Protokoll:
17090

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 90

  • date_rangeDatum: 10. Februar 2011

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:02 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/90 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes für die Einführung flächendecken- der Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizü- gigkeit (Mindestlohngesetz) (Drucksache 17/4435) . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 10040 D 10042 A 10044 A 10045 B 10046 A 10049 B 10051 B 10052 D 10053 C 10054 D 10056 B 10064 A 10064 B 10066 B 10067 A 10068 A 10069 C 10070 B 10071 C Deutscher B Stenografisc 90. Sit Berlin, Donnerstag, d I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung des neuen Abgeordneten Cajus Caesar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Gestärkt aus der Krise – Der deut- sche Mittelstand als Motor für Wachstum, Wohlstand und Innovation (Drucksache 17/4684) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle, Bundesminister 10039 A 10039 B 10039 B 10040 C Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10057 B 10058 D 10059 C undestag her Bericht zung en 10. Februar 2011 l t : Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug- Möller, Petra Ernstberger, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der SPD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohnes (Mindestlohngesetz – MLG) (Drucksache 17/4665) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und 10061 A 10062 B 10064 A Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10073 A 10074 C II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Straßen- verkehrsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksache 17/4144) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des BVL-Geset- zes (Drucksache 17/4381) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes – Digitalisierung vergriffener und ver- waister Werke (Drucksache 17/4661 . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fachkräftepoten- zial nutzen – Gute Arbeit schaffen, bes- sere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen (Drucksache 17/4615) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicher- 10076 C 10077 C 10079 B 10079 D 10081 D 10083 C 10084 D 10086 B 10087 A 10088 A 10089 B 10089 D 10091 A 10092 B 10093 D 10094 B 10094 D 10094 D 10094 D 10095 A heit hat Vorrang – Atomkraftwerk Gra- fenrheinfeld sofort abschalten (Drucksache 17/4688) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rheintalbahn – Modellprojekt für an- wohnerfreundlichen Schienenausbau (Drucksache 17/4689) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der „Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Aus- bildung von Söldnern“ der Generalver- sammlung der Vereinten Nationen (Drucksache 17/4663) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot privater mi- litärischer Dienstleistungen aus Deutsch- land (Drucksache 17/4673) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brennele- mente-Zwischenlager am Forschungs- zentrum Jülich ertüchtigen (Drucksache 17/4690) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Fraktion der SPD: Instru- mente zur Bekämpfung der Steuerhin- terziehung nutzen und ausbauen (Drucksache 17/4670) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz vor Bahnlärm verbessern – Ver- altetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen (Drucksache 17/4652) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Solidarität mit den Demokra- tiebewegungen in den arabischen Län- dern – Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren (Drucksache 17/4671) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 A 10095 B 10095 B 10095 C 10095 C 10095 D 10095 D 10095 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 III Tagesordnungspunkt 28: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifikations-Geset- zes (Drucksachen 17/3800, 17/4660) . . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestätigenden Rege- lung verschiedener steuerlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 (Drucksachen 17/3632, 17/3984, 17/4597) c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ZIS- Ausführungsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 17/3960, 17/4146, 17/4596) d) Beratung der dritten Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- nität und Geschäftsordnung: zu Einsprü- chen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep- tember 2009 (Drucksache 17/4600) . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . e)–l) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216 und 217 zu Petitionen (Drucksachen 17/4534, 17/4535, 17/4536, 17/4537, 17/4538, 17/4539, 17/4540, 17/4541) Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder – Unterschiedliche Auffas- sungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 10096 A 10096 B 10096 C 10096 D 10097 A 10098 A 10098 D 10099 A 10100 A 10101 C 10103 A 10104 B 10105 D 10107 A 10108 B Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatver- triebenen – Aussöhnung vollenden (Drucksachen 17/4193, 17/4651) . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei gestal- ten (Drucksachen 17/3433, 17/4659) . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10109 D 10110 D 10112 B 10113 A 10114 A 10115 D 10116 A 10117 C 10119 D 10120 C 10121 C 10123 A 10124 C 10124 D 10125 B 10126 A 10127 C 10128 D 10129 C 10130 C 10130 C 10132 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Belarus – Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktio- nieren, Zivilgesellschaft stärken (Drucksache 17/4685) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktion der SPD: Belarus – Repressionen beenden, Menschen- rechtsverletzungen sanktionieren, Zivil- gesellschaft stärken (Drucksache 17/4667) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Belarus – Repressionen beenden, Men- schenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken (Drucksache 17/4686) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren (Drucksache 17/3687) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10133 D 10135 C 10137 A 10138 C 10139 D 10141 A 10141 B 10142 D 10142 D 10142 D 10143 A 10144 A 10145 C 10146 D 10148 A 10149 A 10149 D 10150 C Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nung zu einem Antrag: Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 17/4680) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisie- rungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien andererseits (Drucksachen 17/3963, 17/4500) . . . . . . . . . . Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Petra Crone, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Demokra- tieinitiativen nicht verdächtigen, son- dern fördern – Bestätigungserklärung im Bundesprogramm „TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN“ streichen (Drucksache 17/4551) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeit 10150 D 10151 C 10153 B 10154 B 10155 A 10156 B 10157 B 10157 C 10157 D 10158 D 10160 A 10161 A 10162 B 10163 B 10164 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 V für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen – Keine Verdachts- kultur in die Projekte gegen Rechts- extremismus tragen (Drucksache 17/4664) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deut- schen Forst- und Holzwirtschaft (Drucksache 17/4558) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Ute Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung (Drucksache 17/4678) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10164 D 10164 D 10166 C 10167 D 10168 C 10169 A 10170 A 10171 A 10172 A 10172 B 10172 C 10173 D 10175 B 10176 A 10177 A 10177 B 10178 A 10178 D 10179 B 10180 B 10181 A 10181 B 10182 B 10183 C 10184 B 10185 A Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Drucksachen 17/4231, 17/4720) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Alle Waffenexporte des Oberndor- fer Kleinwaffenherstellers verbieten (Drucksache 17/4677) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtsschutz bei den OECD- Leitsätzen für multinationale Unterneh- men stärken (Drucksachen 17/4196, 17/4613) . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtender Menschen- rechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen (Drucksache 17/4669) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktion der SPD: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärke- ren Menschenrechtsschutz nutzen (Drucksache 17/4668) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10186 A 10187 D 10189 A 10189 D 10190 D 10192 A 10192 B 10192 C 10193 B 10194 B 10194 C 10194 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Drucksache 17/4666) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Fairen Rohstoffhandel sichern – Handel mit Selte- nen Erden offenhalten (Drucksache 17/4553) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Frei- handelsabkommen mit Indien stoppen – Verhandlungsmandat in demokratischem Prozess neu festlegen (Drucksachen 17/2420, 17/4616) . . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einheitlichen EU- Flüchtlingsschutz garantieren (Drucksache 17/4439) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für ein offenes, rechtsstaatli- ches und gerechtes europäisches Asyl- system (Drucksache 17/4679) . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10195 A 10195 A 10195 B 10195 C 10196 C 10197 C 10198 B 10199 D 10200 B 10200 C 10200 C 10201 C 10202 C 10203 B 10203 D Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im Patentrecht starten (Drucksachen 17/1052, 17/4725) . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EUTM Somalia beenden – Für eine politi- sche Lösung in Somalia (Drucksache 17/4248) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Euro- päische Parlament und den Rat: Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Ka- tastrophenabwehr: die Rolle von Katastro- phenschutz und humanitärer Hilfe KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesre- gierung und Deutschem Bundestag in An- gelegenheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/4672) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10205 A 10205 A 10205 C 10206 B 10207 A 10207 D 10209 B 10209 C 10210 B 10211 A 10212 A 10213 A 10214 A 10214 B 10215 C 10217 A 10217 B 10218 A 10219 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 VII Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Andrej Hunko und Ulla Jelpke (beide DIE – Antrag: Verpflichtender Menschenrechts- schutz bei den OECD-Leitsätzen für mul- tinationale Unternehmen – Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschen- rechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatz- 10221 A LINKE) zu den Abstimmungen über die An- träge: Belarus – Repressionen beenden, Men- schenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivil- gesellschaft stärken (Tagesordnungspunkt 7 a und b, Zusatztagesordnungspunkt 5) . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Zusatz- tagesordnungspunkt 6) Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Alle Waffenexporte des Obern- dorfer Kleinwaffenherstellers verbieten (Ta- gesordnungspunkt 13) Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Men- schenrechtsschutz bei den OECD-Leit- sätzen für multinationale Unternehmen stärken 10221 B 10221 D 10223 A 10223 D 10224 B 10225 B 10225 D 10227 D 10228 D tagesordnungspunkt 7) Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Tagesordnungs- punkt 15) Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Fairen Rohstoffhandel sichern – Handel mit Seltenen Erden offenhalten (Ta- gesordnungspunkt 16) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10229 C 10230 D 10232 A 10232 C 10233 B 10234 B 10235 C 10236 A 10237 A 10238 B 10239 A 10240 A 10241 B 10242 A 10243 A 10243 B 10244 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10039 (A) (C) (D)(B) 90. Sit Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10221 (A) (C) (D)(B) gen über die Anträge: Belarus – Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktio- Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Lockerung des bisher geltenden umfassenden Versandhandelsverbo- Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Andrej Hunko und Ulla Jelpke (beide DIE LINKE) zu den Abstimmun- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 10.02.2011 Bülow, Marco SPD 10.02.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 10.02.2011 Gerster, Martin SPD 10.02.2011 Gottschalck, Ulrike SPD 10.02.2011 Dr. Freiherr zu Guttenberg, Karl-Theodor CDU/CSU 10.02.2011 Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.02.2011 Hintze, Peter CDU/CSU 10.02.2011 Dr. Knopek, Lutz FDP 10.02.2011 Lenkert, Ralph DIE LINKE 10.02.2011 Lindner, Christian FDP 10.02.2011 Lutze, Thomas DIE LINKE 10.02.2011 Maurer, Ulrich DIE LINKE 10.02.2011 Möhring, Cornelia DIE LINKE 10.02.2011 Möller, Kornelia DIE LINKE 10.02.2011 Nietan, Dietmar SPD 10.02.2011 Roth (Esslingen), Karin SPD 10.02.2011 Scholz, Olaf SPD 10.02.2011 Süßmair, Alexander DIE LINKE 10.02.2011 Veit, Rüdiger SPD 10.02.2011 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.02.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht nieren, Zivilgesellschaft stärken (Tagesord- nungspunkt 7 a und b, Zusatztagesordnungs- punkt 5) Wir verurteilen die Verletzung elementarer demokra- tischer Rechte im Zusammenhang mit den Präsident- schaftswahlen in Weißrussland. Da kein eigener Antrag unserer Fraktion vorliegt, ge- ben wir folgende Stimmerklärung ab: Leider bringen die vorliegenden Anträge der Koali- tion sowie von SPD und Grünen unsere Position nicht zum Ausdruck. Wir können ihnen aus folgenden Grün- den nicht zustimmen. Alle Anträge benennen die Probleme bei der Wahl nicht korrekt: Neben Problemen bei der Stimmauszäh- lung müssen auch der ungleiche Zugang zu den Medien und die unfaire Nutzung von Staatsressourcen zur Unter- stützung des Amtsinhabers benannt werden. Des Weiteren lehnen wir die – in allen Anträgen ge- forderten – Sanktionen ab. Wir gehen nicht davon aus, dass diese durch eine „faire und transparente“ Prozedur auferlegt wurden, wie es die Resolution der Parlamenta- rischen Versammlung des Europarates fordert. Auch wird in den Anträgen die Kritik am brutalen Vorgehen der Miliz und an der Verfolgung nach den Wahlen auf Grundlage unscharfer „europäischer Werte und Regeln“ geübt. Die allgemein gültigen politischen Rechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung werden im Unterschied zur Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates nicht als solche benannt. Insgesamt scheint es bei den Anträgen mehr um die Annäherung an die EU zu gehen als um die Verteidigung demokratischer Rechte und Wahlen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset- zes (Zusatztagesordnungspunkt 6) Dieter Stier (CDU/CSU): Mit der anstehenden Ge- setzesnovelle zum Fünfzehnten Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes soll der vorliegende Gesetzent- wurf der Bundesregierung eine logische Gleichstellung von Tierarzneimitteln für nicht lebensmittelliefernde Tiere und Humanarzneimitteln beim Internetversand si- cherstellen. Das bisher geltende Versandhandelsverbot für Tierarzneimittel für nicht lebensmittelliefernde Tiere muss auf den Prüfstand; denn die Öffnung des Arznei- versandhandels beim Menschen ist seit Jahren sehr viel liberaler als der Internetversand mit Tierarzneimitteln. 10222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) tes für Tierarznei reagiert die Bundesregierung auf ein Beschwerdeverfahren der EU-Kommission sowie auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes, welches das derzei- tige Versandhandelsverbot als unverhältnismäßig erach- tet. Es kann nicht angehen, dass im Hinblick auf den Arzneimittelversand seit Jahren für unsere Haustiere strengere Maßstäbe gelten als für die Medikation des Menschen. Folglich ist es höchste Zeit, eine Lockerung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Disposition zu stellen – natürlich unter der Prämisse, dass den Erforder- nissen des Tierschutzes Rechnung getragen wird. Inhaltlich orientiert sich der vorliegende Gesetzent- wurf eng an den seit 2004 etablierten Vorgaben für den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medika- menten, die zur Anwendung beim Menschen bestimmt sind. Bisher sind innerhalb dieser in Deutschland mögli- chen Verteilerkette keinerlei Probleme bekannt gewor- den. Versandapotheken liefern bereits jetzt eine Vielzahl von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Zubehör für unsere Haustiere. Die Vorteile des Internet- versands liegen auf der Hand: Dieser Vertriebsweg ist sehr beliebt, weil die Produkte dort günstiger angeboten werden können, als dies Apotheken mit Miet- und Perso- nalkosten tun können. Zudem ist der Service einer Inter- netbestellung hinsichtlich der Auswahl der Produkte und der Lieferung bis zur Haustüre insbesondere für Men- schen abseits der Ballungszentren sowie für ältere Men- schen nicht zu unterschätzen. Eine schnelle und be- queme Abwicklung trägt zudem einem modernen Verbraucherleitbild, orientiert am gegenwärtigen Nut- zerverhalten, Rechnung, welches letztlich auch den Tie- ren zugutekommt. Als Unionspolitiker sollten wir der wachsenden Nachfrage der Verbraucher nach dem Ver- sandhandel von Tierarzneimitteln gerecht werden und diesen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden Gesetzentwurf weiter öffnen. Letztlich zeigt die Praxis, dass Tierhalter aufgrund hoher Preise mitunter abgeneigt sind, eine empfohlene oder verordnete Medikation durchzuführen. Der Ver- sandhandel schließt eine diesbezüglich vorhandene Lü- cke, was wiederum der Tiergesundheit zugutekommt. Bei der Medikation von Tieren spielt auch die Zugäng- lichkeit von Medikamenten eine Rolle, zum Wohle der Tiere. Unabhängig von diesen Vorteilen des Internethandels mit verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln möchte ich auch auf „Risiken und Nebenwirkungen“ einer Libe- ralisierung des Tierarzneiversandhandels aufmerksam machen. Eine unkontrollierte Selbstmedikation von Haustieren durch den Tierhalter birgt diverse Risiken für das Haustier. Fehlbehandlungen und Nebenwirkungen fügen dem Tier Schmerzen und Schaden zu. Ebenfalls können Auswirkungen auf das Umfeld entstehen. Unkri- tische Anwendung von verschreibungspflichtigen Medi- kamenten, insbesondere von Antibiotika, kann uner- wünschte Resistenzen hervorrufen. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom 5. November 2010 im Hinblick auf diese Gefahren eine Öffnung des Internetversandhandels nur für rein apothe- kenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimit- tel gefordert. In seiner Begründung argumentiert der Bundesrat mit der fehlenden Harmonisierung der tierarz- neimittelrechtlichen Vorschriften auf EU-Ebene im Hin- blick auf die Bedingungen, unter denen der Tierarzt ein Rezept ausstellen kann. In einer Gegenäußerung dazu hat die Bundesregierung am 8. Dezember 2010 deutlich gemacht, dass die vom Bundesrat geäußerten Bedenken einer Beibehaltung des Versandhandelsverbots für ver- schreibungspflichtige Arzneimittel für nicht lebensmit- telliefernde Tiere nicht zu rechtfertigen sind. Um den Bedenken des Bundesrates hinreichend Rechnung zu tra- gen, plädieren die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP in einem Änderungsantrag vom 8. Februar 2011 für eine Ergänzung des Arzneimittelgesetzes mit der Vor- gabe, dass Tierhalter verschreibungspflichtige Arznei- mittel bei ihren Haustieren nur dann anwenden dürfen, wenn diese von einem Tierarzt direkt abgegeben werden oder aber vom behandelnden Tierarzt verschrieben wer- den. Folglich kann die Behandlung eines Haustieres durch den Tierhalter mit verschreibungspflichtigen Tier- arzneimitteln nur nach vorheriger tierärztlicher Konsul- tation erfolgen. Hinsichtlich des Versandhandels mit anderen EU- Staaten bedeutet diese Regelung, dass ein Versand nach Deutschland nur in dem Fall möglich ist, wenn der Tier- halter bei der Bestellung in anderen Mitgliedstaaten das Rezept seines behandelnden Tierarztes beifügt. Dem- nach werden diese verschreibungspflichtigen Tierarznei- mittel nur nach Vorlage einer durch Stempel und Unter- schrift des behandelnden Tierarztes klar als gültig zu identifizierende Verschreibung ausgeliefert. Im Rahmen der Selbstverpflichtung der Unternehmen wird jedes Re- zept auf Vollständigkeit und Authentizität überprüft. In Großbritannien und in Nordirland ist eine tierärztliche Behandlung für die Verschreibung von Tierarzneimitteln verpflichtend. Der Internethandel hat sich dort als eine verantwortungsvolle Ergänzung zum stationären Bezug von Tierarzneimitteln bewährt. In einer Bekanntmachung der Übersicht zum Ver- sandhandel mit Arzneimitteln nach § 73 Abs. 1 Satz 3 des Arzneimittelgesetzes des Bundesministeriums für Gesundheit vom 31. Mai 2010 ist eine Übersicht über ei- nige Mitgliedstaaten der EU und anderen Vertragsstaaten aufgeführt. Diese Staaten haben einen dem deutschen Recht vergleichbaren Sicherheitsstandard gemäß §11 a Apothekengesetz. Apotheken aus anderen Staaten, in de- nen diese Vergleichbarkeit derzeit nicht besteht, können für Deutschland eine Versandhandelserlaubnis beantra- gen. Die Forderung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände nach einem grundsätzlichen Ver- sandhandelsverbot aufgrund eines hohen Gefahrenpo- tenzials für die Haustiere ist übertrieben vorsichtig. Die Menschen in Deutschland haben die Liberalisierung des Humanmedizinversands auch schadlos überstanden. Als Unionspolitiker sollten wir uns jedoch der wach- senden Nachfrage der Verbraucher nach dem Versand- handel von Tierarzneimitteln nicht verschließen und die- sen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden Gesetzentwurf weiter öffnen. Ich befürworte jeglichen Abbau von ungerechtfertigten Handelshemmnissen, um eine Optimierung der Wettbewerbsbedingungen in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10223 (A) (C) (D)(B) Deutschland zum Wohle des Verbrauchers zu erzielen. Das derzeit geltende Verbot lässt sich gegenüber dem Verbraucher kaum plausibel vermitteln, zumal der Ver- sandhandel bei rezeptpflichtigen Humanarzneimitteln seit Jahren erlaubt ist. Die von der Koalitionsfraktion ge- forderte Änderung dieses Gesetzentwurfes der Bundes- regierung, zusätzlich zur Internetbestellung des ver- schreibungspflichtigen Medikamentes das Rezept des behandelnden Tierarztes beizufügen, ist ein für alle Sei- ten akzeptabler Kompromiss. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Was für die Human- medizin gilt, gilt selbstverständlich auch für die Tierarz- neimittel: Dosis facit venenum – die Dosis macht das Gift. Das bedeutet nichts anderes, als dass von jedem Arzneimittel – ob verschreibungspflichtig oder nicht – eine potenzielle Gefahr ausgehen kann. Vor diesem Hin- tergrund muss auch die Diskussion um die hier vorlie- gende Novelle des Arzneimittelrechts geführt und be- wertet werden. Die Toxikologie, die Resistenzbildung sowie die missbräuchliche Anwendung, die auch bei Arzneimitteln, die bei nicht lebensmittelliefernden Tie- ren zur Anwendung kommen, müssen beachtet werden. Denn sowohl Antibiotika als auch andere systemisch wirkende Arzneimittel werden überwiegend auch in der Humanmedizin angewandt. Vor allem bei Antiparasitika und Anthelminthika gibt es tierartbezogene, teilweise rassespezifische Unverträglichkeiten, die jedem Tierarzt in der Praxis bekannt sind. Die missbräuchliche Anwen- dung von Tierarzneimittel kann schwerwiegende Folgen für unsere Heimtiere haben. Es sei nur an lebensbedro- hende Allergien und tödliche Nebenwirkungen erinnert. Wir dürfen auch hier den Tierschutzgedanken nicht au- ßer Acht lassen. Die Verschreibung und die Abgabe von Tierarznei- mitteln dürfen nur nach gründlicher Anamnese und Dia- gnose durch einen behandelnden Tierarzt erfolgen. Das gebietet die gute fachliche Praxis. Dies ist eine strenge Anforderung an das Handeln eines jeden Tierarztes. Den Sachverhalt kann ich aus meiner eigenen beruflichen Er- fahrung als Tierarzt und Assistent am Institut für Phar- makologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover sehr wohl beurteilen. Ob diese Voraussetzung für eine Verschreibung in an- deren EU-Mitgliedstaaten, auch gilt, möchte ich doch ernsthaft bezweifeln. Insofern dürfen wettbewerbsrecht- liche Bedenken nicht unsere hohen deutschen Standards infrage stellen. Eine Kontrolle der Anwendung von Tier- arzneimitteln durch den Tierarzt muss auch in Zukunft bei nicht Lebensmittel liefernden Tieren gewährleistet sein. Kostensparende und gefährliche Eigenbehandlun- gen durch den Tierbesitzer dürfen durch den Versand von Tierarzneimitteln nicht noch begünstigt werden. Die Grundsätze der Verschreibungspflicht für Arzneimittel dürfen nicht infrage gestellt werden. Angesichts ver- mehrter Antibiotikaresistenzen hat der Einsatz dieser Medikamente mit entsprechendem Verantwortungsbe- wusstsein zu erfolgen. Denn Antibiotikaresistenzen ha- ben eine unmittelbare Auswirkung auf die menschliche Gesundheit. Sicherlich benötigen wir eine Harmonisie- rung des europäischen Arzneimittelrechtes – aber nicht auf unterstem Niveau. Aus Sicht der Arzneimittelsicherheit und des Gesund- heitsschutzes halte ich es für nicht vertretbar, dass wir den Versandhandel auf Tierarzneimittel ausdehnen, ins- besondere wenn sie verschreibungspflichtig und für nicht Lebensmittel liefernde Tiere zugelassen sind. Wir brauchen einen möglichst restriktiven Umgang mit ver- schreibungspflichtigen Tierarzneimitteln aller Art. Wir wissen doch alle, dass neue Vertriebswege über das In- ternet kaum zu überwachen sind. Auch wenn in diesem Gesetzentwurf der Versand nur nach der Verschreibung durch einen Tierarzt erfolgen soll, muss doch zu Recht bezweifelt werden, ob das Gebaren eines Internetver- sandhändlers, zumal wenn er nicht nur in Deutschland vertreten ist, überhaupt überwacht werden kann. Schon heute gibt es im Tierarzneimittelbereich immer noch ei- nen grauen Markt und mittlerweile auch gefälschte Arz- neimittel mit fragwürdiger, gefährlicher oder gar keiner Wirkung. Das sollten wir durch die Öffnung des Arznei- mittelversandes nicht auch noch fördern. Warum will die schwarz-gelbe Koalition ohne Not ne- ben dem bestehenden und gut funktionierenden System des Tierarzneimittelvertriebs in Deutschland ein völlig neues etablieren? Ziel sollte es doch eher sein, die stren- gen deutschen Regeln zur Arzneimittelverordnung auf europäischer Ebene zu verankern. Hinterfragt werden muss auch, ob die Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger den Versandhändlern und ihren Lobbytruppen neue Einnahmemöglichkeiten eröff- nen möchte. Damit würde man der Arzneimittelsicher- heit und dem vorbeugenden Gesundheitsschutz einen Bärendienst erweisen. Die Aufgabe des Gesetzgebers muss es sein, die unberechtigte Verabreichung von Tier- arzneimitteln bestmöglich einzudämmen. Dazu gehört für mich auch ein Versandhandelsverbot für verschrei- bungspflichtige Tierarzneimittel für nicht lebensmittel- liefernde Tiere. Wir Sozialdemokraten wollen die No- velle der EU-Tierarzneimittelrichtlinie abwarten und keine Schnellschüsse fabrizieren – im Interesse der Arz- neimittelsicherheit und des vorbeugenden Gesundheits- schutzes und gegen Lobbyinteressen. Wir werden daher diesen Gesetzentwurf ablehnen. Hans-Michael Goldmann (FDP): Das Arzneimit- telgesetz, insbesondere der für das Tierarzneimittelge- setz relevante § 43, ist nur teilweise EU-harmonisiert. Die EU-Kommission hat eine Beschwerde eingelegt, weil hier eine Behinderung des Warenhandels vorlag. Auch ein entsprechendes BGH-Urteil empfiehlt eine No- vellierung. Damit besteht zwingender Handlungsbedarf. Ich bedauere, dass wir in dieser Sache handeln müs- sen, aber angesichts der Gleichstellung von Humanme- dizin und Veterinärmedizin brauchen wir eine Gesetzes- änderung. Im Ergebnis zeigt die Novelle, dass ein rezeptpflichtiges Medikament Teil eines Diagnose- und Behandlungsprozesses ist, den die praktischen Tierärzte auch weiterhin ausgestalten. Damit ist die Fachlichkeit der Tierärzte als Grundlage der 15. Fassung des Arznei- mittelgesetzes gestärkt. Das möchte ich an dieser Stelle 10224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) noch mal betonen. Bei unserer Gesetzesfassung handelt es sich um eine praktikable und vernünftige Lösung, die sowohl dem Schutz der Tiere und der menschlichen Ge- sundheit Rechnung trägt als auch unseren Pflichten als EU-Mitglied nachkommt. Der aktuelle Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der Versandhandel aus Apotheken an den Tierhalter auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel, die für nicht le- bensmittelliefernde Tiere bestimmt sind, künftig erlaubt wird. Neben einer weiterhin bestehenden Rezeptpflicht wird durch eine Behandlungs- und Anwenderegel die fachärztliche Betreuung der Haus- und Kleintiere be- wahrt. Zudem bleibt die Transparenz des Tierarzneimit- telhandels bestehen, indem nachvollziehbar ist, wer re- zeptiert. Im Kern der Diskussion stehen sich also die Argu- mente der Wettbewerbsfreiheit im EU-Binnenmarkt und der aus Sicht der Veterinäre bedrohte Schutz der menschlichen Gesundheit und der Tierschutz gegenüber. Kritiker sehen die humane Gesundheit vor allem durch ein mögliches unkontrolliertes Inverkehrbringen von Arzneimittel gefährdet, die missbräuchlich auch bei le- bensmittelliefernden Tieren angewendet werden könn- ten. Ein Missbrauch ist nie auszuschließen, wenngleich dieser lediglich theoretisch vorhanden ist, da die Arznei- mittelabgabemenge für die Hauskatze oder den Hund nicht ausreicht, um etwa einen Schweinebestand damit zu versorgen. Diese theoretische Gefahr ist durch die eingeführte Behandlungspflicht gebannt. Ferner wird aus tiermedizinischer Sicht eine mögliche Medikamentenverabreichung vom Tierhalter kritisch be- wertet, da eine unprofessionelle Medikamentenabgabe die Tiergesundheit gefährden könnte. Dieses Problem lässt sich jedoch mit der in § 56 a eingeführten Anwen- dungsregelung lösen. Kern dessen ist, dass die Rezept- vergabe an eine Behandlung gebunden sein muss, die auch dazu verpflichten kann, dass die Arzneimittelver- abreichung über den Veterinär erfolgen muss. Die neue Regelung in ihrer jetzigen Form ist ein soli- der Kompromiss und untermauert die Sorgfaltsplicht der Tierärzteschaft. Der Tierarzt, die Tierärztin – kurz: der Fachmann – bleibt in der Poleposition. Der Tierschutz- gedanke flankiert die Argumentation der Anwendungs- regelung. Im Ergebnis bleiben die Tierärzte – ich will das noch einmal betonen – in ihrer Verantwortung. Diese Entwicklung kann ich nur begrüßen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Es gab in den vergangenen Monaten eine sehr intensive Debatte zum Thema Internethandel mit Tierarzneimitteln zur Behand- lung von Tieren, die nicht der Lebensmittelgewinnung dienen, also Haus- und Heimtieren. Die Grundposition, dass der Versand von Tierarzneimitteln im Vergleich zur beratenden Abgabe durch Tierärzte oder durch Apothe- ken keine adäquate Abgabeform sei, war Konsens bei der 8. AMG-Novelle, mit der 1998 der Versand apothe- kenpflichtiger Arzneimittel verboten wurde. Unter dem Druck der EU-Kommission und eines Urteils des Bun- desgerichtshofes sah sich die Bundesregierung nun – aus wettbewerbsrechtlichen Gründen – gezwungen, diesen fachpolitischen Konsens mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf aufzukündigen. Der Änderungsantrag der Koali- tionsfraktionen, der eine tierärztliche Behandlung zur bußgeldbewehrten Vorbedingung für eine Internetbestel- lung macht, kann aus unserer Sicht die Bedenken gegen eine solche Öffnung nicht aus der Welt räumen. Denn aus Sicht der Linken gibt es zwingende Gründe, das Arzneimittelversandverbot für Haus- und Heimtiere aufrechtzuerhalten. Das gilt erst recht wenn man be- denkt, wie viele Tierhalterinnen und Tierhalter und ihre Tiere von dieser Neuregelung betroffen sind, also auch von ihren Risiken. Kennziffern aus dem Jahr 2009 skiz- zieren dies: In der Bundesrepublik leben allein 5 Millio- nen Hunde und 8 Millionen Katzen. Die Heimtiere ein- gerechnet, sind 23 Millionen Tiere betroffen. Das ist alles andere als eine Lappalie. Die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der FDP nehmen mit dem Änderungsantrag einen der Ein- wände des Bundesrates gegen den Gesetzentwurf auf, in dem eine rechtskonforme Beschaffung von verschrei- bungspflichtigen Tierarzneimitteln einzig in Verbindung mit einer entsprechenden tierärztlichen Behandlung er- folgen soll. Damit werden formal die Rechte der Tierärz- tinnen und Tierärzte gestärkt. Das sieht die Linke durch- aus als Schritt in die richtige Richtung, und wir haben uns im Ausschuss bei diesem Änderungsantrag deshalb auch enthalten. Die Probleme des Gesetzentwurfes wer- den damit aber nicht gelöst. Weil einerseits erhebliche Zweifel bleiben, wie das funktionieren oder wer das wie effizient kontrollieren soll, und weil wesentliche andere Risiken des Gesetzentwurfs zum Versandhandel nach wie vor unberücksichtigt bleiben. Solange eine europaweite Harmonisierung des Tier- arzneimittelrechts nicht erfolgt und nur vage für die nächsten Jahre angekündigt wird, kann und wird der Vertrieb solcher Mittel mit erheblichen tiergesundheitli- chen, und damit tierschutzrechtlich relevanten, und rechtlichen Risiken verbunden sein. Die Bundestierärz- tekammer spricht von kaum vorstellbaren Konsequen- zen, die trotz einer faktischen Verschreibung durch einen Tierarzt drohen. Lediglich Zufallstreffer würden Ver- stöße gegen das geltende Recht aufdecken, der Versand- handel bleibt de facto unkontrollierbar. Der bereits ge- genwärtig kaum zu überschauende, erst recht kaum zu kontrollierende Internethandel wird die formal beste- hende Verschreibungspflicht ins Lächerliche ziehen. Wie sollten Apotheken in anderen EU-Mitgliedstaaten nach- vollziehen können, ob ein nach nationalen Regelungen gültiges Rezept vorliegt? Diese Frage stellt sich abgese- hen vom gezielten Missbrauchspotenzial. Wahrschein- lich brauchen wir dann neben Schwerpunktstaatsanwalt- schaften für Lebens- oder Futtermittel zukünftig auch eine für den Internethandel mit Tierarzneimitteln, um wenigstens grobe Verstöße gegen die gesetzlichen Rege- lungen überhaupt erkennen und beweisen zu können. An dieser Stelle kann ich die Bundesregierung nur fragen, wie sie unter diesen Bedingungen falsche und eigen- mächtige Anwendungen von Tierarzneimitteln wenigs- tens behindern will? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10225 (A) (C) (D)(B) Völlig unbeachtet bleibt im Gesetzentwurf die Frage, wie Tierhalterinnen und Tierhalter sich der Echtheit der im Internet angebotenen Arzneimittel sicher sein kön- nen. Gefälschte Medikamente können gravierende ge- sundheitliche Schäden bei Tieren nach sich ziehen. Die Öffnung des Marktes durch den Versandhandel macht es zudem nur allzu wahrscheinlich, dass bei preiswerteren Produkten aus dem EU-Ausland eine Zunahme des regu- lären Medikamenteneinsatzes folgt. Der Hinweis des Bundesrates auf das Risiko dadurch verstärkt steigender Antibiotikaresistenzraten wird im Gesetzentwurf nur un- zureichend aufgegriffen. Dies ist wohl kaum mit der deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie in Überein- stimmung zu bringen. Außerdem sollten wir daran denken, dass es eine stei- gende Zahl von Heim- und Haustierhalterinnen und -hal- tern gibt, die in Armut leben und möglicherweise in Versuchung sein könnten, sich wenigstens billige Tier- arzneimittel zu besorgen, wenn sie denn den Besuch beim Tierarzt oder bei der Tierärztin schon nicht bezah- len können. Wer will ihnen das verdenken? Es war die schwarz-gelbe Koalition, die die Kosten für die Haltung von Haustieren aus dem Regelsatz gestrichen hat, ob- wohl der Hund oder die Katze für immer mehr Men- schen der letzte Anker in der Gesellschaft geworden sind. Zunehmende Missbrauchsmöglichkeiten im Arznei- mittelhandel, Unkontrollierbarkeit des Versandhandels und die Gefahr eines weiteren deutlichen Anstiegs des Medikamentenkonsums sehen wir als Folgen dieser Ge- setzesnovelle. Deshalb kann die Linke diesen Gesetzent- wurf nur ablehnen. Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziel des von der Bundesregierung vorgeleg- ten Gesetzentwurfes ist es, den Versandhandel für Tier- arzneimittel teilweise zu öffnen. Betroffen sind davon apothekenpflichtige und verschreibungspflichtige Arz- neimittel für Tiere, wenn diese Tiere nicht zur Lebens- mittelgewinnung verwendet werden. Wir sind der Mei- nung: Tiere müssen von einem Tierarzt begutachtet und untersucht werden, bevor dem Tier Arzneimittel verab- reicht werden. Die persönliche Beratung des Tierhalters und gegebenenfalls seine Einweisung in die Arzneimit- telverabreichung sind unseres Erachtens nach unver- zichtbar. Bündnis 90/Die Grünen sehen die geplante Öff- nung des Versandhandels für Tierarzneimittel kritisch, da auch der Versand aus dem europäischen Ausland möglich ist. Leider gibt es aber bislang keine EU-weite Regelung der tierärztlichen Verschreibung, die die Untersuchung der betroffenen Tiere durch den behan- delnden Tierarzt und seine Behandlungskontrolle vorschreibt. Aus Gründen des Tierschutzes, des Gesund- heitsschutzes und der Arzneimittelsicherheit muss aber gewährleistet werden, dass Tierhalter keine Arzneimittel beziehen können, die nicht für die Behandlung ihres Tie- res geeignet oder gar nicht vorgesehen sind. Dies ist vor allem relevant für verschreibungspflichtige Tierarznei- mittel, zu denen auch Antibiotika zählen. Wir haben die begründete Befürchtung, dass bei der Abgabe von Arz- neimitteln, die auch auf die menschliche Gesundheit gravierende Auswirkungen haben können, via Versand- handel aus anderen EU-Ländern Probleme entstehen können. So kann das Ziel, antibiotikaverursachte Resis- tenzbildungen aktiv zu vermeiden, eben nicht erreicht werden. Auch wenn der überwiegende Teil der Tier- halter sich korrekt verhält, muss verhindert werden, dass der Missbrauch von Tierarzneimitteln möglich wird. Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurden unsere Bedenken zum Teil aufgegriffen. So soll festgelegt werden, dass „Tierhalter … verschreibungs- pflichtige Arzneimittel bei Tieren nur anwenden dürfen, wenn die Arzneimittel von dem Tierarzt verschrieben oder abgegeben worden sind, bei dem sich die Tiere in Behandlung befinden.“ Diese Bestimmung soll dem Tierhalter den Einsatz von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln, die ohne vorherige Konsultation bzw. ohne vorherige Verschreibung durch einen Tierarzt in seinen Besitz gelangt sind, verhindern. Diese Änderung begrüßen wir daher. Solange es jedoch keine Vereinheit- lichung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene gibt, halten wir eine Öffnung des Versandhandels – insbeson- dere für verschreibungspflichtige Tierarzneimittel – für problematisch. Wir sehen aber auch, dass ein Beschwer- deverfahren der EU-Kommission gegenüber Deutsch- land anhängig ist und einem Urteil des Bundesverfas- sungsgerichtes Rechnung zu tragen ist, zumal die Öffnung des Versandhandels im Bereich der Humanme- dizin bereits erfolgt ist. Eine Harmonisierung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene ist unabdingbar. Daher fordern wir die Bun- desregierung auf, sich für eine zügige Vereinheitlichung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene einzusetzen – mit der Maßgabe, den Missbrauch oder gesundheitsschä- digenden Einsatz von Tierarzneimitteln zu verhindern. Außerdem fordern wir das Bundesministerium für Er- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf, von seiner Ermächtigung durch § 56 a Abs. 3 Gebrauch zu machen und per Verordnung vorzuschreiben, dass be- stimmte Arzneimittel nur durch den Tierarzt selbst ange- wendet werden dürfen, wenn diese Arzneimittel für die Gesundheit von Mensch und Tier gefährlich sein könn- ten oder wenn Missbrauch möglich ist. In der Gesamtschau bleiben weiterhin Bedenken, so- dass wir uns bei dieser Änderung des Arzneimittelgeset- zes enthalten. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbie- ten (Tagesordnungspunkt 13) Erich G. Fritz (CDU/CSU): Der Export von Waffen gehört zweifellos zu den sensibelsten Bereichen des Au- ßenhandels. Deswegen sind die rechtlichen Bestimmun- gen in diesem Gebiet eindeutig und in Deutschland äußerst strikt. Die Bundesregierung übt eine verantwor- 10226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) tungsvolle Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexpor- ten aus und ist keinesfalls „lasch“ in der Kontrolle der Rüstungsexporte – auch wenn die Fraktion Die Linke uns mit ihrem Antrag etwas anderes weismachen will. Grundlage bilden die Politischen Grundsätze der Bun- desregierung für den Export von Kriegswaffen und sons- tigen Rüstungsgütern aus dem Jahr 2000, das Außen- wirtschaftsgesetz, die Prüfungen durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, bzw. den Bundessicherheitsrat und der Verhaltenskodex der EU vom 8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat verabschiedet wurde. Ich zitiere Greenpeace: „Über jede Patrone, die das Land verlässt, wird also gründlich Buch geführt.“ Der Fall Heckler & Koch, ein Oberndörfer Kleinwaf- fenhersteller, wird von der Fraktion Die Linke benutzt, um die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung er- neut in den Medien als „außerordentlich lasch“ zu kriti- sieren und den Waffenexport als nicht mit dem Grundge- setz vereinbar darzustellen. Wahr ist, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart sowie das Zollkriminalamt Köln derzeit den Verdacht prüfen, dass Heckler & Koch im Jahr 2006 mit Exporten in mexikanische Unruhepro- vinzen (Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco) ge- gen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffen- kontrollgesetz verstoßen haben sollen. Die Bearbeitung von Anträgen von Heckler & Koch für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Me- xiko wurde deshalb zeitweilig ausgesetzt. Der Links- fraktion geht das nicht weit genug; sie fordert, auch die Bearbeitung der Exportanträge des Unternehmens in an- dere Länder auszusetzen. Die Frage, ob und in welchem Umfang die Firma Heckler & Koch Waffen unter Ver- stoß gegen das deutsche Exportkontrollrecht Sturmge- wehre des Typs G36 nach Mexiko geliefert hat, ist bis- lang nicht abschließend geklärt. Vielmehr ist sie Gegenstand des laufenden staatsanwaltschaftlichen Er- mittlungsverfahrens. Im Lichte des Ergebnisses dieses Ermittlungsverfahrens wird die Bundesregierung prüfen, ob wegen mangelnder Zuverlässigkeit des Unterneh- mens weitere Genehmigungsverfahren auszusetzen oder erteilte Genehmigungen zurückzunehmen sind. Heckler & Koch beteuert, im Einvernehmen mit der Ausfuhrge- nehmigung des Bundesamtes für Wirtschaft und Aus- fuhrkontrolle ausschließlich an die dafür gesetzlich vor- gesehene Waffeneinkaufsbehörde, D.C.A.M., welche dem mexikanischen Verteidigungsministerium unter- steht, geliefert zu haben. Das BAFA hatte den Antrag von Heckler & Koch ausschließlich für 28 der 32 mexi- kanischen Bundesstaaten genehmigt, da in den anderen Bundestaaten anhaltende Menschenrechtsverletzungen vorliegen. Vor diesem Hintergrund der Strafanzeige von Jürgen Grässlin begrüßt Heckler & Koch die Maßnah- men der Staatsanwaltschaft, da vom Anzeigeerstatter bisher nur einseitige Informationen über mediale Kanäle verbreitet wurden. Die Fraktion Die Linke hat bereits vermehrt die Kon- trolle des Endverbleibs deutscher Kriegswaffen und Rüstungsgüter als „unzureichend“ kritisiert. Seien Sie jedoch versichert, dass bei jedem Antrag auf Ausfuhrge- nehmigung eine strikte Einzelfallprüfung stattfindet. Die Bundesregierung prüft und bewertet vor Erteilung einer Genehmigung für die Lieferung von Rüstungsgütern alle vorhandenen Informationen über den Endverbleib der betroffenen Rüstungsgüter. Dies sehen der „Gemein- same Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. De- zember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Mili- tärgütern“ und die entsprechenden Regelungen der „Po- litischen Grundsätze der Bundesregierung für den Ex- port von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom 19. Januar 2000 vor. Sofern es keine Zweifel am Endverbleib der zu liefernden Kriegswaffen gibt und die übrigen für eine Genehmigung eines Kriegswaffenex- ports notwendigen rechtlichen und politischen Voraus- setzungen gegeben sind, können Genehmigungen erteilt werden. Durch die Ex-ante-Prüfung wird von vornherein gesichert, dass Rüstungsgüter nicht an Empfänger gelie- fert werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die Güter umgeleitet werden. Wenn Zweifel am gesicherten End- verbleib beim Empfänger bestehen, werden Ausfuhran- träge abgelehnt. Darüber hinaus sichern Empfänger in sogenannten Endverbleibserklärungen der Bundesregierung zu, die betreffenden Güter nicht ohne Zustimmung der Bundes- regierung an andere Staaten weiterzuverkaufen. Dies wird grundsätzlich bei allen Exporten von Rüstungs- gütern verlangt. Lieferungen von Kriegswaffen sowie sonstigen Rüstungsgütern, die nach Umfang oder Be- deutung für eine Kriegswaffe wesentlich sind, dürfen nur bei Vorliegen von amtlichen Endverbleibserklärun- gen, die ein Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt ent- halten, genehmigt werden. Die Bundesregierung lässt sich zusätzlich zu den Endverbleibserklärungen weitere geeignete Dokumente wie zum Beispiel Erläuterungen des Empfängers zum beabsichtigten Verwendungs- zweck, technische Unterlagen oder internationale Ein- fuhrbescheinigungen (International Import Certificates) vom Endempfanger deutscher Rüstungsgüter vorlegen. Die Vereinbarkeit von Waffenexporten mit dem Frie- densgebot des Grundgesetztes ist somit gewährleistet. Die Bundesregierung erhält im Zusammenhang mit außenwirtschafts- bzw. kriegswaffenrechtlichen Geneh- migungsverfahren in Form der Genehmigungserteilung laufend einen Überblick über den Endverbleib von der Bundesrepublik Deutschland ausgeführten Rüstungs- gütern. Eine Genehmigung für die Vergabe von Lizen- zen ist nach dem Außenwirtschaftsgesetz, AWG, und/ oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz, KWKG, erforder- lich, wenn im Zusammenhang mit der Lizenzerteilung Technologie in Form von Know-how, Fertigungsunterla- gen und -maschinen oder Komponenten ausgeführt wer- den sollen, die selbst dem AWG und/oder KWKG unter- fallen. Alle Entscheidungen über Rüstungsexporte werden nach sorgfältiger Abwägung der außen-, sicher- heits- und menschenrechtspolitischen Belange im Ein- zelfall getroffen. Zusätzlich kann die Bundesregierung nachträglich Überprüfungen der Einhaltung von Endver- bleibserklärungen durchführen. Erkenntnisse, ob die der Genehmigung zugrunde liegenden Informationen zutref- fend waren, können sich aus nachrichtendienstlichem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10227 (A) (C) (D)(B) Aufkommen, aus dem Informationsaustausch mit ande- ren Regierungen sowie aufgrund der bei exportierenden Unternehmen durchgeführten Betriebsprüfungen erge- ben. Die Einhaltung eingegangener Endverbleibszusagen ist für die Bundesregierung eine wichtige Voraussetzung für die etwaige Erteilung weiterer Ausfuhrgenehmigun- gen. In Fällen des begründeten Verdachts auf Verstöße gegen Endverbleibszusagen, wie im Fall Heckler & Koch, wird die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für den betreffenden Empfänger so lange ausgesetzt, bis der Sachverhalt umfassend aufgeklärt ist. Die Entschei- dung, ob die Erklärungen eines Landes oder eines Unter- nehmens generell als nicht verlässlich einzustufen sind, muss die Bundesregierung wegen der damit verbunde- nen Folgen mit großer Sorgfalt treffen. Hierfür ist es er- forderlich, dass der Sachverhalt weitestgehend aufge- klärt ist. Dies ist wegen des noch andauernden Ermittlungsverfahrens jedoch nicht der Fall. Deshalb ist es sehr wohl sachlich zu begründen, dass der Export- stopp nicht für alle Exporte des Unternehmens, sondern nur für die nach Mexiko gilt. Für eine Aussetzung der Bearbeitung von Exportanträgen anderer deutscher Fir- men nach Mexiko besteht bislang kein Anlass. Das deutsche System der Exportkontrolle für Rüs- tungsgüter gewährleistet in zuverlässiger Weise die Sicherung des Endverbleibs. Dies bestätigen die Erfah- rungen der deutschen Exportkontrollpraxis. Die Bundes- regierung hat seit Jahrzehnten gute Erfahrungen mit die- sen Regelungen gemacht. Nur in wenigen Einzelfällen ist eine Umleitung bekannt geworden. Der Antrag der Fraktion Die Linke bezeichnet zudem den Export von Kleinwaffen als „unkalkulierbares Ri- siko und ernsthaftes Problem für den Frieden, die Si- cherheit und die soziale Stabilität“. Dass der unerlaubte Handel mit Klein- und Leichtwaffen ein sicherheitspoli- tisches Problem ist, wurde jedoch längst nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer und internatio- naler Ebene erkannt. Deutschland engagiert sich aktiv im Rahmen des VN-Kleinwaffenprozesses, der den glo- balen Referenzrahmen für Bemühungen um Kleinwaf- fenkontrolle bildet. Darüber hinaus bemüht sich Deutschland auch in spezifischen Thematiken wie Mar- kieren und Nachverfolgen, Lagerverwaltung und Um- gang mit Munitionsbeständen um Fortschritt mittels För- derung von regionalen Seminaren und Konferenzen der Vereinten Nationen, Organisation von Expertentreffen sowie Einbringung spezifischer VN-Resolutionen. Zur Förderung konkreter Maßnahmen der Projektarbeit ist Deutschland im Rahmen der in New York tagenden Gruppe interessierter Staaten (GIS – Group of Interested States) engagiert. Die EU und ihre Mitgliedstaaten gehören mit ihrem Engagement im Kleinwaffenbereich zu den wichtigsten Akteuren weltweit. Bereits in der 2003 im Auftrag des Hohen Vertreters der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, erstellten und von ihm dem Europäischen Rat vorgelegten Euro- päischen Sicherheitsstrategie wird die Gefahr der illega- len Kriminalität am Beispiel des unerlaubten Handels mit Klein- und Leichtwaffen thematisiert. Im Dezember 2005 verabschiedete der Europäische Rat die EU-Klein- waffenstrategie, deren Umsetzung einen Schwerpunkt der deutschen EU-Präsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 bildete. Zuletzt hat der Rat sich über eine Maßnahme der EU zur Bekämpfung des unerlaub- ten Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen auf dem Luftweg (Ratsdokument 8679/10 vom 29. Oktober 2010) geeinigt. Deutschland engagiert sich darüber hi- naus auch im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE. Die OSZE hat bereits im November 2000 das Dokument über Klein- waffen und leichte Waffen verabschiedet, das gemein- same Ausfuhr- und Überschusskriterien aufstellt, regio- nale Transparenz von Kleinwaffentransfers schafft und die Grundlage für einen umfassenden Informationsaus- tausch bildet. Im Rahmen einer von Deutschland finan- ziell unterstützten zweitägigen Konferenz im September 2009 wurden noch bestehende Defizite und mögliche Schritte zur Verbesserung der Umsetzung des OSZE- Kleinwaffendokuments identifiziert. Deutschland enga- giert sich auch bilateral vielfältig im Kleinwaffenbe- reich. Einen Schwerpunkt bildet z. B. die Projektarbeit in Subsahara-Afrika und Osteuropa sowie die enge Zu- sammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Arabischen Liga, AL, um das Thema Kleinwaffenkontrolle in der Region stärker zu verankern. Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements in der Kleinwaffenkontrolle auf allen Ebenen sowie auf- grund der positiven Erfahrungen der deutschen Export- kontrollpraxis, die nicht nur dem in Europa üblichen System entspricht, sondern darüber hinaus als wirksa- mes Kontrollsystem anerkannt ist und weltweit hohes Ansehen genießt, ist der Antrag der Fraktion Die Linke „Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenher- stellers verbieten“, abzulehnen. Rolf Hempelmann (SPD): Die Kontrolle des Ex- ports von Kriegswaffen ist ein Thema, mit dem sich die SPD-Bundestagsfraktion schon sehr lange beschäftigt. Bereits in den 70er-Jahren wurden Grundsätze der Rüs- tungs- und Waffenexportkontrolle formuliert, die bis heute gelten. Schon aus unserer eigenen Vergangenheit fühlen wir uns einer restriktiven Rüstungs- und Waffen- exportpolitik verpflichtet. Geregelt ist der Export von Rüstung und Waffen im Außenwirtschaftsgesetz, im Kriegswaffenkontrollgesetz und in den „Politischen Grundsätzen der Bundesregie- rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“. Bei Rüstungsexporten in andere Län- der als EU-Mitgliedstaaten, NATO-Länder und NATO- Ländern gleichgestellte Staaten hat sich die Bundesrepu- blik eben einer restriktiven Rüstungsexportpolitik ver- pflichtet. Auch in Europa schweben wir nicht im leeren Raum. Im Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP des Rates haben wir uns mit unseren Partnern in der Europäischen Union Regeln für die Kontrolle der Aus- fuhr von Militärtechnologie und Militärgütern gesetzt. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten Kriterien wie Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völ- kerrechts, Beachtung der nachhaltigen Entwicklung in 10228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) den Empfängerländern, Friedenserhalt und Konfliktver- meidung bei der Bewertung von Waffenexporten für ab- solut entscheidend. Negative Bewertungen müssen dann auch zum Entzug von Genehmigungen führen, bezie- hungsweise es dürfen dann keine Genehmigungen erteilt werden. Jedoch sehen wir bei der derzeitigen Bundesre- gierung die Aufweichungstendenzen bei der konsequen- ten Durchsetzung einer restriktiven Rüstungspolitik. Dies scheint natürlich konsequent. So spricht die Koali- tion in ihrem Koalitionsvertrag auch nicht mehr von „res- triktiver“, sondern von „verantwortungsbewusster Geneh- migungspolitik für die Ausfuhr von Rüstungsgütern“. Nun liegt uns ein Antrag der Fraktion Die Linke vor, wonach alle Waffenexporte eines Exporteurs verboten werden sollen. Ja, die Überschrift lässt mehr erwarten, als der Antrag dann hält. Es ist gut und richtig, dass wir uns hier und heute mit möglichen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz befassen. So etwas muss auf unsere Tagesordnung und in unser Bewusstsein. Gerade vor dem Hintergrund, dass es nicht das erste Mal ist, dass die Heckler & Koch GmbH – und um die geht es hier, auch bei der ein wenig verklausulierten Formulierung des Antragstitels – in die Schlagzeilen geraten ist. Schon mehrfach standen sie im Verdacht, das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffen- kontrollgesetz verletzt zu haben. Schon mehrfach tauch- ten in Spannungsgebieten Waffen von ihnen auf. In diese Gebiete dürfen keine Waffen geliefert werden. Hinter- grund dieser Regelung ist, dass, wer Waffen in ein Span- nungsgebiet an Konfliktparteien liefert, sich mindestens faktisch zur Konfliktpartei macht, weil er den Konflikt sehr konkret unterstützt. Bei den vorherigen Malen er- härteten sich die Vorwürfe nicht zu einem konkreten Strafdelikt. Hier handelt es sich derzeit um ein schwe- bendes Verfahren. Die Durchsuchungen waren im De- zember, deren Ergebnisse werden erst noch ausgewertet. Diesbezüglich sollten wir die Ermittlungen der Staatsan- waltschaft abwarten. Jedoch muss schon jetzt beachtet werden, dass nach den Grundsätzen der Bundesregierung zum Export von Kriegswaffen Zuverlässigkeit des Exporteurs ein wichti- ges Kriterium zur Erteilung der Exportgenehmigung ist. Die Bundesregierung hat nach eigener Aussage die Be- arbeitung von Anträgen, die das Unternehmen Heckler & Koch für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Mexiko gegenwärtig gestellt hat, ausgesetzt. Die Frage, die sich hier stellt: Wie weit ist die Fortsetzung von möglichen kriminellen Aktivitäten eingeschränkt, wenn nur die Neuerteilung von Genehmi- gungen an Heckler & Koch nach Mexiko nicht weiter er- folgt, erteilte Genehmigungen aber fortbestehen und Ge- nehmigungen zum Export in andere Länder erteilt werden. Rüstungs- und Waffenexport ist ein hochsensibles Thema, bei der Kontrolle geht es auch um unser außen- politisches Ansehen – um das außenpolitische Ansehen Deutschlands. Laufende staatsanwaltschaftliche Ermitt- lungen zu möglichen Verstößen gegen das Außenwirt- schafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz führen trotz des Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung zu Zwei- feln an der Zuverlässigkeit des Exporteurs. Und, weil dieses Thema so hochsensibel ist, ist es dann nicht kon- sequent, auch bestehende Genehmigungen für die Dauer des Verfahrens auszusetzen und keine neuen Genehmi- gungen zu erteilen? Da gehen unsere Vorstellung deut- lich über die im vorliegenden Antrag formulierte Auffor- derung hinaus. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht aber noch ein an- deres Problem. Wir finden, die Informationspolitik der Bundesregierung ist unzureichend. Seit April 2010 er- mittelt die Staatsanwaltschaft. Die Durchsuchungen fan- den im Dezember 2010 statt. Aber erst auf die Anfrage der Linken äußert sich die Bundesregierung im Januar 2011 zu der Problematik. Das ist zu spät und, wenn man sich die Antworten der Bundesregierung ansieht, zu we- nig. Wenn im Bereich des Waffen- und Rüstungsexpor- tes solche Probleme mit einem Exporteur auftreten, muss eine unverzügliche Mitteilung an das Parlament er- folgen. In diesem hochsensiblen Bereich müssen wir über bessere Beteiligungs- und Informationsformen des Parlaments nachdenken. Wir können das nicht allein und zu 100 Prozent der Exekutive überlassen. Diesen Antrag zum Anlass nehmend sollten wir uns daher über eine ef- fiziente Beteiligung des Parlaments Gedanken machen. Zwar ist die Genehmigung von Rüstungsexporten Sache der Exekutive, aber uns obliegt die Kontrolle, und ohne umfangreiche Informationen kann keine wirkliche Kon- trolle erfolgen. Dabei müssen wir natürlich beachten, Geschäftsgeheimnisse, nicht zu publizieren und uns als Parlament nicht zu überlasten. Aber auch ein anderer Gesichtspunkt erscheint uns wichtig: Es besteht immer noch ein Problem in der Transparenz, wie viele Waffen nun exportiert werden. Zwar wird im Rüstungskontrollbericht dargestellt, für welche Anzahl von Waffen Genehmigungen erteilt wur- den. Es wird aber nicht erhoben und kontrolliert, wie viel letztendlich davon exportiert wird. Diese Lücke zwi- schen genehmigten Waffenexporten und tatsächlich ex- portierten Waffen muss geschlossen werden. Wir brau- chen eine valide Erhebung der tatsächlichen Zahlen. Es gibt also viel zu besprechen und zu tun. Das sollten wir im zuständigen Ausschuss machen. Die Bundesre- gierung steht in der Pflicht, uns ausführliche Auskünfte zu erteilen und uns Vorschläge zu unterbreiten, wie eine valide Zahlengrundlage erlangt und wie in Zukunft das Verfahren zu einer effektiven Zusammenarbeit verbes- sert werden kann. Klaus Breil (FDP): Die Frage, ob die Oberndorfer Firma unter Verstoß gegen das deutsche Exportkontroll- recht Waffen nach Mexiko geliefert hat, ist keineswegs geklärt – so wie es die Linke uns suggerieren will. Viel- mehr ist sie Gegenstand eines laufenden staatsanwalt- schaftlichen Ermittlungsverfahrens. Bei jedem Antrag auf Ausfuhrgenehmigung findet eine strikte Einzelfallprüfung statt. Nur dann, wenn es keine Zweifel am Endverbleib der zu liefernden Kriegs- waffen gibt und die notwendigen rechtlichen und politi- schen Voraussetzungen gegeben sind, werden Genehmi- gungen erteilt. Die von den Linken geforderte Untersagung aller Ausfuhren käme einer Vorverurtei- lung gleich und ist in der Forderung maßlos. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10229 (A) (C) (D)(B) In Deutschland entscheiden Gerichte über Schuld und Unschuld. Bis dahin herrscht die Unschuldsvermutung. Sie ist die Grundlage eines jeden Rechtsverfahrens. Of- fensichtlich hat sich dies bei den Linken noch nicht he- rumgesprochen. Oder schimmert hier vielmehr der wahre Kern der Linken unter einer demokratischen Lackschicht hervor? Frei nach dem Motto: Wer schuld ist, bestimmt immer noch die Partei und nicht irgendwel- che Gerichte. Würde man schließlich der verdrehten Lo- gik eines Generalverbotes folgen, müßte konsequenter Weise die Fraktion der Linken bei jedem vagen Stasi- verdacht gegen eines ihrer Mitglieder sofort die Arbeit einstellen und die Fraktion auflösen. Im Übrigen hat es in der Vergangenheit bereits mehr- fach Versuche gegeben, dem Unternehmen in Oberndorf angeblich illegale Rüstungsexporte anzuhängen. Sie alle waren haltlos und sind im Sande verlaufen. Zudem rich- tet sich das Ermittlungsverfahren nicht gegen das Unter- nehmen selbst, sondern gegen bestimmte Personen, die für das Unternehmen tätig sind oder waren. Daher kön- nen selbst im Falle eines erwiesenen Verstoßes gegen au- ßenwirtschafts- oder kriegswaffenkontrollrechtliche Vor- schriften nur diese Personen belangt werden und nicht das Unternehmen selbst – sofern die betroffenen Perso- nen nicht mehr an verantwortlicher Stelle im Unterneh- men tätig sind. Vielmehr scheint mir das Ziel der Linken ein ganz an- deres zu sein: Es geht ihr um die Schwächung unlieb- samer Unternehmen und um die Destabilisierung des Sicherheitsgefüges im Ganzen: Schließlich beliefert das Oberndorfer Unternehmen die Streit- und Sicherheits- kräfte von NATO- und EU-Staaten. Diese sind auf eine permanente Ersatzteilversorgung angewiesen. Die Ver- sorgung aufrechtzuerhalten ist bei einem Exportverbot undenkbar. Das Vertrauen in die Lieferzuverlässigkeit der gesamten deutschen Rüstungsindustrie sowie in die Berechenbarkeit der deutschen Rüstungsexportpolitik würde erschüttert. Zudem ist das Unternehmen wichtiger Lieferant für die Bundeswehr und die Polizeien in Deutschland. Eine erzwungene Beschränkung auf den Binnenmarkt durch ein völliges Exportverbot hätte zur Folge, daß die Fertigungskapazitäten nicht mehr ausge- lastet werden könnten. Das Unternehmen wäre wirt- schaftlich nicht mehr zu führen. Arbeitsplatzverluste und gegebenenfalls eine völlige Schließung des Unterneh- mens wären die Folge. Allein hierum geht es den Lin- ken. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Men- schenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät- zen für multinationale Unternehmen stärken – Antrag: Verpflichtender Menschenrechts- schutz bei den OECD-Leitsätzen für multi- nationale Unternehmen – Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatzta- gesordnungspunkt 7) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Fast monatlich hören wir in den Medien, dass Textilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum der Textilproduktion für Deutschland, auf die Straße gehen und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Landes, in denen auch zahlrei- che westliche Firmen wie zum Beispiel H&M und Levi Strauss produzieren lassen, protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Versammlungsrechte massiv ein- schränken. Ganz klar gesagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedin- gungen, wie wir sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzeptabel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtlichen Grundsätze unserer westlichen Industriegesellschaft. Richtig verstandene Unterneh- mensverantwortung deutscher und internationaler Un- ternehmen muss sich an den tatsächlichen Produktions- bedingungen in unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verantwortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deutschen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unternehmensverantwortung positiv auch für die Ar- beitsbedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unterneh- men muss erst einmal bewusst gemacht werden, wel- chen wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunternehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die neue Form des „Social Busi- ness“ einen Mehrwert für jedes Unternehmen hat. Man- che haben diesen Weg bereits kräftig eingeschlagen; ich möchte an dieser Stelle unter anderem OTTO, Puma, hessennatur oder adidas benennen. Diese Unternehmen haben bei dem CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stif- tung Warentest positiv abgeschnitten. Gerade die OTTO AG, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis Hamburg- Wandsbek, spielt eine besondere Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von „Social Business“ mit dem Friedensnobelpreisträger Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangladesch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich akzeptable Arbeitsbedingun- gen, erfüllt. Diesen Schritt unternimmt die OTTO AG gerade unter dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social Business“-Vorhaben in Afrika – Vorhaben, bei denen für Baumwollfarmer Know-How-Transfer geleistet wurde, damit sie zukünftig effektiver anbauen können, Vorha- ben, bei denen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschenrechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit diesem Thema be- schäftigt, gerade das Engagement solcher Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervorzuheben. Dieser 10230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) Weg des positiven Hervorhebens oder, im Gegenteil, des öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger-Stellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK geschehen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben dürfen und würde mir wünschen, dass gerade auch die Grünen posi- tive Leuchtturmprojekte als Chance sehen, sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu organisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verantwortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deutschen Mittelstand immer wieder grundsätzlich moralisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Dies sollte sich die Opposition endlich einmal hinter die Ohren schrei- ben. Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unse- ren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den interna- tionalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zu- sammenhang besonders auf die Bemühungen der Ar- beitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht, mit dem Aktionsplan CSR eine neue Benchmark für die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen. Ziel der Initiative ist es, verstärkt kleine und mittel- ständische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleich- zeitig soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerkennung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bun- desregierung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will. Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vor- getragen. Damit ist klar, welchen Weg die Bundesrepu- blik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft die Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in meiner Fraktion, sondern im gesamten Haus sehr unterschiedliche Auffas- sungen von Sinn und Zweck der Leitlinien bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Verbesserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die Bundesregierung sich der Überarbeitung der Leitsätze der OECD positiv nähert. Es ist zu beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige Instrument sind, das die Förderung glo- baler Unternehmensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leitlinien sein – gerade auch im Hin- blick auf die Vorbildfunktion gegenüber anderen Part- nern. Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/ CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Dis- kussionsprozess angesprochen werden müssen. Die Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in einem eigenen Ka- pitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausge- weitet werden können. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unter- nehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen mit nicht nachhaltigem Wirtschaften von staatlichen Förder- instrumenten eine Zeit lang ausgeschlossen werden. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständig- keiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Refe- rat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entste- henden Interessenkonflikte dürfen nicht sein und unter- graben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesre- gierung die Leitlinien umsetzen will. Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschut- zes für Geschädigte gegenüber den internationalen Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusam- menhang kommen die Instrumente der deutschen Ent- wicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftun- gen im Ausland ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der ge- meinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerlän- dern in Regierungsverhandlungen verankert. Der Grund ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstandards in den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es auch nicht gerecht, dass deutsche und in- ternationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationalen Gerichten verklagt werden können. Es muss in der Selbstverantwortung der Partnerländer lie- gen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort ermöglicht, Recht erst einmal im eigenen Land zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO, die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhalti- ger und einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtli- che Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müs- sen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung er- kennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhalten. Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwi- schen importierenden deutschen und internationalen Un- ternehmen geben darf. Die Bundesregierung nimmt sich dieser Maxime an; es ist der moralische Anspruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen. Ullrich Meßmer (SPD): 2011 ist ein wichtiges Jahr im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. 2011 können in entscheidender Weise die Weichen für die Stärkung der Menschenrechte und den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10231 (A) (C) (D)(B) weiteren Ausbau der gesellschaftlichen Unternehmens- verantwortung gestellt werden. In Deutschland liegt seit einigen Monaten der Aktionsplan zur gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung, kurz CSR, vor, dessen Umsetzung in diesem Jahr erfolgen wird. CSR oder Cor- porate Social Responsibility stellt die unternehmerische Gesellschaftsverantwortung in den Punkten Menschen- und Arbeitnehmerrechte, Gesellschaft und Umwelt auf freiwilliger Basis dar. Im Juni wiederum wird der UN- Menschenrechtsrat über die sogenannten Guiding Prin- ciples von John Ruggie, dem UN-Sonderberichterstatter für Wirtschaft und Menschenrechte, abstimmen. Zur sel- ben Zeit wird auch die Revision der OECD-Leitsätze ab- geschlossen sein. Die OECD-Leitsätze beinhalten Vorgaben zur Einhal- tung von Sozial- und Arbeitsstandards, zur Korruptions- bekämpfung, zur Steuerehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz. Die Leitsätze stehen an der Schnittstelle zwischen verbindlichen und freiwilligen Ansätzen und gelten derzeit als das weitreichendste In- strument zur Stärkung der globalen Unternehmensver- antwortung. Für die 31 Mitgliedstaaten der OECD sowie für 11 weitere Staaten, die sich den Leitsätzen ange- schlossen haben, sind diese verbindlich; für Unterneh- men sind sie freiwillig. Aufgrund der Leitsätze haben bereits 42 Staaten sogenannte nationale Kontaktstellen eingerichtet, die die Leitsätze implementieren, über ihre Einhaltung wachen und Beschwerden entgegennehmen. John Ruggie sowie viele Nichtregierungsorganisatio- nen hatten seit längerem den Reformbedarf der Leitsätze unterstrichen und auf verschiedene Schwachstellen hin- gewiesen. Gleichzeitig betonten sie aber auch ihr Poten- zial, die Regelungslücke zwischen den zunehmenden Rechten von Unternehmen und den fehlenden korres- pondierenden Pflichten zu schließen. Mit seinem Rah- menwerk Guiding Principles will Ruggie zwischen den bestehenden teils freiwilligen, teils verbindlichen Nor- men vermitteln. Sein Rahmenwerk beruht auf drei Säu- len: erstens Protect, also die staatliche Verpflichtung, die Menschenrechte gegenüber Verletzungen Dritter zu schützen; zweitens Respect, also die Verantwortung von Unternehmen, die Menschenrechte zu respektieren; drit- tens Remedy, also Zugang der Opfer zu effektiven Be- schwerde- und Abhilfemaßnahmen. In diesem Kontext treten die Schwachstellen der Leit- sätze deutlich zutage und bewegen sich zugleich die Ver- handlungen über ihre Revision. Um folgende Schwach- stellen geht es im Wesentlichen: erstens der zu schwache Bezug zu den Menschenrechten; zweitens die stark divergierende Ausstattung, Anbindung und Arbeitsweise der nationalen Kontaktstellen; drittens der zu große Spielraum beim Investitionsbezug; viertens die fehlen- den Sanktionsmöglichkeiten; fünftens die fehlende Transparenz in der Steuerlegung der Unternehmen. Kommen wir zu den Menschenrechten. Obwohl die Einhaltung der Menschenrechte für verantwortliches Unternehmerhandeln wesentlich ist, haben die Men- schenrechte bislang nur Eingang in die Allgemeinen Grundsätze der OECD-Leitsätze gefunden. Auch wer- den die Menschenrechte durch den Zusatz „im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen und Engage- ments der Regierung des Gastlandes“ eingeschränkt. Das widerspricht ihrem universellen Gültigkeitsan- spruch und bleibt hinter dem inzwischen international erzielten Konsens über die menschenrechtliche Verant- wortung von Unternehmen zurück. Umso mehr begrüßt der Deutsche Bundestag, dass die überarbeiteten OECD- Leitsätze ein eigenes Kapitel Menschenrechte haben werden. Wir als SPD-Fraktion hoffen darüber hinaus, dass das Menschenrechtskapitel nicht nur eine Hilfestel- lung für Unternehmen darstellt, sondern als Verpflich- tung für unternehmerisches Handeln betrachtet wird. Kommen wir zu den Problemen mit den nationalen Kontaktstellen, den sogenannten NKS. Hauptproblem sind die Zulassung von Beschwerdefällen und ihre Bear- beitung. Besonders in Deutschland werden Beschwerden häufig mit dem Hinweis auf den fehlenden Investitions- bezug, den sogenannten Investment Nexus abgewiesen. Auch die Ansiedelung der deutschen NKS im Bundes- wirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsin- vestitionen ist nicht unproblematisch. Interessenkon- flikte sind hier vorprogrammiert. Im Rahmen der Überarbeitung wäre es daher sinnvoll, alle NKS auf Mindeststandards zu verpflichten, was ihre Unabhängig- keit und ihre Arbeit im Sinne der Betroffenen anbelangt. Auch die deutsche NKS sollte eine unabhängige Struktur bekommen, etwa nach dem Vorbild der niederländischen NKS, in der Experten verschiedener Fachrichtungen zu- sammenarbeiten. Ein weiteres Problem stellt der bereits erwähnte In- vestment Nexus dar. Der Investment Nexus verhindert häufig, dass die Leitsätze auch bei den Zulieferketten multinationaler Unternehmen angewendet werden, da viele Kontaktstellen – so auch die deutsche – Beschwer- den nur dann akzeptieren, wenn ein direkter Investitions- bezug nachweisbar ist. Hier bedauert die SPD-Fraktion, dass die von der Bundesregierung vertretene Position nur in „sehr begrenzten Einzelfällen“ eine Ausdehnung der OECD-Leitsätze auch auf die Lieferkette vorsieht. Wir fordern, dass der Geltungsbereich und die Wirksam- keit der OECD-Leitsätze über den Investment Nexus hi- naus erweitert wird, damit die OECD-Leitsätze auch auf die Lieferkette angewendet werden können. Darüber hi- naus ist es unabdingbar, dass ein Verstoß gegen die Leit- sätze für das jeweilige Unternehmen auch Konsequen- zen haben muss. Das einzige Druckmittel der OECD-Leitsätze sind so- genannte Abschlusserklärungen, die die nationalen Kon- taktstellen bei Verletzungen der Leitsätze erstellen. Hier spricht die NKS Empfehlungen an das Unternehmen aus. Hält sich Unternehmen nicht an die Empfehlungen, gibt es – von einer möglichen Rufschädigung einmal ab- gesehen – keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten. Das ist unbefriedigend, darin sind sich Nichtregierungsorga- nisationen und zum Teil sogar Vertreter des CSR- Forums einig. Ein Verstoß gegen die Leitsätze sollte zukünftig für Unternehmen Konsequenzen haben. Bei der Überarbeitung könnten Sanktionsmechanismen vereinbart werden wie der zeitweilige Ausschluss von staatlichen Exportgarantien oder anderen staatlichen Un- 10232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) terstützungsmaßnahmen für ausländische Direktinvesti- tionen und für den Außenhandel. Als Letztes fordern wir die Bundesregierung auf, bei der Überarbeitung auf länderbezogene Rechnungslegung der Unternehmen zu bestehen, damit globales unterneh- merisches Handeln transparent bleibt und problemati- sche Transaktionen – etwa über Steueroasen – sichtbar werden. Ziel muss es sein, die OECD-Leitsätze zu einem schlagkräftigen Instrument zur Stärkung der globalen Unternehmensverantwortung zu machen, damit die Ein- haltung der Menschenrechte für das gesamte unterneh- merische Handeln verpflichtend wird. Serkan Tören (FDP): Wir lehnen die vorgelegten Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke ab. Die Anträge sind weder substan- tiiert, noch bieten sie inhaltlich etwas Neues und greifen in ein laufendes Verfahren ein, dessen Abschluss für Mitte 2011 geplant ist. Worum geht es genau? Die OECD-Leitsätze sind der weltweit einzige multilaterale und umfassend anerkannte Kodex zur Förderung globa- ler Unternehmensverantwortung. Derzeit werden die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines Revisionsverfahrens überprüft. In dem Revisionsprozess werden sowohl Menschenrechts- aspekte, Zulieferbeziehungen als auch die Funktionalität der nationalen Kontaktstellen und Verfahrensaspekte des Beschwerdeverfahrens als besondere Themen der Über- arbeitung aufgegriffen. Die Grünen und die Linken neh- men die Überarbeitung der OECD-Leitsätze nun zum Anlass für einen Antrag, der eine Reihe von überholten Forderungen enthält. All diese Forderungen sind aus Sicht der FDP vollkommen überflüssig. Denn die christ- lich-liberale Koalition verfolgt unter anderem – wie in den Anträgen gefordert – bereits das Ziel, dass die Men- schenrechte ein eigenes Kapitel in den OECD-Leitsätzen erhalten. Dies, sehr verehrte Kollegen der Opposition, hat ein Vertreter der Bundesregierung am 11. November 2010 bei der Unterrichtung zu den OECD-Leitsätzen im MR-Ausschuss auch hinreichend dargestellt. Daher ist Ihr Antrag umso erstaunlicher. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP strebt an, dass der sogenannte Investment Nexus beibehalten wird. Dies ist aus Sicht der FDP insofern sachgerecht, als dass zu- erst eine Verbreitung der OECD-Leitsätze anzustreben ist statt eine Vertiefung. Bislang haben sich alle 31 OECD-Staaten und 11 weitere Industrienationen zu den OECD-Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung auf Staaten, die einen hohen Anteil an Unternehmen aufwei- sen, welche etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger Schritt. Dazu zählen Länder wie die kommen- den Wirtschaftsmächte Indien und China. Eine Vertie- fung der Leitsätze würde von einem Beitritt abschre- cken. Darüber hinaus würde es Unternehmen aus Staaten, die den OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnachteile verschaffen. Sanktionsmechanis- men, wie von der Opposition in den Anträgen vorge- schlagen, stellen ebenso eine kontraproduktive Verschär- fung der OECD-Leitsätze dar. Diese Sanktionsmecha- nismen sind hinderlich für das Ziel, die Akzeptanz der OECD-Leitsätze zu erhöhen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermutigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze für multi- nationale Unternehmen sind die Kompetenzen, die Orga- nisation und die Anbindung der nationalen Kontakt- stellen ohnehin ein zentraler Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung der Opposition aus Sicht der Liberalen ebenfalls hinfällig. Im Lichte dieser Ausfüh- rungen sind die Anträge der Grünen und der Linken als vollkommen überflüssig abzulehnen. Annette Groth (DIE LINKE): Schon bei der Verab- schiedung der OECD-Leitsätze für multinationale Unter- nehmen im Jahr 1976 gab es deutliche Kritik der ent- wicklungspolitischen Organisationen an der fehlenden Verbindlichkeit der Leitsätze. Aus diesem Grund wird von den entwicklungspolitischen Initiativen und Organi- sationen seit vielen Jahren über die notwendige Weiter- entwicklung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen diskutiert. Germanwatch, Misereor und Transparency Deutschland fordern, dass die OECD-Leit- sätze endlich zu einem wirksamen Instrument gegen un- ternehmerisches Fehlverhalten ausgestaltet werden müs- sen. Im Zentrum ihrer Kritik steht der fehlende verbindliche Charakter der OECD-Leitsätze. Auch wenn transnationale Unternehmen Fehlverhalten an den Tag legen, führt eine Ahndung durch die nationalen Kontakt- stellen zu keinerlei direkten Konsequenzen für die be- troffenen Unternehmen. Warum brauchen wir verbindliche Regeln für welt- weites unternehmerisches Handeln? Damit sich Schick- sale wie das der 18-jährigen Näherin Fatema Akter aus Bangladesch nicht wiederholen. Fatema brach im De- zember 2009 während ihrer Schicht tot zusammen. Sie musste an sieben Tagen in der Woche 13 bis 15 Stunden in der Textilfabrik in der Hafenstadt Chittagong arbeiten und pro Stunde bis zu hundert Jeanshosen reinigen. Rund 80 Prozent der in der Fabrik hergestellten Textilien wurden für Metro produziert, ein deutsches Unterneh- men, für das die OECD-Leitsätze gelten. Für die Fraktion Die Linke muss unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeits- und Sozialstandards, aber auch Umweltschutz- und Verbraucherschutz- kriterien verbunden werden. Die Leitsätze haben hier lediglich erste Ansätze geliefert. Zwar wird in vielen be- triebswirtschaftlichen Lehrbüchern von „guter Unter- nehmensführung“ und „Best-Practice-Beispielen“ ge- schwärmt. Die Realität der Arbeit vieler transnationaler Unternehmen wird jedoch in vielen Regionen der Welt von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, fehlender Ge- sundheitsversorgung für die Beschäftigten und katastro- phalen Umweltauswirkungen begleitet. Freiwillige Selbstverpflichtungen haben sich in der Praxis als völlig unzureichend erwiesen, da für viele transnationale Un- ternehmen vor allem der Gewinn und nicht die men- schenrechtlichen Aspekte ihrer Arbeit im Vordergrund stehen. Nun besteht mit der Überarbeitung der OECD-Leit- sätze die Möglichkeit, die Leitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Sicherung von Menschenrechten in mul- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10233 (A) (C) (D)(B) tinationalen Unternehmen weiterzuentwickeln. Sowohl der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als auch der SPD-Antrag haben positive Ansätze. Beide bleiben in ihren konkreten Forderungen jedoch halbherzig. Positiv ist, dass sich alle vorliegenden Anträge für eine Verände- rung der bisherigen Organisation der nationalen Kon- taktstellen einsetzen. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig von staatlichen Stellen und Ministerien wer- den. Die beiden anderen Anträge bleiben jedoch deutlich hinter den Forderungen der Linken zurück. Sowohl bei SPD als auch bei Grünen fehlt eine klare Forderung nach einer besseren personellen Ausstattung der nationalen Kontaktstellen. Wir sehen hierin eine wichtige Voraus- setzung für eine effektivere Arbeit der nationalen Kontaktstellen. Zurzeit stehen riesige Apparate der transnationalen Konzerne einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kontaktstellen gegenüber. Chan- cengleichheit in der Arbeit ist so in keiner Weise gege- ben. Wenn wir die nationalen Kontaktstellen als wirksa- mes Instrument zur Bekämpfung von Fehlverhalten weiterentwickeln wollen, kann dies nur mit angemesse- ner Personalausstattung geschehen. Deutlich unterscheiden sich die Anträge auch in der Forderung nach Einbeziehung von Gewerkschaften, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen. Ein- zig die Linke setzt sich dafür ein, dass in Zukunft die na- tionalen Kontaktstellen paritätisch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften, Ent- wicklungs- und Menschenrechtsorganisationen besetzt werden. Wir sind davon überzeugt, dass nur durch die direkte Einbeziehung von unabhängigen Vertreterinnen und Vertretern in die nationalen Kontaktstellen eine un- abhängige Kontrolle der transnationalen Unternehmen erreicht wird. Die Linke tritt dafür ein, dass sich multinationale Un- ternehmen auch für die Verstöße ihrer Subunternehmen und Zulieferer gegen die Leitsätze verantworten müssen. Der Investment Nexus muss hierbei so weiterentwickelt werden, dass auch alle selbstständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe in den Geltungsbereich der Leit- sätze fallen und die bisherige Beschränkung der Leit- sätze auf grenzüberschreitende Investitionstätigkeiten auf alle Investitionen und Lieferbeziehungen der multi- nationalen Unternehmen erweitert wird. Die Linke ist davon überzeugt, dass Betroffene die Möglichkeit haben müssen, bei Fehlverhalten von Unternehmen ihre Forde- rungen individuell einklagen zu können. Dies setzt je- doch voraus, dass die von Unternehmen aus der EU ge- schädigten Bürgerinnen und Bürgern auch einen ungehinderten und kostenfreien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhalten, auch wenn sie keine EU-Bür- gerinnen und -Bürger sind. Mit der Revision der OECD- Leitsätze haben wir die große Chance, einen qualitativen Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegen- über multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung aufgrund einer übertriebenen Rücksichtnahme auf die Interessen der Großkonzerne dem nicht verweigert. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Vorfeld des Fackellaufes zu den Olympischen Spie- len in China wurden in der Stadt Kashgar in Xinjiang zahlreiche Uiguren willkürlich festgenommen. Diese Festnahmen gingen nicht etwa auf Straftaten zurück, sondern dienten lediglich dazu, befürchtete Proteste an- lässlich des Fackellaufs im Keim zu ersticken. Die Volkswagen AG ließ sich von diesen Menschenrechts- verletzungen im Umfeld des Fackellaufs nicht beirren und unterstützte den umstrittenen sogenannten Lauf der Harmonie großzügig. Zur Rechenschaft gezogen wurde Volkswagen für diese Entscheidung nie. Nun gelten in Deutschland wie auch in allen anderen OECD-Mitgliedstaaten seit 1976 Leitsätze für Unterneh- men. Es sollte uns sehr nachdenklich stimmen, dass diese Leitsätze das bisher am weitreichendste Instrument für die Stärkung der globalen Unternehmensverantwor- tung sind. Denn im Bemühen um eine bessere men- schenrechtliche Bindung von Unternehmen sind sie ein stumpfes Schwert. Dies liegt nicht allein daran, dass die Leitsätze für Unternehmen nicht verpflichtend sind, son- dern auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen. Die Menschenrechte haben in den Leitsätzen bisher keinen festen Platz. Nur im Grundsatzkapitel werden sie einmal kurz erwähnt. Dort heißt es, Unternehmen sollten die „Menschenrechte der von ihrer Tätigkeit betroffenen Menschen respektieren“, dies allerdings nur, wie es dort heißt, „im Einklang mit den internationalen Verpflich- tungen und Engagements der Regierung des Gastlands“. In der Praxis hieße dies beispielweise, dass internatio- nale Unternehmen weiterhin billigend in Kauf nehmen dürfen, dass ihre Subunternehmen in Kolumbien in still- schweigender Komplizenschaft mit Guerillas stehen, die für den Mord an Tausenden von Gewerkschaftern ver- antwortlich sind, und das nur, weil Kolumbien die grundlegenden Konventionen zum Schutz von Gewerk- schaftern nie unterzeichnet hat. Eine solch aufgeweich- ter Grundsatz ist das Papier nicht wert, auf dem er steht, und hat mit menschenrechtlicher Verpflichtung nichts zu tun. Obwohl in den Leitsätzen also ohnehin viel fehlt und ihre Einhaltung vom guten Willen der Unternehmen ab- hängt, wird in Deutschland noch nicht einmal das ge- ringe Potenzial dieser schwachen Leitsätze voll ausge- schöpft. Wir haben in Deutschland zwar eine sogenannte Nationale Kontaktstelle, die Beschwerden bei Missach- tung der Leitsätze bearbeiten soll. Doch das anfangs ge- nannte Beispiel veranschaulicht, dass wir es bei der deutschen Nationalen Kontaktstelle mit einem so gut wie zahnlosen und zudem äußerst lethargischen Tiger zu tun haben. Die meisten Beschwerden, die bei der Nationalen Kontaktstelle in den letzten Jahren eingingen, wurden abgelehnt. Häufig interpretierte die Kontaktstelle den Geltungsbereich der Leitsätze so willkürlich, dass sie sich in vielen Fällen als nicht zuständig bezeichnen konnte, so auch im Falle der Beschwerde gegen die Volkswagen AG. Gerade einmal drei Beschwerden hat die Kontaktstelle in den zehn Jahren ihres Bestehens als zulässige Beschwerdefälle angenommen, und das, ob- wohl die Beschwerdeführer, darunter viele renommierte NGOs, ihrerseits sehr glaubwürdig Verstöße gegen die Leitsätze geltend gemacht haben. Diese Arbeitsbilanz der Kontaktstelle ist ein Armutszeugnis für die deut- 10234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) schen Bemühungen um eine stärkere Unternehmensver- antwortung und verdient die Bezeichnung Kontrolle nicht. Die Leitsätze werden nun nach langer Zeit wieder überarbeitet. Dies bietet die Gelegenheit, die Leitsätze endlich menschenrechtlich zu schärfen, sie auf alle Ge- schäftstätigkeiten von Unternehmen auszuweiten und die nationalen Kontaktstellen zu echten Kontrollorganen zu machen. Die Bundesregierung ist nun gefordert, sich genau dafür einzusetzen. Denn eine grundlegende Über- arbeitung der Leitsätze ist unumgänglich, wenn wir wol- len, dass massive Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen der Vergangenheit angehören. Doch selbst die besten Leitsätze nützen nicht viel, wenn es keine Möglichkeiten gibt, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, sie zu überwachen und Verstöße zu sanktionieren. Es kann nicht angehen, dass Unterneh- men, die direkt oder indirekt durch ihre Zulieferer Men- schenrechte verletzen oder Menschenrechtsverletzun- gen zumindest billigend in Kauf nehmen, weiterhin Förderungen des deutschen Staates erhalten, beispiels- weise in Form von Exportbürgschaften. Machen wir uns keine Illusionen, freiwillige Selbstverpflichtungen von Unternehmen, wie sie den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition vorschweben, reichen nicht aus. Für Unternehmen muss es teuer werden, gegen Menschen- rechte zu verstoßen. Nur so werden wir langfristig einen wirkungsvollen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen erreichen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Tagesord- nungspunkt 15) Norbert Barthle (CDU/CSU): Die Einführung der für Bund und Länder geltenden Schuldenbremse in das Grundgesetz ist eine haushalts- und finanzpolitische Leistung der großen Koalition der letzten Legislaturpe- riode, die für die nachhaltige Stabilität der öffentlichen Haushalte von zentraler und richtungsweisender Bedeu- tung ist. Die gemeinsam mit der SPD gefundene Rege- lung kann sich sehen lassen, wie nicht zuletzt die aktuel- len Diskussionen auf EU-Ebene zeigen. Um dauerhaft die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu stabili- sieren und damit die gemeinsame Währung Euro zu si- chern, werden vergleichbare Regelungen auch in den Partnerstaaten angeregt, wenn nicht sogar gefordert. Die deutsche Schuldenbremse könnte so ein Exportschlager werden, ohne dass dies in unserer Intention lag. Die rechtlichen Grundlagen der Schuldenbremse sind unter dem damaligen SPD-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück verabschiedet worden. Es lohnt daher, sich die Situation zum Zeitpunkt der Einführung der Schul- denbremse nochmals vor Augen zu führen. Der Entwurf des Bundeshalts 2010, den Peer Steinbrück noch im Sommer 2009 – und damit vor der Bundestagswahl – vorlegte, sah eine Nettokreditaufnahme von 86,1 Mil- liarden Euro vor. Der zweite Entwurf des neuen Bundes- finanzministers Wolfgang Schäuble blieb leicht unter- halb dieser ursprünglichen Nettokreditaufnahme. In den Beratungen wurde dann das Soll der Nettokreditauf- nahme auf 80,2 Milliarden Euro gesenkt. Zum Zeitpunkt des Kabinettbeschlusses zum Entwurfs des Haushalts 2011 und Finanzplan bis 2013 wurde für 2010 ein Ist-Er- gebnis von 65,2 Milliarden Euro erwartet, das dann die Grundlage für die Festlegung des Abbaupfads des struk- turellen Defizits bis 2016 bildet. Der SPD-Antrag kritisiert nun diese Festlegung des Abbaupfads im Sommer 2010 anhand des damalig er- warteten Ist-Ergebnisses für die Nettokreditaufnahme und fordert ein Nachjustieren. Wir lehnen dieses Ansin- nen aus fachlichen Gründen ab und nehmen mit Verwun- derung zu Kenntnis, dass die SPD jetzt hinter den damals noch unter ihrem Bundesfinanzminister einge- führten und von ihr getragenen Regelungen zurückfällt. Diesen Sinneswandel muss sie selbst erklären. Der damals unter SPD-Riege eingeführte und heute von der SPD kritisierte Ermessungsspielraum hätte uns auch ermöglicht, das Steinbrück’sche Soll als Ausgangs- punkt nehmen zu können. Das hätte uns einen sehr viel größeren Spielraum für die Nettokreditaufnahme ermög- licht. Ähnliches gilt für den Fall, wenn wir das Soll 2010 unterstellt hätten. Wir haben jedoch darauf verzichtet und restriktiv das damals erwartete Ist-Ergebnis als Aus- gangspunkt gewählt. Die SPD wirft uns vor, wir würden uns einen Puffer anlegen, um in Zukunft zum Beispiel eine Steuersen- kung umzusetzen. Die christlich-liberale Koalition hat sich an anderer Stelle oft genug zu ihren Vorstellungen zu einer Steuersenkung geäußert, so dass ich das hier nicht wiederholen muss. Diese geht in der Tat nur dann, wenn entsprechende Handlungsspielräume erarbeitet werden. Mit der Wahl des damals erwarteten Ist-Ergeb- nisses haben wir bewusst auf „Buchungstricks“ verzich- tet. Hätten wir das Steinbrück’sche Soll unterstellt, hät- ten wir in der Tat vorgegaukelt, schon jetzt einen entsprechenden Handlungsspielraum zu haben. Da wir aber gerade darauf verzichtet haben, läuft der Vorwurf der SPD offensichtlich ins Leere. Wir werden uns den notwendigen Handlungsspielraum für eine Steuersen- kung solide erarbeiten. Denn die Union steht für eine so- lide Haushalts- und Finanzpolitik. Der Umgang mit dem Ermessungsspielraum muss auch praktisch umsetzbar sein. Ein mehr oder weniger laufendes Nachjustieren des Abbaupfads aufgrund sich laufend ändernder Parameter ist wenig hilfreich für eine nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik. Das Vertrauen in die Wirkung der Schuldenbremse wird damit nicht ge- wonnen. Vielmehr wird ein hektischer Anpassungsmara- thon eingeleitet, der am Ende niemandem hilft. Das Ergebnis wäre Willkür und damit gerade das, was mit der Schuldenbremse vermieden werden sollte. Das lehnen wir ab. Wir wollen dies dem geordneten Haus- haltsaufstellungsverfahren überlassen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10235 (A) (C) (D)(B) Unabhängig davon, wie der Abbaupfad festgelegt wird, am Ende steht das Ergebnis fest: In 2016 darf das strukturelle Defizit maximal 0,35 Prozent des Bruttoin- landsprodukts betragen. Die Wahl des Ausgangspunkts zur Festlegung des Abbaupfads ändert daran nichts. Dass sich Erwartungen nicht erfüllen, ist im praktischen Leben nicht ungewöhnlich. Dies gilt erfreulicherweise auch für das Ist-Ergebnisses 2010 für die Nettokreditauf- nahme, das wir seit wenigen Wochen kennen. Es liegt mit 44 Milliarden Euro deutlich unterhalb des damaligen Soll-Ansatzes beziehungsweise unterhalb des im Som- mer 2010 noch erwarteten Ist-Ergebnis. Dies zeigt nur die Binsenwahrheit, dass Unsicherheiten bei Planungen und Schätzungen bestehen. Welche Zahl für die Netto- kreditaufnahme hätte man denn zwischen Sommer 2010 und dem Abschluss des Haushaltsjahres als Ausgangs- punkt nehmen sollen? Letztlich ist jede Zahl mehr oder weniger gegriffen und willkürlich. Diese Willkür gilt letztlich auch für den Versuch der SPD, jetzt das Ergeb- nis nachzujustieren. Zumal der Haushalt 2011 schon ver- abschiedet ist, läuft hier ein Nachjustieren ohnehin ins Leere. Der Abbaupfad stellt eine Obergrenze für die Ent- wicklung des strukturellen Defizits dar. Die Koalition hat diese bewusst nicht ausgereizt. Wenn man aber aktu- ell die Forderungen der Opposition aus dem Vermitt- lungsausschuss um die Hartz-IV-Sätze sieht, so gewinnt man den Eindruck, dass ein Füllhorn ausgegossen wer- den soll. Wie dies dann mit dem SPD-Antrag zusam- menpassen soll, ist schon ein wenig fragwürdig. Viel- leicht sollten wir uns mal wirklich die Aufgabe machen, die finanziellen Auswirkungen all der Forderungen der Opposition zusammenzuzählen. Ich befürchte, dass man zu folgendem Ergebnis kommt: Um sie zu erfüllen, dürfte selbst ein Abbaupfad nicht ausreichen, der mit der Wahl des Steinbrück’schen Soll-Ansatzes erreicht wer- den würde. So viel zur Konsistenz von linker Politik. Die gute Situation, die letztlich das Ergebnis der gu- ten und richtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik der christlich-liberalen Koalition ist, führt überhaupt erst zur von der SPD angestoßenen Debatte. Wenn die SPD jetzt so vehement für die Nachjustierung eintritt, so frage ich mich, ob sie das auch getan hätte, wenn wir in einer ge- nau gegenteiligen Situation gewesen wären. Ich möchte die Frage in den Raum stellen: Wäre die SPD auch dann für eine Nachjustierung eingetreten, die weitere Ver- schuldungsfreiräume für die Koalition eröffnet hätte? Dies alles sind sicherlich Gedankenspiele. Aber sie zei- gen, wie richtig es ist, auf das von der SPD vorgeschla- gene Verfahren nicht einzugehen, da es am Ende doch nur zu einer willkürlichen Handhabung der Schulden- bremse führt. Die christlich-liberale Koalition blickt in der Haus- halts- und Finanzpolitik nach vorne. Das Konsolidie- rungspaket ist auf den Weg gebracht, die Konjunktur läuft gut. Dies ist alles sehr erfreulich, darf aber nicht als Anlass genommen werden, in den Konsolidierungsbe- mühungen nachzulassen. Es ist noch ein weiter Weg bis zur Einhaltung der Schuldenbremse in 2016. Die christ- lich-liberale Koalition wird den eingeschlagenen Kurs einhalten. Peter Aumer (CDU/CSU): Der Beschluss über eine Schuldenbremse war ein wichtiges Signal für die Konso- lidierung der Haushalte in der Zeit der Finanz- und Wirt- schaftskrise. Gerade die aktuelle Entwicklung auf den Finanzmärkten und die Spekulation gegen einzelne Mit- gliedsländer in der Europäischen Union zeigen, wie wichtig eine nachhaltige Haushaltspolitik ist. Und sie zeigen auch, wie zukunftsweisend die Entscheidung der damaligen Großen Koalition war, die Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern. Nun, in Zeiten der Opposition, stellen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, das infrage, was damals Konsens war. Der von der SPD-Fraktion kri- tisierte Ermessensspielraum zur Festlegung des Abbau- pfades gemäß des geltenden § 9 Abs. 2 des Ausfüh- rungsgesetzes zu Art. 115 GG widerspricht nicht Sinn und Zweck der Schuldenregel. Einer Gesetzesänderung bedarf es daher nicht. Was Sie hier betreiben, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, ist reine Pole- mik. Die Koalition arbeitet mit aller Kraft, den grundge- setzlich vorgeschriebenen Vorgaben der Schuldenbremse zu entsprechen. Und Ihr Beitrag zur Konsolidierung ist null; von Ihrer Seite gab es keine konstruktiven Vor- schläge, wie mit dem gemeinsamen Ziel der Haushalts- konsolidierung verantwortungsvoll umgegangen wer- den kann. Sie fordern sparen, jawohl, aber Sie sagen nicht, wo, sie sagen nicht, wie, und das ist verantwor- tungslos. Das wird der aktuellen Situation nicht gerecht. Das wird vor allem nicht Ihrer Verpflichtung für die kommenden Generationen gerecht. Sie verlassen den Konsenspfad in der Politik der Haushaltskonsolidierung und setzen auf Populismus. Das nehmen Ihnen die Menschen in unserem Land nicht ab. Der verantwortungsvolle Beitrag eines jeden einzel- nen Bürgers in unserem Land ist substanzieller Bestand- teil der Konsolidierungs- und Einsparanstrengung. Leis- ten auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihren Beitrag. Lassen Sie in der Konsolidie- rungsfrage ausnahmsweise das politische Ränkespiel, und stellen Sie sich der Verantwortung für unsere Zu- kunft. Ziel und damit Geist und Sinn der Schuldenregel sind, die strukturelle Verschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 Prozent des BIP zu begrenzen. Die im Gesetzestext offene Formulierung zum strukturellen Defizit des Haus- haltsjahres 2010 für die Übergangsregelung der Schul- denregel gibt sowohl der Bundesregierung als auch dem Parlament einen Beurteilungsspielraum im Rahmen der Feststellung des maßgeblichen strukturellen Defizits 2010. Die Erreichung dieses Ziels bleibt völlig unberührt von der zu wählenden Vorgehensweise im Rahmen des gemäß § 9 Abs. 2 bestehenden Beurteilungsspielraums und damit der Festlegung des Abbaupfades. Die Bundesregierung hat mit dem Zukunftspaket ein nachhaltiges Konsolidierungskonzept vorgelegt, dessen Verbindlichkeit für die Jahre bis 2014 in der Öffentlich- keit kommuniziert wurde. Im Sinne einer kontinuierli- chen und damit vertrauensbildenden Politik stellt sich also die Herangehensweise der Bundesregierung als die einzig richtige dar. Wir haben mit einer breiten Mehrheit in diesem Haus die Schuldenbremse in das Grundgesetz geschrieben und das Ausführungsgesetz zu Art. 115 GG 10236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) erlassen. Halten Sie sich doch an den Pakt von Vernunft und Verantwortung. Fallen Sie nicht schon wieder um wie bei vielen von Ihnen mitgetragenen, herausragend wichtigen Entscheidungen für unsere Zukunft: Rente mit 67, Hartz IV und vieles mehr. Überall stehlen Sie sich aus der Verantwortung oder fordern nicht einhalt- bare Positionen zum eigenen politischen Profit. Das wol- len die Menschen in unserem Land nicht mehr! Das, was die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land heute von der Politik erwarten, sind die Übernahme von Verant- wortung und eine vernünftige sowie sozial ausgewogene Politik. Aber das, was Sie gerade im Bundesrat veran- stalten, hat nichts mit dem zu tun. Dort zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Mit dieser Gesetzesänderung versuchen Sie, Ihre Scheinheiligkeit zu postulieren. So bringen wir Deutschland nicht nach vorn. So schaffen wir keine Ba- sis, damit Deutschland sich von der Finanz- und Wirt- schaftskrise erholt. Unser Land braucht Stabilität und Verlässlichkeit. Die christlich-liberale Koalition ist sich ihrer Verantwortung bewusst, jener Verantwortung, die die SPD aus den Augen verloren hat. Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Die SPD-Frak- tion legt heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art.-115-Gesetzes vor. Damit wollen wir nicht Er- gebnisse der Finanzreform infrage stellen oder verän- dern. Im Gegenteil, wir wollen durch Konkretisierungen im Gesetz erreichen, dass das, was der Gesetzgeber da- mals gewollt hat, auch tatsächlich vom Bundesfinanz- minister umgesetzt wird. Denn dieser Bundesfinanz- minister – der ja auch mal Verfassungsminister war – handelt Sinn und Geist der Regelungen der Schulden- bremse zuwider. Er will durch sinnwidrige Interpretatio- nen der gesetzlichen Regelungen die gewollt stramme Schuldenbremse ausbremsen und sich einen doch noch möglichst großen Verschuldungsspielraum sichern. Zum einen will der Bundesfinanzminister dadurch den Konsolidierungsdruck abschwächen. Weite Teile des sogenannten Sparprogramms vom vorigen Jahr sind nämlich nach wie vor nicht unterlegt. Wo ist denn das Konzept zur Einsparung bei der Bundeswehr? Wo ist denn das Konzept zur Einsparung bei der Bundesagentur für Arbeit? Wo ist denn der Gesetzentwurf zur Finanz- transaktionsteuer, die ab 2012 gemäß Sparpaket einge- führt werden soll? Überall Fehlanzeige! Zum anderen drängt sich ein Verdacht auf. Diese Ko- alition will dadurch, dass sie die Schuldenobergrenze so hoch wie nur möglich ansetzt, Spielräume für Steuersen- kungen vor der nächsten Wahl schaffen. Solche Steuer- senkungen wären nur auf Pump und nur durch Trickse- reien bei der Schuldenbremse zu finanzieren. Und dagegen wehren wir uns mit dem vorgelegten Gesetzent- wurf. Die grundlegende Konsolidierung des Bundes- haushalts ist notwendig und ohne Alternative. Deshalb muss die Schuldenbremse nach Geist und Sinn strikt ein- gehalten werden. Worum geht es konkret? Der Bundesfinanzminister trickst vor allem bei der Festlegung des sogenannten strukturellen Defizits des Jahres 2010 als Ausgangswert für den Abbaupfad der Neuverschuldung bis 2016. Er trickst außerdem bei der Festlegung des konjunkturellen Anteils am Haushaltsdefizit. Mit dem Gesetzentwurf wollen wir ihn auf den Pfad der Tugend zurückholen und dies kommt nicht aus heiterem Himmel. Wir haben in vielen Sitzungen im Haushaltsausschuss und auch hier bei der Lesung des Bundeshaushalts im Parlament im- mer wieder gefordert, er möge sich an Geist und Sinn des Gesetzes halten. Dies war ohne jeden Erfolg und deshalb ist diese Gesetzesänderung notwendig. Der Bundesfinanzminister soll verpflichtet werden, den Ausgangswert 2010 für den Abbaupfad bis 2016 an der tatsächlichen Entwicklung auszurichten und nicht willkürlich an dem im vorigen Sommer für 2010 erwar- teten Wert. Das damals für 2010 erwartete Defizit lag bei 65 Milliarden Euro, das tatsächliche Defizit liegt jetzt bei 44 Milliarden Euro. Diese erfreuliche enorme Ab- senkung um 21 Milliarden Euro muss sich auch in einer entsprechenden Absenkung des Abbaupfades widerspie- geln. Das ist völlig plausibel und eigentlich selbstver- ständlich, denn der enorme Aufschwung in 2010 hat die Bundesfinanzen durch höhere Steuereinnahmen und ge- ringere Arbeitsmarktausgaben erheblich verbessert. Diese Verbesserung wirkt als Sockeleffekt in die nächs- ten Jahre fort. Hingegen bekräftigt die Bundesregierung noch im Jahreswirtschaftsbericht, sie wolle bei ihrer Festlegung der Verschuldungsobergrenze für die Auf- stellung des Bundeshaushalts 2012 und der Finanzpla- nung bis 2015 von dem völlig überhöhten Wert von 65 Milliarden Euro ausgehen. Was bedeutet das für 2012 in Zahlen? Bei einem an- genommenen Sockel von 65 Milliarden Euro in 2010 liegt die Schuldenobergrenze für 2012 um 11,5 Milliar- den Euro höher als bei dem tatsächlichen Sockel von 44 Milliarden Euro. Eine solche Absenkung klingt zu- nächst nach viel und nach einem riesigen Problem für den Bundesfinanzminister. Der Eindruck ist aber falsch, denn diese Absenkung ist Folge der deutlich besser als erwarteten Wirtschaftsentwicklung, die auch den Bun- deshaushalt 2012 wesentlich besser aussehen lassen wird als in der bisherigen Finanzplanung angenommen. Ich gehe von konjunkturellen Verbesserungen für den Bun- deshaushalt 2012 von mindestens 15 Milliarden Euro ge- genüber dem Finanzplan aus. Dies ist deutlich mehr als die beschriebene Absenkung der Obergrenze um 11,5 Milliarden Euro, die unser Gesetzentwurf zur Folge haben wird. Im Prinzip wird also nur der Spielraum ein- gedampft, den die Konjunktur geschaffen hat. Und dage- gen wehrt sich das BMF nun so vehement. Warum? Ich wiederhole: Sie wollen dem Konsolidierungsdruck ent- gehen und bauen vor für Steuersenkungen auf Pump und das ist unverantwortlich. Sie stehen dabei völlig alleine. Bislang habe ich nie- mand aus Wissenschaft oder Wirtschaft gehört, der ihre Auffassung zur Festlegung des Sockels 2010 teilt. Im Gegenteil haben Bundesrechnungshof, der Sachverstän- digenrat und die Bundesbank wie wir gefordert, von ak- tuellen Daten auszugehen. Die Bundesbank hat dies in ihrem letzten Monatsbericht nochmals ganz deutlich un- terstrichen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10237 (A) (C) (D)(B) Auch bei der Berechnung der Konjunkturkomponente des Defizits hat der Bundesfinanzminister während des gesamten letzten Jahres getrickst, desinformiert bzw. nur scheibchenweise informiert. Der Haushaltsausschuss wurde regelrecht für dumm verkauft, wenn seitens des Bundesfinanzministeriums behauptet wurde, es brauche Monate, um auf ein neues Verfahren umzustellen. Insti- tute und der Sachverständigenrat konnten dies binnen Stunden. Wir mussten lernen, dass BMF auch hier bei der Berechnung Ermessensspielräume hat, die im Ex- trem die Schuldenobergrenze um 6 bis 8 Milliarden Euro nach oben schieben können. Für mich als Parlamentarier ist das mit Blick auf das Budgetrecht nicht hinnehmbar. Der Bundesfinanzminister darf nicht solche Entschei- dungsspielräume haben und damit dem Parlament die Schuldenobergrenze nach Gusto diktieren. Wir hatten ihn deshalb schon während der Haushaltsberatung auf- gefordert, die Berechnung der Konjunkturkomponente an eine unabhängige Institution, nämlich den Sachver- ständigenrat zu übertragen. Der Bundesfinanzminister hat dies persönlich im Haushaltsausschuss auch nicht ab- gelehnt und soll jetzt durch unseren Gesetzentwurf dazu verpflichtet werden. Die SPD will, dass die Regelungen zur Schulden- bremse auf Punkt und Komma und nach Sinn und Geist eingehalten werden. Die Konkretisierung des Gesetzes wird dies garantieren. Florian Toncar (FDP): Der hier zur Abstimmung stehende Antrag der SPD-Fraktion zeigt einmal mehr, dass die SPD keinen klaren politischen Kurs verfolgt. In ihrem Antrag fordert die SPD jetzt eine Verschärfung des Abbaupfades der Neuverschuldung gegenüber den Erfordernissen der Schuldenbremse. Und vor nur drei Monaten, als es bei den Haushaltsverhandlungen darum ging, die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen, for- derte die SPD anstelle von Ausgabensenkungen mit ih- ren Anträgen sogar noch eine Ausgabenerhöhung um ganze 6,3 Milliarden Euro. Dieses Verhalten der SPD, erst Mehrausgaben und kurze Zeit danach eine Verschär- fung der Haushaltskonsolidierung zu fordern, zeigt deut- lich, dass sie in Wahrheit kein ernsthaftes Interesse an soliden Staatsfinanzen hat. Aber auch die Grünen forder- ten in den Haushaltsverhandlungen Mehrausgaben von insgesamt 12,9 Milliarden Euro. Und wenn ich erst an das aktuelle Vermittlungsverfahren zu Hartz IV denke, wo Ihre Leute finanzielle Maximalforderungen gestellt haben, dann kann ich Ihnen Ihre zur Schau gestellte Sparsamkeit nicht abnehmen. Es zeigt sich hier ganz klar, dass mit Rot-Grün die Staatsausgaben und im glei- chen Zug auch die Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger immer weiter ansteigen würden. Ziel der Schuldenregel, als deren Verfechter sich die SPD jetzt mit ihrem Antrag gibt, ist es die strukturelle Verschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu begrenzen. Und das ist genau das, was die SPD da, wo sie Verantwortung trägt, nicht macht. Am schlimmsten ist es – unter Mithilfe der Grü- nen und der Linken – in Nordrhein-Westfalen. Ihre erste Maßnahme nach der Wahl war eine zusätzliche Neuver- schuldung allein für 2010 von 1,8 Milliarden Euro. Da- mit sind Sie vor Gericht voll gegen die Wand gefahren. Und für 2011 hat Rot-Grün in NRW über alle Bedenken und Warnungen hinweg einen verfassungswidrigen Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung von 7,8 Milliarden Euro vorsieht. Obwohl Rot-Grün gegen- über dem ursprünglichen Finanzplan der Vorgänger- regierung für 2011 knapp 1 Milliarde Euro an Mehrein- nahmen zur Verfügung steht, haben sie trotzdem die Neuverschuldung gegenüber der Finanzplanung um 1,4 Milliarden Euro erhöht, weil sie die Ausgaben um 2,3 Milliarden Euro nach oben getrieben haben. Und Ihre neue Hoffnungsträgerin, Frau Kraft, rechtfertigt ei- nen solchen Haushalt mit ihrer sogenannten vorbeugen- den Politik, mit zusätzlichen Ausgaben für die Bildung, die sich laut Frau Kraft spätestens 2100 rechnen sollen. Der Geist dieser Verschuldungspolitik zeigt sich, wenn Frau Kraft offen zugibt, dass sie davon überzeugt ist, dass die Schuldenbremse ohne zusätzliche Einnahmen, also ohne Steuererhöhungen für die Bürgerinnen und Bürger, nicht einzuhalten ist. Ich sage Ihnen: Das ist eine verantwortungslose Politik, mit dem Verweis auf eine sehr vage Zukunftsprognose die Situation in der Gegen- wart bewusst zu verschlimmern. Und wenn man selbst nicht daran glaubt, das Ziel solider Staatsfinanzen errei- chen zu können, dann hat man in der Regierungsverant- wortung auch nichts verloren. Der Kurs von Rot-Grün in Bund und Ländern zeigt nur, dass die sparsamen Haus- hälter der Grünen und der SPD in ihrer eigenen Partei den Status einer Randgruppe erreicht haben, die völlig abgemeldet ist. Die christlich-liberale Koalition ist dagegen fest davon überzeugt, dass wir die Vorgaben der Schulden- bremse erfüllen werden. Wir werden es im Bund schaf- fen, im Haushalt 2011 die Ausgaben gegenüber dem Vorjahr ohne Steuererhöhung für die Bürgerinnen und Bürger um 13,7 Milliarden Euro abzusenken, die Vorga- ben der Schuldenbremse einzuhalten und trotzdem bis 2013 zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildung und For- schung auszugeben. Denn eine verantwortungsvolle Politik bedeutet, Zukunftschancen zu sichern und gleich- zeitig auch die Handlungsfähigkeit zukünftiger Genera- tionen zu bewahren. Gerade bei der Schuldenbremse hat die SPD sich im- mer wieder darum bemüht, diese Regelung aufzuwei- chen. Diese Regelung in Art. 115 des Grundgesetzes, um die uns die Finanzminister in Europa und den USA so beneiden, ist vor allem der FDP und ihrem Drängen auf die Föderalismuskonferenz II zu verdanken. Aus Ihrer Fraktion haben dagegen 19 Abgeordnete mit Nein ge- stimmt. Und jetzt fordern Sie mit ihrem Antrag die Ver- schärfung Ihres eigenen Gesetzes, das viele von Ihnen nie wirklich haben wollten. Zu dem Antrag selbst ist zu sagen, dass vereinbart wurde, die Neuverschuldung in gleichmäßigen Schritten – das bedeutet, einem linearen Abbaupfad folgend – zu reduzieren. So wird wie es auch in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes dargestellt. Diese Gleichmä- ßigkeit ist aber nicht erreichbar, wenn man zuerst mit der vorläufigen Neuverschuldung 2010 rechnet und nach der Aufstellung des Haushalts 2011 – denn erst dann liegt das Ist-Ergebnis des Haushaltsvollzugs 2010 vor – den 10238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) Abbaupfad und die mittelfristige Finanzplanung wieder anpasst. Ein für die Bürgerinnen und Bürger nachvoll- ziehbares und transparentes Verfahren mit gleichmäßi- gen Konsolidierungsstufen ist so nicht möglich. Das von der Bundesregierung praktizierte Verfahren entspricht den Vorgaben des Gesetzes unter Berücksichtigung der praktischen Umsetzbarkeit und der transparenten Dar- stellung in der mittelfristigen Finanzplanung. Ungeachtet dessen hat die christlich-liberale Koali- tion bei der Neuverschuldung im Haushaltsentwurf 2011 nach dem Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns gerech- net, und es spricht vieles dafür, dass wir die vorsichtig geplante maximale Obergrenze der Neuverschuldung von 48,4 Milliarden Euro im Haushaltsvollzug deutlich unterschreiten werden. Die Bundesregierung strebt ge- rade nicht an, die Obergrenzen der Schuldenbremse komplett auszuschöpfen. Stattdessen wird sie, wie bereits 2010, die tatsächliche Neuverschuldung deutlich stärker absenken, als es die Schuldenbremse überhaupt verlangt. Zum zweiten Teil Ihres Antrags: Die Bestimmung der Konjunkturkomponente erfolgt in Übereinstimmung mit den Verfahren der Europäischen Union in einem erprob- ten und transparenten Verfahren. Es gibt keinen Anlass für die Behauptung, dass Ermessensspielräume genutzt würden, um die maximal zulässige Obergrenze der Net- tokreditaufnahme nach oben zu treiben. Eine derartige Unterstellung entbehrt jeglicher Grundlage. Liebe Kolle- ginnen und Kollegen der Opposition, entscheidend für die Auslegung von Art. 115 des Grundgesetzes ist letzt- endlich das Bundesverfassungsgericht. Wer der Meinung ist, die Regierungskoalition hier im Bundestag habe mit ihrer Auslegung von Art. 115 das Grundgesetz verletzt, muss das Verfassungsgericht anrufen. Das kann auch die SPD-Fraktion tun. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass die Auslegung der Bundesregierung dem Grundge- setz entspricht. Die Tatsache, dass die SPD nicht vor dem Verfassungsgericht klagt, zeigt, dass sie das auch selbst weiß. Ich würde mir wünschen, dass die SPD sich nicht in technischen Details verzettelt, sondern im Bundestag eine Politik vertritt, die die Verschuldung des Bundes ab- senkt und nicht dramatisch erhöht, und dass sie in den Ländern, in denen sie Verantwortung trägt, ihre hem- mungslose Verschuldungspolitik beendet. Roland Claus (DIE LINKE): Der SPD geht es mit diesem Antrag um die Wahrung von – ich zitiere – „Geist und Sinn der Schuldenbremse“, und darum leh- nen wir ihn ab, und zwar entschieden. Denn es ist ein Unding, Geist und Sinn von etwas wahren zu wollen, das dem Geist und Sinn der Demokratie widerspricht und aus diesem Grunde im Parlament zwar nur von uns, den Linken, im wirklichen Leben aber von sehr viel mehr Menschen und Institutionen, als sie zur Anhängerschaft der Linken gehören, abgelehnt wird. Ich finde, das ist leider sehr typisch SPD. Im Antrag heißt es richtig, dass „die grundlegende Konsolidierung des Bundeshaushaltes notwendig“ sei. Aber dann folgt noch das seltsame Wort, dass sie auch noch „alternativ- los“ wäre. Da muss man dann doch feststellen: Wo Poli- tik alternativlos sagt, verweigert sie sich dem Wähler- auftrag. Die Konsequenz, die die SPD aus der Not- wendigkeit der Konsolidierung zieht, heißt Schulden- bremse und sonst gar nichts. Die Verfasserinnen und Verfasser des Antrages kommen gar nicht auf die Idee, im Zusammenhang mit dem Begriff der Konsolidierung auch einmal die Einnahmeseite zu bedenken, wie denn auch, wo sie doch die Miterfinder der Schuldenbremse sind. Es geht aber selbstverständlich auch anders. Meine Partei Die Linke rechnet es in ihrem Steuerkonzept de- tailliert vor. 180 Milliarden Euro Mehreinnahmen sind möglich, wenn die großen Vermögen angemessen an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden. 80 Milliarden Euro kämen dann aus einer Millionär- steuer von 5 Prozent jenseits eines Freibetrages von 1 Million Euro, weitere 40 Milliarden Euro aus einer Wiederanhebung des Körperschaftsteuersatzes auf 25 Prozent und der Rücknahme einiger anderer Steuer- geschenke an die Großunternehmen sowie 27 Milliarden Euro aus der Einführung einer Finanztransaktionsteuer – um hier nur die wichtigsten Bestandteile unseres Kon- zepts zu nennen. Die Schuldenbremsenparteien versuchen, uns glau- ben zu machen, die Schuldenbremse sei eine finanz- technische Angelegenheit. Sie ist aber eine politische Angelegenheit von tiefgreifender Bedeutung, denn sie beschränkt die Souveränität von Parlamenten und Re- gierungen. Wo es eine Schuldenbremse gibt, können Parlamente und Regierungen nicht mehr souverän da- rüber entscheiden, welche politischen Vorhaben sie mit welchen Finanzmitteln in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Die Landesparlamente und Landesregierungen haben keinen Einfluss auf die Einnahmepolitik, und so hängen sie am Tropf der bundespolitischen Vorgaben. Wenn dort Steuergeschenke an die großen Unternehmen und die Inhaberinnen und Inhaber großer Vermögen ver- teilt werden, haben die Landesregierungen, weil sie in der Schuldenbremse gefesselt sind, keine Möglichkeit mehr, politisch gegenzusteuern. Denkt man diese Situation konsequent zu Ende, kann man auf Wahlen in den Ländern verzichten. Es genügt dann eine von der Bundesregierung eingesetzte Verwal- tung, die im zentral vorgegebenen Finanzrahmen agiert. Wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine Steuerpolitik, die die großen Unternehmen und die Inha- berinnen und Inhaber großer Vermögen endlich wieder angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens be- teiligt. Die Herstellung von Steuergerechtigkeit, die energische Verpflichtung der Vermögenden auf das Ge- meinwohl – das sind die Schritte, die gegangen werden müssen, um das zu realisieren, was auch die SPD in ih- rem Antrag wieder beschwört: die nächste Generation nicht „weit über Gebühr“ zu belasten. Umverteilung von oben nach unten – das ist es, worum es geht. Und das – ich wiederhole mich gern – ist nicht nur eine finanztech- nische Frage, auch nicht nur eine Frage der Vermögens- verteilung, sondern eine Frage der Demokratie, eine Frage der Mitgestaltung der Gesellschaft. Das Geld ge- hört dorthin, wo die Menschen sind. Es gehört von oben nach unten umverteilt, um allen ein lebenswürdiges Da- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10239 (A) (C) (D)(B) sein zu ermöglichen. Und es gehört auch in den Verwal- tungsebenen von oben nach unten umverteilt – vom Bund hin zu den Ländern und Kommunen. Der technokratische Antrag der SPD zur Verschär- fung der Schuldenbremse läuft all diesen Überlegungen diametral entgegen. Er ist der Einstieg der SPD in einen Wettlauf mit Schwarz-Gelb um die weitere Umvertei- lung von unten nach oben und um Beschränkung der De- mokratie. Vielleicht muss man der SPD für die Unmiss- verständlichkeit dieser Botschaft dankbar sein. Sie lässt vor den Landtagswahlen in diesem Jahr keinen Zweifel daran, dass sie an grundlegenden politischen Verände- rungen kein Interesse hat. So wie sie mit CDU/CSU, FDP und Grünen gemeinsam Hartz-IV-Partei ist, so ist sie auch mit diesen allen gemeinsam Schuldenbremsen- partei. Die Linke antwortet auf diesen Gesetzentwurf mit ei- nem klaren Nein. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ist ein Gewinn für die notwendige Konsolidierung des Bundes- haushalts und damit ein wichtiger Beitrag zur Generatio- nengerechtigkeit. Wir Grüne hatten für die Schulden- bremse andere Vorschläge, die nicht umgesetzt wurden. Dennoch bekennen wir uns klar zur Umsetzung der Schuldenbremse, so wie sie jetzt im Grundgesetz veran- kert ist. Schon heute betragen die Zinszahlungen des Bundes 38 Milliarden Euro, bis 2014 werden diese Zins- lasten auf fast 50 Milliarden Euro anwachsen. Diese Schuldenbremse muss keine Sozialstaatsbremse sein. So wird sie nur von Schwarz-Gelb interpretiert. Wir haben bei den Haushaltsverhandlungen klar dargelegt, wie die Schuldenbremse eingehalten werden kann und gleichzei- tig die soziale und ökologische Verschuldung im Haus- halt reduziert werden kann. Die grundgesetzlich geschützte Schuldenbremse darf nicht durch Buchungstricks ausgehebelt werden. Das aber scheint das Vorhaben der schwarz-gelben Bundes- regierung zu sein: Aufgrund der guten Konjunkturent- wicklung 2010 konnte das Defizit des Bundes im Haus- haltsvollzug von geplanten 80 auf 44 Milliarden Euro gedrückt werden. Damit wurde immer noch ein neuer Schuldenrekord aufgestellt. Aber diese positive Haus- haltsentwicklung bildet sich – trotz Schuldenbremse – nicht im Haushaltsentwurf für 2011 ab. Die Bundesre- gierung plant mit 48,4 Milliarden Euro neuen Schul- den, obwohl die konjunkturelle Lage sich entschieden aufgehellt hat. Damit verstößt die Bundesregierung be- reits im ersten Jahr des Inkrafttretens der Schulden- bremse gegen den Geist der Schuldenbremse. Denn ei- gentlich soll die strukturelle Verschuldung bis 2016, wenn die Schuldenbremse dann voll greift, Jahr für Jahr in gleichmäßigen Schritten abgesenkt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hätte be- reits 2011 eine stärkere Konsolidierung des Haushaltes stattfinden müssen. Die Idee der Schuldenbremse wäre so gestärkt worden. Daher unterstützen wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen diesen Gesetzentwurf. Einen noch heftigeren Verstoß gegen den Geist der Schuldenbremse würde der jetzt von der Bundesregierung ins Gespräch gebrachte Buchungstrick im Zusammen- hang mit den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss bedeuten. Im Rahmen des Vermittlungsausschusses zur Hartz-IV-Reform hat die Koalition angeboten, den Kom- munen schrittweise ab 2012 die Kosten der Grundsiche- rung im Alter abzunehmen. Ab 2015 sollen diese Kosten nach dem Vorschlag der Koalition dann ausschließlich vom Bund getragen werden. Der Bund beziffert die Ent- lastung der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden Euro netto. Grundsätzlich haben wir Sympathien für die Umsetzung der Grundsicherung im Alter zum Bund. Aber das muss in einem eigenen Gesetz geregelt werden. Die Verknüpfung mit dem Haushalt der Bundesagentur für Arbeit, BA, halten wir für grundsätzlich falsch. Die Bundesbeteiligung an der Bundesagentur soll zusam- mengestrichen werden, ein halber Mehrwertsteuerpunkt soll der Agentur entzogen werden. Bis Ende 2012 würde sich bei der BA ein Defizit in Höhe von über 10 Milliar- den Euro auftürmen, bis 2015 ein Defizit von knapp 15 Milliarden Euro. Bei einer analog zur Bundesbeteili- gung an den Kosten der Grundsicherung im Alter auf- wachsend gestalteten Reduktion des Mehrwertsteueran- teils für die BA würde das Defizit der BA bis 2015 knapp 10 Milliarden Euro betragen. Auch in diesem Fall würde hoher Druck auf eine erneute erhebliche Erhö- hung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entste- hen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt, insbe- sondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute stark von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind. Mit einer solchen Finanzoperation würde die schwarz-gelbe Bundesregierung gleichzeitig die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aushebeln. Die Schulden der Sozialversicherungen bleiben bei Berech- nung des für die Schuldenbremse maßgeblichen struktu- rellen Defizits unberücksichtigt. Der geplante Verschie- bebahnhof widerspricht nicht nur dem Prinzip der Haushaltsklarheit und -wahrheit, sondern stellt auch ei- nen eklatanten Verstoß gegen den Geist der Schulden- bremse dar. Die Rückführung der in den BA-Haushalt verschobenen Verschuldung wird allein den künftigen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern aufgebürdet. In diesem Fall würde hoher Druck auf eine erneute erhebli- che Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entstehen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute stark von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind. Um einen ausgeglichenen BA-Haushalt bei konstant po- sitiven Wachstumsannahmen zu erreichen, müsste der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um etwa 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Bei einem Wie- deraufflammen der Wirtschaftskrise würden sofort sehr hohe Defizite in dieser für die Stabilität unserer Volks- wirtschaft zentralen Sozialversicherung entstehen. Mit diesem Missbrauch der Schuldenbremse würde die schwarz-gelbe Koalition die Finanzsituation der Sozial- versicherungen weiter schwächen. Um ein Wiederauf- flammen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu verhin- dern, müssen die Vorgaben der Schuldenbremse ohne Einschränkungen umgesetzt werden. Gleichzeitig dürfen die Haushalte der Sozialversicherungen nicht überfor- 10240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) dert werden. Diese sind ein zentraler Stabilitätsanker für unsere Volkswirtschaft. Bei der Haushaltspolitik dieser Koalition müssen wir froh sein, dass es die Schuldenbremse überhaupt gibt. Die Forderungen nach Steuersenkungen, die immer wie- der aus der Koalition geäußert werden, machen sehr deutlich, wie notwendig diese Regelung ist. Wenn die Restriktionen der Schuldenbremse nicht gelten würden, wäre die Haushaltspolitik der schwarz-gelben Koalition noch katastrophaler für die zukünftigen Generationen in unserem Land. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Fairen Rohstoffhan- del sichern – Handel mit Seltenen Erden offen- halten (Tagesordnungspunkt 16) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten heute einerseits über ein hochaktuelles Thema, anderer- seits aber über einen längst überholten Antrag. Die Ak- tualität des Themas verdeutlicht am besten ein Blick in die Wirtschaftsteile der Zeitungen: Da vergeht kaum ein Tag ohne einen Artikel zu den Themen Rohstoffversor- gung oder Rohstoffpreise. Dazu passend berichtete die Welt am Montag, dass unter den zehn wertvollsten Un- ternehmen der Welt fünf Unternehmen sind, die ihr Geld mit der Förderung von Bodenschätzen verdienen. Im Jahr 2006 war dort nur ein Unternehmen verzeichnet. Auch nach Gesprächen mit Unternehmern aus dem ver- arbeitenden Gewerbe, insbesondere im Hightechbereich, wird man mit dem Problem konfrontiert. Der Antrag ist inhaltlich deshalb veraltet, weil das Thema Rohstoffversorgung, insbesondere mit Nicht- Eisen-(NE-)Metallen für die Hightechindustrie längst auf der politischen Ebene angekommen ist und darüber intensiv diskutiert und an Lösungen gearbeitet wird. Wir, also die Fraktion der CDU/CSU, hatten bereits im Juli 2010 einen Kongress mit vielen Gästen aus internationa- len Organisationen, der Wirtschaft und der Wissenschaft veranstaltet. Das begleitende Positionspapier der Frak- tion hat die Kollegen von der SPD offensichtlich sehr in- spiriert. Die Positionen und Initiativen unserer Fraktion finden sich auch in der Arbeit der Bundesregierung wie- der. Seit Herbst 2010 liegt die Rohstoffstrategie der Bun- desregierung vor, die einen ganzheitlichen Ansatz zur Rohstoffversorgung beinhaltet. Auch in der Industrie- strategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie spielt die Rohstoffversorgung eine zentrale Rolle. Dies gilt auch ganz aktuell für die Technologie- offensive und die Mittelstandsinitiative des Ministe- riums. Das Ministerium hat auch bereits auf organisatori- scher Ebene reagiert. Momentan wird eine Unterabtei- lung Rohstoffpolitik eingerichtet, die speziell für die hei- mische Rohstoffversorgung, insbesondere mit NE- Metallen für das Recycling und den Zugang zu interna- tionalen Rohstoffen zuständig sein wird. Die Unterabtei- lung wird auch den Aufbau bilateraler Rohstoffpartner- schaften angehen. Ich könnte jetzt hier auch noch auf den Rohstoffdialog des Ministeriums für Wirtschaft und Technologie mit der Wirtschaft und weiteren wichtigen Akteuren eingehen, möchte das mit Blick auf die Uhr aber lassen. Sie sehen, das Thema ist hochaktuell und bereits in besten Händen. Sogar die SPD hat gemerkt, dass da was los ist Nun zur Rohstoffstrategie der Koalition. Ihr Antrag freut mich insoweit, als er keinen Widerspruch zur Roh- stoffstrategie der Bundesregierung darstellt. Ich stelle fest, die Fraktion der SPD unterstützt die Rohstoffstrate- gie der Koalition, zumindest nimmt die Fraktion keine nennenswerten Ergänzungen bei den Forderungen an die Bunderegierung vor. Aber gestatten Sie mir dennoch vier Anmerkungen inhaltlicher Art. Erstens. Sie fordern verstärkte Bemü- hungen um Rohstoffpartnerschaften oder Rohstoffab- kommen mit Entwicklungsländern. Das ist zunächst zu begrüßen, aber haben Sie etwas in dieser Richtung ange- stoßen, als das Ministerium für wirtschaftliche Entwick- lung und Zusammenarbeit von einer Ministerin der SPD geführt wurde? Hat Herr Steinmeier als Außenminister sich um diese Themen bemüht? Oder kümmert sich die SPD nur dann um Rohstofffragen, wenn es darum geht, einem ehemaligen Bundeskanzler einen sicheren Posten zu bescheren? Zu Ihrer Regierungszeit war es doch ver- pönt, die Themen Außenpolitik oder Entwicklungshilfe mit wirtschaftlichen Fragen zu verknüpfen. Wir machen das anders, und es ist schön, dass Sie Ihre Meinung wohl geändert haben. Zweitens. Sie fordern ebenfalls die Nutzung heimi- scher Lagerstätten. Auch das ist kein schlechter Vor- schlag. Allerdings ist die Rohstoffförderung immer ein Eingriff in die Natur, und da ist erfahrungsgemäß lokaler Widerstand zu erwarten. Wir werden die Grünen auf der Seite des Protestes sehen, und die SPD wird unent- schlossen rumstehen. Oder aber meine Erwartung täuscht mich, dann freue ich mich schon, wie Sie Ihre grünen Freunde von der Notwendigkeit des Rohstoffab- baus in Deutschland überzeugen wollen. Dann kann die Öffentlichkeit sehen, wie ernst es Ihnen mit Ihren Ab- sichten ist. Drittens. Sie thematisieren das Recycling. Auch das ist richtig und wichtig. Aber Recycling ist ein energie- intensives Geschäft, welches von den Altlasten rot-grü- ner Energiepolitik – ich denke zum Beispiel an den Schuldenberg aus der Solarverstromung – erschwert wird. Wer für Recycling ist, muss auch eine Energiepoli- tik beherzigen, die nicht nur auf ein vermeintlich gutes Gewissen abstellt, sondern auch die Preise im Blick be- hält, so wie wir es von der Koalition tun. Viertens. Schließlich bezweifele ich die Sinnhaftig- keit eines Antrages, der auf einen Rohstoff oder eine Rohstoffgruppe verengt ist. Gerade bei den Seltenen Er- den gibt es Lagerstätten weltweit. Die wurden aus öko- nomischen Gründen aber bisher nicht erschlossen oder stillgelegt. Deswegen ist die Produktion der Seltenen Er- den momentan auf China konzentriert. Bis 2012 werden Lagerstätten in den USA, Kanada, Indien, Australien Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10241 (A) (C) (D)(B) und Malawi ihre Produktion massiv erhöhen. Auch die Bundesrepublik hat bereits ein Abkommen mit Kasachs- tan über die Lieferung Seltener Erden abgeschlossen; Kollege Mißfelder wird anschließend darauf eingehen. Dann werden die Regeln der Marktwirtschaft eine Lin- derung des Problems Seltene Erden bewirkt haben. Es ist sinnvoller, eine Gesamtstrategie zur Rohstoffversorgung aufzustellen, wie dies die Koalition schon getan hat. Zum Fazit. Das Thema Rohstoffsicherung ist längst ein bedeutender Teil der politischen Agenda dieser Ko- alition; ich hatte es am Anfang ausgeführt. Sie haben le- diglich aus unserer Rohstoffstrategie abgeschrieben und dabei noch manche wichtige Punkte vergessen, zum Bei- spiel die Ausbildungsunterstützung in Rohstoffpartner- ländern oder den Aspekt des Technologietransfers. Der Antrag ist auch deshalb nicht notwendig, weil er nur ein Thema – nämlich Seltene Erden – aus einem komplexen Bereich isoliert betrachtet, dessen Dramatik bald abneh- men wird. Wir sollten hier aber immer die Zusammen- hänge sehen. Schließlich freue ich mich darauf, dass die Koalition bald von der SPD unterstützt wird, wenn es da- rum gehen wird, heimische Rohstofflagerstätten zu er- schließen, Energiepreise für Recycling niedrig zu halten, Import- und Exportgarantien zu gewähren sowie Außen-, Entwicklungs- und Rohstoffpolitik stärker zu verknüp- fen. Zum Schluss bleibt mir, festzustellen, dass die SPD ihren Glauben an die Marktwirtschaft wiedergefunden zu haben scheint. Sie schreiben im Antrag auf Seite 2: „Richtig ist, das es zu allererst Aufgabe der Unterneh- men ist, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken und sich vorausschauend auf künftige Trends einzustel- len.“ Das ist ein Grund zur Freude, vielleicht schlägt Ihr Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit und Fähigkei- ten der Unternehmen auch auf andere Themen durch. Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ich freue mich, dass auch die SPD-Bundestagsfraktion unsere Anregung aus dem vergangenen Jahr aufgenommen hat und sich nun mit dem Thema Rohstoffe intensiv befasst. Das ist wich- tig, denn die deutsche Industrie, die erkennbar gestärkt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgegangen ist, ist auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Gleich- zeitig steigt durch die weltweite Wirtschaftsentwicklung der Bedarf. Das können wir täglich auf den Kurstafeln der Rohstoffbörsen sehen, die von Rekordstand zu Re- kordstand eilen. Der Hunger der aufstrebenden Schwel- lenländer nach energetischen und nichtenergetischen Rohstoffen ist noch längst nicht gestillt. So wird die Nachfrage nach Kupfer, dem wichtigsten Industrieme- tall, das Angebot wohl auf Jahre hinaus übersteigen. Der Kupferpreis eilt von einem Allzeithoch zum nächsten und erreicht wohl bald die Marke von 10 000 Dollar je Tonne. Ich will, bevor ich zum Thema der Seltenen Erden komme, hier eines sagen: Dieser Kupferpreis ist ein Welthandelspreis. Ihn zahlen alle, egal aus welcher Re- gion der Erde sie kommen. Ob wir in Deutschland eine nennenswerte Kupferverarbeitung behalten, hängt dem- nach nicht primär vom Rohstoffpreis für Kupfer, son- dern von einem ganz anderen Faktor ab, nämlich vom Energiepreis. Wir müssen jetzt angesichts der nicht zu- letzt durch das Erneuerbare Energien Gesetz, EEG, ver- ursachten Strompreissteigerungen der letzten Jahre in Deutschland gegensteuern, um die energieintensive roh- stoffverarbeitende Industrie auch weiterhin bei uns in Deutschland zu behalten. Sonst wird es Kupfer- oder Aluminiumhütten bald nur noch in Ländern geben, in denen Energie billiger ist und die im Zweifel nicht unse- ren Umweltstandards genügen. Hier appelliere ich an die SPD, mit uns gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, um Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze bei uns in Deutsch- land zu sichern. Gerade die SPD mit ihrer Tradition im Ruhrgebiet, wo auch mein Wahlkreis liegt, kann kein In- teresse an einer Deindustrialisierung Deutschlands ha- ben. Mit Blick auf den globalen Wettbewerb, in dem un- sere Unternehmen stehen, gehört es zwingend zu den Aufgaben der Politik, die Energiekosten für die rohstoff- verarbeitende Industrie langfristig kalkulierbar zu ma- chen und auf einem wettbewerbsfähigen Niveau zu hal- ten. Der vorliegende Antrag beschreibt richtig, dass sich seit Anfang vergangenen Jahres der Trend einer weltwei- ten Steigerung der Nachfrage nach Rohstoffen und ins- besondere nach Seltenen Erden fortgesetzt hat. Ich möchte hierbei aber noch einen Schritt weiter gehen, denn nicht nur Preis und Verfügbarkeit spielen beim in- ternationalen Rohstoffhandel eine entscheidende Rolle, sondern auch zentrale außenpolitische Aspekte. So ist das Versorgungsrisiko vor allem bei den Hochtechnolo- giemetallen aufgrund der geografischen Lage der Vor- kommen in politisch instabilen Regionen zumeist höher als bei energetischen Rohstoffen wie Öl und Gas. Über die Hälfte der Länder, in denen Vorkommen an metalli- schen Rohstoffen nachgewiesen sind, werden in einer Studie der Weltbank als politisch instabil oder gar ex- trem instabil eingestuft. Fehlende Substitutionsmöglich- keiten steigern das Risiko noch. Ohne Chrom lassen sich keine rostfreien Stähle und ohne Kobalt keine ver- schleißfesten Legierungen produzieren. Auch Platin, Neodyn oder Indium kann die Hochtechnologieindustrie nicht durch andere Rohstoffe ersetzen. Dabei stellt sich die Frage: Wie können wir unsere Rohstoffversorgung sichern? Dazu hat die CDU/CSU- Bundestagsfraktion im Juli 2010 ihre Position vorgelegt. „Deutschlands und Europas Rohstoffversorgung si- chern“ steht in der Reihe von außenpolitischen Grund- satzdokumenten der Unionsfraktion wie der Lateiname- rika-Strategie und der Sicherheitsstrategie. Damit hat das zentrale Politikfeld der Sicherung der Versorgung mit metallischen Rohstoffen auch im politischen Raum end- lich die Aufmerksamkeit gefunden, die ihm gebührt. In diesem Grundsatzpapier der CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion sind zentrale Fragen, die der vorliegende Antrag der SPD nun aufwirft, bereits behandelt. So sind die Vorga- ben der Extractive Industries Transparency Initiative, EITI, nach denen Zahlungsströme an öffentliche Stellen im Bereich der Rohstoffgewinnung wie etwa Konzes- sionsabgaben oder Genehmigungskosten von den Unternehmen offengelegt werden, für uns selbstver- ständlich. Die Herstellung von Transparenz über Zah- 10242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) lungsflüsse ist ein wichtiges Mittel zur Korruptionsbe- kämpfung. Und auch Gespräche zu verlässlichen Rohstoff- und Handelspartnerschaften finden bereits statt. So sagte der Chef des Ostausschusses beim Bundesverband der Deut- schen Industrie, BDI, Metro-Chef Eckhard Cordes am 31. Januar 2011 in Berlin, dass Kasachstan bereit sei, Deutschland bei seiner Ressourcensicherung zu unter- stützen. Dieser Weg bilateraler Zusammenarbeit Deutschlands in Rohstofffragen ist ein neuer Weg. Er ist vielversprechend und muss deshalb auch mit weiteren Ländern und Regionen gegangen werden. Wir als CDU/ CSU-Bundestagsfraktion unterstützen diese neue Form deutscher Rohstoffsicherung. Edelgard Bulmahn (SPD): Kein anderes Land in Europa ist so gut aus der weltweiten Wirtschaftskrise ge- kommen wie Deutschland. Und in kaum einem anderen Land hat sich so deutlich gezeigt, welche Bedeutung die Industrie als Grundlage für Wachstum und Wohlstand hat. Wer diese Grundlage stützen will, der muss die nachhaltige und langfristige Versorgung der deutschen Industrie mit Rohstoffen sichern, und zwar aktiv. Es reicht nicht aus, die Eigenverantwortung der Privatwirt- schaft zu betonen, wie das der Wirtschaftsminister wie- derholt getan hat. Sicher, es ist die Aufgabe der Unter- nehmen, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken und sich vorausschauend auf künftige Trends einzustellen. Doch die Bundesregierung muss diese Schritte unterstützen und mit politischen Mitteln beglei- ten. Das gilt ganz besonders für die Beschaffung von Sel- tenen Erden. Seit Anfang letzten Jahres ist die Nachfrage nach diesen Metallen drastisch gestiegen. Gleichzeitig hat China, das mit 97 Prozent der Weltproduktion eine Quasimonopolstellung hält, die Ausfuhr von Seltenen Erden im zweiten Halbjahr 2010 um 72 Prozent gegen- über dem Vorjahr gesenkt. Nun soll die Exportquote weiter gesenkt werden. Es ist zu befürchten, dass es in- folge von Versorgungsengpässen schon bald zu Produk- tionsausfällen kommt. Die wachsende Nachfrage nach einzelnen Seltenen Erden wäre in den kommenden Jah- ren aber selbst ohne chinesische Förder- und Exportbe- schränkungen mithin nicht gedeckt. Bis 2014 sind Ver- sorgungsengpässe bei bis zu sieben Elementen der Seltenen Erden zu erwarten. Schließlich verfügt China über lediglich 38 Prozent der weltweiten Reserven an Seltenen Erden. Besonders Unternehmen aus der metallverarbeiten- den Industrie sorgen sich um den Verlust ihrer internatio- nalen Wettbewerbsfähigkeit. Von Seltenen Erden hängen gerade jene Wertschöpfungsketten ab, an deren Ende wichtige Hightechprodukte stehen. Windturbinen, Solar- kollektoren, Katalysatoren und Motoren für Hybridfahr- zeuge sind nur einige Beispiele. Gerade in der Boom- branche Greentech und Erneuerbare Energien ist die Abhängigkeit von Seltenen Erden enorm. Versorgungs- engpässe bremsen Fortschritte bei Energieeffizienz und Umweltschutz. Und nicht zuletzt gefährden sie Arbeits- plätze in Zukunftsindustrien, in denen laut DIW schon heute über 340 000 Menschen arbeiten. Die Bundesregierung riskiert mit ihrer Untätigkeit die deutsche Position auf den Märkten von morgen. Die neue Deutsche Rohstoffagentur wird in ihrem jetzigen Zuschnitt weder die Spekulation mit knappen Rohstof- fen verhindern können noch eine sichere Versorgung der deutschen Industrie mit diesen Rohstoffen gewährleis- ten. Deutschland muss vielmehr alles daran setzen, um national wie international zukunftsorientierte Strategien zur Rohstoffsicherung zu entwickeln und umzusetzen, zum Beispiel in Form einer Rohstoffpartnerschaft mit Ländern wie der Mongolei. Im Rahmen der Welthan- delsorganisation muss ein offener und fairer Zugang im Rohstoffhandel verhandelt werden. Dabei muss gezielt auf die Abschaffung von Exporthemmnissen gedrängt werden. Die Europäische Kommission hat sich vergan- gene Woche ausdrücklich dafür ausgesprochen. In ihrer Rohstoffstrategie fordert die Kommission die gezielte Vereinbarung bilateraler Rohstoffpartnerschaften mit Förderländern und ein besseres Recyclingsystem für knappe Rohstoffe. Die Bundesregierung muss endlich Gespräche mit Ländern und Ländergruppen aufnehmen, die für solche Rohstoffpartnerschaftsabkommen infrage kommen. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die immer mehr zu sol- chen bilateralen Vertragswerken übergehen, die WTO- konform sind, ist die Bundesregierung bisher tatenlos geblieben und hat bislang kein einziges Rohstoffabkom- men abgeschlossen. Es geht uns dabei explizit nicht um eine Abkehr vom Multilateralismus, sondern um eine Flankierung der im Rahmen von EU und Welthandelsor- ganisation erfolgten Aktivitäten. Die SPD-Fraktion setzt sich für einen fairen Rohstoffhandel ein. Die Einhaltung sozialer Mindeststandards und finanzieller Transparenz- regelungen muss ebenso garantiert werden wie eine faire Verteilung der Gewinne und die Vermeidung von Um- weltbelastungen. In ihrer Rohstoffstrategie vom Oktober 2010 hat die Bundesregierung eine Verbesserung der Rahmenbedin- gungen für das Recycling in Aussicht gestellt. Nur, ge- schehen ist bisher nichts. Inzwischen haben einige Un- ternehmen ein eigenes Rücknahmesystem für bestimmte Metalle eingeführt oder bereiten dies zielstrebig vor. Wir fordern deshalb die Schaffung eines Recyclingsystems zur Rückgewinnung wichtiger Technologiemetalle. Es gilt jetzt nicht Rahmenbedingungen zu evaluieren, son- dern konkret der deutschen Wirtschaft die Rückgewin- nung dieser Metalle zu erleichtern. Wir brauchen ein weltweites Rohstoffregime, das An- bietern und Abnehmern gleiche Bedingungen sichert und langfristig gültige Regeln schafft. Damit dies gelin- gen kann, bedarf es konkreter Maßnahmen, um den Han- del mit Rohstoffen und insbesondere Seltenen Erden fair zu gestalten und offenzuhalten. Die Rohstoffstrategie der Bundesregierung droht zu einem leeren Versprechen zu werden. Die deutsche Wirtschaft fühlt sich von einer Re- gierung im Stich gelassen, die sich in einem Auf- schwung sonnt, der nicht ihrer ist, und den sie nun leichtfertig gefährdet. Ich bitte Sie, dem Antrag der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10243 (A) (C) (D)(B) SPD-Fraktion zuzustimmen und so eine wichtige Grund- lage für Wachstum und Wohlstand in diesem Land zu stützen. Klaus Breil (FDP): Wer in der Schule abschreibt und erwischt wird, erhält die Note sechs. Und nur diese Note hat der Antrag der SPD hier und heute verdient. Dieser Antrag enthält nichts anderes als die Ideen aus den von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle initiierten Rohstoffdialogen und der Rohstoffstrategie. Wir wissen alle, dass die Rohstoffversorgung eine Zukunftsaufgabe ist. Die Gleichung ist ganz einfach: Eine wachsende Weltbevölkerung bedeutet wachsender Energie- und Rohstoffbedarf. Dabei sind noch unter keiner Bundesre- gierung – und schon gar nicht unter Rot-Grün – so viele Initiativen zur Rohstoffversorgung gestartet worden wie im letzten Jahr unter Rainer Brüderle: Rohstoffdialoge, Rohstoffstrategie, Rohstoffagentur und Rohstoffpartner- schaften sind unsere Antworten auf die drängenden Fra- gen der Rohstoffversorgung. Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, laufen jetzt den Aktivitäten des Bundeswirtschaftsministeriums hinterher. Selbstverständlich ist die Bundesregierung schon in Gesprächen über bilaterale Rohstoffpartnerschaften. Und damit sollen die Aktivitäten der Wirtschaft flankiert werden. Dies alles zeigt: Die Bundesregierung bedarf nicht ihrer Nachhilfe, auch nicht, was die Erleichterung des Handels mit den sogenannten Seltenen Erden an- geht. Ja, in der Hochtechnologieindustrie hat man sich in den vergangenen Monaten mit Engpässen für Seltene Er- den beschäftigt. Bald müssten deutsche Firmen ihre Pro- duktionslinien stoppen, verlautete es in den Medien. Und das war schon gleich der erste deutliche und notwendige Auftritt der Deutschen Rohstoffagentur: „Übertriebene Panikmache.“ Zwar haben die Chinesen nun angekün- digt, auch bald vom Exporteur zum Importeur Seltener Erden zu werden, doch bringt dieser Engpass – auch wenn er in eine unglückliche Situation mitten in unseren Aufschwung fällt –, auch eine Chance mit sich, eine Chance für andere Länder, ihre Vorkommen dieser Roh- stoffe – hoffentlich auch umweltverträglicher als der derzeitige Hauptexporteur – zu explorieren. Mehr Län- der, die explorieren, bedeuten einen größeren Markt und damit mehr Wettbewerb. Hin oder her, die Situation der letzten Monate müssen wir – und ganz besonders auch die deutsche Wirtschaft – als Weckruf verstehen. Es war in der Vergangenheit ein Fehler, das erste Glied der Wertschöpfungskette in der Rohstoffwirtschaft aufzuge- ben. Für eine Rückwärtsintegration ist es heute aber fast zu spät. In diesem Fall müsste die Industrie extrem hohe Kosten tragen. Einseitige Abhängigkeiten, Handelsbarrieren und un- zureichende Sanktionen vonseiten der WTO sind die na- türlichen Feinde einer Industrienation wie Deutschland. Diese gilt es zu bekämpfen. Dafür steht der Liberalis- mus. Dafür steht unser Bundeswirtschaftsminister. Dafür steht die FDP. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Debatte um Seltene Erden nimmt teilweise absurde Züge an. Da wird der Feind wieder einmal schnell ausgemacht. Das böse China dreht der westlichen Industrie den Rohstoffhahn zu. Ganz so einfach ist die Situation allerdings nicht. Richtig ist, dass China derzeit etwa 90 Prozent der Selte- nen Erden fördert. Falsch ist, dass China 90 Prozent der Rohstoffvorkommen besitzt. Höchstens ein Drittel sollen es sein. Nur, die anderen potenziellen Förderländer wie USA, Kanada oder Australien haben ihre Förderung ein- gestellt bzw. nicht weiter ausgebaut, weil ihnen das Ge- schäft nicht lukrativ genug war. Und die deutsche Indus- trie hat gerne die billigen Rohstoffe aus China importiert und sich keinen Deut darum geschert, unter welch kata- strophalen menschlichen Bedingungen und Umweltbe- dingungen diese gefördert wurden. Jetzt, da China die Rohstoffe für die eigene Industrie behalten will, ist das Wehklagen groß. Drehen wir doch den Spieß um und fragen die deut- sche Industrie, was sie denn gegen die drohende Ver- knappung getan hat. Die Antwort ist einfach: nichts. Seit Jahren gäbe es die Möglichkeit, dass die deutsche Indus- trie ein Recyclingsystem für Seltene Erden und andere wichtige Rohstoffe wie Coltan aufbaut. Aber die kurz- fristige Rendite lockt und blockiert das Denken über den Tag hinaus. Sicherlich ist es teurer, ein Recyclingsystem aufzubauen, als billige Rohstoffe zu importieren. Und dann ist das Geschrei da, wenn der Engpass kommt. Hier kann der Wirtschaftsminister wieder einmal sehen, wie unfähig die von ihm so hochgelobte freie Marktwirt- schaft letztlich doch ist. Angesichts dessen, dass einige wenige Industrielän- der in wenigen Jahrzehnten die begrenzten Ressourcen der Welt verbrauchen, muss ein grundsätzlich anderer Ansatz gefunden werden, als Handelsliberalisierung und Abbau von Exporthemmnissen für Rohstoffe zu fordern, wie Bundesregierung und SPD dies tun. Den zügellosen Ressourcenverbrauch einfach fortzusetzen, heißt nichts anderes, als das Problem einfach ein paar Jahrzehnte in die Zukunft zu verschieben. Verlierer sind auf jeden Fall die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenlän- dern. Steigerung der Ressourceneffizienz und Materialrecy- cling sind die beiden wichtigsten Aufgaben, die anste- hen. Bei beidem gibt es ein eklatantes Marktversagen. Da die Gesellschaft aber nicht warten kann, ob und wann eine Verteuerung der Ressourcenimporte viel- leicht doch noch mal den notwendigen Impuls für die Industrie geben wird, muss der Staat steuernd eingrei- fen. Anforderungen an Ressourceneffizienz bei der öf- fentlichen Beschaffung, Aufbau eines Recyclingsys- tems, Besteuerung des Rohstoffverbrauchs, wie die EU- Kommission dies vorschlägt, sind wichtige Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden können. Letztlich besteht die Aufgabe darin, Strategien für eine Ressourcensuffizienz zu entwickeln, also der Redu- zierung von Ressourcenverbrauch. Wir haben in der En- quete-Kommission unsere Debatte über das Wirtschafts- wachstum, über die Abkopplung vom Rohstoffverbrauch und die Definition von Lebensqualität aufgenommen. ich hoffe, dass wir zu guten Ergebnissen kommen, die 10244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 (A) (C) (D)(B) dann auch in eine Rohstoffpolitik der Bundesregierung einfließen werden. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das Thema Rohstoffe, vor allem die Seltenen Er- den, erlebt derzeit Hochkonjunktur. Es ist gut, dass die- sem Thema mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Wie die Menschheit mit ihren begrenzten Ressourcen haushält, ist – gerade angesichts der riesigen Wachstumsprozesse in den Schwellenländern – eine der großen Herausforde- rungen des 21. Jahrhunderts. Wir müssen dieses Thema aber sehr präzise diskutieren, um Fehlschlüsse zu ver- meiden. Nehmen wir den aktuellen Knappheitsdiskurs bei den Seltenen Erden. Dort haben wir zwar gegenwär- tig in der Tat eine Abhängigkeit von China. China för- dert gerade über 90 Prozent der Seltenen Erden. Zu- gleich besitzt China aber „nur“ 31 Prozent der weltweit bekannten Vorkommen. Diese Abhängigkeit ist entstan- stoffreicher Länder sein. Die von der Bundesregierung angekündigten Rohstoffpartnerschaften dürfen nicht zu einem neuen Rohstoffkolonialismus ausarten. Völlig falsch ist zudem die Debatte, die in manchen sicherheits- politischen Zirkeln geführt wird und die den Schutz des Zugangs zu Rohstoffen zum Beispiel zur Aufgabe der NATO machen will. Eine solche Politik, die an die histo- rische Kanonenbootpolitik erinnert, lehnen wir strikt ab. Vor allem aber verrennen wir uns mit dieser Verengung auf die Beschaffungsseite. Glaubt jemand ernsthaft, man könnte China über die WTO zwingen, mehr zu exportie- ren, als es will? Ich würde meine Hoffnungen nicht da- rauf bauen, vor allem da es auch viele WTO-kompatible Möglichkeiten der Exporteinschränkungen gibt. Nein, wir brauchen einen Perspektivwechsel. Diesen löst lei- der auch der vorliegende Antrag nicht ein. Der Schwerpunkt einer modernen Rohstoffstrategie muss auf Effizienz, Recycling und Substitution liegen. den, weil andere Minenstandorte preislich nicht mehr wettbewerbsfähig waren und weil der Abbau Seltener Erden in hohem Maße umweltschädlich ist und es ja auch ganz bequem war, dass dieser Abbau in den hin- tersten Ecken Chinas stattfand. Hier wurde – weder von der Industrie noch von der Politik – strategisch gegenge- steuert. Stattdessen wird in den USA und in Europa jetzt die verbale Keule gegenüber China ausgepackt und be- klagt, dass China weniger Seltene Erden exportiert als in der Vergangenheit. Zudem wird der aktuelle Engpass viel zu oft gleichgesetzt mit langfristigen Knappheiten. Knappheiten sind aber kein unausweichliches Schicksal; sie sind wirtschaftlich und politisch gestaltbar. Deshalb hat die Diskussion mit ihrem Fokus auf die Beschaf- fungsperspektive eine gewaltige Schieflage. Nehmen wir die Rohstoffstrategie der EU. Dort steht als erster Punkt „Zugang zu Rohstoffen in Staaten außer- halb der EU“. Das halte ich für eine falsche Akzentset- zung. Es wäre falsch, Druck auf Entwicklungsländer auszuüben, um möglichst billig an ihre Rohstoffe zu kommen. Aber genau das ist zu befürchten. So will die EU sich dafür engagieren, dass möglichst keine Export- zölle auf Rohstoffe erhoben werden. Dabei können diese ein wichtiges Finanzierungsinstrument armer, aber roh- Diese Punkte werden zwar überall erwähnt, sie müssen aber im Zentrum unserer Politik stehen. Hier werden die Potenziale systematisch unterschätzt. So wird immer wieder behauptet, dass Seltene Erden kaum substituiert werden könnten – obwohl das für wichtige Produktkate- gorien wie Windräder, Elektroautos oder auch Mobil- funkgeräte nicht stimmt. Und auch beim Recycling kön- nen noch gewaltige Potenziale erschlossen werden. Das zeigt alleine schon die Tatsache, dass noch immer 40 Prozent des europäischen Elektroschrotts teilweise illegal in Drittländer exportiert werden. Hier müssen sich Industrie, Forschung und die Politik anstrengen. Und da kommt es besonders auf die europäi- sche Ebene an. Es macht hier keinen Sinn in national- staatliches Klein-Klein zu verfallen. Hier springt leider auch der Antrag der SPD zu kurz. Der Umgang mit end- lichen Ressourcen ist eine zentrale Zukunftsfrage. Nor- mativ müssen wir in den Industrieländern akzeptieren, dass aus einem überproportionalen Verbrauch kein Recht auf überproportionalen Zugang entsteht. Deshalb sollten wir bei der Lösung der Ressourcenfrage zuerst bei uns selber anfangen. Dazu wäre eine klare Schwerpunktset- zung auf Recycling, Effizienz und Substitution ein wich- tiger Schritt. 90. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709000000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. –

