenslagen begegnet werden kann. Auchsind eine verstärkte Koordinierung von Katastrophen-schutz und humanitärer Hilfe sowie eine Intensivierungder Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen äußerstsinnvoll.Doch die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung andas Europäische Parlament und den Rat auch Ziele for-muliert, die auf entschiedenen Widerstand der Linkenstoßen. Teils versteckt, teils offen wird dem Aufbau vonZu ProtokollEU-eigenen Kapazitäten das Wort geredet, die Katastro-phenschutz, humanitäre Hilfe und Krisenreaktionsab-wehr im Sinne von Sicherheits- und Verteidigungspolitikbewältigen sollen. Anspielend auf die Haushaltszwängewird den Mitgliedstaaten eine Brücke gebaut, eigeneKapazitäten einzusparen und auf einen europäischenKatastrophenschutz umzusatteln.Wenn Sie sich mit den Mitarbeitern des Zivil- und Ka-tastrophenschutzes unterhalten, wird Ihnen jeder bestä-tigen, dass Katastrophenschutz flächendeckend und de-zentral organisiert sein muss.Die schnelle Reaktion der Helfer in den ersten Stun-den einer Katastrophe entscheidet über die Effektivitätbei der Rettung von Opfern oder der Eindämmung vonSchadensereignissen. Weit auseinanderliegende Struktu-ren mit Leitungsstäben, die Hunderte Kilometer vomSchadensort entfernt agieren, sind ineffektiv.Es spricht alles für eine Stärkung des Katastrophen-schutzes vor Ort. Es mag einige wenige Fälle geben, beidenen es sinnvoll ist, teure Spezialtechnik europaweitanzuschaffen und koordiniert einzusetzen, zum BeispielFeuerlöschflugzeuge zur Waldbrandbekämpfung.EU-Einheiten zum Katastrophenschutz an sich ma-chen aber fachlich keinen Sinn. Da dies bekannt ist, wer-den von der Kommission die internationale humanitäreHilfe und die Krisenreaktionsabwehr in die Diskussiongebracht. Nun obliegt die Koordination der internatio-nalen humanitären Hilfe den Vereinten Nationen. Diesebittet die Staaten bei Katastrophen um Hilfe. WelcheRolle die EU dort spielen will, wird von der Kommissionaber nicht fachlich beantwortet.Der Vorschlag der Kommission, verstärkt die Nut-zung militärischer Kapazitäten zum Katastrophenschutzeinzubringen, wird auf eine immer stärkere Vermischungvon zivilen und militärischen Elementen hinauslaufen.Wie immer wird unter dem Vorwand von Haushalts-zwängen auf die brachliegende Nutzung militärischerKapazitäten und Spareffekte bei der Anschaffung im zi-vilen Bereich verwiesen. Dieses Herangehen hat dieBundesregierung der Kommission seit Jahren vorgelebtund es wird von dieser offensichtlich kopiert. Die ver-sprochenen Spareffekte sind aber eine Milchmädchen-rechnung. Militärische Standorte mit potenziellen Kata-strophenschutzfähigkeiten sind oft mehrere HundertKilometer voneinander entfernt und in ihrer Verteilungnach verteidigungspolitischen Systematiken und nichtnach Erfordernissen des Katastrophenschutzes aufge-stellt. Eine zeitnahe Verwendbarkeit des Militärs imSchadensfall ist nicht gewährleistet.Der Bericht der Kommission bezweckt nur eins: Ei-nige wenige sinnvolle Ansätze zur Effektivierung desKatastrophenschutzes und der humanitären Hilfe wer-den zum Anlass genommen, der EU Zuständigkeiten zu-zuschieben, die dem Subsidiaritätsprinzip widerspre-chen und verstärkt militärische Elemente in denKatastrophenschutz integrieren. Damit wird in Kauf ge-nommen, dass angesichts der schwierigen Haushalts-lage einzelne Mitgliedstaaten ihre Kapazitäten abbauenund die Verantwortung zunehmend in die Hände der EU
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gegebene RedenFrank Tempel
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geben, wo sie nicht hingehört. Dieser Weg ist falsch undwird von uns entschieden abgelehnt!Unser Weg ist ein anderer. Wir fordern die Bundes-regierung daher auf: erstens sich im Rat aktiv für einezivile und von sicherheitspolitischen Erwägungen unab-hängige Katastrophenabwehr einzusetzen und für denAufbau entsprechender logistischer Kapazitäten, dievom Militär unabhängig sind, einzutreten; zweitens diein der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu ei-ner verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: dieRolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe“
angekündigten Rechtsakte zur
Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenab-wehr abzulehnen; drittens sich im Rahmen der Vorberei-tung des für Ende 2011 angekündigten Legislativvor-schlags „Vorschlag zur Überarbeitung der Vorschriftenfür Katastrophenvorsorge und -abwehr“ dafür einzuset-zen, dass die Verzahnung ziviler und militärischer In-strumente in der Katastrophenabwehr und die Verbin-dung der Katastrophenabwehr mit sicherheits- undaußenpolitischen Strategien ausgeschlossen werden; dieprimäre Verantwortung der zuständigen Behörden derbetroffenen Staaten für die Umsetzung im Katastrophen-fall sichergestellt ist; die Mitgliedstaaten bei bilateralenHilfsersuchen weiterhin handlungsfähig bleiben.