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bevor wir uns den noch ernsteren Aufgaben zuwen-
den, möchte ich den Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter zu
ihrem 60. Geburtstag gratulieren, den sie in den vergan-
genen Tagen gefeiert haben – man möchte es nicht für
möglich halten.


(Beifall)


Im Namen des gesamten Hauses noch einmal herzliche
Gratulation und alle guten Wünsche!

Der Kollege Leo Dautzenberg hat mit Wirkung vom
1. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße ich
einmal mehr den Kollegen Cajus Caesar,


(Beifall)


womit der Deutsche Bundestag seinen berühmtesten Ab-
geordneten endlich zurückbekommt.


(Heiterkeit)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-

Rede
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Vereinbarte Debatte

zur Entwicklung in Ägypten

(siehe 89. Sitzung)


ZP 2 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP:

Gewalttaten und anhaltende Ausschreitungen
in Berlin und anderen Städten im Zuge der
Räumung eines besetzten Hauses („Liebig 14“)


(siehe 89. Sitzung)


ZP 3 Weitere Überweisung im vereinf
fahren
Ergänzung zu TOP 27
zung

en 10. Februar 2011

.00 Uhr

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizie-
rung der „Internationalen Konvention gegen
die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung
und die Ausbildung von Söldnern“ der Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen

– Drucksache 17/4663 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot privater militärischer Dienstleistun-
gen aus Deutschland

– Drucksache 17/4673 –

text
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Brennelemente-Zwischenlager am Forschungs-
zentrum Jülich ertüchtigen

ksache 17/4690 –
isungsvorschlag:
ss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

ss für Bildung, Forschung und
achten Ver-

– Druc
Überwe
Ausschu
Ausschu

Technikfolgenabschätzung





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhin-
terziehung nutzen und ausbauen

– Drucksache 17/4670 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veraltetes
Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen

– Drucksache 17/4652 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern – Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren

– Drucksache 17/4671 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder –
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes-
regierung zum Thema Frauenquote

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Belarus – Repressionen beenden, Menschen-
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
schaft stärken

– Drucksache 17/4686 –

ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehn-
ten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-
gesetzes

– Drucksache 17/4231 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)

– Drucksache 17/4720 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Undine Kurth (Quedlinburg)


ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die Revision der OECD-Leitsätze für multina-
tionale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen

– Drucksache 17/4668 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden. Ich nehme an, dass Sie
damit einverstanden sind. – Das ist offenkundig so.
Dann können wir entsprechend verfahren.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Gestärkt aus der Krise – Der deutsche Mittel-
stand als Motor für Wachstum, Wohlstand
und Innovation

– Drucksache 17/4684 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Techno-
logie, Rainer Brüderle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deut-
sche Wirtschaft läuft auf Hochtouren. Der Economist
spricht bereits von „Germany’s New Wirtschaftswun-
der“. Unter Schwarz-Gelb wird Deutschland in der Welt





Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

geachtet; unter Rot-Grün wurde Deutschland in der Welt
verlacht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!)


Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum von
2,3 Prozent. Der DIHK geht nach seiner gestrigen Pro-
gnose sogar von 3 Prozent Wachstum für dieses Jahr aus.

Die Investitionsabsichten der Unternehmen haben ei-
nen Rekordwert erreicht. Ich habe noch gut den SPD-
Vorsitzenden im Ohr. Er wollte wegen der angeblichen
Investitionsschwäche eine Art Abwrackprämie für Ma-
schinen. Die Grünen wollen jetzt Ähnliches. Die Wirt-
schaft investiert ohne Ihre Abwrackfantasien. Der volks-
wirtschaftliche Sachverstand der Opposition bewegt sich
irgendwo zwischen Voodoo und Wolkenkuckucksheim.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie wollen vor allem das Falsche, aber davon reichlich.


(Heiterkeit bei der FDP)


Der Motor für die Wachstumsmaschine ist der Mittel-
stand. Dieser Aufschwung ist ein Mittelstandsaufschwung.
Viele Mittelständler haben ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in harten Zeiten die Treue gehalten. Sie ha-
ben sogar neue Beschäftigte eingestellt. Das ist gelebte
Eigenverantwortung, das hat sich bewährt, das ist soziale
Marktwirtschaft, und das ist eine Geisteshaltung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aufgrund des Antrags der Koalitionsfraktionen be-
fasst sich der Deutsche Bundestag mit dem Mittelstand.
Das freut mich sehr; denn der Mittelstand steht im Zen-
trum der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Schwarz-
Gelb hat den Aufschwungmotor Mittelstand gut geölt.


(Lachen des Abg. Peter Friedrich [SPD] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei Ihnen läuft alles wie geschmiert!)


Wir haben die gröbsten Schnitzer bei der Unternehmen-
steuer beseitigt. Wir haben die Erbschaftsteuer refor-
miert. Die Opposition dagegen will mit Vermögensteuer
und höherer Einkommensteuer den Motor abwürgen.

Jetzt haben die Grünen als Deckmäntelchen ein Mit-
telstandspapier aufgeschrieben. Für mich hört sich das
wie grüner Feudalismus an. Erst nimmt man dem Mittel-
ständler ein Schwein weg, dann gibt man ihm gnädig ein
paar Koteletts zurück. Dafür soll sich der Mittelstand
dann noch artig bedanken. Es ist nämlich so: Eine hö-
here Einkommensteuer trifft nicht nur private Einkom-
men, sie trifft auch 80 Prozent der deutschen Unterneh-
men. Diese sind Personengesellschaften und zahlen
Einkommensteuer. Das sollten Sie, Frau Scheel, immer
berücksichtigen. Einer muss den Wohlstand erwirtschaf-
ten. Das ist der deutsche Mittelstand.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Einer reicht nicht! – Zuruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir haben Bürokratie im Vergaberecht abgebaut. Wir
haben eine Fachkräfteinitiative in der Wirtschaft ange-
stoßen. Drei Viertel der Mittelständler haben bereits
Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Das
reicht von der exportstarken Maschinenbaubranche bis
zur Boombranche Tourismus. Wir haben einen neuen
Ausbildungspakt mit der Wirtschaft geschlossen. Aber
moderne Mittelstandspolitik geht über Programme und
Initiativen hinaus.

In einer global vernetzten Wirtschaft muss Mittel-
standspolitik schnell und flexibel reagieren. Wir unter-
stützen den Mittelstand überall und sofort, zum Beispiel
etwa Unternehmen, die in Nordafrika tätig sind und mit
der schwierigen Lage dort konfrontiert sind. Wir haben
mit unserem Aktionsplan Nordafrika zehn konkrete
Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, die in
der Region tätig sind, auf den Weg gebracht. Morgen
wird es dazu ein Treffen im Bundeswirtschaftsministe-
rium geben.

Wir sind Anwalt für den Mittelstand. Andere führen
sich als Genosse der Bosse auf. Sie schauen nach Holz-
mann, Hochtief, Opel und Karstadt. Für sie sind Großun-
ternehmen das Maß aller Dinge. Sie stellen die Rolle des
Mittelstands als Jobmotor infrage. Im SPD-Vorfeld wird
der Mittelstand als Trugbild bezeichnet. Meine Damen
und Herren, das ist nicht die Politik der Bundesregie-
rung. Wir kümmern uns um den Mittelstand.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gelaber!)


Wir setzen auf Privatinitiative und Eigenverantwortung.
Mein Ideal ist nicht: Oben ein paar Großkonzerne mit
Gewerkschaftsdominanz, und unten fristen ein paar vom
Staat abhängige und subventionierte Ich-AGs ihr Dasein.
Ein solches Wirtschaftsmodell lässt sich ganz schnell auf
Planwirtschaft umstellen. Davon mögen aktive oder Alt-
kommunisten im Bundestag träumen. Wir machen das
nicht. Wir wollen eine gesunde Mischung von großen,
mittleren und kleinen Unternehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Wirtschaftsministerium hat letzte Woche eine
Mittelstandsinitiative gestartet. Wir lösen die Wachs-
tumsbremsen für den Mittelstand. Wir müssen das Thema
der Gewerbesteuer anpacken. Es wäre fatal, wenn die Ge-
werbesteuerreform auf dem Hartz-IV-Verhandlungstisch
hinten herunterfällt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen unseren top ausgebildeten Frauen opti-
male Arbeitsbedingungen bieten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie einmal mit Frau von der Leyen!)


Im Mittelstand und in Familienunternehmen sind die
Frauen bereits auf dem Vormarsch. Es sollen aber noch
mehr Frauen auf den Chefsesseln Platz nehmen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach dem Vorbild des nationalen Ausbildungspakts
könnte ein Pakt für Frauen zusätzlich entsprechende Im-
pulse liefern.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])






Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Wir setzen auf den Mittelstand. Wir setzen auf seinen
Mut zur Verantwortung und auf seine Leistungsbereit-
schaft. Dieses Vertrauen ist gut angelegt. Es zahlt sich
doppelt und dreifach aus. Hier stimmt die Vertrauensren-
dite. Die Leistung des Mittelstands verdient Respekt,
und die Leistung des Mittelstands verdient insbesondere
unsere Unterstützung.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war es schon?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709000100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Friedrich für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1709000200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Brüderle, vielen Dank, dass Sie Ihr routinemä-
ßiges Selbstlob heute Morgen kürzer gehalten haben als
sonst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich stelle fest: An den Kernpunkten, die dazu beigetra-
gen haben, dass wir die Wirtschaftskrise überwunden ha-
ben, waren Sie und sind Sie nach wie vor nicht beteiligt.


(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Quatsch! Das ist ein Unsinn!)


Wir haben eben wieder gehört, dass Sie all die Reformen
und Konjunkturprogramme, die ganz maßgeblich noch
in der Großen Koalition und unter Rot-Grün angescho-
ben wurden und die uns durch die Krise geführt und Gott
sei Dank auch wieder herausgeführt haben, soweit wir es
heute sagen können, abgelehnt haben und in der Sache
immer noch ablehnen. Sie haben nicht begriffen, wie
man Wirtschaftspolitik in Deutschland machen muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind froh darüber, dass wir in Deutschland wieder
Wachstumszahlen haben. Aber wenn Sie sich die Zahlen
genau betrachten – so ehrlich sollten Sie zu sich selbst
sein –, dann sehen Sie: 2009 hatten wir durch die inter-
nationale Wirtschafts- und Finanzkrise einen Absturz
von minus 4,7 Prozent. Danach hatten wir plus 3,6 Pro-
zent, wesentlich getragen durch das Konjunkturpaket in
2010. Wir sind jetzt wieder auf dem Weg dahin, wo wir
bereits einmal waren, bevor uns die internationale Fi-
nanzkrise mit in den Strudel gezogen hat. Die Zeche da-
für hätten die Menschen und die Mittelständler bezahlt,
wenn es das Kurzarbeitergeld, das Konjunkturpaket und
das Investitionsprogramm auch der Kommunen nicht ge-
geben hätte. Dies alles wurde durch eine aktive Wirt-
schaftspolitik angeschoben – etwas, was für Sie schon
per se ein Fremdwort ist.


(Beifall bei der SPD)

In dem Antrag, den Sie uns heute auf den Tisch legen,
begrüßen Sie die umfangreichen Maßnahmen der Bun-
desregierung für den Mittelstand. Sie nennen drei Punkte:
die Hightech-Strategie, den Ausbildungspakt und die
Mittelstandsinitiative. Wenn wir uns – jenseits der Hoch-
glanzbroschüren – in den Antrag vertiefen, dann können
wir Folgendes feststellen: Beim Breitbandausbau haben
Sie die Ausbauziele verfehlt. Wir haben das Geld und die
Regulierung auf den Weg gebracht. Trotzdem wurden die
Ausbauziele verfehlt. Die Mittelständler und die kleinen
Betriebe in den Gewerbegebieten unserer Gemeinden lei-
den heute darunter, dass es den entsprechenden Ausbau
nicht gibt. Wir alle kennen das aus den Wahlkreisen; da-
rüber wird ja auch bei Ihnen eine Debatte geführt. Von
Hightech kann in den Gewerbegebieten, was den staatli-
chen Beitrag angeht, nicht die Rede sein, Herr Brüderle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Thema Ausbildungspakt – Sie selbst haben ge-
rade die Verhandlungen angesprochen –: Wo ist denn
Schwarz-Gelb, wenn es darum geht, Schulsozialarbeit
auf den Weg zu bringen? Wo ist denn Schwarz-Gelb,
wenn es darum geht, dass die Schüler an einen Schulab-
schluss herangeführt werden und dass sie einen Wechsel
wagen können? Was ist denn aus den Ausbildungsbe-
gleitern geworden? Sie haben sich allen Hilfen verwei-
gert, als es darum ging, Schule eben nicht nur als einen
reinen Lernort zu begreifen. Gerade diejenigen, die wir
brauchen, die Talente, werden nicht ausreichend geför-
dert. Auch die Organisation der Förderung von kleinsten
Kindesbeinen an wäre hier zu nennen. All dem haben
Sie sich gerade in den Verhandlungen verweigert.


(Beifall bei der SPD)


Schauen wir uns die faktische Mittelstandspolitik die-
ser Regierung einmal an: Schwarz-Gelb hat im Bundes-
haushalt bei der Regionalförderung gekürzt; das trifft vor
allem den Mittelstand und das Handwerk in den entspre-
chenden Gebieten. Schwarz-Gelb hat bei der Städte-
bauförderung gekürzt; das trifft vor allem das Ausbauge-
werbe und das Handwerk in den Städten und Gemeinden.
Auch das Marktanreizprogramm haben Sie gekürzt, wo-
durch Sie Zukunftsinvestitionen, Energieeffizienz und
bessere Energietechnik verhindern. In der Energiepolitik
haben Sie nicht nur die Monopole und Großkonzerne ge-
stärkt, sondern jetzt wollen Sie, wie man lesen kann, auch
noch den Einspeisevorrang zurücknehmen, was dazu
führt, dass die vielen Tausend Handwerker und Mittel-
ständler, die heute an der Energiewende arbeiten und da-
mit Menschen Arbeit bieten, von den Großkonzernen
wieder an die Wand gedrückt werden. Darum geht es Ih-
nen in Ihrer Energiepolitik. Das, was Sie bei der Energie
veranstalten, ist Mittelstandsfeindlichkeit pur.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach all dem Eigenlob und all den Beschreibungen
Ihrer dicken Papiere – Handlungen gibt es von Ihrer
Seite ja nur wenig – kommen Sie dann in Ihrem Antrag
zu ein paar Forderungen. Sie sind im Wesentlichen da-
von getragen, dass die Regierungskoalition die Bundes-





Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)

regierung auffordert, sich an den Koalitionsvertrag zu
halten. Das ist in gewisser Weise amüsant, weil der Ko-
alitionsvertrag voller Prüfaufträge steckt. Der wichtigste
Punkt für Sie – Sie haben ihn gerade noch einmal ange-
führt – ist das Thema Gewerbesteuer. In dem Antrag
schreiben Sie:

… entsprechend den Festlegungen im Koalitions-
vertrag so bald wie möglich Gesetzentwürfe vorzu-
legen, um kleine und mittlere Einkommen stärker
zu entlasten, …


(Beifall bei der FDP)


Sie sind übrigens die Koalition, die mit „Mehr Netto
vom Brutto“ angefangen und inzwischen bei deutlich
weniger Netto aufgehört hat. Durch das, was Sie bei der
Gesundheitsreform gemacht haben, durch Ihren Mini-
steuerkompromiss haben die Leute weniger Netto im
Geldbeutel und nicht mehr. Sie sind die Nettolügen-Ko-
alition. Insofern ist es gut, wenn Sie in den Antrag
schreiben, dass Sie dies noch immer vorhaben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter, die Gemeindefi-
nanzen sollten wachstumsfreundlich reformiert werden.
Herr Brüderle, Sie haben am 1. Februar bei der Vorstel-
lung Ihrer Mittelstandsinitiative gesagt, die Abschaffung
der Gewerbesteuer sei die sauberste Lösung.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben selber gesagt, dass Sie das Thema der Gewer-
besteuer bei den Verhandlungen über Hartz IV auf den
Tisch gelegt haben; Sie haben damit die Verhandlungen
überfrachtet. Sie verpassen mit Ihrer Aussage all den
Gewerbetreibenden, die ihre Steuern – keiner zahlt gern
Steuern – in dem vollen Bewusstsein zahlen, damit ihre
Gemeinde zu unterstützen, eine Ohrfeige. Sie verpassen
mit dieser Forderung allen Kommunalpolitikern eine
Ohrfeige. Es geht bei der Gewerbesteuerreform darum,
für eine Gleichbehandlung des Mittelstandes bei der Ge-
werbesteuer zu sorgen, indem eben nicht nur der Gewer-
betreibende, sondern auch der Freiberufler zur Zahlung
herangezogen wird. Es geht darum, eine vernünftige
Finanzierungsbasis für die Gemeinden zu schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Während wir damals gemeinsam mit der Union ein
Investitionsprogramm gerade zugunsten der Kommunen
aufgelegt haben, springen Sie nun direkt vom Gaspedal
auf die Bremse. Wir erleben jetzt bei der Haushalts-
aufstellung in fast allen Kommunen, dass die Investitions-
maßnahmen gestrichen werden, dass sie ihren Haushalt
nicht ausgleichen können. Sie wollen jetzt auch noch die
wesentliche Finanzierungsquelle der Gemeinden kom-
plett weghauen. Das sind Kommunalfeindlichkeit und
Mittelstandsfeindlichkeit in Reinkultur.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Immerhin haben Sie erkannt, dass wir eine neue
Gründungskultur brauchen. Da passt es hervorragend,
dass ausgerechnet diese Koalition an einer Stelle, die für
die Gründer wirklich wichtig ist, eine Verschlechterung
herbeigeführt hat. Hier geht es um die Frage: Habe ich
die notwendige Sicherheit, auch mit Blick auf meine Fa-
milie, eine Gründung zu wagen? Verfüge ich trotzdem
über eine soziale Absicherung? Sie waren diejenigen,
die die Beiträge der freiwillig Versicherten in der Ar-
beitslosenversicherung – das sind gerade Existenzgrün-
der, Unternehmer in Kleinbetrieben und Freiberufler –
um 300 Prozent erhöht haben. Sie haben es den Grün-
dern erschwert, sich in der Gründungsphase abzusichern.
Deswegen sind Sie die Allerletzten, die hier zum Thema
Gründungskultur etwas sagen sollten.


(Beifall bei der SPD)


Immerhin haben Sie erkannt, dass wir bei der Unter-
nehmensfinanzierung in eine problematische Situation
geraten. Wir haben Gott sei Dank keine Kreditklemme,
auch weil wir damals mit Peer Steinbrück in der Banken-
krise mutig gehandelt haben. Herr Brüderle, die Einrich-
tung des Kreditmediators ist Ihnen inzwischen selber
peinlich. Sie schreiben in Ihrem Antrag einen sehr ver-
schwurbelten Satz, der nichts anderes bedeutet als Fol-
gendes: Wir haben das Problem, dass Kredite infolge der
Umsetzung der Basel-III-Richtlinien insbesondere für
die Mittelständler teurer werden. Jetzt frage ich Sie: Wo
sind all Ihre Vorschläge und all Ihre Maßnahmen, um es
tatsächlich hinzubekommen, dass Mittelständler Eigen-
kapital oder Eigenkapitalersatz zu vernünftigen Bedin-
gungen erhalten können? Die Antwort auf die entspre-
chende Frage im Ausschuss war: Wir prüfen, wir prüfen,
wir prüfen. – Sie sagen inzwischen nicht einmal, was ge-
nau Sie prüfen; Sie sagen nur: Wir prüfen. – Sie haben
keine Antwort auf die Frage. Die von Ihnen veranstalte-
ten Bankengipfel haben nichts gebracht. Sie drücken
sich darum herum, zu sagen: Wir brauchen eine staatlich
unterstützte Mittelstandsanleihe, um dem Mittelstand
dabei zu helfen, neues Eigenkapital aufzubauen.

Summa summarum: Ihr Handeln richtet sich gegen
eine Unterstützung des Mittelstands, Ihrem Reden zu-
folge sind Sie dafür. Es bringt nichts, wenn Sie mitt-
wochs, donnerstags oder freitags im Parlament noch ein-
mal Sonntagsreden halten. Packen Sie besser die Punkte
an, die den Mittelstand wirklich betreffen: faire Wettbe-
werbsbedingungen, faire Ausbildungsbedingungen und
faire Finanzierungsbedingungen. Damit würden Sie dem
Mittelstand mehr nützen als mit der heißen Luft, die Sie
ständig produzieren.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709000300

Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schon wieder Wahlkampf! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Deswegen hat bei euch ja auch Friedrich gesprochen!)







(A) (C)



(D)(B)


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1709000400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Friedrich, Sie konnten mit der zeitlichen
Länge Ihrer Ausführungen durchaus mit dem Bundes-
wirtschaftsminister konkurrieren; aber hinsichtlich der
wirtschaftspolitischen Kompetenz und Substanz war es
doch ein bisschen dünn.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es kann gar keine Frage sein: Die Unternehmen unse-
res Landes sind mit den größten ökonomischen Heraus-
forderungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutsch-
land, mit der Bankenkrise und der Euro-Krise, sehr gut
fertig geworden. Das haben wir insbesondere dem Mit-
telstand zu verdanken. Der Mittelstand hat sich als das
stabile Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschaft
erwiesen. Es wird 2011 so sein, dass die meisten der
320 000 neu entstehenden Arbeitsplätze – so die Schät-
zung – aus dem Mittelstand kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Mittelstand ist der Motor für Wachstum, Beschäfti-
gung und Ausbildung in Deutschland. Nichts verdeutlicht
dies so sehr wie ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen, ins-
besondere auf die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland
und in Europa. Bekanntlich beruht der nachhaltige wirt-
schaftliche Erfolg eines Landes darauf, dass gerade den
jungen Menschen, den nachwachsenden Generationen,
hinreichende Beschäftigungsperspektiven geboten wer-
den. Unser Land tut dies glücklicherweise in hohem
Maße, übrigens insbesondere dank des Mittelstandes.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete dieser
Tage, dass die Werte der Jugendarbeitslosigkeit in
Europa fast überall zweistellig sind. Insbesondere ist die
Arbeitslosigkeit bei den jungen Menschen in Europa
nach der Krise in die Höhe geschossen. In Schweden,
dem vermeintlichen Arbeitnehmerparadies vergangener
Tage, beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote 22,9 Pro-
zent. Bei unserem Nachbarn Frankreich beträgt sie fast
25 Prozent. 33,4 Prozent sind es in Griechenland. Mehr
als ein Drittel der jungen Menschen zwischen 18 und
25 Jahren ist dort arbeitslos. Unrühmlicher Spitzenreiter
ist Spanien: Dort erreicht die Jugendarbeitslosigkeit den
erschreckenden Wert von 43,6 Prozent.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!)


Fast die Hälfte der jungen Menschen in Spanien hat kei-
nen Job. Nur in drei europäischen Ländern, der Schweiz,
den Niederlanden und Deutschland, bewegt sich die Ju-
gendarbeitslosigkeit im einstelligen Bereich. Besonders
gut sieht es in Baden-Württemberg aus. Baden-Württem-
berg hat nicht nur die niedrigste Arbeitslosenquote in
Deutschland, sondern wir haben mit 2,7 Prozent auch
die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganz
Europa. Das ist ein Spitzenwert, und darüber dürfen wir
uns freuen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Über 57 Jahre Unionsregierung!)


Ich möchte es noch einmal sagen: Dies liegt nicht zu-
letzt an unserem stabilen Mittelstand. Die mehr als
4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen und
Unternehmer, die Selbstständigen in den Bereichen In-
dustrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen und in den
freien Berufen besitzen in hohem Maße jene Kreativität
und Innovationskraft, die für Wachstum und die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen unabdingbare Voraussetzung
sind. Insofern haben sowohl die amtierende Bundes-
regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch
die baden-württembergische Landesregierung von
Ministerpräsident Stefan Mappus auf das richtige Pferd
gesetzt: Beide Seiten haben dem Mittelstand Aufmerk-
samkeit geschenkt, und zwar insbesondere in der Krise.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung hat mit einer Steuerentlastung
in Höhe von 24 Milliarden Euro Anfang 2010 insbeson-
dere dem Mittelstand unter die Arme gegriffen. Wir ha-
ben dadurch eine Kreditklemme verhindert, die eine
Kettenreaktion mit Firmenpleiten ausgelöst hätte. Dies
wurde ja 2008 befürchtet und wäre 2009 beinahe Reali-
tät geworden. Nichts davon ist eingetreten. Die konjunk-
turelle Rückendeckung seitens der Bundesregierung hat
funktioniert. Das gilt auch für die Hightech-Strategie
2020, die im Juli des vergangenen Jahres vom Kabinett
von Angela Merkel auf den Weg gebracht wurde. Ihr
zentrales Element ist die Stärkung der Innovationskraft
des Mittelstandes. Sie ermöglicht Vernetzungen der Un-
ternehmen untereinander, aber auch mit der Wissen-
schaft, was Synergieeffekte schafft, deren Wirkung wie-
derum neue und attraktive Arbeitsplätze sind. Das Ganze
funktioniert bereits gut.

Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass dies auch in
Zukunft so bleibt. Ausgehend von der Einsicht, dass
Mittelstandspolitik allen Menschen nützt, ist beim Mit-
telstand investiertes Geld gut angelegt. Für die gesamte
Gesellschaft entsteht so ein Höchstmaß an Mehrwert.

Wir wollen uns in Zukunft vor allem auf drei Berei-
che konzentrieren:

Erstens: Reduzierung der Staatsverschuldung. Nur ein
Staat, der in der Zeit spart, vermag in der Not solche Ret-
tungspakete aufzulegen, wie wir das in der Krise getan
haben. Deswegen ist es oberste Pflicht, nach der Über-
windung der Krise die Ausgaben wieder zurückzufahren
und nach Maßgabe der schwäbischen Hausfrau zu agie-
ren, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht zum
Vorbild erklärt hat. Dies ist zwar nicht populär, aber es
ist notwendig. Wer derzeit Griechenland, Portugal und
Spanien dafür kritisiert, dass sie die Sanierung ihrer
Staatsfinanzen allzu lang hinausgezögert haben, der
kann sich in unserem Land nicht den auf Nachhaltigkeit
ausgerichteten Sparzielen verweigern. Wir haben die
Verantwortung, in Europa Avantgarde und Vorbild zu
sein, auch beim Thema Haushaltskonsolidierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Negativbeispiel können Sie übrigens in Nord-
rhein-Westfalen sehen, wo eine rot-grün-dunkelrote Lan-
desregierung das Land in eine unverantwortliche Staats-
verschuldung hineintreibt. Diesen Weg wollen wir exakt
nicht gehen.





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens brauchen wir modernste, sauberste und si-
cherste Verkehrsinfrastrukturen, wenn wir auch in Zu-
kunft wirtschaftspolitisch vorne bleiben wollen. Dazu
sind wir gewillt, die Grünen aber leider nicht. Sie sind
die Dagegen-Partei, vor allem was die Infrastrukturen
angeht.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh je, oh je!)


Wir wussten bereits, dass Sie gegen Straßen und Flughä-
fen sind. Seit Stuttgart 21 wissen wir, dass Sie auch ge-
gen die Modernisierung einer hundert Jahre alten Bahn-
strecke und gegen die Modernisierung von Bahnhöfen
sind. Und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus:
Jetzt sind Sie auch noch gegen Investitionen in die öko-
logischsten Verkehrswege überhaupt, gegen Investitio-
nen in die Schifffahrt. Der Vorsitzende des Verkehrsaus-
schusses, Winfried Hermann, sagte kürzlich, der Ausbau
von Wasserwegen und Schleusen in Baden-Württemberg
sei sinnlos und habe zu unterbleiben. Sie sind letztlich
gegen alles. Sie gefährden damit den wirtschaftlichen
Erfolg dieses Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie gefährden Arbeitsplätze. Sie sind Wohlstandsgefähr-
der.

Drittens möchte ich das Thema Bürokratieabbau an-
sprechen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709000500

Herr Kollege Strobl.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1709000600

Kaum etwas gefährdet wirtschaftlichen Erfolg so wie

eine übertriebene Bürokratie. Das darf nicht sein.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


und möchte an Sie alle appellieren: Unterstützen Sie den
Antrag der Koalitionsfraktionen! Die Umsetzung von
dessen 15 Forderungen wird mithelfen, dass wir nach-
haltig aus der Krise herauskommen. Daran sollten wir
alle ein Interesse haben.

Besten Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709000700

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da kommt der nächste Mittelstandsbeauftragte!)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709000800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wun-

dern sich, dass die Linke zum Thema Mittelstand
spricht. Wir sind die eigentliche Mittelstandspartei. Ich
werde Ihnen das gleich erklären.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie sind noch nicht mal Mittelmaß, Herr Gysi!)


Eines steht nun einmal fest: Der Mittelstand ist das
Rückgrat unserer Wirtschaft:


(Zuruf von der CDU/CSU: Der Auftakt zu einer Büttenrede!)


70 Prozent aller Beschäftigten und 80 Prozent aller sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in Unter-
nehmen und im Handwerk mit weniger als 500 Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern. 90 Prozent der 1,4 Millionen
Jugendlichen werden in mittelständischen Unternehmen
ausgebildet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unterneh-
men hat zwischen 2001 und 2008 um über 300 000 auf
nunmehr 3,75 Millionen zugenommen.


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie haben ja unser Infoblatt gelesen! Sehr gut!)


Allerdings gibt es darunter 2,3 Millionen Soloselbststän-
dige. Darüber müssen wir uns ein anderes Mal unterhal-
ten.

Die Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen
arbeitet auf dem Binnenmarkt. Sie brauchen deshalb
zahlungskräftige Nachfrage nach Waren und Dienstleis-
tungen. Daran mangelt es in Deutschland ganz erheb-
lich; denn der Aufschwung geht an der Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger vorbei.

Jetzt müssen Sie sich die Zahlen anhören; das tut mir
leid: 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbei-
ten im Niedriglohnsektor. Diese nutzen dem Mittelstand
gar nichts, um es einmal ganz klar zu sagen. Jede dritte
Neueinstellung im sogenannten Aufschwung erfolgt in
Leiharbeit. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklave-
rei.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht nur die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden
ausgebeutet. Vielmehr werden damit auch noch die
Löhne der anderen Beschäftigten gedrückt. Für die Leih-
arbeiterinnen und Leiharbeiter gibt es nicht einmal einen
Mindestlohn, und zwar dank der FDP, weil sie mit allen
Mitteln versucht, den Mindestlohn zu verhindern.

Rund die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt nur mit
befristeten Arbeitsverträgen. Die Zahl der Aufstockerin-
nen und Aufstocker stieg um 100 000 auf 1,4 Millionen.
Übrigens auch ganz interessant: Unter den Aufstockern
sind 92 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. Frau
Merkel und andere finden das Aufstocken toll. Ich sage
Ihnen Folgendes: Wenn jemand einen Vollzeitjob hat,
gute Arbeit leistet und danach zum Sozialamt gehen
muss, um sein Existenzminimum zu sichern, dann ist das
für die Bundesrepublik Deutschland ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709000900

Herr Kollege Gysi, nun haben Sie sich ja beinahe eine

Zwischenfrage bestellt. Die Frage ist, ob Sie diese zulas-
sen wollen.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709001000

Es wird zwar keine Frage werden; aber ich lasse sie

natürlich zu. Herr Präsident, Sie müssen aber die Uhr an-
halten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709001100

Sie werden doch nicht auch nur andeuten wollen, dass

ich Ihnen jemals auch nur zehn Sekunden gestohlen
hätte.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1709001200

Lieber Kollege Gysi, haben Sie eine Berechnung – es

wird doch eine Frage –, wie viele Aufstocker es gäbe,
wenn wir Ihrem Modell, das einen Hartz-IV-Regelsatz in
Höhe von 500 Euro pro Person vorsieht, folgen würden?


(Zuruf von der LINKEN: Mindestlohn!)


Haben Sie einmal ausgerechnet, Kollege Gysi, dass,
wenn man den von Ihnen geforderten Mindestlohn in
Höhe von 11 Euro oder 10 Euro – ich weiß nicht, wie der
Tageskurs bei Ihnen gerade ist – einführen würde –


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709001300

Ich schicke Ihnen unsere Programme zu, damit Sie

das genau wissen. Das ist kein Problem.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1709001400

– gerne –, eine vierköpfige Familie etwa 1 000 Euro

weniger hätte als eine Familie in Hartz IV, die nach Ih-
rem Modell einen Regelsatz von 500 Euro pro Person er-
halten würde?


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Rechnen müsste man können!)


Ihre Forderungen bezüglich eines Mindestlohns und
Hartz IV müssen Sie zusammen betrachten. Wie viele
Aufstocker würde es dann geben? Haben Sie das einmal
ausgerechnet?


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709001500

Aufstocker gäbe es nach unserem Modell überhaupt

nicht, weil wir einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn verlangen, der dies eindeutig verhindern
würde.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie müssen unsere Vorstellungen immer im Zusammen-
hang sehen. Den Regelsatz, den wir für Hartz-IV-Emp-
fängerinnen und Hartz-IV-Empfänger als eine soziale
diskriminierungsfreie Grundsicherung fordern, ist das
eine; der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist
das andere.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das passt nicht zusammen!)


Dann wäre das Lohnabstandsgebot eingehalten, und
dann gäbe es all die Probleme nicht, die Sie dadurch an-
richten, dass Sie sowohl die Steigerung des Regelsatzes
als auch die Einführung eines flächendeckenden gesetz-
lichen Mindestlohns verhindern.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Mittelstand braucht den flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohn, den Sie verhindern. Er braucht
auch steigende Löhne. Jetzt müssen Sie sich – auch Sie,
Herr Brüderle – einmal mit der Tatsache auseinanderset-
zen, dass es nur eine kapitalistische Industriegesellschaft
auf der Welt gibt, die in den letzten zehn Jahren einen
Verlust beim Reallohn zu verzeichnen hatte, nämlich
Deutschland: minus 4,5 Prozent – das gab es weder in
den USA noch in Großbritannien noch in Frankreich
noch in Skandinavien. Damit müssen Sie sich einmal
auseinandersetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir
dem Mittelstand helfen wollen, brauchen wir jetzt Lohn-
steigerungen von mindestens 5 Prozent; besser wären
10 Prozent.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: 20! 30! 40!)


– Nein, wir übertreiben ja nicht.

Ich sage Ihnen noch etwas zu höheren Sozialleistun-
gen; dazu gehört auch Hartz IV. Schauen wir uns doch
einmal dieses einzigartige Schauspiel an, das Union,
SPD, FDP und Grüne diesbezüglich geliefert haben. Das
Bundesverfassungsgericht hat gestern vor einem Jahr
entschieden, dass das Gesetz, in dem die Hartz-IV-Leis-
tungen geregelt sind und das von diesen vier Fraktionen
verabschiedet wurde, grundgesetzwidrig ist und dass es
bis zum 31. Dezember 2010 eine Neuregelung geben
muss. Sie haben versagt; es gibt bis heute keine Neu-
regelung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Stimmen Sie doch zu!)


Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorge-
legt, in dem – auch das ist interessant – alle diskriminie-
renden und diffamierenden Strukturen von Hartz IV bei-
behalten wurden. Die Steigerung des Regelsatzes um
5 Euro hatten Sie schon vor zwei Jahren angekündigt;
dafür hätten Sie gar nichts berechnen müssen. Sie haben
ja auch gar nichts neu berechnet, sondern einfach die
5 Euro genommen. Wenn das so einfach ist, warum ha-
ben Sie den Gesetzentwurf nicht vor der Sommerpause
vorgelegt?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Warum so spät? Warum haben Sie das absichtlich verzö-
gert? Sie wollten, dass das Gesetz nicht zustande kommt.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist der Punkt! – Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Dann haben Sie auch noch das Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts missachtet. Es liegt keine Berechnung
des Bedarfs für Kinder vor, obwohl das Bundesverfas-
sungsgericht dies verlangt hat.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Was hat das denn mit Mittelstandspolitik zu tun? – Gegenruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sehr viel!)


– Das kann ich Ihnen sagen: Der Mittelstand braucht
Kaufkraft, und diese verweigern Sie dem Mittelstand.
Das ist das Problem.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben die verdeckten Armen nicht aus der Be-
rechnung herausgenommen, und Sie haben bei der Ver-
gleichsberechnung nicht mehr die unteren 20 Prozent
der Einkommen, sondern nur noch die unteren
15 Prozent einbezogen, um die 5 Prozent, die etwas bes-
ser verdienen, nicht in der Vergleichsrechnung zu haben.
Damit verfolgen Sie ein Ziel: Es sollen nicht mehr als
5 Euro werden. Das alles halte ich für grundgesetzwid-
rig. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht er-
neut angerufen werden wird.

Nun haben Sie dieses Gesetz beschlossen, der Bun-
desrat lehnte es ab, die Bundesregierung berief den Ver-
mittlungsausschuss ein, und dieser bildete eine Arbeits-
gruppe. Dann passierte das Übliche. Union, SPD, FDP
und Grüne waren sich einig: In diese Arbeitsgruppe neh-
men wir die Linke selbstverständlich nicht mit hinein.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! Das bringt ja auch nichts!)


Warum fürchteten Sie uns dort? Aus zwei Gründen: ers-
tens, weil Sie keine prinzipielle Kritik an Hartz IV hören
wollten – denn Sie vier sind sich einig, was Hartz IV
dem Grundsatz nach betrifft –, und zweitens, weil Sie
befürchteten, dass die Linke dann erfährt, welche Ne-
bendeals dort verabredet werden.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Na, na! – Quatsch!)


Also haben Sie alle einmütig beschlossen: Die Linke
darf nicht daran teilnehmen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Weltverschwörung!)


Daraufhin haben wir das Bundesverfassungsgericht
angerufen und eine einstweilige Anordnung beantragt,
und das Bundesverfassungsgericht hat dem Vermitt-
lungsausschuss Fragen gestellt. Diese Fragen waren so
gestellt, dass dem Vermittlungsausschuss klar war: Die
einstweilige Anordnung wird höchstwahrscheinlich er-
gehen.


(Birgit Homburger [FDP]: Zum Thema! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Irgendwann müssen Sie aber auch noch etwas zum Mittelstand sagen!)


Daraufhin hat Herr Altmaier von der Union dem Bun-
desverfassungsgericht mitgeteilt, dass die Linke natür-
lich in diese wunderbare Arbeitsgruppe aufgenommen
wird.


(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Was wir auch gemacht haben!)


– Ja, natürlich; das haben Sie auch gemacht.

Am 19. Januar dieses Jahres haben Sie dann – weil
Sie ärgerte, dass die Linken jetzt doch von den Neben-
deals erfahren


(Birgit Homburger [FDP]: Mein Gott! Wovon reden Sie denn da?)


und Sie sich immer wieder unsere prinzipielle Kritik an-
hören mussten – eine illegale Gruppe außerhalb der Ar-
beitsgruppe gebildet. Diese illegale Truppe sollte alles
vorbereiten: für den Vermittlungsausschuss, für den
Bundestag und für den Bundesrat. Das Problem ist nur:
Ohne uns ist selbst diese illegale Truppe zu keinem Er-
gebnis gekommen. Damit haben wir es jetzt zu tun.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Mit illegalen Truppen haben Sie ja Ihre Erfahrungen! Damit kennen Sie sich aus! Das ist wahr!)


– Ich sage Ihnen eines: Sie sollten einmal darüber nach-
denken, warum Ihre Fraktion nie die Hilfe des Bundes-
verfassungsgerichts benötigt, um ihre Rechte zu bekom-
men, und warum nur die Linke immer wieder den Weg
zum Bundesverfassungsgericht gehen muss. Das liegt an
Ihrer grundgesetzwidrigen Einstellung im Verhältnis zur
Linken. So ist das.


(Beifall bei der LINKEN – Peter Altmaier [CDU/CSU]: Vielleicht liegt das auch an Ihnen!)


– Damit haben Sie, Herr Altmaier, übrigens auch das
Versprechen, das Sie gegenüber dem Bundesverfas-
sungsgericht abgegeben haben, gebrochen. Ich weiß,
dass die Bundesverfassungsrichter so etwas nicht mö-
gen.

Jetzt gibt es, wie gesagt, kein Ergebnis. Das bedeutet:
6,5 Millionen Betroffene wissen eigentlich nicht, woran
sie sind.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sagen Sie auch noch mal etwas zum Mittelstand?)


Das Gesetz, das es einmal gab, ist grundgesetzwidrig
und gilt nicht mehr. Ein neues Gesetz liegt aber nicht
vor. Unter den 6,5 Millionen Betroffenen sind 1,8 Mil-
lionen Kinder.


(Dieter Jasper [CDU/CSU]: Mittelstand!)


Schon jetzt steht fest: Für drei Monate ist ihnen der Zu-
schuss zum Mittagessen unersetzlich entzogen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Reden Sie gerade über die Kinder von Mittelständlern?)


Ich finde das alles skandalös. Wenn der einzige Unter-
schied zwischen SPD und Grünen auf der einen Seite
und Union und FDP auf der anderen Seite darin besteht,
dass die einen eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro und





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

die anderen eine Erhöhung um 11 Euro wollen, muss ich
Ihnen sagen: Auch für arme Leute ist das eine Verhöh-
nung. Darum kann es im Prinzip nicht gehen.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da hat Ihnen jemand definitiv die falsche Rede aufgeschrieben! Sehr schade!)


Wieder einmal wird die Aufgabe, Politik zu machen,
dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Die FDP tut
alles, um Lohnniveau, Renten- und Sozialleistungen zu
senken. Ich sage Ihnen: Das ist eine mittelstandsfeindli-
che Politik.

Interessant ist auch Folgendes: Die Interessenver-
bände des Mittelstands fordern Steuervereinfachung und
Bürokratieabbau. Im Unterschied zur FDP fordern sie
nicht Steuersenkungen, sondern Steuervereinfachung
und Bürokratieabbau.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das machen wir ja gerade! Darum kümmern wir uns!)


Dabei haben sie in uns einen Partner.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Interessant! Seit wann kümmert sich denn die Linke um Bürokratieabbau und Steuervereinfachungen?)


– Es gibt wunderbare Steuervereinfachungen: höherer
Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer, linearer Ta-
rifverlauf, endlich ein Abbau des Steuerbauches für die
durchschnittlich Verdienenden, der überhaupt nicht ge-
rechtfertigt ist, und eine Erhöhung des Spitzensteuersat-
zes bei der Einkommensteuer von 42 auf 53 Prozent für
alle Einkommen, die man oberhalb von 72 000 Euro er-
zielt. Ja, dann müssten wir alle mehr Steuern zahlen.
Dazu kann ich aber nur sagen: Na und? Das würde für
mehr Gerechtigkeit sorgen und das Allgemeinwohl stär-
ken.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen würde das auch Existenzgründerinnen und
Existenzgründern nützen.

Was machen Sie? Lassen Sie mich ein Beispiel nen-
nen: die Abgeltungsteuer. Die Reichen müssen nach der
Abgeltungsteuer 25 Prozent Steuern zahlen, unter ande-
rem auf Zinseinnahmen. Das ist Geld von Geld. Ein Un-
ternehmen, das Gewinn gemacht hat und investiert, muss
viel höhere Steuern zahlen. Erklären Sie doch einmal,
wieso man fürs Nichtstun, wenn man also Geld be-
kommt, so viel weniger Steuern zahlen muss, als wenn
man etwas tut. Nein, da haben Sie gar nichts verbessert.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist doch schon versteuert!)


– Ich kenne die FDP-Argumentation. Wissen Sie, wie
Ihre Argumentation immer lautete? Sie lautete: Weil es
so viel Steuerhinterziehung gibt, muss man den Steuer-
hinterziehern entgegenkommen.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach! So ein Quatsch! Aber dieses Geld wurde doch schon versteuert!)


Ich sage Ihnen: Dieses Entgegenkommen gegenüber
Kriminellen nutzt Ihnen gar nichts – ganz im Gegenteil.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie verstehen gar nichts!)


– Ja, es kann schon sein, dass Sie viel mehr von allem
verstehen. Aber die Ergebnisse Ihrer Politik sehen wir,
und die sind katastrophal, lieber Herr Lindner.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Auch Ihre Steuerpolitik ist mittelstands-
feindlich.

Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir gut
ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen.
Hier ist Ihnen allerdings ein großer Vorwurf zu machen.
Es gibt in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir sind gerade bei der Mittelstandspolitik, Herr Gysi! Nur mal ganz nebenbei!)


Ich habe Ihnen schon einmal erklärt: Das ist
19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Top-Bildungssystem
von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Davon sind
wir meilenweit entfernt. Sie trennen die Kinder so früh
wie möglich, um soziale Ausgrenzung zu betreiben. Das
ist nicht der Weg, um ausgebildete Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zu bekommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Allerdings sage ich auch, dass die kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen zu wenig ausbilden. Wir brau-
chen erstens Top-Schulen. Wir brauchen auch eine
Ausbildungsumlage für Unternehmen, die jene Unter-
nehmen bezahlen müssen, die ausbilden könnten, es aber
nicht tun. Wir brauchen verbindliche Vereinbarungen
über die Zahl der Ausbildungsplätze und ausreichende
Studienplätze, und zwar ohne Studiengebühren. Dazu
sage ich Ihnen noch etwas: Die ärmeren Leute in Bayern
studieren inzwischen in Berlin, weil es in Berlin keine
Studiengebühren gibt. Sie können nicht alles zulasten
Berlins regeln. Das will ich Ihnen auch einmal so deut-
lich sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden in Berlin keine Studiengebühren einführen,
selbst wenn Sie sie in Bayern erhöhen. Ich glaube aller-
dings, dass wir von den Studiengebühren wegkommen
müssen.

Die Forschungsförderung, die Sie planen, planen Sie
übrigens zu 80 Prozent für Konzerne und nur zu
20 Prozent, lieber Herr Brüderle, für die kleinen und
mittelständischen Unternehmen; das sind gerade einmal
300 Millionen Euro. Warum erfolgt diese Ungerechtig-
keit? – Leider läuft meine Zeit ab. Ich hätte Ihnen noch
so viel zu sagen.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine gute Nachricht!)


– Ich wusste es. Wissen Sie, ich bekomme so selten Bei-
fall von Ihnen, dass ich ab und zu einen solchen Satz sa-
gen muss, um ihn doch zu bekommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Gut, dann machen wir das noch einmal!)


Lassen Sie mich den letzten Satz sagen. Die größten
Hemmnisse sind übrigens die Banken, die so gut wie
keine Kredite an kleine und mittelständische Unterneh-
men vergeben. Diese Unternehmen haben größte
Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Sie unterneh-
men nichts dagegen. Die größten Hemmnisse für den
Mittelstand sind die Deutsche Bank und die sich nach ihr
richtende Politik dieser Bundesregierung.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie reden von Schulen! Thema verfehlt! Note sechs!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709001600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709001700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kollege Gysi, wenn man einen Großteil der Zeit, die für
die Mittelstandsdebatte vorgesehen war, über Hartz IV
redet, bleibt natürlich nur wenig Zeit, um anschließend
noch etwas zum Mittelstand sagen zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das hören Sie nicht gerne!)


Aber der Minister war nicht besser. Der Minister hat
es in sechs Minuten geschafft, hier relativ viel heiße Luft
abzulassen, aber zu den Problemen, die es zu lösen gilt,
kein Wort zu verlieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Brüderle, dieses Sich-selbst-Loben, das man von
der FDP kennt – das betreiben ja viele von Ihnen sehr
gerne –, wird in den Ländern mittlerweile so gesehen
– ich bringe ein kurzes Zitat Ihres Landesvize in Hessen,
der Folgendes wörtlich gesagt hat –:

Der Slogan ‚Erfolgreich vor Ort‘ verbietet eigent-
lich, dass sich Westerwelle vor Ort breit macht.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist zwar hart, zeigt aber, dass das, was Sie hier an
guter Politik zu machen glauben, vor Ort anscheinend
nicht ankommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist die Wahrnehmung der Menschen und ein Grund
dafür, warum Sie in den Umfragen so abschneiden, wie
Sie abschneiden.

Es stimmt: Der Mittelstand ist gut durch die Krise ge-
kommen. Daher müsste es umgekehrt laufen: Nicht die
Politik sollte sich dafür auf die Schultern klopfen, was
sie toll gemacht hat. Vielmehr sollten wir dem Mittel-
stand danken; denn wegen der Stärke der Unternehmer
und Unternehmerinnen sind wir gut durch diese Krise
gekommen. Sie haben es geschafft, das gut zu organisie-
ren, und zwar trotz dieser Regierung und nicht wegen
dieser Regierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was auch auffällt, ist, dass Sie in Ihrem Antrag – das
ist dieses 15-Punkte-Papier; es finden momentan in vie-
len Bundesländern Wahlkämpfe statt, und daher ist es
nicht überraschend, dass wir hier und heute eine Mittel-
standsdebatte führen – Forderungen stellen, die diese
Regierung eigentlich schon längst hätte erfüllen können.
Es ist bemerkenswert, dass Koalitionsfraktionen ihre ei-
gene Regierung auffordern, etwas Vernünftiges zu tun.

Sie haben es in der Vergangenheit geschafft, über die
Mehrwertsteuergeschenke für die Hoteliers, über Mil-
liarden-Gutscheine für Atomkonzerne, über die Ab-
wrackprämie für die Automobilindustrie so viel Geld zu
verpulvern, dass das, was Sie selbst in Ihrem Antrag als
wichtig erachten, nämlich die Forschungsförderung für
die kleinen und mittelständischen Unternehmen, angeb-
lich nicht finanzierbar ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist Ihre Denke, die dahintersteckt: Es geht Ihnen in
Wirklichkeit um Klientelpolitik. Es geht Ihnen nicht da-
rum, eine vernünftige Strukturveränderung über eine
Rahmengesetzgebung herbeizuführen, wie sie beispiels-
weise unsere steuerliche Forschungsförderung für den
Mittelstand eine wäre. Sie sagen bei jeder Veranstaltung:
Das ist wichtig; das müssen wir machen. Wenn es aber
konkret wird, dann lehnen Sie ab. Die Grünen hatten ja
bereits einen Antrag dazu gestellt. Die Union und die
FDP haben ihn abgelehnt. Jetzt haben Sie diese Forde-
rungen in Ihr Papier geschrieben. Daran sieht man: Es ist
irgendwie nett gemeint;


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nur Getöse!)


aber sobald es konkret wird, sind Sie abgetaucht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das rächt sich aber. Die KMUs erhalten nur etwa
15 Prozent der Forschungsausgaben. Gerade die kleinen
und mittelständischen Unternehmen sorgen aber doch in
der mittleren Perspektive für das, was wir brauchen: für
Innovationen im Bereich der Fahrzeugtechnologie, Inno-
vationen im Bereich der Energieversorgung, Innovatio-
nen in der chemischen Industrie und den kleinen Unter-
nehmen, zum Beispiel der Medizingeräteindustrie. Sie





Christine Scheel


(A) (C)



(D)(B)

müssen erkennen, dass sehr viel an Förderung fehlt, um
hier voranzukommen. Darauf sollte man den Fokus le-
gen. Ansonsten rächt sich das am Ende; denn wir wollen
doch Vorbild sein für vernünftige Produkte auf dem
Weltmarkt, die ressourcenarm produziert werden und
wenig Energie verbrauchen. Dafür ist diese Forschungs-
förderung notwendig. Geben Sie sich endlich einen
Ruck, und machen Sie das.

Ein anderes Thema, das Sie auch sträflich vernachläs-
sigt haben, ist der Fachkräftemangel. Es wird darüber
gesprochen, wie viele Fachkräfte fehlen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Brüderle, hallo! Fachkräftemangel!)


Wir wissen, dass die Zeit drängt und dass dem Mittel-
stand Kosten in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro ent-
stehen, weil es diese Fachkräfte nicht gibt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709001800

Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin.

Herr Minister, es wäre ganz schön, wenn bei dem Be-
mühen der Rednerin, sich an Sie zu wenden, dafür auch
Aufmerksamkeit hergestellt werden könnte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gerade wenn es um Fachkräftemangel geht! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist der Fachkräftemangel in der Bundesregierung!)



Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709001900

Ich nehme an, der Herr Minister muss sich zwischen-

durch beraten lassen, wie das Problem des Fachkräfte-
mangels zu lösen ist. Das genau ist das Problem; denn
innerhalb der Koalition gibt es hier keine klare Linie. Es
wird immer nur darüber geredet, aber es gibt keine Posi-
tion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Bei der CSU ist es ganz schlimm. Sie diskutiert jetzt
darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist –
und das im Zusammenhang mit der Diskussion über
Fachkräfte. Absurder geht es wirklich nicht mehr.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott, Christine!)


Wer mittelständische Unternehmen besucht, der weiß,
wie schwierig die Situation ist, lieber Ernst Hinsken. Wir
wissen, wie schwierig die Situation ist, und wir wissen
auch, dass die derzeitigen Regelungen, von denen Sie
glauben, dass sie super funktionieren, eben nicht funk-
tionieren. Wenn man bei der Regierung nachfragt, dann
erfährt man zum Beispiel, dass es keine Daten über Vor-
rangprüfungen und darüber gibt, wie lange das dauert.
Es gibt einfach keine vernünftige Grundlage, sondern es
wird ins Blaue hinein behauptet,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ins Grüne hinein!)

wir hätten hier keine Probleme, was natürlich überhaupt
nicht stimmt und von den Unternehmen auch völlig an-
ders gesehen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es passiert nichts. Wir haben auch den mehrfach an-
gekündigten Entwurf eines Gesetzes zur schnelleren An-
erkennung von ausländischen Abschlüssen noch nicht
vorliegen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ungeheuerlich!)


Es ist ein Problem, wenn eine Ärztin aus einem osteuro-
päischen Land hier nicht im Krankenhaus arbeiten kann,
weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird, sondern als
Reinigungskraft arbeiten muss, weil Sie das nicht voran-
bringen, und wir gleichzeitig einen Ärzte- und Ärztin-
nenmangel haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daran sieht man, dass diese Regierung nicht in der Lage
ist, die Probleme, die es zu lösen gilt, auch wirklich an-
zugehen.

Der Vorschlag, den die Grünen machen, ist: Wir brau-
chen eine Kombination. Heimische Arbeitskräfte müs-
sen weiter gefördert und qualifiziert werden; gleichzeitig
brauchen wir bedarfsorientiert eine kontrollierte Zuwan-
derung. Wir haben eine Absenkung der Mindestver-
dienstgrenze auf 40 000 Euro vorgeschlagen. Das erzäh-
len Sie draußen auch immer herum. In der Praxis haben
Sie es aber noch immer nicht politisch umgesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sagen immer, man müsse Brücken bauen und etwas
tun; aber Sie sind nicht bereit, hier voranzugehen, weil
es zu diesem Punkt keine übereinstimmende Meinung in
der Koalition gibt. In Wirklichkeit streiten Sie seit zwei
Jahren. Das ist schlimm für unseren Standort und wirft
uns im internationalen Wettbewerb zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Beispiel dafür, wie kurzsichtig auch Ihre Energie-
politik ist, ist die Laufzeitverlängerung für die Atom-
kraftwerke, über die wir hier schon öfter diskutiert ha-
ben. Dabei geht es auch um die Frage, was das für
unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen be-
deutet. Denn der Mittelstand wird durch eine solche
Maßnahme, wie Sie sie mit der Laufzeitverlängerung ge-
troffen haben, massiv benachteiligt. Der Ausbau der re-
generativen Energien wird gestoppt.


(Jörg van Essen [FDP]: Das haben wir gerade bei der Solarenergie gemerkt! In was für einer Wirklichkeit leben Sie denn eigentlich?)


Die kleinen dezentralen Energieversorger wie die Stadt-
werke werden ausgebremst. Es gibt wütende Briefe aus
den Regionen, in denen eine dezentrale Versorgung mit
Beteiligung des örtlichen Handwerks gefordert und fest-
gestellt wird, dass diese Regierung mit der von ihr ge-
troffenen falschen Entscheidung ein gut geplantes Ge-





Christine Scheel


(A) (C)



(D)(B)

schäftsmodell zunichte gemacht hat, und zwar zulasten
der Unternehmen vor Ort, vor allem der kleinen und mit-
telständischen Betriebe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der KMU über-
steigt die in den Atomkonzernen um ein Vielfaches. Das
ist bekannt.

Sie haben die Förderung des Handwerks angekündigt.
Was haben Sie aber gemacht? Sie haben bei der energeti-
schen Gebäudesanierung die Förderung zusammen-
gestrichen. Sie haben die Förderung reduziert, obwohl
alle wissen, dass das Investitionsvolumen in diesem Be-
reich über 300 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik
Deutschland sichert. Wir wissen, dass 1 Euro öffentliche
Investitionen gerade in diesem Bereich weitere 9 Euro
an Investitionen auslöst und dass der Staat letztlich über
die gezahlte Mehrwertsteuer mehr einnimmt, als er für
Förderung ausgibt. Auch daran wird klar, dass Sie den
Schwerpunkt falsch gesetzt haben.

Für uns steht fest: Der ökologische Mittelstand ist
weltmarktführend. Er ist innovativ und steht für die öko-
logische Modernisierung. Bremsen Sie sie nicht aus!
Denn die Unternehmen wollen ökologische Modernisie-
rung. Sie wollen, dass es auf dem Weltmarkt vernünftige
Produkte gibt. Dann sind aber auch die entsprechenden
Rahmenbedingungen in Deutschland notwendig, um
diese Zukunftsorientierung leben zu können. Durch Ihre
Politik machen Sie vielen das Leben ziemlich schwer.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709002000

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1709002100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist derjenige Staat am besten verwaltet und re-
giert, in welchem der Mittelstand der zahlreichste
ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieses Zitat ist 2 400 Jahre alt. Es stammt von Aristoteles
und trifft den Nagel auf den Kopf. Die Entwicklung in
Deutschland 2010 ist der beste Beweis dafür, dass wir
den Mittelstand brauchen. Ein guter Staat stärkt den Mit-
telstand und macht ihn nicht kaputt. Deshalb hat diese
Koalition die Wirtschaftspolitik konsequent auf eine
Mittelstandspolitik umgestellt. Das werden wir auch so
fortführen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Aufschwung, den wir derzeit erleben, ist zu-
nächst einmal von den Unternehmen und den Arbeitneh-
mern erarbeitet worden. Das weiß niemand besser als je-
mand, der wie ich selber aus einem Handwerksbetrieb
kommt. Deshalb haben wir gerade als Koalition immer
konsequent deutlich gemacht, dass der Aufschwung vor
allem auf die Unternehmen und Arbeitnehmer zurück-
geht. Es geht aber auch um vernünftige Rahmenbedin-
gungen. Diese hat die Koalition im letzten Jahr in der
Krise geschaffen und damit dazu beigetragen, dass es
aufwärts ging.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Mittelstand war der Motor, der uns aus der Krise
gezogen hat. Das war auch deshalb möglich, weil
Schwarz-Gelb in Berlin und Stuttgart die größten Bro-
cken aus dem Weg geräumt hat.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein Quatsch!)


Wir haben die Wachstumsbremsen beseitigt, beispiels-
weise durch die Entlastungen bei der Unternehmensteu-
erreform und die mittelstandsfreundliche Regelung der
Unternehmensnachfolge, mit der wir die größten Pro-
bleme Ihrer Reform korrigiert haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein Quatsch!)


Wir haben das auch deshalb getan, weil das Geld, das da
besteuert wird, schon zigmal versteuert worden ist.

Sie haben das Thema Zinsen angesprochen, Herr
Gysi, die Sie höher besteuern wollen. Sie haben von ei-
ner Politik für Kriminelle gesprochen. Sehr verehrter
Herr Gysi, diejenigen, die in diesem Land sparen und
das tun, was wir von den Menschen erwarten, nämlich
etwas von dem, was sie sich hart erarbeiten, fürs Alter
zurückzulegen, sind diejenigen, die für ihr Erspartes Zin-
sen bekommen, und diese Menschen beschimpfen Sie
als Kriminelle.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Es geht doch um Steuerhinterziehung, Frau Homburger!)


Über diese Aussage sollten Sie einmal nachdenken, Herr
Gysi. Wir machen Politik für die Menschen in diesem
Land, für den kleinen Mann und die kleine Frau, die sich
anstrengen, die arbeiten und die sparen und davon auch
etwas haben sollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es war richtig, dass wir das Jahr 2010 mit einer Ent-
lastung von 24 Milliarden Euro begonnen und damit ei-
nen Impuls für die Binnennachfrage gesetzt haben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Mövenpicks sagen Danke! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Deshalb haben die Kommunen auch kein Geld mehr!)


Da komme ich zum Kollegen Friedrich, der hier gesagt
hat, wir wollten mehr Netto vom Brutto. Ja, wir haben
mehr Netto vom Brutto.


(Lachen bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn? Höhere Krankenversicherungsbeiträge! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bei den Mövenpicks, oder wo?)






Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)

Das Statistische Bundesamt hat gerade festgestellt, dass
die Nettolöhne so stark steigen wie seit 17 Jahren nicht
mehr. Das ist ein Erfolg, den wir erreicht haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die SED-Millionen, die sind Verbrechertum, Herr Gysi! Wo haben Sie die Millionen der SED versteckt?)


Herr Friedrich, dann stellen Sie sich hier hin und werfen
ausgerechnet dieser Koalition, die nachweislich erreicht
hat


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo haben Sie die Millionen der SED versteckt?)


– das sagt auch der Bund der Steuerzahler –, dass die
Menschen mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben,
Lüge vor. Das sagt ausgerechnet jemand, der einer Partei
angehört, die einst keine Mehrwertsteuererhöhung wollte
und dann eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent
vorgenommen hat. Die größte Steuerlüge in dieser Repu-
blik haben Sie zu verantworten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!)


Wir haben unsere Versprechen gehalten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sehr verehrter Herr Gysi, jetzt komme ich noch ein-
mal zu Ihnen und Ihrer Rede, die Sie im Wesentlichen
Hartz IV gewidmet haben. Wer wirtschaftliche Dynamik
über höhere Hartz-IV-Sätze regeln will,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Auch!)


der verkennt Ursache und Wirkung. Deshalb bleibt es
richtig, dass wir eine Politik zunächst einmal für diejeni-
gen machen, die den Wohlstand in diesem Land erarbei-
ten; sie müssen mehr haben als diejenigen, die nicht ar-
beiten. Diese Politik werden wir konsequent umsetzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb sind Sie für Armutslöhne in Deutschland! Sehr logisch! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seit wann sind Sie logisch, Herr Heil?)


Dann haben Sie hier so wunderschön gesagt, wir soll-
ten nicht alles gegen Berlin regeln. Ich will Ihnen nur sa-
gen – vielleicht können Sie einmal mit Herrn Wowereit
Kontakt aufnehmen –:


(Zuruf von der LINKEN: Kann mal jemand reden, der Ahnung hat?)


Sie haben eine riesengroße Chance. Wenn Sie morgen
im Bundesrat unserem Vorschlag zur Reform von
Hartz IV zustimmen,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Seit wann sind Sie denn im Bundesrat, Frau Homburger?)


dann bekommen Sie eine Entlastung der Länder und der
Kommunen, indem der Bund auf Dauer die Kosten der
Grundsicherung übernimmt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja eine parteipolitische Instrumentalisierung des Bundesrates! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja das Allerneuste!)


Das wäre etwas, was tatsächlich Entlastung für die Kom-
munen bringen würde; das wäre etwas, was Sie machen
müssten. Deshalb, Herr Gysi, kann ich Ihnen nur emp-
fehlen: Stimmen Sie dieser Reform zu!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir werden die Mittelstandspolitik konsequent fort-
setzen. Wir werden das tun, indem wir entsprechende
Rahmenbedingungen bei der Infrastruktur setzen.

Frau Scheel, Sie haben die erneuerbaren Energien an-
gesprochen. Ich sage Ihnen: Wir fördern erneuerbare
Energien. Wir haben zum ersten Mal einen Fonds für er-
neuerbare Energien auf den Weg gebracht, mit dem wir
etwas schaffen werden, was Sie nie erreicht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir werden den Bereich Speichertechnologie konse-
quent fördern; denn wer für die erneuerbaren Energien
eine große Zukunftschance will, der muss vor allen Din-
gen im Bereich der Speichertechnologie etwas tun. Mit
unserem Fonds werden wir etwas reparieren, was Sie
über Jahrzehnte in der Politik verpennt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709002200

Frau Kollegin Homburger, der Kollege Gysi möchte

Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1709002300

Herr Präsident, ich möchte gern zum Schluss meiner

Rede kommen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer das Gleiche! – Zurufe von der LINKEN: Oh!)


– Also gut, wenn er unbedingt möchte.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709002400

Das wird ohnehin das krönende Finale Ihrer Rede,


(Heiterkeit)


weil ich Sie gleich darauf aufmerksam machen möchte,
dass mit der Beantwortung dann auch die Redezeit er-
schöpft ist.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709002500

Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Ich nehme

auch an, dass es der krönende Abschluss sein wird. Ich
wüsste auch nicht, was sonst noch kommen sollte.


(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)


Frau Kollegin Homburger, ich habe zwei Fragen. Sie
haben darüber gesprochen, dass Leute, die sparen und
die sich dieses Geld erarbeitet haben, zu unterstützen
sind. Ich habe nichts dagegen gesagt. Ich habe von denen
gesprochen, die ihre Steuerzahlungen reduzieren. Das
Argument der FDP war immer: Weil bei den Zinsen so
viel Steuern hinterzogen werden – und das ist kriminell –,





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

muss man den Kriminellen entgegenkommen und die
Steuersätze senken.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: So ein Quatsch!)


Damit habe ich mich auseinandergesetzt und mit nichts
anderem.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollten doch eine Frage stellen!)


– Ich möchte gerne beantwortet haben, ob sie das auch
so sieht. Ich kann es auch als Frage formulieren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Lassen Sie ihn doch machen!)


Frau Enkelmann sagt gerade, in der Geschäftsordnung
steht, man kann auch eine Bemerkung machen, man
muss gar keine Frage stellen. Aber ich kann übrigens
Fragen stellen. Das fällt mir gar nicht schwer.

Deshalb meine zweite Frage: Sie haben gesagt, denje-
nigen, die das Ganze erarbeiten, solle es besser gehen.
Da stimme ich Ihnen voll zu. Dann erklären Sie mir
bitte, warum die FDP gegen einen flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohn ist, was generell zu einer Lohn-
erhöhung führte. Es sind doch, glaube ich, in erster Linie
die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die die
Werte in der Bundesrepublik Deutschland herstellen.


(Beifall bei der LINKEN)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1709002600

Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, das, wonach Sie ge-

rade gefragt haben, hat der Kollege Martin Lindner vor-
hin schon völlig richtig ausgeführt. Ihre Politik passt
überhaupt nicht zusammen. Sie ist in keiner Weise kon-
sistent. Wir wollen, dass durch eine Stärkung der Arbeit-
nehmer sowie durch eine Stärkung des Mittelstandes
möglichst viele Menschen in Deutschland die Chance
auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung er-
halten. Das haben wir ausweislich der Zahlen auch er-
reicht. Die niedrigste Arbeitslosigkeit und die niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit seit 20 Jahren, das ist ein Erfolg
unserer Politik. Diese Politik werden wir fortsetzen, und
zwar im Sinne der Menschen in diesem Lande.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Setzen, Gysi!)


Herr Gysi, Sie dürfen gerne stehen bleiben, denn Sie hat-
ten zwei Fragen gestellt.

Die zweite Frage bezog sich auf die Zinsen. Wir ha-
ben immer wieder deutlich gemacht: Aus unserer Sicht
ist es nicht fair, wenn man auf Erspartes Zinsen be-
kommt und auf diese Zinsen nochmals Steuern bezahlen
muss; denn das ersparte Geld ist bereits zuvor versteuert
worden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So wird man zur Millionärspartei, genau so!)


Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb sind wir der
Meinung, dass wir den Menschen möglichst viel von
dem lassen wollen, was sie sich erspart haben.
Wir werden eine konsequente Mittelstandspolitik ma-
chen. Wir werden die Orientierung auf den Mittelstand
in der Steuerpolitik, beim Bürokratieabbau, in der Inno-
vationspolitik, bei Forschung und Entwicklung und bei
der Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Dies wird für die
Menschen in diesem Land die besten Ergebnisse brin-
gen, die man sich vorstellen kann. Wir sind angetreten,
weil wir mehr Chancen für mehr Menschen wollen. Das
werden wir konsequent umsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709002700

Das Wort erhält nun die Kollegin Andrea Wicklein

für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Andrea Wicklein (SPD):
Rede ID: ID1709002800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der Regie-
rungsfraktionen. Wenn ich mir den Antrag, den Sie
eingebracht haben, anschaue, dann entsteht bei mir der
Eindruck, dass Sie Ihrem eigenen Minister Untätigkeit
vorwerfen. Man könnte fast den Eindruck haben, Sie
müssen Ihren eigenen Minister zum Jagen tragen.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Nein, nein! Den brauchen wir nicht zum Jagen tragen; der macht das schon alleine richtig!)


Schon im ersten Satz des Antrags schreiben Sie richti-
gerweise, dass die Unternehmen für den Aufschwung
des letzten Jahres verantwortlich sind. Ich möchte noch
ergänzen: Auch die weitsichtige Politik der SPD in der
Großen Koalition war maßgeblich dafür verantwortlich.
Welchen Anteil aber der Bundeswirtschaftsminister an
diesem Aufschwung hat, kann man nicht erkennen. Of-
fensichtlich halten Sie von der Regierungskoalition es
für notwendig, nach anderthalb Jahren Schwarz-Gelb Ih-
ren Minister aufzufordern, die beschlossenen Maßnah-
men aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag endlich umzu-
setzen. Minister Brüderle hat seit seinem Amtsantritt
pressewirksam eine ganze Reihe von Initiativen gestar-
tet, die angeblich dem Mittelstand zugutekommen: die
Initiative „Gründerland Deutschland“, die Initiative „In-
ternet erfahren“ und die Initiative „Zukunftsmarkt zivile
Sicherheit“. Vor wenigen Tagen schließlich verkündete
der Minister spontan eine neue Technologieoffensive.
Am laufenden Band Initiativen zu starten, ist reine An-
kündigungspolitik.


(Beifall bei der SPD)


Ganz offensichtlich, Herr Minister, sehen das die eige-
nen Regierungsfraktionen genauso; denn sie halten es
für nötig, in ihrem Antrag ausdrücklich zu fordern, dass
die neue Technologieoffensive auch zügig umgesetzt
wird. Das zeugt nicht gerade von einem großen Ver-
trauen in Ihr Regierungshandeln.

Aber die Krönung des Ganzen ist, dass Herr Brüderle
bereits im Januar 2010 einen Neun-Punkte-Plan für den





Andrea Wicklein


(A) (C)



(D)(B)

Mittelstand verkündet hat und exakt am gleichen Tag ein
Jahr später nun einen Sieben-Punkte-Plan für den Mittel-
stand neu verkündet.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da sind zwei weggefallen!)


Wenn ich diese beiden Initiativen nebeneinanderlege,
stelle ich fest, dass dem Wirtschaftsminister nichts
Neues eingefallen ist.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb ging die Rede auch nur sieben Minuten!)


Da stelle ich doch ernsthaft die Frage: Was haben Sie in
diesem Jahr getan? Offensichtlich nichts.


(Beifall bei der SPD)


Entscheidend sind eben Taten, Herr Brüderle, und nicht
Ankündigungen.

Trotz der momentan guten Konjunktur liegen doch
die Probleme auf der Hand. Ich möchte einige heraus-
greifen. Erstens. Stichwort: Gründungen. Auch wenn der
Trend positiv ist, sind die Zahlen der Gründungen in
Deutschland nach wie vor ernüchternd. Deutschland
nimmt unter den 18 hochentwickelten Volkswirtschaften
bei Existenzgründungen nur den vorletzten Platz ein. Ich
frage Sie: Wie und wann wollen Sie die Rahmenbedin-
gungen für eine erfolgreiche Gründungskultur nun kon-
kret verbessern? Was wollen Sie für eine bessere soziale
Absicherung der Gründer tun? Wann intensivieren Sie
Ihre Bemühungen, Genehmigungsverfahren zu vereinfa-
chen? Welche Vorschläge haben Sie, gezielte Existenz-
gründungshilfen auszubauen? Von Ihnen hört man da gar
nichts.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. In Deutschland haben es Gründer nach wie
vor schwer, an das nötige Kapital zu kommen. Gerade
die Finanzierung von der Geburt bis hin zu den ersten
Schritten der jungen Unternehmen ist besonders schwie-
rig. Jeder vierte Gründer klagt über große Probleme. Es
ist beunruhigend, wenn fast zwei Drittel der befragten
Experten die Finanzierungsbedingungen für Gründun-
gen in Deutschland als besonders schlecht einstufen.
Deshalb wäre es doch dringend geboten, Herr Brüderle,
die Bedingungen für Wagniskapital zu verbessern. Ich
frage mich: Wann werden Sie die bereits im Januar 2010
angekündigte Überprüfung der steuerlichen Verbesse-
rung für Wagniskapital endlich abgeschlossen haben?


(Beifall bei der SPD)


Wann können wir mit konkreten Vorschlägen für eine
Reform des Wagniskapitalbeteiligungsgesetzes rechnen?
Als SPD setzen wir auf erfolgreiche Unternehmen, die
Wagniskapital bereitstellen, auch unabhängig vom High-
Tech-Gründerfonds; denn sie können ihre Erfahrungen
mit den Gründern teilen. Das beweisen die Wagniskapi-
talgesellschaften, die es bereits gibt. Wir haben das
„Corporate Venture Capital“ genannt. Hier sollten Sie
schnellstmöglich aktiv werden, um das zu erleichtern.
Drittens: die Innovationsförderung. Auch dazu wurde
heute schon zu Recht etwas gesagt. Die Koalitionsfrak-
tionen haben die steuerliche Förderung von Forschung
und Entwicklung in ihren Antrag hineingeschrieben, ob-
wohl sich, wenn ich mich richtig erinnere, Ihr Kollege
Pfeiffer in der Bundestagsdebatte am 20. Januar von der
Einführung der steuerlichen Förderung in dieser Legisla-
turperiode bereits verabschiedet hat.


(Peter Friedrich [SPD]: So ist es!)


Unklar bleibt also, was Sie eigentlich wollen und wann
Sie damit beginnen wollen. Die SPD ist ganz klar für eine
steuerliche FuE-Förderung. Diese soll die Projektförde-
rung ergänzen. In Ihrem Antrag wird unter Punkt 7 wieder
nur schwammig von der Einführung der FuE-Förderung
„unter Berücksichtigung des gebotenen Konsolidierungs-
kurses“ gesprochen.

Sehr geehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen,
zusammenfassend ist zu sagen, dass Sie sich mit Ihrem
gesamten Antrag nicht gerade mit Ruhm bekleckert ha-
ben. Er ist unkonkret, und Sie schieben die Probleme vor
sich her. Ich habe die Befürchtung, dass dem Motor Mit-
telstand bald der nötige Schmierstoff ausgeht, um auf
Dauer das notwendige Tempo zu bringen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709002900

Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Haben wir schon wieder Wahlkampf?)



Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1709003000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott schütze Rheinland-Pfalz!)


Herr Gysi, Sie wollten sich heute als neuer Mittelstands-
beauftragter präsentieren. Ich schätze ja Ihren Sinn für
subtilen Humor. Ihre Partei ist mitnichten die Mittel-
standspartei. Sie schafft es noch nicht einmal zur Mittel-
maßpartei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Das habt ihr schon hinter euch!)


Sie haben gefragt, wo denn die Spareinlagen sind.
Wissen Sie, Herr Gysi, mich würde wirklich interessie-
ren, wo die Spareinlagen der SED-Vermögen gelagert
sind. Auch das könnte von Interesse sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Diese Frage hören Sie nicht gern. Sie haben sich ja
rechtlich nicht davon losgesagt. Insofern müssten Sie
auch wissen, wie gute Geldanlage außerhalb Deutsch-
lands funktioniert.





Julia Klöckner


(A) (C)



(D)(B)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, noch vor wenigen Jahren sprach das Wall
Street Journal von Deutschland als dem kranken Mann
Europas. Das war 2005 unter der Regierung von Bun-
deskanzler Schröder. Und heute? Heute sieht es anders
aus.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dank Herrn Schröder!)


Heute spricht zum Beispiel die Washington Post davon,
dass die deutsche Wirtschaft die stärkste in der Welt sei,
und das unter der Regierung von Bundeskanzlerin
Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt der Trierische Volksfreund?)


Heute ist Deutschland zur Konjunkturlokomotive in
Europa geworden, und das übrigens in einer Zeit, in der
sich andere Volkswirtschaften noch mühselig aus dieser
Krise herauskämpfen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Tut, tut!)


Natürlich gibt es auch noch Nachwehen. Ich denke,
an dieses Problem müssen wir mit Demut herangehen.
Nichtsdestotrotz ist klar, dass unsere Wettbewerbsposi-
tion nach dieser Finanz- und Wirtschaftskrise stärker ist
als zuvor. Nach etwa 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum
im vergangenen Jahr schauen wir jetzt auf 2,3 Prozent
Wachstum im Jahr 2011. Natürlich darf nicht jedes
Wachstum blind bejubelt werden. Umso mehr freut es
mich, dass der Aufschwung an Breite und an Tiefe ge-
wonnen hat. Die deutsche Wirtschaft engagiert sich nach
wie vor intensiv im Export. Die Exportwirtschaft sichert
Arbeitsplätze.

In diesem Zusammenhang möchte ich der Opposition
eines sagen: Auch die Ernährungswirtschaft sichert Ar-
beitsplätze.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guten Appetit!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie sagen,
es sei unanständig, wenn wir Nahrungsmittel produzie-
ren und ins Ausland schicken, Sie sagen, wir würden
nicht nachhaltig produzieren, weil wir über Bedarf pro-
duzieren. Es ist unanständig, so etwas in den Ausschüs-
sen zu behaupten.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe noch nie gehört, dass Sie sich über das impor-
tierte argentinische Rindfleisch beschweren. Ich danke
allen, die an der Exportwirtschaft beteiligt sind, weil sie
Arbeitsplätze und Zukunft sichern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst das Sorgen-
kind, das wir hatten, der inländische Konsum, hat sich
erholt. So haben wir für 2011 eine Prognose von rund
2 Prozent Steigerung. Und das Allerschönste ist: Auch
die Schröder’sche Massenarbeitslosigkeit haben wir weit
hinter uns gelassen.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was? Die Kohl’sche? – Weitere Zurufe von der SPD)


Statt 5 Millionen Arbeitslose noch im Jahr 2005 haben
wir jetzt nur noch 3 Millionen Arbeitslose, und die Ten-
denz ist weiter sinkend, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Heil, Sie müssen sich erinnern: Schröder sagte ja
im Jahr 1998, er werde die Arbeitslosigkeit halbieren.
Das hätte er gern für sich beansprucht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben wir geschafft!)


– Sie sagen: Das haben wir geschafft. Spätestens daran
sieht man, dass das Bildungssystem an manchen Stellen
des Mathematikunterrichts verbesserungsbedürftig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Frau Klöckner, Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen!)


Lieber Herr Heil, 5 Millionen Arbeitslose waren es
unter Gerhard Schröder. Diese christlich-liberale Regie-
rung hat es in greifbarer Nähe, dass die Arbeitslosigkeit
halbiert werden wird. Das danken ihr die Menschen;
denn sie sind in Lohn und Brot. 40 Millionen Menschen
sind in Beschäftigung. Das ist ein Ergebnis guter Politik,
die Sie nicht schlechtmachen sollten. Es tut Ihnen weh;
das weiß ich.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihre Oberflächlichkeit tut ein bisschen weh!)


Aber dieses intelligente politische Krisenmanagement,
dieses Szenario, war richtig und war wichtig. Wir haben
die Kurzarbeit und die Konjunkturpakete auf den Weg
gebracht. Und noch eines: Würden Sie einmal mit dem
Mittelstand sprechen, dann würden Sie auch erkennen,
dass dabei genau das, was der Kollege Fuchs, was der
Kollege Brüderle, was die vielen anderen Kolleginnen
und Kollegen der christlich-liberalen Koalition erkämpft
haben, nämlich die Entlastung in Höhe von 24 Milliar-
den Euro seit Jahresbeginn 2010,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und der Hotels!)


zum Tragen gekommen ist. Dass dies zum Tragen ge-
kommen ist, spüren die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter. Deshalb sage ich: Herzlichen Dank all jenen, die be-
reit sind zu investieren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es gehört
der Fairness halber dazu, zu sagen, dass Sie durchaus
ökonomischen Sachverstand und Vernunft hatten, als Sie
noch auf der Regierungsbank saßen,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja!)


zumindest waren Sie der ökonomischen Vernunft gegen-
über aufgeschlossen. Das hat sich in der Opposition lei-
der etwas gedreht. Wenn man jetzt betrachtet, was bei
Ihnen auf der Oppositionsbank los ist, dann merkt man,
dass der Fachkräftemangel akuter ist als jemals gedacht.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich glaube, Sie müssen dringend auf die Oppositionsbank in Rheinland-Pfalz, aber ganz dringend! Ist das eigentlich Ihre letzte Rede hier?)






Julia Klöckner


(A) (C)



(D)(B)

Das zeigt schon allein die Tatsache, dass Herr Gabriel
die Liberalisierung der Zeitarbeit – übrigens ein echter
Erfolg der rot-grünen Agenda 2010 – plötzlich als zen-
tralen Fehler bezeichnet und fröhlich die Rolle rückwärts
macht.

Schauen wir zum Beispiel nach Rheinland-Pfalz.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen! – Zuruf von der CDU/CSU: Ein sehr schönes Land!)


Dort gibt es Unternehmen wie Mercedes-Benz in Wörth,
die das Prinzip eines dreistufigen Rekrutierungspro-
grammes verfolgen. Dort wird schulbuchmäßig derje-
nige, der ausscheidet, durch einen bisher befristet Be-
schäftigten ersetzt, der nun unbefristet angestellt wird.
Ein neuer Zeitarbeitnehmer erhält wiederum einen be-
fristeten Vertrag. So rückt einer dem anderen nach. So
wurden 40 Prozent der Zeitarbeitnehmer zu festen Mit-
arbeitern. Das ist ein Erfolgsmodell. Die Landesregie-
rung in Rheinland-Pfalz möchte genau dieses abschaf-
fen.


(Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Herr Heil hat eine Nachfrage; ich erkläre es ihm
gerne.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709003100

Dann will ich dem nicht im Wege stehen. Bitte schön,

Herr Kollege Heil.


(Heiterkeit – Peter Friedrich [SPD]: Frühstückspause für den Präsidenten!)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709003200

Liebe Frau Klöckner, sehr gnädig von Ihnen, dass Sie

mir etwas erklären wollen. Deshalb darf ich Sie etwas
fragen: Sind Sie mit uns der Meinung, dass die Zeit- und
Leiharbeit für Unternehmen ein vernünftiges Flexibili-
tätsinstrument sein sollte, um die Auftragsspitzen von
Unternehmen abzudecken, nicht aber – hier mag der Un-
terschied sein – ein Einfallstor für Lohndumping? Ich
sage es noch einmal: Für Auftragsspitzen von Unterneh-
men ist Leiharbeit ökonomisch vernünftig, aber wir erle-
ben es, dass das Fehlen des Grundsatzes „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ zwischen Stamm- und Leihbeleg-
schaften


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Diesen Grundsatz gibt es! Er steht im Gesetz!)


in der Zeit- und Leiharbeit zu Lohndumping führt.

Meine Frage an Sie, Frau Klöckner, ist: Ab wie vielen
Wochen oder Monaten sind Sie dafür, dass der Grund-
satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ uneingeschränkt
gilt?


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das steht im Gesetz!)


Sind Sie wie die FDP der Meinung, dass die Grenze bei
neun Monaten liegen sollte? Ich sage Ihnen: Drei Mo-
nate, innerhalb welcher 50 Prozent der Arbeitnehmer
eingesetzt werden, sind die Grenze.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Heil, Sie reden Unsinn, absoluten Unsinn! Steht im Gesetz!)


– Herr Kauder, beruhigen Sie sich doch einmal. Es ist
nicht gut für die Gesundheit, wie Sie sich aufregen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich bin kerngesund, Sie arroganter Kerl!)


– Herr Kauder, Dünnhäutigkeit ist das eine, aber wir
wollen doch mit Frau Klöckner die Frage klären.

Meine einfache Frage an die Spitzenkandidatin der
rheinland-pfälzischen CDU: Nach welcher Einarbei-
tungszeit gönnen Sie den Menschen gleichen Lohn für
gleiche Arbeit?


Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1709003300

Lieber Herr Heil, es hilft, wenn man ins Gesetz

schaut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich kenne das Gesetz!)


Wenn man darin liest, dann kann man einiges verstehen.
Ich verstehe, dass es in der Opposition schwierig gewor-
den ist, sich eine Position zu erkämpfen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Antwort! Wie viele Monate?)


– Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Es ist unan-
ständig, die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer zu beschimpfen, die über die Leiharbeit in feste Ar-
beit gekommen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Beantworten Sie die Frage!)


Es ist unanständig, weil es viele Betriebe in Deutschland
gibt, die mithilfe der Leiharbeit die Auftragsspitzen ab-
puffern konnten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen meine Frage nicht beantworten!)


Es ist auch unanständig, dass Sie diese kritische Frage
nicht Ihrem Parteikollegen Beck in Rheinland-Pfalz stel-
len, der beim Nürburgring übrigens 400 Millionen Euro
versenkt hat und jetzt als Landeseigentümer dort Lohn-
dumping betreibt; denn die Putzkräfte dort verdienen
weniger als 5 Euro pro Stunde.


(Widerspruch bei der SPD – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Aha!)


Ich frage Sie: Wann werden Sie glaubwürdig?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie eine Meinung?)


– Lesen Sie das Gesetz!





Julia Klöckner


(A) (C)



(D)(B)


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie weiß nichts! Sie hat keine Ahnung! Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen!)


Ich bedanke mich sehr herzlich bei unserem Wirt-
schaftsminister, ich bedanke mich bei unseren Kollegin-
nen und Kollegen und vor allen Dingen beim Mittelstand
in dieser Republik. Wir müssen es schaffen, die Bildung
intensiv voranzutreiben und die Ausbildungsreife junger
Menschen zu garantieren, sodass es für viele Arbeitge-
ber nicht mehr einer Lotterie gleichkommt, welches
Wissen in welchem Abschluss steckt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie traurig!)


Deshalb müssen wir von dem Flickenteppich in Deutsch-
land wegkommen. Ich fordere die SPD auf, sich der Ini-
tiative der CDU-Länder anzuschließen, ein gemeinsames
Abitur oder auch gemeinsame Abschlüsse für die Sekun-
darstufe I einzuführen;


(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP] – Peter Friedrich [SPD]: Schwarz-gelbes Regierungschaos in Baden-Würtemberg meinen Sie? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ahnungslos, die Dame!)


denn eines ist klar: Nur mit gut ausgebildeten jungen
Menschen und mit Freiheit für die Betriebe werden wir
in Deutschland weiterhin die Lokomotive in Europa
sein.

Noch einmal: Mein Dank gilt den Unternehmerinnen
und Unternehmern sowie den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Denen Sie keinen gleichen Lohn gönnen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Viel Spaß in der Opposition!)


Seien Sie gewiss: Die CDU und die FDP stehen an der
Seite des Mittelstands. Wir werden sie nicht beschimp-
fen, wie das die Opposition tut, weil sie damit Punkte
machen will.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Nicht mal Landesliganiveau! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ab auf die Oppositionsbank, aber schnell! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor der CDU!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709003400

Willi Brase ist der nächste Redner für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1709003500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man

sollte sich doch noch einmal an das erinnern, was in den
letzten Jahren, vor allen Dingen im letzten Jahr, in den
Wirtschaftsberichten und von den Fachleuten zur wirt-
schaftlichen Entwicklung zum Ausdruck kam. Es waren
die Minister in der schwarz-roten Koalition, Steinbrück,
Scholz und andere, die Anfang 2009 die Konjunkturpro-
gramme I und II, die Kurzarbeitergeldregelung und die
Abwrackprämie auf den Weg gebracht haben. Das wurde
anerkannt. Das war der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und wer war dagegen? Die FDP, wie immer!)


Man wird sich erinnern: Es waren die FDP und dieser
Herr Wirtschaftsminister, die dagegen polemisiert ha-
ben. Die Kurzarbeitergeldregelung von Scholz war das
absolute Maß der Dinge. Darauf sind wir als Sozialde-
mokraten stolz.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf etwas muss man als Sozialdemokrat in diesen Tagen stolz sein!)


Wenn über Leiharbeit und über den Niedriglohnsektor
diskutiert wird, muss man einmal zur Kenntnis nehmen,
dass wir jährlich über 11 Milliarden Euro aus öffentli-
chen Kassen, Staatsgeld, aufwenden, um Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern, die für wenig Geld arbeiten
müssen, eine Aufstockung zu zahlen. Dieses Geld auszu-
geben, ist überflüssig. Deshalb brauchen wir einen ver-
nünftigen Mindestlohn, und deshalb brauchen wir ver-
nünftige Regelungen in der Leiharbeit.


(Beifall bei der SPD)


In der Debatte heute ist nach meinem Dafürhalten
das, was wir kürzlich, am 25. Januar, im Handelsblatt le-
sen konnten, nicht ausreichend thematisiert worden.
Ernst & Young haben eine Erhebung durchgeführt, nach
der die Hälfte der mittelständischen Firmen Umsatzein-
bußen befürchten, weil Fachkräfte fehlen, der Fachkräf-
tebedarf nicht ganz zu decken ist. Darauf haben wir
schon in den letzten Jahren hingewiesen. Wir haben im-
mer wieder, hier im Deutschen Bundestag und an-
derswo, gefordert: Bildet mehr aus! Denn wer heute aus-
bildet, hat morgen keine Probleme mit Facharbeitern.
Wer nicht ausbildet, muss anfangen, mit dem Lasso zu
suchen. Das ist der falsche Weg.


(Beifall bei der SPD)


Rechtzeitig auszubilden, das ist Personalpolitik, sichert
Beschäftigung, schafft Umsatz.

Wir als SPD haben 2008 Papiere, Konzepte zum
Fachkräftebedarf vorgelegt. Ich will auf einen Themen-
bereich hinweisen, für den heute keine Antwort gegeben
worden ist; ich glaube aber, wir müssen ihn angehen.
Sehr viele junge Leute im Übergang von der Schule zur
Berufsausbildung, fast 400 000, sind im sogenannten
Übergangssystem. Ich weiß, dass die Bundesbildungs-
ministerin mit anderen dabei ist, diesen Dschungel zu
durchforsten. Es gibt eine Vielfalt von Maßnahmen, die
höchst ineffizient sind. Es wird Zeit, dass wir hier nach
dem Motto „Weniger ist mehr“ verfahren und mehr
junge Leute aus den sogenannten Übergangsmaßnahmen
in konkrete Ausbildung führen. Dafür muss man Geld in
die Hand nehmen und Aktivitäten entfalten. Das vermis-
sen wir bei der Bundesregierung.





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)

Bund und Länder sind in der Qualifizierungsoffensive
für Deutschland die Verpflichtung eingegangen, die Zahl
der jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung von
17 Prozent in 2008 auf 8,5 Prozent bis 2015 zu halbie-
ren. Wenn wir dies tatsächlich schaffen, würden wir
nicht nur etwas für den Mittelstand tun, sondern insge-
samt für die jungen Menschen und für die Unternehmen
in unserem Land.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben in Deutschland mittlerweile – das ist durch
mehrere Studien belegt – über 2 Millionen junge Er-
wachsene im Alter von 25 bis 35 Jahren ohne Berufsab-
schluss. Wir haben junge Männer und junge Frauen mit
Migrationshintergrund – 38 Prozent der Männer, 40 Pro-
zent der Frauen –, die keine Ausbildung haben. Das sind
Millionen von Menschen.

Diese Zahlen verdeutlichen: Wir brauchen mehr In-
vestitionen in Bildung, in Qualifikation, in Berufsausbil-
dung. Wir sind der Auffassung, hier handelt diese Regie-
rung zu wenig. Was macht sie denn? Sie kürzt und
streicht den Ausbildungsbonus, der dazu dient, die Zahl
der Auszubildenden zu erhöhen. Entsprechende Umfra-
gen – das stellt auch der Bundesrechnungshof in seiner
Bewertung fest – haben unter anderem ergeben, dass vor
allen Dingen kleinere Unternehmen dank dieser finan-
ziellen Unterstützung erstmals wieder in Ausbildung
eingestiegen sind. Warum wird das gestrichen, wenn wir
wissen: „Wir brauchen junge Leute!“?

Sie haben den Rechtsanspruch darauf, einen Haupt-
schulabschluss nachholen zu können, gestrichen. Sie ha-
ben den Eingliederungstitel um 2 Milliarden Euro ge-
kürzt. Auch das trifft junge Leute. Stattdessen wird über
Zuwanderung ausländischer Fachkräfte diskutiert. Mil-
lionen junger Erwachsener ohne Berufsabschluss, und
dann wollen wir noch welche hereinholen! Das ist der
falsche Weg. Die Arbeit in Deutschland muss mit denen
gemacht werden, die hier in Deutschland leben, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Das wollen wir als SPD.


(Beifall bei der SPD)


Letztendlich geht es doch darum, wenn wir den Mit-
telstand stärken und ein Stück weit nach vorne bringen
wollen, die Weiterbildungs- und Beschäftigungsfähig-
keit zu erhöhen und den Menschen die Chance zu geben,
ihre Arbeitskraft zu vernünftigen Bedingungen anzubie-
ten. Die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und Wei-
terbildung muss erhöht werden. Es müssen eine zweite
und dritte Chance eröffnet werden. Es muss dafür ge-
sorgt werden, dass keiner zurückgelassen wird, dass das
Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen möglich
ist – darauf habe ich schon hingewiesen – und dass die
Zahl der Geringqualifizierten, die an Weiterbildungs-
maßnahmen teilnehmen, bis 2015 auf 55 Prozent gestei-
gert wird.

Ja, hier stehen wir vor großen Aufgaben. Wir sind der
Auffassung, dass man dabei Folgendes berücksichtigen
sollte: Je höher die betrieblichen Kosten, desto höher die
finanzielle Beteiligung der Betriebe und Unternehmen;
je höher der persönliche Gewinn und das persönliche
Bildungsnieveau, desto höher die Selbstbeteiligung des
Individuums; je niedriger das vorhandene Bildungs- und
Qualifikationsniveau und je höher die Benachteiligung,
desto mehr Unterstützung vom Staat, vom Bund, von
Ländern und Kommunen als Korrektiv für mehr Chan-
cengleichheit für Benachteiligte auch im Weiterbil-
dungsbereich. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir
auch im Sinne von Integration, im Sinne von Mitnehmen
von Menschen, die hier in unserem Land leben, eine
große Weiterbildungskampagne starten. Wir brauchen
sie. Sie ist notwendig und wichtig.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der Fachkräfte-
mangel – darauf hat die Bundesagentur für Arbeit An-
fang des Jahres hingewiesen – kann vermieden werden,
wenn wir nicht weiterhin die Frauen von der Arbeitswelt
ausgrenzen.


(Beifall bei der SPD)


Es wurden auch weitere Faktoren genannt: Es geht um
Qualifizierung und Weiterbildung; es geht um Reduzie-
rung der Zahl der Studienabbrecher und der Ausbil-
dungsabbrecher; es geht auch darum, die Zahl der Schul-
abgänger ohne Abschluss zu reduzieren.

Letztendlich lebt der Mittelstand davon, dass er gute
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Ich selber
lebe in einer Mittelstandsregion. Das Ziel muss sein,
gute Bezahlung für gute Arbeit durchzusetzen, statt den
Leiharbeits- und den Niedriglohnsektor auszuweiten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709003600

Der Kollege Hinsken ist der nächste Redner für die

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1709003700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Auf diese heutige Mittelstandsdebatte habe ich mich ge-
freut.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben wir geahnt!)


Um den Mittelstand steht es momentan Gott sei Dank re-
lativ gut. Das ist vor allen Dingen dieser Bundesregie-
rung zuzuschreiben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Bis dahin war es gut, jetzt nicht mehr!)


Das soll auch die breite Öffentlichkeit wissen. Ihnen
werden wir es so oft sagen, bis Sie es endlich einmal ka-
pieren und bereit sind, das zu schlucken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Du sollst uns keine falschen Dinge beibringen!)


Unser Mittelstand ist eine tief in diesem Staat veran-
kerte Gesellschaftskraft: nah am Menschen und für die
Gemeinschaft. Dass Deutschland so gut dasteht, dass es
weit besser dasteht als alle europäischen Nachbarn, hat es





Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)

gerade seinem starken Mittelstand zu verdanken. Wenn
die Politik also heute eine Lehre aus der Krise zieht – und
das muss sie –, dann die, dass sich Politik für den Mittel-
stand lohnt. Daher kommt es jetzt, in Zeiten der kräftigen
Erholung, ganz entscheidend darauf an, dass die Bundes-
regierung an einem mittelstandsgerechten und nachhalti-
gen Kurs festhält. Nur so lässt sich der Aufschwung ver-
stetigen.

Herr Wirtschaftsminister Brüderle, Sie haben es zwar
kurz, aber prägnant auf den Nenner gebracht, dass das
Ihre Richtschnur für eine Politik im Sinne des Mittel-
stands innerhalb der Bundesregierung ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Unionsfraktion ist die Fraktion zweier Parteien
für den Mittelstand. Wir lassen uns von niemandem
übertreffen, wenn es speziell um die Stärkung des Mit-
telstandes geht.


(Zuruf von der LINKEN: Doch, von uns!)


Unsere Politik ist zukunftsorientiert, verlässlich und leis-
tungsfördernd. Das ist ein bisschen anders als das, was
zum Beispiel Sie von den Grünen wollen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Jetzt kommen wir dran! Darauf habe ich schon gewartet!)


Liebe Christine Scheel, Sie wollen doch den Mittel-
stand belasten, indem Sie zum Beispiel die Bürgerversi-
cherung einführen wollen und die Beitragsbemessungs-
grenze auf 5 500 Euro deutlich anheben wollen.


(Peter Friedrich [SPD]: Es sind aber eure Zusatzbeiträge, die die Leute belasten!)


Sie wollen eine Komplettsanierung aller Gebäude inner-
halb von 40 Jahren und die vollständige Erzeugung von
Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien. Das führt
zu höheren Preisen und Mieten. Sie wollen, dass die
Freiberufler in Zukunft Gewerbesteuer zahlen. Sie wol-
len den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anheben.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber erst bei höheren Einkommen!)


Das heißt schlicht und einfach auf den Nenner gebracht:
Sie wollen die Leistungsträger unserer Gesellschaft noch
mehr belasten, als sie ohnehin schon belastet sind. Da
machen wir nicht mit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Ihr schiebt lieber 1 Milliarde Euro in Hotels!)


Vernünftige Rahmenbedingungen sind das A und O, und
dafür stehen wir.

Selten hat der Mittelstand so zuversichtlich in die Zu-
kunft geblickt wie zurzeit. Das möchte ich insbesondere
an die Vorredner Herrn Friedrich von der SPD und an
Sie, Herr Gysi, gerichtet sagen. Das KfW-Ifo-Mittel-
standsbarometer erreichte im Dezember 2010 einen Re-
kordstand beim Geschäftsklima. Ein wichtiger Indikator
dafür, wie der Mittelstand momentan dasteht, ist darin zu
sehen, dass sich die Eigenkapitalquote in der Krise ver-
bessert hat. Sie stieg von 12,8 Prozent auf 15,6 Prozent.

In diesem Jahr entstehen, so die Bundesregierung,
320 000 neue Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Mittel-
stand. Die über 4 Millionen mittelständischen Unterneh-
merinnen und Unternehmer, Selbstständige in Industrie,
Handwerk, Handel, Dienstleistungen und freien Berufen
sind damit der Motor für Wachstum, Beschäftigung und
Ausbildung in Deutschland. Dafür kann nicht genug ge-
dankt werden. Dafür gilt es sich nachhaltig immer wie-
der einzusetzen.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Herr Hinsken, darf ich Ihnen eine Frage stellen?)


– Selbstverständlich dürfen Sie.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709003800

Bitte sehr, Herr Kollege Gysi.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709003900

Herr Hinsken, ich habe nur eine Frage: Haben Sie zur

Kenntnis genommen, dass das Barometer, von dem Sie
gesprochen haben, auch veröffentlicht hat, dass 25 Pro-
zent der Kreditverhandlungen der kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen mit den Privatbanken schei-
tern, das heißt, dass sie keine Kredite bekommen? Was
gedenken Sie denn dagegen zu tun? Sollten wir viel-
leicht eine direkte Förderung unter Umgehung der IKB
und der Geschäftsbanken ins Auge fassen, also andere
Wege einschlagen, um die Zahlungsfähigkeit der ent-
sprechenden Unternehmen zu erhöhen?


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1709004000

Erstens, verehrter Herr Kollege Gysi, sind nicht

25 Prozent der Kreditverhandlungen negativ betroffen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: 25 Prozent? Ein bisschen viel!)


Zweitens möchte ich ausdrücklich darauf verweisen:
Wenn es hinten und vorne fehlt, dann geht halt nichts.
Das ist ein Stück Ordnungspolitik, der wir Rechnung zu
tragen haben.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Darf ich nur sagen, dass Basel III – –)


– Ich bin noch nicht fertig.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ach so!)


Wir werden vor allen Dingen das Notwendige ma-
chen. Ich finde es gut, dass der Bundeswirtschaftsminis-
ter einen Kreditmediator eingesetzt hat


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was hat er bis jetzt gemacht? – Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– wenn ich schon gefragt werde, dann möchte ich auch
antworten dürfen –, weil ich nach einem Gespräch mit
Herrn Metternich in Erfahrung bringen durfte, dass al-
lein im letzten Jahr über 1 000 Fälle beraten wurden, wo-





Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)

nach davon allein 750 auf die Beratung entfallen und
dass bei 247 Fällen intensiv direkt Einfluss genommen
wurde. Zu guter Letzt konnten 45 Betriebe mit einem
Volumen von 60 Millionen Euro auf der einen Seite und
dem weiteren Verbleib von über 3 100 Arbeitsplätzen
auf der anderen Seite gerettet werden. Es ist für mich
schon wichtig, das in der Antwort auf Ihre Frage auszu-
führen.


(Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist das jetzt ein Dialog?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709004100

Herr Kollege Hinsken, Sie können jetzt auch in Ihrer

vorbereiteten Rede fortfahren.


(Heiterkeit)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1709004200

Ich lasse eine weitere Zwischenfrage zu.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709004300

Ich möchte eine kleine Zusatzfrage stellen. Basel III

wird die Bedingungen für die Kreditvergabe verschär-
fen. Es gibt kein Gegensteuern der Regierung. Meinen
Sie nicht, dass man etwas dagegen tun müsste?


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1709004400

Herr Gysi, auch hier liegen Sie ein bisschen falsch:


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ein bisschen?)


Die Regierung steuert selbstverständlich entgegen; sie
hat das Interesse des Mittelstandes im Auge. Die Regie-
rung wird speziell bei Basel III das Notwendige an Maß-
nahmen und Anreizen tun, das unserer Wirtschaft dient.
Sie können versichert sein: Die Regierung kann das bes-
ser als Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, zurzeit führen wir eine
große Diskussion über die Frauenquote.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Au ja!)


Hier möchte ich die Wirtschaft auffordern, es dem Hand-
werk, einem der größten Mittelstandsbereiche, nachzuma-
chen; denn hier sind Frauen in den Betrieben längst auf
dem Vormarsch. Jedes vierte Handwerksunternehmen
wird zurzeit von einer Frau gegründet. Bei den Meistern
ist ein konstanter Frauenanteil von über 20 Prozent, bei
den Lehrlingen von über 27 Prozent festzustellen. Immer
öfter übernehmen die Töchter den Familienbetrieb und
bringen schon in jungen Jahren viel Ideenreichtum und
Gründerwissen mit.

Warum ist diese Mittelstandsdebatte so wichtig? Weil
sowohl in Europa als auch in den USA die kleinen und
mittleren Unternehmen fast überall die Gesamtzahl der
Unternehmen ausmachen: Über 99 Prozent der Betriebe
sind KMU. Im Jahr 2005 waren in der EU fast 20 Millio-
nen Unternehmen im nichtfinanziellen Sektor der ge-
werblichen Wirtschaft tätig. Diese Betriebe zeigen Flexi-
bilität. Sie sind bereit, sich zu behaupten; sie sind bereit,
alles zu machen und zu tun, um nicht unterzugehen.

Was die Gründungsdynamik anbelangt, ist noch etwas
zu machen. Wir brauchen auch in der Bundesrepublik
Deutschland mehr denn je eine starke Gründungswelle.
Ich bin der Meinung, dass die jungen Mitbürger in den
Schulen nicht mehr nur ausgebildet werden sollten, um
einmal tüchtige Arbeitnehmer zu werden, sondern auch,
um einmal tüchtige Unternehmer zu werden, also den
Weg in die Selbstständigkeit zu gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was den Fachkräftemangel anbelangt, verehrte Frau
Kollegin Scheel, bin ich der Meinung, dass dieses Pro-
blem nicht isoliert gesehen werden darf; es muss viel-
mehr mit dem Thema der Verlängerung der Lebens-
arbeitszeit in Verbindung gebracht werden. Ich kann mir
durchaus vorstellen, dass ein älterer Mitbürger bereit ist,
sich bis zum 67. Lebensjahr voll und ganz einzubringen,
wenn er eine Wochenarbeitszeit von weniger als
40 Stunden – vielleicht von 25 oder 30 Stunden – zu ab-
solvieren hat.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch 68-Jährige machen 60 Stunden!)


Da ist vor allen Dingen die Wirtschaft gefordert, etwas
zu machen und zu tun. Denn eines steht unbestritten fest:
Bis zum Jahr 2025 wird das Erwerbstätigenpotenzial in
Deutschland um mindestens 5 Millionen Personen zu-
rückgehen.

Meine Damen und Herren, wenn ich bei Veranstaltun-
gen bin, werde ich von einzelnen Mittelständlern oftmals
gefragt: Was tut ihr denn überhaupt? Es ist doch unmög-
lich, diese – –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709004500

Herr Kollege, Sie können jetzt nicht ausführlich von

Ihren Gesprächen berichten, sondern allenfalls eine
kurze, zusammenfassende Bemerkung dazu machen.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1709004600

Jawohl. Ich möchte dann nicht von diesen wichtigen

Gesprächen berichten,


(Heiterkeit)


obwohl das sehr erleuchtend gewesen wäre.

Ich erlaube mir, darauf zu verweisen, dass die von uns
vorgeschlagenen 15 Punkte viele Maßnahmen beinhal-
ten. 10 Punkte davon sind exzellent. Diese gilt es umzu-
setzen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind es jetzt 10 oder 15 Punkte? – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Was ist denn mit den anderen 5 Punkten?)


Wir werden das machen und tun, um die Herausforderun-
gen zu meistern. Denn wenn wir Deutschland auf Erfolgs-
kurs halten wollen, brauchen wir keine „Dagegen“-, son-
dern eine „Dafür“-Kultur. Dafür stehen wir, nicht Sie.

Danke schön.





Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709004700

Die Kollegin Lena Strothmann erhält nun das Wort

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Lena Strothmann (CDU):
Rede ID: ID1709004800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deut-

sche Handwerk ist eine echte Jobmaschine. Wir erwarten
in diesem Jahr mindestens 25 000 neue Arbeitsplätze.
Wenn wir in Deutschland vom Mittelstand als Jobmotor
und als Motor für Wachstum und Beschäftigung spre-
chen, dann reden wir immer auch über das Handwerk;
denn mit seinen rund 1 Million Betrieben macht das
Handwerk rund ein Viertel des gesamten Mittelstands in
Deutschland aus. Knapp 5 Millionen Menschen arbeiten
in Handwerksbetrieben, und fast 500 000 junge Men-
schen bekommen dort eine qualifizierte Ausbildung. Da-
mit sind 11,8 Prozent aller Erwerbstätigen und knapp
30 Prozent aller Auszubildenden im Handwerk tätig.

Leider wird das Handwerk häufig unterschätzt – ich
hoffe allerdings, in diesem Hohen Hause nicht mehr –,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei einigen schon!)


obwohl sich das Handwerk seit vielen Jahren als stabili-
sierender Faktor unserer Wirtschaft erweist. Mit seiner
Kraft und mit seiner Substanz hat das Handwerk auch
die Wirtschaftskrise sprichwörtlich gemeistert. Zugege-
benermaßen mussten wir mit einigen Maßnahmen unter-
stützen. Ich nenne hier zum einen die Verdoppelung des
Steuerbonus auf Handwerkerleistungen. Diesen sollten
wir in jedem Falle fortführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zum anderen konnten wir mit der Aufstockung der För-
dermittel für die energetische Gebäudesanierung und für
energieeffizientes Bauen


(Peter Friedrich [SPD]: Habt ihr gekürzt und nicht aufgestockt! Das Marktanreizprogramm habt ihr gekürzt!)


in Deutschland 290 000 Arbeitsplätze sichern. Auch die-
ses Programm sollten wir in Zukunft fortführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ohne die grundsätzlich gute Struktur und ohne den
Willen, Arbeitsplätze zu erhalten und junge Menschen
auszubilden, wäre das Handwerk nicht gestärkt aus der
Krise herausgekommen. Auch das gehört zur Wahrheit.
Der Aufschwung, an dem wir alle hart gearbeitet haben,
ist jetzt da. Die Stimmung im Handwerk ist sehr gut.
„Das Handwerk genießt den Aufschwung“, „Das Hand-
werk hat Appetit auf den Aufschwung“, so titelte in die-
ser Woche die Presse in meiner Heimat Ostwestfalen-
Lippe. Bundesweit erwarten wir im kommenden Jahr ein
Umsatzplus von 5 Prozent. 84 Prozent der Betriebe se-
hen ihre Zukunft positiv und sind zufrieden. Das sind
immerhin 10 Prozent mehr als noch im vergangenen
Jahr.

Meine Damen und Herren, ich kenne meine Hand-
werker. Sie sind bei Zukunftsprognosen und Konjunktur-
umfragen immer eher vorsichtig und eher skeptisch.
Deshalb sind die aktuellen Aussagen für mich der beste
Beweis für den Stimmungsumschwung in unserem
Land. Bürgerinnen und Bürger investieren wieder in
Werte, in Haus, Hof und Garten. Die Betriebe erhalten
mehr Aufträge, sie haben wieder Freude an der Zu-
kunftsplanung, an Investitionen und Innovationen. Es
geht ihnen gut, und sie haben mit der christlich-liberalen
Bundesregierung einen verlässlichen Partner.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass sich diese posi-
tive Entwicklung fortsetzt. Ein wichtiger Grundstein für
dieses Fortkommen sind die Innovationen. Sie sind der
Motor für Wirtschaftswachstum. Auch hier ist das Hand-
werk gefragt; denn es ist entgegen der landläufigen Mei-
nung besonders innovativ. Laut einer Prognos-Studie ist
es sogar hochinnovativ; denn das Handwerk ist immer
direkt an der Umsetzung neuer Technologien im Großen
und im Kleinen beteiligt. Ohne das Handwerk kommt
keine Photovoltaikanlage auf das Dach, und ohne das
Handwerk würden keine schadstoffarmen Autos auf der
Straße fahren.


(Peter Friedrich [SPD]: Das stimmt!)


Täglich stellen Handwerker ihre Innovationskraft un-
ter Beweis, wenn sie für den Kunden individuelle Lö-
sungen entwickeln und einbauen. Die kontinuierliche
Entwicklung innovativer Produkte gehört, auch wenn sie
in der Regel nicht beim Patentamt landen, zum Selbst-
verständnis des Handwerks. Vom Rad aus Stein bis zur
Leichtmetallfelge – ohne das Handwerk wäre dieser
Fortschritt nicht möglich gewesen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es werden auch in Zukunft große Herausfor-
derungen auf uns zukommen. Wir haben in unserer Ge-
sellschaft immer mehr ältere Menschen. Die Menschen
werden dank das medizinischen Fortschritts immer älter.
Dadurch ändern sich auch die Anforderungen an Woh-
nungen, Straßen und öffentliche Gebäude. Wir müssen
sie seniorengerecht gestalten bzw. umgestalten. Es wer-
den also viele neue Dienstleistungen in diesem Senioren-
markt notwendig sein. Ohne das Handwerk ist auch das
nicht zu schaffen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist nicht nur
für unsere Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für
unsere Gesellschaft, dass die Innovationskraft des Hand-
werks gestärkt wird. Voraussetzung für solche Innovatio-
nen sind qualifizierte Fachkräfte.


(Willi Brase [SPD]: Richtig!)


Leider melden bereits viele unserer Betriebe, dass sie
keine Nachwuchskräfte finden. Deswegen brauchen wir
dringend gut ausgebildete junge Menschen. Nur mit ih-
nen können wir auch im europäischen Wettbewerb unse-
ren hohen Qualitätsstandard halten und damit Ausbil-





Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)

dungsplätze, Arbeitsplätze und unseren Wohlstand
sichern.

Allerdings fehlten allein im Herbst bereits 7 000 Aus-
zubildende. Diese Lücke wird sich noch vergrößern,
wenn wir nichts dagegen tun. Deswegen müssen wir mit
der Vorstellung aufräumen, im Handwerk gebe es nur
einfache Tätigkeiten.

In den vergangenen Jahren hat sich im Handwerk vie-
les geändert. Die handwerkliche Arbeit erfordert mehr
technisches Wissen. Sie ist anspruchsvoller geworden,
und die Berufsbilder der 150 Ausbildungsberufe verän-
dern sich. Gleichzeitig steigen damit aber die Anforde-
rungen an die Bewerber und die Berufsausbildung. Des-
halb ist es in Zukunft wichtig, leistungsstarke Schüler
für das Handwerk zu gewinnen.

Das ist eine Herausforderung, der sich das Handwerk
stellen muss; denn die Schulabgänger der Gymnasien ha-
ben oft eine andere Lebensplanung, wollen ausschließlich
an die Hochschulen. Wir dürfen uns als Politik diesem
Trend nicht anschließen und nicht schwerpunktmäßig al-
lein die akademische Ausbildung fördern. Eine Ausbil-
dung im Handwerk ist eine gute Alternative zum Stu-
dium. Außerdem sucht die Wirtschaft junge Menschen
mit Praxisbezug. Sie bietet ebenso zahlreiche Chancen
und Aufstiegsmöglichkeiten. Meine Damen und Herren,
wir brauchen also nicht nur Fachkräfte, sondern auch junge
Menschen, die Unternehmen übernehmen. Wir brauchen
qualifizierte Nachfolger für unsere Betriebe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung unterstützt dankenswerterweise
schon jetzt die Betriebe beim Generationswechsel mit
der Aktionsplattform „nexxt“.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam-
menfassen. Natürlich brauchen wir mehr Akademiker in
unserem Land, aber unter dem Fachkräftemangel leidet
auch das Handwerk. Deshalb muss die duale Ausbildung
ein Schwerpunkt unserer Bildungspolitik bleiben. Dies
gilt es, nach allen Seiten zu verteidigen. Zusätzlich
braucht das Handwerk Unterstützung beim Fachkräfte-
mangel, bei der Unternehmensnachfolge und bei der
Umsetzung von Innovationen. Damit verstetigen wir den
Aufschwung, sorgen für Arbeits- und Ausbildungsplätze
und sichern Wachstum und Wohlstand in unserem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709004900

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Dieter Jasper für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dieter Jasper (CDU):
Rede ID: ID1709005000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja interessant! Jetzt lernt man den auch mal kennen!)

Im letzten Jahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum von
3,6 Prozent. In diesem Jahr wird mit einem Wachstum
von 2,3 Prozent gerechnet. Die Arbeitslosigkeit ist mit
rund 3 Millionen Arbeitslosen so niedrig wie seit zwei
Jahrzehnten nicht mehr. Die Inflationsrate liegt zwischen
1 Prozent und 2 Prozent.

Dieser Dreiklang aus hohem Wirtschaftswachstum,
sinkender Arbeitslosigkeit und niedriger Inflationsrate
hat dazu geführt, dass wir vom kranken Mann in Europa
zur europäischen Wachstumslokomotive geworden sind.
Diese überaus positive Entwicklung hat natürlich Ursa-
chen. Es sind in erster Linie kleine und mittelständische
Unternehmen, die mit Risiko und Leistungsbereitschaft
Wachstum, Wohlstand und Innovation gesichert haben.

Vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag habe
ich fast 20 Jahre lang als mittelständischer Familienun-
ternehmer gearbeitet. Wir betätigen uns im Bereich des
Maschinenbaus. Seit vielen Jahren sind wir es gewohnt,
uns dem nationalen und internationalen Wettbewerb zu
stellen. Somit bin ich dem Mittelstand nicht nur verbun-
den, sondern ich weiß aus eigener Erfahrung, wie ein
Mittelständler fühlt und agiert,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist interessant, was Sie wissen!)


welche Erwartungen er hat und welche Dinge für ihn
wichtig sind.

Eine oft gestellte Frage ist, was wohl das wichtigste
und wertvollste Gut unseres Unternehmens ist. Da brau-
che ich nie lange zu überlegen: Es ist der Mensch. Eine
der Grundvoraussetzungen für ein mittelständisches Un-
ternehmen sind gut qualifizierte und motivierte Mitar-
beiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Vor allem gut Qualifizierte, Herr Kollege!)


Die besten Anlagen und Maschinen sind wertlos, wenn
keine Menschen da sind, um diese zu bedienen. Aus die-
ser Erkenntnis heraus ist die Akquisition und vor allem
der Erhalt von qualifiziertem Personal eine der wichtigs-
ten Aufgaben, die ein mittelständischer Unternehmer
hat. Gerade vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung muss alles getan werden, um vermehrt leis-
tungsstarke Schulabgänger für eine betriebliche Berufs-
ausbildung zu gewinnen.

Hier hilft der im Oktober letzten Jahres von der Bundes-
regierung, den Ländern und der Wirtschaft unterzeichnete
Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs.
In diesem Programm wird auch der Tatsache Rechnung
getragen, dass es weiterhin viele junge Leute gibt, die
Schwierigkeiten beim Übergang in die Ausbildung ha-
ben. Es ist wichtig, dass wir hier niemanden zurücklas-
sen. Dennoch muss immer wieder betont werden – das hat
auch meine Kollegin Lena Strothmann getan –, dass auch
und gerade im handwerklichen und im industriellen Be-
reich eine gute Ausbildung und eine gute Qualifikation
von herausragender Bedeutung sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Dieter Jasper


(A) (C)



(D)(B)

Ein zentraler Punkt, über den gerade in den letzten
Tagen wieder vermehrt diskutiert wurde, ist die Verbes-
serung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das
trifft insbesondere auf die Frauen zu.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ach, welche Weisheit! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch für Männer!)


– Ja, das finde ich. – Wir können es uns nicht erlauben,
auf hochqualifizierte weibliche Fachkräfte zu verzich-
ten, nur weil keine Möglichkeiten der Kinderbetreuung
vorhanden sind. Neben staatlichen Angeboten gibt es in
unserer Region bereits etliche Firmen, die sich in diesem
Bereich besonders hervortun und durch familiengerechte
Angebote ganz neue Facharbeiterschichten für sich er-
schließen. Für viele Berufstätige sind neben dem Lohn
gerade auch diese maßgeschneiderten familiengerechten
Jobangebote von zentraler Bedeutung, wenn sie sich um
einen Arbeitsplatz bewerben.

Noch eines wird deutlich: In Zukunft werden die Un-
ternehmen immer mehr um Mitarbeiter und Mitarbeite-
rinnen werben und kämpfen. Viele Mittelständler haben
diese Situation erkannt und reagieren entsprechend. Um
den eigentlichen Arbeitsplatz herum entstehen vielfäl-
tige Angebote, um Mitarbeiter zu finden, zu binden und
zu motivieren.

Das gilt natürlich auch für die älteren Mitarbeiter. Wir
müssen Vorbehalte aufgeben und mit falschen Vorurtei-
len aufräumen. Die Erfahrung dieser Menschen ist unbe-
zahlbar. Es bedarf oft nur kleiner Hilfestellungen, damit
sie weiterhin aktiv und produktiv am Erwerbsleben teil-
nehmen können. Das ist nicht nur betriebswirtschaftlich,
sondern auch volkswirtschaftlich von hohem Nutzen.

Entscheidend ist der richtige Mix aus Auszubildenden,
alten und jungen Menschen. Wenn dieser Mix gelingt,
dann ist das die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches
gemeinsames Wirtschaften. Ist dieser Mix einmal gefun-
den, dann wird ein Mittelständler alles tun, um diesen zu
erhalten. Gerade in den Zeiten der Krise haben viele Un-
ternehmer an ihren Mitarbeitern festgehalten, damit im
Aufschwung wieder eine schlagkräftige Mannschaft zur
Verfügung steht.

Auch hier zeigt sich wieder, dass insbesondere kleine
und mittelständische Unternehmen nicht in Quartalser-
gebnissen denken, sondern in längerfristigen Zeiträu-
men. Dieses Denken wurde durch die von der Bundesre-
gierung beschlossene Regelung zum Kurzarbeitergeld
unterstützt. Nur so konnte aus gemeinsamer Kraft gelin-
gen, dass wir gestärkt aus der Krise herausgekommen
sind. Es zeigt sich, dass sich Wirtschaftspolitik nicht in
schönen Worten erschöpft, sondern an der richtigen
Stelle ganz konkret helfen kann.

Eine weitere Frage, die oft gestellt wird, ist, was uns
Mittelständler am meisten beschwert. Da fallen mir zwei
Stichworte ein: die Bürokratie und die Energie. Die
überbordende Bürokratie ist für jedes Unternehmen eine
große Last. Gerade die kleinen und mittelständischen
Betriebe leiden besonders. Hier fehlt es oft an Know-
how und an Personal, um den Abgabe- und Informa-
tionspflichten gerecht zu werden. Hier ist nicht nur der
Deutsche Bundestag aufgefordert, den Bürokratieauf-
wand deutlich zu reduzieren.

Der Normenkontrollrat macht in unserem Parlament
eine gute Arbeit und bekommt zunehmend mehr Aufga-
benstellungen zugewiesen. Eckart von Klaeden be-
schreibt die Situation treffend, wenn er formuliert, dass
es mit den Bürokratiekosten so ist wie mit Zahnschmer-
zen: Wenn du sie hast, bringen sie dich fast um, wenn sie
weg sind, hat man sie auch schnell wieder vergessen. –
Dennoch ist nicht nur der gefühlte, sondern auch der tat-
sächliche Bürokratieaufwand enorm. Diese Hemmnisse
müssen nicht nur auf deutscher, sondern auch auf euro-
päischer Ebene konsequent abgebaut werden. Die Unter-
nehmen brauchen Luft zum Atmen, für Engagement und
Eigeninitiative.

Auch das Thema Energie möchte ich kurz anreißen.
Bei allem Streben nach einer Zukunft mit einer Energie-
versorgung aus ausschließlich regenerativen Energie-
quellen darf die damit einhergehende immense Kosten-
belastung der Unternehmen nicht vergessen werden. Es
sind gerade die kleinen und mittelständischen Unterneh-
men, die standorttreu und standortgebunden sind. Die
Energiekosten sind für sie ein Fixum, da sie in der Regel
nicht die Möglichkeit haben, auszuweichen und ihre
Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern.

Zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähig-
keit ist es deshalb wichtig, Energiepolitik nicht ideologisch,
sondern ökonomisch und sachorientiert zu betreiben. Die
Bezahlbarkeit und die Sicherheit der Energieversorgung
sind normative Voraussetzungen für die Existenz eines
Betriebes. Die kumulierte Belastung aus Strompreis,
Stromsteuer, EEG-Abgabe, Emissionshandel usw. darf
die Unternehmen nicht erdrücken und ihrer Wettbewerbs-
fähigkeit berauben.

Es gibt viele Themen, die den Mittelstand berühren:
Fragen der Unternehmensnachfolge und der Finanzie-
rung, Forschung und Entwicklung, Rohstoffsicherheit
und viele andere mehr.

Viele dieser Fragestellungen werden von uns in der
christlich-liberalen Koalition richtig erkannt. Zahlreiche
Aktivitäten wie die Hightech-Strategie, der Nationale
Pakt für Ausbildung, die Mittelstandsinitiative usw. sind
mehr als nur Schritte in die richtige Richtung. Der Mit-
telstand ist das Herzstück unseres Wirtschaftssystems.
Wir müssen daran arbeiten, einen effizienten Ordnungs-
und Handlungsrahmen zu schaffen, in dem dieses Herz-
stück seine optimale Leistung erreichen kann.

Während andere Parteien in diesem Hause kommunis-
tischen und sozialistischen Ideologien nachjagen, sind
wir bereit, uns den Realitäten zu stellen und auf den
Grundprinzipien der Marktwirtschaft eine sachorientierte
und zweckgebundene Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Das ist gut für unsere Unternehmen, und das ist gut für die
Menschen in unserem Land.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1709005100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/4684 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, da-
mit sind Sie einverstanden. – Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Petra
Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Festsetzung des Mindestloh-
nes (Mindestlohngesetz – MLG)


– Drucksache 17/4665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes für die Einführung flächende-
ckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einfüh-

(Mindestlohngesetz)


– Drucksache 17/4435 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung die Aussprache 90 Minuten dauern. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709005200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt dem Deut-
schen Bundestag heute den Entwurf eines Gesetzes zur
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Wir ha-
ben dafür gute Gründe. Über 20 Prozent der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten
derzeit im Niedriglohnsektor. Übrigens: 70 Prozent der-
jenigen, die dort arbeiten, sind Frauen. Wir haben die Si-
tuation, dass laut Studien mittlerweile über 5 Millionen
Menschen in Deutschland weniger als 8 Euro die Stunde
verdienen, Herr Hinsken. Weniger als 8 Euro die Stunde!
Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass 1,2 Mil-
lionen Menschen in diesem Land weniger als 5 Euro die
Stunde verdienen,


(Andrea Wicklein [SPD]: Es ist nicht zu fassen!)

dann muss man feststellen: Handeln ist geboten. Wer
Leistungsgerechtigkeit will, wer will, dass es einen gu-
ten und anständigen Lohn für gute Arbeit gibt, der
braucht den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland.
Es ist Zeit, zu handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Es geht um Anstand, um anständige Löhne, um Leis-
tungsgerechtigkeit. Es geht aber auch, meine Damen und
Herren von der Koalition, um fairen Wettbewerb zwi-
schen Unternehmen. Es findet ein Dumpingwettbewerb
zuungunsten bzw. zulasten anständiger Unternehmerin-
nen und Unternehmer statt, die anständige Löhne zahlen
wollen, die aber den Druck, der entsteht, wenn sie beim
Lohnniveau mit Schmutzkonkurrenz konfrontiert wer-
den, nicht mehr aushalten. Diese Unternehmen brauchen
fairen Wettbewerb. Auch deshalb brauchen wir einen ge-
setzlichen Mindestlohn in Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem sind es die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler, die uns heute am Fernseher zuschauen oder oben
auf den Zuschauerbänken sitzen – –


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So viele sind es bei Ihnen nicht! – Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] verlässt den Plenarsaal)


– Herr Lindner geht und brüllt; so kennen wir ihn. Ich
sage Ihnen: Das zeigt auch, welche Wertschätzung er ge-
genüber den arbeitenden Menschen in Deutschland in
dieser Stunde hat.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in die-
sem Land, die Jahr für Jahr insgesamt 11 Milliarden
Euro aufbringen und dafür sorgen müssen, dass Armuts-
löhne aufgestockt werden können. 11 Milliarden Euro
geben wir im Bundeshaushalt für ergänzendes Arbeitslo-
sengeld II aus. Ich gebe zu: Die Hälfte der Betroffenen
sind nicht in Vollzeitarbeit, sondern sind Minijobber.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Eben!)


Aber auch für diesen Bereich gilt: Es werden Stunden-
löhne gezahlt, von denen die Menschen nicht leben kön-
nen.

Die andere Hälfte ist zum großen Teil in Teilzeit, wer-
den Sie sagen. Aber es bleibt ein erklecklicher Teil, über
360 000 Menschen in Deutschland, der von morgens bis
abends schuftet, nicht genug Geld hat, um leben zu kön-
nen, und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt
holen muss. Das ist nicht nur gegenüber den Familien
und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die hart
arbeiten, unwürdig.


(Zuruf von der FDP: Wer hat denn so etwas eingeführt?)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Es ist ökonomischer Unsinn, dass wir in diesem Land
mit immer mehr Geld der Steuerzahler staatliche Ar-
mutslohnbewirtschaftung zu leisten haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Skandal!)


Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt.
Wir wollen den Vorrang für tarifvertragliche, branchen-
übliche Mindestlöhne, wie wir sie in vielen Branchen
schon durchgesetzt haben. Wir wollen im Übrigen dafür
sorgen, dass solche Löhne einfacher durchzusetzen sind,
indem wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen
Wirtschaftszweigen die Möglichkeit eröffnen, zu Min-
destlöhnen zu kommen. Wir wollen einen Vorrang für ta-
rifvertragliche Lösungen.

Wir brauchen allerdings auch den gesetzlichen Min-
destlohn. Wir erleben in vielen Bereichen, dass Tarif-
autonomie nicht mehr vernünftig funktioniert, weil Ar-
beitgeberverbände und auch Gewerkschaften nicht gut
genug organisiert sind. Dies führt zu dem Ergebnis, dass
es zu keiner anständigen Lohnfindung kommt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle, wie es heute Morgen
schon geschehen ist, den Bezug schaffen zu den Ver-
handlungen, die gestern an der Unwilligkeit und der Un-
fähigkeit der schwarz-gelben Koalition vorerst geschei-
tert sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP)


– Nein. Ich will Ihnen das sagen. Herr Hinsken, ich war
ja dabei. Ich habe es doch erlebt. – Am Montag und
Dienstag hieß es, Frau Merkel werde das jetzt zur Chef-
sache machen. Die Chefsache, die sie geleistet hat, war,
ihre Koalition auf ein Njet zu allen Vorschlägen, die wir
gemacht haben, zu verständigen. Wenn das Chefsache
ist, Herr Altmaier, dann ist mir angst und bange um die
Zukunft des Landes in der Zeit, in der Frau Merkel noch
Bundeskanzlerin ist. Chefsache bedeutet bei Ihnen
Scheitern.


(Beifall bei der SPD – Pascal Kober [FDP]: Ihre Verhandlungskommission ist sich uneinig!)


Wir haben in mehreren Bereichen Vorschläge ge-
macht. Wir müssen uns bemühen – darüber wird noch an
anderer Stelle zu reden sein –, den Regelsatz im Bereich
Hartz IV verfassungskonform zu gestalten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der ist verfassungskonform!)


Wir haben nach wie vor erhebliche Zweifel an dem,
was Frau von der Leyen vorgelegt hat.

Beim Bildungspaket fehlt die Berücksichtigung der
Schulsozialarbeit. Sie ist notwendig, um tatsächlich da-
für zu sorgen, dass Kinder aus sozial schwachen Fami-
lien Hilfe bekommen.

Ich empfinde es geradezu als ein Stück aus dem Toll-
haus, dass diese Koalition überhaupt nicht dazu bereit
ist, etwas gegen den Missbrauch von Zeit- und Leih-
arbeit zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist weder christlich
noch liberal.

Zeit- und Leiharbeit können und sollen ein vernünfti-
ges Instrument für Unternehmen sein, um Auftragsspit-
zen abzudecken. Aber Zeit- und Leiharbeit dürfen nicht
weiter ein Einfallstor für Lohndumping in diesem Land
sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb brauchen wir zweierlei. Wir brauchen im Vor-
feld des 1. Mai 2011 – ab diesem Datum gilt die volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa – einen Mindest-
lohn auch in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Ich meine
allerdings einen richtigen Mindestlohn und nicht das,
was Sie vorgelegt haben, nämlich einen Placebomindest-
lohn. Sie wollen einen Mindestlohn nur für die verleih-
freie Zeit. Wir sagen: Wir brauchen eine absolute Lohn-
untergrenze für die Zeit- und Leiharbeit. Sie sind aber
nicht bereit, dem zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen also einen Mindestlohn über das Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz und nicht Ihr Placebokonstrukt
eines Referenzlohns, den man dann auch noch unter-
schreiten kann. Wenn Sie die Leute „verklappsen“ wol-
len, dann machen Sie ruhig weiter so. Der Mindestlohn
in der Zeit- und Leiharbeitsbranche ist nur das eine.

Das andere – das Wichtigere – ist, dass wir den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchset-
zen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu Frau Klöckner – jetzt ist auch sie weg – kann ich nur
sagen: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor dieser Frau.
Bernhard Vogel hat damals recht gehabt, als er sagte:
Gott schütze Rheinland-Pfalz. Das ist geschehen. Die
Rheinland-Pfälzer haben seit 1991 klugerweise nicht
mehr die CDU an die Macht gewählt. Ich sage Ihnen:
Frau Klöckner hat vorhin auf meine Frage, wie das mit
dem gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei, geantwortet,
dies sei schon im Gesetz verankert. Da hat sie recht.
Aber da steht sie in der Tradition von Helmut Kohl, nach
dem Motto: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit.
Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert, aber es
gibt ein Schlupfloch, das zu einem Scheunentor gewor-
den ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das Schlupfloch denn geschaffen?)


Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, meinet-
halben nach einer angemessenen Einarbeitungszeit von
vier Wochen. Im Rahmen des Kompromisses haben wir
sogar drei Monate angeboten, was verdammt schwer zu





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

realisieren gewesen wäre. Wir brauchen die Verwirkli-
chung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Ar-
beit“; Leihbelegschaften und Stammbelegschaften müs-
sen bei gleicher Arbeit gleich verdienen. Es ist unfair,
wenn zwei an einem Band stehen und der eine einen ho-
hen und der andere einen niedrigen Stundensatz be-
kommt. Das ist auch deswegen unfair, weil ein Stamm-
belegschaftsmitarbeiter mit einem hohen Stundensatz
somit Angst hat, dass er demnächst durch den ersetzt
wird, der neben ihm als Dumpinglöhner missbraucht
wird. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist eine Frage
von Anstand, Würde und ökonomischer Vernunft.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709005300

Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709005400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen auch im

Streit um Hartz IV eine Lösung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709005500

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709005600

Wir sind verhandlungsbereit; aber wir stimmen nur

zu, wenn es zur Verbesserung der Lebenssituation von
hart arbeitenden Menschen kommt. Deshalb: Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit und Mindestlöhne in Deutsch-
land!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709005700

Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709005800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Faire Löhne für gute Arbeit gehören zu einer funk-
tionieren sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Daran machen gerade wir, die Union, die Partei der so-
zialen Marktwirtschaft, keine Abstriche.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Begeisterung bei der CDU/CSU! – Katja Mast [SPD]: Aber Sie tun nichts!)


Das ist eine Position, die selbstverständlich nicht nur
die Gewerkschaften, sondern Gott sei Dank auch viele
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einnehmen. Der Prä-
sident der Arbeitgeberverbände des Hessischen Hand-
werks ist kürzlich in der FAZ mit den Worten zitiert wor-
den:

Es kann nicht sein, dass unsere guten Mitarbeiter in
eine Lohnspirale nach unten gezogen werden.

Damit hat er recht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Tosender Beifall! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was tun Sie jetzt?)


Durch die Anträge, die heute vorliegen und mit denen
die SPD und die Grünen einen vom Staat verordneten
und dekretierten Mindestlohn einführen wollen,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einer Kommission, Herr Weiß!)


wird allerdings die Tatsache verwischt, dass wir in der
Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten,
Herr Kollege Heil, ein Instrumentarium geschaffen ha-
ben, um Mindestlöhne in Deutschland einzuführen.


(Ulrike Flach [FDP]: So ist es! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!)


Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das Sie
schon erwähnt haben, novelliert und darin eine ganze
Reihe von Branchen neu aufgenommen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nehmen wir doch alle!)


Wir haben das Mindestarbeitsbedingungengesetz novel-
liert,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das nicht funktioniert!)


um in all den Bereichen, in denen es wenige oder keine
Tarifverträge gibt, die Möglichkeit zu schaffen, dass auf
Antrag, zum Beispiel von Arbeitgebern, Arbeitnehmern
oder auch von beiden gemeinsam, Mindestlöhne festge-
setzt werden.

Ich finde es schon bemerkenswert: Kaum sind die So-
zialdemokraten ein bisschen länger als ein Jahr in der
Opposition, können Sie sich offensichtlich nicht mehr an
das erinnern, was Sie mit uns zusammen beschlossen ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Alles vergessen! Was für ein schlechtes Gedächtnis! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Der Rahmen wird ja nicht mehr genutzt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709005900

Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kol-

legin Pothmer zulassen?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709006000

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709006100

Bitte schön.






(A) (C)



(D)(B)


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709006200

Herr Weiß, Sie haben hier gerade auf die Möglichkei-

ten nach dem MiArbG hingewiesen. Können Sie uns
vielleicht sagen, wie viele Mindestlöhne über das
MiArbG zustande gekommen sind und wie häufig die
Bundesregierung in Kenntnis der Tatsache, dass es große
Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gibt, selber tätig
geworden ist und Branchen vorgeschlagen hat, in denen
Mindestlöhne gezahlt werden sollten?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gute Frage! Jetzt nicht ausweichen, Herr Weiß! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU]: Auch die Landesregierungen, Frau Pothmer!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709006300

Frau Kollegin Pothmer, es liegt bislang ein Antrag


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!)


der dbb Tarifunion vor, um nach dem Mindestarbeitsbe-
dingungengesetz einen Mindestlohn für Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter in Callcentern einzuführen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und wie lange schon?)


Der Vorsitzende des noch von dem früheren Bundes-
arbeitsminister Olaf Scholz eingesetzten Hauptausschus-
ses,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vertagt!)


der nach diesem Gesetz notwendig ist, ist Klaus von
Dohnanyi, der bekanntlich ebenfalls einer großen deut-
schen Partei angehört.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nicht ganz so groß! Ein bisschen groß! – Thomas Oppermann [SPD]: Einer guten Partei! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guter Mann! Das war noch ein Hamburger Bürgermeister!)


– Ich wollte den Sozialdemokraten auch einmal etwas
Nettes sagen. –


(Zuruf von der CDU/CSU: Das war es dann aber auch!)


Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Klaus von
Dohnanyi, muss sich nun mit diesem Antrag beschäfti-
gen. Ich gehe einmal davon aus, dass Herr von Dohnanyi
deswegen noch keine Entscheidung im Hauptausschuss
herbeigeführt hat, weil seine Gespräche mit den Mitglie-
dern dieses Hauptausschusses, der zur einen Hälfte mit
Arbeitgebervertretern und zur anderen Hälfte mit Arbeit-
nehmer- und Gewerkschaftsvertretern besetzt ist, in die-
ser Frage noch nicht zu einer Einigung geführt haben.
Deswegen ist die Frage, wann dieser Antrag der dbb Ta-
rifunion beschieden wird, keine Frage an die Bundes-
regierung,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch! Warum machen Sie keinen Gesetzentwurf? – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)

sondern eine Frage an Herrn von Dohnanyi und an den
Hauptausschuss.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil Die Antwort war: Gar keine! Keine Branche hat einen Mindestlohn über das MiArbG! – Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mindestlöhne! Das MiArbG bringt nichts!)

Entschuldigung. Diese Frage richtet sich nicht an die
Bundesregierung oder an den Deutschen Bundestag. –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Natürlich!)


Wir, Herr Kollege Heil, haben in der Großen Koalition
Regelungen geschaffen, nach denen der Hauptausschuss
zuständig ist.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie hätten auch ein Gesetz machen können!)


Der Hauptausschuss entscheidet. Appellieren Sie an den
Hauptausschuss und an Ihr Parteimitglied Klaus von
Dohnanyi! Er ist dafür zuständig, nicht die Bundeskanz-
lerin und auch nicht der Deutsche Bundestag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können selber Anträge stellen!)


Wir haben bereits mit dem Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz, das wir zusammen novelliert haben, allgemein-
verbindliche Mindestlöhne für eine Reihe von Branchen
in ganz Deutschland festgelegt: im Bauhauptgewerbe, in
etlichen Branchen des Baunebengewerbes, für die Ge-
bäudereiniger, Wäschereidienstleistungen, die Abfall-
wirtschaft und die Pflegebranche. Gestern hätten Sie von
Rot und Grün im Vermittlungsausschuss die Chance ge-
habt, für drei weitere Branchen in Deutschland eine kon-
krete Vereinbarung zur Einführung von Mindestlöhnen
zu treffen, nämlich für die Zeitarbeit, das Wach- und
Schließgewerbe und die Weiterbildungsbranche.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Katja Mast [SPD]: Scheinlösungen haben Sie angeboten! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört!)


Herr Heil, wenn Sie das, was Sie zur Notwendigkeit
von Mindestlöhnen vorgetragen haben, wirklich ernst
meinten, dann hätten Sie die ausgestreckte Hand der Ko-
alition und der Bundesregierung zur Vereinbarung von
drei zusätzlichen Mindestlöhnen gestern nicht ausschla-
gen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das können Sie ohne uns machen, Herr Weiß! Das reicht nicht!)


– Herr Kollege Heil, Sie, die Sozialdemokraten und die
Grünen, haben dieses Thema in die Verhandlungen des
Vermittlungsausschusses eingebracht, nicht wir.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber notwendig!)






Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Ich wiederhole: Wenn Sie es mit Mindestlöhnen wirklich
ernst meinten,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schauen Sie sich unsere Anträge an!)


dann hätten Sie das Angebot im Vermittlungsausschuss,
für drei weitere Branchen eine konkrete Vereinbarung zu
treffen, nicht ausschlagen dürfen. Insofern ist alles, was
Sie sagen, schlichtweg unglaubwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Scheinheilig! Alles scheinheilig hier!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709006400

Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Herrn Heil zulassen?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709006500

Bitte schön.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709006600

Bitte schön, Herr Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709006700

Kollege Weiß, ich will Ihnen nichts vorwerfen, son-

dern Sie aufklären, weil Sie an den Verhandlungen nicht
beteiligt waren. Ohnehin hat sich Ihre Fraktion relativ
stark zurückgehalten. Ich muss Ihnen mitteilen: Es sind
keine Mindestlöhne für drei Branchen angeboten wor-
den.

Im Einzelnen war es folgendermaßen: Sie haben kei-
nen richtigen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeit,
sondern einen Placebomindestlohn vorgeschlagen. Sie
haben gestern auf Druck der FDP im Vermittlungsaus-
schuss beim Wach- und Sicherheitsgewerbe noch eine
Änderung vorgenommen, nämlich dass Sie als Bundes-
regierung das Verfahren nur begleiten wollen. Tun Sie
bitte nicht so, als hätten Sie einen Mindestlohn zugesagt.

Last, but not least haben Sie für die Weiterbildungs-
branche keinen Weg aufgezeigt, wie wir tatsächlich zu
einem Mindestlohn kommen.

In Unkenntnis kann man viel Unsinn erzählen, Herr
Weiß. Meine Bitte ist: Machen Sie den Menschen nichts
vor! Sie haben keine Mindestlöhne angeboten. Vor allen
Dingen haben Sie nichts getan, um dem Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gerecht zu werden.

Meine Frage ist: Sind Sie wie Ihr Koalitionspartner
FDP der Meinung, Herr Weiß, dass der Grundsatz „Glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach neun Monaten
gelten soll, wissend, dass die Mehrheit der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in der Zeit- und Leiharbeits-
branche, nämlich fast 90 Prozent, nichts davon hätte? Ist
das die Meinung von Herrn Weiß, dem CDU-Vertreter
der Arbeitnehmerschaft? Bitte nicht ausweichen!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katja Mast [SPD]: Auf die Antwort bin ich gespannt! Und nicht ausweichen!)


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709006800

Nein, ich weiche nicht aus, Herr Kollege Heil.

Wenn Sie schon über Formalien reden wollen


(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


– doch, das war so –,


(Katja Mast [SPD]: Nein, die Frage war konkret!)


dann will ich Folgendes klarstellen: Im Vermittlungsver-
fahren können formal nur am Gegenstand des Sozialge-
setzbuches II Änderungen vereinbart und vorgenommen
werden. Alles andere sind politische Verabredungen.
Dazu hat die Bundesregierung eine Protokollerklärung
vorgelegt, die morgen auch dem Bundesrat vorliegen
wird. Darin bringt die Bundesregierung ihren klaren
Willen zum Ausdruck, nach den Regeln des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes zu verbindlichen Mindestlohn-
regelungen bei der Leiharbeit, im Wach- und Dienstleis-
tungsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche zu
kommen.

Sie haben nach dem Grundsatz des Equal Pay gefragt.


(Katja Mast [SPD]: Sie haben ihn doch erst abgelehnt!)


Equal Pay, die gleiche Bezahlung von Stammbelegschaft
und Leiharbeitern, ist Bestandteil des Gesetzes. Die rot-
grüne Koalition hat damals


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Beantworten Sie bitte meine Frage, Herr Weiß! – Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie müssen schon die Antwort anhören!)


die Sonderregelung in das Gesetz eingefügt, dass per Ta-
rifvertrag von dem Equal-Pay-Grundsatz abgewichen
werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Rot-Grün trägt die Verantwortung dafür, dass in
Deutschland nicht nach dem Equal-Pay-Grundsatz be-
zahlt wird. Sie haben dieses Gesetz verabschiedet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Können Sie die Frage beantworten, Herr Weiß?)


– Ich trage alles vor, Herr Heil. – Sie können der Proto-
kollerklärung der Bundesregierung entnehmen, was fest-
gelegt wurde.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihre Meinung, Herr Weiß!)


– Ich trage sie doch vor. Sie stellen hier Behauptungen
auf. Wie es war, kann jeder in den Drucksachen schwarz
auf weiß nachlesen.

Die Bundesregierung hat in der Protokollerklärung
Folgendes festgelegt: Wir erwarten jetzt von den Tarif-
partnern, dass sie Tarifverträge schließen und Regelun-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

gen schaffen, ab wann in der Leiharbeitsbranche Equal
Pay und kein abgesenkter Lohn gilt. –


(Katja Mast [SPD]: „Neun Monate“ war die Frage!)


Wenn das in einem Jahr nicht erfolgt ist, dann werden
wir gesetzgeberisch handeln. Aber es sollen erst einmal
diejenigen verhandeln, die dafür Verantwortung tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Neun Monate! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Neun Monate?)


Ich finde es unglaublich, welche Show Sie veranstal-
ten und wie Sie sich einfach der Verantwortung entzie-
hen. Die Verantwortung liegt bei denen, die dafür zu-
ständig sind, Tarifverträge abzuschließen. Das sind die
Arbeitgeber und die Gewerkschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie feige, diese Frage nicht zu beantworten, Herr Weiß! Verdammt feige!)


Weil es mir aber nicht um Wahlkampf und auch nicht
um politische Polemik geht,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zu feige, die Frage zu beantworten! – Katja Mast [SPD]: Neun Monate!)


sondern weil es mir darum geht, dass das Prinzip „Faire
Löhne für gute Arbeit“ in Deutschland durchgesetzt wer-
den kann,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Monaten?)


habe ich die herzliche Bitte, dass sich die Ministerpräsi-
denten der Sozialdemokraten morgen im Bundesrat noch
einmal ernsthaft die Frage stellen, ob sie nicht doch einer
Vereinbarung mit der Bundesregierung und der Regie-
rungskoalition hier im Deutschen Bundestag zustimmen
wollen,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schämen Sie sich! Feige! – Katja Mast [SPD]: Neun Monate, Herr Weiß! Sie sind feige!)


die es möglich macht, dass wir für drei weitere Branchen
in Deutschland eine konkrete Verabredung zur Einfüh-
rung von Mindestlöhnen bekommen und dass das die
Behandlung des Themas Sozialgesetzbuch II, bei dem
kein Unbeteiligter mehr versteht, worüber wir eigentlich
streiten, zu einem befriedigenden und guten Abschluss
gebracht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Feige ist das von der CDA! Unglaublich! – Katja Mast [SPD]: Und von Herrn Weiß auch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709006900

Herr Weiß, der Kollege Schaaf hat den Wunsch nach

einer Zwischenfrage. Würden Sie sie zulassen?

Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709007000

Bitte schön.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709007100

Bitte schön.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1709007200

Herr Kollege Weiß, da Sie hier Redlichkeit einfor-

dern: Würden Sie mir recht geben, dass es im Zusam-
menhang mit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes einen Antrag der Tarifparteien in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche gab, über die Allgemein-
verbindlichkeitserklärung den vereinbarten Mindestlohn
zu garantieren,


(Zuruf von der FDP: Hatten wir nicht!)


dass Sie, die Union, die Unterstützung für die Allge-
meinverbindlichkeitserklärung mit dem Hinweis auf
konkurrierende Tarifverträge verweigert haben und dass
die konkurrierenden Tarifverträge, die Sie als Begrün-
dung für einen nicht vereinbarten Mindestlohn in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche angemahnt haben, von ei-
ner Gewerkschaft abgeschlossen worden sind, die nicht
tariffähig war, nämlich von einer CGB-Gewerkschaft?

Sie haben sich darauf berufen, dass es konkurrierende
Tarifverträge gibt. Ginge es nach uns, nach den Arbeit-
gebern und den Arbeitnehmern in der Zeit- und Leihar-
beitsbranche, gäbe es schon seit zwei Jahren einen Min-
destlohn. Sie haben das verhindert, Herr Weiß. Würden
Sie das bestätigen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weiß, der Lohndrücker!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709007300

Herr Kollege Schaaf, Sie haben diese Frage in Bun-

destagsdebatten schon mehrmals gestellt.


(Katja Mast [SPD]: Aber nie beantwortet bekommen!)


Ich muss Ihnen auf diese Frage die gleiche Antwort wie
zuvor geben: Es ist richtig, dass wir in der Großen Koali-
tion über die Frage gesprochen haben, ob wir Regelungen
zur Zeitarbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf-
nehmen. Es war damals leider so – ich bedauere, dass es
so war –, dass die vier Arbeitgeberverbände, die es in
Deutschland in der Zeitarbeitsbranche gibt, dieses Vorha-
ben wegen ihrer unterschiedlichen Tarifverträge be-
kämpft haben.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Die Kanzlerin hatte es schon zugesagt, und Sie sind wortbrüchig geworden!)


So konnten wir die Frage, ob es einen Tarifvertrag gibt,
den wir nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für all-
gemeinverbindlich erklären können und durch den die
entsprechenden Bedingungen erfüllt werden, nicht klä-
ren.





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Es gibt in der Zeitarbeitsbranche in dieser Frage heute
Gott sei dank eine Weiterentwicklung:


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen doch gar nicht über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz reden!)


Auch durch gutes Zureden haben sich alle vier Arbeitge-
berverbände in der Zeitarbeitsbranche mit allen Gewerk-
schaften auf einen gemeinsamen Mindestlohn verstän-
digt. Damit liegen jetzt die Voraussetzungen dafür vor,


(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])


dass wir ohne weiteren Streit den gemeinsamen Min-
destlohn bei allen Zeitarbeitsverbänden in Deutschland
für allgemeinverbindlich erklären könnten.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Könnten!)


Das ist der große Unterschied zu dem, was in der Zeit
der Großen Koalition geschehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es gab gestern gar kein Angebot im Vermittlungsverfahren! Sie wollen doch gar nicht über das Entsendegesetz reden! Der verlängerte Arm der Lohndrücker sind Sie! – Weiterer Zuruf von der SPD: Dann brauchen Sie doch das Vermittlungsverfahren nicht!)


In den Anträgen und auch in der Rede des Kollegen
Heil ist nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden,
dass am 1. Mai dieses Jahres die Arbeitnehmerfreizügig-
keit auch für diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger
aus der Europäischen Union eingeführt wird, deren Her-
kunftsländer im Jahr 2004 der EU beigetreten sind.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709007400

Herr Weiß, ich hätte noch die Zwischenfrage von

Frau Mast zu bieten. Möchten Sie die zulassen? – Bitte.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1709007500

Herr Kollege Weiß, ich möchte die Frage wiederho-

len, die Ihnen Hubertus Heil gestellt hat und die Sie
nicht beantwortet haben. Ursula von der Leyen, Angela
Merkel und die FDP haben vor neun Monaten einen
Kompromiss zum Thema „Gleiches Geld für gleiche Ar-
beit“ vorgelegt, den Sie in der Koalition gemeinsam tra-
gen können. Als Leiharbeitnehmerin oder Leiharbeit-
nehmer muss man in Deutschland neun Monate warten,
bevor man das gleiche Geld wie die Kollegin oder der
Kollege bekommt. Meine Frage lautet: Wie ist Ihre Hal-
tung zu diesem Vorschlag?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Persönliche Haltung!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709007600

Frau Kollegin Mast, um es noch einmal festzuhalten:

Die derzeitige gesetzliche Regelung in Deutschland ist
in der Tat so – damals von der rot-grünen Koalition be-
schlossen –, dass ein Zeitarbeiter, ein Leiharbeiter per
Tarifvertrag auf Dauer schlechter gestellt werden kann
als ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft.


(Katja Mast [SPD]: Neun Monate!)


Das ist die heutige Rechtslage.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Ihre Meinung?)


– Ja, langsam! – Wir sind bereit und willens, die unbe-
fristete Absenkung des Lohns abzuschaffen und das
Ganze zu befristen.


(Katja Mast [SPD]: Was denken Sie denn?)


Nun ist es so:


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nach neun Monaten kommt ein Kind zur Welt! So antworten Sie doch mal!)


Frau Kollegin Mast, die Frage, die Sie mir stellen, muss
nicht der Abgeordnete Peter Weiß oder der Deutsche
Bundestag beantworten,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie keine Überzeugung?)


diese Frage müssen die Tarifpartner beantworten, die
diese Tarifverträge abgeschlossen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Kollegin Mast, damit wir nicht unnötig in die
Tarifautonomie eingreifen müssen, haben wir gesagt:
Wir setzen jetzt eine Frist von einem Jahr. In diesem ei-
nen Jahr sollen uns die Tarifpartner ein befriedigendes
Ergebnis zum Thema Equal Pay vorlegen. Wenn sie das
nicht tun, dann werden wir handeln. Wenn es die Tarif-
partner selbst nicht schaffen, dann werden wir einen
Zeitpunkt festlegen, ab dem Equal Pay in Deutschland
gezahlt werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So viel Feigheit in einem Mann!)


– Das ist keine Feigheit von mir, Herr Kollege Heil. Mut
müssen die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerk-
schaften aufbringen. Wenn sie ihn nicht aufbringen,
dann sind wir willens, zu handeln. Darin besteht der
Mut.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist so mutig wie Sie bei Herrn Schröder! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Feigheit der CDA! Und das soll Arbeitnehmerschaft in der CDU sein!)


Obwohl wir im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und im
Mindestarbeitsbedingungengesetz die Möglichkeiten ge-
schaffen haben, branchenbezogene Mindestlöhne festzu-
legen, wird vorgeschlagen, einen Mindestlohn per staatli-
chem Dekret zu bestimmen. Interessanterweise wird von
den Sozialdemokraten ein Mindestlohn von 8,50 Euro in
der Stunde und von den Grünen 7,50 Euro in der Stunde
vorgeschlagen. In einer ganzen Reihe von Branchen, die
heute schon eine Mindestlohnregelung haben, liegt der
Mindestlohn über 7,50 Euro oder 8,50 Euro,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott sei Dank!)






Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu der
Auffassung gekommen sind, dass es wirtschaftlich ver-
tretbar ist, einen höheren Mindestlohn zu zahlen. Das ist
zu begrüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Frage, die Sie sich stellen müssen, heißt: Wird
dann, wenn ein staatlicher Mindestlohn festgelegt wird,
in all den Branchen, in denen heute schon ein besserer,
höherer Mindestlohn gilt, die Bereitschaft abnehmen,
überhaupt Vereinbarungen über einen besseren Mindest-
lohn zu treffen? Müssen nicht diejenigen, denen schon
heute ein höherer Mindestlohn zugesagt worden ist, da-
mit rechnen, dass ihre Verträge auslaufen, nicht verlän-
gert werden und sie zurückfallen auf das, was per staatli-
cher Gesetzgebung verordnet worden ist? Die Frage
müssen Sie beantworten.

Diese Frage haben zu Recht auch kluge Gewerkschaf-
ter und Sozialdemokraten gestellt. Ich will daran erin-
nern, dass der frühere Vorsitzende der IG BCE, Hubertus
Schmoldt –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein kluger Mann!)


– ein kluger Mann; Sie haben recht –, auf die Frage nach
der geeigneten Höhe für einen Mindestlohn geantwortet
hat – ich zitiere –: Das muss in den einzelnen Branchen
ausgehandelt werden, wie jeder normale Tarifvertrag
auch. Wo Hubertus Schmoldt recht hat, hat er recht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es wäre gut, die Sozialdemokraten wie auch die Grünen
würden diesem Ratschlag von Hubertus Schmoldt Rech-
nung tragen.

Wir, die Union, stehen für Folgendes: Zur sozialen
Marktwirtschaft gehören faire Löhne für gute Arbeit.
Wir haben mit zwei Gesetzen das Instrumentarium dazu
geschaffen. Wir wollen es nutzen. Das, was Sie beantra-
gen, ist letztendlich die Verabschiedung von dem, was
Sie selber mit uns zusammen geschaffen haben. Die Tat-
sache, dass Sie im Vermittlungsausschuss so gehandelt
haben, wie Sie gehandelt haben, zeigt, dass Sie es gar
nicht ernst meinen. Bitte, korrigieren Sie morgen durch
Ihre Ministerpräsidenten diese Haltung. Es gibt eine
Chance für mehr allgemeinverbindliche Mindestlöhne in
Deutschland. Nutzen wir sie! Ergreifen Sie die ausge-
streckte Hand der Union und der Regierung! Schlagen
Sie sie nicht aus; dann sind Sie glaubwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709007700

Klaus Ernst hat jetzt für die Fraktion Die Linke das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sechs Minuten Wege zum Kommunismus!)


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709007800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Sehr geehrter Herr Weiß, Sie haben eben einen
glänzenden Auftritt gehabt, als Sie bewiesen haben, wie
man um eine Frage herumeiern kann, ohne sie zu beant-
worten. Das war wirklich ein Glanzstück.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben. Sie haben of-
fensichtlich keine Ahnung von der betrieblichen Reali-
tät. Wenn Sie die hätten, würden Sie feststellen, dass es
kaum einen Menschen gibt, der in einem Betrieb anfängt
und dasselbe verdient wie der, der vielleicht schon 5, 10
oder 20 Jahre in diesem Betrieb arbeitet. Das ist die Rea-
lität. Deshalb ist es überhaupt nicht notwendig, eine Re-
gelung zu treffen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leih-
arbeitnehmer, wenn sie an einen Betrieb verliehen
werden, auch noch weniger erhalten als die anderen Ar-
beitnehmer, die in dem Betrieb anfangen. Warum eigent-
lich? Die Neun-Monate-Regelung ist Humbug. Sie ste-
hen in dieser Frage offensichtlich auf der Seite der FDP;
sonst hätten Sie, Herr Weiß, hier eine klare Antwort ge-
geben. Die sind Sie schuldig geblieben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie, Herr Weiß, lenken offensichtlich sehr gern von
der Verantwortung dieser Regierung und auch von Ihrer
eigenen ab. Sie lenken ab, wenn Sie sagen: „Das sollen
doch bitte schön Gewerkschaften und Arbeitgeber re-
geln“, nur weil Sie sich weigern, einen flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Für die
Armut in Deutschland, für die Armut der Menschen, die
arbeiten und trotzdem von ihrem Lohn nicht leben kön-
nen, sind diese Regierung und Sie, Herr Weiß, mitver-
antwortlich. Dafür können sich die Menschen in diesem
Land bei Ihnen bedanken, um das in aller Klarheit zu sa-
gen.


(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir legen keine Löhne fest!)


Um es deutlich zu machen: Angesichts der 1,4 Millio-
nen Menschen, die hier trotz Arbeit ihren Lohn aufsto-
cken müssen, wovon 330 000 in Vollzeitarbeit arbeiten,
angesichts von 6,55 Millionen Niedriglöhnern in diesem
Land – wir wissen, dass ihre Zahl steigt, seit Sie regie-
ren – könnten Sie ein wenig demütiger sein, wenn Sie
hier nach vernünftigen Lösungen gefragt werden. Schie-
ben Sie die Verantwortung nicht auf andere ab.