Die Zahl der Naturkatastrophen ist weltweit seit 1975um das Fünffache gestiegen. Erinnert sei hier nur an diebeiden schlimmsten Naturkatastrophen im vergangenenJahr: das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmun-gen in Pakistan. Diese Ereignisse haben sehr viele Men-schen das Leben gekostet und große Zerstörung hinter-lassen. Langfristig kann ein weiterer Anstieg vonNaturkatastrophen nur durch einen effektiven Klima-und Umweltschutz verhindert werden.Kurzfristig geht es aber vor allem darum, schnell zureagieren, und damit sind wir auch schon bei einer derwichtigsten Fragen, der Frage des Zeitpunkts, an demdie EU vor Ort koordinierte Hilfe leisten kann. NachEinschätzung von EU-Kommissarin Georgieva kanndiese Frage unter den gegebenen EU-Rahmenbedingun-gen häufig nur bedingt beantwortet werden. Diese Un-sicherheit und die verbundene Zeitverzögerung führenin vielen Fällen dazu, dass den hilfesuchenden Ländernnicht unmittelbar die angefragte Hilfe zugesagt werdenkann. Nicht selten geht mehr als ein halber Tag ins Land,ehe die Zusagen für die gewünschte Unterstützung gege-ben werden. Also stellt sich die Frage: Wie kann den Op-fern von Katastrophen zügig geholfen werden? DiesePerspektive ist entscheidend. Wir alle wissen, ein Kno-chenbruch in zwei Tagen oder in zwei Wochen zu behan-deln, macht einen entscheidenden Unterschied. In die-sem Fall dürfte den Opfern zunächst nicht wichtig sein,ob die medizinischen Instrumente in einem Militärhub-schrauber oder einem zivilen Flugzeug transportiertwurden. Die Debatte, die die Linke in dem vorliegendenAntrag aufmacht, ist also insofern wieder einmal eineinnenpolitische und eine, die komplett an den Bedürfnis-sen der betroffenen Menschen vorbeigeht. Lieber eineZu Protokollgute Kooperation als keine Hilfe. Dabei muss es selbst-verständlich Spielregeln und Grenzen geben. Hier gehtder Vorschlag von Frau Georgieva in die richtige Rich-tung.Die Möglichkeit auf einen Hilfeaufruf rechtzeitig zureagieren, hängt im Rahmen des EU-Gemeinschaftsver-fahrens bisher von den freiwilligen Zusagen der Mit-gliedstaaten ab. Die Hilfe ist deshalb häufig nur impro-visiert oder kommt zu langsam. Benötigt werden aberverbindliche, permanent zur Verfügung stehende Kapa-zitäten, auf die die Kommission zurückgreifen kann. Mitdem Vorschlag eines europäischen Notfallabwehrzen-trums würde eine neue Plattform geschaffen, in der dasAmt für humanitäre Hilfe, ECHO, mit der Koordinie-rungsstelle für Katastrophenschutz, dem Informations-und Beobachtungszentrum, MIC, zusammengelegt wer-den. Das gemeinsame Notfallabwehrzentrum soll rundum die Uhr einsatzfähig sein und europaweit koordi-nierte Notfallpläne garantieren, die auf sicher zugesagteEinsatzkräfte und Hilfsmittel in allen Mitgliedstaatenbasieren müssen. Um Missverständnissen vorzubeugen:Es kann nicht darum gehen, die vorhandenen Strukturenin Mitgliedsländern mit guten Kapazitäten – wie etwa inDeutschland – zu zerschlagen.Es muss zunächst ein Mapping der vorhandenen Ka-pazitäten in den Nationalstaaten geben. Anschließendmuss ein Konsens herbeigeführt werden, welche Grund-ausstattung in allen Staaten vorhanden sein sollte undwelche Arbeitsteilung bei