Das Nichtstun der Bundesregierung ist Ursache für
diese Armut. Frau von der Leyen ist heute nicht da. Da-
für habe ich Verständnis; denn sie musste nachts viel ar-
beiten. Sie weiß jetzt, wie das ist.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir auch! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was soll denn das?)


Die Bundesarbeitsministerin dieses Landes saust immer
durch die Gegend und redet von den Kindern, für die sie
sich ganz besonders verantwortlich fühlt. Dazu kann ich





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)

Ihnen sagen: Kinderarmut ist immer Armut der Eltern.
Wenn die Eltern durch nicht vorhandene Mindestlöhne
armgemacht werden, ist auch die Bundesarbeitsministe-
rin persönlich dafür verantwortlich, wenn sie sich in die-
ser Weise verhält.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen, dass insbesondere Frauen von Mindest-
löhnen betroffen sind und dass von drei Menschen, die
unter 1 000 Euro verdienen, zwei Frauen sind. Es ist
zwar schön, dass sich Frau von der Leyen dafür einsetzt
– das unterstützen auch wir –, dass auch in den Füh-
rungsetagen Frauen sitzen; es arbeiten aber ganz viele
Frauen in den Betrieben, die ihre Existenz nicht sichern
können, weil die Bundesarbeitsministerin und diese Re-
gierung Mindestlöhne verweigern. Das ist ein Zustand,
den Sie ändern müssen. Diesen Zustand können Sie
nicht einfach weglächeln.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt zur FDP, weil ich von ihr den einen oder anderen
netten Zwischenruf gehört habe. „Leistung muss sich
lohnen“, höre ich da. Wissen Sie, was sich bei Ihnen loh-
nen muss? Offensichtlich soll sich die Abzockerei bei
Ihnen lohnen. Ich habe vorhin in der Debatte die Rede
Ihrer Fraktionsvorsitzenden gehört. Wenn man sich da-
gegen verwahrt, dass die CDs veröffentlicht werden, mit
denen die zur Verantwortung gezogen werden können,
die Steuerhinterziehung betreiben, dann schützt man da-
mit die Abzocker und Steuerhinterzieher und kümmert
sich offensichtlich nicht um die Menschen in diesem
Land, die einen Mindestlohn brauchen. Das ist die Hal-
tung der FDP.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


Es ist unglaublich, dass eine Partei, deren Umfrage-
werte offensichtlich unter 5 Prozent liegen, vernünftige
Löhne für Millionen von Menschen verhindern kann.
Das ist ein unglaublicher Zustand in diesem Land.


(Beifall bei der LINKEN – Sebastian Körber [FDP]: Herr Gysi war unterhaltsamer!)


Meine Damen und Herren, die Gesetzentwürfe der
Grünen und der SPD gehen in die richtige Richtung. Ei-
nige Fragen bleiben trotzdem. Eine Frage bezieht sich
auf die 7,50 Euro Mindestlohn im Gesetzentwurf der
Grünen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestens!)


– Mindestens. Das ist ja in Ordnung. – Nun fordern Sie
beim Bezug von Arbeitslosengeld II einen Regelsatz von
420 Euro. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass
bei einem Regelsatz von 420 Euro beim Arbeitslosen-
geld II der Mindestlohn mindestens 7,80 Euro betragen
müsste.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist doch bei euch genauso! Ihr habt doch genau das gleiche Problem!)


– Könnten Sie vielleicht einmal die Luft anhalten? Sie
ersticken ja fast. – Ich kann nur sagen: Jeder, der einen
Mindestlohn unter 7,80 Euro verdient, ist logischerweise
berechtigt, ergänzendes Arbeitslosengeld II zu beziehen,
also Aufstocker zu sein. Das kann doch nicht sein. Sie
können doch nicht Mindestlöhne fordern und gleichzei-
tig alle, die den Mindestlohn beziehen, ins Aufstocken
treiben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen eine Kommission!)


Zur SPD muss ich sagen: Sie fordern 8,50 Euro. Sie
wissen genauso gut wie ich, dass jemand mit einem
Lohn von unter 9,46 Euro in der Stunde nach 45 Versi-
cherungsjahren noch eine Grundsicherung im Alter be-
kommen muss, weil seine Rente zu niedrig ist. Deshalb
sagen wir den Grünen: Jeder Lohn unter 7,80 Euro führt
dazu, dass Sie die Leute zu Aufstockern machen und
dass der Staat die Löhne zahlen muss, was Sie doch ei-
gentlich hier bemängeln. Der SPD muss ich sagen: Jeder
Lohn unter der Grenze von 9,46 Euro führt dazu, dass
Sie die Menschen hinterher in die Altersarmut treiben.
Deshalb sagen wir: Es ist schon richtig, dass wir 10 Euro
fordern.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Wer bietet mehr? – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Arbeit, guter Lohn!)


Im Übrigen kann ich nicht verstehen, warum sich
SPD und Grüne in dieser Frage nicht am Ausland orien-
tieren. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von
9,73 Euro, in Frankreich gibt es einen Mindestlohn von
9 Euro.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: In Rumänien sind es 96 Cent, in Bulgarien sind es 75 Cent!)


Warum, bitte schön, machen Sie den billigen Jakob? Ge-
hen Sie doch voran und machen Sie mehr als die ande-
ren! Sie sollten nicht immer hinter den anderen herlau-
fen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen noch sa-
gen, dass laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht immer den DGB beschimpfen!)


70 Prozent der Bürger auf die Frage, ob sie einen gesetz-
lichen Mindestlohn wollen, mit Ja geantwortet haben.
Bei dem reichsten Fünftel der Gesellschaft waren es üb-
rigens noch 57 Prozent, die sich für einen Mindestlohn
ausgesprochen haben. Dass Ihnen Ihre Klientel davon-
läuft, haben Sie ja schon gemerkt.


(Zuruf des Abg. Pascal Kober [FDP])


Wenn die Bürger dieses Landes in dieser Frage mehr-
heitlich eine klare Position einnehmen und einen Min-

(B)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

destlohn fordern, aber diese Regierung einen solchen
verweigert, dann handelt diese Regierung gegen die
Mehrheit der Bürger dieses Landes. Das ist der eigentli-
che Skandal.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist undemokratisch! – Zuruf von der FDP: So wird das nichts!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709007900

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober

das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1709008000

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Heil,

lieber Herr Ernst, liebe versammelte Gesellschaft der
Zwischenfrager! Vielleicht gestatten Sie, dass ich an die-
sem Punkt der Debatte auf die beiden vorliegenden Ge-
setzentwürfe eingehe.


(Katja Mast [SPD]: Und auf die neun Monate!)


Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegen Ge-
setzentwürfe vor. In beiden Gesetzentwürfen wird die
Einrichtung einer Kommission gefordert, die einen flä-
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bestimmen
soll.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach dem Vorbild von England! – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Guter Vorschlag!)


Diese Kommission soll vom Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales eingerichtet werden. Das kann man,
auch wenn man das Ziel an sich nicht teilt, noch nach-
vollziehen. Beide Gesetzentwürfe verweisen vollkom-
men zu Recht darauf, dass die Kommission die sozialen
und ökonomischen Auswirkungen des Mindestlohns bei
der Fortschreibung berücksichtigen soll.

Doch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD, kommt der große Wi-
derspruch in Ihren Gesetzentwürfen. Es ist nämlich
überhaupt nicht nachvollziehbar, warum die Kommis-
sion, die Sie einsetzen wollen, nicht entscheiden darf,
wie hoch der Ausgangsmindestlohn ist und ob zum Zeit-
punkt der Einsetzung einer solchen Kommission ein
Mindestlohn überhaupt sinnvoll ist. Es ist doch erstaun-
lich, dass Sie Ihrer eigenen Kommission von Anfang an,
noch bevor sie überhaupt eingesetzt ist, misstrauen.

Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Sie sind sich
selbst nicht sicher, ob Sachverständige, wenn sie gefragt
würden, überhaupt einen Mindestlohn befürworten wür-
den, geschweige denn in der von Ihnen vorgeschlagenen
Höhe von 8,50 Euro bei der SPD und 7,50 Euro bei den
Grünen. Das zeigt, wie viel Vertrauen Sie in Ihre eigene
Kommission, in Ihren eigenen Vorschlag haben, nämlich
überhaupt nicht. Entweder sind Sie von der Idee einer
unabhängig arbeitenden Kommission und von deren
Sachverständigkeit überzeugt – dann müssen Sie sie un-
abhängig arbeiten lassen – oder Sie sind es eben nicht.
So wie Sie es sich vorstellen, ist eine solche Kommis-
sion eine bloße Maskerade für politisch willkürlich fest-
gesetzte und geschätzte Löhne.

Ich möchte auf die von Ihnen stets mantraartig vorge-
tragene Begründung eingehen, dass Menschen, die einen
Mindestlohn nach Ihren Vorstellungen bekommen, dann
keine staatliche Unterstützung mehr benötigen würden.
Dabei verkennen Sie die heute schon gültigen Fakten.
Diese widerlegen Ihre Vorstellung sehr deutlich und für
jeden nachvollziehbar. Sie wissen ganz genau, dass
98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten über ein existenz-
sicherndes Einkommen verfügen. Es sind nach Angaben
der BA nur etwa 4 100 alleinstehende Arbeitnehmer, die
trotz Vollzeitjob auf ergänzende staatliche Hilfen dauer-
haft angewiesen sind.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann können wir ja so weitermachen!)


Die Situation, dass der eigene Lohn nicht zum Leben
ausreicht, ist heute in aller Regel nur für Alleinerzie-
hende und für Paare mit mehreren Kindern zutreffend.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und das sind ganz wenige!)


Um diese aber unabhängig von zusätzlichen staatlichen
Leistungen zu machen – auch das wissen Sie –, würde es
eines Stundenlohns von mindestens 13 Euro bedürfen;
aber den fordert noch nicht einmal die Partei Die Linke.
Sie werden das Aufstocken, das Sie hier immer diskredi-
tieren und problematisieren, weder durch einen Mindest-
lohn von 8,50 Euro noch von 7,50 Euro verhindern
können. Hören Sie deshalb endlich auf mit der Diskrimi-
nierung von Aufstockerinnen und Aufstockern. Es ist
nichts Ehrenrühriges, seinen Lohn durch Arbeitslosen-
geld II aufzustocken.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Viele wollen das aber nicht! – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Fragen Sie mal die Leute, wie die das sehen!)


Es ist auf jeden Fall besser, als arbeitslos zu sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aufstocken ist für viele ein erster Schritt zurück in ein
Erwerbsleben ganz ohne Transferbezug.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Spätrömische Dekadenz! Das sagte Ihr Vorsitzender!)


Im Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen wer-
den die gleichen Fehler wie im SPD-Entwurf gemacht.
Auch Sie bestimmen die Höhe des Mindestlohns erst
einmal politisch selbst und lassen dann erst Ihre Kom-
mission arbeiten. Auch Sie misstrauen Ihrem eigenen
Vorschlag, auch Sie misstrauen der Sachverständigkeit
Ihrer Kommission.

Ich will auf die Löhne eingehen,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestlöhne!)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

die Sie vorschlagen: 7,50 Euro bei den Grünen – ich
habe es bereits erwähnt –, 8,50 Euro bei der SPD, und
die Linken schlagen 10 Euro vor. Wer von Ihnen hat
denn nun recht?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss die Kommission entscheiden!)


Was ist die richtige Höhe des Mindestlohns? Vielleicht
können mir die Grünen die Frage beantworten, weswe-
gen sie nur 7,50 Euro fordern und nicht 8,50 Euro. Frau
Pothmer, Sie sprechen nach mir, vielleicht können Sie
das erklären. Wieso fordert die SPD eigentlich nicht
10 Euro, wenn die Linkspartei 10 Euro für richtig hält?


(Katja Mast [SPD]: Wir wollen keine neun Monate!)


Warum fordert die Partei Die Linke nicht 12 Euro, was
der baden-württembergische Landesverband der Linken,
wie ich von meinem Kollegen Herrn Schlecht erfahren
habe, bundesweit für richtig hält? Warum folgen Sie
nicht Ihren Kollegen aus Baden-Württemberg? Sie se-
hen: Offensichtlich ist die Höhe des Mindestlohns poli-
tisch nicht so leicht festzulegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich frage mich generell, warum Sie zum Beispiel
nicht dem von Ihnen sonst immer so geschätzten Wirt-
schaftsweisen Peter Bofinger folgen, der sich zwar für
einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, aber nur in
Höhe von 5 Euro, weil – so sagt er – höhere Mindest-
löhne Arbeitsplätze kosten würden.

Der Mindestlohn, wie Sie ihn sich vorstellen, wird
nicht nur, sondern ist bereits zum politischen Spielball
geworden. Ich bin mir sicher, dass die Grünen bis zur
nächsten Bundestagswahl nicht bei einem Mindestlohn
von 7,50 Euro bleiben werden. Falls eine Partei mehr als
10 Euro fordern sollte, dann wird die Linke diese sofort
überbieten.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wüssten gern, was die FDP möchte!)


Aber wir sind hier nicht bei einer Auktion, sondern wir
sollten nach einer verantwortungsvollen Politik streben,
die die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht und
nicht gefährdet.

Wir als christlich-liberale Koalition setzen uns für
diejenigen ein, die Arbeit suchen. Wir kümmern uns so-
wohl um die Menschen, die im Erwerbsleben sind, als
auch um diejenigen, die dieses Glück gerade nicht ha-
ben. Wir bauen nicht mit Mindestlöhnen Mauern auf, so-
dass diese Menschen den Arbeitsmarkt nie betreten kön-
nen, sondern wollen ihnen Brücken bauen und
Möglichkeiten erhalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008100

Jetzt hat das Wort Brigitte Pothmer für Bündnis 90/

Die Grünen. Ihr wollen wir sehr herzlich danken, dass
sie uns an ihrem Geburtstag mit einer Rede beehrt, und
von Herzen gratulieren.


(Beifall)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Was wäre schöner, als

mit Ihnen allen meinen Geburtstag zu feiern?


(Beifall im ganzen Hause – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Jetzt könnte eine nette Rede kommen! – Weitere Zurufe)


– Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass Sie mir
einmal zuhören, Frau Krellmann.

„Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit ge-
kommen ist“, hat Victor Hugo gesagt. Eines kann ich Ih-
nen versichern: Der Mindestlohn ist so eine mächtige
Idee.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller [SPD])


Die Zeit des Mindestlohns ist längst gekommen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP und CDU/CSU,
das können Sie schon daran erkennen, dass der Wider-
stand bröckelt und dass Sie zunehmend in die Defensive
geraten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)


Der Niedriglohnsektor hat sich immer weiter ausge-
breitet. Herr Kober, Sie sprachen von einem logischen
Denkfehler. Dazu will ich Ihnen einmal sagen: Wir ha-
ben nicht nur die im Blick, die alleinstehend sind und
aufstocken; wir haben alle die im Blick, die Löhne von
zum Beispiel unter 5 Euro die Stunde bekommen. We-
gen dieser Menschen – das sind fast 2 Millionen in die-
sem Land – brauchen wir einen gesetzlichen Mindest-
lohn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Pascal Kober [FDP]: Und in welcher Höhe?)


Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit droht jetzt weitere
Niedriglohnkonkurrenz. Deshalb brauchen wir einen
ordnungspolitischen Rahmen, auch um den sozialen
Frieden in diesem Land zu erhalten. Die deutschen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind wahrlich nicht
fremdenfeindlich, aber wenn sie die Erfahrung machen
müssen, dass die Polen, die Slowenen, die Litauer als
Lohndrücker auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen,
dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich die Fehler
Ihrer Politik gegen die ausländischen Beschäftigten wen-
den, und das wollen wir verhindern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fordern
inzwischen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber mitt-
lerweile, lieber Herr Kober, sind es auch die Führungs-
kräfte in Deutschland, die eine gesetzliche Lohnunter-
grenze wollen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau! – Pascal Kober [FDP]: Reden Sie doch mal zu Ihrem Antrag!)


Mehr als ein Drittel der Topmanager sagt: Wir brauchen
gerade wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine ge-
setzliche Lohnuntergrenze.


(Pascal Kober [FDP]: Und wie hoch?)


Sie müssen sich einmal fragen, für wen Sie eigentlich
noch sprechen. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie
die Interessen der 15 Prozent vertreten, die Sie, wenn
auch irrtümlicherweise, einmal gewählt haben, oder wol-
len Sie nur noch die 4 Prozent in den Blick nehmen, die
sich jetzt in den Umfragen für Sie entscheiden?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ihr Kollege Kauch hat das längst verstanden. Wo ist
er eigentlich? Er hätte heute einmal reden sollen.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Der muss sich ausruhen!)


Er hat nämlich gesagt: Die ablehnende Haltung meiner
Partei zum gesetzlichen Mindestlohn muss infrage ge-
stellt werden. Wir müssen die Denkverbote bei der FDP
aufheben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Ihr sächsischer Wirtschaftsminister sagt: Die Ablehnung
eines gesetzlichen Mindestlohns darf kein Dogma sein. –
Lieber Herr Kober, was hat Herr Kauch, was hat Herr
Morlok, was Sie nicht haben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Pascal Kober [FDP]: Ich habe zu Ihrem Antrag geredet!)


Jetzt wende ich mich an Sie, die Kollegen von der
CDU/CSU. Es ist doch Ihr Kollege Christian Bäumler, der
stellvertretende Bundesvorsitzende Ihres Arbeitnehmer-
flügels, gewesen, der alle Hoffnung auf die Hartz-IV-Ver-
handlungen gesetzt und gesagt hat: Damit wollen wir
den Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn schaffen. –
Er ist jetzt genauso enttäuscht


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Von Ihnen ist er enttäuscht, Frau Pothmer!)


wie ich, Herr Weiß, und zwar von Ihren Verhandlungs-
führerinnen und Verhandlungsführern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein! Sie haben Nein gesagt! – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Zum Mindestlohn stand nichts im Verfassungsgerichtsurteil!)

Es ist wirklich dreist und es ist „Out of Rosenheim“,
wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hätten lauter
Mindestlöhne angeboten. Ich habe mir die Protokollno-
tiz zu dem Vorschlag der Einführung von Mindestlöhnen
in der Weiterbildungsbranche und in der Sicherheits-
branche noch einmal angeschaut. In der Protokollnotiz
für den Bundesrat beschreiben Sie nur den Prozess, wie
man zur Erstreitung von Mindestlöhnen kommen
könnte. Und dabei verschärfen Sie die Anforderungen an
die Erstreckung von Mindestlöhnen noch zusätzlich. Es
wäre gut, Herr Weiß, wenn Sie mir einmal zuhören wür-
den; in Ihrer Protokollnotiz steht nämlich, dass der Tarif-
ausschuss einstimmig darüber entscheiden muss. Das ist
falsch. Davon steht überhaupt nichts im Gesetz. Das ist
eine Verschärfung. Das zeigt auch, dass Sie Mindest-
löhne in diesen Branchen gar nicht wollen. Da ist nichts,
aber auch gar nichts in trockenen Tüchern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Über Ihren Vorschlag zu Mindestlöhnen in der Zeitar-
beit ist hier schon geredet worden. Dazu brauche ich
nicht mehr viel auszuführen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Das, was Sie vorgeschlagen haben, wird für die Zeit-
arbeiterinnen und Zeitarbeiter nicht wirklich eine Lö-
sung darstellen, weil nach Ihrem Vorschlag diejenigen,
die in Niedriglohnbranchen arbeiten, weiterhin Hunger-
löhne bekommen sollen. Der Placeboeffekt von Equal
Pay ist hier auch schon thematisiert worden. Diese Poli-
tik der Anscheinserweckung hilft nun wirklich nieman-
dem weiter.

Jetzt wollen Sie das alles wieder an die Tarifparteien
delegieren. Diese sollen es richten, und wenn sie es nicht
schaffen, soll eine Kommission eingesetzt werden. Sie
vertagen damit das Problem erstens auf den Sankt-Nim-
merleins-Tag. Zweitens frage ich mich, Herr Kober, wo-
her plötzlich Ihre Wertschätzung für die Tarifparteien
kommt.


(Pascal Kober [FDP]: War immer schon so! – Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich habe noch gut im Ohr, was Ihr Parteivorsitzender
über die Gewerkschaften gesagt hat. Ich will es Ihnen
noch einmal in Erinnerung rufen. Es ist noch nicht lange
her, da hat Ihr Parteivorsitzender gesagt:

Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
in Deutschland.

Er hat weiter behauptet, die Politik der Gewerkschaften
koste mehr Jobs, als die Deutsche Bank jemals abbauen
könnte. Das vor dem Hintergrund der Politik, die die Ge-
werkschaften in der Wirtschaftskrise gemacht haben!


(Pascal Kober [FDP]: Das war überhaupt nicht der Hintergrund!)


Das vor dem Hintergrund des Beitrags, den sie geleistet
haben, dass Arbeitsplätze erhalten werden konnten! Das
ist wirklich eine Unverschämtheit.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Und das am Geburtstag!)


Ihre neue Wertschätzung der Gewerkschaften nimmt Ih-
nen doch niemand mehr ab. Ihr sozialpolitisches Credo
lautet doch: gegen mehr Mitbestimmung, immer gegen
Arbeitnehmerrechte


(Ulrike Flach [FDP]: Jetzt ist aber einmal gut!)


und jetzt mit voller Kraft gegen den gesetzlichen Min-
destlohn.

Herr Kober, Sie haben ja noch einmal behauptet, Min-
destlöhne vernichten Arbeitsplätze.


(Pascal Kober [FDP]: Können Arbeitsplätze vernichten! – Bettina Hagedorn [SPD]: Angeblich!)


– Also, angeblich. – Schauen Sie einmal auf die Home-
page des BMAS. Ihr Ministerium ist da schon weiter.
Dort heißt es ausdrücklich, dass es keine negativen Be-
schäftigungseffekte gibt, wenn Mindestlöhne sinnvoll
eingeführt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Pascal Kober [FDP]: Nicht 10 Euro! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Über den Sinn diskutieren!)


Dazu machen wir Ihnen in unserem Gesetzentwurf einen
Vorschlag. Wir wollen, dass eine Mindestlohnkommis-
sion eingesetzt wird, die sehr genau hinschaut, wie sich
Mindestlöhne in einer bestimmten Branche auswirken,
und entsprechende Anpassungen vornimmt. Das ist un-
ser Vorschlag. Natürlich wollen wir, dass die Tarifpar-
teien Mindestlöhne oberhalb dieser unteren Lohngrenze
verabreden können. Das haben ja auch Sie, Herr Weiß,
noch einmal in den Mittelpunkt gestellt. Ich kann mir
also sicher sein, dass auch Sie unserem Gesetzentwurf
zustimmen werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So nicht!)


Ich sage Ihnen noch einmal –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008300

Frau Kollegin!


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008400

– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –: Rüsten

Sie ab in Sachen Mindestlohn! Nachdem ich Ihre Rede-
beiträge gehört habe, meine ich, zwischen den Zeilen le-
sen zu können, dass auch Sie einen gesetzlichen Min-
destlohn wollen. Herr Weiß, geben Sie es doch zu!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ CSU]: Na, na!)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008500

Der Kollege Dr. Johann Wadephul hat sehr viel unter-

nommen, um endlich mit Frau Pothmer gemeinsam Ge-
burtstag zu feiern. Er hat dafür gesorgt, dass wir aus die-
sem Anlass eine Sitzung des Deutschen Bundestages
durchführen.


(Heiterkeit)


Wir gratulieren auch Ihnen, Herr Wadephul, sehr herz-
lich und wünschen Ihnen Gottes Segen.


(Beifall)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1709008600

Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die charmante

Begrüßung!


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir beide und Bertolt Brecht!)


– Ja, wir beide und Bertolt Brecht. Darüber kann man
philosophieren. Ich sehe, wie Frau Pothmer zu Tränen
gerührt ist. Ich gratuliere auch ihr von Herzen. Gesund-
heit muss man ihr nach dieser vitalen Rede ja gar nicht
mehr wünschen. Nachdem sie sich auch phänotypisch
mit ihrer Kleidung der Union annähert, können wir viel-
leicht in Zukunft noch mehr Gemeinsamkeiten suchen,
meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Was sagen Sie zu Ihrer roten Krawatte?)


Ich habe das erfreut zur Kenntnis gekommen. Ihre ohne-
hin vorhandene Attraktivität wird dadurch nochmals ge-
steigert.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])

– Herr Heil, machen Sie sich keine Hoffnungen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)

Von den Sozialdemokraten haben wir in unserem ver-

gangenen Lebensjahr, Frau Pothmer, schon einmal etwas
Ähnliches in Form eines Antrags bekommen, der jetzt
von den Juristen in Gesetzesform gebracht worden ist.
Die Argumente dazu sind ausgetauscht, und man fragt
sich, was der Gesetzentwurf heute eigentlich soll. Aber
wer die Rede von Herrn Heil verfolgt hat, hat das schnell
gemerkt: Er hat dieses Thema mit der Regelsatz-Debatte
und mit der Blockade verknüpft, die Rot-Grün im Ver-
mittlungsausschuss zulasten der Bedürftigen durchge-
führt hat. Man erkennt: Hier soll Wahlkampf geführt
werden. Es geht Ihnen nicht um die Bedürftigen und die-
jenigen Menschen, die – der Kollege Weiß hat darauf
hingewiesen – in drei wichtigen Branchen einen Min-
destlohn hätten bekommen können, sondern Sie brau-
chen Wahlkampfmunition. Angesichts Ihrer Umfrage-
werte verstehe ich das zwar, aber in Ordnung ist es nicht,
Herr Kollege Heil.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Hamburg brauchen wohl Sie ein bisschen Munition, oder?)


Wenn wir uns einmal Ihre Aussagen zur beschäfti-
gungspolitischen Ausgangslage in Deutschland vor Au-





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

gen führen, dann könnte man den Eindruck haben, als
lebten wir in einem Land, in dem Armut und Not nur so
grassierten. Wenn Sie aber die beschäftigungspolitische
Situation und auch die Arbeitslosenstatistiken Deutsch-
lands einmal innerhalb der Europäischen Union verglei-
chen, dann stellen Sie fest, dass wir gerade aufgrund der
Entwicklung des vergangenen Jahres – insofern hätten
Sie seit der Erstantragstellung vielleicht einmal darüber
nachdenken müssen – an fünfter Stelle von allen 27 EU-
Mitgliedstaaten stehen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und Äthiopien!)


– Der Äthiopien-Vergleich leuchtet mir jetzt nicht unmit-
telbar ein.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Verglichen mit Äthiopien sind wir reich!)


Dies ist ein Erfolg unserer Politik und einer ausgewo-
genen Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutsch-
land, in die man, wenn man Erfolg haben will, nur dann
eingreifen soll, wenn man wirklich ein besseres Regel-
werk zu bieten hat. Aber das ist bei nüchterner Betrach-
tung der beiden Gesetzentwürfe und der Vorstellungen
der Linken nicht der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen,
dass das, was Sie hier vorschlagen, schon in sich nicht
konsistent ist. Man kann einmal bei der Höhe der Sätze
anfangen – Herr Kober hat sie schon aufgezählt –:
7,50 Euro, 8,50 Euro, 10 Euro. Man könnte im Grunde
wie auf einer Versteigerung fragen: Wer bietet mehr?

Wenn man Ihren Vorschlag für einen Mindestlohn,
Herr Ernst, zugrunde legen und Ihre Regelsatzberech-
nungen dazunehmen würde, dann käme man zu dem
Schluss, dass auch die von Ihnen geforderten 10 Euro
nicht ausreichen würden. Insofern ist Ihre Berechnung
noch nicht einmal in sich konsistent. Aber das alles muss
am Schluss irgendjemand bezahlen, im Zweifel die Steu-
erzahlerinnen und Steuerzahler.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die zahlen das doch jetzt schon!)


Bei der Haushaltslage in Deutschland ist das schlicht
und ergreifend nicht verantwortbar. Deswegen, Herr
Kollege Ernst, sind diese Vorstellungen – sowohl die Ih-
rigen als auch die Vorstellungen der Grünen und der
SPD – zum jetzigen Zeitpunkt zurückzuweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008700

Herr Kollege, der Kollege Ernst würde Ihnen gerne

eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1709008800

Ja, bitte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709008900

Bitte schön.

Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709009000

Danke, Herr Kollege. – Sie haben gerade gesagt,

wenn im Ergebnis ein Mindestlohn herauskäme, dann
müsste im Zweifelsfall der Steuerzahler die Kosten tra-
gen.

Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass der Steuerzahler
durch den nicht vorhandenen Mindestlohn und dadurch,
dass er permanent die zu niedrigen Hungerlöhne aufsto-
cken muss, schon jetzt belastet ist? Vorhin ist in der De-
batte von 11 Milliarden Euro jährlich gesprochen wor-
den.

Zweitens. Würden Sie mir zustimmen, dass bei einer
Erhöhung des Mindestlohns die notwendigen staatlichen
Zuschüsse sinken könnten, der Steuerzahler also, entge-
gen Ihrer Auffassung, eher entlastet und nicht belastet
würde?

Drittens. Sie haben über die Frage einer Untergrenze
diskutiert und in diesem Zusammenhang von einem
Überbietungswettbewerb gesprochen. Sind Sie nicht der
Auffassung – ganz einfach gefragt –, dass es auch zur
Würde des Menschen gehört, dass er von dem Lohn für
seine Vollzeitarbeit leben können muss, ohne der staatli-
chen Fürsorge anheimzufallen?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1709009100

Herr Kollege Ernst, zunächst einmal habe ich mich

bei den Ausgaben, die den Steuerzahler treffen würden,
auf die Regelsätze bezogen. Sie sind aus unserer Sicht
nachvollziehbar berechnet. Wir haben übrigens keinen
gegenläufigen Vorschlag von der Opposition zur Kennt-
nis nehmen können.


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Sie behaupten immer nur, Frau Kollegin Ferner, unsere
Berechnung sei verfassungswidrig. Aber Sie haben
keine konsistente Gegenberechnung vorgelegt; Sie sind
sie uns bis zum heutigen Tage schuldig geblieben, auch
in den Nachtsitzungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Herr Kollege Ernst, ich finde es übrigens abenteuer-
lich, hier Frau von der Leyen vorzuwerfen, sie sei keine
Nachtarbeit gewohnt.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt! Lesen Sie im Protokoll nach!)


Sie liegen vollkommen falsch, wenn Sie glauben, Mütter
seien keine Nachtarbeit gewohnt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau von der Leyen hat wirklich eine Ahnung davon,
was es bedeutet, nachts aktiv zu sein.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zuhören! Lesen Sie es bitte im Protokoll nach!)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(B)

– Sie haben es vorhin so formuliert. Stellen Sie es gege-
benenfalls richtig.

Der zweite Punkt. Wir streiten doch nicht über die
Frage, welches Mindesteinkommen ein Mensch braucht,
um leben zu können.


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Doch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Darüber streiten wir auch!)


– Hören Sie jetzt vielleicht freundlicherweise zu! Auch
ich habe einen Geburtstagswunsch; er ist identisch mit
dem Wunsch der Kollegin Pothmer.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Einen haben Sie frei!)


– Danke. – Wie gesagt, darüber streiten wir nicht. Die
Frage ist doch, wie sich das Mindesteinkommen zusam-
mensetzt und wie wir in einem ganz bestimmten Bereich
Arbeit für Menschen generieren können.

Es war Wolfgang Schäuble, der schon in den 90er-
Jahren darüber nachgedacht hat, Kombilohnmodelle zu
entwickeln. Herr Heil, die Regierung Schröder hat das
dann erfolgreich umgesetzt. Man hatte damals die Idee:
Wir müssen im Niedriglohnsektor Arbeit für Menschen
generieren, weil es auch zur Menschenwürde gehört,
dass man eine Aufgabe hat und für seine Arbeit eine Ent-
lohnung bekommt. Wenn diese Entlohnung nicht aus-
reicht, um davon menschenwürdig zu leben, dann ist es
eine Selbstverständlichkeit, dass der Staat hier ergän-
zend unterstützt und eingreift. Das ist im Kern ein richti-
ger Ansatz, zu dem wir weiterhin stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch Rot und Grün sollten eigentlich dazu stehen,
denn gerade im Niedriglohnsektor haben wir außer-
ordentlich viele Arbeitsplätze geschaffen. Natürlich soll
es nicht bei diesen Arbeitsplätzen bleiben; das sind doch
Einstiegsarbeitsverhältnisse, die eine Brücke zu solchen
Arbeitsverhältnissen schlagen können, in denen mehr
Einkommen erzielt werden kann,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das funktioniert doch nicht!)


sodass keine ergänzende staatliche Unterstützung benö-
tigt wird. Das ist doch der Kern.

Wir haben hier vorhin eine Debatte über den Mittel-
stand geführt. Sie müssen einmal die Kehrseite der Me-
daille sehen: Wenn wir hier einen Mindestlohn festset-
zen, dann müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
– das sind oftmals beispielsweise kleine Handwerksbe-
triebe, von denen in der vorangehenden Debatte die
Rede gewesen ist – diesen Mindestlohn in der Folge er-
wirtschaften. Wir alle können immer mit dem berühmten
Beispiel von der Friseuse kommen. Nur, schauen Sie
sich einmal die wirtschaftliche Realität in Deutschland
an: Viele Handwerksbetriebe haben Mühe, höhere Preise
am Markt durchzusetzen.

Da befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie
im Lebensmittelbereich. Hier sagen alle immer: Lebens-
mittel müssen angemessen Geld kosten dürfen. Nur ist
der Verbraucher nicht immer bereit, das dafür notwen-
dige Geld auszugeben. Das ist nun einmal die Realität.
Das finde ich persönlich nicht richtig – Sie wahrschein-
lich auch nicht –, aber es ist die Realität. Insofern ist es
wohlfeil, zu sagen: Ein Mindestlohn ist sozusagen das
Patentrezept. Nein, ein Mindestlohn – das muss man ehr-
licherweise sagen – birgt die Gefahr, dass reguläre,
sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse im Nie-
driglohnsektor verschwinden und im Bereich der
Schwarzarbeit landen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Kehrseite der Medaille. Das ist zwar nicht
schön, aber man muss es an dieser Stelle ehrlicherweise
ansprechen.

Ich würde mich gerne den vermeintlich unabhängigen
Kommissionen zur Festlegung des Mindestlohns wid-
men, die in beiden Gesetzentwürfen auftauchen. Dabei
möchte ich zwei Aspekte beleuchten. Zum einen geht es
um die Frage, wie unabhängig solche Kommissionen ei-
gentlich sein können: Wie viel Unabhängigkeit trauen
Sie ihnen zu? Das Ende der Unabhängigkeit beginnt,
wenn Sie den Kommissionen vorschreiben würden, dass
der Mindestlohn nicht unter 7,50 Euro bzw. 8,50 Euro
pro Stunde liegen darf. Ich frage Sie nach Ihrer realisti-
schen Einschätzung: Glauben Sie eigentlich wirklich,
dass die entsprechende Zahl, wie auch immer sie festge-
setzt würde, aus den politischen Auseinandersetzungen
im Rahmen von Wahlkämpfen herausgehalten werden
könnte? Ich glaube, nicht aus einem Wahlkampf. Frau
Mast, die Grünen haben auch noch gesagt, wir müssten
regionale Unterschiede machen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Die Kommission guckt sich das an!)


Das heißt, wir müssten in den einzelnen Bundesländern
eine unterschiedliche Mindestlohnhöhe definieren.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht die Kommission!)


Dann würde jeder Landtagswahlkampf im Kern aus der
Aussage bestehen: Ich biete mehr Mindestlohn, und des-
wegen wählt bitte meine Partei. Das wäre das Ende der
Tarifautonomie und der Beginn der politischen Bestim-
mung des Mindestlohns.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ob wir den Menschen damit einen Gefallen tun würden,
ist die große Frage.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den tun wir damit einen Gefallen!)


Lange Rede, kurzer Sinn:


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, sehr kurz!)


Wir haben in Deutschland – das ist der Unterschied zu
den wichtigsten europäischen Nachbarländern, mit de-
nen Sie uns hier vergleichen – Tarifautonomie und sta-
bile Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind übrigens
beteiligt, wenn vom Mindestarbeitsbedingungengesetz
abgewichen wird.

(D)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die aber den Mindestlohn fordern! Verdi und DGB fordern den Mindestlohn!)


Das machen nicht irgendwelche gruseligen Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgeber allein. Die Gewerkschaften sind
immer dabei, Herr Kollege Heil. Das sollten Sie nicht
vergessen. Wir haben eine Tarifautonomie, die sich in
über 60 Jahren bewährt hat. Sie sorgt dafür, dass wir auf
schwierige wirtschaftliche Situationen, wie das 2009 der
Fall war, flexibel reagieren können. Den wirtschaftli-
chen Aufschwung, den wir in Deutschland erlebt haben,
das Jobwunder, das wir in Deutschland erlebt haben,


(Zuruf von der LINKEN: 400-Euro-Job-Wunder!)


haben wir kluger Politik zu verdanken. Wir haben nie
verschwiegen, dass das mit der Agenda 2010 begonnen
hat. Sie verschweigen das schamhaft, was ich tragisch
finde.


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das stimmt ja gar nicht! Das hätten Sie gern!)


Der Aufschwung hat aber auch damit zu tun, dass wir
nachfolgend gute strukturpolitische Entscheidungen in
Deutschland getroffen haben. Nicht zuletzt verdanken
wir das Jobwunder aber der Intelligenz und dem Augen-
maß der Tarifpartner.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die wollen doch den Mindestlohn! Haben Sie das noch nicht gemerkt? Tarifpartner sind für den Mindestlohn!)


Die Tarifpartner haben unser Vertrauen. Wir sollten
sie bei ihrer schwierigen Arbeit unterstützen und versu-
chen, politische Einmischung so weit wie möglich zu
verhindern.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr gut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709009200

Das Wort hat Ottmar Schreiner von der SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1709009300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am Anfang möchte ich ein paar Bemerkungen zu mei-
nen Vorrednern machen, um die Diskussion etwas zu be-
leben. Zunächst eine Bemerkung zu Herrn Weiß, dem
Vertreter der Arbeitnehmerschaft in der CDU/CSU-
Fraktion:


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Herr Weiß, bei allem Respekt, ich finde es sehr bedauer-
lich, dass Sie die Frage, ob Sie eine Neunmonatsfrist, die
von der FDP vorgeschlagen worden ist, als Vorausset-
zung für die Umsetzung des Anspruches „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ für angemessen halten, nicht beant-
wortet haben. Das ist nicht gerade ein Ausweis einer be-
sonders mutigen Haltung.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vertretern der Arbeitnehmerschaft müsste es doch mög-
lich sein, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um
eine klassisch liberale Position handelt, die an Irrsinn
kaum zu überbieten ist. Wir alle wissen, dass die Be-
schäftigungsverhältnisse in diesem Bereich in der Regel
eine Laufzeit von neun Monaten unterschreiten.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!)


Das zeigt, dass die vorgeschlagene Regelung sich nicht
auf die Realität bezieht. Sie ist nicht für die Wirklichkeit
gedacht, sondern für irgendetwas anderes. Vielleicht ist
sie für die FDP-Wirklichkeit gedacht, aber nicht für die
wirkliche Wirklichkeit.

Es wäre angemessen, wenn auch der CDU/CSU-Ver-
treter der Arbeitnehmerschaft dazu eine klare Position
formulieren würde, zumal es für die Koalition inzwi-
schen peinlich wird. Heute Morgen habe ich in einer
überregionalen Tageszeitung ein Interview mit dem Chef
von Manpower gelesen. Manpower ist weltweit eine der
größten Verleihfirmen. In diesem Interview wird Jeffrey
Joerres, Chef des internationalen Personaldienstleisters
Manpower, zitiert. Er „steht der derzeit diskutierten glei-
chen Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäf-
tigten (Equal Pay) offen gegenüber“.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind alle weiter als die FDP und die CDU!)


Ein wörtliches Zitat aus dem Interview: „Wenn es so
kommt, dann stellen wir uns darauf ein.“

Die sind alle viel weiter als die FDP und im Gefolge
Herr Weiß und die Herren und Damen von der CDU/
CSU.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709009400

Wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß

zulassen?


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1709009500

Ja, sicher. Wir wollen ja die Debatte beleben.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1709009600

Herr Kollege Schreiner, ich finde es persönlich sehr

erfreulich, dass der Chef einer großen Zeitarbeitsfirma
eine solche Erklärung abgibt. Es ist aber auch diese
Frage zu beantworten: Warum schließt Manpower nicht
bereits morgen mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag
ab, in dem festgelegt wird, dass für Zeitarbeitsmitarbei-
terinnen und -mitarbeiter, die über Manpower vermittelt
werden, ab dem ersten Tag Equal Pay gezahlt und der
Lohn nicht abgesenkt wird?





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die stellen sich darauf ein! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hat sich doch schon rumgesprochen! Wie kann man denn so weltfremd sein?)


– Herr Kollege Ernst, ich frage jetzt den Kollegen
Schreiner.

Sie haben damals im Bundestag das heute geltende
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mitbeschlossen, das vor-
sieht, dass eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter und
Festangestellte gilt; es sei denn, per Tarifvertrag wird
nach unten abgewichen. Es ist also jederzeit möglich,
diese Abweichung per Tarifvertrag wieder aufzuheben
und eine gleiche Bezahlung herzustellen.

Dann soll doch Manpower diesen Tarifvertrag schlie-
ßen, aber nicht uns, der Politik, dieses Thema zuspielen.
Es liegt doch in erster Linie in der Verantwortung der Ta-
rifpartner und nicht in der des Deutschen Bundestages,
Equal Pay herzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1709009700

Herr Kollege, Sie wissen doch selbst, dass das tarifli-

che Unterbieten der „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“-
Regelung von einer Gewerkschaft angepackt worden ist,
der die zuständigen Gerichte die Tarifmächtigkeit abge-
sprochen haben. Damit sind natürlich die anderen Ge-
werkschaften massiv unter Druck gesetzt worden mit
dem Ergebnis, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ tariflich nicht mehr gehalten werden
konnte. Das war die Lage in den vergangenen Jahren.

Wenn das so ist, dann ist der Gesetzgeber aus Ge-
meinwohlgründen verpflichtet, Schlimmeres zu verhin-
dern und seinerseits Regelungen zu treffen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das Problem ist doch jetzt weg!)


– Ich weiß nicht, ob der Christliche Gewerkschaftsbund
verschwunden ist oder ob es ihn noch irgendwo in Re-
serve gibt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aber die Tarifgemeinschaft!)


Dieser ist offenkundig in diesen tariflichen Fragen zu al-
lem fähig und zu nichts wirklich nutze.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Der Chef von Manpower sagt weiter:

Der Grundgedanke, dass gleiche Arbeit gleich be-
zahlt wird, ist ja richtig – auch wenn es im Einzel-
fall nicht immer so einfach ist.

Das ist okay. Das geht aber auch an die Adresse der FDP.
Wenn die großen Leiharbeitsfirmen den Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für richtig halten und
sagen, dass sie sich damit arrangieren können, wenn der
Gesetzgeber entsprechende Regelungen trifft, dann stellt
sich die Frage, wessen Interessen Sie hier eigentlich
noch vertreten. Wahrscheinlich vertreten Sie nur noch
Ihre eigenen Interessen. Es gibt aber niemanden mehr,
der sich von Ihnen vertreten fühlt.


(Zuruf von der FDP: Sie werden doch zugeben, dass das alles Ihre Idee war!)


Hier zeigt sich die Koalition schon relativ hilflos.

Weiter weist Manpower darauf hin, auch ein Mindest-
lohn von 7,60 Euro für Ungelernte sei akzeptabel. Er
sagt:

… das zahlen wir sowieso schon, und es würde der
Branche guttun. Insofern stehen wir dem Mindest-
lohn offen gegenüber.

Meine Güte, ich frage mich, wer in dieser Republik
noch Ihre Position unterstützt.

Lidl steigt an die Spitze des Klassenkampfes und for-
dert einen Mindestlohn von 10 Euro brutto pro Stunde.


(Zuruf von der FDP: Warum sind Sie bei 8,50 Euro?)


Man könnte die Palette der Einrichtungen, die das for-
dern, erweitern. Im Kern gibt es niemanden mehr, der
die Position der Koalition bei dieser Frage unterstützt.
Das ist die erste Bilanz, die man an dieser Stelle ziehen
kann.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Weiß, Sie haben ferner mit Nachdruck darauf be-
standen, dass zu Folgendem Stellung bezogen wird. Sie
sagten, wenn der Gesetzgeber einen allgemeinen gesetz-
lichen Mindestlohn festlege, dann entstehe ein Druck
nach unten in Richtung dieses allgemeinen Mindestlohns.
Sie fragten, wie man damit umgehen solle.

Wenn das richtig wäre, müsste es entsprechende Er-
fahrungen aus dem Ausland geben. Sie wissen, dass in
über 20 EU-Ländern ein gesetzlicher Mindestlohn gilt.
Aus keinem dieser Länder wird berichtet, dass das ein-
getreten ist, was Sie befürchten.

Im Übrigen gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe
von sozialpolitischen Regelungen, wie etwa das Bundes-
urlaubsgesetz, die Arbeitszeitgesetzgebung usw., mit de-
nen der Gesetzgeber Mindeststandards festgelegt hat.
Diese Regelungen können jederzeit von den Tarifpar-
teien verbessert werden. In der Realität werden sie auch
verbessert. Von einer Sogwirkung nach unten kann also
in keinem Fall die Rede sein.

Ich habe nicht so richtig verstanden, worauf Herr
Wadephul im Ernst hinauswollte.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ernst sitzt da drüben!)


Herr Wadephul, unter anderem haben Sie gesagt, dass es
Besorgnisse hinsichtlich der Beschäftigungseffekte gebe.
Sie kommen aus Schleswig-Holstein. Laden Sie doch
einmal die Low Pay Commission des britischen Parla-
ments nach Deutschland ein. Diese Kommission existiert
schon seit etlichen Jahren und setzt sich zusammen aus
Vertretern der Industrie, des Handwerks, der Gewerk-





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

schaften und der Wissenschaft. Auch uns schwebt eine
solche Zusammensetzung einer solchen Kommission vor.
Fragen Sie die Low Pay Commission aus Großbritannien
nach ihren spezifischen Erfahrungen bezogen auf die Fra-
gen, die Sie hier formuliert haben. Sie würden sich wun-
dern und glauben, Sie hätten es mit einer sozialdemokra-
tischen Vereinigung zu tun,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


und das ausgerechnet in Großbritannien, wo dies nicht
unbedingt zu erwarten ist.

Kein Vertreter der Koalition hat auch nur einen einzi-
gen Satz zu den neuen Herausforderungen ab dem
1. Mai dieses Jahres gesagt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)


Was ist, wenn die uneingeschränkte Freizügigkeit der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den mittel- und
osteuropäischen Ländern, die seit 2004 EU-Mitglied sind,
zum 1. Mai dieses Jahres in Kraft tritt? Was ist, wenn zum
Beispiel polnische Arbeitgeber polnische Arbeitnehmer
oder baltische Arbeitgeber baltische Arbeitnehmer zu in
ihrer Heimat üblichen Preisen in Deutschland einsetzen?
Wir Sozialdemokraten haben nichts gegen den Wettbe-
werb von Regionen und schon gar nichts gegen den Wett-
bewerb von Unternehmen, aber wir haben etwas gegen
den Wettbewerb von Unternehmen, wenn er auf dem Rü-
cken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetra-
gen wird. Das werden wir nicht akzeptieren.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist das ein für uns wesentlicher Punkt.

Das bisherige Kernargument, die Beschäftigung sei ge-
fährdet, ist anscheinend fallen gelassen worden. Wenn die-
ses Argument richtig wäre, müssten wir Anhaltspunkte da-
für haben, dass es in den acht Branchen, in denen in der
letzten Zeit die Allgemeinverbindlichkeit formuliert wor-
den ist, zu entsprechenden negativen Beschäftigungsef-
fekten gekommen wäre. Davon kann überhaupt keine
Rede sein. Nehmen Sie die jüngsten amerikanischen Stu-
dien; diese zeigen in die gleiche Richtung. Sie sind im Be-
reich der wissenschaftlichen Evaluation von Mindestlöh-
nen national und international hoffnungslos isoliert.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Der entscheidende Punkt, den ich Ihnen gar nicht
mehr richtig darlegen kann, weil ich sehe, dass meine
Redezeit gleich abläuft, betrifft die Frage nach den we-
sentlichen Antriebsgründen für die Forderung nach Min-
destlöhnen. Sie sind nicht primär ökonomischer Art. Sie
sind zwar auch ökonomischer Art – Stichwort: Binnen-
nachfrage und dergleichen mehr –, aber sie sind im We-
sentlichen eine Frage des Anstandes und der Fairness auf
dem Arbeitsmarkt und eine Frage des Wertes der Arbeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Da müssten die Christdemokraten Farbe bekennen. Es
ist ein klassisch liberaler Grundsatz, dass in einer Markt-
wirtschaft die Preise und Löhne, die es auf dem Markt
gibt, auf dem Markt gebildet werden. Demnach hätten
wir es auf dem Arbeitsmarkt mit einer Art Kartoffel-
markt zu tun. Aber der Arbeitsmarkt ist mit einem Kar-
toffelmarkt nicht vergleichbar, weil wir es auf dem Ar-
beitsmarkt mit Menschen zu tun haben, und Menschen
haben Würde. Daraus ergibt sich der Wert der Arbeit des
Menschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das können Sie in vielen Dokumenten der katholischen
Soziallehre und in den entsprechenden evangelischen
Schriften nachlesen. In diesem Punkt unterscheiden wir
uns fundamental von den Liberalen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709009800

Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1709009900

Ich bin eigentlich nicht am Ende, aber ich komme

zum Ende.


(Heiterkeit)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709010000

Nur das war meine Bitte.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1709010100

Die Kollegen, die hier immer betonen, dass sie christ-

liche Politik machen, machen insoweit keine christliche
Politik. Sie machen auf diesem Feld FDP-Politik.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709010200

Herr Kollege.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1709010300

Hier wären Sie gut beraten, in sich zu gehen und sich

vielleicht einmal etwas gründlicher mit der Lehre der
christlichen Kirchen zum Thema Arbeit zu befassen.

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und gute Bes-
serung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709010400

Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709010500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Heil, Sie haben heute das gemacht, was
wir auch im Vermittlungsausschuss erlebt haben. Sie ha-
ben sich über das Thema, um das es eigentlich geht – in
diesem Fall Ihre Gesetzentwürfe zu gesetzlichen Min-





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

destlöhnen –, hinaus geäußert. Deswegen möchte auch
ich kurz auf ein anderes Thema, auf die Zeitarbeit, ein-
gehen. Wissen Sie, der Unterschied zwischen Ihnen und
uns ist, dass wir nicht leichtfertig wegwerfen wollen,
was Sie einmal für dieses Land erreicht haben.

Es gibt Unterschiede zwischen dem Modell der Zeit-
arbeit, das wir in Deutschland haben, und den Modellen,
die es im Ausland gibt. In Deutschland ist die Zeitarbeit
in den letzten Jahren ein Jobmotor gewesen, übrigens
gerade für diejenigen, die aus der Arbeitslosigkeit kom-
men.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Ausland gibt es sehr viel mehr Zeitarbeit! In Frankreich! In den Niederlanden! – Weiterer Zuruf)


– Doch. – Zwei Drittel der Menschen in der Zeitarbeit
kommen aus der Arbeitslosigkeit, und 40 Prozent derje-
nigen, die in der Zeitarbeit arbeiten, sind ohne Qualifika-
tion, haben keinen Berufsabschluss. Für diese ist die
Zeitarbeit der Weg in den Arbeitsmarkt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Immer mehr sind hochqualifiziert!)


Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist, dass wir
das nicht leichtfertig wegwerfen wollen.

Dass Sie uns hier vorwerfen, wir wollten den Miss-
brauch bei der Zeitarbeit nicht verhindern – dies wollen
wir natürlich machen –,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Neun Monate!)


finde ich bemerkenswert. Diese Koalition hat doch die
Schlecker-Klausel vorgelegt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die hilft doch nichts!)


Es war diese Koalition, die schon letzten Sommer gesagt
hat: Wir müssen uns für Equal Pay einsetzen, damit
Stammarbeitskräfte nicht durch Zeitarbeiter ersetzt wer-
den, weil man diesen einen niedrigeren Lohn zahlen
kann. Das wollen wir. Deshalb schlagen wir eine Rege-
lung zu Equal Pay vor. Allerdings wollen wir dies nach ei-
ner klugen Frist, Herr Heil, weil es unser Ziel ist, den
Steg, den die Zeitarbeit laut IAB heute in den Arbeits-
markt bildet, zu einer Brücke auszubauen, damit mehr
Menschen darüber gehen können, und ihn nicht abzurei-
ßen, wie Sie es wollen; denn dies würde die Zahl der
Langzeitarbeitslosen in Deutschland erhöhen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kommen wir jetzt zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Tarif-
autonomie in Deutschland ist für uns – das, was uns
Liberalen hier unterstellt wurde, ist falsch – ein hohes
Gut. Wir glauben, dass die Lohnfindung bei Arbeitge-
bern und Gewerkschaften in guten Händen ist. Deshalb
wollen wir sie dort belassen. Der Punkt ist: Das ist ein
Erfolgsmodell.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber Ihr Vorsitzender lange nicht begriffen, Herr Vogel!)

Das hat neben der starken mittelständischen Wirtschaft
– liebe Frau Kollegin Pothmer, ich komme gleich zu Ih-
nen –


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er sagte: Die Gewerkschaften vernichten mehr Arbeitsplätze, als die Deutsche Bank je abgebaut hat!)


und der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft übri-
gens entscheidend zum deutschen Jobwunder beigetra-
gen. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir die
niedrigste Arbeitslosenquote aller großen Länder in Eu-
ropa und die niedrigste Jugendarbeitslosenquote über-
haupt haben. Das wollen wir im Gegensatz zu Ihnen
nicht wegwerfen.

Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Glück-
wunsch zum Geburtstag.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke sehr!)


Alles Gute! Aber gerade weil Ihr Geburtstag eigentlich
ein Tag der Freude für uns alle ist, ebenso wie der Ge-
burtstag des Kollegen Wadephul, muss ich Ihnen sagen:
Bei Ihnen habe ich mich gewundert, dass auch Sie heute
das dunkle Bild der drohenden Gefahr aus dem Osten
durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezeichnet haben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir sagen: Der deutsche Arbeitsmarkt muss darauf vorbereitet werden!)


Sie wissen doch so gut wie ich: Alle Untersuchungen ha-
ben gezeigt, dass die Länder, die ihre Arbeitsmärkte im
Gegensatz zu Deutschland schon geöffnet hatten, keine
Probleme hatten, dass dort kein Lohndumping entstan-
den ist,


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Anton Schaaf [SPD]: Die haben ja auch alle Mindestlöhne!)


sondern dass ihre Volkswirtschaften – im Gegenteil – so-
gar gewachsen sind. Das gilt auch für die Länder, die
keine gesetzlichen Mindestlöhne haben;


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Dänemark, Schweden, Norwegen – die haben doch alle einen Mindestlohn!)


denken Sie nur an die Länder in Skandinavien, zum Bei-
spiel an unseren nördlichen Nachbarn Dänemark.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Länder in Skandinavien haben einen quasigesetzlichen Mindestlohn!)


Nun zu den Mindestlöhnen. Sie verweisen immer auf
Großbritannien. Ich würde es mir nicht so leicht machen,
zu sagen: In den Ländern, die einen Mindestlohn haben,
ist alles gut. Wir sehen doch in Europa: Es funktioniert. –
Wenn ich mir die Situation in Frankreich und Spanien
anschaue, wo es sehr starre gesetzliche Mindestlöhne
gibt, dann kann ich nur sagen: Das wünsche ich mir
nicht. Eine dreimal bis fünfmal so hohe Jugendarbeitslo-
senquote, wie wir sie in Deutschland haben, wünsche ich
mir nicht.





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber nichts damit zu tun!)


Wir können uns gerne die Situation in Großbritannien
anschauen; Ihr Vorbild ist ja die Low Pay Commission.
Wenn man das tut, muss man sich aber die Situation in
Großbritannien insgesamt anschauen. Der Arbeitsmarkt
ist nämlich ein Gesamtkunstwerk. Wenn er kein Gesamt-
kunstwerk ist, dann besteht die Gefahr, dass es umfas-
sender Pfusch ist. Wir können gern über Großbritannien
reden. Dann reden wir aber bitte auch darüber, dass es
dort keinen Mindestlohn für unter 21-Jährige gibt, dann
reden wir auch über den britischen Kündigungsschutz
und über eine Commission, die zum Beispiel unabhän-
gig von politischer Einflussnahme Löhne festsetzen
kann.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das soll sie auch!)


Wenn Sie in Deutschland einen Mindestlohn von um-
gerechnet 6,97 Euro haben wollen, können wir darüber
reden. Aber genau das wollen Sie nicht, liebe Frau Kol-
legin Pothmer. In Großbritannien beträgt der Mindest-
lohn, umgerechnet in Euro, aktuell 6,97 Euro. Genau
diesen Betrag hat die unabhängige wissenschaftliche
Kommission festgelegt. Genau dies wollen Sie aber
nicht. Sie bringen folgendes Kunststück fertig: Sie sagen
auf der einen Seite: „Ja, wir wollen eine solche Kommis-
sion“, sagen aber auf der anderen Seite: „Wir legen poli-
tisch die Untergrenze fest, eine Grenze, die sie nicht
unterschreiten darf.“ Was wäre denn, wenn die Wissen-
schaftler herausfinden würden, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, dass der angemessene Min-
destlohn 7 Euro beträgt? Dürften sie das dann gar nicht
feststellen? Oder dürften sie das schon wissenschaftlich
feststellen, aber die Politik würde dann etwas anderes
machen? Indem Sie hier politischen Einfluss nehmen,
tun Sie genau das, was wir im Zusammenhang mit ge-
setzlichen Mindestlöhnen immer als Horrorszenario be-
zeichnen,


(Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


nämlich dass die Politik ein Lohndiktat ausspricht und
dann in der Politik ein Überbietungswettbewerb einsetzt
– ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfrage zu –, der
Arbeitsplätze gefährdet.


(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Dann sind wir schnell bei einem Mindestlohn von
8,50 Euro, den die SPD schon fordert.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709010600

Herr Kollege, möchten Sie die Frage von Frau

Hendricks zulassen?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709010700

Nein, vielen Dank.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aha! Der Junge hat Angst! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Nein, das lasse ich mir nicht unterstellen. Bitte stellen
Sie die Zwischenfrage.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709010800

Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das mit dem Antidis-

kriminierungsgesetz vereinbar ist.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säuglingsschutz!)


– Frau Hendricks, bitte.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1709010900

Herr Kollege Vogel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu

nehmen, dass diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, die schon früher das Recht auf Freizügigkeit, in
andere europäische Länder zu ziehen, hatten, zum Bei-
spiel aus Polen nach Großbritannien, Irland, Schweden
oder Norwegen, einem Land, das der Europäischen
Union gar nicht angehört – ich will sie einmal Wanderar-
beiter nennen –, in Länder gewandert sind, in denen es
einen Mindestlohn gibt? Ist Ihnen auch bekannt, dass der
von Ihnen gerade angesprochene Mindestlohn in Groß-
britannien von unter 7 Euro nur deswegen zurzeit unter
7 Euro liegt, weil das Pfund im Zuge der Wirtschafts-
und Finanzkrise im Verhältnis zum Euro deutlich verlo-
ren hat, dass der Mindestlohn vorher umgerechnet bei
knapp 9 Euro lag


(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)


und dass wegen einer Pfund-Schwäche die Mieten oder
das Brot in Großbritannien nicht teurer geworden sind,
sondern dass es sich nur um eine Währungsrelation han-
delt?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709011000

Liebe Frau Kollegin – erstens –, das ist mir bekannt.


(Zurufe von der SPD: Aha! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie das auch!)


Zweitens. Sie müssen dann aber auch über die Länder
reden, in denen es keinen Mindestlohn gibt und in die
die Menschen trotzdem eingewandert sind; ich habe
eben schon auf unseren nördlichen Nachbarn Dänemark
verwiesen. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, zu sagen,
Wanderung sei nur unschädlich, wenn es gesetzliche
Mindestlöhne gebe. Das ist schlicht nicht zutreffend.

Was das Beispiel Großbritannien angeht, so ist mein
Punkt nicht die Lohnhöhe. Darüber können wir gerne re-
den, aber – das sagte ich schon – dann müssen wir auch
über andere Konstellationen des Arbeitsmarkts reden.

Nein, mein Punkt ist, dass Großbritannien eine unab-
hängige Kommission eingesetzt hat. Genau das wollen
Sie nicht. Sie wollen eine unabhängige Kommission,
aber die Untergrenze soll die Politik festsetzen. Dann
kommt es zu einem Überbietungswettbewerb. 7,50 Euro





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

fordern die Grünen. Die SPD macht sich gar nicht mehr
die Mühe, Wissenschaftler in die Kommission einzula-
den; das ist in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgese-
hen. Großbritannien sehe ich insofern nicht mehr als Ihr
Vorbild. Sie sind dann schon bei 8,50 Euro. Nach langer
Überlegung sind Sie zu dem Schluss gekommen,
8,50 Euro könnte die richtige Untergrenze sein. Überra-
schenderweise ist es genau die Untergrenze, die auch der
DGB vorschlägt. Das ist gleichzeitig eine Reaktion auf
die Linken, die 10 Euro fordern. Hier setzt also ein
Überbietungswettbewerb in eine Richtung ein, die wir
nicht wollen können.

Deshalb geben wir dem Staat nicht das Lohndiktat in
die Hand, sondern lassen die Lohnfindung dort, wo sie
hingehört, nämlich bei Arbeitnehmern und Gewerk-
schaften.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da hat es der Junge der Alten aber ganz schön gezeigt!)


– Vielen Dank, Herr Kollege.

Auf ein letztes Argument möchte ich noch einmal
eingehen. Uns wird Folgendes immer wieder vorgewor-
fen: Indem Sie die Lohnfindung bei Arbeitnehmern und
Gewerkschaften lassen, lassen Sie in Deutschland Dum-
pinglöhne zu, was zur Folge hat, dass Menschen massen-
haft auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind.
Sie müssen aufstocken und dann Hartz IV beantragen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Was ja auch stimmt!)


– Das ärgert mich, weil es eben nicht stimmt, Frau Kol-
legin. Sie behaupten immer wieder, dass 1,2 Millionen
Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken
müssten, weil – die Fachkollegen wissen das; und des-
wegen ärgert es mich, dass Sie dieses Argument wider
besseres Wissen immer wieder bringen – die Lohnhöhe
so niedrig sei. Das ist einfach nicht zutreffend.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Doch!)


Drei Viertel der Aufstocker arbeiten Teilzeit.


(Bettina Hagedorn [SPD]: 400 000 sind in Vollzeit!)


Da ist nicht die Lohnhöhe, sondern die Arbeitszeit das
Problem. Bei dem anderen Viertel ist die Größe der Be-
darfsgemeinschaften entscheidend. In Deutschland er-
fährt man Unterstützung, auch wenn man eine große Fa-
milie hat.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die stocken weniger auf, wenn sie mehr Lohn bekommen! Das ist Mathematik!)


Das ist auch gut. Das ist eine sozialpolitische Errungen-
schaft, die wir alle verteidigen wollen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709011100

Herr Kollege!


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709011200

Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709011300

Das ist gut.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709011400

Man muss dann aber auch sagen: Wenn wir erreichen

wollen, dass ein Alleinverdiener den Lebensunterhalt
seiner vierköpfigen Familie mit seinem Lohn bestreiten
kann, ohne auf Hartz IV angewiesen zu sein, dann liegen
wir bei einem Äquivalenzlohn von 12 Euro. Das fordert
noch nicht einmal die Linkspartei.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709011500

Herr Kollege, jetzt wäre dann „gleich“.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709011600

Ich komme zum letzten Satz. – Die Wahrheit ist

doch: In Deutschland – das zeigen die Aufstockerzahlen
des IAB – müssen 36 000 Menschen aufgrund der Lohn-
höhe aufstocken und Hartz IV beziehen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 330 000 Vollzeitbeschäftigte!)


Wir können gerne darüber reden, dass das 36 000 Men-
schen zu viel sind. Diese Zahl ist aber weit entfernt von
1,2 Millionen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 330 000 Vollzeitbeschäftigte! Sie haben nicht einmal die richtigen Zahlen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709011700

Herr Kollege!


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1709011800

Das heißt somit nicht, dass wir dem Staat die Lohn-

findung in die Hand geben sollten. Vielmehr wollen wir
sie dort belassen, wo sie hingehört, nämlich bei den Ar-
beitgebern und Gewerkschaften.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie kennen nicht einmal die richtigen Zahlen! 330 000 sind es!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709011900

Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt für die Frak-

tion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709012000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Der gesetzliche Mindestlohn in Deutsch-
land ist eigentlich schon abgemachte Sache,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bei euch!)


wenn man hört, was drei Viertel der Menschen hier in
Deutschland sagen, und wenn man sich einig ist, dass ein
Mindestlohn Arbeitsplätze schafft, und wenn man regis-
triert, dass mittlerweile sogar Arbeitgeber und ihre Ge-
werkschaften für Mindestlöhne sind und dass es in mehr





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

als 20 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich
persönlich würde unheimlich gerne über die Höhe eines
Mindestlohns streiten und mich damit auseinanderset-
zen.

Ich habe die Debatten sehr genau verfolgt. Der Ge-
setzentwurf der Grünen enthält einen Mindestlohn von
mindestens 7,50 Euro. Der Gesetzentwurf der SPD ent-
hält einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Linke fordert
im Grunde 10 Euro. Heute Morgen habe ich Herrn
Lindner gehört. Er sprach von 11 Euro. Herr Kober
sprach von 13 Euro. Das nehmen wir gerne in unsere
Überlegungen auf und diskutieren über die Höhe des
Mindestlohns. Wir diskutieren allerdings nicht über das
Ob des Mindestlohns.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Ich sage es noch einmal: Über diese Frage würde ich un-
heimlich gerne mit Ihnen streiten – aber nicht darüber,
ob wir das einführen.

Die Oppositionsparteien in diesem Deutschen Bun-
destag stehen auf der Seite der Menschen auf der Straße.
Ich bitte Sie: Beachten Sie, wer in Deutschland die Ein-
führung des flächendeckenden Mindestlohns blockiert
und wer sie nicht blockiert.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gestern haben Die Linke, Grüne und SPD blockiert! – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man eine Volksabstimmung über die Einfüh-
rung eines Mindestlohns durchführen würde, dann
würde – da bin ich mir sicher – sich das Volk für einen
Mindestlohn aussprechen. Bei einer Abstimmung hier
im Deutschen Bundestag würde es allerdings nicht zur
Einführung eines Mindestlohns kommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Antwort auf die Frage, wer in diesem Land ei-
gentlich die Einführung flächendeckender Mindestlöhne
blockiert, ist ganz klar: Das sind FDP und Union. Ich
will gerne noch einmal drei Beispiele aufgreifen, die in
der Diskussion hier auch schon eine Rolle gespielt ha-
ben.

Erstes Beispiel. Es geht darum, was im Zusammen-
hang mit der Mindestlohn-Kommission passiert ist, die
2009 im Zuge der Reform des Mindestarbeitsbedingun-
gengesetz unter der Großen Koalition wiederbelebt
wurde. Deren Aufgabe ist es eigentlich, zu prüfen, ob in
Branchen, in denen es kaum Tarifverträge gibt, ein Min-
destlohn erforderlich ist. Das traurige Ergebnis nach ein-
einhalb Jahren ist gerade einmal eine Sitzung mit null
Ergebnissen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Weil keine Gewerkschaft etwas beantragt hat!)


Die Callcenterbranche wartet schon seit über einem Jahr
auf eine Reaktion. Die Mindestlohn-Kommission hat
nichts erreicht. Absoluter Stillstand!
Zweites Beispiel. Die Einführung von Branchenmin-
destlöhnen. Vor der Wahl wurde den Beschäftigten in der
Weiterbildungsbranche der Mindestlohn versprochen.
Kaum ist das Ministerium unter der Fuchtel der CDU,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unter dem Fuchtel!)


ist davon keine Rede mehr. Zwei Jahre nichts!


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wieso? Wir haben doch Mindestlöhne in Kraft gesetzt!)


– Da ist nichts passiert. Ich sage: Das ist eine Schlampe-
rei. Die Folgen davon tragen die Beschäftigten, Herr
Weiß.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Weiß, das müssten Sie eigentlich ganz genau
wissen: Wenn ein Betrieb so wie diese Bundesregierung
oder dieses Ministerium arbeiten würde, dann wäre er
schon fast in der Insolvenz, und wenn Beschäftigte sich
so verhalten würden, dann hätten sie schon längst eine
Kündigung oder Abmahnung bekommen.


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das sagt die Linkspartei! Hör mir auf!)


Ich hoffe, dass Ihnen die Menschen spätestens bei den
nächsten Landtagswahlen die Quittung für dieses skan-
dalöse Verhalten geben werden.

Im Gegensatz zu der CDU versucht die FDP gar nicht
erst, den Eindruck zu erwecken, dass sie Arbeitnehmer-
interessen irgendwie für wichtig hält. Die Partei der so-
genannten Liberalen besteht aus Mindestlohnblockierern
erster Klasse. Die Taschen der Bosse werden gefüllt, und
es wird dafür gesorgt, dass die Betriebe parallel dazu
trotzdem Niedriglöhne für ihre Beschäftigten zahlen
können. Es steckt nichts hinter Ihrer Aussage, Arbeit
müsse sich wieder für alle lohnen. Arbeit muss sich loh-
nen, aber nur für einige Ihrer Freunde.

Drittes Beispiel. Leiharbeitsbranche. Der einzige Be-
reich, für den wir keinen Mindestlohn brauchen, ist die
Leiharbeitsbranche. Hier brauchen wir gleiches Geld für
gleiche Arbeit – und das ab dem ersten Tag.


(Beifall bei der LINKEN)


Die einzige Ausnahme: Man muss hinschauen, was in
der sogenannten verleihfreien Zeit passiert.

Auch hier können Sie Ihre Interessen nicht wirklich
verbergen. Ihr Kollege Kolb hat Equal Pay nach drei
Monaten gefordert. Jetzt fordern Sie die gleiche Bezah-
lung nach neun Monaten. Neun Monate vereinbarte Aus-
beutung: Das ist nichts anderes als ein öffentlicher Knie-
fall vor der Leiharbeitsbranche.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der FDP und der CDU,
Sie sind die Parteien der Lobbyisten. Das Beispiel Mö-
venpick lässt im Zusammenhang mit der FDP tief bli-
cken.


(Pascal Kober [FDP]: Oh!)






Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt gibt es die historische Chance zur Einführung von
gesetzlichen Mindestlöhnen. Die Zahlen sind bekannt.
Kein Mensch glaubt mehr das Märchen von der Jobver-
nichtung durch Mindestlöhne, da das in 20 Ländern
wirklich einwandfrei funktioniert. Legen Sie endlich
Ihre Verbohrtheit ab und retten Sie die soziale Absiche-
rung der Beschäftigten in Deutschland.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011
ist Grund genug.


(Beifall bei der LINKEN)


Es kann nicht sein, dass Deutschland in 79 Tagen dazu
beiträgt, die Löhne in Europa weiter zu drücken. Hier
hilft nur ein gesetzlicher Mindestlohn.

Für die Linke ist klar: Branchenmindestlöhne alleine
reichen nicht aus, um alle Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer abzusichern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709012100

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709012200

Deswegen brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne,

durch die alle Menschen davor geschützt werden, in den
Niedriglohnbereich zu fallen. Nach unserer Auffassung
ist dafür eine Höhe von 10 Euro notwendig.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709012300

Frau Krellmann.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709012400

Letzter Satz. – Durch einen Mindestlohn von 10 Euro

wird den arbeitenden Menschen von heute auch eine ar-
mutsfeste Rente von morgen gesichert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709012500

Beate Müller-Gemmeke spricht jetzt für Bündnis 90/

Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Letztes Jahr hat sich der Wirtschafts-
weise Wolfgang Franz in der Frankfurter Rundschau
gegen Mindestlöhne ausgesprochen. Er hat darauf hinge-
wiesen, dass all diejenigen von der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit und der Öffnung der Arbeitsmärkte profitieren,
die preisgünstigere Produkte favorisieren. Verlierer seien
laut Franz die hiesigen Arbeitskräfte, die sich nicht an-
passen könnten oder wollten. Das war meiner Ansicht
nach eine unverantwortliche und ignorante Aussage,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])

und zwar insbesondere aus Sicht der 21 Prozent der Be-
schäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und des-
halb mit Existenzsorgen leben müssen. Für sie kann
solch eine Aussage nur wie blanker Hohn klingen.

Ich kann nur hoffen, dass diese Haltung und diese
Sicht der Dinge in den Regierungsfraktionen nicht mehr-
heitsfähig sind. Aber Reden reicht nicht; es muss auch
endlich gehandelt werden.

Die Beschäftigten, und zwar die in- und ausländi-
schen, erwarten von uns verantwortlichen Politikern,
dass wir im Zuge der Freizügigkeit für Gerechtigkeit,
angemessene Arbeitsbedingungen und faire Löhne sor-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Genau das bezwecken wir mit unserem Gesetzentwurf.
Neben dem gesetzlichen Mindestlohn, der nur eine Un-
tergrenze sein kann, fordern wir mehr branchenspezifi-
sche Mindestlöhne.

Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll endlich für
alle Branchen geöffnet werden. Es ist allseits bekannt,
dass die Tarifbindung durch die Tarifflucht der Betriebe
immer weiter abnimmt. Dem darf man nicht tatenlos zu-
schauen. Übernehmen die Betriebe nicht mehr die not-
wendige gesellschaftliche Verantwortung, dann muss die
Bundesregierung Verantwortung übernehmen und zu-
mindest auch mit Blick auf die Freizügigkeit branchen-
spezifische Mindestlöhne ermöglichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Wir wollen auch den Tarifausschuss im Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz abschaffen. Hier geht es um Min-
destlöhne, die von den zuständigen Tarifpartnern zum
Teil sehr hart verhandelt und ausgehandelt wurden. Zu-
künftig dürfen diese Mindestlöhne nicht mehr blockiert
werden.

Wir wollen den Entgeltbegriff verändern. Beschäf-
tigte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssen
endlich entsprechend der vertraglich festgelegten Ar-
beitszeit entlohnt und somit mit allen anderen Beschäf-
tigten gleichgestellt werden. Das verhindert auch Wett-
bewerbsverzerrungen und stärkt die Betriebe, die dieses
Schlupfloch nicht missbrauchen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf
die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe ich kein Verständnis
mehr für die ideologische Blockade von Schwarz-Gelb.
Ihre Blockade von Mindestlöhnen passt angesichts der
hohen Lohnunterschiede zwischen alten und neuen EU-
Staaten nicht mehr in die Zeit.

Die Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dür-
fen nicht dazu missbraucht werden, soziale Standards zu
verschlechtern. Sie dürfen auch nicht dazu führen, dass
tariftreue Arbeitgeber vom Markt verdrängt und immer
mehr Beschäftigte in den Niedriglohnbereich getrieben
werden. Öffnen Sie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
endlich für alle Branchen und machen Sie den Weg frei
für einen gesetzlichen Mindestlohn!





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709012600

Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709012700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Abermals diskutieren wir, diesmal auf
Initiative der Grünen und der SPD, über die Einführung
flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne in Deutsch-
land.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wir kommen auch noch mit einem Antrag!)


– Auch von der Linken erwarte ich einen solchen Antrag
in den nächsten Wochen. Das bringen Sie alle paar Wo-
chen vor.

Die Regierungskoalition ist nach wie vor der Auffas-
sung – darauf haben wir schon mehrmals hingewiesen –,
dass ein flächendeckender branchenübergreifender Min-
destlohn die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht verbes-
sert, sondern eher verschlechtert. Dadurch werden näm-
lich keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, meine Damen
und Herren der SPD und der Grünen. Es ist ein einfacher
Zusammenhang: Ist der festgesetzte Mindestlohn zu
hoch, dann vernichtet er Arbeitsplätze und Chancen für
arbeitswillige Arbeitslose mit allen negativen Wirkungen
für die Betroffenen und die Sozialsysteme. Ist er zu nied-
rig, dann entfaltet er keine Wirkung.

Von den Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen,
dass ein Überbietungswettbewerb der einzelnen Parteien
nicht nur in Wahlkampfzeiten einsetzen wird. Wie
schnell das passieren kann, haben wir in dieser Debatte
gemerkt. Vorhin hat Klaus Ernst von einem Mindestlohn
von 9,73 Euro in Luxemburg gesprochen. Herr Ernst,
Sie müssen mal Ihren Redenschreiber ins Gebet nehmen.
Vielleicht sollte er mal genauer nachschauen. Seit
1. Januar liegt der flächendeckende gesetzliche Mindest-
lohn in Luxemburg bei 10,17 Euro. Da sehen Sie, wie
schnell einem bei der Mindestlohnspirale schwindelig
werden kann.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sieht man, wie gut die Luxemburger sind!)


– Oder wie schlecht die Recherche der Linkspartei ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, unser zentrales Ziel muss
es sein, konsequent gegen unzumutbare Billiglöhne vor-
zugehen. Ab dem 1. Mai wird sich der deutsche Arbeits-
markt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus
Mittel- und Osteuropa öffnen. Wie von den Vorrednern
bereits ausgeführt, droht insbesondere in der Branche
der Zeitarbeit ein Import ausländischer Billigtarifver-
träge nach Deutschland. Das ist richtig, da werden wir
aufpassen müssen.

Stundensätze von 3 bis 4 Euro würden die Lohnspi-
rale deutlich nach unten drücken. Gerade die Situation
für Geringverdiener würde dadurch erheblich erschwert.
Deshalb streben wir eine Lohnuntergrenze in der Zeitar-
beit an. Meine Damen und Herren, ich bin zuversicht-
lich, dass bald im Vermittlungsausschuss doch noch ein
Kompromiss für die Zeitarbeit gefunden werden wird.

Ich hatte Mitte Dezember von diesem Pult aus an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD appelliert, noch mal
mit ihren Ministerpräsidenten darüber zu reden, ob man
dem Hartz-IV-Bildungspaket im Interesse der Betroffe-
nen, der Familien, der Kinder nicht doch zustimmen
könnte. Ich appelliere jetzt abermals von diesem Pult aus
an Sie. Ich weiß, Frau Kollegin Lösekrug-Möller spricht
nach mir; sie ist eine sehr weise Frau aus der Fraktion
der SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Anton Schaaf [SPD]: Stimmt!)


Vielleicht können Sie diesbezüglich im Interesse der Be-
troffenen noch mal ernsthaft nachdenken. Es geht hier
nicht um Machtkämpfe. Das verstehen die Mitbürgerin-
nen und Mitbürger weder an den Fernsehgeräten noch
hier auf den Tribünen. Es geht darum, eine Lösung für
bedürftige, für arme Kinder zu finden, es geht auch da-
rum, eine Lösung für die Kommunalfinanzen zu finden.
Auch das ist etwas, bei dem ich gespannt bin,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es geht um den Regelsatz! Es geht um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts!)


ob die Oberbürgermeister, die von der SPD gestellt wer-
den, ihre Ministerpräsidenten vielleicht noch einmal ins
Gebet nehmen und die dann sagen: Jawohl, wir bekom-
men im SGB-XII-Bereich eine merkliche Entlastung in
Milliardenhöhe, ohne dass dies im Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts explizit erwähnt worden ist. Auch das
ist klar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb mein Appell: Denken Sie an die Betroffenen,
denken Sie nicht an die nächsten Landtagswahlen, liebe
Genossinnen und Genossen von der SPD!


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir denken an das Verfassungsgericht! Es gab keinen verfassungskonformen Vorschlag von der Regierung! Keinen! – Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Ernst will eine Frage an mich richten. Ich würde
sie erlauben, Frau Präsidentin.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709012800

Bitte schön. Herrn Ernst wollen wir nicht stoppen.






(A) (C)



(D)(B)


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709012900

Den kann man nicht stoppen, glaube ich, so einen en-

gagierten Gewerkschafter.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709013000

Herr Lehrieder, Sie haben gerade dargestellt, dass es

nun an der SPD und an den Grünen im Vermittlungsaus-
schuss liegen würde, wenn die drei Branchen nicht ins
Entsendegesetz aufgenommen würden. Sie haben ge-
sagt, im Interesse der Kinder müsste man das tun. Wür-
den Sie mir zustimmen, dass die gegenwärtig regierende
Bundesregierung das auch ohne die SPD beschließen
kann, dass sie, wenn es ihr tatsächlich um die Kinder
ginge, die SPD dafür überhaupt nicht brauchte? Sie
könnte das als Regierung einfach machen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wir haben es doch beschlossen!)


Sie könnte doch, ohne dass sie die SPD jetzt in irgendei-
ner Form um Zustimmung bitten muss, im Interesse der
Kinder und der Betroffenen für diese drei Branchen das
Entsendegesetz zur Anwendung bringen, oder ist das
falsch, Herr Lehrieder?


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709013100

Lieber Kollege Ernst, es geht hier nicht um die Auf-

nahme irgendwelcher Branchen ins Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach so!)


Das ist Verhandlungsmasse, die die SPD verständlicher-
weise in den Vermittlungsausschuss mit hineingepackt
hat. Herr Ernst, Sie wissen, dass wir im Bundesrat
34 Stimmen haben. Für eine Mehrheit brauchen wir
35 Stimmen. Ganz knapp reicht es nicht. Das heißt, für
ein positives Vermittlungsergebnis wären wir der SPD
für eine geneigte Mitwirkung sehr dankbar.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber das können Sie doch auch ohne die machen!)


– Selbstverständlich können wir das selber machen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum machen Sie es denn nicht?)


Wir werden sehen, inwieweit wir ab 1. Mai im Be-
reich der Leiharbeit entsprechende Verwerfungen haben
werden oder nicht, und wir werden schauen, was tatsäch-
lich an Zuwanderung kommt. Wir haben genau dieselbe
Diskussion wegen der demografischen Entwicklung.
Wir werden in manchen Branchen über die Zuwande-
rung nach Deutschland froh sein. Wir müssen erst mal
abwarten – das war ja genau die Diskussion, die die Vor-
redner schon angesprochen haben –, wie viele Menschen
aus den neuen Ländern zu uns kommen. Man hatte ja vor
zehn Jahren 200 000 Menschen in der IT-Branche erwar-
tet – bleiben Sie bitte stehen, Herr Ernst –, später erwar-
tete man 70 000.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage war, ob Sie dies ohne die SPD können!)

Die Erlaubnis wurde für 20 000 ausgestellt. Tatsächlich
sind in den Jahren 2001/2002 gerade mal 2 500 bis 3 200
IT-Spezialisten nach Deutschland gekommen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber wir reden über die Kinder! Für die Kinder geht es doch auch ohne die SPD!)


– Ich erkläre es Ihnen liebend gern noch einmal, Herr
Ernst. Sie sollten mal in den Ausschuss kommen, Sie
sollten sich als Mitglied für den Ausschuss benennen
lassen. Dann kriegen Sie die Diskussion live mit. Für das
Bildungspaket für die Kinder brauchen wir die Länder.
Ich kann es Ihnen gern noch einmal erklären, ich kann es
Ihnen nachher auch schriftlich geben, falls Sie dies wün-
schen. Aber wir brauchen für das Bedarfspaket für die
Kinder schlicht und ergreifend die Mitwirkung der Bun-
desländer.

Daran scheitert es. Das ist auch der Grund, warum wir
im Vermittlungsausschuss in den letzten sechs, sieben
Wochen zäh verhandelt haben und bedauerlicherweise
noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Die drei
Branchen sind Nebenkriegsschauplätze. Das ist ein Ver-
mittlungsausschuss, und das wissen Sie so gut wie ich.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber dort könnten Sie es bestimmt beschließen?)


– Wir werden es beobachten und schauen, was dann
kommt. Okay? Sie dürfen sich jetzt setzen, Herr Ernst. –
Noch eines, Herr Ernst: Es tut weh, gerade von einem
Gewerkschafter immer wieder diese Rufe nach einem
Gesetz für Mindestlohn zu hören. Immer wieder diese
Bevormundung.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dummes Argument! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Sie haben offensichtlich zu wenig Respekt vor Ihrer ei-
genen Courage.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo waren Sie?)


– Ich bin jetzt auf Seite 4, aber ich habe noch 14 Seiten.

Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, wie
Sie ihn fordern, ist nicht zielführend. In der Dienstagsaus-
gabe des Handelsblattes – hierauf hat die Kollegin
Müller-Gemmeke von den Grünen zutreffend hingewie-
sen – legt der Wirtschaftsweise Professor Wolfgang Franz
dar, warum ein flächendeckender gesetzlicher Mindest-
lohn volkswirtschaftlich betrachtet falsch ist. Er führt aus,
dass der Druck auf Löhne und Arbeitsplätze nicht nur ent-
steht, wenn beispielsweise ein polnischer Arbeiter zu
niedrigen Arbeitskosten ein preiswertes Produkt auf deut-
schem Boden herstellt, sondern auch, wenn dasselbe Pro-
dukt in Polen produziert wird und dann nach Deutschland
importiert wird. Letzteres gehört zu unserem Alltag.

Franz argumentiert, dass die Wohlfahrt der Konsu-
menten dann am höchsten ist, wenn keine Reglementie-
rungen getroffen werden und im Übrigen uneinge-
schränkte Mobilität ermöglicht wird. Selbst wenn Franz
in der Ablehnung des flächendeckenden Mindestlohnes
zuzustimmen ist, so gehört es dennoch zum Grundver-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

ständnis unseres Sozialstaats, Benachteiligungen auszu-
gleichen.

Es ist notwendig, Ausnahmen zu machen und in ein-
zelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allge-
meinverbindlich zu erklären, wie beispielsweise in der
Pflegebranche, im Bauhauptgewerbe oder im Bereich
der Gebäudereinigung. Es ist richtig, was der Kollege
Schreiner vorhin ausgeführt hat: Wir müssen aufpassen,
welche Branchen nach der Öffnung der Grenzen am
1. Mai dieses Jahres verstärkt nach Deutschland kom-
men werden. Reichen die bisherigen Regelungen aus,
beispielsweise im Bauhauptgewerbe, in der Pflegebran-
che, wo wir bereits branchenspezifische Mindestlöhne
einführen konnten? Müssen wir bei Verwerfungen unter
Umständen weitere Branchen einbeziehen? Hier sind wir
gesprächsoffen. Wir respektieren – anders als die Lin-
ken – die gewerkschaftliche Tarifautonomie und das
Selbstbestimmungsrecht der Gewerkschaften. Sie sind für
die Lohnfindung zuständig, nicht der Bundestag, nicht die
Politiker. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter
können das allemal besser. Herr Ernst, ich erwarte, dass
Sie Ihrer Verantwortung als Gewerkschafter auch in Zu-
kunft gerecht werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709013200

Würden Sie die Zwischenfrage von Frau Krellmann

zulassen?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709013300

Ja, ich warte darauf, dass Sie mich fragen.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709013400

Vielen Dank. – Ich frage Sie als Gewerkschafterin.

Mir ist die Beschlusslage bekannt. Was glauben Sie ei-
gentlich, warum der DGB beschlossen hat, dass es einen
Mindestlohn von 8,50 Euro geben soll? Das geschieht
doch nur deswegen, weil Gewerkschaften hinter einer
Mindestlohnforderung stehen. Das ist nicht nur Thema
der Grünen, der SPD und der Linken, das ist mittlerweile
ein Thema aller Gewerkschaften. Haben Sie das regis-
triert?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709013500

Frau Krellmann, die Gewerkschaften hinken sogar

den Mindestlohnforderungen der Linkspartei hinterher.
Sie sind schon bei 10 Euro; damit haben Sie die Gewerk-
schaften um 1,50 Euro überholt.


(Zurufe von den LINKEN)


– Das stimmt doch, oder? Stimmt es nicht? 10 Euro ist
Ihr aktueller Tarif; Herr Ernst bestätigt es. Die Linke ist
bei 10 Euro, die Gewerkschaften sind bei 8,50 Euro, die
SPD ist auch bei 8,50 Euro. Daran sehen Sie, dass die
Tariffindung in politischer Hand nur suboptimal ist. Bes-
ser ist es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Aufgabe
übernehmen.

Frau Krellmann, auch von Vorrednern wurde schon
darauf hingewiesen, dass außer dem dbb bisher keine
Gewerkschaft die Lohnfindungskommission angerufen
hat und über diese Kommission in den letzten zwei Jah-
ren etwaige Verwerfungen hat feststellen lassen. Herr
Kollege Weiß hat darauf bereits völlig zutreffend hinge-
wiesen. An dieser Stelle könnten Gewerkschaften, wenn
sie tatsächlich der Auffassung sind, dass in manchen
Branchen Verwerfungen vorhanden sind, etwas für die
betroffenen Arbeitnehmer ins Feld führen. Das haben sie
aber nicht gemacht. Man muss das Mitwirken der Ge-
werkschaften abwarten; denn sie sind nach meinem Ver-
ständnis von Vertragsfreiheit und Tarifautonomie alle-
mal besser berufen, solche Konditionen – seien es
Arbeitszeiten, Löhne, oder Urlaubsansprüche – auszu-
handeln als wir Politiker. Hier müssen wir bescheiden
sein und nicht so tun, als wüssten wir selber alles besser.

Ziel ist es, allen Menschen in unserem Land die Mög-
lichkeit zu geben, durch Arbeit – dabei ist die Qualifika-
tion egal; auch darauf müssen wir aufpassen – genug
Geld zu verdienen, um die Grundbedürfnisse zu befrie-
digen und am kulturellen und gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen. Jedem Menschen in unserem Land wird
ein Existenzminimum gewährt, den Geringverdienern,
denen, die Arbeit suchen, und denen, die keiner Arbeit
mehr nachgehen können. Was soll ein Mindestlohn von
7,50 Euro oder 8,50 Euro bringen? Zunächst einmal hat
Deutschland schon jetzt eine Grundsicherung für
Hartz-IV-Empfänger durch einen impliziten Mindest-
lohn. Betrachtet man beispielsweise die Hartz-IV-Sätze
für eine vierköpfige Familie – es wurde schon darauf hin-
gewiesen, aber man kann es gar nicht oft genug sagen –, so
käme man auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709013600

Herr Lehrieder, ich hätte noch eine Zwischenfrage der

Kollegin Alpers anzubieten.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709013700

Sehr gern, es ist noch früh am Tag.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709013800

Bitte schön.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709013900

Lieber Herr Kollege Lehrieder, ich muss doch noch

einmal nachfassen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709014000

Das dürfen Sie.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709014100

Sie sprachen von der Tarifautonomie, auf der die Ge-

werkschaften bestehen würden. Erstens habe ich folgende
Nachfrage: Sie sagten, es sei nur der DGB, der einen ge-
setzlichen Mindestlohn fordere. Der DGB ist – vielleicht
ist das noch nicht zu Ihrer Kenntnis gekommen – der
Dachverband aller Einzelgewerkschaften. Deshalb hätte
ich gerne, dass Sie mir das Wort „nur“ erklären. Zweitens
sprachen wir nicht über die Höhe des Mindestlohns, son-
dern wir haben uns prinzipiell für dessen Einführung aus-
gesprochen. Ich möchte wissen: Ist Ihnen bekannt, dass
auch die meisten Einzelgewerkschaften dies fordern,
nicht nur der DGB? Der Gewerkschaftsbund sagt ebenso





Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)

wie wir, dass wir zur Mindestabsicherung einen Mindest-
lohn brauchen. Die Tarifautonomie wird dadurch nicht
beeinträchtigt. Vielmehr können die einzelnen Branchen
die jeweiligen Tarife aushandeln.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709014200

Liebe Frau Kollegin, vielleicht habe ich mich etwas

missverständlich ausgedrückt, vielleicht haben Sie auch
die Buchstaben nicht verstanden, die ich gesagt habe.
Nur der dbb, der Deutsche Beamtenbund, hat den Antrag
auf Feststellung von Verwerfung gestellt. Dass natürlich
eine Vielzahl von Gewerkschaften, darunter auch Verdi,
Mindestlöhne fordert, ist mir nicht unbekannt. Das ist
Punkt eins.

Punkt zwei: Ihre Forderung nach einem Mindestlohn
von 10 Euro ist nicht gänzlich neu. Sie brauchen sich
nicht zu verstecken und brauchen sich auch nicht dafür
zu schämen. Diese Forderung ist bekannt. Wenn Sie sa-
gen, Sie forderten nur einen Mindestlohn und ließen die
Höhe offen – vielleicht tun Sie das in einem Antrag in ei-
nem Vierteljahr –, dann entgegne ich Ihnen: In Ihren Pa-
pieren steht ein Mindestlohn von 10 Euro. Punkt, aus.
Sie brauchen sich deswegen nicht zu verstecken.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht fordere! Das ist schon klar! – Gegenruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ich verstehe kein Wort hier hinten!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709014300

Die Zwischenfrage war gestellt. Sie ist jetzt beant-

wortet.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709014400

Ich möchte noch etwas zum dritten Teil der Frage sa-

gen. Wie lautete der dritte Teil der Frage, Frau Kollegin?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709014500

Ich glaube, dass uns das jetzt nicht viel weiter führt.

Möchten Sie den dritten Teil der Frage wiederholen? –
Dann dürfen Sie das jetzt tun.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709014600

Sind wir uns einig, dass alle Gewerkschaften ein-

schließlich des Dachverbandes einen gesetzlichen Min-
destlohn fordern? Der Unterschied liegt nur in der Höhe.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1709014700

Danke. Ich weiß Bescheid. – Sie sagen, wenn man

8,50 Euro als Basis nimmt, so ist es einem unbenommen,
darüber hinaus noch einen höheren Lohn auszuhandeln.
Dabei besteht aber das Risiko, dass die Löhne in den bis
jetzt bestehenden Tarifverträgen, die etwas höher liegen,
mit der Begründung gesenkt werden, man brauche nicht
mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Es ist nicht auto-
matisch so, dass der Mindestlohn eine Verbesserung ist,
sondern er kann auch zu einer Verschlechterung der Be-
zahlung führen. Das ist also, mit Verlaub, Frau Kollegin,
kein Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich hatte darauf hingewiesen, dass eine vierköpfige
Hartz-IV-Familie auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro
käme. Das ist immer noch deutlich höher als der höchste
europäische flächendeckende Mindestlohn, der in Lu-
xemburg bei 10,16 Euro – ich wiederhole es gerne –
liegt. Das ist auch höher als der von der SPD und den
Grünen geforderte Betrag von 8,50 Euro bzw. 7,50 Euro.
Das Argument, die sogenannten Aufstocker, also die so-
zialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zusätzlich
Hartz IV erhalten, gäbe es bei einem Mindestlohn nicht,
ist ebenfalls falsch und wird durch Wiederholung auch
nicht wahrer. Von den Aufstockern arbeiten rund 75 Pro-
zent in Teilzeitarbeit. Ich glaube, es war der Kollege
Vogel oder Pascal Kober, der darauf hingewiesen hat. Je-
der weiß, dass man von Teilzeitarbeit alleine nicht leben
kann. Das restliche Viertel hat im Prinzip auskömmliche
Löhne. Wenn die Löhne nicht reichen, so liegt das meist
daran, dass nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch
seine Familie zu ernähren ist. Auch das ist ausgeführt
worden. Hartz IV als ergänzende Sozialleistung unter-
liegt dem Sozialprinzip. Das heißt, es wird nicht nach
der Arbeitsleistung des Erwerbstätigen gefördert, son-
dern der Bedarf der Familie wird gedeckt. Wenn es nicht
reicht, so liegt dies meist daran, dass eine Familie zu er-
nähren ist, und nicht an der Höhe der Stundenlöhne. Nur
circa 35 000 Personen – Sie, Herr Ernst, haben die Zahl
in Zweifel gezogen – haben bei Vollzeit einen so gerin-
gen Lohn, dass sie ausschließlich davon nicht leben kön-
nen. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind die
Löhne für einfache Arbeit oft so weit angehoben wor-
den, bis diese für viele Unternehmen schlicht zu teuer
wurden. Oft bleiben dann die niedrigsten Tarifgruppen
unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jah-
ren in diesen Branchen Arbeitsplätze zum Teil gestri-
chen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung
neuer Stellen ganz zu schweigen. Das von meinen Vor-
rednern ebenfalls bereits benannte Alternativangebot der
Schwarzarbeit will ich gar nicht noch einmal bemühen.
Ich gehe davon aus, dass sich jeder in Deutschland rechts-
treu verhält.

Dasselbe würde für einen gesetzlichen Mindestlohn
auf hohem Niveau gelten: Er würde zwar ausländische
Billigarbeitskräfte fernhalten, aber bei uns auch Be-
schäftigungschancen für Niedrigqualifzierte verringern.

Den Rest meines Manuskripts will ich Ihnen ersparen.
Ich darf aber die Gelegenheit nutzen, Frau Kollegin
Pothmer, Herr Kollege Wadephul, auch von dieser Stelle
aus zu Ihrem heutigen Geburtstag zu gratulieren. Ich
wünsche ihnen weiterhin eine freudige Debatte und ei-
nen schönen Tag.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freudig?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709014800

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Lösekrug-

Möller das Wort.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1709014900

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Wir haben gleich einen Film in Überlänge hinter uns.
Zurzeit läuft hier die Berlinale. Mein Eindruck ist, dass
Teile des Hauses einen Film aufgeführt haben, der leider
nicht nominiert wurde. Das finde ich sehr bedauerlich,
aber ich verstehe es. Vielleicht hätten Sie diese Brillen
gebraucht, die es möglich machen, 3D zu sehen. Das ist
ja der Renner auf der Berlinale.


(Beifall bei der SPD)


Welcher Effekt ist das? Man sieht auf einmal räumlich
und plastisch, was ist. Ich denke, diese Hilfe wäre nötig
gewesen.

Wir reden heute über zwei Gesetzentwürfe, von denen
– dessen bin ich mir sicher – die meisten Menschen, die
uns, wo auch immer, zuhören oder zuschauen, sagen:
Dafür ist es allerhöchste Zeit. Auch will ich sagen: Wir
haben auch Prominente auf unserer Seite.

Mindestlöhne

– sagt da jemand –

sind weder ein Allheilmittel noch eine Katastrophe,
sondern einfach ein Instrument. Ich bin

– sagt diese Person –

im Grundsatz der Überzeugung: Eine Person, die
Vollzeit arbeitet, muss in der Lage sein, den Le-
bensunterhalt für sich selbst zu bestreiten.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt klatschen doch bitte auf alle Fälle die Kollegin-
nen und Kollegen von CDU und CSU. Denn es war Ihre
Ministerin von der Leyen, die dies am 21. Februar 2010,
also vor einem Jahr, in einem Gespräch im Tagesspiegel
genau so formuliert hat. Recht hat die Ministerin.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weil sie nicht da ist, sage ich: Schöne Grüße. Was vor ei-
nem Jahr richtig war, ist auch heute noch zielführend.

Worüber diskutieren wir hier? Wir diskutieren darüber,
wie wir dieses erstrebenswerte Ziel erreichen können.
Wir haben heute viele Redebeiträge gehört, die eigentlich
eines bewiesen haben: Mit den kleinen Instrumenten, die
wir derzeit haben, kommen wir der Lösung nicht näher.
Es reicht nicht. Wir haben es erlebt, Branche für Branche.
Ich nehme eine kleine Branche, nämlich die der berufli-
chen Weiterbildung, heraus. An ihr wird deutlich, warum
das scheitert: weil im Prinzip gar nicht gewollt ist, dass es
funktioniert. Ich finde, das muss man dann auch so sagen.
Es ist offenkundig nicht gewollt.


(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Das stimmt doch gar nicht Frau Lösekrug-Möller!)


Ich halte mich aus dem Streit über die Ergebnisse des
Vermittlungsausschusses heraus. Mir geht es so wie vie-
len hier im Plenarsaal. Wir sind nicht dabei gewesen; wir
sind informiert worden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sind offensichtlich falsch informiert worden! – Pascal Kober [FDP]: Von Herrn Heil?)


Jede Seite sagt, sie habe gute Gründe für ihre Position
gehabt. Das respektiere ich, Herr Kober. Aber was ist
jetzt das Ergebnis?


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Dass die SPD wegen 6 Euro nicht zustimmen kann!)


Ergebnis ist, dass Sie heute darum bitten, wir sollten Ja
sagen zu einem Kompromiss, von dem die SPD sagt, er
führe überhaupt nicht in die richtige Richtung. Wir wol-
len Bildungspakete und Infrastruktur und keine kleinen
Päckchen, die in die Familien getragen werden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir aufgebessert!)


Wir wollen – Herr Kollege Weiß, das sind wir allen Ar-
beitnehmern schuldig – in Sachen Leiharbeit eine Rege-
lung, die die Menschen, die in Leiharbeit sind, nicht ver-
albert, sondern mit ihren Anliegen wirklich ernst nimmt.


(Beifall bei der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dann hätten Sie doch gestern zugestimmt! Stimmen Sie morgen zu!)


Wenn man das, was auf dem Tisch liegt, betrachtet,
dann stellt man fest, dass wir davon Lichtjahre entfernt
sind. Deshalb sage ich: Es muss Schluss sein mit dem
Anscheinerwecken von Emsigkeit. Die Menschen haben
es nicht verdient, dass man so tut, als würde man ihnen
helfen, und sie vertröstet und sozusagen mit kleinen
Schritten in eine vermeintlich bessere Zukunft führt. Uns
ist es doch hier im Haus gelungen, die finanziell und
wirtschaftlich schwierige Krise durch einen starken Im-
puls so zu gestalten, dass Unternehmen gut aus der Krise
herauskamen. Jetzt wird es Zeit, dass wir auch den Ar-
beitnehmern und Arbeitnehmerinnen helfen, und helfen
können wir ihnen mit einem gesetzlichen Mindestlohn.
Das muss die rote Linie sein, die in Deutschland nicht
überschritten werden darf.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben heute mehr als zehn Argumente für die Ein-
führung des Mindestlohns gehört. Sie zieren sich wegen
der unterschiedlichen Höhe von Mindestlöhnen – bei den
Grünen ist sie etwas höher als bei uns, den Sozialdemo-
kraten – und behaupten: Das kann man einer Kommission
nicht zumuten. Ich habe genau zugehört und stelle fest:
Das ist Ihr einziges Kriterium, warum Ihrer Meinung
nach die Gesetzentwürfe nicht in Ordnung sind. Dann er-
warte ich aber von Ihnen, dass Sie einen Gesetzentwurf
vorlegen, der die Einrichtung einer Kommission vorsieht,
aber nicht vorgibt, wo sie anfängt. Einen solchen Gesetz-
entwurf kenne ich aber nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir auf die Deutschlandkarte blicken, dann stel-
len wir fest: Deutschland ist ein Niedriglohnland. Wir





Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)

können sagen: Was wir an bestehenden Möglichkeiten
haben, funktioniert so nicht. Schauen wir auf Baden-
Württemberg, dann stellen wir fest: Die können zwar kein
Hochdeutsch, aber dafür können sie Niedriglohn. Dort
stockt jede dritte Alleinerziehende auf.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das erzählen Sie einmal Thüringen! – Pascal Kober [FDP]: 14 Prozent weniger Arbeitslosigkeit als im Bundesdurchschnitt!)


– Ja, aber hören Sie mir doch erst einmal zu. Sie können
die Zahlen aus Baden-Württemberg doch nicht sozusa-
gen durch Einrede eliminieren. In Sachsen, Herr Weiß,
ist jeder Vierte Geringverdiener.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die haben Arbeitslosenzahlen fast so niedrig wie in Bayern!)


In NRW – damit Sie mir keine parteipolitische Einseitig-
keit vorwerfen – sind 23 Prozent der Aufstocker Vollzeit
beschäftigt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und haben Familie!)


Das muss man sich vor Augen führen: Jeder Vierte ra-
ckert sich ab und schuftet, und am Ende des Monats
muss er trotzdem Transferleistungen in Anspruch neh-
men. Das finden wir nicht in Ordnung. Das hat mit der
Würde von Arbeit nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD)


Ich bin meinem Kollegen Ottmar Schreiner sehr
dankbar; denn er hat auf den Punkt gebracht, worum es
den Sozialdemokraten geht. Es geht darum, dass wir die
Würde ernst nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will allen Christen sagen: Das ist ein biblisches Maß.
Lesen Sie bei Matthäus nach, ich glaube, es steht in Ka-
pitel 20, 1-16: Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.
Das kann eine gute Hilfestellung sein, wenn man nicht
mehr weiter weiß, wie man sich politisch orientieren soll.

Ich finde, Sie könnten Größe zeigen und sagen: Es
liegen zwei Gesetzentwürfe vor. Vielleicht finden wir sie
nicht in jedem Punkt richtig, aber die Richtung stimmt.
Paul, ich würde mich deshalb freuen, wenn du dich der
Sache annehmen würdest.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709015000

Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1709015100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als

Frankfurter Abgeordneter darf man bisweilen an den
großen Sozialethiker und Jesuitenpater Oswald von
Nell-Breuning erinnern,


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


der zu vielen Themen, die unsere Arbeitsgebiete betref-
fen, kluge Dinge gesagt hat, zum Beispiel zum Thema
Lohnfindung in seinem 1960 erschienenen Buch Kapita-
lismus und gerechter Lohn. Dort heißt es, dass die
menschliche Arbeitskraft keine Ware ist. Es sei historisch
die große himmelschreiende Sünde einiger nationalöko-
nomischer Theoretiker, die Lohnbildung allein den Markt-
gesetzen unterwerfen zu wollen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das einmal der FDP!)


Nun haben das die klugen Stammväter des Liberalis-
mus, allen voran Adam Smith, lieber Herr Heil, nie be-
hauptet. Der Lohn, so Smith, müsse hinreichend sein, ei-
nem Menschen Unterhalt zu verschaffen und ihn in die
Lage zu versetzen, seine Familie zu ernähren. Goldene
Zeiten, in denen die Wirtschaftswissenschaft noch Teil
der Moralphilosophie war!

Unsere heutige Debatte dreht sich nicht um eine Dif-
ferenz im Ziel, sondern um den richtigen Weg dorthin.
Keiner von uns will die Lohnbildung allein dem Markt
überlassen. Keiner von uns in der Koalition befürwortet
einen Paläoliberalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn wir
etwa im Koalitionsvertrag davon sprechen, das Verbot
sittenwidriger Löhne gesetzlich festschreiben zu wollen,
dann stellen wir gleichsam fest: Es gibt absolute Unter-
grenzen. – Auf die Sittenwidrigkeit will ich später zu-
rückkommen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709015200

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Heil zu-

lassen?


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1709015300

Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen dür-

fen, und ich bin mir sicher, dass das Informationsbedürf-
nis des Kollegen Heil auf diese Art und Weise nachhaltig
gestillt werden wird.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schauen wir mal!)


Über viele Jahre war die Lohnfindung das Geschäft
der Tarifpartner, ohne dass das hinterfragt worden ist.
Das ist problematisch geworden – aus vielerlei Gründen.
Wir haben in den vergangenen Jahren Instrumentarien
entwickelt, damit umzugehen: die branchenbezogenen
Mindestlöhne, das Entsendegesetz, das Mindestarbeits-
bedingungengesetz und vieles mehr. Das war aus unserer
Sicht richtig, weil es die Hauptverantwortung bei den
Tarifpartnern beließ und erst dann, nämlich subsidiär,
staatliches Handeln ins Spiel gebracht wurde.

Nun sind auch und gerade im christlich-sozialen Be-
reich durchaus weiter gehende Forderungen erhoben
worden,


(Mechthild Rawert [SPD]: Genau!)






Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

die von einer gewissen Ungeduld zeugen. So sprechen
sich sowohl die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung
als auch das Kolpingwerk für gesetzliche Mindestlöhne
aus.


(Mechthild Rawert [SPD]: Recht haben sie! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!)


Auch das gehört zum Gesamtbild der Lage, die wir heute
diskutieren.

Ich glaube aber nicht, dass es nur einen Weg gibt, zu
einem gerechten Lohn zu kommen; mehr noch: Ich halte
vieles von dem, was in den vorliegenden Gesetzentwür-
fen formuliert wird und auch von KAB und Kolping-
werk vorgeschlagen wird, auch und gerade aus christ-
lich-sozialer Sicht für falsch.

Wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn nach-
denkt – ich will dieses Hohe Haus durchaus einmal als
Ort des Nachdenkens und nicht nur des konfrontativen
Debattierens nutzen –, dann darf man das Prinzip der
Subsidiarität nicht aus dem Blick verlieren. Es müsste
am Anfang aller Überlegungen zum gesetzlichen Min-
destlohn stehen.

Deswegen müsste aus christlich-sozialer Sicht ein ge-
setzlicher Mindestlohn die Möglichkeit einer tariflichen
Öffnungsklausel enthalten. Tarifautonomie geht vor Ge-
setz, aber die Tarifautonomie dürfte nicht alles; denn
eine gesetzliche Mindestlohngrenze erst gäbe der Mög-
lichkeit Gestalt, eine einheitliche Höhe für die Sitten-
widrigkeit der Löhne festzusetzen. Anderenfalls bliebe
die Feststellung der Sittenwidrigkeit reines Richterrecht,
abhängig von der Region, der Branche und vielem ande-
ren. Umgekehrt: Wer eine solche Sittenwidrigkeit ein-
deutig festlegen wollte, bräuchte eine Bezugsgröße, und
die lieferte nur ein Mindestlohn; er wäre eine normative
Bezugsgröße für die Sittenwidrigkeit von Löhnen.

Ich bin immer wieder überrascht von der Beliebigkeit,
mit der über die Höhe eines Mindestlohns diskutiert
wird. Ein wenig ins Blaue hinein wird da geschätzt und
gewünscht – genauso wie bei den Hartz-IV-Regelsätzen.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: War das jetzt Selbstkritik?)


Für mich könnte es aus christlich-sozialer Perspektive
nur eine Erwägung geben, die die Höhe eines Mindest-
lohns definiert, und die wäre: Wer sein ganzes Berufsle-
ben lang rechnerisch nur den Mindestlohn bekommen
hat, muss am Ende eine Rentenanwartschaft verdient ha-
ben, die über der Grundsicherung liegt.

Ein solches Abstandsgebot ist durch den Wert der Ar-
beit selbst geboten. Erst aus diesem Abstandsgebot und
aus seiner Berechnung heraus ließe sich über die Höhe ei-
nes Mindestlohns reden. Mit anderen Worten: Die Höhe
eines Mindestlohns müsste sich nach der Möglichkeit be-
rechnen, eine Rentenanwartschaft über der Grundsiche-
rung zu erwerben. Nach allem, was wir bisher wissen: Mit
7,50 Euro ist das nicht zu machen.

Wenn ich aus christlich-sozialer Sicht über das Thema
Mindestlohn nachdenke, würde ich auch keineswegs zu
dem Vorschlag kommen, eine Kommission zur Festle-
gung des Mindestlohns einzurichten, wie es etwa im
Entwurf der Grünen formuliert ist. Wie schwierig solche
Diskussionen manchmal sein können, zeigt die Debatte
um die Höhe der Regelsätze. Vor Wahlen wird dann re-
gelmäßig eine Diskussion zu haben sein über die Höhe
des Mindestlohns, darüber, nach welchen Kriterien er
festgelegt wird, und das hielte ich für problematisch.
Auch eine formal unabhängige Kommission könnte sich
lautstark vorgetragenen politischen Begehrlichkeiten
kaum verschließen. Eleganter fände ich dann doch den
Weg, einen Mindestlohn an die Rentenentwicklung zu
koppeln. Damit wäre zum einen das Abstandsgebot ge-
wahrt, zum anderen wäre implizit auch die Mahnung der
katholischen Soziallehre berücksichtigt, dass die ge-
rechte Entlohnung natürlich immer mehrere Bestim-
mungsgründe hat.

Es ist richtig: In der Politik entscheidet nicht das
Wünschbare, sondern das politisch Mögliche. Aber ein
wenig mehr Fantasie darf man auch entwickeln. Die
Leitplanken, innerhalb derer sich die Fantasie entwi-
ckelt, sind durch die Begriffe „Subsidiarität“, „Tarifauto-
nomie“ und „gerechter Lohn“ vorgegeben. Die Gesetz-
entwürfe von SPD und Grünen scheinen mir eher davon
geprägt zu sein, dass Subsidiarität und Tarifautonomie
kaum eine Rolle spielen. Ordnungspolitisch halte ich das
für falsch. Aber darüber zu streiten, wie wir einen ge-
rechten Lohn verwirklichen, scheint mir richtig zu sein,
weil wir uns im Ziel, die Arbeit nicht als Ware zu begrei-
fen und die Lohnbildung nicht allein den Märkten zu
überlassen, durchaus einig sind. Dass wir damit alle dazu
beitragen, im Sinne von Oswald von Nell-Breuning die
kapitalistische Wirtschaftsweise normativ zu veredeln,
ist für mich ein versöhnliches Ende einer manchmal
durch schrille Töne und tagespolitische Zuspitzungen
getragenen Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709015400

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heil das

Wort.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1709015500

Sehr geehrter Herr Dr. Zimmer, ich schätze Sie als re-

flektierenden, nachdenklichen Menschen. Allerdings – das
muss ich Ihnen bei der ganzen Geschichte sagen –, die
Menschen werden von warmen Worten nicht satt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb möchte ich Ihnen einmal etwas zum Thema Sub-
sidiarität und Lohnfindung erzählen. Wir sind für Tarif-
löhne. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, sind wir für
den Vorrang branchenspezifischer Tariflöhne, der auf-
grund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes festgeschrie-
ben werden kann – und nichts anderes. Wir wissen aber
auch, dass es inzwischen Branchen gibt, wo das so nicht
mehr funktioniert, wo also ein gesetzlicher Mindestlohn
notwendig ist.





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Jetzt will ich Ihnen eines sagen: Ich kann es nicht
mehr ertragen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
jedes Mal, wenn wir über das Thema sprechen, Sie, so
sonor Sie es auch hier vortragen, als netten Menschen
am Schluss reden lässt,


(Pascal Kober [FDP]: Intelligenten Menschen!)


Sie etwas herumphilosophieren, aber am Ende nichts he-
rauskommt. Placebo-Mindestlöhne nützen den Men-
schen nichts. Herr Dr. Zimmer, was die Festlegung im
Koalitionsvertrag, sittenwidrige Löhne gesetzlich als un-
terste Kante festzuschreiben, bedeutet, will ich Ihnen
praktisch belegen. Ehe Löhne sittenwidrig werden, kann
man heutzutage nach Richterrecht bis zu einem Drittel
vom niedrigsten Tarif nach unten abweichen. Bezogen
auf das Friseurhandwerk in Sachsen hieße das beispiels-
weise, dass erst bei 2,04 Euro Stundenlohn der Lohn sit-
tenwidrig würde. Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass
2,04 Euro die unterste Kante sein soll? Anhand dieser
Frage erkennen Sie, dass Sie nicht um einen gesetzlichen
Mindestlohn herumkommen.

Auch eine zweite Frage kann ich Ihnen als jemandem
mit einem sozialen Herz, der sich hier auf Oswald von
Nell-Breuning und die katholische Soziallehre, die mir
auch als evangelischem Christen sehr sympathisch ist,
bezieht, leider nicht ersparen: Ab welchem Zeitpunkt
soll nach Ihrer Überzeugung, also Ihrer persönlichen,
auch wenn sie im Gegensatz zu der Ihrer Kolleginnen
und Kollegen steht, im Bereich der Zeit- und Leiharbeit
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unab-
weichbar gelten? Die FDP spricht von neun Monaten
und hat die CDU/CSU in Geiselhaft genommen. Was ist
Ihre Auffassung als Sozialexperte, ab welchem Zeit-
punkt der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
gelten soll, Herr Zimmer?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709015600

Herr Dr. Zimmer zur Erwiderung, bitte.


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1709015700

Danke schön, Herr Kollege Heil. Ich bin für die Frage

sehr dankbar, obwohl sie in den argumentativen Zusam-
menhang der Punkte, die wir bei Mindestlöhnen disku-
tieren, nicht so recht hereinzupassen scheint; aber sei es
drum.

Ich glaube, ich würde mich zunächst einmal mit Ihnen
und mit anderen, die damals in der rot-grünen Koalition
die Möglichkeit geschaffen haben, von Equal Pay abzu-
weichen, zusammensetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Ihnen zusammen!)


Ich würde dann Sie, lieber Herr Heil – da bitte ich als
neuer Kollege um Verständnis; Sie sind ja schon sehr
viel länger dabei –,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin viel älter als Sie!)

doch einmal fragen: Gab es denn damals eigentlich gute
Gründe, dies zu tun und ohne Fristen zuzulassen,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)


und sind diese guten Gründe noch valide?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht mehr!)


Erst dann, wenn wir darüber gesprochen haben, würde
ich eine zweite Frage anschließen, nämlich, was wir da-
ran ändern müssen. Deswegen sehe ich mich heute au-
ßerstande, mich auf eine entsprechende Frist festzule-
gen, weil ich Ihre Argumente zu dieser Frage überhaupt
nicht kenne.


(Zurufe von der SPD)


Der nächste Punkt: Wir sind hier im Plenarsaal des
Deutschen Bundestages. Ich glaube schon, dass Argu-
mente hier eine gewisse Rolle spielen, getreu dem
Hegel’schen Motto: Ist das Reich der Ideen erst revolu-
tioniert, hält die Wirklichkeit nicht stand. – Insofern
habe ich, auch was meine Position zu Mindestlöhnen an-
geht, durchaus die Hoffnung, dass sich der zwanglose
Zwang des besseren Arguments langfristig durchsetzen
möge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Neun Monate! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zu Deutsch: Nichts Genaues weiß man nicht!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709015800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4665 und 17/4435 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 f
sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 f auf:

27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und
anderer Gesetze

– Drucksache 17/4144 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des BVL-Gesetzes

– Drucksache 17/4381 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes –





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Digitalisierung vergriffener und verwaister
Werke

– Drucksache 17/4661 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit schaf-
fen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene
Qualifikationen anerkennen

– Drucksache 17/4615 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Sicherheit hat Vorrang – Atomkraftwerk Gra-
fenrheinfeld sofort abschalten

– Drucksache 17/4688 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Rheintalbahn – Modellprojekt für anwohner-
freundlichen Schienenausbau

– Drucksache 17/4689 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizie-
rung der „Internationalen Konvention gegen
die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung
und die Ausbildung von Söldnern“ der Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen

– Drucksache 17/4663 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot privater militärischer Dienstleistungen
aus Deutschland

– Drucksache 17/4673 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Brennelemente-Zwischenlager am Forschungs-
zentrum Jülich ertüchtigen

– Drucksache 17/4690 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhin-
terziehung nutzen und ausbauen

– Drucksache 17/4670 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veraltetes
Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen

– Drucksache 17/4652 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern – Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren

– Drucksache 17/4671 –





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a bis l. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer-
Qualifikations-Gesetzes

– Drucksache 17/3800 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/4660 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4660, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/3800 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
der dritten Beratung ebenfalls mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur bestätigenden Regelung verschiedener steu-
erlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften
des Haushaltsbegleitgesetzes 2004

– Drucksachen 17/3632, 17/3984 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/4597 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding (Heidelberg)


Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4597, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3632
und 17/3984 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten
Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzes
und anderer Gesetze

– Drucksachen 17/3960, 17/4146 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/4596 –

Berichterstattung:
Abgeorndete Patricia Lips
Nicolette Kressl
Dr. Birgit Reinemund

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4596, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3960
und 17/4146 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktionen der SPD und der Linken.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
der zweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 d:

Beratung der dritten Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (1. Ausschuss)






Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Septem-
ber 2009

– Drucksache 17/4600 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Bernhard Kaster
Michael Hartmann (Wackernheim)

Christian Lange (Backnang)

Stephan Thomae
Dr. Dagmar Enkelmann
Josef Philip Winkler

Hier liegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklä-
rung zur Abstimmung nach § 31 GO der Kollegin
Kathrin Vogler vor.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709015900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zur Abstimmung

über die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-
schusses möchte ich folgende Erklärung abgeben:

Ich werde der vorliegenden Beschlussempfehlung
nicht zustimmen, obwohl meine Fraktion, wie auch die
anderen Fraktionen des Hauses, sie im Grundsatz mit-
trägt. Das finde ich erklärungsbedürftig.

Die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-
schusses enthält in Anlage 47 den Einspruch eines Wäh-
lers aus meinem Wahlkreis 129, Steinfurt III, gegen das
Ergebnis der Bundestagswahl in diesem Wahlkreis. Der
Wähler führt dort unter anderem an, dass der Stimmzet-
tel für die Wahl nicht korrekt gewesen sei, weil der Kan-
didat der CDU, Dieter Jasper, dort mit einem Doktortitel
aufgeführt war, den er legal nicht hätte führen dürfen,
weil dieser bei einer sogenannten Titelmühle in der
Schweiz gekauft und nicht durch wissenschaftliche Tä-
tigkeit erworben wurde.


(Elke Ferner [SPD]: Was machen die denn da?)


Der Wahlprüfungsausschuss stellt wohl richtig fest,
dass der Einspruch dieses Bürgers wegen Fristablaufs
nicht mehr zulässig sei. Die Frist zum Einspruch gegen
das Wahlergebnis der Bundestagswahl beträgt zwei Mo-
nate nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses. Im
beschriebenen Fall war es aber so, dass der Tatbestand
der Öffentlichkeit bis nach Ablauf der Frist gezielt ver-
heimlicht wurde. Erst im Februar 2010 brachten Me-
dienrecherchen den Skandal ans Licht.

Zu diesem Zeitpunkt hätte nur noch der Präsident des
Deutschen Bundestags die Wahl anfechten können. Ich
habe damals den Präsidenten des Hauses angeschrieben
und ihn gebeten, die Wahl im Wahlkreis 129 anzufechten
und Neuwahlen zu veranlassen. Von vielen Wählerinnen
und Wählern habe ich damals nämlich gehört, dass sie
Herrn Jasper nicht gewählt hätten, wenn sie vorher von
seinem Titelbetrug gewusst hätten. Da sein Vorsprung
gegenüber dem Mitbewerber von der SPD, Dr. Reinhold
Hemker, nicht einmal 2 Prozent der Stimmen betrug,
wäre das Direktmandat möglicherweise nicht an Herrn
Jasper gegangen, wäre den Wählerinnen und Wählern
der Titelkauf vorher bekannt gewesen.

Obwohl der Fristablauf eindeutig und nicht von der
Hand zu weisen ist, habe ich den Eindruck, dass in die-
sem Fall der Ablauf der Einspruchsfrist bewusst oder zu-
mindest fahrlässig herbeigeführt wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Nach seinen eigenen Aussagen, zitiert in den Westfäli-
schen Nachrichten, hat Dieter Jasper schon im Oktober
2009 gegenüber dem Bundestagspräsidium offengelegt,
dass er den Titel nicht legal hätte führen dürfen. Ich gehe
davon aus, dass auch die Führung der Unionsfraktion in-
formiert gewesen sein muss.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Unglaublich, diese CDU! Unglaublich!)


Wenn die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt über
den Titelbetrug informiert worden wäre, hätte eine Be-
schwerde fristgerecht eingereicht werden können.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: In Landau gab es einen ähnlichen Fall!)


Dass Bundestagspräsident Dr. Lammert diese Mausche-
lei seines Parteifreunds gedeckt hat, hat mich politisch
und menschlich schwer enttäuscht.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Skandal!)


Zumindest aber hätte der betroffene Kollege den An-
stand besitzen können, sein auf Lug und Trug basieren-
des Mandat freiwillig zurückzugeben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)


Insgesamt stellt sich für mich die Frage, ob die abso-
lute Frist für Wahleinsprüche, die der Rechtssicherheit
dienen soll, letzten Endes nicht ein Klima der Vertu-
schung begünstigt, das für die Demokratie womöglich
schädlicher ist als ein geringes Restrisiko an Rechtsunsi-
cherheit.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind in der Politik un-
verzichtbar; sie sind in diesem Fall mit Füßen getreten
worden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Vermutlich könnte nur das Bundesverfassungsgericht
diese Frage endgültig klären, es sei denn, wir als Gesetz-
geber nehmen den Fall zum Anlass, das Bundeswahlge-
setz zu ändern; dafür würde ich mich stark machen.
Meine Unterstützung gilt in diesem Fall dem Ein-
spruchsführer. Auch deswegen stimme ich gegen diese
Beschlussempfehlung.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ihre Fraktion sieht das aber anders!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709016000

Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für

die Beschlussempfehlung? –


(Zuruf von der CDU/CSU, an die LINKE gewandt: Ah! Erst klatschen, dann zustimmen! Das ist ja glaubwürdig!)


Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit bei einigen Gegenstimmen aus der
Fraktion Die Linke, der Fraktion der SPD und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri-
gen Mitglieder aller Fraktionen angenommen.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 28 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 210 zu Petitionen

– Drucksache 17/4534 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 211 zu Petitionen

– Drucksache 17/4535 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Auch die Sammelübersicht 211 ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 212 zu Petitionen

– Drucksache 17/4536 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 212 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 213 zu Petitionen

– Drucksache 17/4537 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 213 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 214 zu Petitionen

– Drucksache 17/4538 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 214 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 215 zu Petitionen
– Drucksache 17/4539 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 215 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 216 zu Petitionen

– Drucksache 17/4540 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 216 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktionen SPD und
Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 217 zu Petitionen
– Drucksache 17/4541 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 217 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder –
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes-
regierung zum Thema Frauenquote

Ich eröffne die Aussprache.

Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Caren
Marks für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1709016100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genom-
men. Sie bekommen nichts“, so Simone de Beauvoir.

So wird es kommen mit dieser schwarz-gelben Bun-
desregierung; denn diese Regierung unternimmt nichts,
um die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu
verbessern. So sind Frauen in Führungspositionen im-
mer noch mit der Lupe zu suchen. Aber anstatt ent-
schlossen als Bundesregierung zu handeln, streiten sich
erst einmal die Frauen- und die Arbeitsministerin in aller
Öffentlichkeit. Während die zuständige Frauenministe-
rin Schröder stur auf Freiwilligkeit der Unternehmen
setzt, hat Frau von der Leyen ganz plötzlich die Notwen-
digkeit einer gesetzlichen Quote erkannt.


(Elke Ferner [SPD]: Die ist noch nicht einmal zuständig!)


Wirtschaftsminister Brüderle mischt sich auch noch in
den Streit ein und springt Frau Schröder zur Seite. Er hat
nicht begriffen, dass die Wirtschaft von mehr Frauen an
der Spitze profitieren würde. Schade eigentlich, dass die
Streithähne bei der Debatte heute nicht anwesend sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann kam das Machtwort der Kanzlerin: Mit ihr
werde es keine Quote geben. Frau Merkel lässt die
Frauen zum wiederholten Male im Stich. Dabei zeigen
aktuelle Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der
Frauen die Einführung einer Quote für richtig und not-
wendig hält.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Weil sie schlau sind!)


Hier bleibt nur ein Schluss: Machterhalt durch verordne-
ten Koalitionsfrieden steht für die Kanzlerin über erfor-
derlichem Regierungshandeln. Das ist eine Klatsche ins
Gesicht der Frauen in unserem Land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, dass
Frau von der Leyen wie bei so vielen sozialdemokrati-
schen Forderungen auch in diesem Fall wieder einmal
auf die Position der SPD geschwenkt ist. Die SPD-Bun-
destagsfraktion fordert schon seit langem eine gesetzli-
che Frauenquote von mindestens 40 Prozent in Auf-
sichtsräten und Vorständen großer Unternehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In ihrer Zeit als Familienministerin und Frauenministe-
rin haben wir von Frau von der Leyen eine solche Forde-
rung nicht vernommen. Bereits damals hätte sie sich für
eine gesetzliche Quote und somit für die Frauen in die-
sem Land starkmachen können.


(Elke Ferner [SPD]: Hat sie aber abgelehnt!)

Doch es geht der Ministerin nicht wirklich um die
Frauen. Die Zeit ist günstig. Es geht ihr – wie so oft –
vor allem um eine gute PR.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ganz aktuell hätte sie sich als Arbeitsministerin bei
den Hartz-IV-Verhandlungen für einen gesetzlichen
Mindestlohn starkmachen können, von dem vor allem
Frauen profitiert hätten. Hat sie aber nicht, wie wir wis-
sen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Weshalb Frauenministerin Schröder nach wie vor un-
beirrt nur auf unverbindliche Selbstverpflichtungen der
Unternehmen setzt, ist definitiv nicht nachzuvollziehen.
Fakt ist, die vor zehn Jahren von der Bundesregierung
mit der Wirtschaft geschlossene Vereinbarung hat keine
Erfolge gebracht. Der Frauenanteil in Führungspositio-
nen ist nach wie vor beschämend gering. Doch Frau
Schröder zieht aus dieser Erfahrung keine entsprechen-
den Schlussfolgerungen. Das rigorose Nein der Kanzle-
rin zur Quote ist nicht nur eine Ohrfeige für Frau von der
Leyen, sondern eine Ohrfeige für alle Frauen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch die Kanzlerin hofft wohl darauf, dass die männer-
dominierten Chefetagen zukünftig lernfähig werden. Ich
denke, diese Hoffnung ist alles andere als berechtigt.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Da bewegt sich nichts!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftli-
che Debatte über die Notwendigkeit einer Frauenquote
wurde von Norwegen angestoßen. Norwegen hat als ers-
tes Land eine Geschlechterquote von 40 Prozent für
Aufsichtsräte eingeführt. Dies ist übrigens im Jahr 2003
geschehen. Heute ist eine Quote von 42 Prozent erreicht.
Vor der Gesetzesverabschiedung lag die Quote bei
7 Prozent.

Diese Erfahrungen in Norwegen machen doch mehr
als deutlich: Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gesetzli-
che Quote; sanktionsbewehrt muss sie zudem sein. Die
Quote ist in Norwegen akzeptiert. Sie funktioniert und
löst keine Debatten mehr aus. In Spanien ist im Jahr
2007 eine Frauenquote eingeführt worden. Ganz aktuell,
im Januar 2011, hat das französische Parlament die Ein-
führung einer Frauenquote für die Wirtschaft beschlos-
sen. Ein Frauenanteil von 40 Prozent in Vorstandsetagen
muss binnen sechs Jahren erreicht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke Ferner [SPD]: Es geht doch!)


Was erleben wir aber gegenwärtig bei uns? Kabinetts-
mitglieder streiten sich untereinander. Die Kanzlerin
versucht, die Diskussion zu ersticken. Doch es wird ihr
nicht gelingen, diese Diskussion in der Gesellschaft zu
ersticken. Im Kabinett hat sie das vielleicht für einen
Moment geschafft, in der Gesellschaft wird ihr das aber
nicht gelingen.

Die Forderungen der Frauen werden zu Recht lauter.
Die gesetzliche Quote wird kommen müssen, wenn nicht





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)

mit dieser Regierung, dann – so sage ich den Frauen im
Land – spätestens im Jahr 2013 mit einer anderen Regie-
rung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709016200

Das Wort hat nun die Kollegin Nadine Schön für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nein, ich mag die Quote nicht – eigentlich. Es
müsste doch auch ohne gehen – eigentlich. Meine Al-
tersgenossinnen und ich sind hervorragend ausgebildet,
und es gibt doch Möglichkeiten der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Uns stehen doch alle Wege offen.
Was sollte uns aufhalten? Eigentlich wissen die Firmen,
dass gemischte Teams erfolgreicher sind. Sie wissen,
dass sie Frauen auf allen Ebenen brauchen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Genau!)


Es müsste doch eigentlich auch auf freiwilliger Basis ge-
hen. – Es sollte, es müsste, eigentlich. Es sollte und
müsste sich ohne Druck entwickeln. Das hat man schon
2001 gesagt. Dann wurde verkündet, dass man keine
Quote brauche, weil sich von nun an alles gut entwickeln
werde. Sogar eine freiwillige Selbstverpflichtung wurde
abgeschlossen. So überzeugt war man davon, dass man
den Anteil von Frauen in Führungspositionen alsbald er-
höhen werde. Klare Ziele hat man nicht definiert.

Sehr geehrte Frau Marks, weil Sie sich hier derart
echauffieren:


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das macht sie immer!)


Die Geschichten von damals, als Sie eine Frauenquote
gefordert haben und Bundeskanzler Schröder mit seinen
Bossen Sie zurückgepfiffen und die freiwillige Selbst-
verpflichtung präsentiert hat, sind legendär.


(Caren Marks [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen haben wir gelernt!)


Deshalb würde ich mich an Ihrer Stelle hier sehr zurück-
halten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Fakt ist leider: Die Bilanz nach zehn Jahren ist er-
nüchternd. In den Vorständen sind nicht einmal 3 Pro-
zent Frauen; in den Aufsichtsräten sieht es kaum besser
aus. Eine gute Ausbildung und eine familienfreundliche
Arbeitswelt hielt man auch in Norwegen und Frankreich
lange Zeit für ausreichend. Die beiden Länder sind in
dieser Hinsicht – das müssen wir zugeben – vorbildlich.


(Caren Marks [SPD]: Ja, durch eine gesetzliche Quote!)

Doch auch hier musste man erkennen: Das allein reicht
nicht. Es gab trotzdem nicht mehr Frauen in Führungs-
positionen; es gab trotzdem eine gläserne Decke. Des-
halb haben sich diese Länder entschlossen, zu strengeren
Maßnahmen zu greifen. Damit sind sie, wie in Norwe-
gen zu beobachten ist, sehr erfolgreich.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Dass das „es sollte“, „es müsste“, „eigentlich“ und
„es wird schon“ nicht funktioniert, diese bittere Erfah-
rung haben nun schon genug andere vor uns machen
müssen. Ausbildung ist wichtig, Coaching ist wichtig,
Kinderbetreuung ist wichtig, auch der eigene Aufstiegs-
wille ist wichtig, doch das alles führt nicht in die Chef-
etage. Das belegen zahlreiche Studien und die genannten
Beispiele. Denn der Vorstand wird vom Aufsichtsrat ge-
wählt, und wer für den Aufsichtsrat vorgeschlagen wird,
das bestimmt der Aufsichtsrat selbst. Interessante Einbli-
cke, wie das funktioniert, hat uns neulich das manager
magazin ermöglicht. Man spielt zusammen Fußball, geht
zusammen wandern und Ski fahren. Dabei wird dann
überlegt, wer zu einem passt, wen man aufnehmen
könnte. Dadurch bleibt man halt unter sich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das ist wahrscheinlich kein böser Wille; aber es ist die
Realität. Es ist eine Realität, die 50 Prozent der Bevölke-
rung außen vor lässt. Solange keine Frauen in diesen Zir-
keln vorkommen oder nur vereinzelt dort zu finden sind,
so lange wird sich daran nichts ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Und die Schlussfolgerung? Wir brauchen eine Quote!)


Um diese Strukturen aufzubrechen, braucht man klare
Vorgaben. Ist erst einmal eine qualifizierte Größe, eine
gewisse Anzahl an Frauen vorhanden, regelt sich der
Rest von alleine.


(Caren Marks [SPD]: Männer werden das ohne Qualifikation!)


Auf dem Weg zu dieser qualifizierten Größe – damit ist
nicht die Art der Qualifikation gemeint, sondern eine ge-
wisse Mindestanzahl, liebe Kollegin Marks; dies sage
ich nur zur Erläuterung –


(Caren Marks [SPD]: Schon klar!)


ist nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik ge-
fragt. Wir können nicht weiter vor uns hin dümpeln. Wir
brauchen konkrete und verbindliche Schritte mit klaren
Zielen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)






Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen dabei nicht alle über einen Kamm sche-
ren. Eine feste Quote kann durchaus zu Schwierigkeiten
führen.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah!)


Jedes Unternehmen kann sich mit der Flexiquote seinen
eigenen Fahrplan zurechtlegen;


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch! – Caren Marks [SPD]: Eine freiwillige Flexiquote! Es fing so gut an!)


denn ein Automobilunternehmen – das werden wohl
auch Sie wissen – ist von Natur aus eher männlich ge-
prägt


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn?)


als zum Beispiel eine Bank, die durchaus viele Juristin-
nen und BWLerinnen beschäftigt und eine Quote leich-
ter und schneller erfüllen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Klar ist aber: Wir müssen politisch und, wie ich
meine, auch gesetzlich einfordern, dass in großen Kon-
zernen in Gremien mit zum Beispiel zehn Mitgliedern
sehr bald mindestens drei Stühle von Frauen besetzt wer-
den. Das ist, denke ich, das Mindeste, das wir verlangen
können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will keine weiteren zehn Jahre darauf warten. Wir
brauchen einen Stufenplan mit konkreten und verbindli-
chen Schritten, um dieses Ziel zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen in
Norwegen und Frankreich haben gezeigt – das konnten
wir auch in Deutschland beobachten –: Ohne diese kon-
kreten, verbindlichen Schritte werden wir nicht voran-
kommen. Die Liste derjenigen, die schon immer gegen
eine Quote waren, ist lang. Aber immer länger wird die
Liste derjenigen, die feststellen: Es geht einfach nicht
ohne.


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In der Titelgeschichte des Spiegel von vor zwei Wochen
ist sehr deutlich geworden, dass sich diese Erkenntnis
bei vielen durchgesetzt hat: Caren Miosga und Ilse
Aigner – sie wurden bereits genannt –,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren doch nicht nur zwei Leute!)


die beiden Redakteurinnen, 73 Prozent der Frauen und
60 Prozent der Männer sind mittlerweile für eine Quote
für Führungspositionen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Ja! Und wo bleibt das Handeln?)

Auch ich gehöre zu diesen 73 Prozent der Frauen. Ich
habe mich dazu durchgerungen, eine Quote zu wollen;
denn ich will nicht, dass meine Altersgenossinnen und
ich die nächste Generation sind, die an der gläsernen De-
cke kleben bleibt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709016300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn die Frauenministerin heute? – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Frauenministerin? Die Arbeitsministerin? Die Bundeskanzlerin?)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709016400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war

eine gute Argumentation, die deutlich gemacht hat, wa-
rum die CDU-Vorsitzende unrecht hat,


(Caren Marks [SPD]: Ja! Allerdings!)


wenn sie sagt, man brauche keine Quote, wie wir soeben
von Frau Schön gehört haben. Es ist bedauerlich, dass es
kein einziges der Regierungsmitglieder, die sich immer
wieder zu diesem Thema geäußert haben, für notwendig
hält, mit uns, dem Parlament, darüber zu diskutieren.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gab einmal eine Zeit, in der für die Mehrheit un-
vorstellbar war, dass Frauen wählen. Heute ist das Frau-
enwahlrecht Realität. Aber es lohnt, die Argumente, die
damals ins Feld geführt wurden, um das Frauenwahl-
recht aufzuhalten, zu studieren. Die Philosophin und Fe-
ministin Simone de Beauvoir gab in ihrem Klassiker Das
andere Geschlecht einen sehr amüsanten Überblick über
die Argumente, die damals galten. Es hieß, die Frau
würde ihren Charme verlieren, wenn sie wähle. Sie be-
herrsche den Mann doch auch ohne Stimmzettel. Oder
– ganz schlimm –: Politische Diskussionen würden zur
Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten führen.
Eine andere Aussage lautete: Die Hände von Frauen sind
nicht bestimmt zum Falten von Stimmzetteln.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Marco Buschmann [FDP]: Zur Sache!)


Heute rufen solche Argumente bei uns natürlich nur
amüsiertes Lachen hervor. Überzeugen können die Ar-
gumente niemanden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass in
naher Zukunft all die Argumente, die heute noch gegen
eine Quote in Aufsichtsräten angeführt werden, dasselbe
Schicksal erfahren: dass wir nur noch amüsiert über sie





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

lachen und sagen, dass sie eher etwas fürs Museum sind,
unter der Überschrift „Es war einmal …“


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


All den Gegnerinnen und Gegnern der Frauenquote sei
gesagt: Sie können den Fortschritt vielleicht verzögern;
aber Sie können ihn nicht aufhalten. Sie kämpfen gegen
die Zukunft.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marco Buschmann [FDP]: Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!)


Leider sind diese Argumente immer noch Realität. In-
sofern müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Ein
klassisches Abwehrmuster besteht in der Unterstellung,
es gebe nicht genügend kompetente Frauen. Das ist sehr
bezeichnend. Auch als in Norwegen im Jahre 2006 die
40-Prozent-Quote eingeführt wurde, warnte manch einer
vor einem Mangel an kompetenten Frauen. Die Praxis
konnte diese Sorge ausräumen. Glauben Sie ernsthaft,
dass all die Männer, die hochbezahlte Posten in Auf-
sichtsräten haben, nur aufgrund ihrer Kompetenz dort
sitzen?


(Mechthild Rawert [SPD]: Nein!)


Glauben Sie ernsthaft, dass dabei nicht auch Vitamin B,
also Beziehungen zu – ich sage es einmal so – eher män-
nerlastigen Machtnetzwerken, eine Rolle gespielt hat?


(Mechthild Rawert [SPD]: Ja! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Seilschaften!)


Eine weitere Verzögerungstaktik besteht darin, auf die
Freiwilligkeit der Wirtschaft zu setzen. Das haben schon
mehrere Regierungen hintereinander versucht. Das Er-
gebnis ist bekannt: Weniger als 1 Prozent der Vorstände
in den 100 größten deutschen Unternehmen sind weib-
lich. Insgesamt, so sagt man, besetzen Frauen maximal
10 Prozent der Posten in Aufsichtsgremien. Die Bundes-
kanzlerin und Ministerin Schröder wollen trotzdem wei-
terhin auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft setzen. Ich
sage es einmal so: Im Vergleich dazu ist der Glaube an
den Weihnachtsmann ein geradezu seriöses Projekt.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke meint: Wenn wir Geschlechtergerechtigkeit
wollen, dann brauchen wir verbindliche Regelungen.
Wir dürfen uns von der Wirtschaft nicht länger auf der
Nase herumtanzen lassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Frauenquote in Aufsichtsräten ist natürlich kein
Allheilmittel zur Überwindung des Patriarchats. Dazu
sind die Benachteiligungen von Frauen zu tief in unserer
Gesellschaft verankert. So manches Gesetz verschärft
sie sogar. Eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen,
sind die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemein-
schaft bei Hartz IV. Das Wort „Bedarfsgemeinschaft“ ist
Behördendeutsch und bedeutet, dass Menschen, die län-
ger als ein Jahr zusammenleben, automatisch unterstellt
wird, sie hätten eine eheliche Gemeinschaft, sodass ihre
Einkommen im Hinblick auf die Höhe von Sozialleistun-
gen angerechnet werden.

Kürzlich habe ich mich in meiner Funktion als Aus-
schussvorsitzende mit Frauenverbänden ganz unter-
schiedlicher politischer Couleur getroffen. Mir wurden
sehr bewegende Fälle geschildert, die deutlich gemacht
haben, dass die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsge-
meinschaft gerade Frauen in unerträgliche Situationen
bringen. Zum Beispiel wird es Alleinerziehenden, die
Teilzeit arbeiten und deswegen auf Hartz IV angewiesen
sind, faktisch unmöglich gemacht, eine neue Beziehung
einzugehen. Denn wenn sie einen neuen Partner finden
und mit diesem zusammenziehen wollen, wird dessen
Einkommen sofort beim Kind angerechnet. Auch das ist
nicht im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich rufe all jenen Frauen und Männern, die sich heute
so engagiert für Geschlechtergerechtigkeit auf den obe-
ren Etagen einsetzen, zu: Sorgen wir dafür, dass
Geschlechtergerechtigkeit auf allen Etagen der Einkom-
menshierarchie herrscht! Wir brauchen Geschlechter-
gerechtigkeit in den Chef- und Chefinnenetagen genauso
wie im Erdgeschoss. Stellen wir endlich die Bedarfsge-
meinschaft auf den Prüfstand!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Linke meint, es bedarf beides: der Abschaffung
der Bedarfsgemeinschaft sowie einer Quote für Auf-
sichtsräte. Dafür spricht vieles, unter anderem Folgen-
des: Je mehr Chefinnen es gibt, desto mehr wird unsere
Vorstellung von guter Führung von ihren männlichen
Prototypen losgelöst. Diese Vorbildwirkung auf die Be-
rufswünsche von jungen Mädchen ist nicht zu unter-
schätzen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten einmal für den Fraktionsvorsitz kandidieren! Das wäre dann auch eine Frau!)


Wir wollen schließlich, dass in Zukunft mehr junge
Mädchen, die nach ihrem Berufswunsch gefragt werden,
nicht „Balletttänzerin“, sondern auch „Chefin“ antwor-
ten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist reif für
eine geschlechtergerechte Besetzung der Aufsichtsräte.
Mindestens jeder zweite Aufsichtsposten gehört in Frau-
enhand.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709016500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Bracht-Bendt für

die FDP-Fraktion.





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1709016600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn es nach der SPD-Fraktion ginge, würde man die
Gesetzeskeule herausholen, und alle Fragen wären ge-
löst.


(Caren Marks [SPD]: Nein, nicht alle!)


Erst einmal gibt es eine staatlich verordnete Frauen-
quote, und dann werden familienfreundliche Arbeitszei-
ten ganz einfach per Gesetz geregelt, wie es die SPD-
Fraktion erst vor wenigen Tagen in einer Pressemittei-
lung gefordert hat.

Die Wirtschaft an die Kandare zu nehmen und ihr
vorzuschreiben, wen sie einstellen soll und wie Famili-
enfreundlichkeit umzusetzen ist, ist ein Witz. Mit uns Li-
beralen ist das nicht zu machen.


(Caren Marks [SPD]: Die Frauen stehen auf dem Abstellgleis bei den Liberalen!)


Es steht außer Frage: Nach wie vor sind gerade einmal
3,2 Prozent der Vorstandsposten der 200 größten Unter-
nehmen mit Frauen besetzt. Das ist nicht akzeptabel, und
das muss sich ändern. Aber starre, gesetzlich verankerte
Frauenquoten sind der falsche Weg.


(Beifall bei der FDP – Dagmar Ziegler [SPD]: Was ist denn der richtige?)


Ich bin froh, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel der
Frauenquote eine Absage erteilt hat. Starre Quoten sind
mit dem Grundgesetz ohnehin nicht vereinbar, wie der
Verfassungsrechtler Ossenbühl dem Familienministe-
rium gerade bescheinigt hat,


(Caren Marks [SPD]: Gut, dass die Frauenministerin aufgrund einer Hessen-Quote ausgewählt wurde!)


weil sie – ich zitiere – „nicht auf die Herstellung von
Chancengleichheit, sondern der Ergebnisgleichheit ge-
richtet sind“. Dieses Urteil bestätigt die Einschätzung
der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)


Für uns ist eine starre Quote nichts anderes als Planwirt-
schaft.


(Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Personalauswahl im Betrieb ist keine Sache des Staates.

Dass die SPD und die Grünen in der Quote das All-
heilmittel sehen, ist nicht neu.


(Caren Marks [SPD]: Ein Mittel!)


Warum unter rot-grüner Regierung hier nichts passiert
ist, frage ich mich natürlich.


(Miriam Gruß [FDP]: So ist es!)


Ich frage mich aber auch, warum die Arbeitsministerin
ausgerechnet jetzt, wo es endlich Signale für einen Wan-
del in der Wirtschaft gibt, eine starre Quote in der Ver-
bindung mit Sanktionen einfordert.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Das steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, und
dieser stellt für uns Liberale in dieser Legislaturperiode
die Grundlage dar. Im Koalitionsvertrag haben wir einen
Stufenplan verabschiedet, und dieser sieht als ersten
Schritt die Berichtspflichten, also die Offenlegung der
Unternehmen über die Besetzung ihrer Führungspositio-
nen, vor.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben wir schon viele Jahre! – Caren Marks [SPD]: Das ist so was von verquast! Das hat die Ministerin selbst nicht verstanden, als sie es vorgestellt hat!)


2013 wollen wir evaluieren, und dann werden wir sehen,
was zu tun ist.

Wir Liberale setzen auf die Eigenverantwortung der
Unternehmen.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LINKEN: Ah!)


Selbstverpflichtung, wie es die Telekom vormacht, ist
für die FDP-Fraktion zum jetzigen Zeitpunkt das Instru-
ment, das wir von den Unternehmen erwarten. Die Wirt-
schaft ist also in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, da-
mit Frauen auf dem Weg nach oben nicht länger
ausgebremst werden.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wenn sie es nicht macht?)


Die FDP-Fraktion unterstützt die Kanzlerin in ihrem Ap-
pell, das nicht auf die lange Bank zu schieben.

Für uns ist Diversity das Schlüsselwort. Dabei kann
es aber nicht nur um das Geschlecht gehen, sondern es
muss auch um Herkunft und Lebenserfahrung gehen.
Die Mischung macht erfolgreich. Jeder feste Prozentsatz
ist für mich eine Form der Diskriminierung, weil er bei
der Personalauswahl unter Umständen Anforderungen
an die Stelle überlagert. Außerdem degradiert eine
Quote alle Frauen, die es auch so geschafft hätten.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wenn wir über zu wenige
Frauen auf dem Chefsessel reden, dann haben wir meis-
tens die Situation in großen Konzernen vor Augen. Wir
sollten uns einmal an mittelständischen Unternehmen
orientieren; denn hier sind Frauen in Führungspositionen
längst keine Ausnahme mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU])


Der Mittelstand praktiziert längst, worüber wir die ganze
Zeit reden. Viele Unternehmen sind flexibel bei der Ge-
staltung von Arbeitszeiten; es gibt individuelle Lösun-
gen. Die Grundhaltung ist dort häufig eine andere als in





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)

den Konzernen: Wer in seinem Beruf gut ist und Kinder
hat, ist flexibel, pragmatisch, organisiert und belastbar.

Familie ist längst keine Privatsache mehr. Viele
Frauen verabschieden sich nach der Geburt eines Kindes
nicht mehr für einige Jahre aus der Arbeitswelt – und das
ist auch gut so. Jedes Jahr Auszeit aus dem Beruf heißt
weniger Gehalt und weniger Rente. Vorbei sind auch die
Zeiten, in denen die Väter kein Problem mit langen
Bürozeiten hatten. Viele Väter sind nicht länger bereit,
ihren Nachwuchs nur am Wochenende zu erleben. Die
Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sich
nicht nur mit Kindern, sondern auch, wenn pflegebedürf-
tige Angehörige zu versorgen sind.

Dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Spit-
zenverbänden der deutschen Wirtschaft jetzt die Charta
für familienbewusste Arbeitszeiten unterzeichnet hat,
zeigt, dass Politiker und Wirtschaftsvertreter dieses
Thema ernst nehmen. Langzeitkonten, Telearbeit, Teil-
zeit oder Gleitzeit sind die Stichworte, mit denen die
Vereinbarkeit erleichtert wird. Familiengerechte Struktu-
ren erfordern Kreativität und schaffen Win-win-Situatio-
nen. Das ist es, was wir wollen.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen keine einseitigen Lösungen, sondern Ar-
beitsbedingungen, die den Spagat zwischen Familie und
Beruf für Frauen und Männer erleichtern.


(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Das steigert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter,
sondern auch die Produktivität des Unternehmens.

Berichtspflichten als erster Schritt des Stufenplans,
die Selbstverpflichtung der Unternehmen und flexible
Arbeitszeiten – das sind für mich im Moment die wich-
tigsten Herausforderungen, denen wir uns stellen müs-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nach
dem, was Sie heute hier ausgeführt haben, erstaunt es
mich schon, dass es Ihnen in der letzten Legislaturpe-
riode nicht gelungen ist, gemeinsam mit der SPD den
Stufenplan auf den Weg zu bringen.


(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: War das eine Giftspitze in Richtung Union?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709016700

Die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen ist nun die nächste Rednerin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Die Wahlkämpferin!)



Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709016800

Meine Damen! Meine Herren! Als wir im Dezember

des letzten Jahres über den Antrag der Grünen diskutiert
haben, eine Mindestquote für Frauen und Männer in den
Aufsichtsräten von 40 Prozent einzuführen, war die De-
batte durchaus kritischer als heute; das will ich durchaus
konzedieren. Es könnte hier also einmal Morgenröte am
Himmel entstehen.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Rot sowieso nicht!)


Trotzdem muss ich sagen, dass die Aufführung zu der
Quote mit einer nicht zuständigen Arbeitsministerin, ei-
ner zuständigen Ministerin und einer Kanzlerin für mich
doch irgendwie ganz großes Kino war.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind alle nicht da!)


Ich finde es aber schade, dass dieser Film in den Medien
aufpoppen darf, während es keine einzige der Vertrete-
rinnen für nötig gehalten hat, hier zu erscheinen und mit
uns darüber zu diskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich verstehe die Zwischenrufe der Frauen zu einer
früheren, anderen Regierungsbeteiligung. Ich will aber
gar nicht nur Aufarbeitung betreiben.


(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Doch! Das wäre schon gut!)


Ich zitiere einen Satz, der von mir kommen könnte, aber
in dieser Variante nicht von mir kommt. Der Satz heißt:
Es ist ein ziemlicher Skandal, dass in den 200 größten
deutschen Unternehmen nur 3 bis 4 Prozent der Spitzen-
funktionen mit Frauen besetzt sind. – Er stammt von
Frau Merkel.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie hat recht!)


Wer den Mund so spitzt, der muss aber auch pfeifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer die Richtlinienkompetenz hat, der sollte auch einen
Vorschlag machen, der hier diskutiert wird. Gutes Zure-
den hilft hier nicht.

Nach 60 Jahren Verfassung des Grundgesetzes und
10 Jahren Selbstverpflichtung müssen wir uns doch fra-
gen: Wo ist eigentlich das Primat der Politik?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen heute feststellen, dass die Frauen in diesem
Land das nicht mehr akzeptieren. Unternehmerinnen ha-
ben den Verband FidAR gegründet, eine Initiative für
mehr Frauen in die Aufsichtsräte. Der Deutsche Juristin-
nenbund setzt sich seit ewig und drei Tagen dafür ein.
Der Verband deutscher Unternehmerinnen ist mittler-
weile ganz dicht dran. Alle sagen: Wir wollen nicht mehr
warten; wir wollen jetzt Taten sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das spricht insbesondere uns Frauen im Bundestag an.





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

Mit Verlaub, ein leichter Spott muss sein: Das Motto
„Verpflichtung zur Selbstverpflichtung“, das die Minis-
terin ausgegeben hat, erinnert mich an eine Übersetzung
des Wortes „Schizophrenie“ ins Deutsche: Spaltungsir-
resein. Sie will eine Verpflichtung zur Selbstverpflich-
tung – nach 60 Jahren Grundgesetz und 10 Jahren
Selbstverpflichtung. Wir haben zudem nach der Wende
einen Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz verankert.
Denn schon das, was Elisabeth Selbert und andere
Frauen seinerzeit im Parlamentarischen Rat erkämpft ha-
ben, wurde für zu eng empfunden und in einen aktiven
Gleichstellungsauftrag umgewandelt. Der Staat muss für
die Gleichstellung Sorge tragen. Nach alledem reicht uns
die Verpflichtung zur Selbstverpflichtung nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn jetzt jemand sagt, eine Quote sei diskriminie-
rend – tatsächlich wäre sie keine Frauenquote, sondern
eine Mindestquote beider Geschlechter –, dann sollten
wir zunächst einmal die jetzige Situation betrachten.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist diskriminierend!)


Eine fast hundertprozentige Männerquote in den Vor-
ständen und Aufsichtsräten ist die schärfste Diskriminie-
rung. Dieser Zustand ist verfassungswidrig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der aktive Gleichstellungsauftrag, dass Frauen überall
vertreten zu sein haben, wird nicht ernst genommen und
nicht realisiert. In Wahrheit geht es uns nicht darum, Pri-
vilegien für Frauen zu schaffen, sondern darum, diesen
verfassungswidrigen Zustand endlich abzuschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Frauen machen die Hälfte der Menschen des Landes
aus. Nicht wir Frauen müssen begründen, warum wir
wohin wollen, sondern die Männer müssen begründen,
warum immer nur sie die Stühle besetzen. Das ist die
Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wie erklären wir eigentlich den Abiturientinnen, de-
ren Anteil 55 Prozent beträgt, diese Situation? Frau
Schön hat vorhin gesagt, ihre Generation solle nicht
auch noch warten müssen. Wie erklären wir den Hoch-
schulabsolventinnen, deren Anteil 51 Prozent beträgt,
dass sie warten sollen? Der Anteil der Absolventinnen
der Wirtschaftswissenschaften beträgt bei besseren Ab-
schlüssen als die männlichen Absolventen 55 Prozent.
Wie erklären wir dem deutschen Unternehmerinnenver-
band mit seiner Datenbank für topqualifizierte Frauen, in
der 400 Frauen geführt werden, die sofort in die Auf-
sichtsräte eintreten könnten, dass wir nicht endlich Maß-
nahmen ergreifen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich will nicht mit einem Zitat von Elisabeth Selbert
schließen, die die SPD in den Parlamentarischen Rat ent-
sandt hat, sondern mit einem Satz von Monika Grütters
von der CDU, die gesagt hat, es wäre naiv, einfach so
weiterzumachen. Lassen Sie mich von Herzen einen
Wunsch an alle Männer, aber vor allem an alle Frauen
des Deutschen Bundestags richten. Wer, wenn nicht wir
Frauen, ist jetzt gefragt, zu sagen: „Das Recht nehmen
wir uns auch raus“? Bei Themen wie Patientenverfügung
oder PID nehmen sich oft Frauen, aber auch viele Män-
ner mit Hinweis auf die Gewissensfreiheit das Recht he-
raus, eine Initiative aus der Mitte des Hauses vorzuschla-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709016900

Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709017000

Ich komme zum Schluss. – Nachdem wir den Rechts-

anspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt und
erkämpft haben, dass die Vergewaltigung in der Ehe ge-
nauso strafbar ist wie die Vergewaltigung außerhalb der
Ehe, sage ich deutlich: Meine Fraktion ist bereit, den
40-Prozent-Antrag beiseitezuschieben und gemeinsam
mit Ihnen die Initiative zu ergreifen. Darum werbe ich.
Alle Frauen dieses Bundestages verfassen gemeinsam
einen neuen Antrag. Lassen Sie uns mit dem Aufsichts-
rat anfangen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709017100

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit weit über-

schritten.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709017200

Wir Frauen müssen das jetzt beginnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709017300

Die Kollegin Dorothee Bär hat nun für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1709017400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir müssen hier heute nicht debattieren, was
wäre, wenn hier vor zehn Jahren seriöse Politiker regiert
hätten


(Zurufe von der SPD: Oh!)


und nicht Cohiba, Barolo und Brioni die Politik der Bun-
desrepublik Deutschland geprägt hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Sie können es ja besser machen!)






Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

Man muss sich nur einmal alte Zeitungsartikel an-
schauen. Familienministerin Bergmann hat schon im
September 2000 Eckpunkte für ein Gleichstellungsge-
setz vorgelegt. Dann gab es, wie zu erwarten, Wider-
spruch von Hundt und Rogowski bei Bundeskanzler
Schröder. Daraufhin hat Herr Uwe-Karsten Heye gesagt
– Zitat in der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2001 –:
Es gibt auf beiden Seiten keine große Neigung, ein gro-
ßes regulatives Gesetz zu machen.


(Zuruf von der SPD: Und was wollen Sie?)


Gleiches Zitat von Wirtschaftsminister Werner Müller:
Wir brauchen eine Selbstverpflichtung. Auch bei den
Grünen, Frau Margareta Wolf, Parlamentarische Staats-
sekretärin, heißt es: Wir setzen auf Eigeninitiative. Ge-
setzliche Verpflichtungen brauchen wir nicht.


(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)


Im Juli 2001 war es dann so perfide, dass die arme
Frau Bergmann von Bundeskanzler Schröder gezwun-
gen wurde,


(Christel Humme [SPD]: Keine Krokodilstränen bitte!)


auf Druck das Scheitern auch noch positiv darzulegen.
Sie musste bejubeln, dass es quasi zu keinem Ergebnis
gekommen war, und hat in einem langen Interview mit
der Welt am 5. Juli 2001 gesagt: Wir haben etwas ganz
Großartiges geleistet. Das wird die Republik verändern.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Schnee von gestern!)


Ich darf sie noch einmal aus 2001 zitieren, als sie gesagt
hat: Gute Kräfte werden knapp. Das Thema Chancen-
gleichheit ist in Deutschland zu lange vernachlässigt
worden. – Das spannendste Zitat, das man nicht nur
2001 glauben konnte, sondern das auch für 2011 ange-
messen wäre: Nach wie vor ist vielen hiesigen Arbeitge-
bern, im Vergleich zu den USA, noch nicht klar gewor-
den, über welches Potenzial wir hier mit den gut
qualifizierten Frauen verfügen, die wir in der nächsten
Zeit dringend brauchen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, dass damals schon
erkannt wurde, was sich eigentlich bis zum Jahr 2011
überhaupt nicht geändert hat. Jetzt gibt es eine Aktuelle
Stunde mit dem Thema „Unterschiedliche Auffassungen
in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote“.


(Mechthild Rawert [SPD]: Wo wir recht haben, haben wir recht!)


Ich muss einmal sagen: Das Thema „Frauenquote“ bzw.
„Beteiligung von Frauen“ ist in keiner anderen Regie-
rung so angekommen wie in dieser Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Da müssen Sie doch selber lachen, Frau Bär!)


Man kann es negativ sehen, so wie Sie, dass es unter-
schiedliche Auffassungen gibt. Man kann das aber auch
positiv sehen. Ich sehe das positiv, weil es bedeutet, dass
das Thema angekommen ist, dass sich in der Zielset-
zung, dass wir mehr Frauen brauchen, alle einig sind,
dass erkannt wurde, dass wir mehr Frauen in Führungs-
positionen brauchen und dass es jetzt um ein Ringen um
die beste Lösung geht.


(Caren Marks [SPD]: Frau Merkel ringt nicht!)


Man kann machen, was vor zehn Jahren die rot-grüne
Bundesregierung getan hat, sich nämlich mit erhobenem
Zeigefinger hinstellen und den Unternehmen sagen:
„Du, du, du! Wenn ihr jetzt nichts macht, dann passiert
wieder nichts.“


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum gehen Sie eigentlich nicht auf mein Angebot ein?)


Man kann aber auch einmal überlegen, wie es weiter-
geht.

Meine Kollegin Nadine Schön hat schon ausgeführt,
dass es da etwas ganz Schlimmes gibt. Dieses schlimme
Wort heißt Quote. Ich bin der festen Überzeugung, dass
das Schlimmste an der Quote das Wort „Quote“ ist; denn
wir haben das Problem, dass das ein verbranntes Wort
ist.


(Lachen bei der SPD – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Das Problem ist, dass Sie durch Ihr Geschrei überhaupt
nicht kapieren, was ich hier sage; aber das spricht natür-
lich auch eine deutliche Sprache.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht immer auch um das Qualitätsargument. Wenn
Sie sich einmal den Bundestag mit seinen etwa
600 männlichen und weiblichen Abgeordneten an-
schauen, dann stellen sie fest, dass jeder zweite Abge-
ordnete und jede zweite Abgeordnete hier ein Quotenab-
geordneter und eine Quotenabgeordnete ist.


(Elke Ferner [SPD]: Ich bin keine Quotenabgeordnete!)


Jeder Einzelne, der über die Liste gewählt wurde, ist ein
Quotenabgeordneter, weil jeder auf der Landesliste ge-
landet ist, weil man eine Frau oder ein Mann ist, weil
man aus einer bestimmten soziologischen Gruppe
kommt, weil man aus Proporzgründen einen bestimmten
Bereich seines jeweiligen Landes vertritt. Wenn es also
immer nur bei Frauen heißt, es gehe um die Qualität,
dann ist das mit uns nicht zu machen. Ich persönlich bin
nicht bereit, das, was Rot-Grün vor zehn Jahren ver-
murkst hat, noch einmal zehn Jahre lang mitzumachen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen die Zustände jetzt ändern und keine leeren
Drohungen mehr. Uns geht es nicht mehr um das Ob, es
geht nur noch um das Wie. Deswegen bin ich unseren
Ministerinnen sehr dankbar. Sowohl Frau von der Leyen
als auch Frau Schröder haben sich klar dazu bekannt.
Das ist wesentlich mehr, als Sie in zehn Jahren gemacht
haben. Denjenigen, die behaupten, dass es dramatisch
wäre, dass die Ministerinnen heute nicht anwesend sind





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben doch gar nichts gemacht!)


– hören Sie mal zu, Frau Künast; nicht nur an Wahl-
kampf denken, sondern auch mal zuhören –,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre ja zu!)


kann ich nur sagen: Es macht eine gute Chefin aus, so
gut zu sein, dass sie sogar an ihren männlichen Staatsse-
kretär delegieren kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war unterstes Niveau! Das ist doch das Mindeste, dass sie Weisungen durchsetzen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709017500

Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1709017600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zualler-

erst möchte ich den Vorschlag der Kollegin Künast für
die SPD-Fraktion annehmen. Frau Künast, wir haben
aber die Bitte, dass die Kerle auch unterschreiben dür-
fen, von mir aus hinten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ernsthaft gesprochen finde ich, dass wir uns bei die-
sem Thema ein gutes Maß an Souveränität nehmen dür-
fen. Wir dürfen doch sagen – das ist der berechtigte Vor-
wurf von CDU/CSU und FDP –, dass wir in unserer
Regierungszeit die Quote nicht hinbekommen haben.
Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt. Wir haben der
Wirtschaft zu lange geglaubt, übrigens nicht nur da. Ich
war einmal Umweltminister. Fragen Sie doch den jetzi-
gen, wie viele Selbstverpflichtungserklärungen die deut-
sche Wirtschaft im Umweltschutz abgegeben hat: im
Dutzend billiger. Der Unterschied zwischen uns und Ih-
nen ist nur: Sie wollen denen immer noch glauben. Wir
tun das nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kenne Ausnahmen, die der Wirtschaft nicht glauben
wollen. Eine sehe ich vor mir.

Lassen Sie es uns nicht so schwer machen. Wir kön-
nen zunächst mit dem Stufenplan anfangen. Es geht
doch um Folgendes: Sie alle, auch die Vorrednerin, wis-
sen besser als jeder männliche Kollege, der hier redet,
dass die Sichtweise von Männern und Frauen auf den
gleichen Alltag oftmals ganz unterschiedlich ist. Die
Quote soll dazu dienen, dass die Sichtweise von Frauen
in die Vorstands- und Führungsetagen von Unternehmen
einkehrt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darum geht es. Warum? Wieso sollten, wenn das nicht
der Fall ist, die Männer, die da sitzen, bessere Arbeits-
zeiten organisieren? Die Männer haben diese Belastung
zwischen Kindern und Beruf oder – noch konkreter –
zwischen Karriere und Kindern überhaupt nicht. Das
müssen doch in der Zeit ihre Frauen machen. Oder sie
haben keine Kinder. Es geht doch darum, dass die Ar-
beitszeitmodelle verbessert werden, dass wir Arbeit und
Leben wieder besser miteinander verbinden können, und
das partnerschaftlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der Rushhour des Lebens, im Alter zwischen 20
und Ende 40, sollen wir alles machen: Karriere machen,
Kinder bekommen und eine gute Partnerschaft führen.
Das wird in Wahrheit nicht funktionieren, wenn nicht
auch andere Modelle des Zusammenlebens und des Zu-
sammenführens von Arbeiten und Leben möglich sind,
zum Beispiel mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen.
Das muss doch auch Ihr Interesse sein. Es geht darum,
hier etwas voranzubringen, und nicht darum, hier einen
Schaumstreit abzuhalten. Ihre Kanzlerin hat jetzt eine
Ministerin in den Senkel gestellt und der anderen auch
nicht richtig geholfen. Ich sage bei Flexiquoten und all
solchem Quatsch nur eins: Es gibt einen alten Grundsatz:
Mit Gänsen können Sie nicht über einen Weihnachtsbra-
ten diskutieren.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das geht nicht, auch nicht, wenn es männliche Gänse
sind; da schon gar nicht. Das funktioniert nicht. Lassen
Sie es also sein.

Am Ende möchte ich ein Beispiel nennen, wo wir im
Alltag etwas nicht tun, was aber den Frauen richtig hel-
fen könnte: Ich bin sehr für die Quote, aber ich will mir
nicht mehr diktieren lassen, dass das nur für Redaktions-
leitungen im Spiegel wichtig ist oder für die Vorstände
der 30 DAX-Konzerne. Ich will, dass wir auch für die
Frauen etwas machen, die davon lange Zeit nichts haben
werden: für die Kassiererinnen im Einzelhandel, für die
Beschäftigten im Handwerk und für andere. Für diese
Gruppe müssen wir endlich durchsetzen: Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit. Darum geht es doch in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Da fallen Sie den Frauen in den Rücken, Frau von der
Leyen vorweg; denn das Prinzip „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ war Gegenstand der Hartz-IV-Verhand-
lungen. Dort haben Sie dagegen gestimmt. Die Mehrzahl
der Leiharbeitnehmer sind Frauen. 70 Prozent der
Frauen müssen für miserable Löhne arbeiten. Sie haben
es in der Hand, für diese Frauen etwas zu tun: Gleicher





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)

Lohn für gleiche Arbeit. Sie aber lassen alles laufen und
kümmern sich nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])


– Nein, es geht nicht um Veralbern. Es geht schon da-
rum, dass du nicht nur abstrakte Debatten für einen Teil
der Gesellschaft führst, es geht schon darum, dass du
zeigst, dass du die im Blick hast, die ganz schlecht ver-
dienen.

Jedes Jahr werden wir von der Europäischen Kom-
mission gemahnt, dass es in Deutschland, was die glei-
che Bezahlung von Männern und Frauen betrifft, am
schlechtesten bestellt ist. Fast 25 Prozent weniger ver-
dienen Frauen gegenüber Männern bei vergleichbaren
Tätigkeiten. Im selben Betrieb, in derselben Altersstufe,
im selben Beruf liegen die Frauenlöhne 12 Prozent unter
denen ihrer Kollegen an der Werkbank oder im Einzel-
handel nebenan. Das wird jedes Jahr angemahnt.

Olaf Scholz hat als Arbeitsminister in der Großen Ko-
alition dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Wer hat
den denn gestoppt? Den hat unter anderem Frau von der
Leyen im Kabinett gestoppt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


CDU und CSU waren nicht bereit, diesen Gesetzent-
wurf, der ein Schritt auf dem Weg zu gleichem Lohn für
gleiche Arbeit war, ins Kabinett einzubringen, ge-
schweige denn in den Deutschen Bundestag. Reden Sie
also nicht ständig über etwas, was Sie im Alltag in
Wahrheit nicht wollen, sondern setzen Sie sich als Parla-
mentarier und Parlamentarierinnen so durch, wie die
Kollegin Künast es gesagt hat! Unsere Unterstützung ha-
ben Sie. Aber machen Sie das nicht nur für die DAX-
Vorstände, sondern auch für die, die es verdammt schwer
haben, für gute Arbeit endlich gutes Geld zu bekommen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709017700

Nächster Redner ist der Kollege Marco Buschmann

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1709017800

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nichts hat das Desinteresse von Herrn Gabriel
am Thema so belegt wie diese Rede. Sie haben nicht zur
Sache gesprochen,


(Elke Ferner [SPD]: Was?)


sondern Sie haben die Aktuelle Stunde missbräuchlich
zum Forum für eine Wahlkampfrede gemacht, die zum
Thema dieser Aktuellen Stunde nichts beigetragen hat.
Nichts dokumentiert das Desinteresse mehr als dieser
Beitrag.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Jetzt kommen wir zurück zur Aktuellen Stunde, in der
es eigentlich um zwei Themenbereiche geht. Der eine
betrifft, wenn ich es so nennen darf, den Vorwurf der
Vielstimmigkeit in der Bundesregierung, der andere be-
trifft die Frage, warum man nicht mit starren Quoten ar-
beitet. Auf beides möchte ich jetzt eingehen, weil ich das
für ein wichtiges Thema halte.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tut man doch jetzt schon! 100 Prozent!)


Frau Künast, es ist ganz interessant – den Ball nehme
ich auf –, dass Sie der Bundesregierung den Vorwurf der
Vielstimmigkeit machen. Ich kann erst einmal nicht er-
kennen, was ein Problem daran sein soll, mit unter-
schiedlichen Arbeitshypothesen in eine Diskussion zu
gehen. Zu diskutieren, muss auch einer Bundesregierung
möglich sein. Dass Sie, ausgerechnet die Grünen, der
Bundesregierung Vielstimmigkeit vorwerfen, ist doch
ein Treppenwitz. Ich darf Sie an eines erinnern: Ihre Par-
teivorsitzende Claudia Roth, die das Thema offensicht-
lich nicht ausreichend interessiert, um hier an der De-
batte teilzunehmen, konnte es gar nicht abwarten, um
sich auf Frau von der Leyen zu stürzen, als sie ihr Mo-
dell vorstellte. Sie hat dann den Vorwurf erhoben – ich
darf die dpa vom 31. Januar zitieren –, das sei eine Mo-
gelpackung, weil sich der Vorschlag nur auf die börsen-
notierten Unternehmen beziehe, also die großen Unter-
nehmen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Plus mitbestimmungspflichtige!)


Das sei das Schlechte an dem Vorschlag. Das Interes-
sante ist, dass die grünen Fachleute, wenn sie hier An-
träge stellen, genau das fordern. Zuletzt haben sie das in
der Drucksache 17/3296 gefordert. Da heißt es wörtlich:

Der Mindestquote unterfallen börsennotierte und
der Mitbestimmung unterliegende Gesellschaften.

Es sind also nur große Unternehmen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beide! Sie können nicht rechnen! Das ist ein Unterschied von 3 DAX-Unternehmen oder 5 000 Unternehmen!)


Es ist doch ein Treppenwitz, dass Sie Frau von der
Leyen ausgerechnet in dem Punkt einen Vorwurf ma-
chen, bei dem Gemeinsamkeiten mit den Grünen beste-
hen. Das zeigt: Frau Roth ging es überhaupt nicht um die
Sache – sie hat sich damit überhaupt nicht vertraut ge-
macht –, sondern ihr ging es nur um Verhetzung eines
Mitglieds der Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie hatte dabei so viel Schaum vorm Mund, dass sie gar
nicht mehr erkennen konnte, was die eigenen Fachleute
vortragen. Das ist eben auch eine Form von Misstrauen.

Nun komme ich zur Frage der Quote und der Frage,
warum wir uns in der Koalition und auch in der Regie-
rung dagegen entschieden haben. Einmal ist aus gesell-
schaftsrechtlicher Sicht – ich stehe ja als Rechtspolitiker





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)

hier – darauf hinzuweisen, dass es Kollateralschäden
auch in Norwegen gibt. Sie alle kennen die Beispiele:
Rechtsformwechsel, Delistings, also die Rückgabe der
Börsennotierung. Sie alle wissen auch, dass die Quote
eben nicht über Nacht dazu geführt hat, dass mehr
Frauen in Verantwortung kommen. Vielmehr konzen-
triert schlichtweg die gleiche Anzahl an Frauen mehr
Mandate auf sich. Das hat in Norwegen zu dem ganz un-
angenehmen Effekt geführt, dass mittlerweile eine neue
Diskriminierung umgeht. Es geht der Begriff der „Gold-
röcke“ um. Man schaut eben nicht mehr auf die Leistun-
gen der Frauen, sondern macht ihnen neue Vorwürfe.
Das ist kein Vorteil für die Frauen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie verweigern sich auch einer fundierten Analyse.
Frau Künast knüpft immer an die Berufsabschlüsse an
und zieht dann den Rückschluss auf die berufliche Kar-
riere. Das Entscheidende ist doch, was dazwischen pas-
siert. Wenn wir in die Erwerbsbiografien schauen, stel-
len wir fest, dass der entscheidende Dreh für den Sprung
in diese Führungspositionen irgendwo zwischen 35 und
40 Jahren gesetzt wird. Da kommt der große Swing.


(Lachen bei der SPD – Caren Marks [SPD]: Der Mann hat wirklich Angst vor guten Frauen! Sie sind den Kinderschuhen nicht entwachsen!)


Es ist auch hochinteressant, zu sehen, dass viele top aus-
gebildete, kluge und auch erfolgreiche Frauen genau in
diese Zeit die Kinderphase legen.


(Caren Marks [SPD]: Wann haben denn die Männer ihre Kinderphase? Sie sind immer noch in der Kinderphase! – Weitere Zurufe von der SPD)


Das heißt doch, dass das Thema der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf und nicht die Quote das Entschei-
dende ist.


(Beifall bei der FDP)


Ich sage Ihnen an einem Beispiel, wie das Frauen, die
beruflich sehr erfolgreich sind, sehen. Ich möchte
Daniela Weber-Ray, eine fantastische Frau, zitieren. Sie
ist Partnerin einer internationalen Sozietät, und sie
schrieb im Handelsblatt vor zwei Tagen:

Wir brauchen Unterstützung des Staates nicht hin-
sichtlich einer gesetzlichen Quote, sondern um den
Wandel der KKK-Kultur weg von Kinder, Küche,
Kirche hin zu Kinder, Krippe, Karriere zu vollzie-
hen.

Das ist es, worum wir uns kümmern müssen.


(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann haben Sie denn Ihre Kinderphase?)


Zuletzt möchte ich Sie noch an etwas erinnern. Sie
tun immer so, als würde in Deutschland nichts passieren.
Es ist eine ganze Menge passiert, seit diese Regierung
im Amt ist. Insofern möchte ich der Kollegin Dorothee
Bär beipflichten. Seit 2010 – nach der Regierungsüber-
nahme –


(Caren Marks [SPD]: Wurden wir Frauen permanent verschaukelt!)


haben wir einen geänderten Corporate-Governance-Ko-
dex, der jetzt auf mehr Diversity inklusive stärkerer Be-
teiligungen der Frauen setzt.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Oh!)


Und siehe da: Wir haben eine zuständige und anwesende
Ministerin, die die Wirtschaft in die Pflicht nimmt. Seit-
dem sehen wir doch, dass etwas passiert. Wir sehen es
bei Eon und bei der Telekom. Daimler bringt Kandida-
tinnen ins Spiel, Karstadt bringt Kandidatinnen ins Spiel.


(Zurufe von der SPD: Massenhaft!)


Die extrem prominenten Personalmaklerinnen Christine
Stimpel und Yvonne Beiertz sagen doch, sie kommen bei
der Vermittlung weiblicher Führungskräfte der Nach-
frage gar nicht mehr hinterher.

Das mag noch zu langsam sein. Vielleicht können wir
es uns schneller vorstellen. Aber man kann Strukturen,
die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte falsch einge-
pendelt haben, nicht mit Gewalt über Nacht ändern.

Wir gehen einen Weg, der zielgerichtet ist, und wir
werden Erfolg haben. Im Ergebnis muss man Ihnen,
Herr Gabriel und Frau Künast, sagen: Der Anlass dieser
Aktuellen Stunde war nicht die Sache. Sie wollten hier
Wahlkampf machen und mehr nicht. Das hat das Thema
nicht verdient. Dafür ist es zu wichtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709017900

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun

Monika Lazar das Wort.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709018000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Buschmann, Sie waren leider wieder der Tiefpunkt
der Debatte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Der Tiefflieger!)


Ich weiß ja nicht, wo die Männer die gebärfähige
Phase setzen. Aber wenn Sie eins und eins zusammen-
zählen können, kommt vielleicht auch bei Ihnen an, dass
die 30- bis 40-jährigen Frauen dort hineinfallen. Viel-
leicht sind Sie irgendwann lernfähig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir diskutieren hier ein Thema, und ich habe das Ge-
fühl, wir kommen nur sehr mühsam voran. Es ist wirk-
lich absurd, dass eine allgemein als wichtig anerkannte
Maßnahme nicht umgesetzt wird. Sogar die FDP disku-
tiert wieder über eine parteiinterne Quote. Holen Sie
sich eventuell bei der Kollegin Bär von der CSU Anre-
gungen. Die haben das vor kurzem geschafft.





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)

Das Schauspiel, das die Koalition und die Bundesre-
gierung zu diesem Thema aktuell liefern, befindet sich
leider auf Boulevardniveau. Deutschlands Männer und
Frauen schauen fassungslos auf das peinliche Stück. Da-
bei wäre es längst Zeit für Nägel mit Köpfen.


(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Noch nie wurde so viel über die Quote geschrieben!)


Stattdessen haben wir das Machtwort der Kanzlerin, die
der Frauenquote wieder einmal eine Absage erteilt. Sie
trifft sich lieber gemeinsam mit Ministerin Schröder mit
Vertretern der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Im-
merhin glauben Letztere nicht mehr, dass der Frauenan-
teil in Deutschlands Wirtschaft von alleine steigt. Arbeit-
geberpräsident Hundt erklärt aber, dass mehr als 95 Pro-
zent aller Unternehmen bereits Modelle zur Arbeitszeit-
flexibilisierung anbieten. Ich frage mich: Warum braucht
es die x-te Charta dazu? Bezeichnend ist, dass die Charta
wieder einmal von vier Männern unterzeichnet wurde.
Erfrischend war auch, in den letzten Tagen zu hören, was
Herr Ackermann dazu gesagt hat: Frauen in Führungs-
positionen machen das Leben „farbiger“ und „schöner“.
Da ätzten selbst das Handelsblatt und Ministerin Aigner,
das sei doch ein typischer Ackermann, nach dem Motto
„Unser Vorstand soll schöner werden.“

Kanzlerin Merkel hat zumindest erkannt: Es ist ein
„ziemlicher Skandal“, dass wir kaum Frauen in Füh-
rungspositionen haben. Aber skandalöse Zustände än-
dert man doch nicht mit einer Charta oder einer Verein-
barung. Wir haben in den letzten zehn Jahren gemerkt,
dass die Wirtschaft nichts von alleine macht. Die freiwil-
lige Vereinbarung von 2001 wurde von Frau Bär schon
breit zitiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, wir sind alle etwas weitergekommen, und es hat
sich herausgestellt, dass einfach nichts passiert. Von da-
her: Bitte keine weiteren freiwilligen Vereinbarungen
und Chartas.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ministerin Schröder spricht immer von der staatlichen
Einheitsquote. Schauen Sie bitte über den Tellerrand –
die Beispiele sind heute schon genannt worden – nach
Frankreich, Spanien oder Norwegen. Überall hat man
gemerkt: Ohne Quote geht es nicht. Wenn Ihnen das
Wort Quote nicht gefällt, dann nehmen Sie bitte ein an-
deres Wort. Es ist uns völlig egal. Sie können „Frauen-
qualität“ sagen oder was auch immer. Es kommt nicht
auf das Wort an, sondern es kommt darauf an, dass sich
in unserem Land etwas bewegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


In Deutschland gibt es beispielsweise Unterschiede
zwischen Ost und West. Die wenigen Frauen in den Füh-
rungspositionen finden sich häufiger im Osten unseres
Landes. Das zeigt eine aktuelle Studie des IAB. Eine Ur-
sache ist zum Beispiel die kürzere Unterbrechung der
Erwerbstätigkeit. Das liegt unter anderem an der besse-
ren Kinderbetreuung im Osten. Eine weitere Kompo-
nente kommt hinzu: Im Osten war die Vollzeiterwerbstä-
tigkeit von Frauen völlig normal und auch die
Übernahme von Führungspositionen viel anerkannter,
als es teilweise noch heute im Westen der Fall ist. Ich
finde, das ist ein Beispiel, bei dem der Westen einmal et-
was vom Osten lernen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ein weiteres Argument ist der gerade vorgestellte
Gleichstellungsbericht des Familienministeriums. Auch
dort heißt es: Die Quote ist erforderlich. – Ich frage mich
wirklich: Welche Argumente brauchen Sie noch? Auch
Frau Kollegin Grütters wurde heute schon zitiert. Sie
sagt, es wäre naiv, weiter auf eine Selbstverpflichtung zu
setzen. Es ist schön, dass die Justizministerin anwesend
ist. Sie hat gestern eine Pressemitteilung herausgegeben.
Ich zitiere kurz daraus:

Dringender Handlungsbedarf besteht bei … Frauen
in Führungspositionen. Mehr Frauen in Spitzen-
positionen sind nicht nur im Interesse der Gesell-
schaft, sondern gerade auch im Interesse der Wirt-
schaft.

Das sehe ich genauso. Es ist ökonomisch völlig unsin-
nig, gut qualifizierte Frauen am Aufstieg zu hindern.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie macht doch gar nichts!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
macht endlich etwas und gebt nicht nur gute Pressemit-
teilungen heraus!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Über unseren Gesetzentwurf hat Renate Künast schon
etwas gesagt. Im Mai wird es eine Anhörung im Rechts-
ausschuss geben. Herr Buschmann, ich hoffe, dass auch
Sie dann endlich schlauer werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Begrüßenswert ist weiterhin, dass Nordrhein-Westfalen
jetzt eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat.

Zum Schluss meine Bitte: Lassen Sie uns endlich ge-
meinsam in unserem Lande handeln, damit wir von der
Position eines gleichstellungspolitischen Entwicklungs-
landes herunterkommen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709018100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth

Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1709018200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und

Kolleginnen! Wir diskutieren hier über die Äußerungen
der Ministerinnen und der Kanzlerin. Ich stelle zunächst





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

einmal fest: Diese Äußerungen haben dem Thema end-
lich die Bedeutung und die Aufmerksamkeit verschafft,
die es braucht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein PR-Gag!)


Machen wir uns nichts vor: Wir diskutieren seit Mo-
naten über einen konkreten Gesetzesvorschlag der Grü-
nen. Auch die Frauen in der Unionsfraktion haben Be-
schlüsse zum Thema gefasst und der Presse vorgestellt.
Es gab auch den einen oder anderen Artikel im Handels-
blatt und im Spiegel. Aber erst dieser Hintergrund, die
Diskussion im Kabinett, gibt dem Thema jetzt die Auf-
merksamkeit, die es verdient.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überzeugen Sie bitte auch Ihre Männer in der Fraktion!)


Wir haben ganzseitige Anzeigen im Handelsblatt, in
denen dazu aufgerufen wird: Macht es endlich freiwillig!
Sonst kommt die Quote. – Der Vorstandsvorsitzende der
Deutschen Bank – gerade schon genannt – meldet sich
zu Wort.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber peinlich!)


So manche Wortmeldung zeigt, dass diese Diskussion
sehr nötig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP])


Sie betonen vor allem die Unterschiede, die Unein-
heitlichkeit in den Äußerungen der Ministerinnen und
der Kanzlerin. Ich möchte zunächst einmal auf die Ge-
meinsamkeiten eingehen. Sie stimmen überein in dem
Befund, dass der Status quo völlig unakzeptabel ist, dass
es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und dass die Situa-
tion den Unternehmen schadet. Sie ist ungerecht für die
Frauen, die den gleichen Zugang einfach nicht erhalten,
obwohl sie die gleiche Qualifikation mitbringen. Über-
einstimmung besteht auch darüber, dass wir über einen
Mindestanteil in der Größenordnung von plus/minus
30 Prozent reden.

Ich möchte die Gelegenheit dieser Diskussion nutzen,
um noch einmal zu betonen: Die Quote oder eine grö-
ßere Frauenbeteiligung nützt vor allem den Unterneh-
men, nicht deshalb, weil Frauen durchweg besser sind
– es gibt auch gute Männer in diesen Gremien –, son-
dern deshalb, weil die Mischung unterschiedlicher Er-
fahrungen und Denkweisen zu besseren Ergebnissen
führt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn zehn Leute in einem Gremium den gleichen Hin-
tergrund haben, dann ist das schlichtweg zu schmalspu-
rig. Jeder, der mit einer anderen Erfahrung dazukommt,
ist eine Bereicherung. Das ist der Ansatz der Diversity.
Dafür kämen auch andere Kriterien infrage, aber „Ge-
schlecht“ ist sicherlich das Kriterium, das sich als Erstes
aufdrängt und das naheliegt. Das ist für diejenigen, die
sich mit dem Thema beschäftigen, mittlerweile wirk-
lich selbstverständlich. Wer das noch nicht mitbekom-
men hat, der kann sich gern einmal die Studien von
McKinsey und von Catalyst ansehen.

Nun müssen wir den Blick sicherlich auch auf die Un-
terschiede richten. Die Familienministerin hat einen Stu-
fenplan vorgelegt, der positive Elemente enthält.


(Caren Marks [SPD]: Was?)


Er umfasst auch die Vorstände.


(Elke Ferner [SPD]: Freiwillig, Frau Kollegin! Freiwillig!)


Zum ersten Mal wird auch das operative Geschäft in den
Blick genommen. Er hat ein flexibles Element; darüber
lässt sich sicherlich diskutieren. Er verlangt transparente
Angaben und Vergleichsmöglichkeiten. Ich bin davon
überzeugt, dass schon allein das Wirkung zeigen wird.

Ich kann mir hier eine Bemerkung nicht verkneifen:
Wenn damals die Vereinbarung zwischen dem Boss der
Bosse und der Wirtschaft


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hätten Sie gar nicht zugestimmt!)


so konkret gewesen wäre wie die jetzige Vereinbarung,
dann wären wir heute an einem anderen Punkt.


(Caren Marks [SPD]: Was hindert Sie daran, jetzt etwas zu tun?)


Ich kann mir auch nicht verkneifen, zu sagen, dass
unsere Partei diejenige ist, die die höchste Führungsposi-
tion, die dieses Land zu vergeben hat, mit einer Frau be-
setzt hat; wir stellen die Kanzlerin.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch das ist sicherlich etwas, was für die Frauen in
Deutschland Symbolwirkung hat.

Aber ich will auch nicht darum herumreden: Es gibt
wesentliche Unterschiede zwischen den Konzepten, was
die Verbindlichkeit angeht. Ich rede hier nicht zum ers-
ten Mal zum Thema Quote. Ich sage ganz klar: Es ist aus
meiner Sicht nicht ausreichend, wenn als schlimmste
Sanktion, als Worst Case, die Pflicht zur Selbstverpflich-
tung kommt, ohne Zeitplan, ohne feste Zielvorgaben,
ohne konkrete Sanktionen. Das kommt mir ein bisschen
so vor, als würde man den Aufsichtsräten sagen: Ihr
müsst jetzt hundertmal „Frauen in den Führungspositio-
nen in meinem Unternehmen sind wichtig und gut“
schreiben, und dann gehen wir wieder zur Tagesordnung
über.


(Caren Marks [SPD]: Ackermann muss es 500-mal schreiben!)


Man muss auch sehen: Die nächsten Wahlen zu den
Aufsichtsräten sind im Jahr 2013 und dann erst wieder
2018. Nun muss es eine Zeitschiene geben; das ist ganz
klar. Aus meiner Sicht muss spätestens für 2018 wirklich
verbindlich gesetzlich geregelt sein, was passiert.


(Elke Ferner [SPD]: Mein Gott, was für eine Perspektive, Frau Kollegin!)






Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

Dafür brauchen wir diese gesetzliche Regelung schon
jetzt. Das macht dann bereits für 2013 einen Unter-
schied. Wenn man weiß: „2018 gibt es keinen Weg mehr
daran vorbei“, dann wird man schon 2013 mit einer an-
deren Einstellung darangehen.


(Elke Ferner [SPD]: Oh, wie ärmlich!)


Wenn wir aber sagen: „Macht mal bis 2013, dann
schauen wir, ob wir etwas anderes brauchen“, dann ist
die Dynamik aus der Sache heraus, und wir werden nicht
entsprechend weiterkommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ohne verbindliche Regelungen am Horizont werden
sich die Closed Shops nicht öffnen. Sie schließen quali-
fizierte Frauen aus; sie schließen aber auch gute Männer
aus, die nicht ins Schema passen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wie fest da die Strukturen gefügt sind, das hat uns das
manager magazin gerade noch einmal beschrieben.
Wenn man das liest, dann stellt man fest, dass das nichts
mit Bestenauslese zu tun hat, sondern dass es dabei um
Dinge wie Männerfreundschaften, Bergtouren, Jagder-
lebnisse und dergleichen geht. Von VW wissen wir ja,
was noch so infrage kommt, um die Gruppendynamik zu
stärken.

Ich habe nichts gegen Männerfreundschaften und
Freizeit ohne Frauen, aber das kann nicht das Kriterium
sein, wenn es um Führungspositionen in der deutschen
Wirtschaft geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb lautet mein Petitum: Wir brauchen einen Stu-
fenplan. Wir müssen darüber im Gespräch bleiben, bei
allen, die es brauchen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709018300

Nun hat das Wort die Kollegin Dagmar Ziegler für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1709018400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie so oft in dieser Wahlperiode haben wir miterleben
müssen, wie sich diese Koalition in Widersprüchen und
gegensätzlichen Haltungen überbietet. Ob bei den Haus-
haltsdiskussionen, in der Steuerpolitik, bei Hartz IV oder
in der Außenpolitik, immer gab es etwas anderes, aber
leider nie etwas Besseres aus dem Regierungslager.

Nun hat Frau Ministerin von der Leyen die Quote für
Frauen in Führungspositionen für sich entdeckt, und das
zu einem Zeitpunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo
sie eigentlich ganz andere Sorgen umtreiben müssten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Erinnern wir uns noch einmal kurz: Nach Monaten des
Nichthandelns bzw. Nichtverhandelns nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgericht zum SGB II rettete sich
Frau von der Leyen mit einer ziemlich sinnfreien Chip-
kartendiskussion öffentlichkeitswirksam über das Som-
merloch, um uns danach vorzuwerfen, wir würden mit
ihr nicht über die Umsetzung des Verfassungsgerichtsur-
teils reden wollen.

Nun entdeckt sie ihre ganz persönliche Betroffenheit
und Sorge um die vielen Frauen in unserem Lande, die
gut ausgebildet sind, aber nicht in führenden Positionen
der Wirtschaft zu finden sind, und das wieder sehr öf-
fentlichkeitswirksam. Da stört sie auch nicht ihre gegen-
sätzliche Haltung zur Familienministerin, auch nicht ihre
gegensätzliche Haltung zur Bundeskanzlerin. Nein, sie
kocht ihr ganz persönliches Süppchen, um sich zu profi-
lieren und wieder einmal von der Verhandlungsschwä-
che der Koalition im Vermittlungsausschuss abzulenken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rita Pawelski [CDU/CSU]: Dass Sie sich dazu hergeben, ist wirklich schlimm! – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?)


Die Bundeskanzlerin hat sie ja nun wieder ins Glied
zurückgeschickt. Was kommt nun für die Frauen in unse-
rem Land dabei heraus? Nichts, wieder einmal gar
nichts.


(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Peinlich, peinlich!)


Vorhin haben Sie mit vielen schrägen Argumenten einen
Antrag zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns
abgelehnt, wohl wissend, dass 70 Prozent der Beschäf-
tigten in der Niedriglohnbranche Frauen sind. Es wurde
auch schon dreimal festgestellt, dass weder eine Arbeits-
ministerin noch eine Familienministerin noch eine Bun-
deskanzlerin dafür Interesse zeigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frauen haben es
einfach nicht verdient. Es ist wirklich eine Frechheit, dass
ihre Interessen für Machtspielchen von drei Doktorin-
nen, die es in Führungspositionen geschafft haben – Frau
Schröder im Übrigen auch durch die Hessen-Quote –,
missbraucht werden.

Sie, liebe Koalitionäre, haben jetzt wirklich die ver-
dammte Pflicht – ich bin für viele Ihrer Redebeiträge
sehr dankbar –, diesem Eindruck entgegenzutreten. Un-
terstützen Sie die Einführung einer gesetzlichen Quote
nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im öffentlichen
Dienst, auch in den Hochschulen und in der Wissen-
schaft! Unterstützen Sie gesetzliche Regelungen zur Ent-
geltgleichheit! Machen Sie auch wirklich deutlich, dass
es Ihnen tatsächlich ernst ist mit Gleichstellung in unse-
rem Lande! Diesen Beweis sind Sie uns noch schuldig.





Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709018500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ewa Klamt für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ewa Klamt (CDU):
Rede ID: ID1709018600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Man kann die Zahlen nicht oft genug nen-
nen: Frauen stellen 55,7 Prozent der Abiturienten in
Deutschland, 51 Prozent der Hochschulabsolventen, rund
44 Prozent promovieren im Anschluss. Diese Zahlen
zeigen das Potenzial junger, gut ausgebildeter Frauen in
unserem Land auf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie es in den Aufsichtsräten aussieht, wissen wir: ge-
rade einmal 10 Prozent Frauen. Nur 3,2 Prozent Frauen
bekleiden Vorstandsposten. In den 30 DAX-Unterneh-
men sind von 182 Vorstandsposten gerade einmal 4 mit
Frauen besetzt; das sind 2,2 Prozent. Wir müssen also
feststellen: Irgendwo nach Abitur, Studium und Sprung
in die Arbeitswelt verlieren wir viel Frauenpotenzial.
Wir verlieren damit Arbeitskraft, Kreativität, Innova-
tionsfähigkeit und Wissen. Wir verschenken viel unseres
Potenzials, obwohl doch feststeht, dass wir im weltwei-
ten Wettbewerb um die klügsten Köpfe stehen.

Über das Problem besteht meines Erachtens Einig-
keit; die Lösung ist jedoch strittig. Ich sage, dass man in
dieser Frage durchaus unterschiedlicher Meinung sein
kann. Dass wir innerhalb unserer Fraktion debattieren,
ist für mich kein Problem. Das ist vielmehr eine gute in-
haltliche Auseinandersetzung, und die hat noch nie ge-
schadet.


(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss aber auch zu Ergebnissen kommen!)


Das ist mir auf jeden Fall lieber als ein Bundeskanzler
Schröder, der vor gut einem Jahrzehnt bei Wein und
Zigarren der Wirtschaft versprochen hat, keine Maßnah-
men zur Steigerung des Frauenanteils in Spitzenpositio-
nen zu ergreifen.


(Elke Ferner [SPD]: Das will ja Frau Merkel fortsetzen!)


Dass die Frage „Frauenquote in Unternehmen“ äu-
ßerst unterschiedlich gesehen wird, zeigt auch die Dis-
kussion innerhalb der verschiedenen Generationen von
Frauen. Ich kann den Frust und den Ärger einer jeden
jungen Frau verstehen, wenn sie – berechtigterweise –
nach langer Ausbildung nach ihren Fähigkeiten und
nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden möchte.
Diese gut ausgebildeten Frauen sind jung, ungebunden,
flexibel und meist noch ohne Kinder. Sie befinden sich
am Beginn ihrer Karrieren, an einem Punkt, an dem in
der Regel noch keine gläserne Decke zu spüren ist. Eine
Frauenquote kommt aus ihrer Sicht einer Beleidigung
gleich, unterstützt durch das unschöne wie auch unsin-
nige Wort der Quotenfrau, das reflexartig die Debatte be-
gleitet.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie doch ein anderes Wort!)


Dem halte ich entgegen: Quote und Qualifikation schlie-
ßen sich nicht gegenseitig aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Gegenteil: Die Quote kann ein Instrument sein, der
Qualifikation zur vollen Entwicklung zu verhelfen;


(Zuruf von der SPD: Genau!)


denn leider – das sage ich mit absoluter Ernüchterung –
sind wir mit der freiwilligen Verpflichtung in den letzten
zehn Jahren keinen Schritt weitergekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der FDP)


An den nackten Zahlen hat sich seither wenig geändert.
Liegt es also daran, dass, wie uns die Wirtschaft immer
wieder gern erklärt, die Top-Positionen nur von den Bes-
ten eingenommen wurden? Ist es die männliche Exzel-
lenz, die gesiegt hat?


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eher nicht!)


Da sage ich etwas populistisch: Eine Weltwirtschafts-
krise hätte es dann wohl ebenso wenig wie eine Banken-
krise geben dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, ich bin ernüchtert. Auch
ich habe einmal zu jenen Frauen gehört, die glaubten,
dass wir Frauen die Zukunft gleichberechtigt mit den
Männern gestalten.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Ich auch!)


Als ich 18 war, sprach kein Mensch über eine Quote. Im
Gegenteil, mein Vater sagte mir mit großer Begeiste-
rung: Du gehörst der Generation Frauen an, denen auf-
grund von Bildung und guter Ausbildung alle Türen of-
fenstehen. – Wenn mir damals jemand vorausgesagt
hätte, dass ich fast 40 Jahre später im Deutschen Bun-
destag konstatieren muss, dass in Deutschland die Teil-
habe von Frauen in den höchsten Positionen der Wirt-
schaft auf einer Stufe mit Indien steht und damit
weltweit den letzten Platz einnimmt, hätte ich schallend
gelacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Heute sage ich: Wenn wir einer der leistungsstärksten
Wirtschaftsräume der Welt bleiben wollen, können wir
es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf das vorhandene
Potenzial von Frauen zu verzichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)






Ewa Klamt


(A) (C)



(D)(B)

Kluge Unternehmer haben das selbst erkannt: Hoch-
qualifizierte, kreative und motivierte Frauen sind nach-
weislich gut für den wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb er-
warte ich, dass die Unternehmen bei der Neubesetzung
der Aufsichtsräte im Jahr 2013 beweisen, dass sie
Frauen in Führungspositionen wollen. Wenn nicht, müs-
sen andere Mittel greifen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben so gut angefangen, Frau Kollegin!)


Die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding gibt
der Wirtschaft nur noch eine begrenzte Schonfrist. Wenn
die Konzerne nicht selbst aktiv werden, will Brüssel
rechtliche Vorgaben für eine Frauenquote in Aufsichtsrä-
ten machen. Das kann ich dann nur unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709018700

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Christel Humme für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1709018800

Frau Klamt, Sie haben gut angefangen. Ich hatte ge-

hofft, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden;
aber Sie haben an dieser Stelle wieder einmal Ihre
Chance verpasst.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ihr habt nicht einmal angefangen!)


Ich bin die letzte Rednerin und habe die Chance, alles
auf den Punkt zu bringen, was vorhin gesagt worden ist
und was in den letzten drei Wochen passiert ist. Ich muss
schon feststellen, dass die Bundesregierung so etwas wie
Realsatire gezeigt hat. Denn was haben wir erlebt? Was
ist passiert? Die Frauen in der Bundesregierung streiten
über die gesetzliche Frauenquote; die Männer in der
Wirtschaft reiben sich die Hände und behalten dank Frau
Merkel erst einmal ihre Macht. Klassisch, oder?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])


Wir alle haben noch die Ratschläge der Kanzlerin und
der Frauenministerin im Ohr. Sie haben den Frauen gera-
ten: „Seid mutiger und tougher gegenüber euren Chefs,
dann klappt es mit der Karriere und mit der Bezahlung.“
Dazu muss ich sagen: Die Frauen in der Bundesregie-
rung waren wirklich ein sehr schlechtes Vorbild. Nach
welchem Vorbild sollen sich die Frauen richten? Die
Frauen in der Bundesregierung haben nämlich gezeigt,
dass sie ohnmächtig sind; sie haben ihre Ohnmacht do-
kumentiert und erneut deutlich gemacht, wer in der Bun-
desrepublik eigentlich das Sagen hat. Auch hier zeigt
sich wieder das Markenzeichen von Schwarz-Gelb,
nämlich Klientel- und Lobbypolitik statt Politik für die
Frauen.

(Beifall bei der SPD – Rita Pawelski [CDU/ CSU]: Christel, du warst doch selber dabei, als Schröder euch gezeckt hat!)


– Ja, keine Angst, Rita, ich komme gleich noch darauf.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Kanzlerin hat
ein Machtwort gegen die Frauen gesprochen – das haben
wir gehört –: Sie lehnt die gesetzliche Quote ab und setzt
auf Freiwilligkeit. Dabei ist der Handlungsdruck – das
wissen wir alle ganz genau – sehr groß.

Frau Bracht-Bendt, Sie unterhalten sich gerade so
nett. Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Bracht-
Bendt von der FDP, gesagt haben, eine Frauenquote dis-
qualifiziere die Frauen. Dann frage ich Sie allen Ernstes:
Warum hat der Bundesvorstand der FDP kürzlich – er
kommt auf die Spur – eine 30-Prozent-Frauenquote für
die Parteigremien beschlossen? Warum hat der Frauen-
verband der FDP gesagt: „Das reicht uns nicht, wir brau-
chen eine 40-Prozent-Quote“?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Inwiefern ist das eine Disqualifizierung der Frauen?


(Zuruf der Abg. Nicole Bracht-Bendt [FDP])


– Wir werden Ihren Bundesparteitag sehr gut beobach-
ten.

Der Handlungsdruck ist natürlich immens. Wir stehen
im europäischen Vergleich nicht besonders gut da. Wir
sind keineswegs ein Exportland, wenn es um Gleichstel-
lung geht. Im Gegenteil: Wir sind hier ein Entwicklungs-
land; bei uns ist die auch heute viel zitierte gläserne De-
cke immer noch aus Panzerglas.

Wir wissen auch, warum das so ist. Ja, wir haben
2001 eine freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaft
geschlossen. Wir waren dabei: Frau Ferner, ich und an-
dere. Wir wissen noch ganz genau, dass wir gesagt ha-
ben: Wenn die freiwillige Vereinbarung kein Ergebnis
zeitigt, dann kommt ein Gesetz zur Verpflichtung der
Privatwirtschaft. Das war die Ausgangssituation.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir hatten aber Pech: Es kam zu einer Großen Koali-
tion, und wir mussten Koalitionsverhandlungen mit Frau
von der Leyen führen.


(Caren Marks [SPD]: Die war dagegen!)


Das Thema einer gesetzlichen Frauenquote war in den
Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht zu setzen; das
muss man an dieser Stelle feststellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Insofern verstehe ich Sie, Frau Bär und Frau Schön,
überhaupt nicht. Kritisieren Sie doch nicht dauernd die
Freiwilligkeit! Was wollten wir damals erreichen? Wir
wollten mehr Chancengleichheit für Frauen im Berufsle-
ben. Wir wollten mehr familienfreundliche Betriebe. Wir
wissen, die Bilanz ist ernüchternd. Aber was haben Sie
daraus gelernt, Frau Bär?





Christel Humme


(A) (C)



(D)(B)


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was war denn 2002 bis 2005?)


– Sie können nur schreien! Hören Sie bitte zu!


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen zugehört!)


Was haben Sie vor zwei Tagen gemacht? Sie haben die
Wirtschaft eine Charta für familienfreundliche Arbeits-
zeiten unterschreiben lassen.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das hat doch überhaupt nichts mit dem Thema zu tun!)


Was haben Sie genau getan? Sie haben einen Teil aus der
freiwilligen Vereinbarung von 2001 herausgepickt und
„Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten“ genannt.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ein zusätzlicher Baustein! Was war denn mit Renate Schmidt und Frau Bergmann?)


Sie haben den Leuten suggeriert, dass Sie etwas Neues
machen,


(Caren Marks [SPD]: Alter Wein in neuen Schläuchen!)


aber in Wirklichkeit führen Sie sie an der Nase herum,
weil Sie nämlich gar nichts tun für familienfreundlichere
Arbeitszeiten. Das ist das Schizophrene an der Situation.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Alle zehn Jahre neue Unterschriften sind kein Fortschritt
für uns. Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Das wäre
unserer Meinung nach ein Fortschritt.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was war denn 2002 bis 2005?)


– Frau Bär, lassen Sie das doch einmal sein. Das Herum-
schreien bringt doch nichts.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sagen Sie das einmal Ihrer Fraktion!)


Wir wollen – das ist ganz klar – eine Quote von
40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlich
regeln. Dabei geht es uns nicht nur um die Topmanage-
rin – das wurde vorhin zwar schon gesagt, aber das
möchte ich trotzdem noch einmal deutlich machen –,


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Um was geht es denn?)


sondern es geht uns um die gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen am Arbeitsmarkt insgesamt. Das ist das Ent-
scheidende.

Leider müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass zwar
die Frauenerwerbsquote gestiegen, aber das Arbeitsvolu-
men gesunken ist.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer wird jetzt Kanzlerkandidatin der SPD? – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Die Kanzlerin tut doch nichts!)

Es hat eine Umverteilung der Arbeit unter Frauen statt-
gefunden. Die Frauen haben einen sehr hohen Preis da-
für bezahlt.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Frau Nahles hat Angst, von ihrer eigenen Fraktion weggelobt zu werden! Das ist die Realität! Warum hat sie denn Angst vor ihrer eigenen Fraktion? Das ist ja ganz schlimm, was da vor sich geht! Frauenmobbing! Pfui!)


Ein Großteil der Frauen ist trotz eigener Erwerbstätigkeit
von einer eigenständigen Erwerbssicherung weit ent-
fernt. Ich habe erwartet, dass die Frauenministerin und
die Arbeitsministerin Schritte in Richtung eines gesetzli-
chen Mindestlohns einleiten; denn der hätte den Frauen,
die häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, gehol-
fen.


(Beifall bei der SPD)


Aber auch hier stelle ich fest: Nichts tun und Klientel-
politik, das sind Ihre Markenzeichen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709018900

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting),
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars
Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertrie-
benen – Aussöhnung vollenden

– Drucksachen 17/4193, 17/4651 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn)

Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth (Augsburg)


Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe, damit
sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.

Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte
beiwohnen wollen, ihre Plätze einnehmen würden, wäre
ich dankbar; denn dann können wir uns auf die Redner
konzentrieren.





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1709019000

Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen heute über den
Antrag der Koalitionsfraktionen „60 Jahre Charta der
deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollen-
den“ abschließend beraten und entscheiden.

Das Ziel unseres Antrags ist klar: Wir wollen an die in
Stuttgart am 5. August 1950 erfolgte Proklamation der
Charta der Heimatvertriebenen erinnern und anlässlich
dieses Jubiläums erneut die Leistung der Heimatvertrie-
benen unterstreichen. Wir wollen erreichen, dass der
Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahn-
mal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und auf den
Beitrag von Vizepräsident Wolfgang Thierse eingehen,
den der Kollege Thierse als Gegner unseres Antrags bei
der ersten Lesung am 16. Dezember 2010 hier zu Proto-
koll gegeben hat, auf den ich daher erst heute hier im
Plenum Bezug nehmen kann.

Verehrter Herr Kollege Thierse, Sie haben sich in Ih-
rer Rede erkennbar bemüht, den Erwartungen Ihrer
Partei zu entsprechen, denen zufolge wie in einem
Pawlow’schen Reflex alles abzulehnen ist, was irgend-
wie mit dem Bund der Vertriebenen zu tun hat.


(Dr. Lukrezia Jochimsen von kann nicht die Rede sein! Sie haben sich dieser wenig schmückenden Aufgabe achtbar entledigt, obwohl es Ihnen stellenweise schwergefallen sein dürfte, dem in Wahrheit durchweg legitimen Ansinnen unseres Antrags zu widersprechen. So sprachen Sie etwa gleich einleitend von einer angeblich viel zu späten Vorlage des Antrags – Monate nach dem 5. August –, bewerteten aber den Antrag im nächsten Atemzug als Schnellschuss. Was soll es denn jetzt sein? Zu langsam oder zu schnell? Beides zusammen geht nicht. Zum 5. August 1950 möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Am 5. August 1950 ist mit der Charta der Heimatvertriebenen ein einzigartiges Dokument verabschiedet worden. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das kann man wohl sagen!)


Wir unterstützen mit unserem Koalitionsantrag die heute
in Stuttgart von dem baden-württembergischen Minister-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1709019100

Dieser Tag hätte es verdient, zu einem nationalen Ge-
denktag in Deutschland zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Thierse, inhaltlich gravierend waren ei-
nige Ausführungen von Ihnen an anderer Stelle, auf die
ich eingehen muss. Als Sie den verdienstvollen Verzicht
der Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung er-
wähnten, relativierten Sie diesen mit dem Hinweis, als
Angehörige der Kriegsverursachernation Deutschland
habe den Vertriebenen gar keine Rache zugestanden, und
man könne es schlecht als Leistung betrachten, auf etwas
zu verzichten, das man gar nicht beanspruchen dürfe.

In der Ausschussberatung haben Sie sich verstiegen,
zu sagen – nachzulesen auf Seite 5 der Beschlussemp-
fehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und
Medien –, dies sei ein „moralisch skandalöser Satz“.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Ihnen mit folgendem Zitat entgegnen:

Die Charta der Heimatvertriebenen hat dabei

– „an einem menschlichen und toleranten Deutschland“ –

eine wichtige Rolle gespielt. Zwei Punkte möchte
ich daraus hervorheben, die auch in Zukunft nicht
vergessen werden dürfen: Da ist zunächst der Ver-
zicht auf Rache und Vergeltung.