bestimmten Katastrophen-schutzinstrumenten sinnvoll ist. Das heißt, die Kommis-sionsvorlage soll einer gemeinsamen strategischen Aus-richtung und Arbeitsteilung dienen, damit unter denMitgliedstaaten Synergien hergestellt werden könnenund offensichtliche Verluste aufgrund von Doppelungenminimiert werden. Das ist das Ziel. Nicht jeder Mitglied-staat benötigt alle Instrumente des Katastrophenschut-zes. Die EU-Katastrophenhilfe darf aber auch keinesubstituierende Wirkung haben. Mitgliedstaaten mitschwachen Strukturen müssen durch die angekündigtenRechtsakte der EU-Kommission dazu verpflichtet wer-den, ausreichend eigene Kapazitäten im Katastrophen-schutz zu schaffen.Für uns ist wichtig, dass das Einsatzspektrum für denEU-Katastrophenschutz begrenzt sein muss. Es kannnicht sein, dass die Instrumente des EU-Katastrophen-schutzes mit der Terrorismusbekämpfung vermischt wer-den. Deshalb müssen klare Bedingungen für Einsatzge-biete und -zwecke definiert werden. Die Nutzungmilitärischer Instrumente für den Katastrophenschutzmuss sich streng an den Oslo-Leitlinien der VereintenNationen orientieren, die die Nutzung von militärischenInstrumenten für die Katastrophenhilfe nur als letztesMittel vorsehen. Sicherlich stellt uns die Harmonisie-rung des europäischen Katastrophenschutzes vor großeHerausforderungen. Das stark zentralistische Zivil-schutzsystem in Frankreich ist leichter mit neuen EU-Strukturen zu verzahnen als das dezentrale System inDeutschland. Die starke Heterogenität unter den EU-Mitgliedstaaten sollte deshalb stets mit bedacht werden.Die Bundesländer und die relevanten Akteure und Insti-
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10218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
gegebene Reden
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Viola von Cramon-Taubadel
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tutionen wie das Technische Hilfswerk müssen kontinu-ierlich in diesen Prozess eingebunden werden.Die Stärkung des gemeinsamen Katastrophenschut-zes ist europapolitisch zu begrüßen. Die EU ist weltweitder größte Geber von humanitärer Hilfe. Eine bessereSichtbarkeit der EU im Krisen- und Katastrophenfallwürde den Menschen in den begünstigten Staaten inner-halb oder außerhalb Europas den zivilen Charakter eu-ropäischer Außenpolitik kenntlich machen. Deshalb istdie Harmonisierung der EU-Katastrophenhilfe nicht nurim Sinne einer kosteneffizienten Arbeitsteilung unter denMitgliedstaaten sinnvoll. Die Rechtsakte zur Weiterent-wicklung des europäischen Katastrophenschutzes müs-sen die Effizienz und Kohärenz von Einsätzen verbes-sern. Sie von vornherein abzulehnen, wie die Linkefordert, macht keinen Sinn.Die Bundesregierung muss sich klar zur Harmonisie-rung der Katastrophenhilfe in der EU bekennen und per-spektivisch den Aufbau eines europäischen Notfallab-wehrzentrums unterstützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4672 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir sind damit auch schon am Schluss unserer heuti-
gen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 11. Februar 2011,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend
und schließe die Sitzung.