So Sigmar Gabriel, weiland Ministerpräsident des Lan-
des Niedersachsen und jetzt Vorsitzender der Sozialde-
mokratischen Partei Deutschlands.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Zypries [SPD]: Deshalb brauchen wir doch keinen Gedenktag!)


Ist das ein moralisches Skandalon, Herr Kollege
Thierse?

Der Kollege Thierse kritisiert auch das Ziel unseres
Antrags, dem Thema Vertreibung mehr wissenschaftli-
che Aufmerksamkeit zu schenken. Herr Thierse, Sie hal-
ten die für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ veranschlagten Forschungsgelder für zu hoch und
wollen den postulierten Nachholbedarf in der Forschung
nicht erkennen. So Ihre Ausführungen am 16. Dezember
2010 ausweislich Ihrer Protokollerklärung im Deutschen
Bundestag.

Gerade gegenwärtig mehren sich indessen die Stim-
men von wissenschaftlicher Seite, dass die Aufarbeitung
des Leids der deutschen Heimatvertriebenen zu den be-
sonders drängenden Desideraten der Forschung gehört.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau! Richtig!)


Das Hamburger Magazin Der Spiegel, das nicht gerade
im Verdacht steht, das Hausblatt des Bundes der Vertrie-
benen zu sein, hat in diesen Tagen in seiner renommier-
ten Historienreihe eine aktuelle Sonderausgabe zum
Thema Vertreibung herausgebracht mit dem Titel: „Die
Deutschen im Osten – Auf den Spuren einer verlorenen
Zeit“. Selbst Spiegel Online widmet sich dem Thema mit
einem Beitrag mit dem Titel: „Damals in Ostpreußen“.
Ich zitiere von Seite 15 dieser Schrift, dass die Deut-
schen und ihr verlorener Osten ein noch immer nicht er-
ledigtes Kapitel der deutschen Historiografie seien.

Tatsächlich bietet die Vertreibung der Deutschen viel
Stoff, der es verdient, bewahrt, aufgearbeitet und weiter-





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

gegeben zu werden, gerade auch an die jüngere Genera-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jede Ge-
schichte von Flucht und Vertreibung ist es wert, dass
man sie hört.


(Zuruf von der FDP: Richtig!)


Das sagt im Übrigen der bekannte polnische Regisseur
Jan Klata, dem das Thema sehr am Herzen liegt. Vertrei-
bung, so Klata in der besagten Spiegel-Ausgabe, sei eine
Geschichte von einem Menschheitstrauma, das sich täg-
lich wiederholt: in Darfur, im Kosovo, in Bosnien. Ich
finde, er hat recht.

In der Tat kann man viel erfahren, wenn man sich dem
Thema Vertreibung als Bestandteil der eigenen National-
identität stellt und mehr über das in Erfahrung bringt,
was die Ostgebiete für Deutschland einst bedeutet haben.

Ich war zum Beispiel überrascht, im Heft des Spiegels
von der deutschen Gemeinde Budakeszi zu erfahren. Bu-
dakeszi liegt bei Budapest und ist mir als ungarischer
Partner der Stadt Neckarsulm bekannt, der größten
Landkreisgemeinde in meinem Wahlkreis. Dass Buda-
keszi von Deutschen gegründet wurde, von Donau-
schwaben, und noch heute viele Deutsche dort leben, da-
runter auch die Verwandten des hier im Hause nicht ganz
unbekannten Grünenpolitikers Joschka Fischer, war mir
neu. So lernt man immer dazu. Es gibt viele solche In-
formationen, die in Vergessenheit geraten sind, aber wie-
derbelebt werden sollten, weil sie zur Geschichte unse-
res Volkes gehören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gute ist: Man kann dieses Wissen unschwer er-
werben, wenn man die Forschung hinreichend unter-
stützt und das Thema Vertreibung ohne ideologische
Scheuklappen angeht. Dies tut übrigens seit Jahren der
Literaturnobelpreisträger Günter Grass, zu dessen nach
meiner Auffassung nicht geringsten Verdiensten gerech-
net werden darf, dass er die jahrzehntelange Verdrän-
gung des Themas Vertreibung als „bodenloses Versäum-
nis“ erkannt hat. Er machte diese Verdrängung mithilfe
eines Romans rückgängig und führte so das Thema
Flucht und Vertreibung einer breiteren Öffentlichkeit zu.
Grass dabei zu unterstützen, das von ihm erkannte und
so benannte Versäumnis wiedergutzumachen, ist ein
Zweck – und nicht der geringste – unseres Antrags.
Nicht mehr und nicht weniger.

Damit komme ich zum Schluss und plädiere in die-
sem Sinne erneut und eindringlich für die Zustimmung
zu diesem Antrag. Wenn Sie von der Opposition diese
Zustimmung nicht uns zuliebe gewähren wollen, so tun
Sie es zumindest aus Respekt vor Günter Grass, der ja,
wenn ich richtig informiert bin, seit Jahrzehnten ein en-
gagiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands ist.


(Zurufe von der LINKEN)


Tun Sie es Ihrem Genossen zuliebe und dokumentieren
Sie damit auch, dass Sie nicht zu systematischen Ver-
drängern und bodenlos Säumigen gehören wollen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709019200

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse für

die Fraktion der SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709019300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

nicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruch-
nahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher ent-
setzt.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber sachlich ist es richtig! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das können Sie alles nachlesen!)


Kollege Strobl, darum geht es auch gar nicht.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Doch!)


Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht und
Vertreibung geschrieben werden muss und wir uns im-
mer wieder neu mit ihr zu beschäftigen haben. Das ist
unbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man das
tut.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich,
weshalb Sie sich ausgerechnet auf die Charta der deut-
schen Heimatvertriebenen berufen, wenn Sie doch – so
steht es in Ihrem Antrag – Aussöhnung wollen. Die
Charta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein
zeitgenössisches Dokument, eine Stimme aus dem Jahr
1950. Vertriebene hatten viel Leid erfahren, große Not
erduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrer
neuen, kalten Heimat angekommen sein.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das sieht Ihr Bundesvorsitzender anders! Als Ministerpräsident hat er das anders gesehen!)


So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, die
ihn trägt. Die Charta mag zur Integration von Vertriebe-
nen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rache-
gefühle und Vergeltungsverlangen.

Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehr-
fach darauf hingewiesen – ich finde: sehr treffend –, dass
man nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf man
einen Anspruch hat.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonne-
nen Krieg und den von ihnen begangenen Verbrechen
keinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf Rache.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch unbestritten!)






Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Darin sind wir uns doch hoffentlich einig.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ja! Hoffentlich! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Fragen Sie mal Ihren Bundesvorsitzenden!)


Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, die
heute, denke ich, als falsch erkannt sind und die niemand
mehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese
– ich zitiere –:

Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp-
finden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Welch fatale moralische Anmaßung – als hätte es den
Holocaust und zig Millionen Tote des Krieges nicht ge-
geben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lars Lindemann [FDP]: Das hat niemand gesagt!)


Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und dem
Abstand von 60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vol-
lem Ernst auf diese Charta zu berufen, sie gewisserma-
ßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch einzuordnen
und sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutra-
gen, wie Sie es tun,


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das macht doch gar keiner, Herr Thierse!)


das ist weder moralisch noch politisch legitim.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt
einen ehrlichen Dialog mit denjenigen voraus, mit denen
man sich versöhnen will.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja!)


Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbe-
sondere unseren östlichen Nachbarn, nichts weniger als
zutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nicht
verschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die das
bedeutete.

Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor
70 Jahren wurden Polen – nur als ein Beispiel – als ras-
sisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavt
und entrechtet werden. Die Polen hatten einen längeren
Weg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint es
wie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heute
noch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Flucht
und Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutsch-
land sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehr
die heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenen-
politiker durch zwiespältige Äußerungen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitik
zu nehmen, geben Sie sich europäisch. Sie wollen sich,
so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintes
Europa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhalt-
bare Aussagen wie diese – ich zitiere wieder aus Ihrem
Antrag –:

Die Deutschen nehmen Vertreibungen … mit be-
sonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer
jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.

Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Ge-
schehen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngeren
Geschichte massiv andere Völker vertrieben und unend-
liches Leid über sie gebracht haben und danach auch
selbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte ist
immer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung für
jeden Fall zu benennen und korrekt einzuordnen, kann es
auch kein Verständnis für die Umstände und Folgen ge-
ben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine Versöh-
nung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist das
Grundproblem Ihres Antrags.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorie-
ren, versäumen Sie es, das schon Erreichte zu würdigen.
Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zu-
nächst die enormen Integrationsleistungen der Bundesre-
publik Deutschland – sie gehören zu ihrer Erfolgsge-
schichte – und die großen Anstrengungen der Vertrie-
benen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufin-
den. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ih-
rer Herkunft bestand weiter.

Unvergessen ist – ich nenne nur ein Beispiel –: Als
1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, unter-
stützten viele, auch Vertriebene, aktiv die Gewerkschaft
Solidarnosc.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Im Gegensatz zur SPD! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genau! Die haben das damals nicht gemacht!)


Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ich
aus eigener Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertrie-
benen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trau-
ernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in der
Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zu
schweigen. Umso größer ist heute meine Freude über die
Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, die
uns die Einigung Europas eröffnet hat.

Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Ein-
zelnen und der vielen Initiativen ehemals Vertriebener,
die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öf-
fentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte in
die Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es ge-
geben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wie
viele Partnerschaften und Freundschaften sind entstan-





Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

den? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurie-
rungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmä-
lern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zur
Verständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass für
ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.

Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Be-
gegnung, die in den letzten Jahrzehnten eine großartige
Entwicklung genommen haben, erweist sich Ihr Antrag
schlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der For-
derungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wieder-
hole mich. So muss die Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, voran-
gebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptio-
nelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stif-
tung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt.

Von einem Nachholbedarf bei der Forschung – Sie ha-
ben davon gesprochen – kann ebenfalls nicht die Rede
sein. Die Bundesregierung hat ein akademisches Förder-
programm zur Erhaltung und Auswertung deutscher
Kultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt.
Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 Millionen
Euro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenen
Programm nicht erst einmal eine Chance geben? Trauen
Sie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung die-
ses Programms nicht zu?

Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, nicht als bundesweiter Gedenktag für die Opfer von
Vertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe,
selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. So-
wohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestags-
präsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Ge-
denktag ausgesprochen. Die beiden haben recht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Ko-
alition, aus Polen ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitaten
aus einem gestern erschienenen Kommentar von Profes-
sor Dr. Krzysztof Ruchniewicz – er ist Mitglied des Wis-
senschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ – belegen:

Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und An-
gehörige anderer Nationen, die von den Deutschen
im Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und er-
mordet wurden, stellt das Dokument

– die Charta –

keine Grundlage für eine Versöhnung dar.

Weiter:

Es überrascht, dass Abgeordnete des Deutschen
Bundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrer
Verkündung so einseitig und reflexionslos betrach-
ten können.

Weiter:

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen … ist
kein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die
1965 erschienene Ostdenkschrift der Evangelischen
Kirche in Deutschland und der im gleichen Jahr er-
schienene polnische Bischofsbrief an ihre deut-
schen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: „Wir
gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“

Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitisch
das völlig falsche Signal.

Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseiteschie-
ben. Professor Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er ist
ein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen An-
strengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibung
und die Leiden und Opfer dieses Unrechts.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland war
und bleibt es, den demokratischen Staat, unseren demo-
kratischen Staat, seine politische Praxis und seine politi-
sche Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheit
zu begreifen. Das ist unser gemeinsames politisches
Fundament, unser gemeinsames moralisches Funda-
ment. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tag
des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ge-
wählt.

Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, heißt: Unsere, der Deutschen Sensibilität für die
Leiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert
nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst
Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche an-
dere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser dop-
pelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhafte
moralische Verpflichtung. Genau diesen, den entschei-
denden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falsch
und überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709019400

Nächster Redner ist der Kollege Lars Lindemann für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lars Lindemann (FDP):
Rede ID: ID1709019500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bespre-
chen heute ein für viele sehr emotionales Thema. Kaum
war der Antrag eingeführt – ich erinnere mich an unsere
Ausschussdebatte –, gab es nicht nur entrüstete Gesich-
ter, sondern schwand vor allem auf den Oppositionsbän-
ken die Fähigkeit, zuzuhören. Ich nehme sehr wohl
wahr, dass das heute anders ist. Ich denke, wir haben ge-
nügend Grund, die Sache mit etwas mehr Bedacht zu
diskutieren und uns gegenseitig zuzugestehen, dass wir
alle lautere Motive haben, wenn wir das hier besprechen.

Im Antrag der Koalition wird der Brief der polnischen
Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965
zitiert; Herr Thierse hat das eben auch getan. Darin heißt
es: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Um Ver-
gebung kann man für sich aber nur bitten, wenn man
selbst bereit war und es auch bleibt, über die eigene





Lars Lindemann


(A) (C)



(D)(B)

Schuld offen zu sprechen, nicht zu leugnen und aufrich-
tig und glaubhaft auf denjenigen zuzugehen, an dem
man sich vergangen hat.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben die katholischen Bischöfe ja getan!)


Dies hat Deutschland getan. Wir alle als deutsche Parla-
mentarier stehen dafür ein, dass es Teil der Staatsräson
ist und bleibt, dass wir zu der Schuld stehen, die im Na-
men unseres Volkes durch die Nationalsozialisten auf
uns geladen wurde.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland hat aufrichtig um Vergebung gebeten. Ich
erinnere hier an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Wir
alle kennen das Bild, das hier gemeint ist.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das war aber nicht der Bund der Vertriebenen!)


Wir setzen uns mit diesem Thema sehr bewusst aus-
einander, und Deutschland ist so heute ein für seine
Aufrichtigkeit und Leistungen geachtetes Mitglied der
internationalen Staatengemeinschaft. Durch diese unsere
Einstellung – das will ich hier für meine Fraktion ganz
ausdrücklich und ganz deutlich sagen – nehmen wir die
eigene, bis in die meinige Generation hineinwirkende
Vertreibungserfahrung von uns Deutschen als zentrales
Element mit in die weiteren Bemühungen um die Ver-
söhnung auf und geben wir dieser Erfahrung einen ent-
sprechenden Platz, wie es im Antrag der Koalition ge-
schehen ist.

Die Vertreibungen beispielsweise aus Polen und
Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg dürfen von den
Betroffenen als Unrecht empfunden werden. All diejeni-
gen, die den Verlust an Heimat zu beklagen haben, was
an sich schon schlimm genug ist, oder die Gewalt gegen
sich oder Angehörige ihrer Familie ertragen mussten,
habe eine ganz persönliche Erfahrung, die in den Fokus
der Überlegungen der Regierungskoalition gerückt
wurde.

Durch einen solchen Ansatz wird nicht relativiert,
sondern versucht, die Erfahrungen der Betroffenen und
eben nicht die Emotionen, die einige hier mit einbringen,
aufzunehmen und verantwortungsvoll in die Überlegun-
gen zu der weiteren Arbeit der Stiftung „Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung“ nach innen und nach außen ein-
zubeziehen. Darum werbe ich um Ihre Zustimmung zu
unserem Antrag.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709019600

Das Wort hat nun Luc Jochimsen für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709019700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblen-
dung von historischen Tatsachen und so viel Ver-
drehung wie in diesem Antrag zur Charta der Hei-
matvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten
zusammen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und das von Ihnen! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sagt die Linke!)


Das habe ich am 16. Dezember vorigen Jahres hier an
dieser Stelle gesagt. Dem habe ich heute nichts hinzuzu-
fügen


(Beifall bei der LINKEN)


außer dem Bedauern, dass es der gesamten Opposition
seitdem nicht gelungen ist, die Koalitionsfraktionen da-
von zu überzeugen, diesen Antrag zurückzunehmen.
Keine Analyse, kein Appell, keine Kritik von Fachleuten
hat irgendetwas genutzt. Das ist sehr zu bedauern.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Eine ordentliche Diskussion kann doch geführt werden!)


So entsteht mit der heutigen Abstimmung über den
Antrag, den Sie mit Ihrer Mehrheit kalt durchsetzen wer-
den, großer Schaden für unser Parlament und seine Wir-
kung nach innen wie nach außen. Ja, Sie schädigen mit
diesem Antrag das Ansehen dieses Hohen Hauses. Da-
von bin ich fest überzeugt.


(Beifall bei der LINKEN)


Allein mit Ihrem Ansinnen – das vertreten Sie in Ih-
rem Antrag –, dass sich anlässlich des 60. Jahrestages
der Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenen
der Deutsche Bundestag zu eigen machen soll, diese
Charta als Gründungsdokument der Bundesrepublik zu
betrachten, schädigen Sie das Ansehen des Parlaments.
Die Fraktion Die Linke wird nie und nimmer in diesem
Dokument ein Gründungsdokument der Bundesrepublik
sehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie schädigen das Ansehen des Parlaments auch mit
Ihrem Ansinnen, den 5. August zum bundesweiten Ge-
denktag zu erheben, den Tag also, an dem die Charta vor
60 Jahren veröffentlicht wurde. Mitverfasser und Unter-
zeichner dieses Dokuments waren Rudolf Wagner, SS-
Obersturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheits-
polizei in Paris, Belgrad und der besetzten Sowjetunion,
SS-Sturmbannführer von Witzleben, Franz Hamm,
Fraktionsführer des Blocks der deutschen NS-Reichs-
tagsmitglieder Ungarns, Angehöriger der deutschen
Volksgruppenführung, die im Sommer 1944 die Vernich-
tungsaktion an über 400 000 ungarischen Juden unter-
stützte und deren Eigentum mit verteilte, Alfred Gille,
SA-Scharführer, Gebietskommissar in der Ukraine, SS-
Hauptsturmführer Waldemar Kraft, Rudolf Lodgman
von Auen, Mitbegründer der radikal antisemitischen
Deutschen Nationalpartei in der CSR, der 1960 einen





Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)

flammenden Protest gegen den Menschenraub an Adolf
Eichmann auf argentinischem Boden und den Prozess in
Israel veröffentlichte,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Tolle Vorbilder!)


Axel de Fries, Umsiedlerfunktionär in Westpolen, Kreis-
landwirt und Sonderführer bei der Partisanenbekämp-
fung in Weißrussland.

Wissen Sie das nicht, oder lässt Sie das tatsächlich
völlig gleichgültig, dass das die Mitverfasser und Unter-
zeichner dieses Dokuments sind, zu dem Sie von uns im
Jahr 2011 die Zustimmung dieses demokratischen Parla-
ments verlangen? Lässt Sie das völlig gleichgültig, oder
sind Sie einfach unwissend?

In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieses Parlament
der Charta und ihren Verfassern Zustimmung im Namen
der Aussöhnung ausspricht. Das nenne ich einen Skan-
dal.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


„Es kann keine Aussöhnung geben, die auf einem ‚Ver-
zicht auf Rache‘ beruht. Das ist völlig undenkbar.“ Dies
schrieb gestern Professor Krzysztof Ruchniewicz von
der Universität Wroclaw – Vizepräsident Thierse hat ihn
vorhin schon zitiert – in einem Gastbeitrag in der Frank-
furter Rundschau.

Am Ende der Charta heißt es:

Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp-
finden.

Auch das ist schon zitiert worden. Hier wird die ganze
Verkehrung der Geschichte und der Beginn einer gigan-
tischen deutschen Opferzählung nach 1945 deutlich:
Nicht mehr die 25 Millionen toten Sowjetbürger, nicht
die 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, nein,
die Heimatvertriebenen sind die vom „Leid dieser Zeit
am schwersten Betroffenen“.


(Patrick Döring [FDP]: Verzerrte Darstellung!)


Eine solche Form der Verkehrung von historischer
Dimension, der Relativierung deutscher Schuld und der
Verkehrung von Ursachen und Folgen war und ist ty-
pisch für die Geschichte der Vertriebenenverbände. Dass
Union und FDP eine solche Geschichtssicht noch heute
als verbindlich vom Bundestag preisen lassen wollen, ist
ungeheuerlich.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Eltern, 1900 und 1901 geboren, haben Hitler
nicht gewählt, waren nie Parteimitglieder, waren nicht
dabei, als die deutschen Massenverbrechen an Juden,
Polen, Tschechen, Slowaken und Russen verübt wurden.
Aber in einer Bombennacht 1943 in Düsseldorf verloren
sie ihr ganzes Hab und Gut. Meine Mutter und wir Kin-
der erlitten schwere Phosphorverbrennungen. Den Rest
des Krieges erlebten wir in einer Notwohnung in Frank-
furt: frierend, hungernd, in Todesangst. Nie wäre meinen
Eltern in den Sinn gekommen, sie hätten ein Recht auf
Rache und Vergeltung, auf das sie großmütig verzichten
könnten – 1945 nicht, 1950 nicht, zu keiner Zeit.

Wenn Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von den Ko-
alitionsfraktionen, an Aussöhnung wirklich gelegen ist,
an Aussöhnung der Deutschen mit den Deutschen, an
Aussöhnung mit all den Nachbarvölkern, dann ziehen
Sie diesen Antrag zurück. Es ist noch nicht zu spät.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709019800

Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709019900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit

in dieser Debatte geht nicht um die Frage, ob wir das
Schicksal der Heimatvertriebenen anerkennen. Dieser
Streit geht auch nicht um die Frage, ob wir die Ge-
schichte der Vertreibung in ihrem historischen Kontext
aufarbeiten wollen. Dieser Streit geht im Kern um die
Frage, ob wir als Deutscher Bundestag uns auf das Do-
kument der Charta der Heimatvertriebenen positiv bezie-
hen und das Ganze auch noch dadurch unterstreichen,
dass wir den Tag ihrer Unterzeichnung zum Gedenktag
der Bundesrepublik Deutschland machen. Dazu sage ich
Nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
hat es das noch nicht gegeben, dass ein Antrag, in dem
die Einführung eines Gedenktages verlangt wird, im
Deutschen Bundestag mit knapper Koalitionsmehrheit
durchgeprügelt wird. Der vorliegende Antrag enthält erst
einmal nur einen Prüfauftrag.


(Zuruf von der FDP: Eben!)


Leider ist das Außenministerium auf der Regierungs-
bank nicht mehr vertreten; ansonsten hätte ich Frau
Pieper gebeten, mit der FDP dafür zu sorgen, dass die
Partei von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher
verhindert, dass wir unsere osteuropäischen Nachbarn,
die ehemaligen Kriegsgegner, die uns die Hand zur Ver-
söhnung gereicht haben, einem solchen Affront ausset-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Frau Steinbach, Krzysztof Ruchniewicz, Mitglied des
Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ – der BdV hat sie durch eine
Gesetzesänderung von der Bundesrepublik Deutschland
praktisch gekapert –, schreibt Ihnen meines Erachtens
sehr sensibel ins Stammbuch, wie man die Charta in ih-
rer Genese und in ihrem Sinngehalt verstehen kann. Er





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

nennt sie das „Produkt einer traumatisierten Gruppe“. Er
schreibt:

Relativierend kann man sagen, dass die Charta ein
Kind ihrer Zeit war, das Produkt einer traumatisier-
ten Gruppe, die sich bemühte, die eigene Lebens-
welt neu aufzubauen, wobei sie sich in den Mythos
des unschuldigen Opfers flüchtete. Aus diesem
Grund wurde in den in diesen Kreisen geschriebe-
nen Büchern und Materialien über die alte Heimat
die Zeit des Nationalsozialismus fast völlig ausge-
blendet. Man kann das historisch und psycholo-
gisch nachvollziehen, muss es aber nicht gutheißen.

Gegenüber der historisch verständlichen Genese müs-
sen wir nicht verurteilend auftreten. Wir können verste-
hen, woher diese Menschen kamen, dass sie sich neu zu-
rechtfinden wollten und dass sie sich auch mit ihrer
eigenen Genese ein bisschen selbst betrogen haben.
Aber wir als Deutscher Bundestag können uns das nicht
zu eigen machen – heute, über 60 Jahre danach, nach al-
lem, was wir darüber wissen, was von deutscher Hand in
den besetzen Gebieten, in den überfallenen Ländern und
in unserem eigenen Land gegenüber vielen Opfern des
Nationalsozialismus verbrochen wurde. Das darf nicht
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir haben deshalb einen Änderungsantrag gestellt.
Darin ist der ganze Feststellungsteil mit seiner ganzen
historischen Wirrnis und Klitterung gestrichen. Wir be-
ziehen uns auf die entsprechenden Forderungen zur his-
torischen Aufarbeitung und zum Gedenken – ich meine,
da müssen wir wirklich Klartext reden –, wenn wir fest-
stellen: Über einen Gedenktag kann man mit uns reden;
aber der 5. August kommt nicht infrage, weil das eine
Akklamation der Aussagen der Charta der Vertriebenen
bedeuten würde. Es würde anerkannt, dass die Vertriebe-
nen diejenigen waren, die am meisten in dieser Zeit ge-
litten haben, dass man großzügig auf das Recht verzich-
tet, Vergeltung zu üben. Das sind Aussagen, die sich der
Deutsche Bundestag nicht zu eigen machen darf, auch
wenn er über ein solches Gedenken konstruktiv nach-
denkt. Nehmen Sie diese Geste der Anerkenntnis als Er-
mahnung entgegen, hier nicht mit dem Kopf durch die
Wand zu gehen.

Warum nehmen wir als Gedenktag nicht den 20. Juni,
den Weltflüchtlingstag? Die UN-Vollversammlung hat
den 60. Jahrestag der Schaffung des Amtes des UNHCR
zum Anlass genommen, diesen Tag zum Weltflücht-
lingstag zu proklamieren.

Der UNHCR ist für Vertriebene und Flüchtlinge glei-
chermaßen zuständig. Damit würden wir ein Zeichen
setzen, dass wir die Versöhnung mit den ehemaligen
Kriegsgegnern wollen, dass wir denjenigen vergeben,
die auch Deutschen gegenüber Unrecht verübt haben,
und dass wir aus der Geschichte die Lehre ziehen, dass
wir als Deutsche eine besondere Verantwortung für Ver-
triebene und Flüchtlinge haben, die es auf dieser Welt
immer noch gibt, zum Beispiel in Darfur, im Kosovo
und in anderen Gegenden dieser Erde.
Wenn Sie sich von der Koalition mit so großer Verve
gegen Vertreibung und Verfolgung, die zu Flucht führt,
engagieren, dann ist es für uns umso unverständlicher,
dass Sie noch immer die Aufnahme von weiteren irani-
schen Flüchtlingen aus der Türkei blockieren, dass Sie
weiterhin Roma aus dem Kosovo abschieben lassen und
dass Sie sogar traumatisierten Flüchtlingen einen jahre-
langen schwierigen Prozess um die Anerkennung als
Verfolgte aufbürden.

Wenn es Ihnen mit dem ernst ist, was Sie hier so groß-
spurig behaupten, nämlich dass wir angesichts unserer
Geschichte besonders sensibilisiert sind, dann sind diese
Fragen der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit Ihrer
Aussage. Diese Ernsthaftigkeit kann ich leider nicht er-
kennen. Vielleicht führen aber die Überlegungen, wie
wir dieses Thema historisch angemessen bearbeiten und
wie wir dieses Themas angemessen gedenken, dazu,
dass sich in unserer Gesellschaft etwas produktiv verän-
dert.

Ich bin durchaus für eine Ausstellung zum Thema
Vertreibung. Allerdings bin ich dafür, sie auf andere
Füße zu stellen. Zum einen sollte das ganze Haus mit
seinen Gremien daran beteiligt werden. Zum anderen
sollte der Einfluss des BdV zurückgefahren und dafür
gesorgt werden, dass historische Wahrhaftigkeit und die
Einordnung der Schicksale in den historischen Kontext
auch dort Platz greifen kann.

Ich möchte Ihnen als Kind einer Vertriebenenfamilie
etwas erzählen. Das, was der polnische Wissenschaftler,
der dem Wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehört, gesagt hat,
ist wahr; das kenne ich aus der Geschichte meiner eige-
nen Familie. Meine Großeltern sind nach dem Ersten
Weltkrieg aus Slowenien ins Sudetenland vertrieben
worden. Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie – ich
stamme aus einer österreichischen Offiziersfamilie – aus
dem Sudetenland vertrieben. In unserer Familienge-
schichte gab es die Sage, dass es mit den Tschechen vor
dem Krieg irgendwie ganz schwierig war. Gleichzeitig
hatte mein Großvater dem tschechischen Staat gegen-
über das Angebot ausgeschlagen, als General in der
tschechischen Armee zu dienen. So schlimm kann es mit
der Diskriminierung der Deutschen im Vielvölkerstaat
der Tschechoslowakei nicht gewesen sein.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Na, na, na!)


Angeblich war auch niemand Nazi, niemand in der
Sudetendeutschen Partei. Als ich kürzlich beim Umzug
meiner Mutter Unterlagen aufgeräumt habe, habe ich he-
rausgefunden, dass ein Teil der Narration der Geschichte
unvollständig war: Natürlich war mein Vater in der Su-
detendeutschen Partei. Als er 1939 ins Reich gegangen
ist, war er auch Mitglied im Nationalsozialistischen
Kraftfahrerbund. Er war zwar kein engagierter Nazi,
kein SS-Offizier wie die Unterzeichner der Charta der
Heimatvertriebenen; trotzdem hat man sich in die Tasche
gelogen, wie man sich vor der Vertreibung gegenüber
den ehemaligen tschechischen und slowakischen Nach-
barn gebärdet hat, wie man sich politisch positioniert hat
und dass man als österreichische Minderheit im tsche-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

choslowakischen Staat nicht bereit war, sich zu integrie-
ren und an diesem gemeinsamen Staat mitzuwirken, weil
man in der Minderheit war.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709020000

Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709020100

Diese Geschichten – nicht nur das schwere Schicksal

der Vertreibung, das nach diesem Kapitel folgte – müs-
sen in einer solchen Ausstellung, wenn sie Wahrhaftig-
keit und Aufarbeitung befördern soll, ebenfalls erzählt
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709020200

Das Wort hat nun Klaus Brähmig für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1709020300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Wer in diesen Tagen nach wahrer Versöhnung
sucht, sollte nicht in ein Fernsehstudio nach Hamburg
fahren, sondern das Edith-Stein-Haus in Breslau besu-
chen. Wer in der schlesischen Geburtsstadt von Teresia
Benedicta vom Kreuz die Geschichte der heiliggespro-
chenen Ordensschwester studiert, erfährt, dass die Patro-
nin Europas eine Frau war, die vorbildlich im Hinblick
auf Versöhnung war. Das Geheimnis der Versöhnung
heißt nämlich nicht Abrechnung, sondern Erinnerung.

Das Thema „Flucht und Vertreibung“ muss im
21. Jahrhundert in einen größeren, mitteleuropäischen
Zusammenhang gestellt werden. Die deutschen Heimat-
vertriebenen leisten an der Basis echte Versöhnungsar-
beit. Ich verweise nur auf zwei bemerkenswerte Bei-
spiele. Zum einen fand im letzten Jahr das erste deutsch-
polnische Heimattreffen in Kolberg statt. Zum anderen
bedauerte der rumänische Innenminister auf dem Hei-
mattag der Siebenbürger Sachsen 2010 die Aussiedlung
der deutschen Minderheit und kündigte neue Beziehun-
gen an. Hinter der Brückenfunktion steht eben keine
leere Formel, sondern die Chance zu wahrer Aussöh-
nung. Nur aus der positiven Bewältigung der Kriegs-
und Nachkriegsgeschichte erwächst gegenseitiges Ver-
ständnis, aus dem sich vielleicht sogar ein Mehr an euro-
päischer Solidarität ergibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Angesichts der aktuellen Entwicklung in Minsk und
Kiew könnte ein neuer Zusammenhalt in Mitteleuropa
eines Tages von zentraler Bedeutung sein.

Das Thema des Antrags ist deshalb für Deutschland
wie für Europa von großem Gewicht. Um die teils hyste-
rische Debatte wieder auf den Boden der Tatsachen zu
bringen, sind ein paar grundsätzliche reflektierende Äu-
ßerungen angebracht. Der Zweite Weltkrieg stellt bis
heute den größten und verheerendsten Konflikt in der
Menschheit dar. Tatsache ist – das findet sich im vorlie-
genden Antrag wieder –, dass die deutsche Kriegsschuld
außer Frage steht – Punkt. Diesem Satz darf kein Aber
folgen; sonst wäre er tatsächlich, lieber Kollege Thierse,
ein Alibisatz. Neben dem jährlichen Holocaustgedenk-
tag, der in diesem Hohen Haus stets begangen wird, gibt
es laut einer Dokumentation der Bundeszentrale für poli-
tische Bildung bundesweit über 2 000 NS-Gedenkstät-
ten, die täglich von Hunderten Schulklassen und Zigtau-
senden Besuchern besichtigt werden. Dieses Faktum
widerlegt als konkretes Beispiel den diffusen Vorwurf,
es gebe hierzulande Tendenzen, sich jetzt als Opfervolk
zu stilisieren. Es gibt keine solche Geschichtspolitik, und
Christdemokraten wie Liberale weisen dies mit aller
Entschiedenheit zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kein Land weltweit hat sich mit seiner jüngsten Vergan-
genheit und Geschichte so intensiv auseinandergesetzt,
wie wir es getan haben und wie wir es auch zukünftig
tun werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wer außerdem allen Ernstes eine neue Kollektiv-
schulddebatte vom Zaun bricht, zeugt nicht gerade von
Klugheit und Weitsicht.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)


Sollte sich dahinter schieres Misstrauen verbergen, hätte
man tatsächlich nichts aus dem Kalten Krieg gelernt.

Wohl aber gilt es, den Eindruck zu vermeiden, von den
massenhaften Gräueln des Zweiten Weltkriegs seien le-
diglich zwei Gruppen, Juden und Deutsche, betroffen ge-
wesen. Deshalb haben wir in unserem Antrag ausdrück-
lich festgehalten, dass mit Gedenkvorhaben des Bundes
in Berlin auch die Aufgabe verbunden sein muss, an die
Vertreibung von über 1 Million Polen aus den damaligen
polnischen Ostgebieten und Hunderttausender Ukrainer
im Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen Westver-
schiebung Polens zu erinnern.

Bei allem Respekt vor berechtigter Kritik – ich habe
alle Reden der ersten Lesung und die Wortbeiträge des
Kulturausschusses gründlich analysiert –: Dabei ist die
Opposition deutlich über das Ziel hinausgeschossen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich habe den Eindruck, Sie haben das Kernanliegen un-
seres Antrags nicht einmal ansatzweise erfasst. Ja, die
Stuttgarter Charta ist ein Zeitdokument, dessen Sprache
uns heute fremd erscheint und dessen Entstehung man
aus den damaligen Umständen erklären muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dies ist nach wie vor eine Forschungslücke. Aber Sie
verbeißen sich in der Textkritik, anstatt die historische
Bedeutung des Dokuments zu erkennen, die gerade in





Klaus Brähmig


(A) (C)



(D)(B)

der Absage an radikale Kräfte und in der Eigenverpflich-
tung zur Integration liegt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den SS-Leuten?)


Natürlich erwähnt niemand von Ihnen das im Antrag
wiedergegebene Zitat des ehemaligen Bundesinnenminis-
ters Schily. Er räumte auf dem Tag der Heimat 1999 in
Berlin offen ein, dass die politische Linke zeitweise über
die Vertreibungsverbrechen und das Leid der Vertriebe-
nen hinweggesehen habe.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Oder ist Otto Schily nicht mehr Mitglied der SPD?

Anstatt einen konstruktiven Beitrag zu leisten, hängen
Sie sich lieber mit blindem Eifer an Personalien auf, die
in dem Antrag überhaupt nicht zur Disposition stehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht ein Mal kritisch reflektiert!)


Weder haben Sie sich die Mühe gemacht, einen eigenen
Antrag zu entwerfen, noch ist es Ihnen eingefallen, eine
ausgewogene wissenschaftliche Befassung mit der Charta
anzuregen.

Meine Damen und Herren, es ist schon im persönli-
chen Bereich oft schwer genug, sich auszusöhnen. Wie
soll da Versöhnung zwischen Völkern möglich sein,
wenn es um millionenfaches Leid auf beiden Seiten
geht? Muss es uns nicht wie ein Wunder anmuten, dass
wir Deutsche gerade in den Ländern, in denen der
Zweite Weltkrieg am Schlimmsten gewütet hat, heutzu-
tage wieder freundlich aufgenommen werden? Das letzte
Kapitel dieses Krieges ist jedoch noch nicht abgeschlos-
sen, und dessen Aufarbeitung darf von unserer Nation
nicht unterschätzt werden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie die Aufarbeitung, oder meinen Sie das Kapitel selbst?)


So wie der damalige Umzug der Regierung nach Ber-
lin dazu diente, die innere Einheit Deutschlands zu voll-
enden, zielt unser Antrag zum Thema „Flucht und Ver-
treibung“ in erster Linie auf die Versöhnung der
Deutschen mit sich selbst. Die nationale Katastrophe am
Ende des Zweiten Weltkrieges muss endlich von der ge-
samten Gesellschaft als Teil der deutschen Geschichte
begriffen werden. Daher ist ein Zeichen der Verbunden-
heit, ein nationaler Gedenktag mit den Vertriebenen und
deren Nachkommen, notwendig, um die Versöhnung zu
vollenden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709020400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck?

Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1709020500

Nein. – Dies ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe

ersten Ranges, die wir ruhig, aber beharrlich angehen
und auch meistern werden.

An dieser Stelle danke ich meinen Kollegen Patrick
Kurth und Wolfgang Börnsen besonders herzlich für die
vertrauensvolle und ausgezeichnete Zusammenarbeit.
Wir haben nicht nur in dieser Legislaturperiode gemein-
sam noch viel vor. Meine Bitte ist: Stimmen Sie diesem
Antrag zu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709020600

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Volker Beck das Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709020700

Herr Kollege Brähmig, Sie haben mich gerade mit ei-

ner Aussage in Ihrer Rede etwas stutzen lassen. Sie ha-
ben gesagt, das Kapitel des Zweiten Weltkrieges sei
nicht abgeschlossen.


(Brigitte Zypries [SPD]: Genau!)


Meinten Sie die Aufarbeitung, oder wollten Sie damit
offene Rechtsfragen ansprechen, die sozusagen noch der
Klärung bedürfen? Ich finde es wichtig, dass wir in die-
ser Debatte wissen, auf welcher Grundlage wir reden.
Oder sehen Sie es wie Frau Steinbach, dass wir im Osten
eine Grenze haben, die eigentlich nicht unsere Zustim-
mung finden sollte?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709020800

Kollege Brähmig, Sie haben Gelegenheit zur Ant-

wort. – Keine Reaktion.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er möchte die Frage offenlassen! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Antwort, das spricht für sich!)


Dann erteile ich dem Kollegen Patrick Kurth für die
FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1709020900

Herr Präsident! Ich bin dankbar dafür, dass Sie, Herr

Thierse, heute hier reden konnten, obwohl Sie Dienst ha-
ben. Ich habe es bedauert, dass Sie beim letzten Mal
nicht reden konnten.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie tief ist die FDP gesunken, diesen Antrag mitzutragen! Was würden Genscher und Scheel dazu sagen? Das ist unglaublich! Das ist peinlich!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte
Frau Jochimsen, die Vertriebenen haben sich nach dem
Krieg Gott sei Dank nicht so benommen wie die SED
nach der Wende. Sie verklären und relativieren die Ge-





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

schichte, Sie drehen die Historie um. Das haben die Ver-
triebenen nicht getan.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat denn keiner in den Antrag gesehen?)


Keine Organisation in der Geschichte der Bundesrepu-
blik hat derart die Geschichte verklärt, Verbrechen ver-
tuscht, Gewalt verharmlost oder sich eines unanständi-
gen Revanchismus und Relativismus bedient, wie Sie es
getan haben. Sie haben kein Recht, so zu reden,


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Doch, das habe ich sehr wohl! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist die FDP! Sie verwehrt uns das Recht zu reden!)


erst recht nicht, da in der jüngeren Geschichte
Dr. Gregor Gysi von Ihrer Partei beim letzten Vertrei-
bungsdiktator, Herrn Milosevic, in Serbien war und ihm
den Hof gemacht hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Unfug!)


Herr Beck, ich möchte kurz darauf hinweisen: Die
Namen, die Sie nennen, sind verabscheuungswürdig.
Das ist so. Aber mehr als zwei Drittel der Vertriebenen
waren Frauen und Kinder. Auch das muss man zur
Kenntnis nehmen. Das müssen Sie, wenn es um Fragen
von Schuld und Ähnlichem geht, mit berücksichtigen.
Ich hatte schon beim letzten Mal das Gefühl und habe es
dieses Mal wieder, dass Sie hier einen persönlichen Igel
bürsten wollen und dazu die Plenardebatte des Deut-
schen Bundestages nutzen.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch unanständig!)


Das können Sie zwar auf persönlichem Wege machen,
aber nicht im Deutschen Bundestag angesichts eines sol-
chen Themas.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709021000

Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Jochimsen?


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1709021100

Ja, bitte.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709021200

Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass

Sie mir absprechen, hier im Parlament das Wort ergrei-
fen zu können? Ich möchte in diesem Zusammenhang
– obwohl es eigentlich überflüssig ist – darauf hinwei-
sen, dass ich nie Bürgerin der DDR war. Ich gehöre auch
nicht zur Familie des früheren Präsidenten Milosevic.
Ich sage das, weil Sie beides erwähnt haben. Aufgrund
welcher Tatsachen wollen Sie mir das Recht absprechen,
hier im Bundestag zu reden?


(Zuruf von der CDU/CSU: Auch wenn Sie nicht in der DDR gelebt haben, Deutsche sind wir alle!)


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1709021300

Sie können über das Thema reden, aber ob Sie dabei

die moralische Keule schwingen können, ist eine andere
Frage. Angesichts der Tatsache, dass ein ehemaliger
Vorsitzender Ihrer Partei bei Milosevic Hof gehalten hat,
müssen Sie sich schon fragen, ob das in Ordnung war
und ob Sie hier so reden können.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Außerdem: Ihre Vorsitzende hat eine Debatte losgetreten
– in dieser Woche hat sie übrigens nachgelegt –, indem
sie sinngemäß sagte, dass der Kommunismus von Stalin,
Mao und Pol Pot nichts, aber auch gar nichts mit dem
Kommunismus in der Theorie zu tun hat.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das hat mit dem Thema heute nichts zu tun!)


Wenn Stalin nun nicht mehr als Kommunist durchgeht,
dann rate ich Ihnen, sich mit den Stalinisten in Ihrer Par-
tei zu unterhalten, was die davon halten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie können darüber reden – wir haben Sie auch ungestört
reden lassen –, aber ich spreche Ihnen ab, die moralische
Keule zu schwingen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein erbärmliches Niveau, Herr Kollege!)


Der Zeitgeist bei der jüngeren Generation – darauf
möchte ich verweisen – ist ein anderer als der, den Sie
hier unterstellen. Es gibt ein neues und frisches Interesse
an Geschichte.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Geschichtsklitterung! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Es gibt ein neues und frisches Interesse auch an den Ge-
bieten. Es gibt einen intensiven Austausch mit Polen und
Tschechien, der sehr gefragt ist, und es gibt entspre-
chende Literatur, zahlreiche Romane; Günter Grass
wurde erwähnt. Das hat nichts mit irgendwelchen Trach-
tenzeiten oder Funktionärsinteressen zu tun. Es gibt bei
den jungen Leuten ein unbefangenes Verhältnis, auf das
man aufbauen möchte.

Im Gegensatz dazu betreten Sie ausgetretene Pfade.
Auch in der Diskussion werden die alten Fronten sicht-
bar. Sie machen den entscheidenden Fehler, die Charta
als rückwärtsgewandtes Dokument zu sehen, das nur um
der Aufarbeitung des Krieges willen geschrieben worden
ist. Aus meiner Sicht ist es das nicht. Vor allen Dingen
im Jahr 2011 kann man das so nicht sehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Charta war und ist wegweisend und der Zukunft
zugewandt. Sie spricht von einem geeinten Europa. Sie
spricht von der Ächtung der Vertreibung weltweit. Dass
Vertreibung nach wie vor aktuelle und traurige Realität
ist, das mag doch niemand bestreiten. Es wäre wün-
schenswert, dass sich die Vertriebenen, die es weltweit
gibt, so verhalten würden wie die deutschen Vertriebe-





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

nen. Das wäre ein gutes Zeichen. Das ist die Strahlkraft
der Charta.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709021400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck?


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1709021500

Bitte schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709021600

Offensichtlich halten Sie alle Oppositionsredner in

dieser Debatte für unehrlich.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Sebastian Blumenthal [FDP]: Wann ist das denn gesagt worden?)


– Das hat er mir gegenüber zum Ausdruck gebracht und
auch gegenüber der Kollegin Jochimsen. Aber vielleicht
kann er das klarstellen.


(Zuruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU])


– Herr Strobl, ich habe jetzt das Wort.

Ich möchte eine Frage stellen.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Es geht nicht immer um Sie!)


– Herr Präsident, ich rede, sobald ich das Ohr des Hau-
ses habe.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709021700

Kollege Beck, einfach durchhalten!


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709021800

Ich bin da ganz gelassen.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben vorhin aus einem Artikel der Frankfurter
Rundschau zitiert. Es ging um einen Beitrag eines Mit-
glieds des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Dieser stellt
eindeutig klar, wie die Charta und die Bezugnahme des
Bundestages auf diese Charta in Polen verstanden wird.
Mir ist auch schon zu Ohren gekommen, dass es in der
polnischen Regierung bereits Irritationen darüber gibt,
was heute hier beschlossen werden soll.

Halten Sie ein solches Signal an Polen, an Tsche-
chien, an die Slowakei wirklich für außenpolitisch ange-
messen? Sie von der FDP stellen den Außenminister.
Sind Sie ernsthaft der Ansicht, dass die alle – wie wir in
der Opposition – zu blöd sind, die Charta historisch rich-
tig einzuordnen? Sie sollten einmal darüber nachdenken,
welche eindeutige Botschaft die Charta für unsere Nach-
barn hat: die Relativierung der deutschen Verbrechen
und das Dramatisieren und Singularisieren des Leidens
der deutschen Heimatvertriebenen. Das muss doch auch
Ihnen als Liberale zu denken geben. Das vermute ich zu-
mindest, wenn ich an die FDP von früher denke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1709021900

Herr Beck, ich weise mit aller Entschiedenheit zu-

rück, dass ich – oder jemand anders aus der Regierungs-
koalition – der Opposition oder irgendjemandem in die-
sem Hause abspreche, sich hier äußern zu dürfen, oder
dass ich jemandem unterstelle – Ihre Worte –, gänzlich
blöd zu sein;


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben Sie vorhin gerade getan! Das war der Einstieg Ihrer Rede!)


im Gegenteil. Ich weise aber darauf hin, dass einige hier
sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie die moralische
Keule schwingen.

Ich sage Ihnen, dass das Dokument, die Charta, im
Zeitzusammenhang gesehen werden muss. Damals war
es so, dass alle Parteien erklärten – ich will eigentlich
gar keine Namen nennen; Otto Grotewohl sprach von
der Amputation des deutschen Reichsgebietes; denken
Sie auch an Kurt Schumacher! –, dass man sich so mit
dieser Abtrennung nicht abfinden werde. Inhaltlich
stütze ich das überhaupt nicht; es ist überhaupt nicht
mehr Komment. Es ist völlig klar, dass das heute nie-
mand mehr in irgendeiner Weise unterstützen würde.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Warum feiert man die Charta dann?)


Die Charta ist in einer Zeit entstanden, in der man
überall hörte, auch von alliierter Seite: Da ist das letzte
Wort noch nicht gesprochen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die polnische Reaktion! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das müssen Sie den Polen erklären!)


Die Charta ist wegweisend und sagt: Wir als Betroffene
mischen uns dort nicht ein.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir verzichten darauf. Wir überlassen diese politische
Auseinandersetzung denen, die Politik machen. Nach
dieser Charta werden wir das so nicht mitmachen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn! „Nationaler Gedenktag“, deutlicher kann man sich nicht festlegen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich habe nach der Reaktion aus Polen gefragt!)


Wenn wir an andere Gebiete heute denken, erkennen
wir: Es wäre wirklich wichtig, dass Opfer sich in dieser
Weise äußern. Es geht dabei nicht darum, Schuld auf
sich zu nehmen, sondern um die Notwendigkeit, zu einer
Einigung zu kommen. Zu den Reaktionen in Polen kann
ich Ihnen sagen: Hier ist alle Vorsicht geboten.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jämmerlich für eine liberale Partei!)






Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

Irgendjemand hatte gefragt, warum der Charta-Antrag
so spät kam. Wir haben auf alle möglichen internationa-
len Notwendigkeiten Rücksicht genommen. Wir haben
sehr intensiv und lange daran gearbeitet.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie wissen, dass das Murks ist, und tragen das trotzdem hier vor!)


Ich kann Ihnen auch sagen, dass es nicht nur die Regie-
rungsfraktionen waren, die daran mitgearbeitet haben.
Ich versichere Ihnen, dass es hier ausschließlich darum
geht, die Charta in ihrer internationalen Verhältnismä-
ßigkeit zu sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sebastian Blumenthal [FDP])


Ich könnte das folgende Thema natürlich mit in die
Beantwortung der Frage nehmen, aber ich will darauf
verzichten.


(Brigitte Zypries [SPD]: Ist nicht die Redezeit um?)


Thema Gedenktag. Das ist ein Punkt, über den man
sich im Moment streitet. Damit das hier ganz klar ist:
Ein Gedenktag für Vertreibungen gilt nach unserer Vor-
stellung für alle Vertreibungen. Die Fokussierung auf die
Vertreibung der Deutschen wäre wieder ein Rückgriff
auf die Vergangenheit. Wir schauen nach vorn, und wir
haben auch die Vertreibungen im Blick, die seit jener
Zeit geschehen sind. Für uns gilt: Es geht um Vertreibun-
gen, unabhängig von Ort, Zeit oder Umständen.

Ähnlich ist es beim Thema Gedenkstätte. Es werden
zum Teil Ängste geschürt, dass hier eine Gedenkstätte
nur für die deutschen Opfer entstehen soll. Ich sage deut-
lich: Das ist falsch. Es soll über eine Gedenkmöglichkeit
in der Dokumentationsstätte nachgedacht werden, die
aber nicht nur für die deutschen Opfer da ist; nein, es
geht – da wiederhole ich mich gern und so oft, wie Sie
möchten – um Vertreibungen weltweit.

Thema Rache. Ähnlich ist das mit der Begrifflichkeit
des Wortes „Rache“. Niemand hat das Recht auf Rache.
Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg und für alle Sei-
ten. Das ist ein Leitgedanke, der bei den aktuellen Kon-
flikten heute viel zu selten eine Rolle spielt. Ich sage
dazu auch deutlich: Verbrechen der Deutschen rechtferti-
gen nicht Verbrechen an Deutschen, aber Verbrechen der
Deutschen werden eben auch nicht kleiner durch die
Verbrechen an Deutschen. Schuld und Leid, das ist im-
mer individuell.

Ich möchte zusammenfassen: Wir sorgen mit dem
Antrag dafür, dass die junge Generation diesem Thema
gegenüber weiterhin aufgeschlossen bleibt, ohne ideolo-
gische Verblendungen, und dass über dieses Thema of-
fen gesprochen wird – nach allen Seiten. Das ist notwen-
dig. Wir tun das nicht nur, damit sich die Leute erinnern
können, sondern auch – das ist das Entscheidende –, da-
mit sie urteilsfähig bleiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Man muss urteilsfähig bleiben, egal ob es das eigene
Land oder eine andere Region betrifft.
Wir wollen die internationale Aufgabe. Wir wollen
nichts verklären. Es geht darum, dass wir friedlich mit
unseren Nachbarn zusammenleben und über alles das re-
den, was in der Vergangenheit über uns gekommen ist –
positiv, negativ.

Ich bedanke mich recht herzlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709022000

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die Fraktion der

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1709022100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen! Sehr geehrte Kollegen! Lassen Sie mich mit drei
Zitaten beginnen. Das erste Zitat:

12 Millionen Vertriebene gründen keine militanten
Freikorps, die sich an den Gefühlen der Gekränkten
und Zukurzgekommenen mästen. Sie gründen auch
keine Untergrundarmee. Sie wurden nicht zum so-
zialen Sprengstoff – wie Stalin es wollte –, sondern
sie verzichteten früh auf Rache und wurden damit
zu etwas wie sozialem Sauerteig.

Sie beginnen sich Stück für Stück aus den Minder-
wertigkeitsgefühlen gegenüber den glücklicheren
Einheimischen zu befreien, ringen denen einen Las-
tenausgleich ab, schlucken den Groll über die All-
tagsdemütigungen herunter, vertrauen auf ihre ei-
gene Kraft und werden damit zum eigentlichen
Motor einer gewaltigen sozialen, wirtschaftlichen
und kulturellen Modernisierung ihrer ganzen Um-
gebung.

Das zweite Zitat:

Umso beeindruckender liest sich auch aus heutiger
Perspektive die Charta, welche die deutschen Hei-
matvertriebenen gleichsam als ihr „Grundgesetz“
verfassten. Unter Punkt eins heißt es da: „Wir Hei-
matvertriebenen verzichten auf Rache und Vergel-
tung.“ Und zweitens: „Wir werden jedes Beginnen
mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaf-
fung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem
die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“
Ich denke, diesem Ziel sind wir heute – jedenfalls
auf dem größeren Teil unseres Kontinents – näher
als jemals in der Vergangenheit.

Und nun das dritte Zitat:

Alle, die in unserem Land leben – die Jungen und
die Älteren, Frauen und Männer, Arbeitnehmer und
Arbeitgeber, Deutsche und Ausländer, Vertreterin-
nen und Vertreter aus Bildung, Kirche, Kultur,
Medien, Politik, Sport, Verbänden, Vereinen und
Wissenschaft – haben daran mitgewirkt. An einem
Deutschland mit Chancen für alle. An einem
menschlichen und toleranten Deutschland. Die
Charta der Heimatvertriebenen hat dabei eine wich-
tige Rolle gespielt.





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Diese Zitate stammen nicht von Vertretern des Bun-
des der Vertriebenen, sie stammen auch nicht von Vertre-
tern der CDU, der CSU oder der FDP, diese drei Zitate
stammen in der Folge von Frau Dr. Antje Vollmer, die
damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war,
vom Altbundeskanzler Gerhard Schröder aus dem Sep-
tember 2000 und vom derzeitigen Parteivorsitzenden der
SPD, Sigmar Gabriel, damals in seiner Funktion als
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mich
beschwert und traurig macht, ist nicht, wie Professor
Ruchniewicz gestern in der Frankfurter Rundschau ge-
schrieben hat, dass unser Antrag ein „Rückfall in Zeiten
des Kalten Kriegs“ sei, was mich wirklich traurig
stimmt, ist, dass die Beiträge der Opposition einen Rück-
fall in Zeiten darstellen, von denen ich eigentlich
glaubte, dass sie schon überwunden seien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte deshalb dringend an Sie appellieren: Besin-
nen Sie sich wieder der Auffassung und der Positionen,


(Iris Gleicke [SPD]: Besinnen wäre angebracht! Besonders bei Ihnen!)


die führende Vertreter Ihrer Parteien schon einmal vor
mehreren Jahren vertreten haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch einmal unseren Änderungsantrag! Was reden Sie an der Sache vorbei!)


Man muss doch gar kein Anhänger und vielleicht
auch gar kein Freund des Bundes der Vertriebenen sein,
um anzuerkennen, dass die Charta der Heimatvertriebe-
nen vom 5. August 1950 ein historisch herausragendes
Dokument ist, ein singuläres Dokument, ein Akt der
Selbstüberwindung, wie es die Präsidentin des BdV, die
Kollegin Erika Steinbach, genannt hat.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besonders wenn man sich die Autoren anschaut! – Weitere Zurufe des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und von der LINKEN)


Ich möchte auch in aller Deutlichkeit betonen, dass
wir uns davor hüten sollten, uns zu überheben – ich spre-
che da auch ganz bewusst den Herrn Kollegen Thierse
an –, indem wir die Charta der Heimatvertriebenen jetzt,
60 Jahre später, hier im wohltemperierten Plenarsaal des
Bundestages losgelöst von ihrem historischen Kontext
bewerten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Charta der Heimatvertriebenen wurde verab-
schiedet von leidenden, gedemütigten, traumatisierten
Menschen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wurde unterzeichnet von einer Phalanx von SS-Offizieren! Die anderen konnten doch nur noch zustimmen! Das ist doch Geschichtsklitterung!)


Damals, 1950, lebten 49,5 Prozent der Heimatvertriebe-
nen in Westdeutschland noch in Lagern,


(Jan Korte [DIE LINKE]: SS-Offiziere als Opfer, oder was?)


34 Prozent der Heimatvertriebenen lebten in Notunter-
künften. Ich bitte Sie wirklich eindringlich, dieses histo-
risch herausragende Dokument, ein Gründungsdoku-
ment der Bundesrepublik Deutschland, als das es der
Bundestagspräsident bezeichnet hat, wirklich im histori-
schen Kontext zu betrachten.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie das Grundgesetz?)


Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, ich glaube wirk-
lich, dass wir einen Fehler machen würden, wenn wir be-
haupten, man hätte den einen oder anderen Satz in der
Charta anders formulieren können. Die Heimatvertriebe-
nen konnten doch gar nicht auf Rache und Vergeltung
verzichten, weil sie rechtlich gar keinen Anspruch da-
rauf hatten. Die Charta der Heimatvertriebenen war kein
rechtliches Gutachten. Sie war auch keine historische
Abhandlung. Deswegen ist der Vorwurf verfehlt, zu sa-
gen, die Heimatvertriebenen hätten in der Charta histo-
risch plausibel zu wenig auf die Ursachen der Vertrei-
bung Rücksicht genommen und seien zu wenig darauf
eingegangen. Nein, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, alle Deutschen – egal ob sie Vertriebene
sind oder nicht, egal ob sie einen Vertriebenenhinter-
grund haben oder nicht – können auf diese Charta stolz
sein,


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Nein!)


und zwar ohne Schaum vor dem Mund und ohne Ideolo-
gie. Sie ist ein Zeichen der Kraft, der Zuversicht und der
Aufbruchsstimmung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709022200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Korte von der Fraktion Die Linke?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1709022300

Sehr gerne.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709022400

Sehr geehrter Kollege Mayer, ich möchte auf die

Frage zurückkommen – Sie haben sie gerade angespro-
chen –, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist. Möchten
Sie wirklich behaupten, dass die von der Kollegin
Jochimsen vorhin detailliert genannten ehemaligen Mit-
glieder der SS – das waren zum Teil ranghohe SS-Offi-
ziere – Opfer gewesen sind? Ist das ernsthaft Ihre Posi-
tion?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1709022500

Herr Kollege Korte, ich möchte eines in aller Deut-

lichkeit festhalten: Die Tatsache, ob jemand vertrieben





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

wurde oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ihm persönli-
che Schuld nachgesagt werden kann oder nicht.


(Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP])


Es sind Menschen vertrieben worden, die in das natio-
nalsozialistische Unrechtsregime mit eingebunden wa-
ren. Es sind aber weitaus mehr – millionenfach – Men-
schen vertrieben worden, die vollkommen unschuldig
waren. Herr Kollege Korte, der Umstand, ob man ver-
trieben wurde oder nicht, war nur darauf zurückzufüh-
ren, wo man lebte. Das war also ein zufälliger Aspekt.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: 60 Prozent Frauen und Kinder!)


Viele Menschen in Westdeutschland, die vielleicht selbst
große Schuld an den grausamen Verbrechen des Natio-
nalsozialismus gehabt haben, sind nicht vertrieben wor-
den. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem
Zweiten Weltkrieg sind aber weitaus mehr Menschen
vertrieben worden, die vollkommen unschuldig waren.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden gerade über die Charta!)


Deren Schicksal zu gedenken, dafür sind wir nach wie
vor in vollem Umfang verantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Charta war und ist ein herausragendes Dokument,
das für die weitere Erfolgsgeschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland wegweisend war.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Von der SS unterzeichnete Papiere! Das ist nachgewiesen!)


Wie schon erwähnt: Darauf können wir alle sehr stolz
sein.

Die Integrationsleistung von 12 Millionen Heimatver-
triebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist aus meiner
Sicht eine der größten gesellschaftspolitischen Leistun-
gen des 20. Jahrhunderts in Deutschland.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig!)


Wir Deutsche haben den Auftrag, den wir nach dem
Zweiten Weltkrieg bekommen haben, meines Erachtens
sehr stringent und auch sehr behände angenommen und
auf politischer Seite dann 1952 mit dem Lastenaus-
gleichsgesetz und 1953 mit dem Bundesvertriebenenge-
setz entsprechend begleitet. Ich finde, diesem histori-
schen Dokument sind wir nach wie vor verantwortlich.
Deswegen ist es richtig, dass der 5. August endlich zum
nationalen Gedenktag erhoben wird, um dem schreckli-
chen Schicksal von 12 Millionen Heimatvertriebenen
und 3 Millionen Menschen, die bei der Flucht ums Le-
ben gekommen sind, weiterhin dauerhaft zu gedenken
und um in die Zukunft gerichtet als Mahnung zu dienen.
Damit wollen wir erreichen, dass sich Derartiges in
Deutschland, aber auch auf dem ganzen Globus nie mehr
wiederholt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In diesem Sinne möchte ich abschließend dringend an
Sie alle appellieren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709022600

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1709022700

Insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus den

Reihen der Opposition darf ich die Haltung des früheren
Bundesinnenministers Otto Schily, seines Zeichens SPD-
Mitglied, in Erinnerung rufen, der 1999 selbstkritisch
eingeräumt hat, dass es insbesondere aufseiten der Lin-
ken in Deutschland über Jahrzehnte hinweg eine Ver-
harmlosung und eine Verniedlichung des Schicksals der
Heimatvertriebenen gegeben hat.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709022800

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Erika

Steinbach.


(Iris Gleicke [SPD]: Uns bleibt aber auch nichts erspart!)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1709022900

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!

Manches an den Beiträgen von der linken Seite war
schon erschütternd; das muss ich wirklich sagen.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Vielleicht für Sie!)


Ein Teil der Deutschen hat aufgrund des Wohnortes eine
Kollektivstrafe über sich ergehen lassen müssen, obwohl
sie an den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht
mehr und nicht weniger schuld gewesen sind als ein
Hamburger, ein Berliner oder ein Münchner. Obwohl
– so sagt man – die „Hauptstadt der Bewegung“ Mün-
chen gewesen ist, sind die Münchner nicht vertrieben
worden. Die Deutschen, die in Ost- und Mitteleuropa ge-
lebt haben, sind kollektiv einer Strafe unterzogen wor-
den, die sie nicht mehr und nicht weniger als alle ande-
ren verdient haben, nämlich gar nicht. Vertreibung ist ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keiner hat die Vertreibung gelobt!)


Jetzt muss man eines hinzufügen. Es wird immer ge-
sagt, dass in der Charta der deutschen Heimatvertriebe-
nen steht:

Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und
Vergeltung.

Es gibt kein Recht auf Rache und Vergeltung; aber in
ganz vielen Menschen gibt es ein Gefühl, das auf Rache
und Vergeltung beruht. Ich hätte mir gewünscht, dass je-
mand wie der frühere Außenminister Fischer – er hat in





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

seinen Straßenkämpferzeiten Arafat, einen gewalttätigen
Menschen, der Rache für das Schicksal der Palästinenser
geübt hat, besucht – das Thema einmal anders betrachtet
hätte.

In der Charta kommt eine innere Überzeugung zum
Ausdruck: Wir wollen das Gefühl der Rache nicht zulas-
sen; wir wollen unseren Schicksalsgefährten mit auf den
Weg geben, dass dieses Gefühl in uns nicht wachsen
darf; wir wollen den Weg des Friedens, der Versöhnung
und des Miteinanders gehen; wir wollen Europa in Frie-
den mit aufbauen, damit die Völker versöhnt miteinan-
der leben können.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wo bleiben eigentlich die Opfer? – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können sie tun, indem sie sich auf das Grundgesetz beziehen! Da ist es geregelt!)


Mit der Art und Weise, wie Sie heute überheblich auf
all das schauen, was sich damals in den Menschen abge-
spielt hat, blenden Sie aus, dass die Verabschiedung ei-
nes solchen Dokuments in der damaligen Situation eine
übermenschliche Handlung war: acht- und zehnjährige
Jungen hatten erlebt, wie ihre Mütter vergewaltigt wur-
den; Frauen hatten gesehen, wie ihre Kinder erschlagen
wurden;


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wo bleiben eigentlich die Bombenopfer in den Großstädten?)


viele haben noch 1955 hier in Berlin, im Gasometer, zu
sechst auf 6 Quadratmetern gelebt, ohne Fenster, ohne
alles. Das heute auszublenden, zeugt von wenig Mitge-
fühl für diejenigen, die ein Sonderschicksal erlitten ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709023000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „60 Jahre
Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung
vollenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4651, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck-
sache 17/4193 anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Grünen auf
Drucksache 17/4693? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stimmen
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.

Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4651? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar
Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch
und barrierefrei gestalten

– Drucksachen 17/3433, 17/4659 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Körber

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1709023100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Nach der Ausschussberatung befassen wir uns
heute abschließend mit dem Antrag der Linken „Grund-
recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-
stalten“.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Guter Antrag!)


– Ja. – Dieser Antrag, den wir schon im Ausschuss bera-
ten haben, macht deutlich, dass die Linken in Deutsch-
land bezüglich der Wohnungspolitik kein kompetenter
Gesprächspartner sind.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wie kann man denn so einen Quatsch sagen?)


Der Antrag zeigt, dass die Linke die tatsächliche Ent-
wicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt vollkom-
men ignoriert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 2 Prozent barrierefrei! Spitzenmäßig!)


Wir Abgeordnete können den Wohnungsmarkt bei
uns sehr wohl mit dem Wohnungsmarkt in anderen euro-
päischen Ländern vergleichen. Ich finde, der Wohnungs-
markt in Deutschland ist vorbildlich. Dieser Antrag ist
realitätsfremd und unsachlich. Ich möchte nur einen
Punkt herausgreifen. In dem Antrag steht:

Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland
existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohn-
raum.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Lieber nicht!)


Diese Aussage ist durchweg falsch.

Mir ist es wichtig, dass wir ein realistisches Bild von
der Wohnungsmarktsituation in Deutschland zeichnen
und die falschen Behauptungen der Linken korrigieren.





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Wichtigste vorweg: Die Wohnraumversorgung in
Deutschland ist gut.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Über Wohnen hätten wir gestern in der Aktuellen Stunde sprechen können!)


2006 gab es in Deutschland 39,6 Millionen Wohnungen.
Ich freue mich schon auf die Wohnraumerfassung; denn
dann werden wir aktuellere Daten haben. Von diesen
39,6 Millionen Wohnungen waren knapp 24 Millionen
Wohnungen Mietwohnungen. Das geht aus dem Bericht
über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft des Bun-
desbauministeriums hervor. Von diesen 39,6 Millionen
Wohnungen standen 2006 3,1 Millionen Wohnungen
leer. Das sind 8 Prozent des kompletten Wohnungsbe-
standes. Selbstverständlich existieren regionale Unter-
schiede bei der Wohnraumversorgung. Dennoch haben
wir keinen Wohnraummangel. Der Wohnungsmarkt ent-
wickelt sich stabil.

Das gilt auch für die Mietpreise. Die Nettomieten sind
zwischen 1997 und 2007 jährlich um durchschnittlich
1,1 Prozent gestiegen. Die durchschnittliche Preissteige-
rungsrate in diesen Jahren lag mit 1,5 Prozent deutlich
höher. Die von den Linken beschworene dramatische
Preissteigerung bei den Mieten hat es nicht gegeben.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wo leben Sie denn?)


– Und wo leben Sie? Ich spreche von den Nettomieten.
Zwischen brutto und netto sollten Sie unterscheiden kön-
nen. Das zu vertauschen, haben früher schon andere ver-
sucht.

Auch die Linke sollte Statistiken zur Kenntnis neh-
men. Richtig ist, dass der Wohnungsmarkt sich selbst-
verständlich geänderten Rahmenbedingungen anpassen
muss. In einer sozialen Marktwirtschaft wird er das auch
tun.

In Deutschland ist ein Trend eindeutig feststellbar:
Mehr und mehr Menschen zieht es in die Städte und in
die Ballungsräume. Die Kehrseite dieser Entwicklung
ist, dass die Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum
weiter abnimmt. Insbesondere in den neuen Bundeslän-
dern ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Es ist unsere
Aufgabe, darauf zu reagieren.

In einer älter werdenden Gesellschaft müssen außer-
dem mehr Wohnungen barrierefrei ausgestaltet werden.
Deshalb hat das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung das KfW-Programm „Altersgerecht Um-
bauen“ aufgelegt. Hierdurch schaffen wir von der Politik
Anreize zum barrierefreien Ausbau bestehender Woh-
nungen. Gleichzeitig müssen wir die CO2-Einsparpoten-
ziale des Wohnungsbereichs möglichst optimal aus-
nutzen. Durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist
es gelungen, in den Jahren 2006 bis 2008 rund
800 000 Wohnungen energetisch zu sanieren. Auch hier
sind wir auf einem richtigen und guten Weg. Politisch
wird das begleitet. Es wäre schön, wenn das auch ohne
Anreizsysteme, aufgrund von Überzeugungen klappen
würde.

Grundsätzlich muss gewährleistet sein, dass alle Men-
schen in unserem Land, auch die sozial Schwächeren,
angemessen und menschenwürdig wohnen können. In
diesem Zusammenhang möchte ich das Wohngeld als
gut funktionierendes Instrument herausstellen. Mithilfe
des Wohngeldes können auch einkommensschwache
Haushalte in einer angemessenen und familiengerechten
Wohnung leben. Das Wohngeld wirkt dabei sehr zielge-
richtet. Seine Höhe bemisst sich sowohl nach den regio-
nalen Gegebenheiten am jeweiligen Wohnungsmarkt als
auch nach den individuellen Bedürfnissen des Wohn-
geldempfängers. Es ist das flexible und treffsichere In-
strument der Wohnungspolitik.


(Sören Bartol [SPD]: Deswegen hättet ihr es aber nicht kürzen müssen!)


Das sind nur einige der Maßnahmen, mit denen wir
einen zunehmend barrierefreien, umweltfreundlichen
und sozial ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutsch-
land anregen. Vieles, was die Linke in ihrem Antrag for-
dert, ist bereits heute gängige Praxis.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was denn zum Beispiel?)


Nun zur Forderung der Linken, ein Grundrecht auf
Wohnen gesetzlich zu verankern. Das Sozialstaatsprin-
zip unseres Grundgesetzes verpflichtet den Staat bereits
jetzt, die Versorgung der Bevölkerung mit angemesse-
nem Wohnraum sicherzustellen. Der Staat hat die Auf-
gabe, Obdachlosigkeit, Wohnungsmangel und men-
schenunwürdiges Wohnen zu bekämpfen. Die Zahlen
beweisen, dass diese Bundesregierung und frühere Bun-
desregierungen diese Aufgabe stets gut erfüllt haben.

Ein von den Linken gefordertes in der Verfassung
verankertes Grundrecht auf Wohnen würde an der Le-
benswirklichkeit überhaupt nichts ändern. Wir als christ-
lich-liberale Koalition sehen es stattdessen als unsere
Aufgabe an, unseren ausgewogenen Wohnungsmarkt
weiter zu optimieren. Dies wird insbesondere durch
wohldosierte Neuregelungen im Mietrecht gelingen.

Unser Mietrecht ist seit jeher Garant sozial ausgewo-
genen Wohnens in Deutschland. Das deutsche Mietrecht
hatte stets beides im Blick, die Interessen der Vermieter,
die natürlich ein Interesse an der Wirtschaftlichkeit ihrer
Investition haben, und den Schutz der Mieter. Mietern
und Vermietern sollte also über das Mietrecht die Mög-
lichkeit gegeben werden, einen angemessenen Vertrag
zu schließen, sodass beide wissen, woran sie sind, damit
sie eine gute Investitionsentscheidung oder die Entschei-
dung treffen können, in diesem Haus zur Miete zu leben.

CDU/CSU und FDP werden die Ausgewogenheit des
deutschen Mietrechts weiter erhöhen. Insbesondere im
Bereich der energetischen Sanierung sind Anpassungen
dringend notwendig. Im Sinne des Klimaschutzes wol-
len wir verstärkt Anreize zur energetischen Sanierung
schaffen.

Gleichzeitig haben die Mieter ein berechtigtes Inte-
resse daran, dass ihre Wohnsituation nicht über Gebühr





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)

durch Sanierungsmaßnahmen belastet wird. Auch hier-
bei streben wir eine sachgerechte Lösung an. Einen
Rechtsanspruch auf die Durchführung energetischer Sa-
nierungen, wie ihn die Linke fordert, lehnen wir strikt
ab. CDU und CSU sind Mietern und Vermietern glei-
chermaßen verbunden. Wir suchen nach dem wunderba-
ren Mittelweg.

Meine Damen und Herren, meine Kollegen werden
weitere Aspekte dieses Antrags in die Debatte einführen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Ausschuss
noch über das Mietnomadentum debattieren werden.


(Sören Bartol [SPD]: Die gibt es nicht! – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 400 Mietnomaden! – Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


– Sie haben das wunderbar gelesen. Sie haben auch gele-
sen, dass das keine statistische Grundgesamtheit war,
sondern dass das Fälle waren, anhand derer das Miet-
nomadentum in Deutschland untersucht wurde.

Ich halte es für wichtig, dass wir uns dieser Problema-
tik widmen und dass wir Vermieter vor solchen Fällen
schützen. Das werden wir noch intensiv tun.


(Sören Bartol [SPD]: Finger weg vom Mietrecht!)


Grundsätzlich ist festzustellen, dass wir einen ausge-
wogenen Wohnungsmarkt in Deutschland haben. Dass
das so ist, dafür ist allen Bundesregierungen der Vergan-
genheit zu danken. Wir bitten, der Beschlussempfehlung
des Ausschusses zuzustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709023200

Der Kollege Bartol hat für die SPD-Fraktion das

Wort.


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1709023300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Großen und Ganzen haben wir in Deutschland einen
ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Das ist gut so; denn
angemessener Wohnraum in einem lebenswerten Um-
feld ist ein Grundbedürfnis, für dessen Befriedigung wir
uns immer eingesetzt haben. Das ist eine zentrale Moti-
vation sozialdemokratischer Bau-, Wohnungs- und
Stadtentwicklungspolitik.

Der Wohnungsmarkt stellt sich regional aber sehr un-
terschiedlich dar. Darauf weisen Sie zu Recht hin, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Leerstände
in bestimmten Gebieten stehen steigenden Mieten zum
Beispiel in Ballungszentren gegenüber. Es gibt also
durchaus Herausforderungen, die es anzupacken gilt.

Doch leider wird der vorliegende Antrag der Links-
fraktion uns bei diesen Aufgaben überhaupt nicht voran-
bringen. Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlich
machen.

Erstens. Wohnungslosigkeit war Ende vergangenen
Jahres Thema hier im Plenum. Wir sind gerade dabei,
uns auf Berichterstatterebene intensiv damit zu beschäf-
tigen. Ich finde es übrigens toll, dass sich die zuständi-
gen Abgeordneten aus allen Fraktionen daran beteiligen.
Wir werden uns morgen mit Experten treffen und da-
rüber beraten, welche Maßnahmen auf Bundesebene
vielleicht sinnvoll sein könnten.

Wohnungslosigkeit konnten wir bisher zum Beispiel
über Mietrecht und Wohngeld ganz gut begegnen. Die
quantitative Entwicklung der Wohnungslosigkeit in den
letzten 20 Jahren ist sehr positiv. Für Wohnraumpolitik
sind seit der Föderalismusreform hauptsächlich die Län-
der zuständig. In einigen Landesverfassungen ist ein
Grundrecht auf Wohnen verankert. Deshalb stellt sich
die Frage, ob uns eine besondere bundesgesetzliche Re-
gelung, wie sie die Linksfraktion fordert, an dieser Stelle
wirklich weiterbringen würde.

Die Länder bekommen für die soziale Wohnraumför-
derung Geld aus dem Bundeshaushalt. Hier haben wir
einen Hebel, um den Wohnungsmarkt positiv zu beein-
flussen. Ich fordere die Regierung auf, sicherzustellen,
dass die Länder die Mittel sinnvoll einsetzen.


(Patrick Döring [FDP]: Fangen wir damit mal in Berlin an!)


Über 500 Millionen Euro pro Jahr sind kein Pappenstiel.
Bei derartigen Beträgen ist eine strenge Erfolgskon-
trolle, lieber Kollege Döring, sehr wichtig.

Zweitens. Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag
eine deutliche Ausweitung des Wohngelds. Niemand,
der unterdurchschnittlich verdient, solle mehr als 30 Pro-
zent seines Einkommens für seine Wohnung, für Miete,
Heizung, Wasser und Nebenkosten, ausgeben müssen.
Der Rest soll vom Staat übernommen werden. Nun hat
Schwarz-Gelb das Wohngeld gerade erst gekürzt. Die
Heizkostenkomponente, lieber Kollege Storjohann, ist
gerade abgeschafft worden. Sie war 2009 auf Betreiben
der SPD eingeführt worden. Lieber Herr Kollege, als Sie
von der Sinnhaftigkeit des Wohngeldes gesprochen ha-
ben, hätten Sie vielleicht kurz erwähnen sollen, dass es
ein großer Fehler war, die Heizkostenkomponente abzu-
schaffen.


(Beifall bei der SPD)


Das Wohngeld kräftig aufzustocken, steht also leider
im Moment nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr müs-
sen wir gemeinsam versuchen, mühsam Erreichtes zu
verteidigen und Abgeschafftes wieder einzufordern. Ihr
Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Links-
partei, ist – wie so oft in sozialpolitischen Angelegenhei-
ten – leider völlig unrealistisch und in keiner Weise
durchsetzbar.

Die Kosten für Haushaltsenergie werden mittelfristig
immer weiter steigen. Daran kann niemand ernsthaft
zweifeln. So ist zum Beispiel Heizöl in den knapp zwei
Jahren seit der Einführung der Heizkostenkomponente
um über 20 Prozent teurer geworden. Die Regierung
lässt Einkommensschwache, für die steigende Heizkos-
ten besonders schwer zu verkraften sind, völlig alleine.
So werden die Menschen in Arbeitslosengeld-II-Bezug
und in die Grundsicherung gedrängt. Das ist zurzeit die
Entwicklung. Eine solche Politik wird dafür sorgen, dass





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)

sich Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können.
Wohngeld ist mehr als eine soziale Transferleistung, es
trägt auch zu ausgewogenen Bevölkerungsstrukturen in
den Stadtteilen und damit zur Lebendigkeit und Attrakti-
vität der Städte bei.


(Beifall des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD])


Schwarz-Gelb betreibt nicht nur unsoziale Rotstift-
politik zulasten von Einkommensschwachen, Rentnern
und Alleinerziehenden, sondern verschärft auch die so-
ziale Spaltung in den Städten. Wir fordern von der Re-
gierung, das Wohngeld als zielgerichtetes Instrument für
eine angemessene Wohnraumversorgung wieder zu stär-
ken. Die Einbeziehung der Heizkosten, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Koalition, ist dabei ein ganz
wichtiger Aspekt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittes und letztes Beispiel: die Städtebauförderung.
Ich freue mich, dass wir von der Opposition uns darin
einig sind, dass die Kürzungen der Mittel für die Städte-
bauförderung und insbesondere der Mittel für das Pro-
gramm „Soziale Stadt“ nicht hinnehmbar sind. Gemein-
sam mit dem gerade gegründeten „Bündnis für eine
Soziale Stadt“ werden wir dafür eintreten, dass diese
Kürzungen im Haushalt 2012 zurückgenommen werden.
Dort, wo die Länder das Ausfallen der Bundesmittel für
Gebiete der „Sozialen Stadt“ nicht kompensieren – Ber-
lin und Nordrhein-Westfalen tun dies –, sind viele Stadt-
teilprojekte ohne Zukunftsperspektiven. Wir fordern die
Bundesregierung auf, ihrer Verantwortung für eine so-
zial ausgewogene Entwicklung der Städte und Gemein-
den wieder gerecht zu werden.


(Beifall bei der SPD – Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, Herr Staatssekretär!)


Die Forderung der Linken nach einer Zusammenle-
gung der Städtebauförderungsmittel in einem Topf halte
ich für nicht hilfreich.


(Patrick Döring [FDP]: Das könnte fast von mir sein!)


Steuerungsmöglichkeiten des Bundes bei programmati-
schen Schwerpunktsetzungen und einen expliziten Pro-
blembezug der einzelnen Programme möchte ich nicht
aufgeben. Die bisherige differenzierte Programmstruktur
hat sich bewährt und sollte aufgrund der programmbe-
gleitenden Evaluation im Dialog mit den Ländern, den
Kommunen und den an der Programmumsetzung Betei-
ligten fortentwickelt werden.

Im Oktober letzten Jahres fand die erste Lesung die-
ses Antrags statt. Ich kann mich nur an sehr wenige An-
träge erinnern, die so kurzfristig vor der entsprechenden
Plenarsitzung verteilt wurden. Anscheinend haben Sie
ihn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspar-
tei, erst im letzten Moment fertiggestellt. Ich muss es lei-
der sagen: Er wirkt an vielen Stellen wie mit der heißen
Nadel gestrickt.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Alles geplant!)

Unter dem Strich kann man sagen: Die Linksfraktion
macht mit diesem Antrag eine ganze Reihe von Fässern
auf, beschränkt die Begründung aber leider immer auf
ein paar Sätze. So ist ihr Antrag keine Grundlage für
eine zielführende Debatte. Das ist schade; denn ange-
sichts der unökologischen und unsozialen Wohnungs-
politik dieser Bundesregierung wären es einige Aspekte
sicher wert gewesen, sich ernsthafter mit ihnen zu befas-
sen.

Wir brauchen eine gut ausgestattete Städtebauförde-
rung, die sich nicht auf die Finanzierung von Beton be-
schränkt. Wir brauchen mehr energetisch sanierte Woh-
nungen, um sinnvolle Klimaschutzziele zu erreichen.
Dabei muss unter anderem die Politik dafür sorgen, dass
das Wohnen in den Innenstädten auch für Menschen mit
kleinem Einkommen bezahlbar bleibt.

Schwarz-Gelb macht bei all dem das Gegenteil. Die
Regierung kürzt die Mittel und beschränkt so die Städte-
bauförderung, sie streicht die Mittel für die CO2-Gebäu-
desanierung zusammen, sie stellt Wohngeldempfänger
schlechter, und – das haben wir gerade vom Kollegen
Storjohann gehört – sie plant eine Mietrechtsnovelle, die
die Rechte der Mieterinnen und Mieter noch weiter ein-
schränken soll.


(Christian Ahrendt [FDP]: Woher wissen Sie das denn?)


Gegen diese Entwicklung stellt sich die SPD-Bundes-
tagsfraktion. Ich würde mich freuen, wenn sich auch die
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion auf ver-
nünftige Art und Weise daran beteiligen würden.


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir sind immer vernünftig!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709023400

Die Kollegin Müller hat für die FDP-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1709023500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäfti-
gen uns heute mit dem Thema „Wohnen in Deutsch-
land“. Ich muss ganz ehrlich sagen: Etwas Zielführendes
konnte ich, als ich den Antrag das erste Mal gelesen
habe, nicht unbedingt erkennen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Fraktion der Linken. Ich glaube, wir sollten
uns mit diesem Thema beschäftigen, weil dem Hohen
Haus und uns allen bewusst ist, welch große Bedeutung
das Thema „Wohnen in Deutschland“ hat. Wir in der
christlich-liberalen Koalition tun das mit unserer Politik
der Städtebauförderung,


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit sozialem Ausgleich, oder wie ist das? Das haben Sie vergessen!)


des Wohngeldes, der CO2-Gebäudesanierung und der so-
zialen Wohnraumförderung.


(Sören Bartol [SPD]: Der Hotels!)






Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)

– Ich wusste noch gar nicht, dass Sie im Hotel wohnen,
Herr Bartol.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Haben Sie denn wenigstens auch etwas davon, dass die
Mehrwertsteuer für die Hotellerie gesenkt wurde?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Eben nicht! Weil die Preise gar nicht runtergegangen sind! Der Lobbyismus bleibt an einem kleben, und das zu Recht! – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Gewinne haben sich erhöht, die Zimmerpreise sind aber gleich geblieben!)


Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken, zu Ihrem Antrag. Darin beschreiben Sie,
dass die Bundesregierung, alle wichtigen Fachverbände
und der Fachausschuss unseres Hauses – ich zitiere –
„ein weitgehend zutreffendes Bild der Situation des
deutschen Wohnungsmarktes“ zeichnen. Diese Bundes-
regierung und die Fachverbände, so schreiben Sie wei-
ter, gehen davon aus, dass die Wohnungsversorgung in
Deutschland gut ist. So weit, so gut.

Nur einen Absatz weiter kommen Sie in Ihrem Antrag
aber zu der absurden Behauptung – Zitat –:

Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland
existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohn-
raum.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Das meinen wir ernst!)


Ich muss ehrlich sagen: Damit verblüffen Sie mich.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Mich verblüfft, was Sie dazu sagen!)


Einerseits sagen Sie: Alle Beteiligten zeichnen ein zu-
treffendes Bild. Andererseits sagen Sie: Nirgendwo gibt
es ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. Ich
muss Sie wirklich fragen: Was wollen Sie eigentlich?


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Bedarfsgerechten Wohnraum!)


Ich muss Sie noch etwas fragen: Ist das Ihre scharf-
sinnige Analyse des deutschen Wohnungsmarktes, auf
der Sie Ihre politischen Forderungen aufbauen? Dann
kann ich nur eines sagen: Das ist eine sehr ideologisch
durchsetzte und untermauerte Analyse.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Damit kennt ihr euch aus!)


Die Versorgung mit Wohnraum in der Bundesrepublik
Deutschland ist seit Jahren grundsätzlich sichergestellt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Für die natürlichen regionalen Unterschiede auf dem
Wohnungsmarkt machen Sie die Immobilienbranche
verantwortlich.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das sind ja Ihre Kumpel!)

Die Immobilienbranche, zu der vorwiegend kleine und
mittlere Unternehmen sowie Einzeleigentümer gehören,
ist also Ihrer Meinung nach daran schuld. Richtig ist na-
türlich, dass es regionale Unterschiede gibt. In einigen
Regionen gibt es ein Überangebot, und in den megaurba-
nen Ballungsräumen ist die Angebotslage ausbaufähig.
Der Markt reguliert das von ganz alleine,


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, ja!)


durch Angebot und Nachfrage.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Sie aber fordern ein Diktat aus Berlin. Sie fordern indi-
rekt sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist Marktideologie, was Sie da erzählen!)


Was Menschen zu tun oder zu lassen haben, was Men-
schen denken oder nicht denken und bauen oder nicht
bauen, das ist ihre eigene freie Entscheidung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Wie kann man nur so ideologisch sein? Ich verstehe so etwas nicht! Das ist unfassbar! – Gegenruf des Abg. Christian Ahrendt [FDP]: Herr Korte, lassen Sie sich das mal von Frau Müller erklären!)


– Ich kann auch schreien.

Wir leben in einer freiheitlich-sozialen Marktwirt-
schaft. Eigentum ist in diesem Land ein geschütztes Gut.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und es verpflichtet!)


Jeder hat das Recht, seine Lebensziele zu bestimmen,
seine Chancen zu suchen und zu nutzen.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Die Betonung liegt auf „jeder“!)


– Ja, jeder.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja! Nicht nur FDPWähler! Das ist der Unterschied! – Gegenruf von der CDU/CSU: So ein Blödsinn!)


Die Immobilienwirtschaft, die hier ein wenig an den
Pranger gestellt wird, ist von großer Bedeutung für die
Volkswirtschaft. Rund eine halbe Million Erwerbstätige
arbeitet in der Immobilienwirtschaft. Deshalb müssen
wir kleine und mittlere Unternehmen, die privaten
Eigentümer, die kommunalen und die gewerblichen
Wohnungsbaugesellschaften unterstützen. Die unterneh-
merische Freiheit durch ein ideologisches Korsett einzu-
engen, kann nicht unser Anliegen sein.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Wie bei den Finanzmärkten!)


Deutschland ist ein Mieterland.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Super Analyse!)


Sechs von zehn Deutschen leben in einer Mietwohnung.


(Sören Bartol [SPD]: Umso wichtiger, dass man nicht am Mietrecht rumfummelt!)






Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)

Ziel muss es daher sein – und das war immer unser An-
liegen –, die Wohneigentumsquote zu erhöhen.


(Zurufe von der LINKEN)


Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam die Bedeu-
tung des Wohneigentums betont; denn es stärkt die re-
gionale Verbundenheit und ist traditionelle Altersvor-
sorge. Das nenne ich bürgerliche Politik.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist keine Tradition! Das haben Sie gerade selber gesagt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, was Sie vorschlagen, ist ein ganzer Katalog an
Forderungen – mal sind es Forderungen, die in die Län-
derhoheit fallen, mal sind es Forderungen, die in der
kommunalen Verantwortung liegen, und mal ist die Bun-
desebene zuständig. Ehrlich gesagt, so etwas ist Schau-
fensterpolitik.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Die FDP ist nur für die Villen zuständig!)


Ich gehe auf die Punkte ein. Fakt ist – und da sind wir
uns wahrscheinlich alle einig –: Die Gesellschaft wird
älter. Wir erleben den demografischen Wandel. Wir
möchten, dass ältere Menschen lange und selbstbe-
stimmt in ihren eigenen vier Wänden, in ihren eigenen
Wohnungen und in ihrem Quartier leben können.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nicht lange, sondern bis zuletzt!)


Das ist es, was wir unterstützen. Wir unterstützen das
mit dem KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“.

Wir unterstützen auch die Verbesserung der Energie-
effizienz; diese steht bei uns ganz oben auf der Agenda.
Mit dem Energieeffizienzgesetz ist es uns das erste Mal
gelungen, die Finanzierung der Förderung alternativer
Energien sicherzustellen, und wir reagieren mit dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Beide Maßnahmen
setzen Investitionsanreize. Das ist ganz wichtig für die
deutsche Wirtschaft, für die Eigentümer, für die Nutzer.
Beide Programme sind überaus erfolgreich.

Vielleicht noch ein Punkt – es wurde gerade ange-
sprochen –: die Ausgleichszahlungen an die Länder.
Diese belaufen sich auf 518 Millionen Euro; das ist rich-
tig. 518 Millionen Euro werden für soziale Wohnraum-
förderung eingesetzt. Gefördert wird die Barriereredu-
zierung im Bestand. Gefördert wird Modernisierung.
Gefördert werden Alten- und Pflegeheime und selbstver-
ständlich auch der Neubau.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städtebau ist viel-
schichtig. Er muss differenziert betrachtet werden: nach
Region und Eigentümerstruktur, nach ökonomischen
und ökologischen Erfordernissen und natürlich nach so-
zialen Belangen. Genau das tun wir, und zwar zielfüh-
rend und erfolgreich über die Städtebauförderung und
KfW-Programme.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen der
Linken, Sie fordern eine bedarfsgerechte Versorgung der
Menschen mit Wohnraum. Sie stellen eingangs Ihres An-
trags fest, dass die Wohnungsversorgung gut ist. Der
Meinung sind wir auch, weil wir das leisten, und zwar
durch ein soziales Mietrecht, durch Wohngeld, durch
Wohnraumförderung der Länder.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das zeigt, wie sachlich wir argumentieren!)


Was Sie fordern, ist ein Diktat aus Berlin.


(Zurufe von der LINKEN: Nö!)


Deshalb sagen wir Nein zu Ihrem Antrag.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Es sprach die villenpolitische Sprecherin! Einfach unfassbar!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709023600

Das Wort hat die Kollegin Bluhm für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Jan Korte [DIE LINKE]: Jetzt kommt mal Substanz!)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709023700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen vor allem der Koalitionsfraktionen!
Was wir von Ihnen immer wieder hören, ist Folgendes:
Hartz IV ist gut. Die Wirtschaft ist gut. Auch der Woh-
nungsmarkt ist gut. Alles ist gut. – Sie haben die Mög-
lichkeit, hier immer wieder zu verkünden: Alles, was Sie
machen, ist gut. – Es gibt Gott sei Dank die Opposition,
die Ihnen zeigt, dass es auch eine Kehrseite Ihrer Politik
gibt, und das will ich hier heute versuchen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eines der Kernanliegen der Linken ist es, die sozialen
Bedürfnisse der Menschen zu sozialen Rechten zu ma-
chen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Realität sieht aber anders aus: Wohnungen werden
immer mehr zur gewöhnlichen Handelsware – mittler-
weile auch auf dem internationalen Parkett.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


Immobilien machen heute – und auch das sagt der
Wohnungsbericht – mit rund 86 Prozent den herausra-
genden Anteil am deutschen Anlagevermögen, also nicht
am Sozialvermögen des Staates, sondern am Anlagever-
mögen der Bürgerinnen und Bürger, aus.

Die Regierungen der letzten 20 Jahre haben diesen
Trend mit ihrer Politik stets befördert: mit Sonderab-
schreibungen für Anleger, mit der Förderung privaten
Wohnungsbaus, durch die der soziale Wohnungsbau ver-
drängt wurde, oder gar mit der Riester-Rente, mit der
suggeriert wird, dass man sich damit vor Altersarmut
schützen kann. Damit zieht sich der Staat immer weiter
aus der sozialen Verantwortung zurück: zum Beispiel
durch weitere Privatisierungen und den Verkauf an insti-
tutionelle Anleger, zum Beispiel durch die Kürzung von





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)

Wohngeld im Haushaltsplan 2011, zum Beispiel durch
die Abschaffung der Gemeinnützigkeit von Wohnungs-
gesellschaften. Kurzum: Jeder soll sich selber kümmern,
der Markt soll das regeln.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, genau! Nicht die Abteilung Wohnraumlenkung!)


Die Linke sieht das Wohnen als elementares mensch-
liches Bedürfnis an. Das Recht, unter menschenwürdi-
gen Bedingungen zu wohnen, gehört nach unserer Über-
zeugung zu den existenziellen sozialen Rechten eines
jeden Menschen unseres Landes.


(Beifall bei der LINKEN)


Wohnen darf unter gar keinen Umständen zum Luxusgut
oder zum Armutsrisiko unserer Bürgerinnen und Bürger
werden.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Vier Jahre Arbeitszeit!)


Genau auf diesem schlechten Weg ist die Bundesregie-
rung mit ihrer Politik aber.

Das gilt zum Beispiel für Hamburg. Hier herrscht
massive Wohnungsnot. Derzeit fehlen über 40 000 Woh-
nungen. Die Mieten sind in den letzten Jahren deswegen
regelrecht explodiert und im Durchschnitt um 28 Prozent
gestiegen. Damit meine ich nicht die Wohnungen in den
Luxusvillenvierteln.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)


Tausende Menschen versuchen verzweifelt, irgendwo
noch eine bezahlbare Wohnung zu finden.


(Sebastian Körber [FDP]: Vor allem in Berlin!)


Man fragt schon gar nicht mehr nach dem Zustand dieser
Wohnung, sondern man ist froh, wenn man überhaupt
eine bekommt.

Viele Haushalte mit niedrigem Einkommen müssen
schon jetzt mehr als die Hälfte ihres Monatsbudgets fürs
Wohnen aufbringen – und das zum Teil für unsanierten
Wohnraum. Der krasseste Fall, der uns bekannt ist, ist
eine Steigerung der Miete nach energetischer Sanierung
um 244 Prozent.


(Sebastian Körber [FDP]: Das kann doch gar nicht sein!)


Dadurch zeigt sich doch, dass der Markt hier, wo es um
Grundbedürfnisse eines jeden Menschen geht, absolut
versagt, wenn man es ihm alleine überlässt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In Hamburg sind 150 000 Haushalte auf staatliche
Zuschüsse angewiesen, um die Miete noch irgendwie
zahlen zu können. Weil diese Leute dank der verfehlten
Regierungspolitik trotz Arbeit immer ärmer werden, hat
inzwischen jede zweite Familie in Hamburg einen An-
spruch auf eine Sozialwohnung und einen Wohnberech-
tigungsschein. Dieser nützt ihnen aber nichts; denn sie
finden mit diesem Wohnberechtigungsschein keine
Wohnung mehr in Hamburg.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herr Vaatz ist so ruhig geworden!)


Auch in München, Köln, Düsseldorf und andernorts
könnten Sie Ähnliches beobachten, wenn Sie einmal
dorthin gingen, wo der größte Teil der Menschen lebt
oder wenigstens versucht, zu leben. Die Kehrseite ist:
gähnender Leerstand in schrumpfenden Regionen und
abgehängte Quartiere mit verfallender Infrastruktur und
zerstörten sozialen Beziehungen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sind die Fakten!)


Einige Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause
trösten sich mit dem Durchschnitt und sagen immer wie-
der tapfer: Die Wohnungsversorgung in Deutschland ist
gut. Klar, Sie hätten recht, wenn diese Wohnungsuchen-
den in Hamburg, München, Köln oder Düsseldorf nach
Schwerin, Eisenhüttenstadt, Bitterfeld oder Stendal zie-
hen könnten oder wollten.

Die Linke will eine Wohnungs- und Städtebaupolitik,
mit der die tiefgreifenden ökologischen, demografischen
und wirtschaftlichen Veränderungen, vor denen diese
Gesellschaft steht, konzeptionell und allumfassend be-
trachtet werden und auf die sich die Menschen in dieser
und in den kommenden Generationen, die Länder und
Kommunen, die Hauseigentümer, die Bauwirtschaft und
die Mieterinnen und Mieter verlassen können,


(Beifall bei der LINKEN)


weil sie eben nicht der jeweiligen Kassenlage, den kurz-
fristigen Renditeerwartungen und irgendwelchen Klien-
telinteressen, sondern nur dem Grundgesetz und damit
allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ver-
pflichtet ist.


(Oliver Luksic [FDP]: Ein Grundgesetz der Linkspartei? Was für ein Grundgesetz ist das denn?)


Wir wollen eine neue Objektförderung, die die Lasten
gerecht auf alle Schultern verteilt, die die Mieterinnen
und Mieter, aber auch die Wohnungseigentümer nicht
überfordert, die langfristige Investitionsanreize für die
Bauwirtschaft gibt und die die Länder und Kommunen
entsprechend ihrer regionalen Erfordernisse mitbestim-
men lässt.

Wir wollen eine neue Subjektförderung, die es allen
Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, moderne, fami-
liengerechte, altersgerechte und dem Bedarf entspre-
chende barrierefreie Wohnungen zu bezahlbaren Mieten
zu finden.


(Oliver Luksic [FDP]: Wolkenkuckucksheim!)


Wir werden diese ehrgeizigen Ziele nicht erreichen,
wenn wir allein der jährlichen Kassenlage und den Haus-
haltsvorgaben folgen und die Fördermittel zusammenstrei-
chen, bis sie ins Haushaltskonzept passen, und wenn wir
die Bauwirtschaft sich ständig neu auf unberechenbare
Marktbedingungen einstellen lassen, sodass sie zum Bei-
spiel heute mit Konjunkturprogrammen rechnen kann,
um sich schon morgen mit der Kürzung der Fördermittel
auseinandersetzen zu müssen.





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)

Wohnen ist Daseinsvorsorge und damit vorrangig
Aufgabe des Staates, der Länder und der Kommunen.
Deshalb gehört das Wohnen ins Grundgesetz.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709023800

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Daniela

Wagner das Wort.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709023900

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsiden-

tin! Ein Merkmal der Wohnungspolitik ist, dass sie zwi-
schen einer enormen Vielfalt an gesellschaftspolitischen
und wirtschaftlichen Interessen, Herausforderungen und
Anforderungen vermitteln und abwägen muss. Das
Spektrum der Akteure umfasst international agierende
Investmentfonds oder Aktiengesellschaften, private oder
kommunale Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaf-
ten oder Kleinstbesitzer, Amateurvermieter, Kleinstver-
mieter und letztlich auch die Mieter.

Dem Antrag der Fraktion Die Linke liegt eine weitge-
hend richtige und zutreffende Analyse der aktuellen
Wohnungsmarktsituation in Deutschland zugrunde: ge-
nug Wohnungen, aber leider falsch verteilt. Die zwei
zentralen Herausforderungen der Wohnungspolitik sind
derzeit die energetische Gebäudesanierung und der al-
tersgerechte Umbau: Allein 40 Prozent der deutschland-
weit verbrauchten Endenergie wird im Gebäudebereich
verbraucht. Bis 2013 brauchen wir nach Angaben der
Expertenkommission „Wohnen im Alter“ 2,5 Millionen
altersgerechte Wohnungen zusätzlich.

Diese Herausforderungen müssen so gemeistert wer-
den, dass sie für Mieterinnen und Mieter sozialverträg-
lich, aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer
wirtschaftlich tragbar sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sören Bartol [SPD])


Wir brauchen neben dem ordnungs- und mietrechtlichen
Rahmen auch entsprechende Anreize für die Kleineigen-
tümer sowie für die Wohnungs- und Immobilienwirt-
schaft.

Ihre Ansätze zur Objektförderung sind nicht rundweg
abzulehnen. So halte ich zum Beispiel Ihren Vorschlag,
die Förderung des Mietwohnungsbaus von der grünen
Wiese verstärkt auf Innenstädte zu lenken und dort zu
konzentrieren, durchaus für richtig. In einer schrumpfen-
den Gesellschaft muss man nicht ständig weitere Flä-
chen im Außenbereich bzw. an den Stadträndern versie-
geln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sören Bartol [SPD])


Die im Antrag vorgeschlagene Zusammenlegung der
Städtebauförderungsprogramme klingt in Kombination
mit integrierten Stadtentwicklungskonzepten zwar inte-
ressant, birgt aber auch hohe Risiken wegen fehlender
politischer Steuerungsmöglichkeiten. Zudem bedarf sie
einer eingehenden rechtlichen Überprüfung, meine Da-
men und Herren von der Linken. Wichtiger wäre aus un-
serer Sicht vor allem eine massive Stärkung der Städte-
bauförderung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Leider gehen Sie in Ihrem Antrag in keiner Weise auf
die Möglichkeiten der Objektförderung im Rahmen der
staatlichen Programme zur CO2-Gebäudesanierung und
zum altersgerechten Umbau ein, obwohl gerade diese
Programme erhebliche Potenziale der Objektförderung
enthalten, wenn die Mittel dafür erhöht werden, statt sie
zu kürzen, wie es zuletzt in den Etatberatungen der Fall
war.

Unter dem Punkt „Subjektförderung“ schlagen Sie in
Ihrem Antrag vor, das Recht auf eine menschenwürdige
Wohnung und auf die Versorgung mit Wasser und Ener-
gie gesetzlich zu garantieren. Wenn Sie das in die Ver-
fassung aufnehmen möchten, dann müssen Sie das auch
deutlich formulieren. An der Stelle würde mir mehr
Klarheit gefallen. Anzumerken ist auch, dass ein sol-
chermaßen formuliertes Grundrecht maßlos Illusionen
erzeugen und falsche Hoffnungen wecken kann.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es!)


Das würde ich gerade für diejenigen, die am Wohnungs-
markt Schwierigkeiten haben, äußerst schade finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Denn der garantierte Wohnraum muss auch zur Verfü-
gung stehen, und zwar dort, wo er gebraucht wird.

Ihre Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnen
bleibt unserer Meinung nach ohne konkrete Hinterle-
gung materiell wirksamer Maßnahmen folgenlos. Sie
dient auch nicht der Auseinandersetzung mit den beste-
henden Interessenkonflikten und ist ein Luftschloss nach
dem Motto „Wir schreiben alles, was wünschenswert ist,
in die Verfassung, und dann wird es gut“. So einfach ist
es leider nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich glaube, dass das auch keine Antwort auf Gentrifi-
zierungsprozesse und Segregation ist; es sind vielmehr
Anreize für die Immobilienwirtschaft notwendig und
möglich. Denn gerade diese muss bei angespannten
Wohnungsmärkten zunehmend in den Neubau und sozial
verträgliche Mietwohnungen investieren. Zusätzlich
muss die Wohnungsbauförderung – aber das ist ja künf-
tig vor allen Dingen Angelegenheit der Länder – so aus-
gestaltet werden, dass sie von der Wohnungswirtschaft
auch abgerufen wird. Derzeit passiert das nämlich kaum.
So sieht unserer Meinung nach auch aktiver Mieter-
schutz vor überhöhten Mietpreisen aus.

Sie fordern außerdem, dass die Räumung von Wohn-
raum unzulässig sei, wenn kein zumutbarer Ersatzwohn-
raum zur Verfügung steht. Eine solche Regelung ist aus
meiner Sicht nicht vertretbar;


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Sehr richtig!)






Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)

denn sie würde die Hauseigentümer zu sehr in ihren
Rechten einschränken.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)


Man muss sich von Mietparteien auch trennen können,
wenn sie wirtschaftlich schädigen. Anders geht es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer kein Geld verdient, wird nicht investieren, wird
nicht mal instand halten.

Unser Mieterschutz ist im internationalen Vergleich
durchaus hervorragend aufgestellt. Wir haben mithin die
besten Mieterschutzrechte im europäischen Raum. Das
werden Sie auch feststellen, wenn Sie sich mal im euro-
päischen Ausland umschauen.

Zum Schutz vor Obdachlosigkeit besteht übrigens
schon jetzt das Wiedereinweisungsrecht durch die Kom-
munen.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es! Genau!)


Sie können bei drohender Obdachlosigkeit wieder in die
Wohnung einweisen und müssen für die Kosten aufkom-
men.


(Peter Götz [CDU/CSU]: So ist es!)


Deswegen sage ich, es würde schon ausreichen, wenn an
der Stelle die Kommunen die präventiven Instrumente
wie zum Beispiel die Wohnungssicherungsstellen aus-
bauen könnten.

Ihre Forderung zur Neuausgestaltung des Wohngeldes
ist meiner Meinung nach vor allen Dingen eine Vermie-
tersubvention. Die hätten keinerlei Veranlassung mehr,
preiswerten Wohnraum zu bauen, preisbewusst zu ver-
mieten bzw. preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu
stellen,


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)


weil der Staat ja letztlich für jedwede Miethöhe einsteht.
Wir Grünen wollen eine passgenaue und zielgerichtete
Subjektförderung, wir wollen einen dynamischen An-
passungsmechanismus im Wohngeldrecht, und wir wol-
len vor allen Dingen auch die Einkommensgrenzen in
den Blick nehmen. Schließlich wollen wir auch die
Heizkostenkomponente, die Sie jetzt leider wieder abge-
schafft haben,


(Zuruf von der FDP: Weil sie nicht mehr nötig war!)


zu einem Klimawohngeld weiterentwickeln, damit künf-
tig das Bewohnen, das Anmieten einer energetisch her-
vorragend sanierten Wohnung aus Steuermitteln mit be-
zahlt oder zumindest subventioniert und unterstützt wird
und nicht das Heizen zum Fenster hinaus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)


Das fände ich wichtiger, und das würde auch weiter den
Anreiz erhöhen, energetisch zu sanieren und die Häuser
in einen erstklassigen Zustand zu bringen, was mehr als
überfällig ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir sind
der Auffassung, man kann sich bei dem Antrag der Lin-
ken auf jeden Fall enthalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Nach der Rede aber nicht mehr!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709024000

Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Ludwig das

Wort.


Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1709024100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Frau Wagner, Sie haben mir in ganz
vielen Punkten sehr aus der Seele gesprochen. Das
möchte ich an der Stelle sagen. Wenn Sie jetzt Ihre Rede
damit abgeschlossen hätten, dass Sie gesagt hätten, wir
können dem Antrag nicht zustimmen, wäre ich wesent-
lich zufriedener gewesen. Denn ich glaube, das hätte ih-
rem Inhalt deutlich mehr entsprochen.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das spricht aber für den Antrag!)


– Nein, das spricht nicht für den Antrag. Da würde ich
mir mal keine falschen Hoffnungen machen.


(Heiterkeit der Abg. Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich glaube, es gibt ein paar wichtige Punkte, in denen
wir uns durchaus einig sind und die wir auch gern auf-
greifen möchten. Wir haben zum einen über die energeti-
sche Gebäudesanierung im Bestand gesprochen. Da ist
wirklich noch richtig Musik drin, wenn ich das an dieser
Stelle mal sagen darf. Ich bin ganz der Auffassung vieler
Kollegen, die hier schon gesprochen haben: Wir müssen
hier von staatlicher Seite, auch wenn wir sonst nicht die
ganz großen Fans von Subventionspolitik sind, Anreize
für die Eigentümer schaffen, denn wir bekennen uns an
dieser Stelle zunächst ganz klar zu einem privat domi-
nierten Wohnungsmarkt. Ich finde es ausgesprochen
wichtig, dass wir private Eigentümer haben, die vermie-
ten. Ich kann hier überhaupt keinen Nachteil erkennen;
denn auch ein privater Vermieter muss sich am Markt
behaupten, muss sehen, was er anbieten und vermieten
kann. Hier müssen wir eine Sensibilisierung herbeifüh-
ren, und zwar auf der Vermieterseite und auf der Mieter-
seite. Der Vermieter muss sehen, dass es sich lohnt, ener-
getisch zu sanieren. Der Mieter muss merken – Frau
Kollegin, Sie haben es völlig richtig ausgeführt –, dass
es sich lohnt, eine Niedrigenergiewohnung – so nenne
ich es mal – anzumieten, weil er dadurch letztlich Miete
spart. Hier tritt neben den wirtschaftlichen Aspekt der
ökologische, weil die Umwelt geschützt wird. Das ist ein
staatliches Steuerungsargument, über das wir noch viel
intensiver nachdenken müssen; denn es lohnt sich. Wir
tun etwas für die Wirtschaft, wir tun etwas für die klei-
nen und mittelständischen Bauunternehmen, die davon
profitieren. Wir tun etwas für die Umwelt und für die
Mieter. Eine bessere Kombination gibt es an dieser
Stelle fast nicht.





Daniela Ludwig


(A) (C)



(D)(B)

Weiterhin ist mir etwas anderes sehr wichtig. Angebot
und Nachfrage spielen auf dem Wohnungsmarkt natür-
lich eine ganz große Rolle. Ich kann die Menschen nicht
zwingen, in verödende Gebiete zu ziehen, bloß weil dort
die Wohnungen leer stehen, sondern ich muss mich nach
den Bevölkerungsströmen richten, ob es mir passt oder
nicht. Außerdem muss ich mich nach den gesellschaftli-
chen Entwicklungen richten. Heute haben wir schon viel
über das Programm „Altersgerecht Umbauen“ gehört.
Ich möchte nicht nur vom altersgerechten Umbauen,
sondern auch vom behindertengerechten Umbauen spre-
chen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Deshalb reden wir von Barrierefreiheit!)


Wir alle führen zunehmend die Diskussion über Integra-
tion und Inklusion behinderter Menschen in der Schule,
im Kindergarten oder am Arbeitsplatz. Diese Diskussion
umfasst auch die Inklusion behinderter Menschen am
Mietmarkt. Wenn wir wollen, dass diese Menschen mög-
lichst zügig in die Mitte unserer Gesellschaft rücken und
daran so weit wie möglich teilnehmen, müssen wir ihnen
auch ermöglichen, entsprechende Wohnungen zu be-
wohnen und sich dort so selbstständig wie möglich zu
bewegen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie können unserem Antrag zustimmen!)


– Es ist doch okay, beruhigen Sie sich. – Deswegen müs-
sen wir nicht nur altersgerecht, sondern auch behinder-
tengerecht umbauen. Eine kleine Anmerkung am Rande:
Wenn ein Rollstuhl durch die geöffnete Tür passt, ist das
schön. Wenn ein Kinderwagen hindurchpasst, ist das
auch sehr schön. Das heißt: Auch familiengerechte Woh-
nungen sind für die Zukunft wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sind auf einem ausgesprochen guten Weg. Völlig
richtig ist, dass der Bund nicht der Alleinhandelnde ist,
ebenso wenig wie der Vermieter der Alleinhandelnde
sein soll. Klar ist auch, dass wir sehr viel Verantwortung
an die Länder abgegeben haben. Ebenso klar ist, dass die
Kommunen darauf werden reagieren müssen.

Trotz Sparzwangs möchte ich das neue Städtebauför-
derprogramm des Bundesverkehrsministeriums „Klei-
nere Städte und Gemeinden – überörtliche Zusammenar-
beit und Netzwerke“ erwähnen. Das halte ich für
ausgesprochen wichtig. Warum? Viele kleine Kommu-
nen sind solitär, für sich genommen, nicht in der Lage,
eine Vielzahl an infrastrukturellen Herausforderungen
allein zu stemmen. Sie müssen in die Lage versetzt wer-
den, solche Herausforderungen gemeinsam mit Dörfern
und kleinen Gemeinden in der unmittelbaren Nachbar-
schaft zu bewältigen und entsprechende Angebote ge-
meinsam zu unterbreiten. Das schafft Synergieeffekte in
vielerlei Hinsicht. Wenn das Städtebauförderprogramm,
das Minister Ramsauer neu auflegt, in dieser Legislatur-
periode genau diese Synergieeffekte zeitigt, können wir
ausgesprochen zufrieden sein.

Zum Mietrecht: Es ist schon gesagt worden, dass wir
sicherlich eines der sozialsten Mietrechte der Welt ha-
ben. Seien Sie versichert, dass wir nicht vorhaben, daran
etwas zu ändern. Wir haben aber vor, Missstände zu be-
seitigen. Einer der Missstände ist das Mietnomadentum.
Man kann sich über die Quantität nunmehr trefflich
streiten, aber die Qualität ist doch unbestritten. Wenn
Wohnungen bewusst unter dem betrügerischen Vorsatz
angemietet werden, den Mietzins nicht zu entrichten, die
Wohnungen entweder zu vermüllen oder komplett zu
zerstören und sie dann zu verlassen, dann kann man na-
türlich sagen, das seien bedauernswerte Einzelfälle.
Aber was sagen Sie dem Vermieter, dessen Altersvor-
sorge vermüllt wurde? Ist das dann auch nur ein bedau-
ernswerter Einzelfall? Ist es nicht vielmehr so, dass wir
im Mietrecht da, wo wir die Möglichkeit haben, ohne
überzuregulieren vernünftige Lösungen genau für diesen
betroffenen Personenkreis schaffen müssen?


(Sören Bartol [SPD]: Muss das im Mietrecht sein?)


Das trifft dann sicherlich nicht die Falschen. Deswegen
gilt: Der Schutz des Mieters ist selbstverständlich. Da-
rüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Diese Frage
steht für uns nicht zur Debatte. Ebenso wichtig ist ein
ausreichender Schutz des Vermieters. Beides gehört
zwingend zusammen. Sonst bringe ich die Menschen
nicht mehr dazu, in Wohnungen oder Häuser zu investie-
ren und diese zu vermieten. Stattdessen zwinge ich sie
dazu, zu sagen: Ich baue nur noch für den Eigenbedarf,
und der Rest ist mir völlig egal. Das wollen wir alle
nicht.

Der Großteil der Vermieter – entgegen der unter-
schwelligen Darstellung im Antrag der Linken – ist an-
ständig und hat anderes im Sinn, als nur die Mieter abzu-
zocken oder zu vertreiben. Die Vermieter wollen schlicht
und ergreifend die ihnen zustehende Miete erhalten.
Dann sind sie auch bereit, zu investieren und freuen sich
über zuverlässige Mieter. Das ist der Normalfall in die-
ser Republik. Wir brauchen uns über gar nichts anderes
zu unterhalten.

Abschließend möchte ich sagen: Lieber Kollege
Bartol, ich freue mich sehr auf unser morgiges Fachge-
spräch. Ich finde das ausgesprochen gut. Wir haben uns
bisher gerne an den Gesprächen beteiligt und werden uns
auch morgen gerne an dem Gespräch beteiligen; denn
das Thema Wohnungslosigkeit ist immer mit menschli-
cher Tragik verbunden. Oft gibt es nicht nur finanzielle,
sondern auch tiefergehende soziale Hintergründe. Denen
wollen wir uns annähern. Ich denke, das ist ein wichtiges
Ansinnen. Deswegen sind wir morgen gern dabei. Ich
bin gespannt, zu welchem Ergebnis wir kommen wer-
den.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709024200

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Groß das Wort.


Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1709024300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau





Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)

Ludwig, ich bin froh, dass Sie doch einige Kritikpunkte
gefunden haben. Sie haben angesprochen, dass wir noch
viel im Bereich Klimaschutz und Gebäudesanierung zu
tun haben. Sie haben von Inklusion, von barrierefreiem
Zugang zu Wohnungen und altersgerechtem Wohnen ge-
sprochen. Bei der Rede Ihres Kollegen Storjohann habe
ich gedacht, wir lebten in einer Welt der Idylle. Er sprach
davon, dass der Wohnungsmarkt vorbildlich ist, wir uns
keine Sorgen mehr zu machen brauchen und uns zurück-
lehnen können.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das eine schließt das andere nicht aus!)


Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke – das
hat Herr Bartol schon deutlich gemacht – stellt die richti-
gen Fragen. Auch die Analyse ist zum großen Teil rich-
tig. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass zum Teil die
falschen Schlüsse gezogen und die falschen Antworten
gegeben werden. In dem Antrag wurde auch darauf hin-
gewiesen, dass eine bloße Zusammenlegung der Förder-
programme nicht weiterführend ist. Ein Teil der Pro-
gramme ist sehr effektiv gewesen. Allerdings müssen
wir dafür sorgen, dass die Programme evaluiert und
letztendlich mit den Ländern und Gemeinden weiterent-
wickelt werden, damit sie zielgenau die Wirkungen ent-
falten, die wir beabsichtigen.

Lassen Sie mich ergänzend auf vier Punkte und damit
auch kurz auf meine Vorredner eingehen. Besonders in
den Ballungsgebieten steigen die Mieten – das ist nicht
abzustreiten – und die Preise für Wohneigentum. Im
Durchschnitt bleiben die Ausgaben für das Wohnen der
größte Einzelposten der Konsumausgaben, insbeson-
dere auch durch die wachsenden Nebenkosten für Strom,
Heizung und Warmwasser. Prognostisch werden diese
Kosten weiter steigen. Zum Vergleich: 1991 betrugen
die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Familienein-
kommens. Ende des letzten Jahrzehnts waren es schon
weit über 25 Prozent. Wir haben viel über die Wohn-
geldreform gehört, wir haben aber auch heute schon ge-
hört, dass die Heizkostenpauschale von der jetzigen
Bundesregierung zum 1. Januar 2011 wieder einkassiert
wurde. Das geht natürlich zulasten der niedrigsten Ein-
kommen. Das wird sicherlich dazu führen, dass die Men-
schen wiederum mehr auf ihren Geldbeutel achten müs-
sen.

War die Reform des Wohngeldes 2009 auch eine gute
Nachricht, so ist damit doch verbunden, dass immer
mehr Menschen dieses Wohngeld in Anspruch nehmen
mussten, weil ihre Realeinkommen abgenommen haben,
und zwar in den letzten zehn Jahren um 4 Prozent. Man
spricht davon, dass es ein verlorenes Jahrzehnt für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer war. In Deutschland
arbeiten zudem zu viele Menschen für wenig Geld.
2 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn
von unter 6 Euro. Darauf gibt es eine richtige Antwort:
Wir müssen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn
einführen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage vom Januar
2011 wollen zwei Drittel der über 70-Jährigen im eige-
nen Wohnraum verbleiben. Dazu müssen wir die Voraus-
setzungen schaffen. Barrierefreiheit war das Stichwort.
Wir müssen dafür sorgen, dass sie Netzwerke haben und
sich darauf verlassen können, in ihren eigenen vier Wän-
den verbleiben zu können. Nach Schätzungen werden
bis 2025 über 2 Millionen senioren- und altersgerechte
Wohnungen gebraucht. Der jetzige Bestand liegt nach
Schätzungen bei 400 000 bis 500 000 Wohnungen. Nach
Angaben der Befragten können Umbaumaßnahmen und
Serviceleistungen durchschnittlich nur – ich betone: nur –
im Umfang von monatlich 280 Euro mitgetragen wer-
den. Ich halte das schon für sehr viel. Also, es gibt viel
zu tun, um die Menschen zu begleiten und diesen Pro-
zess sozialverträglich zu gestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Entsprechende KfW-Programme wie „Altersgerecht
Umbauen“ müssen also unbedingt finanziell ausgebaut
und fortgeführt werden.

Wir müssen beim Thema Klima und Energie handeln.
Zügiges und planvolles Handeln ist angezeigt, um die
Klimaschutzziele zu erreichen und insbesondere die Ver-
braucher vor zu hohen Energiepreisen zu schützen.

Beim Gebäudebestand besteht ein hohes Einspar-
potenzial. Die Sanierungsrate und die Modernisierungs-
quote sind mit circa 1 Prozent pro Jahr viel zu niedrig.
Nach Schätzungen von Experten benötigen wir 5 Mil-
liarden Euro pro Jahr, um die Zielsetzung zu erreichen.
Eigentümer und Vermieter müssen also insoweit moti-
viert werden, und wir müssen die hohen Sanierungskos-
ten sozial abfedern. Haushaltskürzungen, wie von der
Bundesregierung im Bereich der energetischen Gebäu-
desanierung und des Städtebauförderprogramms vorge-
nommen, sind kontraproduktiv und nicht zielführend.

Der Antrag der Linken sieht vor, die Kommunen
finanziell zu beteiligen. Ich befürchte, dass sie mit ihrer
Forderung den Kommunen einen Bärendienst erweisen
werden. Den Kommunen fehlt heute schon viel Geld,
und tatsächlich brauchen sie mehr Geld, um den Anfor-
derungen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu
werden. Wir brauchen Lebensqualität in den Städten. Ich
glaube nicht, dass dies durch eine weitere finanzielle Be-
lastung der Kommunen, die letztlich nicht durch den
Bund abgefedert wird, zu erreichen ist. Für uns Sozial-
demokraten ist eine Abstimmung in und mit den Kom-
munen und Ländern und mit den Menschen vor Ort
Dreh- und Angelpunkt des Erfolgs.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen Beteiligungsmodelle entwickeln und so-
wohl die Hauseigentümer als auch die Bewohnerinnen
und Bewohner, die Gewerbetreibenden vor Ort und die
Initiativen und Vereine mitnehmen. Städtebauliche In-
vestitionen können durch die Einbeziehung aller Akteure
die gelebte Demokratie voranbringen. Eine bloße Forde-
rung nach mehr Rekommunalisierung reicht nicht aus.
Die Kommunen brauchen mehr Geld, um die Entwick-
lung ihrer Städte, die Lebensqualität und gleichwertige
Lebensverhältnisse zu sichern.





Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank und Glück auf!


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709024400

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Götz das

Wort.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1709024500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem An-
trag, den wir heute diskutieren, wollen sich die Linken
im Deutschen Bundestag das Mäntelchen der Beschützer
der Mieter umhängen.


(Zurufe von der LINKEN: Nein, nein!)


Es ist schon eine Frechheit. Der rot-rote Berliner Senat
versuchte, locker über 38 000 kommunale Wohnungen,
davon allein 20 000 in der Stadt Berlin, an einen arabi-
schen Fonds zu verkaufen, und hier fordert die Linke,
die Veräußerung kommunaler Wohnungsbestände zu
verbieten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch wenn der Milliardendeal in Berlin vorgestern ge-
scheitert ist, macht dies die Widersprüchlichkeit zwi-
schen dem Reden hier und dem Handeln dort, wo Ver-
antwortung besteht, sehr deutlich.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wie immer!)


Im Bundestag sozialistische Lehre in Reinkultur einzu-
fordern und vor Ort mit dem Kapital zu verhandeln, das
ist mehr als scheinheilig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man kann ja darüber diskutieren, ob eine Stadt wie
Berlin so große Wohnungsbestände im Eigentum vorhal-
ten muss. Diese Frage ist durchaus berechtigt, und diese
will ich auch nicht kritisieren. Aber dann darf man hier
nicht solche Anträge stellen.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Lassen Sie uns einmal über die Bankenkrise in Berlin reden, Herr Götz! Wer hat denn die Bankenkrise in Berlin ausgelöst? Das war doch Ihre Partei!)


Wir sehen für die Einführung eines speziellen Grund-
rechts auf Wohnen auf der Bundesebene weder einen
Bedarf noch halten wir ein solches Recht für geeignet,
die Lebenssituation der von Obdach- bzw. Wohnungslo-
sigkeit betroffenen Menschen zu verbessern.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709024600

Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Liebich?


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1709024700

Ja, warum nicht? Bitte sehr.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709024800

Sehr geehrter Herr Kollege Götz, Sie haben auf die

Politik hier im Land Berlin Bezug genommen. Sie haben
recht, dass nach der Klage von CDU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP gegen den rot-roten Landeshaushalt in
der Wahlperiode 2002 eine große Wohnungsbaugesell-
schaft verkauft werden musste.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist doch keine Frage! Es muss eine Frage gestellt werden!)


Das ist eine Entscheidung, die wir aus heutiger Sicht
falsch finden.

Aber ich will noch etwas zur gegenwärtigen Politik
sagen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
es genau zwei Parteien gibt, die sich dafür einsetzen,
dass der gesamte kommunale Wohnungsbestand in öf-
fentlicher Hand verbleibt, und dass es genau drei Par-
teien gibt, die genau diese Position infrage stellen, näm-
lich CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Ist Ihnen
das bekannt, und sind Sie bereit, dies in Ihre Argumenta-
tion mit einfließen zu lassen?


(Beifall bei der LINKEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das war ein Debattenbeitrag und keine Frage!)



Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1709024900

Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem da-

mit, darüber zu diskutieren, dass kommunale Wohnungs-
bestände verkauft werden. Das ist nicht mein Problem.
Mein Problem ist – hier verhalten Sie sich widersprüch-
lich –, dass Sie in Berlin, wo Sie im Senat Regierungs-
verantwortung tragen, die Wohnungsbestände verkau-
fen, aber hier den Eindruck erwecken wollen, als seien
Sie die Retter der Mieter. Sie fordern die Aufnahme des
Rechts auf Wohnung ins Grundgesetz, und gleichzeitig
fordern Sie ein Verbot des Verkaufs von kommunalen
Wohnungsbeständen. Auf diese Widersprüchlichkeit
wollte ich aufmerksam machen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben in Deutschland durch die Garantie der
Menschenwürde in Art. 1 unseres Grundgesetzes und
durch das in Art. 20 verankerte Sozialstaatsprinzip die
Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen
für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu
schaffen. Dazu gehört auch eine Unterkunft. Deshalb
gibt es seit Jahrzehnten den sozialen Wohnungsbau, die
Absicherung der Mietkosten durch Wohngeld und die
soziale Wohnraumförderung der Länder. In der heutigen
Debatte haben wir einiges darüber gehört. Das sind In-
strumente, die sich bewährt haben. Hinzu kommt auch
die Unterbringung Obdachloser aufgrund der polizei-
und ordnungsrechtlichen Vorschriften auf kommunaler
Ebene.

In Deutschland gibt es für jeden Wohnungssuchenden
eine Bleibe. Einen anderen Eindruck zu erwecken, ist
populistisch und unredlich. Vielleicht findet nicht jeder
seine Traumwohnung, das mag wohl sein, aber niemand
in Deutschland muss auf der Straße übernachten.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das stimmt!)






Peter Götz


(A) (C)



(D)(B)

Nach meiner festen Überzeugung sind Maßnahmen, die
unmittelbar auf die Lebenssituation der von Obdach-
bzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Personen Einfluss
nehmen, wesentlich sinnvoller als symbolische Verfas-
sungsänderungen. Insofern sind wir auf die Empfehlun-
gen der Altkommunisten mit dem Erfahrungshorizont
der DDR nicht zwingend angewiesen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Potz Blitz! Das war ein Angriff!)


Insgesamt hat die Wohnungsversorgung in Deutsch-
land seit Mitte der 90er-Jahre einen Stand erreicht, bei
dem breite Schichten der Bevölkerung gut bis sehr gut
mit Wohnraum versorgt sind. Dies gilt insbesondere für
einkommensschwache Haushalte. Deshalb haben wir,
wie ich finde, zu Recht, im Jahr 2006 im Rahmen der
Föderalismusreform die Zuständigkeit für die soziale
Wohnraumförderung auf die Länder übertragen. Dafür
geben wir ihnen jährlich zweckgebunden mehr als
500 Millionen Euro, sodass regional differenziert, ge-
zielt und bedarfsgerecht gefördert werden kann. Das ist
besser als Zentralismus aus Berlin. Die geforderte Be-
schränkung dieser Wohnungsbauförderung auf den öf-
fentlichen Mietwohnungsbau ist eine klassische Ideolo-
gienummer der Linken. Für uns sind auch die privaten
Vermieter zur Sicherung des Wohnens von großer Be-
deutung.

Besonders wichtig sind uns aber auch diejenigen, die
sich den Wunsch nach den eigenen vier Wänden erfüllen
wollen. Deshalb ist Wohneigentum eine der besten Mög-
lichkeiten der Altersvorsorge. Wohneigentum schützt
wesentlich vor Altersarmut. Die Stärkung des Wohn-
eigentums sollte daher unser gemeinsames Ziel sein.

Wir haben in unserem Land ein sehr ausgeprägtes und
differenziertes System der sozialen Sicherung, gerade in
der Wohnraumversorgung. So zählt nach dem Sozialge-
setzbuch II die Übernahme der gesamten Kosten – ich
betone: der gesamten – für Unterkunft und Heizung zu
den Leistungen für Hartz-IV-Empfänger. Das wird bei
der aktuellen Debatte über die Höhe der Regelsätze für
diesen Personenkreis, die wir in diesen Tagen führen,
gerne übersehen. Auch Erstausstattungen für die Woh-
nung, einschließlich Haushaltsgeräte, Wohnbeschaf-
fungs- und Umzugskosten oder Mietkautionen, gehören
zu dem Leistungskatalog für Hartz-IV-Empfänger. Zur
Erinnerung: Der Bund beteiligte sich im vergangenen
Jahr mit 3,4 Milliarden Euro an den Kosten der Unter-
kunft. Die Kommunen sind mit mehr als 10 Milliarden
Euro dabei. Dieses Geld bringen die Menschen auf, die
täglich zur Arbeit gehen und ihre Steuern zahlen.

Natürlich gibt es bei der Wohnungspolitik noch Hand-
lungsbedarf. Das ist unstrittig. Das Bessere war schon
immer der Feind des Guten. So ist vor dem Hintergrund
der demografischen Entwicklung und einer zunehmend
älter werdenden Gesellschaft dem Aspekt der Barriere-
freiheit ein größerer Stellenwert einzuräumen. Auch die
energetische Sanierung der Wohngebäude, von der vor-
hin gesprochen wurde, ist eine Herausforderung, die uns
noch viele Jahre begleiten wird.
Bei der Städtebauförderung ist es in einer großen
Kraftanstrengung gelungen, die Haushaltsansätze, die
erheblich heruntergefahren waren, wieder zu erhöhen.
Wir sollten jedoch nicht, wie im vorliegenden Antrag ge-
wollt, Einzelprogramme der Städtebauförderung ab-
schaffen, sondern wir sollten die inhaltliche programma-
tische Schwerpunktsetzung neu definieren und die
Programme optimieren und effizienter gestalten.

Für alle in Ihrem Antrag aufgeworfenen Themen sind
in Deutschland in vielen Jahren gute Instrumente – ob
nun Förderprogramme oder gesetzliche Regelungen –
entwickelt worden, die sich dem Grunde nach bewährt
haben. Diese können und sollten wir gemäß den verän-
derten Rahmenbedingungen – die Themen „Klimaschutz“,
„Barrierefreiheit“, „behindertengerechtes Wohnumfeld“
und viele andere mehr sind angesprochen worden – ge-
meinsam maßvoll weiterentwickeln.

Der kommunistische Rundumschlag, den Sie hier
vorhaben,


(Zurufe von der LINKEN: Buh!)


würde viel Gutes zerstören. Wir lehnen in Verantwor-
tung für die Bürgerinnen und Bürger diesen Antrag ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709025000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Grund-
recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-
stalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4659, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3433 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:

7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Belarus – Repressionen beenden, Menschen-
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
schaft stärken

– Drucksache 17/4685 –

b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Belarus – Repressionen beenden, Menschen-
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
schaft stärken

– Drucksache 17/4667 –

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Belarus – Repressionen beenden, Menschen-
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
schaft stärken

– Drucksache 17/4686 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Bijan Djir-Sarai (FDP):
Rede ID: ID1709025100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am

19. Dezember 2010, also am Abend der Präsident-
schaftswahl in Belarus, hat das Regime von Alexander
Lukaschenko sein wahres Gesicht gezeigt. Obwohl die-
ser im Vorfeld die Legitimität der Wahl als wichtig be-
zeichnet hatte, sah die Realität am Wahlabend ganz an-
ders aus. Politische Reformen – das wissen wir heute –
waren dort nie geplant. Lukaschenko brauchte die EU
und brauchte Russland, um die größtmöglichen Vorteile
für sein marodes Wirtschaftssystem zu erreichen.

Wir hatten aufgrund der langsamen Annäherung von
Belarus an die EU die berechtigte Hoffnung auf eine
Öffnung des Landes, die berechtigte Hoffnung auf eine
Demokratisierung. Doch die Realität hat mit erschre-
ckender Härte gezeigt: Ein demokratisches Belarus wird
es nur ohne Alexander Lukaschenko geben können.

Noch am Wahlabend setzte er auf die Sprache der Ge-
walt. Über 600 Personen wurden seitdem inhaftiert.
Menschenrechtsorganisationen und Medien müssen
Angst haben vor der Gewalt des Staates. Elementare
Menschenrechte werden vom Staat und von Sicherheits-
organen mit Füßen getreten.

Doch auf Lukaschenkos Tricks lassen wir uns nicht
mehr ein; in diesem Punkt sind sich alle Demokraten in
diesem Hause einig. Wir erkennen im Deutschen Bun-
destag die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nicht
an.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie waren nicht frei. Sie waren nicht fair. Sie waren ma-
nipuliert und hatten mit demokratischen Wahlen nichts
zu tun.

Wir fordern daher die Regierung Lukaschenko auf,
sofort alle politischen Gefangenen freizulassen. Wir for-
dern die Regierung in Belarus auf, sofort alle Repressio-
nen gegen die Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungs-
organisationen und gegen unabhängige Medien zu
beenden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die völlige Missachtung europäischer Werte und Re-
geln, die völlige Missachtung elementarer Menschen-
rechte durch die Regierung Lukaschenko können und
werden wir nicht hinnehmen. Deshalb haben wir eine
ganze Reihe konkreter Maßnahmen entwickelt, mit de-
nen wir die Bundesregierung unterstützen wollen, die
sich bisher schon vorbildlich eingesetzt hat. Dabei ste-
hen die Freilassung politischer Gefangener und die Hilfe
für die Opfer von Repression und Gewalt im Vorder-
grund.

Wir brauchen weitere Programme zur Unterstützung
von Studierenden und Jugendlichen, deren Wertesystem
sich nicht am Diktator orientiert, sondern an Demokra-
tie, an Freiheit und an Europa. Das müssen wir verstärkt
fördern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir begrüßen das Engagement des Europarates zur
Stärkung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und
Demokratisierung. Das muss weiter so vorbildlich fort-
geführt werden. Wir begrüßen auch die Entscheidung
des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, Reisebe-
schränkungen und Sanktionen zu veranlassen für Präsi-
dent Lukaschenko und diejenigen, die für Gewaltaktio-
nen, für politische Repressionen und für die Fälschung
der Wahlergebnisse verantwortlich sind.

Die EU muss weiter den Menschen in Belarus den
Rücken stärken. Dazu gehört natürlich, weiterhin eine
europäische Perspektive für Belarus offenzuhalten. Dazu
gehört aber zunächst auch, dass die EU an den Sanktio-
nen gegen die Führung des Regimes festhält, und zwar
so lange, bis diese den Weg für einen demokratischen
Wandel freigibt. Dazu gehört jetzt auch, dass die EU an
Russland herantritt, um es zu gemeinsamen Handlungen
gegenüber dem Regime in Belarus zu bewegen. Russ-
land erhebt den Anspruch, mit der EU dieselben Ideen
und Wertvorstellungen über Europas Identität und Zu-
kunft zu teilen. Es sollte jetzt nicht wieder seine schüt-
zende Hand über den belarussischen Präsidenten halten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Als Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung
der OSZE ist mir wichtig, auch dort das Thema weiter zu
begleiten. Das OSZE-Büro in Minsk und der Medienbe-
auftragte müssen ebenso ungehindert wieder arbeiten
können wie das Büro für Demokratische Institutionen
und Menschenrechte. Die OSZE sollte eine unabhängige
internationale Kommission einsetzen, um die Vorgänge
vom 19. und 20. Dezember 2010 untersuchen zu lassen.
Dabei ist es auch wichtig, ein genaues Bild über die Si-
tuation der Menschenrechte zu bekommen.

Am Abend des 19. Dezember wurde in Belarus eines
klar: Die Autorität Lukaschenkos bröckelt. Er wird sie
auch nicht durch Schlagstöcke und durch Repressionen
wiedererlangen können. Wir sagen deutlich: Wir stehen
auf der Seite der Demokratie. Wir stehen auf der Seite
der Zivilbevölkerung, die den demokratischen Wandel
will. Und: Wir müssen hart bleiben, bis dieser Weg ein-
geschlagen wird.





Dr. Bijan Djir-Sarai


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709025200

Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-

Fraktion.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1709025300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

eine oder andere, der gut aufgepasst hat, denkt vielleicht,
wir alle sind ein bisschen meschugge, da wir drei fast
gleichlautende Anträge vorgelegt haben. Ich sage aber:
Das bedeutet, dass wir uns fast einig sind. Vielleicht
schaffen wir es auch noch, uns ganz zu einigen. Ansons-
ten müssen wir vielleicht einen anderen Weg beschrei-
ten.

Der Antrag der Grünen unterscheidet sich von den
beiden anderen Anträgen, von dem der SPD und von
dem der Koalition, durch einen Vorschlag, der in Bezug
auf die Erteilung von Schengen-Visa in näherer Zukunft
etwas vorprescht.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist unsere Aufgabe, Frau Kollegin!)


– Ja, ich habe das ja auch begriffen. – Ich glaube nur, wir
müssen jetzt handeln, und zwar, ehe der ganze Prozess
bezüglich Rückführungsabkommen etc. zum Abschluss
gebracht worden ist. Wir wissen nämlich noch nicht ein-
mal, ob Herr Lukaschenko dabei mitmachen würde. In-
sofern sollte man loben, was die Bundesrepublik
Deutschland am Dienstag gemacht hat, indem eine Visa-
Regelung eingeführt wurde, die wir in diesem Hohen
Hause im Übrigen schon einmal beschlossen hatten.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Eben! Ein Schritt weiter als das, was wir schon gemacht haben!)


Diese erleichtert in der Tat einer ganzen Reihe von Men-
schen das Leben, indem der Zugang zu Visa vereinfacht
wird und dafür nicht mehr so viel oder sogar gar nichts
bezahlt werden muss. Ich denke, hier sind wir uns einig.

Es gibt einen zweiten Punkt, von dem wir erst heute
beim Treffen der OSZE-Parlamentariergruppe Kenntnis
erlangt haben. Es geht um Punkt 10, der ja auch auf eine
Diskussion, die wir hier schon geführt haben, zurück-
geht. Mein Vorschlag, den Moskauer Mechanismus an-
zuwenden, ist von unserem Auswärtigen Amt aufge-
nommen worden; es hat uns aber zugleich darauf
aufmerksam gemacht, dass wir ein bisschen zu kurz
springen. Denn wir haben ja nicht gesagt, dass die
Gruppe, die aufgrund dieses Mechanismus eingesetzt
wird, eigentlich mehr tun soll, als nur die Geschehnisse
am 19. und 20. Dezember aufzuklären. Darüber hinaus
sollte sie sich nämlich auch ein Bild von der Lage der
Menschenrechte und der Grundfreiheiten in Belarus ma-
chen können. Sie müsste auch Gefangene besuchen und
Prozesse beobachten können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Deshalb bin ich dafür, dass wir uns überlegen, ob wir
nicht in einem Schnellverfahren in der nächsten Sitzung
des Auswärtigen Ausschusses die Punkte 3 und 10 über-
arbeiten, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kom-
men; denn sonst wäre das Resultat Stückwerk. Dann
müsste nämlich jeder seinem eigenen Antrag zustimmen
oder sich enthalten. In einem Nachklapp müssten wir
dann versuchen, einen Antrag zu diesem Moskau-Me-
chanismus zustande zu bekommen. Aber auch das würde
sehr kurzfristig sein. Ich stelle anheim, ob wir im Laufe
dieser Debatte vielleicht eine gemeinsame Linie finden
können, entweder durch Überweisung oder mit einem
Abstimmungsverfahren, das vielleicht merkwürdig aus-
sieht.

Wir alle wollen prinzipiell das Gleiche. Wir wollen,
dass die Situation in Belarus, wie sie jetzt besteht, auf-
hört. Ich finde ganz erstaunlich, was ich heute in
BelaPAN gefunden habe, nämlich dass Herr Lawrow,
der Außenminister Russlands, gegenüber der belarussi-
schen Regierung zum Ausdruck gebracht hat, dass das,
was geschehen sei, absolut unnötig und unakzeptabel
sei. Alle inhaftierten Journalisten, die Kandidaten und
die Human Rights Defenders sollten entlassen und die
Anklagen sollten fallen gelassen werden. Er hat das mit
großem Nachdruck gesagt.

Ich muss bezüglich einer Diskussion vom letzten Mal
Abbitte tun. Hier geht es um den Punkt, wie weit man
Moskau einbezieht. Herr Mißfelder hat das damals mit gro-
ßem Nachdruck gesagt. Ich habe allerdings ein bisschen
davor gewarnt, weil mein Eindruck war, dass Moskau
nicht unbedingt wild darauf ist, Lukaschenko zu einem
demokratischen Europäer zu erziehen. Aber vielleicht
kann man das, was Lawrow jetzt in dieser Stellungnahme
gesagt hat, tatsächlich als einen Ansatzpunkt nehmen, um
mit Russland zusammen etwas zu bewirken.

Wir wollen auch eine Unterstützung für die zivile Ge-
sellschaft und für die Opposition. Gerade hat es eine Ge-
berkonferenz gegeben, auf der viele eine ganze Menge
Geld zur Verfügung gestellt haben. Ich denke, es ist ganz
wichtig, dass wir Wege finden, um sowohl die Opposi-
tion, die zwar leider zersplittert, aber dennoch demokra-
tisch orientiert ist, als auch Menschenrechtler und Rechts-
anwälte zu unterstützen, die im Moment sogar davon
abgehalten werden, die Präsidentschaftsprätendenten,
also die Herausforderer von Lukaschenko, zu verteidigen.
Darüber hinaus müssen wir aber auch Gewerkschafter,
Journalisten und Studenten unterstützen.

Mittlerweile sind 42 Menschen dafür angeklagt, dass
sie Aufstände angefacht hätten. Ihnen droht bis zu
15 Jahre Gefängnis. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir
auch für sie sehr stark eintreten.

Soweit meine Kenntnisse reichen, sind zwei der Kan-
didaten, nämlich Statkevich und Lebedko, wobei ich
beim Letztgenannten nicht so ganz sicher bin, noch im





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

Hungerstreik. Das muss man sich einmal vorstellen. Das
wird langsam dramatisch, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen. Zwar sind zwei der Angeklagten in den Hausarrest
entlassen worden. Aber wenn man sich einmal anguckt,
was für eine Art von Hausarrest das ist, dann kann einem
das Grausen kommen. Da sitzen zwei Geheimdienstler,
KGB-Leute, mit in der Wohnung. Das sind nicht so
große Wohnungen, wie man sie bei uns hat, sondern das
sind nur zwei Zimmer.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist psychische Folter!)


Sie dürfen nicht telefonieren, nicht zum Fenster hinaus-
gucken, kein Internet benutzen und nur mit der eigenen
Frau reden, wenn es hochkommt. Das sind Irina Chalip,
die Ehefrau von Sannikow, und Nekljajew.

Wir haben unsere Forderungen formuliert. Die Bun-
desregierung hat zur Unterstützung von solchen Maß-
nahmen bereits Geld zur Verfügung gestellt. Dafür be-
danke ich mich ausdrücklich; ich finde das sehr gut. Wir
haben schon in der Vergangenheit immer solche Grup-
pen bilateral unterstützt. Damals wurden die entspre-
chenden Gelder vor allen Dingen vom BMZ vergeben.
Damit haben wir die Projekte des IBB unterstützt, die
alle auf die zivile Gesellschaft gemünzt waren. Ich bin
froh, dass die Bundesrepublik sowohl in Bezug auf die
Visa als auch bei der Bereitstellung von Geldern gehan-
delt hat.

Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen: die Situa-
tion der Studenten in Belarus. Bei der letzten Wahl im
Jahr 2006 gab es ja auch widerspenstige Studenten; das
hat uns sehr erfreut. Damals sind 600 Studenten ihrer
Unis verwiesen worden. Im Moment scheint es eine klei-
nere Zahl zu sein. Der Rektor einer Uni hat gesagt: Nein,
nein, keiner wird relegiert. – Tatsächlich sind aber schon
8 Studenten relegiert worden, 60 weiteren wurde ange-
droht, dass ihnen dasselbe blüht. Deshalb noch einmal
die Bitte, insbesondere bei dieser Gruppe das zu tun, was
andere Länder auch tun, nämlich ihnen Stipendien und
Studienplätze zu verschaffen. Wir haben damals nur eine
sehr kleine Zahl von Studienplätzen vergeben. Ich
glaube, das ist eine lohnende Aufgabe.

Es gab einen Artikel mit dem Titel: „Weißrusslands
Wutstudenten“. Alle Welt beruft sich im Moment auf die
Wut. Ich glaube, das sind keine „Wutstudenten“, sondern
ganz wache, bewusste Bürger, die ein besseres, demo-
kratisches Land haben wollen und große Solidarität mit
ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zeigen. Sie verdie-
nen unsere Solidarität.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709025400

Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Karl-Georg Wellmann (CDU):
Rede ID: ID1709025500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rat

der Außenminister hat Ende Januar harte Sanktionen ge-
gen Belarus beschlossen. Wir werden heute einen Antrag
beschließen, in dem diese Sanktionen begrüßt und weiter
gehende Forderungen gegenüber Minsk erhoben wer-
den.

Uns wird immer die Frage gestellt: Warum engagie-
ren wir uns bei Belarus mehr als bei anderen Staaten, in
denen die Situation der Menschenrechte unbefriedigend
ist? Die Antwort ist leicht: Belarus gehört zu Europa,
ebenso übrigens Russland. Wolfgang Ischinger hat ge-
rade gesagt: Belarus ist ein europäisches Land mit einer
europäischen Mission und einer europäischen Sprache. –
Recht hat er.

Im allergrößten Teil Europas sind die universellen
Werte – Menschenrechte, Demokratie – umgesetzt. Inso-
fern können wir es nicht akzeptieren, dass die Regierung
eines europäischen Landes diese Werte sich selbst und
der Bevölkerung verweigert. Das behindert die Entwick-
lung und den Wohlstand in dem Land; es enthält den
Menschen, die dort leben, eine gute Entwicklung vor.
Die Menschenrechtslage in Weißrussland bleibt weit
hinter dem europäischen Standard zurück, übrigens auch
weit hinter dem, was Lukaschenko selbst erst im Dezem-
ber in Astana unterschrieben hat.

Nicht nur die Menschenrechtslage, sondern auch die
ökonomische Lage ist angespannt; Lukaschenko braucht
Geld und Kredite. Er glaubt bisher, er könne mit einer
Politik des Lavierens zwischen Ost und West weiterkom-
men. Wenn ich mir die russische Wirtschaft und Industrie
ansehe – das Fehlen von innovativen Industrien, Korrup-
tion, Rückgang der Auslandsinvestitionen –, dann
komme ich zu dem Schluss: Es ist nicht Russland, das
eine blühende Entwicklung der belarussischen Wirtschaft
versprechen kann. Ganz objektiv betrachtet, ist also eine
stärkere Öffnung gegenüber der EU die einzige Chance
für Belarus.

Ich danke ganz besonders dem Ost-Ausschuss der
Deutschen Wirtschaft. Er hat sehr klare Worte dafür ge-
funden, dass die gegenwärtige Menschenrechtssituation
in Belarus weitere Fortschritte im ökonomischen Be-
reich verhindert. Im 21. Jahrhundert und in einer globali-
sierten Welt kann man ein Land nicht wie eine Kolchose
führen. Das führt politisch und ökonomisch ins Nirwana,
und wo das hinführt, kann man gerade auf den Straßen
Tunesiens und Ägyptens studieren.

Meine Damen und Herren, wir wollen den Dialog mit
Minsk nicht abwürgen. Aber es ist jetzt ausschließlich
Sache der dortigen Regierung, die Voraussetzungen für
ein erneutes Gespräch, eine erneute Kooperation zu
schaffen. Ohne eine Verbesserung der Menschenrechts-
lage wird hier nichts gehen, ohne eine sofortige Freilas-
sung der politischen Gefangenen sowieso nicht.

Die Reaktion dieses Regimes – darauf sollten wir im-
mer wieder hinweisen – ist in erster Linie ein Zeichen
der Schwäche. Wir wissen, dass die politische Opposi-
tion in Minsk nicht besonders gut und stark aufgestellt
war und es keine revolutionäre Stimmung im Land gab.





Karl-Georg Wellmann


(A) (C)



(D)(B)

Wer auf eine so schwache Organisation einprügelt, wie
Lukaschenko das getan hat, zeigt nur Schwäche. „Angst-
beißen“ nennt man es, wenn ein Tier aus Angst aggressiv
wird.

Brasilien hat kürzlich 14 Tage lang gefeiert und
Samba getanzt, als Frau Rousseff mit 56 Prozent zur
Präsidentin gewählt wurde. Lukaschenko ist angeblich
mit 80 Prozent gewählt worden. Die Reaktion in Belarus
ist: Friedhofsruhe. Das ist der Unterschied zwischen ei-
ner Demokratie und einer Diktatur. – Jetzt könnt ihr ru-
hig einmal klatschen. Das wäre gut für das Protokoll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Und Samba tanzen!)


– Samba geht auch, Herr Kollege, gerne.

Wir müssen die Zivilgesellschaft nicht nur unterstüt-
zen, sondern wir müssen den Menschen auch mehr Gele-
genheiten geben, zu uns zu kommen. Ich sage hier: Das
Visa-Regime darf die Spaltung Europas nicht vertiefen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr davon! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tut es!)


Wir können nichts Besseres tun, als möglichst viele
junge Leute, Schüler und Studenten, hierherzuholen und
ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Way of Life
kennenzulernen. Das ist das Beste, was wir tun können.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Visa-Freiheit! Es geht noch besser!)


Herr Staatsminister Hoyer, ich freue mich sehr, dass
die Bundesregierung bereits viel getan hat. Schon jetzt
werden Visa insbesondere an Schüler und Studenten, die
länger als sechs Monate bleiben, kostenfrei erteilt. Ich
habe beeindruckende Zahlen vorliegen: über 23 000 ge-
bührenfreie Schengen-Visa. Machen Sie weiter so! Das
ist der richtige Weg.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Auftrag haben wir als Parlament erteilt!)


Jetzt kommen wir einmal zu den Anträgen. Die Grü-
nen haben unter Ziffer 3 beantragt, die Visumpflicht auf-
zuheben.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie sich damit ein-
handeln. Dann hätten Herr Lukaschenko und seine
Freunde Gelegenheit, nach Europa einzureisen. Wenn
kein Visum erforderlich ist, kann er einreisen. Ich weiß
nicht, ob Sie das bedacht haben.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir haben nicht gesagt, dass die Pässe nicht mehr kontrolliert werden sollen, Herr Kollege! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Mit der Begründung sperren Sie Tausende aus!)


– Herr Liebich, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten,


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Habe ich!)


hätten Sie festgestellt, dass wir, übrigens in Übereinstim-
mung mit den Sozialdemokraten, insbesondere für Schü-
ler und Studenten mehr Liberalisierung haben wollen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Die Sozialdemokraten gehen da einen Schritt weiter als Sie!)


Jetzt haben wir zwei praktisch gleichlautende An-
träge. Liebe Frau Zapf, ich habe mir das noch einmal ge-
nau angeschaut. Ihr Antrag enthält drei Worte mehr als
unserer. Ich schlage vor, dass Sie auf diese drei Worte
unter Ziffer 3 verzichten


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch kein Vorschlag! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann übernehmen Sie doch die drei Worte!)


und wir dem Antrag dann gemeinsam zustimmen. Wir
brauchen ein starkes Signal. Eine breite Mehrheit wäre
ein solches Signal. Ende des Monats tagt die Parlamen-
tarische Versammlung der OSZE. Wir wollen einen Be-
schluss nach Wien mitnehmen. Es wäre schön, wenn
sich der Deutsche Bundestag mit möglichst breiter
Mehrheit entscheiden könnte.

Meiner Fraktion und mir ist nicht nur wichtig, dass
wir Visa-Erleichterungen vornehmen, womit die Bun-
desregierung schon angefangen hat, sondern auch, dass
wir dies mit zusätzlichen Maßnahmen flankieren. Die
Bundesregierung hat ihre Hilfe für die Zivilgesellschaft
in Belarus um 6,6 Millionen Euro aufgestockt. Die Ge-
berkonferenz in Warschau hat die Mittel für Belarus ge-
rade vervierfacht. Herr Hoyer, es ist wichtig, dass die
Gelder jetzt schnell in konkrete Programme fließen, da-
mit die Betroffenen schnell davon profitieren, also Schü-
ler und Studenten. Herr Hoyer, koordinieren Sie bitte die
Arbeit der Verantwortlichen in Ihrer Behörde, in der EU
und in den Bundesländern. Die Haushälter, die Bil-
dungspolitiker und die Hochschulen müssen sich auf den
Weg machen, damit wir möglichst bald eine große
Gruppe belarussischer Studenten bei uns begrüßen kön-
nen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709025600

Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709025700

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit

unserer letzten Debatte hier zum Thema Belarus hat sich
die Lage vor Ort wenig verbessert. Präsident Lukaschenko





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

hat seit seinen Repressionen gegen seine Gegenkandida-
ten und seit seinem Agieren gegenüber Demonstranten
wenig Milde gezeigt. Er hat kein Einlenken erkennen las-
sen. Auch die Freilassung einiger Inhaftierter – darunter
waren der Kandidat Wladimir Nekljajew und die Journa-
listin Irina Chalip – ist kürzlich nur aufgrund des massi-
ven internationalen Drucks erfolgt.

Aber immer noch laufen Verfahren weiter. Immer
noch gibt es eine Beobachtung durch den Geheimdienst.
Und immer noch gibt es politische Gefangene. Das wer-
den wir nicht unwidersprochen hinnehmen.

Präsident Lukaschenko darf nicht darauf hoffen, dass
wir wegen der dramatischen Entwicklung im Norden
Afrikas unsere europäischen Nachbarn vergessen. Wir
stehen auch in Belarus weiter an der Seite derjenigen, die
für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eintreten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gerade eben – die Vorredner haben darauf hingewie-
sen – haben wir die nächste Beratung der Parlamentari-
schen Versammlung der OSZE in Wien vorbereitet. Sie
dürfen sicher sein, dass die Delegation des Deutschen
Bundestages parteiübergreifend und gemeinsam die Kri-
tik, die wir hier formulieren, auch bei der OSZE-Parla-
mentarierversammlung vortragen wird.

Der Vorschlag, der uns heute vom Auswärtigen Amt
unterbreitet wurde, eine weitere Konkretisierung zum
Thema Moskau-Mechanismus vorzunehmen, ist sehr gut.
Ich finde, wir sollten nach einem vernünftigen Weg su-
chen, diesen sehr guten Vorschlag möglichst in einen ge-
meinsamen Antrag einfließen zu lassen. Herr Kollege
Wellmann, das funktioniert natürlich nicht so, wie Sie es
gerade vorgeschlagen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Klar ist – das ist bisher von allen Rednern gesagt wor-
den –, dass wir bei 90 Prozent der Fragen, die hier disku-
tiert werden, einen Konsens haben. Wenn alle Seiten gu-
ten Willen zeigen würden, dann bekäme man auch einen
Antrag aller Fraktionen hin.

Allerdings gibt es schon eine ernste Differenz. Diese
dürfen Sie auch nicht wegreden, Herr Wellmann, oder
den Kollegen von der Sozialdemokratie vorschlagen,
dass diese Differenz dadurch gelöst wird, dass Ihre Posi-
tion übernommen wird. Es gibt doch eine Differenz in-
nerhalb der CDU/CSU-Fraktion: Sie haben selbst beim
letzten Mal zum Ausdruck gebracht, dass Sie für eine
viel stärkere Visa-Freiheit sind als Ihre Kolleginnen und
Kollegen Innenpolitiker. Das ist die Differenz.

Deshalb unterscheiden sich auch die Anträge so sehr.
Zwischen der rechten Seite und der linken Seite dieses
Hauses besteht die Differenz darin, wie viel Freiheit man
den Menschen in Belarus tatsächlich gewähren möchte.
Darum können Sie hier nicht herumreden. Ich muss Ih-
nen sagen: Ihre Freiheitsreden würden dann besser klin-
gen, wenn Sie den Leuten dort wirklich helfen würden.

(Beifall bei der LINKEN)


Ich darf den Sacharow-Preisträger und Präsident-
schaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch zitieren.
Dieser hat nicht Wirtschaftssanktionen gefordert. Viel-
mehr hat er gesagt, dass wir unsere Tore für die Weißrus-
sen öffnen sollen. Die Bundesregierung überhört diesen
Wunsch, und beide Regierungsfraktionen überhören die-
sen Wunsch. Die Tore bleiben geschlossen. Das ist ge-
nau das falsche Signal, das Sie aussenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn es die Möglichkeit gibt, den Antrag von Ihnen
und die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen an den Auswärtigen Ausschuss zurückzuüber-
weisen, dann sollten wir das tun.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Stimmt ihr unserem Antrag zu?)


– Ich komme noch zu unserem Abstimmungsverhalten.

Wir sollten in Ruhe über einen gemeinsamen Antrag
reden. Sie haben hier aber zum Ausdruck gebracht, dass
Sie das nicht wollen. Sie wollen an dieser Differenz fest-
halten. Die Tore sollen geschlossen bleiben. Dem kann
man definitiv nicht zustimmen.

Jetzt zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, nein! Wir haben unseren eigenen Antrag!)


– Ja. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und zum
Antrag von der SPD-Fraktion.

Sie beziehen sich in Ihren beiden Anträgen auf die
Beschlussfassung des Europäischen Parlaments und hei-
ßen sie gut. In dieser Beschlussfassung des Europäi-
schen Parlaments wird leider auch zu nicht näher spezifi-
zierten Wirtschaftssanktionen und zum Einfrieren aller
makrofinanziellen Hilfen und IWF-Darlehen aufgerufen.

Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Das habe
ich hier im Plenum bereits beim letzten Mal gesagt.
Wenn wir diesen Passus beiseitelassen könnten und die
Punkte nehmen würden, auf die wir uns einigen könnten,
dann würden wir auch einen gemeinsamen Antrag hin-
bekommen. Dieser Formulierung des Europäischen Par-
laments können wir allerdings nicht zustimmen.

Aber die Forderungen an die Regierung Lukaschenko,
umgehend alle inhaftierten politischen Gefangenen frei-
zulassen, die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft,
gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unab-
hängige Medien zu beenden, das ist doch eine Position,
die alle Fraktionen dieses Hauses vertreten. Ich verstehe
nicht, warum wir es nicht schaffen, diese Position hier zur
Abstimmung zu stellen und so zu einer gemeinsamen Be-
schlussfassung des ganzen Hauses zu kommen.

Ich danke Ihnen recht herzlich.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709025800

Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von

Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin ein bisschen in Sorge, seitdem sich die öffentliche
Aufmerksamkeit von Belarus nach Ägypten orientiert
hat. Ich hoffe, dass wir Alexander Lukaschenko nicht die
Gelegenheit geben, die Gunst der Stunde zu nutzen und
die Opposition noch weiter zu zerschlagen, als er es bis-
her schon getan hat.

Wir brauchen – da sind wir uns einig – eine sehr ent-
schiedene und sehr standhafte Politik gegenüber dem
Regime Lukaschenko. Ich will nicht darüber hinwegre-
den, dass es im Umgang mit solchen autokratischen Re-
gimen immer eine schwierige Abwägung zwischen Dia-
log und Isolierung gibt, wobei wir uns, glaube ich, nach
wie vor einig sind, dass die Dialogpolitik mit Weißruss-
land zwar durchaus positive Seiten entfacht hat, zum
Beispiel das Aufblühen der Zivilgesellschaft, dass sich
Lukaschenko aber nach dieser dramatischen Verletzung
der Geschäftsgrundlage selbst in die Isolierung getrieben
hat.

Mir ist sehr wichtig, dass wir den Blick noch einmal
auf Russland richten; Kollegin Zapf hat das eben ange-
sprochen. Tatsächlich hat sich Außenminister Lawrow
sehr deutlich geäußert, nachdem der Rat zur Entwick-
lung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte am 1. Fe-
bruar dieses Jahres über Präsident Medwedew sehr stark
Druck gemacht und gefordert hat, dass sich Russland
deutlich für die Einhaltung der Menschenrechte aus-
spricht. Wir müssen der russischen Seite sagen, dass sie,
die sie in einer politischen Union mit Weißrussland ist – –


(Unruhe)


Herr Präsident, es ist ein bisschen schwierig, hier zu
sprechen. Können Sie die Kollegen bitten, ihre Verhand-
lungen außerhalb des Saales zu führen?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709025900

Es geht um das anschließende Abstimmungsverfah-

ren. – Können wir die Debatte fortführen, Frau Zapf?
Dann müssen wir die Sitzung vor der Abstimmung kurz
unterbrechen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Die Uhr ist übrigens weitergelaufen; das finde ich
nicht in Ordnung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709026000

Ich lasse die Uhr gleich ein bisschen länger laufen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

In Ordnung.
Wir müssen sehr deutlich machen, dass Russland für
die Menschen, die in KGB-Haft sind, Verantwortung
hat. Auch Präsidentschaftskandidaten, die von russischer
Seite aufgebaut worden sind, sind unter den Gefangenen.
Wir müssen bei ihnen Angst um Leib und Leben haben.
Sannikow hatte seit dem 27. Januar keinen Außenkon-
takt. Hier ist Russland ganz deutlich gefragt. Das sage
ich auch in Richtung des Auswärtigen Amtes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind uns in sehr vielen Fragen einig, dass sich
Lukaschenko selbst isoliert hat, dass es keine anti-bela-
russische Sanktionspolitik geben kann, aber eine deutli-
che Isolation des Regimes Lukaschenko. Damit sind wir
bei dem Juckepunkt unserer Debatte, bei der Frage, wie
wir es mit den Visa halten. Es ist manchen nicht ganz klar,
dass wir mit der Einbeziehung von Polen und dem Balti-
kum in den Schengen-Raum von unserer Seite die Mauer
in Europa wieder errichtet haben. Die jungen Menschen
aus Weißrussland konnten im kleinen Grenzverkehr voll-
kommen unproblematisch für 5 Euro pro Visum nach Po-
len und in das Baltikum reisen. Das heißt, sie waren quasi
Teil unseres europäischen Hauses. Mit der Verlagerung
des Schengen-Raums an die polnische Außengrenze ha-
ben wir den jungen weißrussischen Menschen den Weg
versperrt.

Herr Kollege Wellmann, erzählen Sie keinen Unsinn,
um Ihr schlechtes Gewissen zu verdecken. Es ist Unfug,
zu sagen, dass wir, wenn es Visumsfreiheit gebe, keine
Einreisen mehr verhindern könnten, zum Beispiel ge-
genüber Lukaschenko. Auch er müsste seinen Pass vor-
weisen; auch ihn könnte man an der Grenze abweisen.
Dass wir uns jetzt in diesem Punkt, der die größte Hilfe
für die weißrussische Zivilgesellschaft bedeuten würde,
durch die Schengen-Politik die Hände binden lassen, ist
nicht richtig.

Deswegen lautet unser klar formulierter Vorschlag,
im Rahmen der Schengen-Politik in der EU dafür zu sor-
gen, dass unsere notwendige außenpolitische Hand-
lungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Wir müssen in
der Lage sein, das zu tun, was unter den Gesichtspunkten
der Demokratie und der Menschenrechte außenpolitisch
notwendig ist. Es geht um nicht mehr und nicht weniger.
Deswegen sollten Sie hier keine Camouflage machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Ich war mit dem Kollegen Vaatz vergangene Woche
bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herr Milinkewitsch
und die jungen Leute dort – gestern habe ich mit Lawon
Wolski, der Popikone der belarussischen Jugend, gespro-
chen – sagen: Es ist schwierig, zu entscheiden, was man
jetzt machen soll. Aber eines wissen wir: Ein wirksames
Instrument wäre die Reisefreiheit. – Deswegen müssen
wir uns hier die Freiheit nehmen, das auszusprechen,
was notwendig ist; darauf sollten wir dann auch hinar-
beiten. Wir dürfen den Innenpolitikern nicht die Außen-
politik überlassen. Das führt in die Irre.





Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709026100

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun das Wort der Kollege Michael Frieser von der CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709026200

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Parlamentarismus hat tatsächlich et-
was sehr Lebendiges. Es geht um die Frage, ob man in
einer vorgegebenen Redezeit in der Lage ist, ein gemein-
sames Abstimmungsverfahren herbeizuführen. Ich bin
sehr dankbar, dass wir heute eines deutlich machen kön-
nen: Die Kritik am Regime Lukaschenko und der Protest
gegen das, was er Weißrussland antut, einen dieses Haus,


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ach ja? Wo denn?)


von einigen Ausfällen abgesehen.

Wir haben mit einer gewissen Hoffnung auf dieses
Land geblickt. Es gab Anhaltspunkte, insbesondere wirt-
schaftliche Blüten, die diese Hoffnung in den letzten
Jahren genährt haben. Am Wahltag, am 19. Dezember
2010, wurden wir aber in unserer Gewissheit bestärkt:
Wir erleben ein Regime, das wir Europäer mit allen Mit-
teln, die uns zur Verfügung stehen, bekämpfen müssen.
Voller Schamlosigkeit wurde deutlich gemacht, dass in-
ternationaler Protest das Regime nicht irritiert. Ich bin
dem Kollegen Klimke, der als Wahlbeobachter dort war,
dankbar; ich glaube, auch Frau Kollegin Beck war mit
von der Partie. Wer dort war, konnte beobachten, dass es
in Belarus eine Art Schaufenster gab. Man hat so getan,
als seien es tatsächlich demokratische Wahlen gewesen.
Das Gegenteil war der Fall.

Heute geht es darum, dass wir uns möglichst effektiv
und möglichst schnell in die richtige Richtung bewe-
gen. – Wie Sie sehen, laufen manche Kollegen immer
noch eifrig hin und her. Sie unternehmen den Versuch,
einen gemeinsamen Antrag zu erreichen.

Worum geht es? Es geht um effektive, schnelle und
konkrete Hilfe. Wir wollen deutlich machen, dass wir
den mutigen Menschen in Belarus helfen wollen: den
mutigen Journalisten, den Politikern, den Vertretern der
Zivilgesellschaft und den mutigen Anwälten, die sich für
die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Wir wol-
len dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, auch außer-
halb von Belarus für ihre Anliegen und die Menschen zu
kämpfen.

Im Hinblick auf unsere weitreichenden Forderungen
an die Bundesregierung müssen wir versuchen, in der
zentralen Frage: „Wie können wir den Menschen in
Weißrussland möglichst schnell den Weg nach Europa
ebnen?“ den effektivsten Weg zu gehen. Unserer Auffas-
sung nach – dafür werden Sie Verständnis haben, Frau
Kollegin Beck – muss dieser Weg wirksam sein, er muss
sofort umsetzbar sein, und er muss effektiv sein. Es ist
ein sehr wichtiges politisches Signal, an die Behörden zu
appellieren: Bitte erhebt nach Möglichkeit keine Gebüh-
ren und geht so unbürokratisch wie möglich vor, aber na-
türlich im Rahmen der bestehenden Gesetze. – Dann gibt
es, wie ich glaube, keine Unsicherheiten, und wir kön-
nen effektiv arbeiten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709026300

Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Beck?


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709026400

Selbstverständlich, wenn ich diesen Satz noch been-

den darf.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709026500

Bitte schön, ja.


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709026600

Frau Kollegin Beck, man muss fast folgenden Ein-

druck haben: Man muss sich am Rande Europas und der
EU nur so aufführen wie Herr Lukaschenko, man muss
also nur so tun, als lebe man tatsächlich in einer Demo-
kratie, obwohl man eigentlich eine Form der Diktatur er-
richtet, und schon sind wir bereit, die Visumsfreiheit
auszudehnen. Diesen Fehler dürfen wir nicht begehen.


(Beifall des Abg. Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU])


Jetzt zu Ihrer Zwischenfrage. – Bitte schön.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Kollege Frieser, ich danke Ihnen für dieses
Stichwort.

Zum Ersten möchte ich Sie fragen, ob Sie die Haltung
der EU-Kommission teilen, die die Absenkung der Vi-
sumsgebühren, wie sie im Fall der Ukraine und anderer
Länder gewährt wurde, gegenüber Weißrussland abge-
lehnt hat mit der Begründung: Solange Weißrussland ei-
nen Diktator hat, kann man die Visumsgebühren nicht
absenken. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir
dem Diktator dabei helfen, das Reisen für die Menschen
möglichst schwer und teuer zu machen.

Zum Zweiten möchte ich Sie fragen, ob Ihnen be-
wusst ist, dass wir in diesem Hause vor etwa drei Jahren
schon einmal in genau derselben Weise über die Not-
wendigkeit einer Visumsliberalisierung im Hinblick auf
Weißrussland gesprochen haben, dass damals Anträge
vorgelegen haben, über die abgestimmt worden ist, ver-
bunden mit der Aufforderung an das Auswärtige Amt, in
der Visumsfrage liberal zu sein, und dass Sie mit Ihrem
heutigen Antrag keinen Schritt weiter gehen, als wir es
vor drei Jahren getan haben.


(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)







(A) (C)



(D)(B)


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1709026700

Frau Kollegin Beck, ich glaube, das hieße, die Ge-

schichte aus dem Auge zu verlieren. Die Debatte von da-
mals ist mir sehr wohl bewusst. Das Thema hat aber
durch den Wahltag, den 19. Dezember 2010, so an
Schärfe gewonnen, dass wir die Situationen nicht mit-
einander vergleichen können.

Ich will Sie aber trotzdem auf den Widerspruch in
dieser Darstellung hinweisen. Natürlich hat es Signal-
wirkung, dass von den Staaten der ehemaligen Sowjet-
union bisher nur Estland, Lettland und Litauen tatsäch-
lich eine Visumsfreiheit erlangt haben. Wenn wir jetzt im
Fall Weißrussland die Visumspflicht fallen ließen, sähe
dies wie ein Gnadenakt aus, würde aber nicht aus der
Überzeugung eines sich öffnenden Europas heraus erfol-
gen. Ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie sich
dafür einsetzen; denn Sie handeln aus dem Impetus he-
raus, zu helfen. Aber im Ergebnis liefe es meines Erach-
tens tatsächlich in die falsche Richtung.

Die Frage, warum sich auch andere dieses Themas
annehmen, hat auch etwas mit der Diskussion über die
Gebührenhöhe der Visa zu tun. Deshalb ist es unserer
Meinung nach notwendig, dass wir alles unternehmen,
was auf diplomatischem Weg möglich ist, damit die Visa
so unbürokratisch wie irgend möglich erteilt werden.

Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir dieses Signal
aussenden, und zwar in einer möglichst einheitlichen Art
und Weise. Aus dem eifrigen Umherlaufen hier im Ple-
narsaal schließe ich, dass wir uns vielleicht auf einen ge-
meinsamen Antrag zubewegen. Insofern bedanke ich
mich herzlich bei den Kollegen der SPD. Wenn wir diese
Frage inhaltlich so beantworten können, dass wir uns
nicht gegenseitig niederstimmen müssen, dann ist dies
mit Sicherheit ein Beleg dafür, dass die große Mehrheit
dieses Hauses ein starkes Signal nach Belarus sendet.
Wir müssen Herrn Lukaschenko deutlich machen, dass
wir es weder akzeptieren noch tolerieren, dass er Men-
schen in seinem Land verfolgt und nach wie vor so tut,
als errichte er eine Demokratie, obwohl er eine Diktatur
befehligt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709026800

Ich schließe die Aussprache.

Ich darf Ihnen mitteilen, dass mir von einigen Kolle-
ginnen und Kollegen persönliche Erklärungen zu
Tagesordnungspunkt 7 vorliegen. Diese nehmen wir zu
Protokoll.1)

Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich die Ge-
schäftsführer zu mir bitten.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über drei Anträge
mit dem gleichlautenden Titel „Belarus – Repressionen
beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren,
Zivilgesellschaft stärken“, und zwar zunächst zur Ab-
stimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/4685. Wer stimmt für

1) Anlage 2
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der
Grünen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4667. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der
SPD-Fraktion und Enthaltungen der Fraktion Die Linke
und der Grünen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4686.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
der Grünen, Enthaltung der SPD und der Linken und
Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Krite-
rien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wah-
ren

– Drucksache 17/3687 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709026900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem

ist diese Koalition bisher eigentlich unschlagbar: im An-
kündigen von Überprüfungen und Evaluierungen.


(Gisela Piltz [FDP]: Danke für die Erkenntnis! Wunderbar!)


Das fängt mit der Koalitionsvereinbarung an. Im Bereich
der Innenpolitik, Frau Kollegin Piltz, sollen zum Bei-
spiel die Telefonüberwachung, der Datenschutz, das
Waffenrecht und die Internetsperren überprüft werden.
Bisher kannte man den schönen Satz: Wenn ich nicht
mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Bei Ih-
nen kommt hinzu: Wenn ich gar nicht einig bin, Evaluie-
rung ist immer noch drin. – Danach handeln Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: An dem Zweizeiler haben Sie aber lange gearbeitet!)


Darin sind Sie ja Spezialist.





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)

Schwarz-Gelb haben wir netto seit einem Jahr – brutto
noch länger –, und noch kein einziges dieser Evaluie-
rungsergebnisse liegt vor. Im Gegenteil: Sie streiten sich
jetzt sogar darüber, ob vorliegende Ergebnisse präsentiert
werden sollen – siehe Terrorismusbekämpfungsergän-
zungsgesetz. Erst haben Sie also Angst vor dem gemein-
samen Handeln, weswegen eine Evaluierung durchge-
führt wird, und dann haben Sie Angst davor, das Ergebnis
dieser Evaluierung vorzulegen. Sie machen aus einem an
sich guten Instrument ein Verzögerungsinstrument. Sie
machen aus einer guten Idee ein innerkoalitionäres Ver-
zögerungsmittel bzw. – ich sage es anders – eine schlechte
Ausrede in Ihrer Koalition. Das ist einfach nicht akzepta-
bel. Deswegen leisten wir heute Hilfestellung, indem wir
diesen Antrag vorlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich gebe zu: Das ist unsere Idealvorstellung. Man
kann hier anderer Meinung sein und sagen: Ein solches
Gremium wollen wir nicht. Darüber wollen wir ja reden.
Deswegen machen wir diesen Vorschlag. Was man aber
nicht machen kann, ist, zu sagen: Es soll alles so bleiben.
Den schlechten Zustand, den wir jetzt haben und der
weitestgehend eine Selbstevaluierung der Exekutive be-
deutet, verändern wir nicht. – Das geht auf gar keinen
Fall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD])


Eine Evaluierung ist bisher völlig unsystematisch
vorgesehen: einmal hier, einmal da und dann wieder gar
nicht. Deswegen sagen wir erstens: Alle Gesetze, die in
die Grundrechte eingreifen und die dem Zitiergebot un-
terliegen, müssen eine Evaluierungsklausel und eine
Evaluierungsfrist enthalten. Zweitens kann es doch nicht
sein, dass sich die Exekutive selber evaluiert, wie bei
dem sogenannten Terrorismusbekämpfungsgesetz. Da
hat sich die Innenverwaltung selber aufgeschrieben, wie
toll sie ist. Das hat sie dann auch noch VS-Vertraulich
gestempelt und geschlussfolgert: Selbst Befugnisse, die
nie angewendet wurden, behalten wir bei. Man weiß ja
nie, was kommt. – Das ist so sinnvoll, als würde man die
Evaluierung staatlicher Schauspielbühnen an die Inten-
danten übertragen. Jeder weiß, welches Ergebnis dann
herauskommen würde. Niemand würde diesen Irrsinn
machen; aber im Bereich der inneren Sicherheit war er
bisher Methode. Das muss aufhören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bei Peymann weiß man nie, was dabei herauskommt)


– Herr Grindel, wir werden sehen, was dabei heraus-
kommt, wenn man es richtig macht.

Wir als Gesetzgeber müssen bei der Evaluierung den
Hut aufhaben. Wir müssen das in die Hand nehmen; es
sind unsere Gesetze. Dieses Pingpongspiel mit Karls-
ruhe, dass hier Gesetze gemacht werden und uns dann
eine permanente verfassungsgerichtliche Nachhilfe er-
teilt wird, wie es Jutta Limbach einmal gesagt hat, muss
aufhören.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die brauchen wir nicht!)

Wir müssen in die Lage versetzt werden, durch eine Eva-
luierung der Wirkung unserer Gesetze selber zu einer
Korrektur zu kommen. Um dieses Stück Autonomie des
Gesetzgebers geht es hier.

Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist
schwierig; das wissen wir. Aber eine Evaluierung kann
dabei helfen. Wir schlagen eine Evaluierung auf hohem
Niveau vor, und wir erwarten, dass Sie sich ernsthaft da-
mit auseinandersetzen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709027000

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Franz Josef Jung

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1709027100

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Kollege Wieland, ich denke, Ihr Antrag, den wir heute
beraten, geht völlig an der Sache vorbei. Er ist aus mei-
ner Sicht einer Behandlung im Rahmen einer Plenarde-
batte unwürdig und überflüssig wie ein Kropf.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber werden Sie jetzt zwölf Minuten reden! Da sind wir gespannt! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein sehr kollegialer Einstieg!)


In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
hat keine Bundesregierung so viel für die Evaluierung
von Sicherheitsgesetzen getan wie die Bundesregierung
unter christlich-liberaler Verantwortung. Deshalb ist Ihr
Antrag abzulehnen, Herr Wieland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hören Sie doch auf mit Ihrer Rede! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sollen wir gehen, oder gehen Sie?)


Es stimmt: Freiheit ist ohne Sicherheit nicht möglich.
Aber Sicherheitsgesetze müssen den Grundrechten und
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Deshalb ist es, denke ich, auch richtig, dass die Sicher-
heitsgesetze evaluiert bzw., auf Deutsch, überprüft und
entsprechend bewertet werden und dass auch die Behör-
denstrukturen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie ha-
ben es angesprochen: Beim Terrorismusbekämpfungsge-
setz und bei der Antiterrordatei ist die Evaluierung
bereits gesetzlich vorgesehen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das Ergebnis?)






Dr. Franz Josef Jung


(A) (C)



(D)(B)

Sie sollten übrigens hinzufügen, dass im Terrorismusbe-
kämpfungsergänzungsgesetz, das im Oktober 2006 in den
Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, eine Eva-
luierungsklausel mit Parlamentsbeteiligung vorgesehen
ist. Das war in rot-grüner Regierungszeit gerade nicht der
Fall. Ich halte es für richtig, dass der Gesetzgeber, der die
Verantwortung für die Gesetze trägt, an einem solchen
Prozess beteiligt ist. Damit hat die christlich-liberale Ko-
alition den richtigen Schritt unternommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kann noch ein bisschen weiter gehen! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2006 gab es doch keine christlich-liberale Koalition!)


Die Antiterrordatei soll bis Ende dieses Jahres evalu-
iert werden. Es soll eine umfassende Analyse und Bewer-
tung des Instruments der Antiterrordatei im Hinblick auf
seine gesetzlich definierte Zielsetzung erfolgen. Ob die
Antiterrordatei die Zusammenarbeit der Teilnehmer ef-
fektiv unterstützt und damit einen erfolgreichen Beitrag
zur Terrorismusbekämpfung leistet, ist ein weiterer ent-
scheidender Punkt, der im Rahmen der Evaluierung zu
prüfen ist.

Hinzuzufügen ist auch – das haben Sie ebenfalls nicht
erwähnt, Kollege Wieland –,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur ein Drittel Ihrer Redezeit, Herr Kollege Jung! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll er denn in vier Minuten alles erzählen?)


dass die Evaluierungsregelungen im Gemeinsame-Da-
teien-Gesetz die Einbeziehung eines Sachverständigen
erfordern, und zwar im Einvernehmen mit dem Deut-
schen Bundestag und unter Wahrung von Objektivität
und Neutralität des Sachverständigen. Eines muss aber
immer klar sein: Bei der gesamten Überprüfung und Be-
wertung durch eine derartige Evaluierung von Sicher-
heitsgesetzen liegt letztlich die Verantwortung bei der
Bundesregierung


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Beim Bundestag!)


respektive beim Deutschen Bundestag. Sie darf nicht in
irgendwelche Experimentierzirkel abgeschoben werden
und zu „Gutachteritis“ führen; hier ist vielmehr die Ver-
antwortung des Verfassungsorgans gegeben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Herrn de Maizière!)


Deshalb muss die Verantwortung beim Verfassungsor-
gan bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In diesem Licht werden wir jetzt die Werthebach-Kommission betrachten!)

Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt – darauf
haben Sie hingewiesen –, dass die Sicherheitsdaten und
die gemeinsamen Zentren, die Telekommunikations-
überwachung und das Gesetz zur Verfolgung der Vorbe-
reitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten zu
überprüfen sind. Die Arbeiten daran sind ebenfalls in
Gang. Hinzu kommt – das haben Sie nicht erwähnt –,
dass selbstverständlich auch die Schnittstellen der zivi-
len Sicherheitsbehörden, nämlich Bundeskriminalamt,
Bundespolizei und Zollverwaltung, entsprechend über-
prüft werden. Dazu hat die Werthebach-Kommission


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch so ein Zirkel, den Sie nicht mögen!)


jetzt ihre Arbeiten vorgelegt. Das Ministerium wertet ge-
rade die Ergebnisse aus. Wir haben das bereits im Innen-
ausschuss diskutiert.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Gutachteritis“ kann ich nur sagen!)


Ich finde die Ziele richtig, zu mehr Effektivität zu kom-
men, Überschneidungen zu vermeiden, Aufgabenbünde-
lungen vorzunehmen und Synergieeffekte zu erzielen.
Eines ist aber klar: Es darf keine Funktion, die zur Ein-
gliederung von Institutionen führt, in Betracht kommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
in Ihrem Antrag die Hinzuziehung von Sachverständigen
im Zusammenhang mit der Evaluierung angesprochen.
Hier, denke ich, sind die Kriterien klar. Die Unabhängig-
keit muss gewahrt werden. Der derzeitigen Auswahl hat
der Deutsche Bundestag zugestimmt. Das haben Sie hier
ebenfalls nicht erwähnt, Kollege Wieland.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage es noch einmal: Ich hatte ein Drittel Ihrer Redezeit! Geben Sie mir das nächste Mal etwas ab! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann hier nicht die ganze Bibel vortragen!)


Ebenfalls zu ergänzen ist, dass das Terrorismusbekämp-
fungsergänzungsgesetz vorsieht, dass ein Staatsrechtler
beauftragt wird, der, lieber Kollege Wieland, auch auf
grundrechtliche Fragestellungen den Fokus legt.

Ich will noch einmal darauf hinweisen: Ich bin und
bleibe der Auffassung, dass die Verantwortlichkeit beim
Verfassungsorgan bleiben muss und nicht an ein Exper-
tengremium abgegeben werden kann.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir auch so! – Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Jawohl!)


Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt im Zu-
sammenhang mit derartigen Überprüfungen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag drin!)


Es liegt in der Verantwortung des Deutschen Bundesta-
ges, die Sicherheitsgesetze einer verantwortlichen Eva-
luierung zuzuführen.





Dr. Franz Josef Jung


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag genau so drin!)


Der Forderung nach einer, wie Sie es in Ihrem Antrag
formuliert haben, umfassenden, transparenten und ernst-
haften Evaluierung wird von der Bundesregierung be-
reits Rechnung getragen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Transparent? – Na ja!)


Ich habe gerade gesagt: Noch keine Regierung hat dies
in einem derartigen Ausmaß durchgeführt. Die Forde-
rung nach einem institutionalisierten Expertengremium
halte ich für falsch, weil ich der Auffassung bin, dass
hier die Verantwortung des Verfassungsorgans gegeben
sein muss. Aus all diesen Gründen ist Ihr Antrag abzu-
lehnen.

Besten Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709027200

Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Frank Hofmann (SPD):
Rede ID: ID1709027300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Evaluierung
von Sicherheitsgesetzen“ liegt mir seit langem am Her-
zen und ist für den Rechtsstaat von herausragender Be-
deutung. Insofern rennen die Grünen bei mir und bei uns
offene Türen ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen ist eine
Großbaustelle, bei der noch viel zu tun ist. Die Materie
ist wissenschaftlich noch nicht völlig durchdrungen.
Gute Ansätze sehe ich zum Beispiel bei Marion Albers,
die zur grundrechtsbezogenen Evaluierung gearbeitet
hat, und bei Gusy aus Bielefeld, der zur Telefonüberwa-
chung evaluiert hat. Aber auch das Max-Planck-Institut
hat schon beachtliche Ergebnisse geliefert. Fest steht für
mich und für uns: Die Politik muss sich an der Entwick-
lung und Gestaltung von Evaluierungskonzepten beteili-
gen und muss diese vorantreiben.

Das Innenministerium hat in 2010 Vorschläge zur
Evaluierung des Terrorismusbekämpfungsergänzungs-
gesetzes und des Gemeinsame-Dateien-Gesetzes vorge-
legt. Wir alle haben die Entwürfe gesehen. Darin sehe
ich misslungene Versuche.

Herr Jung, Sie haben gesagt, keine Bundesregierung
habe für die Evaluierung mehr getan, und die Parla-
mentsbeteiligung hervorgehoben. Ich kann Ihnen nur sa-
gen: Herr Benneter und ich waren es, die dies bei diesen
Gesetzen durchgesetzt haben, und zwar gegen großen
Widerstand aus Ihrer Fraktion.
Wenn ich mir jetzt anschaue, was aus dem Ministe-
rium kommt, dann habe ich den Eindruck, es sieht dies
als eine lästige Pflichtübung, nicht als Evaluierung.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ich sehe keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu
vorangegangenen sogenannten Evaluierungen. Die Hin-
zuziehung einer externen Beratungsfirma ist eine Farce,
wenn sie keinen rechtsstaatlichen Mehrwert darstellt –
und sie stellt in diesem Zusammenhang keinen rechts-
staatlichen Mehrwert dar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kirsten Lühmann [SPD] und Jan Korte [DIE LINKE])


Schauen Sie sich es einmal genau an: Das Innenmi-
nisterium will autonom die Forschungsfragen der Evalu-
ierung festlegen und die Auswertung und Bewertung al-
leine durchführen; es braucht den Sachverständigen
lediglich als Methodenberater. Das ist mir entschieden
zu wenig. Damit kann das BMI den gesamten Prozess
und auch das Ergebnis steuern. Ungewollte und kritische
Anmerkungen von Sachverständigen können so wir-
kungsvoll verhindert werden. Ich nenne das „Scheineva-
luierung“.

Die Regierungskoalitionen haben sich im Koalitions-
vertrag die Evaluierung des Sicherheitsgesetzes auf die
Fahne geschrieben. Aber in der Verwaltung, in der
Spitze der Ministerien, gelten weiterhin die alten Ver-
waltungsgrundsätze: „Das haben wir schon immer so ge-
macht“, „Das haben wir noch nie so gemacht“ und „Da
könnte ja jeder kommen“. Ich erwarte eine unabhängige,
ergebnisoffene Begutachtung und Bewertung von Geset-
zen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Herr Jung,
das ist bei Ihnen auch deutlich geworden. Für Sie liegt
das Schwergewicht auf Praxistauglichkeit und auf Effek-
tivität. Das sind nur zwei wichtige Aspekte. Für Sie sind
es jedoch die einzigen Punkte. Das ist falsch.

Ich denke zurück an die Evaluierung im Zusammen-
hang mit der Bundespolizeireform. Dieser Evaluierungs-
bericht ist kräftig in die Hose gegangen. Das Innenmi-
nisterium hat sich ein passendes Ergebnis gebastelt, und
die Realität sah ganz anders aus. Deshalb ist auch eine
Anhörung durch den Innenausschuss durchgeführt wor-
den. Die Kritik der Sachverständigen und der Betroffe-
nen war vernichtend. Evaluierungen sind eben keine
Schönwetterberichte.

Eine rechtsstaatsorientierte Evaluierung von Sicher-
heitsgesetzen darf nicht allein die Effektivität der Ver-
waltungstätigkeit zum zentralen Maßstab haben. Die
entscheidenden Fragen müssen lauten: Welche Grund-
rechte sind berührt? Wie tief und wie häufig sind die
Eingriffe? Sind die Rechtsstaatsprinzipien gewahrt?

Nun zum Vorschlag der Grünen. Sie schlagen ein in-
stitutionalisiertes Expertengremium vor. Damit würde
ich vorsichtig umgehen. Institutionen mit festen Organi-
sationsstrukturen entwickeln immer ein Eigenleben. Wir
brauchen die Unabhängigkeit der Sachverständigen, die
selbstständig eine Bewertung vornehmen und die sich





Frank Hofmann (Volkach)



(A) (C)



(D)(B)

auch dem wissenschaftlichen Wettbewerb stellen. Über
diese Punkte müssen wir noch reden.

Einheitlich festgelegte Kriterien sind nicht sinnvoll.
Es gibt in diesem Bereich nicht so etwas wie ein Jackett
von der Stange, das für alle Gesetze gleichermaßen
passt. Jedes Gesetz benötigt seinen eigenen Maßanzug.
Deshalb bin ich skeptisch. Wir müssen auch noch über
den Zeitpunkt reden. Wenn der wissenschaftliche Sach-
verständige erst im späteren Stadium hinzukommt, dann
fehlen schon alle Voraussetzungen, um richtige Statisti-
ken führen zu können. Ich halte es für wichtig, dass er
bereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Prozess
eingebunden wird.

Es gibt noch eine Menge zu tun. Die SPD-Fraktion
will hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten. Wir wer-
den morgen eine renommierte Expertin auf dem Gebiet
der Gesetzesevaluierung in unserer Arbeitsgruppe hören.
Sie wird uns mit ihrem Know-how unterstützen. Die
Bundesregierung sollte diesem Beispiel folgen und bei
Evaluierungsfragen auch unabhängigen externen Sach-
verstand mit ins Boot holen.

Deshalb wünsche ich mir, dass das BMI selbstständig
ohne gesetzlichen Zwang die Sicherheitsgesetze auch
wissenschaftlich evaluieren lässt. Damit wäre es auf der
Höhe der Zeit. Nur so kann der Gesetzgeber seiner per-
manenten Verfassungsbindung genügen und gegebenen-
falls Nachbesserungen am Gesetz vornehmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709027400

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1709027500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegen von den Grünen, bei der Lektüre Ihres
Antrages war ich mir nicht sicher, ob ich nun erfreut
oder erstaunt sein sollte.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beides!)


Erfreut, weil ich zur Kenntnis nehmen konnte, dass es in
Ihrer Fraktion zu früheren Zeiten einen Lernprozess ge-
geben hat,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann Ihnen nicht passieren!)


oder erstaunt über die Dreistigkeit, uns diesen Antrag
vorzulegen.

Da schreiben Sie doch tatsächlich, dass Sie in Ihrer –
da war es nämlich – rot-grünen Regierungszeit etwas
Tolles, nämlich eine unabhängige Evaluierung einge-
führt hätten. Im nächsten Satz beklagen Sie sich dann,
dass der Gesetzgeber dies aber nicht umgesetzt habe.
Sie schreiben da:

Deshalb hat die rot-grüne Koalition … das Instru-
ment einer gesetzlich vorgesehenen Evaluierungs-
pflicht eingeführt.


(Zuruf von der FDP: Das Wort habe ich vorhin schon mal gehört!)


Evaluierung wurde dabei als unabhängige Überprü-
fung der Grundrechtsverträglichkeit und Verhältnis-
mäßigkeit verstanden.

Jetzt kommt mein Lieblingssatz:

Dies wurde allerdings nicht so vom Gesetzgeber
ausformuliert.

Da muss ich doch einmal fragen: Wer war denn da-
mals Gesetzgeber? Warum haben Sie das denn nicht ge-
schafft, wenn Sie das alles so toll finden? Warum steht
das nicht direkt im Gesetz?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Herr Wieland noch nicht im Parlament war!)


Weil Sie es damals nicht für nötig gehalten haben oder
sich nicht durchsetzen konnten? Waren Sie – ich könnte
auch direkt fragen – nicht eigentlich selbst der Gesetzge-
ber, der es verbockt hat?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, war er nicht!)


Das ist nämlich genau das Problem. Sie haben es damals
nicht richtig gemacht und wollen uns das jetzt anhängen.
Das ist nicht redlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen es jetzt verbessern!)


Dazu kann ich eines sagen: Inhaltlich sind wir gar
nicht so weit auseinander. Wir sind der Auffassung, dass
Evaluierung richtig ist. Sie muss zwingend die Verhält-
nismäßigkeit in den Blick nehmen. Sie darf sich vor al-
len Dingen nicht auf die Praktikabilität der ausführenden
Behörde beschränken,


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sehr gut!)


und sie soll auch nicht nur von den Betroffenen durchge-
führt werden. Der Satz, dass die Frösche nicht ihren ei-
genen Teich trockenlegen würden, ist hier schon oft zi-
tiert worden. Er trifft auch hierauf zu.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Frösche sind grün!)


Wenn hier gesagt wird, wir täten gar nichts, was Eva-
luierung angeht, dann muss ich fragen, wo Sie eigentlich
waren, als es im Innenausschuss um das Informations-
freiheitsgesetz ging. Wir sind gesetzlich nicht verpflich-
tet, dieses zu evaluieren, wir tun es aber.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die Frist fehlt! Im Gesetz steht die Evaluierungspflicht!)






Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

– Wir sind in dieser Legislaturperiode nicht verpflichtet,
das zu machen. – Wir beauftragen einen Externen, das
Informationsfreiheitsgesetz zu evaluieren. Das ist mehr,
als Sie geschafft haben. Daher ist Ihr Verhalten nicht
richtig.


(Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Wenn er möchte. Dann habe ich Spaß.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709027600

Ich höre, dass Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Wieland zulassen.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1709027700

Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709027800

Schön. – Bitte, Herr Wieland.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1709027900

Mir würde sonst etwas fehlen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709028000

Liebe Frau Kollegin Piltz, sind Sie bereit, zur Kennt-

nis zu nehmen, dass wir durchaus gelernt haben, dass die
Pflicht zur Evaluierung in das Terrorismusbekämpfungs-
gesetz geschrieben wurde, im Übrigen auch in das Infor-
mationsfreiheitsgesetz? Sie liegen mit Ihrer Meinung
falsch. Es wurde nur versäumt, eine Frist festzusetzen.
Die Evaluierungspflicht aber steht im Informationsfrei-
heitsgesetz.

Aufgrund des Lernprozesses, dass dabei eine Selbst-
evaluierung der Exekutive herauskam, haben wir gesagt:
So geht es nicht weiter. – Den ersten Schritt, den der
Kollege Hofmann genau geschildert hat, nämlich dass in
einem Gesetz steht, dass ein Externer hinzugezogen wer-
den muss, finden wir unzureichend, weil es sich um eine
Gesellschaft handelt, die nur methodische Vorschläge
unterbreitet, ansonsten aber Managementberatung oder
dieses und jenes macht. Alles dies hat dazu geführt, sich
abstrakt in Form eines Antrags zu überlegen, wie eine
bessere Evaluierung aussehen kann. Wäre es nicht bes-
ser, statt immer nur Vergangenheitsbewältigung zu be-
treiben, uns zu sagen, ob Sie wie der Kollege Jung
schroff sagen: „Abgelehnt!“, ob Herr Jung auch in Ihrem
Namen die Ablehnung ausgesprochen hat oder wie Sie
sich hierzu verhalten wollen?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1709028100

Eigentlich kann ich den Rest meiner Rede auf Ihre

Kosten halten und noch ganz lange weiter reden; denn
das alles hätte ich noch gesagt. Herr Kollege Wieland,
erstens waren wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht ver-
pflichtet, die Evaluierung des Informationsfreiheitsge-
setzes vorzunehmen. Wir tun es aber trotzdem. Das wi-
derspricht dem, was Sie und Ihre Kollegen hier gesagt
haben, nämlich dass wir so etwas nicht tun würden.

(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das ist kein Sicherheitsgesetz! Hier geht es um Sicherheitsgesetze!)


– Die Aussage war, dass wir überhaupt keine Evaluie-
rung vornehmen. Das habe ich eben widerlegt.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass Sie kein Ergebnis bisher haben!)


Zweitens haben wir uns im Zusammenhang mit den
anderen Gesetzen auf ein Verfahren verständigt, dass ex-
terner Sachverstand hinzugezogen wird, der sich natür-
lich auch der Frage der Verhältnismäßigkeit widmen
soll. Die Koalitionsfraktionen werden das sehr genau
verfolgen und natürlich mit evaluieren. Insofern gebe ich
meinem Kollegen Jung – das wird Sie jetzt erstaunen
und ihn vielleicht erfreuen – völlig recht. Wir sind uns
völlig einig, dass Ihr Antrag abzulehnen ist, weil in ihm
etwas gefordert wird, was wir ohnehin schon tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir tun das, und wir werden mehr tun, als Sie getan ha-
ben; denn Sie waren nicht in der Lage, das in das Gesetz
zu schreiben. Wir setzen jetzt um, was Sie nicht ins Ge-
setz geschrieben haben. Das ist der Unterschied zwi-
schen Ihnen und uns.

Mit Evaluierungsklauseln – das möchte ich auch sa-
gen – kann sich Politik auch nicht reinwaschen. Man
kann nicht sagen: Wir greifen jetzt einmal in die Grund-
rechte ein, aber wir haben am Ende eine Evaluierung
und schauen, wie schlimm es ist. – Auch das ist unred-
lich. So gesehen muss ich auch noch einmal daran erin-
nern, dass sich die Kollegen der SPD durchaus damit ge-
schmückt haben, eine Evaluierung vorzunehmen. Dies
ist aber kein Trostpflaster dafür, dass Sie die Grund-
rechte mit dem BKA-Gesetz eingeschränkt haben.

Wir werden das anders machen. Das Bundesinnen-
ministerium und das Bundesjustizministerium sind sich
beim TBEG und bei der Antiterrordatei einig, welches
Verfahren angewendet wird. Wir legen damit die Grund-
lage für eine echte Evaluierung.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das ist das Verfahren, das schon vorliegt? Das ist keine Evaluierung! Das ist eine Farce!)


– Wissen Sie, was ich eine Farce finde, Herr Kollege?


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie werden es mir sagen!)


Dass Sie nicht in der Lage waren, mit Grün, mit anderen
Koalitionspartnern eine ordentliche Evaluierung ins Ge-
setz zu schreiben. Wenn wir es jetzt besser machen als
Sie, dann ist es ein Erfolg. Eine Farce ist Ihre Gesetzge-
bung und nicht unsere Evaluierung. Das muss ich hier
deutlich sagen. Man muss auch einmal in die Geschichte
schauen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie wissen genau, dass sich die Evaluierung in der Wissenschaft erst langsam durchsetzt und dass es sie vor zehn Jahren noch nicht gab!)






Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

– Jetzt ist es auch einmal gut. Wenn Sie eine Frage ha-
ben, dann stellen Sie sie ordentlich, so wie der Kollege
Wieland. Stellen Sie sich meiner Antwort, und quaken
Sie hier nicht andauernd dazwischen!


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ich mache das, wie ich es für richtig halte!)


– Jetzt ist es aber auch gut.

Eines muss man auch sagen: Wenn Sie den Koali-
tionsvertrag einmal anschauen, dann werden Sie sehen,
dass wir keine Verschärfung von Sicherheitsgesetzen
planen. Ganz gleich, was Sie uns vorwerfen, wir planen
das nicht. Das muss man hier auch deutlich sagen.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ein Teil plant das!)


Das heißt auch, dass wir bei allen Gesetzesvorhaben die
Verhältnismäßigkeit lieber direkt prüfen und dies nicht
auf nachfolgende, möglicherweise andere Mehrheiten
verschieben. Wir stellen uns bei den Grundrechten der
Verantwortung und lassen nicht hinterher jemand ande-
ren prüfen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich
mich schon darauf freue, mit Ihnen darüber zu diskutie-
ren, ob Maßnahmen, die Sie den Sicherheitsbehörden
überhaupt erst ins Gesetz geschrieben haben, verlängert
werden sollten oder nicht. Ich meine eine Diskussion auf
der Grundlage der von der schwarz-gelben Koalition in
Auftrag gegebenen Evaluation mit Blick auf Zweckmä-
ßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Ich freue mich auf eine
ernsthafte Diskussion mit der Opposition, und ich hoffe,
sie gerät nicht zur Farce.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709028200

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich dem Kollegen Jan Korte von der Fraktion Die
Linke das Wort.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709028300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist schon interessant, was heute aus den Reihen der Ko-
alition so alles geboten wird. Ich muss sagen, der ge-
stellte Antrag ist in der Tat sehr sinnvoll. Ich glaube, das
kann man erst dann richtig würdigen, wenn man sich an-
schaut, welche Eingriffe in die Bürgerrechte in den letz-
ten Jahren stattgefunden haben. Die Gesamtsumme der
Eingriffe zeigt in der Tat, dass wir dringend eine Evalu-
ierung brauchen, weil Evaluierung immer auch ein Stück
weit Selbstkorrektur – man könnte auch sagen, Selbst-
kritik; wie auch immer – bedeutet. Wir brauchen näm-
lich eine Abrüstung nach innen und außen. Das ist ange-
messen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der Kollege Wieland hat das Beispiel schon genannt.
Es ist ein relativ lustiger Vorgang, dass, ich sage einmal,
die härtesten Innenpolitiker ihre härtesten innenpoliti-
schen Gesetze evaluieren, überprüfen und – potz Blitz! –
zu der Erkenntnis kommen, dass die Ergebnisse spitze
sind und man sogar noch viele neue braucht. Das ist in
etwa so, als sollte sich die CDU/CSU-Fraktion in der Öf-
fentlichkeit selbst im Hinblick darauf evaluieren, wie
ihre Politik ist. Sie ist natürlich nachweislich schlecht,
aber Sie werden logischerweise sagen, dass sie gut ist.
So kann man nicht seriös evaluieren. Das muss unabhän-
gig geschehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel dafür nen-
nen, dass man schon von hier aus evaluieren kann. Wir
erinnern uns an die harten Debatten, die wir zur Befug-
nis der Onlinedurchsuchung im BKA-Gesetz geführt ha-
ben. Das ist nun recht interessant. Wir wollten konkret
evaluieren und haben eine Kleine Anfrage an die Bun-
desregierung gestellt. Nachdem die Onlinedurchsuchung
in das BKA-Gesetz aufgenommen worden ist, wollten
wir wissen: Wie oft hat das BKA eigentlich eine Online-
durchsuchung durchgeführt? Von der Bundesregierung ha-
ben wir die Antwort bekommen – das ist wirklich toll –:In
der Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 21. Mai 2010, also
rund ein Jahr, wurde keine einzige Onlinedurchsuchung
durchgeführt. – Keine einzige! Wenn man eine seriöse
Evaluierung durchführen würde, käme man zu folgen-
dem Schluss: Das müssen wir streichen. Weg mit der
Onlinedurchsuchung. Man braucht sie gar nicht. Sie ge-
fährdet die Bürgerrechte. – Das wäre die richtige
Schlussfolgerung. Davor drücken Sie sich aber. Das ist
der Grund, weswegen Sie diesen Antrag nicht wollen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Weshalb wollen Sie diesen Antrag nicht? Diese Frage
ist in der Tat sehr interessant. Wir brauchen eine Evalu-
ierung der beiden Pole Freiheit und Sicherheit. Sind sie
noch im Lot? Eine solche Evaluierung muss vor allem
unabhängig sein. Wir brauchen keine harten Sheriffs aus
Ihren Reihen, die die Gesetze überprüfen, sondern Bür-
gerrechtler, unabhängige Rechtsanwälte, Journalisten
und viele andere. Die Bürger- und Persönlichkeitsrechte
müssen ebenfalls evaluiert werden, um herauszufinden,
inwieweit sie in Mitleidenschaft gezogen worden sind


(Zuruf von der CDU/CSU: Kein einziges Mal! Das haben Sie doch eben gesagt!)


bzw. nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind;
auch das ist möglich.

Ganz sicher ist das – das haben wir jetzt mehrfach ge-
hört; das richtet sich auch an diejenigen, die im Innen-
ausschuss sitzen –: Wir müssen evaluieren, wie die Si-
cherheitslage in der Innenpolitik aussieht; denn darauf
fußt eine seriöse Gesetzgebung. Wir bekommen ständig
Terrorwarnungen. Zum Glück ist dies seltener gewor-
den. Es war dennoch erst kürzlich der Fall. Das Problem





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

ist, dass man nicht überprüfen kann, wie groß die Gefahr
wirklich ist. Wie will man da sachlich über solche Geset-
zesvorhaben reden? Deswegen sind Sie in der Pflicht,
endlich offenzulegen, wie die Sicherheitslage ist. Erst
dann kann man solche Gesetzesvorhaben seriös behan-
deln.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich werden wir diesen Antrag unterstützen. Ei-
nes will ich den Grünen aber noch mit auf den Weg ge-
ben.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da würde auch was fehlen!)


Noch besser, Kollege Wieland, als Evaluierungsdebatten
zu führen, wäre es für die Grünen, solch schlechten Ge-
setzesvorhaben erst gar nicht zuzustimmen. Dann brau-
chen wir sie nämlich nicht zu evaluieren.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bräuchten Sie auch keine Evaluierung!)


Die Linke stimmt so etwas niemals zu.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709028400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3687 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:

Beratung einer Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung zu einem Antrag auf
Genehmigung zur Durchführung eines Straf-
verfahrens

– Drucksache 17/4680 –

Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4680, die Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Republik Serbien andererseits

– Drucksache 17/3963 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)


– Drucksache 17/4500 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
Marieluise Beck (Bremen)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


D
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1709028500


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Debatte am 8. Oktober 2010 hat sich der Deutsche
Bundestag fraktionsübergreifend für eine Weiterleitung
des serbischen EU-Beitrittsantrags an die Europäische
Kommission ausgesprochen. Damit wurde das bekräf-
tigt, was unserer europäischen Überzeugung entspricht:
Wir wollen die Überwindung der Teilung Europas voll-
enden. Dazu gehört die EU-Perspektive für die Länder
des westlichen Balkan.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das gilt natürlich auch für Serbien. Es steht außer Frage,
dass ein rechtsstaatliches und demokratisches Serbien
seinen Platz in der europäischen Familie hat.

Heute steht im Bundestag die Entscheidung über ei-
nen weiteren wesentlichen Zwischenschritt auf diesem
Weg nach Europa an. Es geht um die Ratifizierung des
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Dieses
Abkommen ist ein wesentlicher Bestandteil des Stabili-
sierungs- und Assoziierungsprozesses. Das ist ein Pro-
zess, den die Europäische Union nach den Kriegen im
ehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen hat. Dieser
Prozess bildet nach wie vor den Kompass für Stabilität
und nachhaltige Reformen in der Region, gerade weil er
eine nachhaltige Perspektive beinhaltet.

Serbien bekennt sich in dem Stabilisierungs- und As-
soziierungsabkommen zu den europäischen Werten:
Menschenwürde, Demokratie, Schutz von Minderheiten,
Rückkehrrecht der Flüchtlinge, uneingeschränkte Zu-





Staatsminister Dr. Werner Hoyer


(A) (C)



(D)(B)

sammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof
für das ehemalige Jugoslawien und Entwicklung gut-
nachbarlicher Beziehungen. Das sind große, das sind ge-
wichtige Worte, wenn man an die Geschichte dieser ge-
schundenen Region Europas denkt. Das alles in die
Realität umzusetzen, wird kein Selbstläufer sein; das ist
noch ein langer Weg.

Das Abkommen bietet die Grundlage für eine schritt-
weise Angleichung des serbischen Rechts an den EU-
Acquis. Es eröffnet in vielen Bereichen eine intensive
und umfassende Zusammenarbeit zwischen Serbien und
der EU, auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Nach erfolg-
reicher Umsetzung des Abkommens wird Serbien einen
erheblichen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes
der Europäischen Union übernommen haben. Das ist
eine notwendige, wenngleich noch längst nicht hinrei-
chende Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäi-
schen Union.

Die europäische Perspektive bleibt der wirksamste
Hebel für unumkehrbare Reformen in Serbien und der
gesamten Region. Die Europäische Union steht zu ihren
eingegangenen Verpflichtungen und erwartet umgekehrt,
dass Serbien vor einem Beitritt zur Europäischen Union
alle Kriterien für eine Mitgliedschaft uneingeschränkt
erfüllt. Meine Damen und Herren, da dürfen wir uns
nichts vormachen: Das ist noch ein längerer Weg. Wir
müssen aus der Geschichte der europäischen Erweite-
rungspolitik lernen und auf der Einhaltung der klar for-
mulierten Erwartungen an einen Beitrittskandidaten be-
stehen.

Serbien muss unter Beweis stellen, dass es nicht nur
anspruchsvolle Reformagenden abhandeln kann, son-
dern auch die Werte der Europäischen Union in vollem
Umfang teilt und dafür eintritt, übrigens nicht nur zum
Zeitpunkt des Beitritts, sondern auch danach, wenn man
in das europäische Haus eingezogen ist.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hierzu gehören auch – das ist ganz zentral – das Eintre-
ten für Versöhnung, regionale Zusammenarbeit und gut-
nachbarliche Beziehungen. Hierauf werden wir und wird
die Kommission ein waches Auge richten müssen.

Um im Prozess der Versöhnung auch in Bezug auf
Kosovo weiterzukommen, erwarten wir, dass der Dialog
zwischen Belgrad und Pristina über praktische Fragen so
bald wie möglich beginnt und konstruktiv geführt wird.

Auch bei den Beziehungen zu einem anderen Nach-
barstaat, nämlich Bosnien und Herzegowina, muss
Serbien deutlich zeigen, dass es die konstruktiven und
kompromissorientierten Kräfte unterstützt und sich un-
zweideutig für die europäische Zukunft eines ungeteilten
Bosnien und Herzegowina einsetzt.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Grenzen auf dem Balkan sind endgültig gezogen.
Der Internationale Gerichtshof hat im letzten Jahr bestä-
tigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo
nicht gegen Völkerrecht verstoßen hat. Auch Kosovo hat
eine europäische Perspektive. Diese müssen wir eben-
falls voranbringen, soll das Land kein Hort der Instabili-
tät in Europa werden. Ich sage klar: Wir erwarten von
Serbien, dass es diese Perspektive, so schwierig sie sein
mag, nicht blockiert.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Offene bilaterale Fragen dürfen nicht erneut in die Euro-
päische Union importiert werden, will die Europäische
Union ihre Handlungsfähigkeit bewahren. Auch hier ha-
ben wir aus den Erfahrungen gelernt.

Serbien hat den richtigen Weg eingeschlagen. Nicht
zuletzt in New York im letzten Herbst ist es mit großem
persönlichen Engagement auch von europäischen Au-
ßenministern wie William Hague, Guido Westerwelle
und Cathy Ashton gelungen, eine gemeinsame Resolu-
tion auf den Weg zu bringen, die nicht neue Gräben auf-
reißt.

Auch die jüngsten Gesten zwischen dem serbischen
und dem kroatischen Staatspräsidenten stimmen hoff-
nungsfroh. Der Besuch von Präsident Tadic in Vukovar,
die Resolution des serbischen Parlaments zu Srebrenica
und das serbische Bekenntnis zur territorialen Integrität
Bosniens zeigen, dass der Weg zur Versöhnung begangen
werden kann. Serbien – allen voran Präsident Tadic – hat
den Mut bewiesen, diese Schritte zu gehen. Dass das in-
nenpolitisch nicht leicht war, ist uns allen bewusst. Nun
müssen weitere mutige Schritte folgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709028600

Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-

Fraktion.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1709028700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit

der Ratifizierung des vorliegenden Abkommens, die wir
gleich vornehmen, kommt Serbien einen Schritt näher an
die EU heran. Ich denke, das ist für Serbien gerade in der
augenblicklichen Situation ein ganz wichtiges Zeichen
der Ermutigung. Die Situation in Serbien ist ja nun weiß
Gott nicht goldig. Serbien wurde sehr stark von der Wirt-
schaftskrise getroffen. Die Arbeitslosigkeit beträgt
26,7 Prozent, die Löhne sinken, und der IMF verlangt
sogar noch weitere schmerzliche Reformen, auch und
besonders in Form von Einsparungen im öffentlichen
Dienst, was wiederum sinkende Löhne mit sich bringt.
Die Ärzte und das Klinikpersonal streiken, sie gehen auf
die Straße und drohen mit weiterem Ausstand, weil ihr
Verdienst nicht ausreicht, um einen anständigen Lebens-
unterhalt zu sichern. Es ist ja verständlich, dass man
sich, wenn sich die Zukunftsperspektiven verschlech-
tern, große Sorgen macht. Darum ist es wichtig, jetzt zu
schauen, wie eine positive Stimmung entstehen kann.
Dass es dazu kommt, ist, wie ich glaube, dringend not-
wendig.





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

Gerade in den letzten Tagen sind, wie wir aus einigen
Informationsquellen entnehmen konnten, 70 000 Natio-
nalisten unter Führung von Tomislav Nikolic auf die
Straße gegangen und haben Neuwahlen verlangt. Sie
fordern: „Change!“, und werfen der Regierung Unfähig-
keit und Korruption vor. Nun wissen wir, dass Korrup-
tion in Serbien in der Tat ein Problem ist. Wir hatten
heute ein Gespräch mit dem serbischen Botschafter, der
gesagt hat: Korruption ist eines unserer größten Pro-
bleme, aber Präsident Tadic nimmt es sehr ernst. Es gibt
eine Antikorruptionsbehörde, die aber zu wenig Befug-
nisse und zu wenig Instrumente hat. Der Präsident selbst
hat allerdings den Arzt seiner Kinder, nachdem er ge-
merkt hat, dass dieser korrupt ist und Bestechungsgeld
nimmt – weil er zu wenig verdient, aber auch leben
möchte –, vor Gericht gebracht. – Man ist also davon
überzeugt, dass es nötig ist, diese Korruption zu be-
kämpfen, und bemüht sich glaubhaft darum.

Ich denke, es ist in diesem Fall nicht angebracht, im-
merfort nur auf Tunesien und Ägypten zu verweisen, wie
es Herr Nikolic gemacht hat. Er bedient sich bei seiner
Forderung nach Neuwahlen des Vorwurfs, dass trotz
proeuropäischer Einstellung der Regierung die Anbin-
dung an die EU nur schleppend vorangehe. Auch unter
diesem Gesichtspunkt wäre es jetzt an der Zeit, die pro-
europäischen Maßnahmen durch einen entsprechenden
Schritt zu honorieren.

Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission
werden die Fortschritte Serbiens auf dem Weg zur EU
hervorgehoben. Laut der Schlussfolgerungen des Rates
vom 25. Oktober 2010 hat die Kommission mit den Vor-
bereitungen einer Stellungnahme zum Beitrittsantrag
Serbiens begonnen, die 2011 veröffentlicht werden soll.
Der Botschafter hat heute sehr deutlich signalisiert, dass
man nicht nur hofft, dass die Stellungnahme positiv aus-
fällt, sondern auch, dass ein Termin für die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen genannt wird. Ich denke,
dies wäre eine sehr große Ermutigung in einer doch
schwierigen Lage, die sich wohl nicht so schnell bessert.

Trotz der Bescheinigung, dass Serbien Fortschritte
bei der Erfüllung der politischen Kriterien gemacht hat,
bleibt in wichtigen Feldern natürlich noch viel zu tun.
Ich habe die Bekämpfung von Korruption schon er-
wähnt. Weiterhin ist eine Justizreform umzusetzen; eine
Reform der öffentlichen Verwaltung ist auf den Weg zu
bringen; es muss die organisierte Kriminalität bekämpft
werden usw. Die serbische Regierung hat aber schon ei-
nen entsprechenden Aktionsplan beschlossen und diesen
auch in Brüssel vorgelegt. Dieser ist sehr umfangreich
und geht auf alle Erfordernisse ein. So kann man in der
Tat sagen: Es gibt ein ernsthaftes, aufrichtiges Bestreben
dieser Regierung. Nikolic dagegen, der bei Wahlen im-
mer noch gute Ergebnisse erzielt, allerdings keine Koali-
tionspartner findet, versucht, diese schwierige Situation
als Hebel zu benutzen, um die Regierung zu stürzen. Für
die Serben kann der Weg nicht sein, in eine wirklich un-
übersichtliche Situation zu kommen.

Was noch aussteht, ist die sichtbare Zusammenarbeit
mit dem Strafgerichtshof; das wurde schon erwähnt.
Noch immer sind Ratko Mladic und Goran Hadzic auf
freiem Fuß. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn
man endgültig über Beitrittsverhandlungen entscheidet.
Aber das wissen die Serben selbst, und es bleibt die
Hoffnung.

Die Hoffnung, dass die Probleme überwunden wer-
den, bleibt auch in einem anderen schwierigen Punkt,
nämlich in der Frage des Kosovo, der Gerichtsentschei-
dung und der Akzeptanz der Resolution, die nach etwas
schwierigem Ringen gelungen ist. Das, was vereinbart
wurde, kommt jetzt auf den Weg. Ich hoffe, dass die Ge-
spräche mit dem Kosovo bald beginnen werden. Es gab
jedenfalls Meldungen, dass sich die Gruppe jetzt for-
miert hat.

Herr Füle hat mit Recht Folgendes gesagt, als die EU-
Kommission den Bericht angenommen hat:

Serbien hat seinen Platz in der EU. Die Tür ist of-
fen, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. …
Wir messen Serbien eine zentrale Rolle für den
Aussöhnungsprozess und eine positive regionale
Zusammenarbeit im Westlichen Balkan bei.

Aber sie werden das nicht ganz alleine schaffen kön-
nen. Ich finde, wir müssen auch einen Blick auf die Eu-
ropäische Union werfen, die verschlungen ist in Diskus-
sionen über den Euro, über die Finanzkrise und über ihre
Orientierung und die vergessen hat, dass die Europäi-
sche Union insgesamt ein Projekt des Friedens, ein Pro-
jekt der Stabilität und ein Projekt der Reformen zur De-
mokratisierung, zur Kooperation, zur Aussöhnung ist.
Wir haben das den Westbalkanländern 2003 in Thessalo-
niki angeboten und haben es immer wieder bestätigt.
Aber es ist doch kontraproduktiv, wenn dann die CDU in
ihr Programm schreibt: Kroatien wird selbstverständlich
noch aufgenommen, aber dann ist Schluss. – Das kann
nicht sein. Damit ermutigen wir niemanden. Damit er-
mutigen wir Serbien nicht. Damit ermutigen wir aber
auch andere Länder nicht, die im Moment in ihrem Inne-
ren jede Menge Schwierigkeiten haben, diese Perspek-
tive als Anreiz für die Entwicklung weiterer Reformen
und zum weiteren Fortschreiten in Demokratisierungs-
prozessen zu nehmen.

Wir haben schwere Probleme in Mazedonien, nicht
nur weil die Griechen im Namensstreit stur sind, sondern
weil auch die Mazedonier stur sind und eher auf nationa-
listische Töne ausweichen, als sich im Reformprozess
tatsächlich einmal weiterzubewegen.

Auch Montenegro, das von der Europäischen Kom-
mission eine gute Beurteilung bekommen hat, ist meiner
Ansicht nach schwer reformbedürftig, was zum Beispiel
die Behandlung der Presse, die Frage der Korruption und
die Frage der organisierten Kriminalität, die bis in die
obersten Etagen der politischen Elite reicht, betrifft.

Wir haben sehr viel zu tun. Aber wenn wir diesen
Entmutigungsprozess gerade in den eigenen Reihen, in
der Europäischen Union nicht aufhalten, dann haben wir
vergessen, wozu die Europäische Union eigentlich ge-
gründet worden ist und welche positiven Effekte es für
uns und auch für andere gegeben hat und dass es Zeit ist,
dass sich die Europäische Union wieder auf ihre Glaub-





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

würdigkeit besinnt, um das Friedensprojekt wirklich sta-
bil weiterzuführen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709028800

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Beyer von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1709028900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor sieben
Wochen haben wir in erster Lesung unsere Reden zu
Protokoll gegeben. Ich halte es für eine gute Sache – es
ist an der Zeit –, dass wir heute über den Tagesordnungs-
punkt debattieren.

Die Beziehungen zu Serbien, einem Schlüsselstaat
des Balkans, sind von herausgehobener Bedeutung. Die
gemeinsame deutsch-serbische Vergangenheit war nicht
immer einfach. Insbesondere im kulturellen Bereich aber
sind die Beziehungen mit einer langen Tradition verse-
hen. Beispielsweise haben im vergangenen Herbst in
Belgrad die Deutschen Tage stattgefunden. Im Rahmen
der Deutschen Tage wurden rund 90 Veranstaltungen aus
den Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft und Jugend an-
geboten. Im nächsten Monat, im März, ist Serbien sogar
Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse. Mehr und
mehr Literatur und Buchtitel werden aus dem Serbischen
übersetzt; das sorgt hierzulande für einen steigenden Be-
kanntheitsgrad. Es tut sich also etwas.

Meine Damen und Herren, es muss sich auch etwas
tun; denn die Situation in Serbien ist, wie Frau Kollegin
Zapf so treffend formuliert hat, „weiß Gott nicht goldig“.
Die Finanznot ist groß; die Regierung muss tagtäglich
einen Balanceakt am Rande eines Staatsbankrotts hinbe-
kommen. Viele Menschen in Serbien leben an der
Grenze zum Existenzminimum. Circa 1 Million Men-
schen hat keine Arbeit bzw. kann von der Arbeit, die sie
ausüben, nicht in Würde leben.

Es war mithin nur eine Frage der Zeit, bis auch der
geduldige Bürger auf die Straße gegangen ist. So ge-
schah es am vergangenen Samstag: Zehntausende De-
monstranten sind durch Belgrads Innenstadt gezogen. Es
war die größte Oppositionskundgebung seit vielen Jah-
ren, ein lautstarker Protest gegen Arbeitslosigkeit und
soziale Missstände im Lande. Die Demonstranten zogen
sodann vor das Parlamentsgebäude, übten dort heftige
Kritik an der eigentlich proeuropäischen Regierung und
verlangten Neuwahlen.

Es ist bemerkenswert, dass bei alldem keine Kritik am
Kurs der Annäherung Serbiens an die EU zu vernehmen
war. Das belegen auch die Umfragen in Serbien: Über
50 Prozent der Bevölkerung unterstützen den angepeil-
ten Beitrittsprozess. Dabei ist es insbesondere erfreulich,
dass gerade die junge Generation im Prozess der Annä-
herung an die EU eine Chance für die Zukunft sieht.
An allem, was man beobachten kann, erkennt man,
dass die serbische Regierung mit Hochdruck an der Um-
setzung des EU-Fahrplans für ihr Land arbeitet. Erst vor
wenigen Tagen – auch meine Vorredner wiesen darauf
hin – hat das Land die Antworten auf die Fragen des um-
fangreichen Fragebogens zur Beitrittsbereitschaft des
Landes an die Europäische Kommission übersandt. So
werden Vertreter der Kommission, ebenso Parlamenta-
rier aus unseren Reihen in den nächsten Wochen nach
Serbien reisen und sich vor Ort informieren. Die Stel-
lungnahme der Kommission wird für den Herbst dieses
Jahres erwartet.

Dabei ist schon jetzt klar: Der Weg Serbiens in die EU
ist noch lang. Der Fortschrittsbericht der Europäischen
Kommission hat die Palette der Problemfelder klar be-
nannt: Korruption, organisierte Kriminalität, mangelnde
Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen,
ausstehende Klärung von Eigentumsrechten, ungeklärter
Status von Flüchtlingen, unzureichende Bekämpfung des
Schwarzmarktes. Das ist nur eine Auswahl. Ich benenne
ausdrücklich zwei weitere Punkte.

Erstens. Die uneingeschränkte Kooperation Serbiens
mit dem Internationalen Strafgerichtshof ist einzufor-
dern. Serbien arbeitet wahrnehmbar an der historischen
Aufarbeitung der Rolle, die das Land beim Auseinander-
fallen des jugoslawischen Staates gespielt hat. Präsident
Boris Tadic hat Ende letzten Jahres nicht nur Zagreb be-
sucht, sondern auch Vukovar, zusammen mit seinem
kroatischen Amtskollegen Ivo Josipovic. Das ist ein star-
kes Signal der Versöhnung an dem Ort, der so sehr für
die Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländern
steht. Auch in Srebrenica hat Tadic Verantwortung über-
nommen. All das wird auch auf internationalem Parkett
sehr wohl registriert. Dennoch müssen wir auch mit
Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof endlich
konkrete Schritte einfordern, die sodann folgen müssen.

Zweitens. Ich nenne die Regelung der Beziehungen
zum Kosovo. Der ungelöste Konflikt ist auch für Serbien
eine Belastung. Schwierige bilaterale Fragen sind zu lö-
sen: die Frage des Wirtschaftsverkehrs, aber auch die
Frage der Klöster. Diese Fragen, so schwierig sie auch
immer sein mögen, müssen gelöst werden. Sie können
aber nur dann gelöst werden, wenn das gegenseitige Ver-
trauen zwischen Serbien und Kosovo erheblich wächst.

Meines Wissens sind direkte Gespräche zwischen Bel-
grad und Pristina in der konkreten Planung. Jedenfalls
hat die serbische Regierung mit Borislaw Stefanovic erst
kürzlich ihren Delegationsleiter benannt. All dies lässt
hoffen. Aber auch Serbien muss wissen, dass es eine Lö-
sung ohne Zugeständnisse, ja, auch ohne schmerzhafte
Zugeständnisse nicht geben kann. Serbien wartet auf
eine konkrete zeitliche Perspektive für den EU-Beitritts-
prozess. Das ist legitim. So weit ist Serbien im Moment
aber noch nicht. Die skizzierten Probleme, die ich an-
sprach, müssen vor einem Beitritt geklärt und gelöst
werden. Das ist schon allein deshalb nötig, um die für
eine neuerliche EU-Erweiterung wichtige Akzeptanz der
Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union zu sichern.





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)

Die Vorgeschichte und der Beitrittszeitpunkt Bulga-
riens und Rumäniens können bei all dem jedenfalls nicht
als Vorbild dienen. Am Ende des Tages gelten für Ser-
bien wie übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiran-
ten die gleichen Kriterien. Kein Beitrittsland darf zeit-
lich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei
strikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien.
Das ist Voraussetzung. Es muss das Motto gelten: Wer
beitritt, muss beitragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709029000

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709029100

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten

Damen und Herren! In der ersten Beratung am
16. Dezember 2010 haben alle Fraktionen bis auf die
Linke das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen
mit Serbien als wichtigen Schritt und große Chance für
Serbien bezeichnet.


(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP] – Zuruf von der LINKEN, an den Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP] gewandt: Klatschen Sie nicht zu früh!)


Ein wichtiger Schritt wohin, Herr Stinner, und eine
große Chance für wen?

Die Linke sagt Ihnen, was für ein Schritt das Stabili-
sierungs- und Assoziationsabkommen ist. Es bedeutet
schlicht eine Unterstützung von Liberalisierung, Dere-
gulierung und auch Privatisierung. Das Abkommen ist
Ausdruck einer Politik, die die Europäische Union und
zahlreiche ihrer Mitgliedstaaten in eine schwere Krise
geführt hat. Die Lage für die serbische Bevölkerung ist
bereits jetzt desaströs. Infolge eines noch schärferen Li-
beralisierungskurses werden sich die Massenarmut und
die Massenarbeitslosigkeit in Serbien aber noch weiter
vergrößern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert deshalb eine Abkehr von diesem
Crashkurs. Was sich in der EU als falsch erwiesen hat,
können wir nicht ernsthaft exportieren wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Abkommen sei eine Chance für Serbien, heißt es
bei Ihnen. Eine Chance für wen? Die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Serbien können damit jedenfalls
nicht gemeint sein. Ihre Lage ist schon jetzt katastrophal.
Das gilt insbesondere für diejenigen, die in deutschen
Unternehmen beschäftigt sind, zum Beispiel für die Mit-
arbeiter des deutschen Unternehmens Dräxlmaier in der
Vojvodina. Sie beklagen in dem Betrieb, der Kabel unter
anderem für Audi, Mercedes-Benz, BMW und VW her-
stellt, schlimmste Arbeitsbedingungen. Die Unterneh-
mensleitung geht mit üblen Methoden gegen die gewerk-
schaftlich aktiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor.
So wurde zum Beispiel eine sogenannte gelbe Gewerk-
schaft installiert, um den gewerkschaftlichen Kampf der
Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen zu behin-
dern. In einem Schreiben wandte sich der zweitgrößte
Gewerkschaftsdachverband Serbiens – SLOGA – an die
deutschen Kollegen von IG Metall und BMW. Sie for-
derten Solidarität gegen – ich zitiere – „Willkür, Über-
heblichkeit, Arroganz und Verstoß gegen Gesetze“ ein.
Ich frage mich: Warum unternimmt die Bundesregierung
nichts dagegen?


(Beifall bei der LINKEN)


Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn deutsche
Unternehmen die Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und gewerkschaftliche Rechte mit Füßen
treten, auch nicht, wenn das in Serbien der Fall ist. Des-
halb steht die Linke auch an der Seite der Beschäftigten
in Serbien.


(Beifall bei der LINKEN – Peter Beyer [CDU/ CSU]: Zum Thema!)


Derzeit wird Druck von IWF, EU und Deutschland
gemacht für ein Gesetz zur Privatisierung kommunaler
Betriebe in Serbien. Dieser Druck soll jetzt noch weiter
erhöht werden. Meine Damen und Herren, das ist eine
falsche Politik.

Bereits bis zum 31. März 2011 soll die serbische Tele-
kom an einen ausländischen Investor verkauft werden.
Die Deutsche Telekom AG nimmt an diesem Privatisie-
rungsverfahren teil und wird als möglicher Käufer ge-
handelt.


(Peter Beyer [CDU/CSU]: Das ist eine gute Sache! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)


– Sie sagen „bravo“. Das zeigt, was Sie für einen volks-
wirtschaftlichen Sachverstand haben.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Fahren Sie mal hin!)


Die serbische Telekom ist das erfolgreichste Unter-
nehmen in Serbien und erwirtschaftet jedes Jahr Ge-
winne. 2009 waren es 197 Millionen Euro. Für wen ist
das also eine Chance? Das ist mit Sicherheit keine
Chance für diejenigen, die infolge dieser Privatisierun-
gen ihren Job verlieren werden und schlechtere Arbeits-
bedingungen hinnehmen sollen.

Deshalb denken wir, dass das, was schon bisher ge-
schehen ist, eine falsche Politik ist. Dieses Abkommen,
das mehr Privatisierung, mehr Deregulierung und mehr
Liberalisierung beinhaltet, ist eine Fortsetzung dieser
falschen Politik. Deshalb fordern wir eine Umkehr.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Zusammenhang ist es völlig inakzeptabel,
dass Druck auf Serbien hinsichtlich der Statusfrage des
Kosovo ausgeübt werden soll. Das zeigt, wes Geistes
Kind die Bundesregierung ist. Sie hat sich zum Führer
der sogenannten Kosovo-Regierung, Hashim Thaci, bis-
her nicht klar geäußert. Thaci wird in einem Bericht des





Sevim Daðdelen


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(D)(B)


Sevim Dağdelen
Europarats schwerster Kriegsverbrechen und krimineller
Machenschaften beschuldigt. Warum ignoriert die Bun-
desregierung diesen Bericht, der von einem Schweizer
Liberalen, von Dick Marty, stammt, der auch schon den
Bericht zu den CIA-Folterflügen angefertigt hat? Wir
können den Grund nur vermuten.


(Peter Beyer [CDU/CSU]: Sitzt in Ihrer Rede nur Deutschland auf der Anklagebank?)


Man steht in Nibelungentreue zu diesem Mann, der ei-
nem auch während des NATO-Angriffskrieges gegen
Jugoslawien gute Dienste geleistet hat.

Frau Beck, auch von Ihnen höre ich nichts. In Ihrer
Haltung zu Thaci zeigt sich, dass sowohl die schwarz-
gelbe Koalition als auch Rot-Grün weiter nicht bereit
sind, über die Leichen im Keller der deutschen Außen-
politik zu sprechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke ist der Meinung, dass das inakzeptabel ist.
Es ist Zeit für eine demokratische, friedliche und auch
soziale Außenpolitik. Das ist möglich, meine Damen
und Herren, auch wenn es der Umkehr sowohl der Bun-
desregierung als auch der SPD und insbesondere der
Grünen bedarf.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709029200

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709029300

Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich ab-

schließend meine Freude über die Meldung ausdrücken,
dass der Rücktritt von Mubarak heute anstehen wird. Ich
hoffe, das wird so geschehen. Meine Damen und Herren,
Mubarak ist ein Mann, den Sie jahrzehntelang unter-
stützt haben. Ich denke, eine andere Außenpolitik ist
mehr als nötig.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709029400

Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von

Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte für die Bürgerinnen und Bürger in Serbien kurz
festhalten: Die Linke ist der Meinung, dass sie es besser
weiß als weite Teile der serbischen Bevölkerung; die ser-
bische Bevölkerung sei im Irrtum, wenn sie in die Euro-
päische Union möchte.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das haben wir nicht gesagt, Frau Beck! Wir arbeiten nur nicht wie Sie mit Kriegsverbrechern zusammen!)


Sie sorgen dafür, dass sie draußen bleiben. Dass Sie sich
damit immer an der Seite von nationalistischen Kräften
befinden, ist allerdings ein Problem Ihrer Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind an der Seite von Kriegsverbrechern! Was sagen Sie zu Herrn Thaci?)


Wir Grünen unterstützen die Ratifizierung des Stabili-
sierungs- und Assoziationsabkommens für Serbien.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Nichts! Schweigen im Walde!)


Allerdings sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass
Serbien in der Tat noch einen sehr langen Weg vor sich
hat und sich zudem in einer sehr schwierigen innenpoli-
tischen Lage befindet.

Die serbische Regierung tut sehr viel zu Respektie-
rendes. Sie bekennt sich zur EU-Perspektive. Sie be-
kennt sich zu einer konstruktiven Rolle in der Region.
Da ich sowohl 2005 als auch 2010, als Präsident Tadic in
Potocari an der Gedenkstätte am 11. Juli aufgetreten ist,
dabei war, kann ich sagen, dass das ein sehr bewegender
Moment war und dass das für die Menschen und die Op-
fer von Srebrenica überaus wichtig war.

Es gibt aber eine Spaltung in der serbischen Gesell-
schaft. Insofern ist Präsident Tadic immer auch geneigt,
Konzessionen zu machen, die hochproblematisch sind.
Dazu gehört die schwer nachvollziehbare Entscheidung,
mit Präsident Dodik gemeinsam Wahlkampf zu machen
und sich gemeinsam mit Biljana Plavsic abbilden zu las-
sen, die die rechte Hand von Radovan Karadzic gewesen
ist.

Auch in der Kosovo-Frage ist die serbische Politik
nicht eindeutig. Offensichtlich ist der Amputations-
schmerz immer noch sehr groß. Viele serbische Men-
schen sagen, dass es immer noch um die Auseinander-
setzung mit der eigenen Geschichte geht und um das
Verständnis, dass nicht Serbien das Kosovo verspielt hat,
sondern dass es Milosevic war, der aggressiv gegen den
kosovo-albanischen Teil der Bevölkerung aufgetreten ist
und ihnen die Autonomie genommen hat. Dramatische
Menschenrechtsverletzungen und eine Apartheidspoli-
tik – all das hat dazu geführt, dass sich das Kosovo letzt-
lich nicht mehr unter das Dach eines gemeinsamen Staa-
tes drängen lassen wollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die ökonomische Situation in Serbien ist unter ande-
rem deswegen so schwer, weil das Milosevic-Erbe auch
in ökonomischer Hinsicht noch nicht überwunden ist. Es
gibt nach wie vor seine Tycoons, die in der serbischen
Wirtschaft deutlich mitmischen. Sie sind es übrigens, die
die Wettbewerber aus dem Ausland abwehren, verehrte
Frau Kollegin. Diese Tycoons spielen nach wie vor eine
zu große Rolle.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie lieber einmal etwas zu Herrn Thaci! Da schweigen Sie!)






Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)

Dass die Korruption in Serbien – wie in vielen anderen
Ländern des Balkans leider auch – geradezu endemisch
ist, hat Präsident Tadic vor kurzem im Europarat selber
sehr deutlich betont. Dass der Populist Nikolic das nun
für sich zu nutzen weiß, muss uns sehr sorgenvoll ma-
chen. Denn er ist, auch wenn er das jetzt behauptet, nicht
proeuropäisch. Dass er so deutlich sagt, die Telekom
dürfe nicht verkauft werden, weil dann die Österreicher
kommen würden, legt den antieuropäischen Geist offen.
Er ist und bleibt ein Nationalist.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Weil er gegen Privatisierungen ist? Gegen Ihre Neoliberalisierung?)


Wie gesagt, er findet sich logischerweise auf der Seite
Ihrer Argumentation wieder.

Noch ein Punkt, was die Frage der Konditionierung
der Beitrittsperspektive anlangt. Wir sollten nicht darauf
hoffen, dass es eine biologische Lösung für General
Mladic und für Hadzic gibt.


(Beifall der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir haben sehr deutlich gesagt, dass Serbien hier eine
Bringschuld hat. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass
diese beiden Verbrecher in diesem vergleichsweise klei-
nen Land angeblich nicht zu finden sind. Dass wir im-
mer wieder Angst vor unseren eigenen Konditionen
bekommen und, wenn es ernst wird, unter ihnen wegtau-
chen, halte ich für heikel.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Herrn Kriegsverbrecher Thaci!)


Darüber müssen wir wirklich noch einmal sprechen. Es
geht auch um einen aufrechten Gang für unsere Werte.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Aufrecht mit Kriegsverbrechern!)


Entweder man setzt Konditionen oder keine; aber dieses
verschwiemelte Wegtauchen ist kein guter Ausweis für
unsere EU-Politik.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Warum sagen Sie nichts zu Herrn Thaci?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709029500

Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tages-

ordnungspunkt der Kollege Roderich Kiesewetter von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1709029600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte
ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass der Bot-
schafter der Republik Serbien heute der Debatte bei-
wohnt. Ich denke, das zeigt, mit welch hohem Interesse
die Republik Serbien die heutige Debatte bei uns im
Bundestag verfolgt.


(Beifall im ganzen Hause)


Zweitens möchte ich auf den jugoslawischen Litera-
turnobelpreisträger Ivo Andric verweisen. Er hat vor
über 50 Jahren geschrieben:

Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt
es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.

Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess ist
eine solche Brücke. Nach dem, was vor 20 Jahren auf
dem Balkan passiert ist, reichen wir damit der Republik
Serbien die Hand. Das ist ein wunderbares Zeichen der
beginnenden Aussöhnung.

Wir helfen, diese Brücke zu bauen, aber wir sagen:
Wer beitritt, muss auch beitragen. Wir fordern deshalb
die Erfüllung aller Beitrittskriterien: Rechtsstaatlichkeit,
Kriminalitätsbekämpfung, funktionierendes Justizwe-
sen und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen
Strafgerichtshof. Aufgrund der Erfahrungen früherer
Beitrittsverhandlungen sagen wir, dass das vor dem Bei-
tritt geschehen muss. Wir machen das vor Ort deutlich.
Erst vor kurzem war eine Delegation der Arbeitsgruppe
Europa dort; Michael Stübgen hat das angesprochen.

Heute entscheiden wir darüber, ob Deutschland dieser
vertraglichen Bindung zwischen Serbien und der EU
zustimmt. Ganz nebenbei: In unserem Land leben
700 000 Menschen aus Serbien; über die Hälfte davon
hat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.

Die Umfragen, die der Kollege Beyer vorhin ange-
sprochen hat, beinhalten einen weiteren Aspekt: Über
70 Prozent der jungen Generation in Serbien wünschen
den EU-Beitritt. Ich glaube, auch das ist ein wichtiges
Zeichen. Lassen Sie uns doch die Demonstrationen, die
letzte Woche Samstag in Belgrad stattfanden, auch als
Zeichen des Reformwillens und der erstarkenden Demo-
kratiebewegung sehen. Es sind notwendige Reformen.
Ich glaube, seit der Debatte am 8. Oktober letzten Jahres
haben auch wir etliche Fortschritte zu verzeichnen. Ich
möchte einige nennen.

Erstens gibt es den Aktionsplan, mit dessen Umset-
zung die Republik Serbien im Dezember letzten Jahres
begonnen hat.

Zweitens liegt der Bericht der staatlichen Antikorrup-
tionsbehörde vom letzten Monat vor. Diese Behörde, die
unabhängig ist, prangert systematische Korruption in
Serbien an. Die Regierung hat zum Beispiel die Gehälter
der Richter erhöht, damit sie unabhängig werden, und
festgestellt, dass Bildung, Gesundheitswesen, Polizei
und auch das Gerichtswesen intensiver Arbeit und Nach-
sorge bedürfen; das hat auch Präsident Tadic erkannt. Es
ist gut, dass das offen angesprochen werden kann.

Ein dritter Punkt ist – auch als Folge der Stellung-
nahme von Herrn Brammertz –, dass Präsident Tadic im
Januar dieses Jahres vor dem Europarat noch einmal die
Zusage gegeben hat, mit dem Internationalen Strafge-
richtshof intensiver zusammenzuarbeiten. Ich glaube,





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

das ist das klare politische Signal, das der UN-Chef-
ankläger gefordert hat.

Noch ein weiterer Punkt lässt hoffen: Die Republik
Serbien hat der Europäischen Kommission innerhalb
kürzester Zeit, nämlich von November letzten Jahres bis
Ende Januar dieses Jahres, 2 480 Fragen beantwortet.
Die ersten Signale aus Brüssel sind erfreulich.

Ich möchte auf zwei weitere Aspekte eingehen, die in
dieser Debatte bisher nicht erwähnt worden sind. Die
Mittel, die die Republik Serbien als Instrument für die
Heranführungshilfe von der EU erhält, umfassen etwa
200 Millionen Euro. Von 2007 bis zum Jahr 2012 sind
das rund 1,2 Milliarden Euro, mit denen die EU diesen
Prozess unterstützt. In diesem Jahr sind es 190 Millionen
Euro.

Als potenzieller Kandidat, also jetzt, kann Serbien
diese Mittel nur für den Aufbau der Verwaltung und für
die grenzüberschreitende Zusammenarbeit einsetzen;
dass sie wichtig ist, wurde bereits vorhin eindrucksvoll
dargelegt. Aber entscheidend ist: Wenn Serbien einen
Kandidatenstatus hat, dann sind die Mittel umfassender
einsetzbar. Es gibt zwar nicht mehr Mittel, aber sie kön-
nen wesentlich flexibler eingesetzt werden: für regionale
Entwicklung, für Umweltschutz und, wie auch die De-
monstrationen gezeigt haben, für sozialen Zusammen-
halt. Dann können die Gelder auch gezielt in Gesell-
schaft und Wirtschaft eingesetzt werden.

Natürlich brauchen wir eine konstruktive Nachbar-
schaftspolitik; Staatsminister Hoyer hat es angespro-
chen. Ich finde es schade, Frau Dağdelen, dass Sie sich
die Erklärung des Staatsministers nicht angehört haben,
sondern erst zu Ihrer Rede gekommen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat
Sorgfalt bei der Umsetzung der Reformen und bei der
Erfüllung der EU-Kriterien oberste Priorität. Unsere Ab-
sicht ist, dass wir weiter auf die Umsetzung der Refor-
men drängen, insbesondere bei Rechtsstaatlichkeit, Kor-
ruptionsbekämpfung und Investitionssicherheit.

Ich möchte an dieser Stelle auch einen Appell an die
EU-Staaten, die das Abkommen noch nicht ratifiziert ha-
ben, richten – es gibt noch 15 Länder, die es nicht ratifi-
ziert haben, wenn wir heute zustimmen –: Stimmen Sie
zu! Erleichtern Sie Serbien den Weg in die Europäische
Union! Wir in Deutschland jedenfalls werden den Pro-
zess mit Augenmerk und Aufmerksamkeit begleiten und
für die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommen stimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1709029700

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur

zweiten Beratung

und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Stabilisie-
rungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien ande-
rerseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4500, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3963
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Petra Crone, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck

(Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und

der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, son-
dern fördern – Bestätigungserklärung im Bun-
desprogramm „TOLERANZ FÖRDERN –
KOMPETENZ STÄRKEN“ streichen

– Drucksache 17/4551 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Arbeit für Demokratie und Menschenrechte
braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in
die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen

– Drucksache 17/4664 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Wolfgang Thierse von der SPD-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1709029800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2002

fördert die Bundesregierung eine mittlerweile vielfältige,
bunte und lebendige Landschaft zivilgesellschaftlicher
Initiativen und Projektträger, die sich in ihren Städten und
Gemeinden für eine Stärkung der demokratischen Kultur
einsetzen.

Diese Bundesförderung war von Anfang an vor allem
von einem Grundgedanken getragen: dem Gedanken des
Vertrauens. Der Bund stellte Fördermittel für zivilgesell-
schaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass





Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

sie selbst am besten wissen, welche lokalen Handlungs-
strategien den demokratischen Gemeinsinn am ehesten
aktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebieten
können.

Unsere Demokratie bedarf gerade in der Auseinan-
dersetzung mit dem Extremismus des alltäglichen Enga-
gements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es gera-
dezu absurd, dass das Bundesfamilienministerium den
Leitgedanken der bisherigen Programme – ich wieder-
hole: Vertrauen in das demokratische Engagement der
Bürger – nun ins Gegenteil verkehrt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Familienministerium verlangt von den Antrag-
stellern, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung bekennen


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das ist doch selbstverständlich! Das ist doch wohl klar!)


und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auch
für eventuelle Kooperationspartner gilt. Sie sollen also
für die Gesinnung Dritter haften. Wer die entsprechende
Erklärung nicht unterschreibe, erhalte keine Förderung.
Dieses Vorgehen ist, so finde ich, demokratiepolitisch
fatal. Es ist kontraproduktiv.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung.

Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht
hier nicht um das routinierte, gewissermaßen banale Ver-
waltungshandeln einer Behörde, um das Kleingedruckte
in Bescheiden, um Detailbestimmungen in Auflagen.
Diese Extremismusklausel berührt elementare Fragen
der Demokratie.


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das ist das Bekenntnis zum Grundgesetz! Nichts anderes!)


Was darf der Staat von seinen Bürgern eigentlich verlan-
gen? Darf er ihnen ein Bekenntnis – und sei es ein Be-
kenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung –
abringen? Oder muss er dies nicht vielmehr aus Respekt
vor dem Bürger voraussetzen?


(Sönke Rix [SPD]: Genau!)


Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfung
unterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ih-
rer Mitbürger zu überprüfen?


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes
des Deutschen Bundestages findet auf diese Fragen fol-
gende Antworten – ich referiere den Befund –:

Erstens. Der Staat missachte die verfassungsrechtlich
garantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits bei
der bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Be-
kenntnis zwinge.
Zweitens. Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zur
Gesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu ver-
pflichten.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Auch im Zuwendungsrecht sei der Staat an die objektive
Werteordnung des Grundgesetzes gebunden.


(Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!)


So der Befund.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht
darum, über die Gefahren des Linksextremismus naiv
und blauäugig hinwegzusehen. Die Kritik richtet sich
auch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstüt-
zung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das ist
legitim und geboten. Doch ein so deutliches und prinzi-
pielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriums
gegenüber potenziell allen Bürgern können und wollen
sich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])


Welche bizarren Blüten, Kollege Geis, das Vorgehen
des Ministeriums treibt, zeigt ein Fall aus Sachsen. Hier
wurde selbst der Stadt Riesa im Gegenzug für Förder-
mittel ein Demokratiebekenntnis abverlangt.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Bürgermeister der Stadt unterschrieb mit großen
Bauchschmerzen, erklärte aber zugleich, er könne und
wolle mit seiner Unterschrift keinesfalls für die beiden
NPD-Abgeordneten in seinem Stadtrat bürgen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch absurd!)


So können Sie es in der Sächsischen Zeitung vom
12. Januar dieses Jahres nachlesen. Man fragt sich bei
dieser Sachlage, warum die liberale Justizministerin und
ihr Staatssekretär, warum Bürgerrechtsliberale, wenn es
sie denn noch gibt, dies alles stillschweigend ertragen,
ja, mittragen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Reaktionen sind – nicht nur bei den Betroffenen –
sehr eindeutig. Die Kritik kommt von allen Seiten. Nur
ein Beispiel: Der Generalsekretär des Zentralrats der Ju-
den, Stephan Kramer, erklärte gestern in der Bundes-
pressekonferenz – ich zitiere –:

Die Extremismusklausel der Bundesregierung ist
ein Symbol für den Überprüfungswahn, die Büro-
kratisierung und schließlich das Misstrauen dieser
Regierung und damit von Teilen der konservativ-
liberalen Politik in die eigenen Bürger.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kramer hat recht!)






Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Frau Schröder verlangt ein Bekenntnis zum Grund-
gesetz und verliert dabei das Wesentliche aus dem
Blick.


(Florian Bernschneider [FDP]: So ein Quatsch!)


Die Tatsache, dass so viele Menschen in unserem
Lande aufstehen und sich gegen Nazis und Rechts-
extremisten engagieren, ist das deutlichste und
emotionalste Bekenntnis zum Grundgesetz und zur
freiheitlich-demokratischen Grundordnung, was es
überhaupt nur geben kann.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kramer sagte weiter:

Wer das nicht sieht, wem das nicht Bekenntnis ge-
nug ist, der hat wirklich nicht verstanden, was Bür-
gergesellschaft und Demokratie ausmacht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kramer hat vollständig recht.

Das ist nur ein Beispiel von vielen für die Kritik an
dem, was Sie hier vorhaben. Ich sage das im Hinblick
auf viele, die sich mit ihrem oft ehrenamtlichen Engage-
ment für die Demokratie als mögliche Verfassungsfeinde
verdächtigt sehen.

Demokratie muss sich verteidigen. Wer würde diese
Lehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Richtig!)


Zunächst einmal beruht Demokratie aber auf Vertrauen.
Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokrati-
sche Kultur, also für die Grundlagen des demokratischen
Staates, eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgern
nicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Wer den Ini-
tiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für die
demokratische Gesinnung ihrer Mitglieder übertragen
will, der sät eine Kultur des Misstrauens und der erzeugt
ein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nicht
gestärkt, sondern gebremst werden.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das steht aber nicht in diesem Programm!)


Wer Demokratie stärken will, der sollte gerade junge
Menschen einladen, sich in ihr und für sie zu engagieren,
und sie nicht unter den Generalverdacht der Verfas-
sungsfeindlichkeit stellen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das tut doch keiner!)


Es geht um eine Kultur der Anerkennung von Enga-
gement, um Vertrauen statt Misstrauen und um Ermunte-
rung statt Kontrolle. Verzichten Sie auf diese Erklärung,
bevor das Verfassungsgericht Sie dazu zwingen muss.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709029900

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Dr. Hermann Kues.

Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709030000


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die aktu-
elle Diskussion, weil dadurch Gelegenheit gegeben wird,
einiges klarzustellen. Ich will ausdrücklich sagen: Es
geht nicht um Ächtung, es geht um Förderung. Diejeni-
gen, die sich teilweise seit Jahren in Beratungsnetzwer-
ken gegen Extremismus jeglicher Art, von rechts, aber
auch von links, engagieren und die da, wo es nicht er-
wartet wird, Zivilcourage zeigen, haben – auch das sage
ich ausdrücklich – Dank und Anerkennung verdient. Das
ist auch die Meinung des Ministeriums.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja ein toller Satz! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Warum merkt man nichts davon? Misstrauen ist kein Dank! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denken Sie eigentlich von Schwarz-Gelb?)


– Warten Sie einmal ab.

Es ist auch völlig klar, dass der Staat, wenn er Pro-
gramme gegen Extremismus auflegt, darauf achtet, dass
nicht gerade diejenigen gefördert werden, die selbst in
extremistischen Kategorien denken und danach handeln.


(Sönke Rix [SPD]: Was hat Frau von der Leyen eigentlich falsch gemacht? – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das haben Sie bisher doch auch gemacht!)


Das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen ist das auch kein ungewöhnliches und unseriö-
ses Anliegen.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wo sind denn die Beispiele?)


Ich meine: Wenn der demokratische Staat so etwas
macht, dann ist das eine Selbstverständlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist absurd, was Sie da erzählen!)


Wir sorgen dafür, dass jemand aktiv bestätigen muss,
dass er und seine Projektpartner auf dem Boden des
Grundgesetzes stehen, und zwar nicht nur bei Projekten
gegen Rechtsextremismus, sondern auch bei Projekten
gegen Linksextremismus.

Jetzt sage ich etwas zur Entstehungsgeschichte der
Demokratieerklärung.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709030100

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Bockhahn?






(A) (C)



(D)(B)

Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709030200


Im Moment nicht. Er kann sie gleich oder später stel-
len. – Im Jahr 2004 ist vom damals sozialdemokratisch
geführten Bundesinnenministerium – der Minister hieß
Otto Schily – diese Initiative ausgegangen. Es wurde ge-
sagt, dass niemand materielle oder immaterielle Leistun-
gen erhalten könne, der sich nicht zur freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung bekenne, und dass jeder
Anschein einer Tolerierung extremistischer Auffassun-
gen, zum Beispiel durch offizielle Einbindung extremis-
tischer Positionen oder Institutionen in Veranstaltungen,
vermieden werden müsse. So weit das von Otto Schily
geführte Ministerium.


(Sönke Rix [SPD]: Und was hat er gemacht?)


Seit 2005 ist das in den Bescheiden enthalten. Daran
knüpft die Demokratieerklärung an.

Es gibt einen einzigen Unterschied, nämlich dass die
Erklärung jetzt ausdrücklich unterzeichnet werden muss,
statt sie nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn man den Zu-
wendungsbescheid empfängt. Ich wiederhole: Man muss
sie ausdrücklich unterzeichnen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ging doch vorher auch ohne! Welche Extremistengruppen sind bisher gefördert worden, dass das sinnvoll sein soll? – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber warum denn?)


Es gibt verschiedene Untersuchungen. Herr Thierse
hat eben eine Expertise erläutert. Sie wissen, wer sie er-
stellt hat. Wenn Sie sie genau lesen, dann wird deutlich,
dass eine Demokratieerklärung eine Möglichkeit neben
anderen ist. Sie ist nicht zwingend vorgeschrieben. Mei-
netwegen kann man darüber streiten.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Dann machen Sie doch was anderes, was Vernünftiges!)


Ich will Ihnen etwas berichten, damit Sie ein Gefühl
für das Maß bekommen. In Mecklenburg-Vorpommern
gibt es seit dem 20. Juli 2010, also seit gut einem halben
Jahr, im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kinderta-
geseinrichtungen einen Erlass des Ministeriums für So-
ziales und Gesundheit – die Ministerin ist uns allen be-
kannt –, nach dem nur diejenigen eine Betriebserlaubnis
erhalten, die eine gesonderte Selbsterklärung unter-
schreiben.


(Florian Bernschneider [FDP]: Hört! Hört!)


Jeder Träger muss dort ausdrücklich versichern, dass er in
keiner Weise Bestrebungen unterstützt, deren Ziele gegen
die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder gegen
eines ihrer grundlegenden Prinzipien gerichtet sind.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das ist etwas anderes! – Lachen bei der CDU/CSU)


Wenn ein Träger diese Unterschrift verweigert, dann
besteht laut Erlass „begründet Zweifel, ob der Träger die
Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderli-
che Arbeit bietet“, wie es in dem Erlass weiter heißt.
Deutlicher geht es nicht. In dem Erlass wird unter ande-
rem festgestellt, wann die Betriebserlaubnis zu versagen
ist.

Das hatte in Mecklenburg-Vorpommern den Hinter-
grund – darauf will ich ausdrücklich hinweisen, Herr
Thierse –, dass dort NPD-Kreise versucht haben, sich
unter interessanten Namen in die Trägerschaft von Kin-
dertageseinrichtungen einzuschleichen. Genau das wol-
len wir mit unserem Programm gegen Extremismus ver-
hindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist ein ganz anderer Zusammenhang! Machen Sie sich erst kundig, bevor Sie so etwas erzählen! – Sönke Rix [SPD]: Das ist ein anderer Zusammenhang!)


– Sie kennen den Zusammenhang genau.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Genau! Deswegen!)


Sie wissen, dass es in den vergangenen Jahren – ich weiß
nicht, wie lange Sie schon dabei sind – mehrfach Anfra-
gen auch aus dem parlamentarischen Raum gegeben hat
und dass viele Träger geklagt haben, dass extremistische
Gruppen versuchen, ihre Organisation zu unterwandern.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nennen Sie uns die mal, bitte! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sind die, bitte? Nennen Sie Beispiele!)


Der Innenminister von Sachsen-Anhalt hat gestern in
einer Pressekonferenz zugegeben – das haben Sie nicht
berichtet –, dass etwa die NPD immer wieder versucht,
Vereine zu unterwandern. So viel zur Bekämpfung des
Extremismus. Was Extremismus betrifft, geht es um den
Kampf gegen rechts, aber auch gegen links. Links ist
ebenso wie rechts eine legitime Kategorie. Problema-
tisch wird es dann, wenn es extrem wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709030300

Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Wortmeldung

zu einer Zwischenfrage, und zwar von dem Kollegen
Rix.

D
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709030400


Bitte sehr.


Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1709030500

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Bei der „Extre-

mismusklausel“, wenn Sie es so nennen wollen, in
Mecklenburg-Vorpommern geht es um Kindergärten.
Hier geht es um die Förderung von Demokratie und To-
leranz.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist der Unterschied? – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Extremismus ist Extremismus!)






Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ein grundlegender Unterschied. Sind Sie bereit,
das anzuerkennen?

Ein weiterer Unterschied zu Mecklenburg-Vorpom-
mern ist, dass in dieser Extremismuserklärung mit unter-
schrieben werden soll, dass alle weiteren Partner der
Projekte ebenfalls auf dem Boden des Grundgesetzes
stehen. Das wird von den Trägern in erster Linie kriti-
siert, weil Sie damit einen Keil in die Zivilgesellschaft
treiben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709030600


Der Erlass in Mecklenburg-Vorpommern ist sehr de-
tailliert formuliert. Man wundert sich vielleicht sogar
manchmal darüber. Es muss ausdrücklich auch darauf
hingewiesen werden, dass man bei seinen Partnern da-
rauf hinwirkt, dass sie sich an demokratische Prinzipien
zu halten haben.


(Sönke Rix [SPD]: Man soll nicht dafür einstehen! Das ist etwas anderes!)


Sie müssen insofern auch dafür einstehen, als man davon
die Förderung abhängig machen kann.


(Sönke Rix [SPD]: Es ist nicht dafür einzustehen!)


Aber ein Partner, der das nicht ausdrücklich tut – so
heißt es in Mecklenburg-Vorpommern –, der kann keine
Betriebserlaubnis bekommen, weil dann Zweifel daran
begründet sind, dass er die Gewähr für eine den Zielen
des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet. Ich finde,
wir sollten uns abgewöhnen, auf einem Auge blind zu
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gucken Sie doch mal in die Mitte der Gesellschaft!)


Das gilt für das rechte Auge genauso wie für das linke
Auge.

Wir haben hier an einem der letzten Freitage eine sehr
heftige Debatte über die Aussagen von Frau Lötzsch
über den Kommunismus geführt. Da waren wir uns
größtenteils einig. Wir haben gesagt: Diese Staatsform
wollen wir unter gar keinen Umständen. Da ist sehr en-
gagiert diskutiert worden. Auf der ganz linken Seite war
da sehr viel Ruhe; da wurde keine Position bezogen.

Ich finde, wenn man sich für Demokratie einsetzt,
dann muss man sich gegen Rechtsextreme genauso wie
gegen Linksextreme und gegen Islamisten wehren. Das
ist einfach die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Extremismus der Mitte? Den gibt es auch!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709030700

Herr Staatssekretär, ich habe weitere zwei Meldungen

zu Zwischenfragen. Ich frage, ob Sie der Kollegin Wolff
und dem Kollegen Bockhahn noch die Gelegenheit ge-
ben wollen oder nicht.

D
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709030800


Von mir aus sollen sie gerne fragen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709030900

Die Kollegin Wolff ist zunächst an der Reihe.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1709031000

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, anzuerkennen,

dass es in Sachsen-Anhalt – das ist mein Bundesland –,
dessen Innenminister Sie eben angesprochen haben, eine
große zivilgesellschaftliche Gruppierung gibt, die sich
gegen Rechtsextremismus wendet? Sind Sie auch bereit,
hier Ihre Aussage gegenüber Herrn Hövelmann zurück-
zunehmen? In Bezug auf diese Extremismusklausel hat
sich dieser Innenminister nämlich sehr kritisch geäußert.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das ist ja gar nicht angesprochen worden!)


Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709031100


Ihr Innenminister hat sich zur Extremismusklausel
geäußert. Dazu hat sich manch einer in den letzten Tagen
geäußert.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle kritisch!)


Ich glaube, dass er sich mit dem Sachverhalt aber nicht
immer intensiv beschäftigt hat.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat sich der Zentralrat der Juden nicht richtig mit der Sache beschäftigt, oder wie?)


Es ist jedenfalls so, dass Herr Hövelmann in der Bundes-
pressekonferenz zugeben musste – das hatte er zuvor
nämlich nicht erwähnt –, dass es darum ging, die NPD
zu verhindern. Das war der entscheidende Punkt. Darum
geht es hauptsächlich auch in Mecklenburg-Vorpom-
mern.

Man muss natürlich kritisch bleiben und sich gegen
Rechtsextremismus engagieren.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie mal auf das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages bezüglich der Klausel ein!)


Aber es kann nicht sein, dass Rechtsextreme Linksextre-
mismus bekämpfen und umgekehrt. Das ist das, was wir
ausdrücklich nicht wollen. Da sind wir uns völlig einig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709031200

Können wir jetzt noch zur Frage des Kollegen

Bockhahn kommen?

Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709031300


Ja, okay.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709031400

Weitere Zwischenfragen zu diesem Beitrag lasse ich

dann aber nicht zu.


Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709031500

Herr Dr. Kues, bezugnehmend auf Mecklenburg-Vor-

pommern: Ich denke schon, dass es einen Unterschied
gibt zwischen der Aufforderung, seine Projektpartner auf
die Notwendigkeit der Verfassungstreue hinzuweisen,
und der jetzt durch Ihr Haus angeforderten Erklärung,
verpflichtend zu garantieren, dass bei Partnern eine Ver-
fassungstreue besteht, soweit man selbst in der Lage ist,
dies nachzuweisen. Das Problem sind natürlich die Aus-
führungsbestimmungen, die so schwammig sind, dass
kein Träger ernsthaft garantieren kann, ob er das ge-
macht hat, was Ihnen recht ist oder auch nicht. Das ist
der eine Punkt.

Zweitens. Eingangs Ihrer Rede haben Sie darauf hin-
gewiesen, dass es schon seit Jahren den Hinweis an die
Projektpartner gibt, dass sie ihre Verfassungstreue garan-
tieren sollen. Aber bisher war es ein Hinweis. Das Ganze
wurde nicht zur Verpflichtung, zur Bedingung, zur unbe-
dingten Notwendigkeit für den Erhalt einer Förderung
gemacht. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass es einen
qualitativen Unterschied zwischen einem Hinweis,
etwas zu tun, und dem Zwang gibt, etwas zu garantieren,
wofür man im Zweifel nicht einstehen kann? Können Sie
sich vorstellen, dass es bei Projektträgern durchaus
Misstrauen geben kann?


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das soll auch qualitativ unterschiedlich sein! – Zuruf von der FDP: Er hat es erkannt! Genau deshalb machen wir das!)


Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1709031600


Ich glaube nicht, dass in der Breite Misstrauen
herrscht. Der infrage kommende Bereich ist relativ über-
schaubar. Es ist auch gesagt worden, es gebe eine große
Kampagne. Wir haben 750 E-Mails bekommen. Wenn es
eine Massenbewegung über das Internet gibt, dann erhält
man ganz schnell zehntausend E-Mails; das will ich aus-
drücklich sagen.


(Sönke Rix [SPD]: Wie viele Trägerorganisationen sind das denn? – Weiterer Zuruf)


– Lassen Sie es bitte sein. Die müssen wir dann alle be-
arbeiten. Das muss nicht unbedingt sein.

Im Kern ist es kein Unterschied. Ich gebe zu: Dieses
ausdrückliche Unterschreiben ist eine Präzisierung. Man
kann meinetwegen rechtlich und politisch darüber strei-
ten, ob das notwendig ist. In dem Gutachten, das Herr
Thierse zitiert hat, wird sogar festgestellt, das könnte
durchaus ein Weg sein. Der Grundansatz ist der gleiche:
Wir wollen verhindern, dass sich Extremisten einschlei-
chen. Das gilt für die Kindertagesbetreuung ebenso wie
für die politische Bildungsarbeit.


(Sönke Rix [SPD]: Und auch beim Bund der Vertriebenen?)


Das halte ich für richtig. Wir hatten dazu in den vergan-
genen Jahren – Sie wissen es doch ganz genau – immer
wieder Anfragen aus dem parlamentarischen Raum.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn da geantwortet?)


Darin hieß es: Diese oder jene Initiative wird gefördert.
Wir erwarten die Mithilfe derjenigen, die gefördert wer-
den. Ihnen ist der Kinder- und Jugendplan gut bekannt.
Wenn Sie in diesem Bereich einen Zuwendungsbescheid
erhalten, müssen Sie unterschreiben, dass sich die Ver-
wendung der Zuwendung im Rahmen der freiheitlich-
demokratischen Grundordnung bewegt. An dieser Stelle
haben wir uns entschieden, ein kleines Informationsblatt
zur Kenntnisnahme hinzuzufügen, sodass man nicht sa-
gen kann: Ich habe es übersehen.

Im Übrigen – das sei zur Beruhigung gesagt – haben
wir jede Menge Verfügungen erlassen, darunter auch
viele Zuwendungsbescheide. In keinem Fall hat ein Trä-
ger die Unterschrift verweigert.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Erpressung, was Sie machen! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Weil er sonst kein Geld kriegt!)


– Sie können sagen: Sonst bekommt man kein Geld. Ich
sage Ihnen – das wurde auch von Herrn Thierse ange-
sprochen –: Das Anne-Frank-Zentrum in Berlin, die
Jüdische Gemeinde, die Zentralwohlfahrtsstelle der Ju-
den haben ebenfalls Zuwendungsbescheide bekommen
und haben die Zuwendungsvoraussetzungen wie selbst-
verständlich unterschrieben.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, sie würden sonst kein Geld bekommen!)


Diese Einrichtungen haben damit keine Probleme. Pro-
bleme bekommen sie nur dann, wenn sie falsch infor-
miert werden.

Das Land Berlin beispielsweise hat gesagt, man habe
dagegen geklagt.


(Beifall bei der LINKEN)


– Sie hören gleich auf, zu klatschen. – Länder und kom-
munale Körperschaften müssen diese Erklärung gar
nicht unterschreiben, weil wir davon ausgehen – das ist
auch meine Gedankenwelt –, dass sie selbstverständlich
keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die machen es teilweise!)






Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues


(A) (C)



(D)(B)

Das setzen wir auch für das Land Berlin voraus.


(Sönke Rix [SPD]: Aber bei der Aktion Sühnezeichen geht man nicht davon aus!)


Wir führen hier eine politische Debatte. Das ist legi-
tim. Sie sollten aber nicht so tun, als gehe es hier um
komplizierte rechtliche Fragen und um den hohen mora-
lischen Anspruch, wie Sie ihn formuliert haben, Herr
Thierse. In der Demokratie geht es auch um Vertrauen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Demokratie geht es darüber hinaus um Regeln, an
die sich alle zu halten haben. Wer diese Regeln bewusst
verletzt, indem er beispielsweise gewalttätige Auseinan-
dersetzungen bei Veranstaltungen fördert, muss sich sa-
gen lassen, dass er nicht zugleich öffentliche Mittel für
die Bekämpfung des Extremismus in Anspruch nehmen
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber wann hat es denn das gegeben? Beispiele! Nur eins!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709031700

Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709031800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder,

der in diesem Land gegen Neofaschismus, Rassismus
und Antisemitismus kämpft, verdient unsere größte An-
erkennung. Das muss man zu der gesamten Debatte erst
einmal sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Extremismusklausel, die den aktiven Projekten
gegen rechts nun abgepresst werden soll, droht jedoch
kaputtzumachen, was in jahrelanger Arbeit aufgebaut
wurde.

Die Regierung will – so hat sie auf eine Anfrage der
Linken geantwortet – die Projekte gegen rechts zu – Zi-
tat – „Verantwortung und Sensibilität“ gegen Extremis-
mus erziehen. Wenn jemand sensibilisiert ist, dann sind
es diese Projekte gegen rechts, die seit Jahren durchge-
führt werden und die garantiert keinen Nachhilfeunter-
richt von Ihnen brauchen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung tut so, als seien diese Projekte
gegen Rechtsextremismus scharf darauf, mit ausge-
machten Verfassungsfeinden zu kungeln. Die Regierung
verlangt den Trägern ab, Berichte des Verfassungsschut-
zes aus Bund und Ländern zu lesen, dazu Referenzen
über mögliche Bündnispartner einzuholen sowie Medi-
enberichte und Literatur zu diesem Bereich zu studieren.
Den Projekten wird ein Wust von Schnüffeldiensten ab-
verlangt. Wir sind froh, dass es Landesregierungen wie
Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt gibt, die ganz
klar kritisieren, dass diese Vorgehensweise Misstrauen
und Verunsicherung sät und dass dadurch der Kampf ge-
gen die Rechtsextremisten sabotiert wird. Man muss
wirklich sagen: Die Einzigen, die sich zurzeit darüber
freuen, sind die Neonazis selbst.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihnen, liebe Kollegen von der Union und der FDP,
wird sicherlich nicht entgangen sein, dass auch der Zen-
tralrat der Juden und der Zentralrat der Muslime die
Extremismusklausel ablehnen – wir haben es schon ge-
hört –, weil dadurch couragierte und engagierte Men-
schen unter Generalverdacht gestellt werden. Ich möchte
in diesem Zusammenhang die 1 500 Persönlichkeiten
und Organisationen erwähnen, die eine entsprechende
Protesterklärung unterzeichnet haben.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wegen „kleine Gruppe“!)


Diese Klausel erhebt den Verfassungsschutz zur un-
fehlbaren Messlatte.


(Zuruf von der FDP: Ich kann mir vorstellen, dass Sie das stört!)


Ich nenne drei Beispiele für das Handeln des Verfas-
sungsschutzes.

Erstes Beispiel. Erst letzte Woche hat das Verwal-
tungsgericht Köln bestätigt, dass der Rechtsanwalt und
Menschenrechtler Rolf Gössner 40 Jahre zu Unrecht
vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.

Zweites Beispiel. Der bayerische Verfassungsschutz
hat die Antifaschistische Informations-, Dokumenta-
tions- und Archivstelle München, a.i.d.a., ebenfalls zu
Unrecht als extremistisch diffamiert, wie ein Gericht
klarstellte.

Drittes Beispiel. Ich will daran erinnern, dass der Ver-
fassungsschutz nicht gerade sehr hilfreich bei dem Ver-
botsverfahren gegen die NPD war. Auch hier haben wir
gesehen, dass das Ganze überhaupt nichts gebracht hat.

Mit der Extremismusklausel sollen missliebige linke
Organisationen an den Pranger gestellt werden, etwa die
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die Rassis-
mus und Demokratiefeindlichkeit auch in der Mitte die-
ser Gesellschaft, in den etablierten Parteien und in den
Medien immer wieder kritisiert. Doch das passt nicht in
das schlichte und falsche Extremismusbild der Union
und der FDP. Deswegen wollen Sie aus den Projekten
gegen rechts extreme Vorfeldorganisationen des Verfas-
sungsschutzes machen. Dabei werden sowohl die Orga-
nisationen als auch wir nicht mitmachen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Sie zum Schluss auffordern: Ziehen Sie
diese schädliche Extremismusklausel zurück. Sie dient
nicht der Demokratie, und sie dient vor allen Dingen
nicht dem Vertrauen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sönke Rix [SPD] und Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte Sie alle auffordern, am übernächsten Sams-
tag in Dresden zur Demonstration zu kommen und zu
verhindern, dass Nazis wieder durch Dresden marschie-
ren. Blockieren Sie zusammen mit uns und den vielen
Tausend antifaschistischen Organisationen und Men-
schen. Da können Sie wirklich etwas Sinnvolles tun.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709031900

Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709032000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer von
der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen und der an-
dere von der Linken. Lassen Sie mich kurz einen Satz
zum Antrag der Linksfraktion sagen. Wer die sogenannte
Extremismusklausel mit dem Radikalenerlass der
1970er-Jahre vergleicht, hat meiner Meinung nach in
dieser Debatte jedweden Anspruch verloren, ernst ge-
nommen zu werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auch die Vergleiche von SPD und Grünen sind
an dieser Stelle nicht wesentlich erträglicher. Ich möchte
Sie daran erinnern, worum es hier geht.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um Misstrauen geht es!)


Es geht darum, dass sich Träger von Maßnahmen gegen
Extremismus, die vom Bund gefördert werden, zur frei-
heitlich-demokratischen Grundordnung bekennen müs-
sen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber warum denn?)


Ich nenne das eine Selbstverständlichkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Frau Roth spricht vom kruden Weltbild dieser Koalition.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das stimmt ja auch!)


Dass sich Perspektiven ändern, wenn man von der
Regierungsbank auf die Oppositionsbank wechselt, kann
man sich vorstellen; aber dass sich gleich ganze Weltan-
schauungen ändern, finde ich schon merkwürdig. Dass
Sie so tun, als ob diese Extremismusklausel eine Erfin-
dung von Frau Schröder oder Schwarz-Gelb wäre, ist
abenteuerlich. Herr Kues hat es bereits gesagt; aber ich
möchte es wiederholen, damit es bei Ihnen wirklich an-
kommt. Lutz Diwell, SPD-Staatssekretär im Innenminis-
terium, schrieb in einem Brief an alle Ministerien am
4. März 2004 – Sie können es gerne nachlesen –, dass
die missbräuchliche Inanspruchnahme von Förderpro-
grammen durch Organisationen mit rechts-, links- und
ausländerextremistischem einschließlich islamistischem
Hintergrund auf jeden Fall zu verhindern sei. Mich über-
rascht schon der breite Ansatz im Kampf gegen den Ex-
tremismus, den es heute leider nicht mehr in der SPD
gibt. Herr Diwell bietet sogar an, dass bei der Überprüfung
der Maßnahmen gerne das Bundesamt für Verfassungs-
schutz tätig wird. So viel zum Thema Schnüffelstaat.

Daraufhin prüfte das Familienministerium, wie man
mit dem Diwell-Erlass umgehen sollte. Es schrieb – zur
rot-grünen Regierungszeit – an alle Träger von Maßnah-
men gegen Extremismus Folgendes:

Für die Bundesregierung ist klar: Personen oder Or-
ganisationen, die nicht die Gewähr für eine den Zie-
len des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten,
dürfen weder direkt noch indirekt durch Bundesbe-
hörden gefördert werden.

(Beifall bei FDP und CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)

Am Ende dieses Briefes hieß es:

Der Träger der geförderten Maßnahme hat im Rah-

(Literatur, Kontakte zu anderen Trägern …)

Partner ausgewählten Organisationen, Referenten
etc. … zu prüfen.

Dieser Satz kommt Ihnen bekannt vor, weil es genau
der gleiche Satz ist, der jetzt in der angeblich so neuen
Extremismusklausel von Frau Schröder steht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709032100

Kollege Bernschneider, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Kolbe?


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709032200

Nein. – In der aktuellen hektischen Debatte wird auch

über Gutachten gesprochen. Wir können gern fachpoli-
tisch darüber diskutieren, ob wir diesen Satz nachschlei-
fen sollen, damit er für die Träger vor Ort deutlicher
wird.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das haben Sie doch abgelehnt!)


Darum geht es Ihnen heute aber nicht. Sie wollen sofort
abstimmen. Sie wollen in den Ausschüssen nicht auf
fachlicher Ebene darüber sprechen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir diskutieren seit Monaten!)


Das zeigt, worum es geht: Es geht Ihnen bei diesem
Thema, das Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht anders ge-
sehen haben, um Wahlkampf. Damit gewinnt man alles,
aber keine Wahlkämpfe und erst recht nicht unsere Zu-
stimmung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur Misstrauen gegen unsere Zivilgesellschaft!)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709032300

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kolbe das

Wort.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1709032400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte jetzt gar

nichts mehr zu dem schon hinlänglich bekannten Skan-
dal sagen, dass die Bundesregierung den Initiativen, die
sich mit all ihrer Macht für Demokratie und gegen Men-
schenfeindlichkeit einsetzen, das Misstrauen ausspricht.
Ich möchte vielmehr bei der rechtlichen Positionierung
nachhaken.

Wir sind uns ja im Ziel einig – zumindest unterstelle
ich das –, dass Verfassungsfeinden kein staatliches Geld
zufließt. Unsere Position ist, dass schon jetzt ausrei-
chend Möglichkeiten bestehen, etwaige Geldflüsse zu
unterbinden. Da dies bisher nicht der Fall war, sprechen
Sie den Initiativen ohne Anlass Ihr Misstrauen aus.

Herr Bernschneider, Sie und Ihre Partei halten die
Bürgerrechte und sicherlich auch das Grundgesetz hoch.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war einmal! – Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das ist lange vorbei!)


Nehmen Sie zur Kenntnis, dass in mehreren Gutachten
Bedenken geäußert werden, ob diese Klausel wirklich
verfassungsrechtlich legitim ist und ein legitimes Mittel
darstellt, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen Sie des Wei-
teren zur Kenntnis, dass selbst die schwarz-gelbe Lan-
desregierung im Land Sachsen die bislang geplante
Demokratieerklärung oder Extremismusklausel abge-
schwächt hat. Aus meiner Sicht ist sie damit zwar immer
noch nicht ganz verfassungskonform. Aber selbst die
schwarz-gelbe Landesregierung hat gesagt, die Extre-
mismusklausel, wie Sie sie hier fordern, sei in dieser
Weise nicht legitim.


(Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Minuten! Jetzt ist es genug!)


Mich interessiert, was die FDP dazu sagt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709032500

Bitte sehr, Herr Kollege.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1709032600

Frau Kollegin, ich habe gerade versucht, Ihnen zu er-

klären, dass es Gutachten gibt, die besagen, dass die
Sätze 2 und 3 durchaus kritisch gesehen werden können.
Es gibt auch zahlreiche Gutachten, die besagen, es gebe
überhaupt kein Problem.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche sind denn das? Das wäre interessant!)


Um auch das einmal klarzustellen: Kein Gutachten
bezweifelt, dass es richtig ist, sich zur freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung zu bekennen. Das bezweifelt
nicht ein Gutachter.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Das bezweifeln wir auch nicht! Unterstellen Sie doch nicht, dass wir das bezweifeln – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Niemand bezweifelt das!)


Nicht ein Gutachten bezweifelt, dass man das unter-
schreiben kann.

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau die-
ser Satz, der in einigen Gutachten kritisch gesehen wird,
nicht von uns stammt, sondern von einem Ihrer Staatsse-
kretäre während Ihrer Regierungszeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Wo musste das denn bei uns unterschrieben werden? – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wo bleibt Ihre Antwort?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709032700

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Lazar das Wort.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709032800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Debatte um die sogenannte Extremismusklausel hat
in den letzten Tagen und Wochen richtig Fahrt aufge-
nommen. Allerdings, Kollege Bernschneider, diskutie-
ren wir über diese Klausel schon seit mehreren Monaten,
unter anderem im Ausschuss. Es gibt sehr wohl viel Kri-
tik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Da Sie den heute von uns vorgelegten Anträgen nicht
zustimmen, werde ich jetzt etwas ausholen und Ihnen er-
klären, welche Argumente es noch von anderen gibt:
Das von Professor Battis angefertigte Gutachten besagt,
dass weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch
dem Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen wird.


(Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!)


Die Fragen, welche Mittel der Überprüfung angewandt
werden sollen, welcher Verdachtsgrund die Ablehnung
einer Gruppe oder Person als Partner rechtfertigt und
welche Rechtsfolgen drohen, werden nicht beantwortet.
Sie werden auch in den nachgereichten Hinweisen zur
„Erklärung für Demokratie“, die den Trägern zur Verfü-
gung gestellt wurden, nicht beantwortet. Der Tipp der
Ministerin, die potenziellen Partner einfach zu googlen
– das hat sie im Ausschuss gesagt –, empfinde ich als
Hohn. Es ist peinlich und höhnisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirklich peinlich!)


Ich hatte heute früh mit einer Amerikanerin zu tun, die
zu mir gesagt hat, all das erinnere sie an die McCarthy-





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)

Ära. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern von
einer Amerikanerin, die hier in Deutschland lebt.

Inzwischen liegt auch das Gutachten des Wissen-
schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vor;
Kollege Thierse hat dazu schon einige Ausführungen ge-
macht. Das eigene Bekenntnis zur freiheitlich-demokra-
tischen Grundordnung ist nicht das Problem; das haben
wir heute bereits festgestellt. Das Problem ist die Gesin-
nungsschnüffelei bei potenziellen Partnern. Die Träger
fühlen sich in ihrer Existenz bedroht; denn im Falle der
falschen Partnerwahl kann es zur Rückforderung von
Fördermitteln kommen.


(Patrick Döring [FDP]: Ja! Ist doch gut!)


So bleibt die ohnehin vorhandene Unsicherheit selbst
nach einem positiven Fördermittelbescheid erhalten.


(Patrick Döring [FDP]: Ja! Dann muss man sich kümmern!)


Der Parlamentarische Staatssekretär Bergner sprach
von einer „heilsamen Wirkung“ der Erklärung, da die Zu-
wendungsempfänger zum Nachdenken angeregt würden.
Er bemühte sogar den Vergleich mit der Anti-Doping-
Erklärung, um die Extremismusklausel als im Zuwen-
dungsrecht etwas völlig Normales darzustellen. Ich
finde, das war eine sehr fantasievolle Begründung.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird immer lächerlicher!)


Die zivilgesellschaftlichen Initiativen wehren sich zu
Recht gegen ein Klima des Misstrauens. Im Rahmen des
Aktionstages „Extreme Zeiten“ am 1. Februar 2011 gab
es sehr viele Protestschreiben, die das Ministerium er-
reicht haben. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
– das wurde heute schon gesagt – ist nicht ein Problem
vermeintlich extremer Ränder, sondern ein Problem der
Mitte. Damit hat diese Erklärung leider gar nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es gibt weitere prominente Leute, die sich kritisch ge-
äußert haben – ich weiß nicht, wer sich positiv geäußert
hat; Herr Kues, vielleicht können Sie uns diese Informa-
tion noch zur Verfügung stellen –: Anetta Kahane, Leite-
rin der Amadeu-Antonio-Stiftung, DGB-Chef Michael
Sommer sowie Gesine Schwan, die im Rahmen der Ver-
leihung des Sächsischen Demokratiepreises in Dresden
sehr kritische Worte gefunden hat. Sogar die Bundesar-
beitsgemeinschaft „Kirche für Demokratie – gegen
Rechtsextremismus“ – liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, hören Sie jetzt zu – wendet sich gegen
das Druckmittel der eingeforderten Unterschriftserklä-
rung.

Auch in den Ländern ist einiges in Bewegung geraten.
Die Sächsische Staatsregierung erklärte auf Nachfrage
meines Landtagskollegen Miro Jennerjahn, dass es unter
den zwischen 2005 und 2010 im Landesprogramm
„Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ ge-
förderten Projekten keine gibt, die unter Extremismus-
verdacht stehen. Damit müsste die Anti-Extremismus-
Erklärung für das Land Sachsen doch eigentlich hinfällig
sein. Stattdessen hat Innenminister Ulbig die Klausel
weiter verschärft. Jetzt müssen auch die Kooperations-
partner noch unterschreiben.

Die verschiedenen Bundesländer, die Protest einge-
legt haben, wurden schon genannt: Berlin, Sachsen-An-
halt, Brandenburg und Thüringen. Die gemeinsame
Pressekonferenz vom Zentralrat der Juden und Zentralrat
der Muslime, die gestern stattgefunden hat, sollte Ihnen
auch zu denken geben. Auch sie haben sich explizit und
mit sehr scharfen Worten dagegen gewandt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das sollte Ihnen zu denken geben!)


Zum Schluss möchte ich noch ein Wort an die FDP
richten: Der Kollege Ruppert hat sich ebenfalls kritisch
geäußert. Er wird nachher noch reden. Ich hoffe, Sie
können auf Ihre Koalition dahin gehend einwirken, dass
sie die Erklärung vielleicht doch noch zurücknimmt
bzw. sie zumindest so gestaltet, dass sie der Verfassung
entspricht.

Ganz zum Schluss mein Wunsch: Demokratinnen und
Demokraten sollten vertrauensvoll zusammenarbeiten
und sich nicht gegenseitig des Extremismus verdächti-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Uns liegen heute die entsprechenden Anträge vor. Wir
haben in den letzten Wochen sehr viel diskutiert. Des-
halb meine Bitte: Stimmen Sie diesen Anträgen zu und
nehmen Sie diese unsägliche Extremismusklausel heute
endgültig zurück!

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709032900

Der Kollege Geis hat für die Unionsfraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709033000

Verehrte Frau Lazar, es geht nicht darum, dass wir uns

gegenseitig des Extremismus verdächtigen, sondern es
geht darum, dass wir den Staat vor Extremisten schüt-
zen. Darum geht es auch in der Bestätigung, die zu un-
terschreiben ist. Ich weiß nicht, was daran so fatal ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Verehrter Herr Thierse, ich stimme mit Ihnen darin
überein, dass der Staat wehrhaft sein muss. Das Prinzip
der Wehrhaftigkeit der Demokratie steht neben dem
Prinzip der Sozialstaatlichkeit, neben dem Prinzip der
Demokratiestaatlichkeit und neben dem Prinzip, dass
unsere Grundrechte justiziabel sind. Die wehrhafte De-
mokratie ist eines der Grundprinzipien unserer Verfas-





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)

sung. Wir haben immer darin übereingestimmt. Sie ha-
ben das vorhin auch selber erklärt. Die Wehrhaftigkeit
steht dabei neben der Rechtsstaatlichkeit, der föderati-
ven Grundordnung und der sozialen Ordnung. Diese Be-
griffe markieren jeweils eine besondere Ausgestaltung
unserer Verfassung.

Das Prinzip der wehrhaften Demokratie ist ein Ver-
fassungsprinzip, das eigenständige Bedeutung gewon-
nen hat. Die Idee der wehrhaften Demokratie kam in un-
sere Verfassung, weil die Mütter und Väter des
Grundgesetzes in der Weimarer Zeit schlechte Erfahrun-
gen gemacht haben. In der Weimarer Zeit galt das Prin-
zip der Toleranz, was an sich ein gutes Prinzip ist. Aber
damals war es Toleranz im Sinne von Werterelativismus.
Was wir an dieser Verfassung heute als Mangel sehen,
war damals eine Tugend, nämlich dass man alle mögli-
chen politischen Ideen, Gestaltungen und Überlegungen
zugelassen hat, ohne sie bekämpfen zu können. Deshalb
war die Demokratie der Weimarer Republik in sich brü-
chig. Sie ist deswegen zugrunde gegangen. Sie war nicht
in der Lage, sich gegen innere und äußere Feinde zu
wehren. Deswegen haben wir heute das Prinzip der
wehrhaften Demokratie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe der Abg. Sönke Rix [SPD] und SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ich komme zum Thema. Mit dieser Vorbemerkung
wollte ich das aufnehmen, was Ihr Kollege Thierse vor-
hin gesagt hat, nämlich dass wir eine wehrhafte Demo-
kratie brauchen.

Unser Verfassungsgericht hat das Prinzip der wehr-
haften Demokratie in seinen Entscheidungen ausgestal-
tet.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte mal zur Sache!)


Denken wir an die berühmte Entscheidung zum Verbot
der KPD, denken wir aber auch daran, dass die Bemü-
hungen um das Verbot der NPD bislang nicht zum Erfolg
geführt haben, was ich bedauere.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber warum? – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen Verfassungsschutz und V-Leuten!)


– Fragen Sie bitte das Verfassungsgericht!


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren die V-Leute! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verfassungsschutz und V-Leute waren das Problem!)


– Das ist nicht mein Problem. Vielleicht waren die da-
mals eingereichten Klagen auch nicht so beschaffen,
dass man darauf ein Verbot wirklich hätte stützen kön-
nen.

Mit den beiden Programmen, dem Programm „Tole-
ranz fördern – Kompetenz stärken“ gegen den Rechts-
extremismus und der Initiative „Demokratie stärken“ ge-
gen den Linksextremismus und den islamistischen
Extremismus, kommt das Ministerium für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend dieser Verpflichtung zur
wehrhaften Demokratie nach. Diese Programme sehen
nicht direkt staatliches Handeln vor, sondern richten sich
an Bürgerinitiativen und an Organisationen, die aus der
Gesellschaft kommen, also bürgerschaftliche Organisa-
tionen sind. Nicht Beamte sind dort tätig,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir, Herr Geis! Wir reden auch mit Organisationen!)


sondern Bürger aus der Gesellschaft können die Initia-
tive ergreifen. Ich halte das für richtig und für gut.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja, wir auch!)


Das hat vielleicht sogar noch eine größere Wirkung,


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat es auch, aber die Klausel verhindert Engagement!)


als wenn wir es über Beamte, also auf staatlichem Wege,
machen würden.


(Zuruf: Nun zur Erklärung!)


Wenn das so ist, dann kann es doch nicht falsch sein
– im Übrigen sagt auch Battis nicht, dass das falsch ist –,
dass wir das von denen verlangen, die sich darum bemü-
hen, dass die Demokratie in unserem Volk verwurzelt
bleibt, dass die demokratischen Grundsätze bei uns ins
Bewusstsein übergehen, und zwar jeden Tag. Mit Recht
sagt Herr Thierse, dass die Demokratie von Zustimmung
lebt.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sollten dankbar sein und nicht misstrauen!)


Wir brauchen die Gemeinsamkeit der Demokraten.
Diese Institutionen und Organisationen können dabei
mithelfen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben! Das machen die seit Jahren!)


Aber es kann doch nicht verkehrt sein, dass wir von die-
sen Organisationen eine Bestätigung verlangen, dass sie
sich tatsächlich für die demokratische Grundordnung
einsetzen.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Doch! Sie misstrauen ihnen!)


Warum soll denn das unmöglich sein?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sie misstrauen ihnen!)


– Das ist doch kein Misstrauen. Wir verlangen nur diese
Bestätigung.


(Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE])






Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)

– Sie können noch so laut schreien. Es ist nichts anderes
als ein klares Bekenntnis zur demokratischen Grundord-
nung.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Was war denn in den letzten Jahren schiefgelaufen?)


Sie gehen davon aus, dass demokratisches Grundver-
ständnis überall vorhanden ist. Wenn das der Fall wäre,
brauchten wir solche Organisationen nicht, dann brauch-
ten wir solche Initiativen nicht.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709033100

Herr Kollege Geis, möchten Sie noch eine Frage be-

antworten kurz vor Ablauf Ihrer Redezeit?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709033200

Ich beantworte nachher die Frage, aber ich möchte

erst meinen Gedanken zu Ende führen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709033300

Sie haben leider nur noch 34 Sekunden.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709033400

Na gut, dann werde ich die Frage jetzt zulassen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709033500

Herr Rix.


Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1709033600

Herr Geis, ich will mal nicht so sein und Ihnen noch

ein bis zwei Minuten zusätzliche Redezeit geben.

Können Sie mir erklären, was sich in den Jahren, seit-
dem die Programme aufgelegt wurden, bis zu dem Zeit-
punkt, wo die Extremismusklausel eingeführt wurde,
verändert hat? Können Sie mir also erklären, was Frau
von der Leyen falsch gemacht und Frau Schröder jetzt
wohl richtig macht?

Bitte erklären Sie mir auch noch ein Zweites: Warum
müssen Organisationen, die sich für Demokratie und To-
leranz einsetzen, diese Erklärung unterschreiben, wäh-
rend andere Organisationen, die staatliche Mittel aus
dem Jugendetat des Ministeriums oder anderswoher er-
halten, solche Klauseln nicht zu unterschreiben brau-
chen? Wo liegt da der Unterschied? Diese beiden Fragen
hätte ich gerne noch beantwortet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1709033700

Wenn Organisationen dazu da sind, die verfassungs-

rechtliche Grundordnung ins Volk hereinzutragen, dann
haben sie nach dem, was jetzt vorliegt und zur Debatte
steht, genau das Gleiche zu unterschreiben wie jene Or-
ganisationen, die ich eben genannt habe. Wir können
nicht von vornherein davon ausgehen, dass in all diesen
Organisationen demokratische Grundsätze völlig gleich-
mäßig verwurzelt sind. Wir wollen durch diese Bestäti-
gung eben erreichen,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt diese Programme schon jahrelang! Es gab nie Probleme!)


dass sie unsere Demokratie anerkennen und sich auf ihre
Grundsätze verpflichten. Im Übrigen sagt Battis, den Sie
als Gutachter ausgewählt haben


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren die Initiativen, Herr Geis!)


und den ich im Übrigen auch schätze, in dem von ihm
erstellten Gutachten genau das Gleiche. Er sagt, es ist
möglich, dass von diesen Organisationen diese Bestäti-
gung verlangt wird.

Jetzt kommt der zweite Punkt: Diese Organisationen
müssen eine entsprechende Bestätigung natürlich auch
von denen verlangen, die sie als Mithelfer, als Unterstüt-
zer ihrer Bemühungen heranziehen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Redezeit! – Sönke Rix [SPD]: Schneeballsystem!)


Wenn sie selbst diese Bestätigung abgeben müssen, dann
ist es doch logisch und richtig, dass auch die Partner, die
ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mithelfen, eben-
falls diese Bestätigung abgeben.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt Battis aber nicht! Battis sagt, das sei verfassungswidrig!)


– Da unterscheide ich mich von Battis. – Ich bin der
Meinung, dass dieses nicht mehr als recht und billig ist.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Rede ist billig!)


Es kann doch nicht sein, dass sich unter Umständen
links- oder rechtsextremistische Kreise engagieren las-
sen, um angeblich für die demokratische Grundordnung
einzutreten, und dafür Geld bekommen,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn, Herr Geis! – Weiterer Zuruf des Abg. Sönke Rix [SPD])


obwohl sie diesen Staat im Grunde genommen ablehnen
und zugrunde richten wollen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie einmal mit denen! Gehen Sie einmal vor Ort!)


Wir können doch nicht Steuergeld zur Verfügung stellen,
um diese Leute auch noch zu unterstützen. Da denke ich
wirklich an Lenin: „Nur die dümmsten Kälber wählen
ihre Metzger selber.“ Das kann es doch nicht sein, meine
sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜND Norbert Geis NIS 90/DIE GRÜNEN]: Lenin hat auch gesagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!)





(A) (C)


(D)(B)


Der Staat macht zwar viele Fehler, aber er darf einen
Fehler bestimmt nicht machen: Er darf nicht zulassen,
dass er lächerlich gemacht wird. Der größte Fehler wäre
jedoch, wenn er sich selbst lächerlich macht. Dass man
von Menschen bzw. bürgerschaftlichen Gruppierungen,
die sich im Rahmen von Initiativen, die vom Ministe-
rium ausgehen, darum bemühen sollen, in der Bevölke-
rung des Landes ein demokratisches Bewusstsein zu
verwurzeln, entsprechende Verpflichtungserklärungen
verlangt, kann doch nicht dazu führen, dass bei Ihnen so
ein starker Widerspruch entsteht, wie das jetzt der Fall
ist. Ich bedauere das sehr. Im Grunde genommen handelt
es sich um eine sehr vernünftige Sache.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sönke Rix [SPD]: Was hat Frau Schröder jetzt richtig gemacht und Frau von der Leyen falsch?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709033800

Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1709033900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wer wie ich häufiger zu Fragen des Extremis-
mus und seiner Bekämpfung spricht, der erlebt leider
immer wieder die gleiche Dramaturgie. Ich erinnere an
den Koalitionsvertrag. Darin haben wir die Bekämpfung
des Linksextremismus und den Islamismus aufgenom-
men. Damals haben Sie uns vorgeworfen, wir würden
von nun an den Rechtsextremismus nicht mehr bekämp-
fen wollen.

Dann haben Sie gesagt, wir würden im Haushalt si-
cherlich die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremis-
mus streichen wollen, weil wir unsere Aufmerksamkeit
einseitig dem Linksextremismus zuwenden würden.
Auch das war nicht richtig. Jetzt sagen Sie: Es ist unzu-
mutbar – das haben Sie in der Vergangenheit selbst ge-
macht –, von Trägern, die solche Aufgaben wahrneh-
men, ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung zu verlangen.

Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle einmal über
das Ob und das Wie unterhalten. Ich finde es sehr bedau-
erlich, dass Sie anfangen, über die Frage des Ob, also
über die Frage, ob es für einen Träger zumutbar ist, zu
erklären, dass er selbst auf dem Boden der freiheitlich-
demokratischen Grundordnung steht, zu diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Natürlich ist das jedem zumutbar. Sie sagen, darum gehe
es nicht. Aber sogar das von Herrn Thierse zitierte Gut-
achten aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundes-
tages besagt: Die Befürchtungen des zuständigen Minis-
teriums, dass durch Projektmittel auch unerwünschte
Organisatoren gefördert werden, ist damit nicht von der
Hand zu weisen. – Insofern ist es sicherlich richtig und
sinnvoll, dass wir hier sagen: Dieses Ob muss außerhalb
jeder Diskussion stehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Und warum nicht alle?)


Leider kommen wir wegen dieser Debatten niemals
dazu, sauber zu klären, welchen Extremismusbegriff wir
in Deutschland eigentlich zugrunde legen. Meiner Mei-
nung nach haben wir auf der linken Seite dieses Hauses
immer das Problem, dass es von Ihnen eine Art konze-
dierten vermeintlichen moralischen Rabatt für den
Linksextremismus gibt, während Sie engagiert und mit
großem Einsatz – das will ich gar nicht verkennen – ge-
gen den Rechtsextremismus vorgehen. Es ist an der Zeit,
diese Unausgewogenheit endlich einmal abzulegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: So ein Unsinn! Sie haben keine Kenntnis von diesem Bereich!)


– Das mögen Sie behaupten. Ich habe als wissenschaftli-
cher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht das
NPD-Verbotsverfahren betreut. Ich kann also sicherlich
über einige Jahre der Auseinandersetzung mit Extremis-
mus in Deutschland reden. Man könnte viel darüber sa-
gen, was dabei schiefgelaufen ist.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sagen Sie es mal!)


Aber eines ist aus meiner Sicht unerträglich – das sage
ich als jemand, dessen Wahlkreisbüro schon Ziel autono-
mer Gewalt geworden ist, weil ich für den Ausbau des
Frankfurter Flughafens bin oder weil ich dem Energie-
konsens zugestimmt habe –, nämlich dass Sie mit dem
linken Auge nicht hinschauen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Menschen sind von den Neonazis ermordet worden?)


Jetzt habe ich relativ viel Zeit meiner Rede damit zu-
gebracht, mich mit der aus meiner Sicht leider wieder
verpassten Chance von Ihrer Seite zu befassen. Ich will
am Ende nicht verhehlen, dass der positivistische Verfas-
sungsjurist in mir mit Satz 2 durchaus nicht glücklich ist,
was die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit angeht.


(Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD])


Ich halte das zwar nicht für verfassungswidrig, wie von
Ihnen unterstellt. Aber ich finde, dass die vom betreffen-
den sächsischen Ministerium gewählte Formulierung
– wie wir alle wissen, ist Sachsen ein sehr gut regiertes
Bundesland –


(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD)


eindeutig praktikabler und sachlicher ist. Aber um die
Frage, ob es so oder so besser ist, ging es Ihnen heute gar
nicht. Ihnen ging es heute leider wiederholt nur um die





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

Feststellung, dass wir nicht bereit sind, den Extremismus
auf rechter Seite zu bekämpfen. Das ist schlicht Unsinn.
Insofern können wir Ihre Anträge nur ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709034000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/4551 mit dem Titel „Demokratieinitia-
tiven nicht verdächtigen, sondern fördern – Bestätigungs-
erklärung im Bundesprogramm ‚Toleranz fördern – Kom-
petenz stärken‘ streichen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? –
Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Opposi-
tionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktio-
nen.

Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/4664 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflö-
sung und Abwicklung der Anstalt Absatzför-
derungsfonds der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft und der Anstalt Ab-
satzförderungsfonds der deutschen Forst- und
Holzwirtschaft

– Drucksache 17/4558 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1709034100

Ein erfolgreiches Instrument für die deutsche Agrar-

und Ernährungswirtschaft neigt sich dem Ende zu. Der
Absatzfonds wird abgewickelt. Das Bundesverfassungs-
gericht hat am 3. Februar 2009 das Urteil dazu gespro-
chen. Die Kläger haben recht bekommen. Mit Beschluss
vom 12. Mai 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die
gesetzliche Aufgabenstellung des Holzabsatzfonds sowie
dessen Finanzierung über die Sonderabgabe ebenfalls
für verfassungswidrig und nichtig erklärt.

Ich persönlich bedaure diese Entwicklung sehr, ist
doch gerade unser Bundesland Bayern auf überregio-
nale Märkte und den heimischen Absatz angewiesen.
Wenn ich den Selbstversorgungsgrad bei Milch von
mehr als 170 Prozent und bei Rindfleisch von mehr als
200 Prozent sehe, dann hat diese Förderung immer wie-
der für Absatz im Ausland gesorgt. Das heißt, wir waren
dank des Absatzfondsgesetzes und der Arbeit der CMA
sehr erfolgreich im Exportgeschäft und ein konjunktur-
stabiler Faktor, was in Zeiten von Finanzmarktkrisen
und Wirtschaftsrezession hoch einzuschätzen war und
ist.

Das Gesetz zur Auflösung und Abwicklung der beiden
Fonds ist deshalb notwendig, weil sowohl der Absatz-
fonds als auch der Holzabsatzfonds durch Gesetz als
rechtsfähige Anstalt des Öffentlichen Rechts errichtet
wurden. Von den Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts sind bestimmte Vorschriften des Absatz-
fondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes unbe-
rührt geblieben. Sie sind auch aufzuheben. Das Nähere
über die Erhebung der Beiträge ist jeweils in der Verord-
nung über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz und
der Holzabsatzfondsverordnung geregelt, die ebenfalls
aufzuheben sind.

Für den Fall, dass beim Absatzfonds oder beim Holz-
absatzfonds zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Arbeit
Vermögensüberschüsse verbleiben, bedarf es außerdem
einer Regelung über deren Verwendung. Vielen Wirt-
schaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein deutlich gewor-
den, wie wichtig eine zentrale Absatzförderung ist und
welche gute Arbeit CMA und ZMP geleistet haben; über
Einzelheiten kann man streiten. Zwischenzeitlich sind
auf Initiative der Wirtschaft sowohl in der Ernährungs-
branche als auch im Holzbereich Nachfolgeorganisatio-
nen gegründet worden.

Fakt ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht
nicht nur die Vorschriften zur Beitragserhebung für
nichtig erklärt hat, sondern auch die Vorschriften zur
Aufgabenstellung der Fonds. Nach Anhörung der Ver-
bände leitete das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten daraus ab, dass eine Ver-
wendung etwaiger Überschüsse zugunsten der ur-
sprünglichen Beitragszahler rechtlich nicht geboten ist.
Dennoch werden wir uns als Unionsfraktion im Deut-
schen Bundestag im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
dafür einsetzen, die rechtlichen Möglichkeiten auszunut-
zen, um die Verwendung der Restmittel im Sinne der ur-
sprünglichen Beitragszahler zu ermöglichen. Auch der
Bundesrat hat sich im Dezember letzten Jahres dafür
ausgesprochen, etwaige Überschüsse, die nach Abwick-
lung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verblei-
ben, zugunsten der Land- und Forstwirtschaft zu ver-
wenden. In ihrer Stellungnahme zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf sprach sich die Länderkammer damit ge-
gen die Absicht der Bundesregierung aus, die Mittel
ohne Zweckbindung dem Bundeshaushalt zuzuführen.
Die Sonderabgabe sei von den Betrieben der Land- und
Ernährungswirtschaft sowie der Holz- und Forstwirt-
schaft erbracht worden. Daher müssten die Restmittel
auch diesen Betrieben wieder zugutekommen.

Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur
Nichtigkeit der Sonderabgabe lasse sich nicht ableiten,
dass diese in den allgemeinen Bundeshaushalt eingehen
müssten. Stattdessen müsse es ermöglicht werden, dass
Restmittel in der Land- und Ernährungswirtschaft bei-
spielsweise für Messebeteiligungen, Präsentationen,
Marktstudien sowie Markterschließungsmaßnahmen ein-
gesetzt werden. Von den übrig bleibenden Holzabsatz-

Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

fondsmitteln müssten wieder Forstbetriebe, Waldbesit-
zer und Unternehmen der Holzwirtschaft profitieren.

Diese Meinung teile ich ausdrücklich. Das heißt, soll-
ten nach vollständiger Abwicklung Restmittel zur Verfü-
gung stehen, können diese in den Haushalt zurückflie-
ßen. Wir Abgeordnete haben es dann als Haushalts-
gesetzgeber in der Hand, das verfügbare Geld im Sinne
der Beitragszahler einzusetzen. Den entscheidenden
Zeitpunkt werden wir im Auge behalten.


Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1709034200

Heute debattieren wir über die Restmittel zweier

Fonds, die seitens der Wirtschaft seit 1969 mit Abgaben
gefüllt wurden. Diese gesetzlich auferlegten Abgaben
waren nie besonders beliebt. Jahrelang wurde in
Deutschland über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von
Zwangsabgaben für das land- und forstwirtschaftliche
Gemeinschaftsmarketing gestritten. Und tatsächlich:
Ihre ursprüngliche Zielsetzung haben die Abgaben
schon seit langem verloren. Im Jahr 2009 rügte der Bun-
desrechnungshof äußerst deutlich, dass die Marketing-
gesellschaft für Agrarwirtschaft, CMA, Beiträge ver-
schwende und ihre Aufgabe verfehle. Nach dem internen
Bericht des Bundesrechnungshofes habe die Absatzor-
ganisation viele Marketingmaßnahmen bezahlt, die „ge-
gen interne Vorgaben verstießen, unwirtschaftlich oder
weitgehend wirkungslos waren“. Der Bundesrechnungs-
hof untermauerte damit die Kritik vieler Land- und
Forstwirte. Schlussendlich hat das Bundesverfassungs-
gericht Anfang 2009 ein klares Urteil gesprochen, Az.:
2 BvL 54/06 vom 3. Februar 2009. Die millionen-
schwere Zwangsabgabe ist seit 2002 als rechtswidrig
anzusehen. Damit konnten die deutschen Land- und
Forstwirte die Zahlungen für die zentrale Vermarktung
ihrer Produkte einstellen. Zuletzt waren im Schnitt in die
Fonds jährlich fast 88 Millionen Euro geflossen. Mit
durchschnittlich 0,4 Prozent wurde der jeweilige Waren-
wert belastet.

Werner Hilse, der Präsident des niedersächsischen
Landvolkverbandes, hat ja kurz nach Bekanntgabe des
Urteils diese hochrichterliche Entscheidung als „Kon-
junkturbremse und nicht passend in die derzeitige Wirt-
schaftslage“ bezeichnet. Nach anfänglicher Schwarz-
malerei sind der Berufsstand und die Agrar- und
Ernährungswirtschaft dann doch sehr schnell aktiv ge-
worden. Zusammen mit der Politik hat die Wirtschaft
neue Konzepte und Finanzierungsmodelle für die Ab-
satzförderung entwickelt. Und, liebe Kolleginnen und
Kollegen, siehe da: Es funktioniert, auch ganz ohne
Zwangsabgabe.

Wir müssen aber auch feststellen, dass wir die auf
EU-Ebene bereitgestellten Mittel für das Absatzmarke-
ting nicht in dem Umfang abrufen, wie das wünschens-
wert wäre. Hier müssen die einzelnen Branchenorgani-
sationen mehr über ihren Tellerrand schauen. Wir
brauchen eine gemeinsame Strategie, um unsere heimi-
sche Agrar- und Ernährungswirtschaft voranzubringen.

Heute geht es um die Verwendung der vorhandenen
Restmittel aus den Absatzfonds. Und dabei muss nach
meiner Überzeugung ganz klar der Grundsatz gelten:
Zu Protokoll
Die Restmittel müssen so verwendet werden, dass dieje-
nigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon profitie-
ren. Daher halte ich das jetzt vorgesehene Verfahren der
schwarz-gelben Koalition in der Sache für nicht tragbar.
Die Absatzfondsmittel sind vorrangig von den land- und
forstwirtschaftlichen Betrieben aufgebracht worden.
Folgerichtig müssen die vorhandenen Restmittel zweck-
gebunden ausgegeben werden. Klar ist, dass wir nicht
die Restmittel im Umfang von ein paar Euro und dann
noch auf den Cent gerundet den Abgabenzahlern zu-
rückzahlen können. Der bürokratische Aufwand wäre
viel zu groß. Die SPD lehnt es aber ab, dass der Vermö-
gensüberschuss nach Abwicklung in den Bundeshaus-
halt überführt wird. Dieser muss den früheren Abgaben-
zahlern zugutekommen.

Meine Vorschläge dazu: Legen Sie ein einmaliges und
auf zwei Jahre befristetes Fortbildungsprogramm für
Landwirte auf. Aus einem breitgefächerten Angebot mit
dem Schwerpunkt Unternehmensmanagement könnten
sich die Betriebsleiter dann kostenfrei die Module aus-
suchen, die sie für die Weiterentwicklung ihrer Höfe be-
nötigen. Die Vermögensüberschüsse aus dem Absatzför-
derungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft
sollten dazu genutzt werden, die Nachfrage nach hoch-
wertigem und nachhaltig zertifiziertem Holz mit den La-
bels FSC, Naturland oder PEFC zu steigern.

Die SPD lehnt den Gesetzentwurf der Regierungsko-
alition mit der jetzigen Zweckbestimmung ab.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1709034300

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat

im Sommer 2009 entschieden, dass die verpflichtende
Erhebung einer Sonderabgabe zur Finanzierung einer
zentralen Einrichtung der Wirtschaft und deren Aufga-
ben verfassungswidrig ist. Bereits die im Jahr 2007 im
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz durchgeführte Anhörung zum Absatzfonds
hatte gezeigt, dass die damit verbundene Zwangsabgabe
nicht verfassungskonform ist. Das Gerichtsurteil war
somit vorhersehbar. Solche Zwangssysteme müssen sich
in einem Rechtsstaat rechtfertigen und zeigen, dass sie
nicht durch freiwillige Lösungen ersetzt werden können.
Bereits im Jahr 2002 hatte der Europäische Gerichtshof
festgestellt, dass eine Werbung allein für deutsche land-
wirtschaftliche Produkte europäischem Recht wider-
spricht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt musste über die
vorhandenen Strukturen nachgedacht werden. Warum
sollte ein deutscher Obstbauer mit seiner Abgabe den
Absatz von Obst ganz allgemein fördern? Im Übrigen
war nie einzusehen, dass die Landwirtschaft für die Ex-
portförderung eigene Mittel aufbringt, während in den
übrigen Wirtschaftsbereichen die Exportförderung Auf-
gabe des Wirtschaftsministeriums ist. Die nun unter
christlich-liberaler Regierung betriebene Exportförde-
rung für landwirtschaftliche Produkte hat dazu beige-
tragen, die Land- und Ernährungswirtschaft zu stärken,
und ist daher ein wesentlicher Beitrag für die Struktur-
förderung des ländlichen Raumes.

Jetzt legt die Bundesregierung den Gesetzentwurf vor,
mit dem die Auflösung und Abwicklung der Anstalt „Ab-



gegebene Reden

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

satzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh-
rungswirtschaft“ und der Anstalt „Absatzförderungs-
fonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft“ geregelt
werden soll. Schon im Vorfeld hat die FDP wie nun auch
der Bundesrat gefordert, das Restvermögen beider An-
stalten gruppenspezifisch zu verwenden. Der Zentral-
ausschuss der Deutschen Landwirtschaft wie auch die
Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Waldbesitzer-
verbände – um nur die beiden größten Verbände zu nen-
nen – haben ebenfalls diese Forderung erhoben. Die
Sonderabgabe ist von Unternehmen der Land- und Er-
nährungswirtschaft wie auch der Forst- und Holzwirt-
schaft geleistet worden. Die Verwendung dieser Mittel
sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht ha-
ben, erfolgen. Das von der Bundesregierung mit dem
Gesetzentwurf verfolgte Ziel, die Restmittel ohne Zweck-
bindung dem allgemeinen Haushalt zuzuführen, wird
von der FDP abgelehnt. Es mag, wie in der Begründung
ausgeführt, rechtlich nicht geboten sein, die Mittel grup-
pennützig zu verwenden. Im Sinne des Vertrauensschut-
zes ist dies jedoch politisch geboten.

Um die Beitragszahler und die Steuerzahler nicht zu
belasten, sind die Kosten der Abwicklung selbst zu-
nächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Be-
kanntgabe des Gerichtsbeschlusses gab es zahlreiche
Klagen gegen die monatlichen Beitragsbescheide. Nach
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wur-
den diese für erledigt erklärt, die zu Unrecht eingezoge-
nen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt.
Es muss über die Forderung der Länder entschieden
werden, dass die Prozesskosten der anhängigen Klagen
vom Bund getragen werden.

Es gibt bereits verschiedene Ideen, in welcher Weise
das Restvermögen der beiden Anstalten verwendet wer-
den kann, zum Beispiel Einbringen in eine Stiftung oder
die Unterstützung bestehender Vermarktungsstrukturen,
die sich in der Nachfolge der beiden Anstalten gegrün-
det haben. In jedem Fall muss sichergestellt sein, dass
diejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon ei-
nen Nutzen haben. Unser Grundgesetz fordert von uns,
die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamten
Bundesgebiet zu gewährleisten. Die Diskussion um
Glasfasernetze zeigt, dass der ländliche Raum mit dem
Problem der Errichtung einer gleichwertigen Infra-
struktur zu kämpfen hat. Vor diesem Hintergrund ist es
politisch kaum vertretbar, von Betrieben des ländlichen
Raumes aufgewandte Mittel in den allgemeinen Haus-
halt fließen zu lassen, statt sie dort zu verwenden, woher
sie kommen und wo sie auch gebraucht werden, nämlich
im ländlichen Raum.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709034400

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht aus Sicht

vieler Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber
auch vieler Beschäftigter der Absatzfonds ein unrühmli-
ches Kapitel politischen Versagens zu Ende.

Viele Jahre haben sich vor allem Teile der Agrarwirt-
schaft gegen die Zwangsbeiträge zur Finanzierung von
Absatzförderung über Werbemaßnahmen der CMA ge-
wehrt. Die teilweise sexistischen Kampagnen der obers-
Zu Protokoll
ten Lebensmittelwerbeagentur Deutschlands hatte auch
die Linke seit langem kritisiert. Ich erinnere in diesem
Zusammenhang an die unrühmlichen Werbespots wie
„Kleine Schweinerei gefällig?“ oder „Und ewig lockt
das Fleisch“. Auch an der Verfassungsmäßigkeit dieses
Geschäftsmodells hatten nicht nur wir Zweifel.

Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar
2009 war nur folgerichtig und wurde durch uns begrüßt,
auch wenn damit gleichzeitig sehr sinnvolle Einrichtun-
gen wie die ZMP zur Disposition gestellt wurden. Ihre
Markt- und Preisberichterstattung war sehr bedeutsam,
und die Linke hatte gefordert, dies auch nach Abwick-
lung des Absatzfonds als öffentliche Aufgabe fortzufüh-
ren. Stattdessen wurde diese Aufgabe privatisiert und
die Agrarmarkt Informations-GmbH, AMI, als Nachfol-
gerin der ZMP gegründet. Sie verkauft nun die Informa-
tionen. Sie erstellt natürlich vor allem Daten, die sich
gut verkaufen lassen. Öffentlich finanzierte Daten hätten
dagegen auch öffentlich und unentgeltlich zugänglich
gemacht werden können. Damit wären Daten vorhan-
den, die vielleicht nicht wirtschaftlich verwertbar, aber
dafür für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Diese
Chance wurde bewusst vertan.

Das ist eine der Kehrseiten der Absatzfondshistorie.

Als weitere Kehrseite erweist sich die von der Bun-
desregierung vorgeschlagene Verwendung der Restmit-
tel, die nach Bezahlung aller noch offenen Rechnungen
des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben.
Diese Reste nicht verfassungsgemäß eingetriebener
Gelder sollen aber nicht den Zahlenden, sondern dem
Bundeshaushalt zugutekommen. Das ist widersinnig.
Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
17. Dezember 2010 betont, dass die überschüssigen
Gelder einer „gruppennützigen Verwendung“ zugeführt
werden sollten. „Gruppennützig“ kann für die Linke nur
eines bedeuten: Landwirtinnen und Landwirte bzw. die
Forstwirtschaft müssen von den Restgeldern profitieren,
statt dass damit politisch geschaffene Löcher im Bun-
deshaushalt gestopft werden. Dabei geht es nicht um die
berühmten Peanuts. Der hessische Landesverband des
Bundes Deutscher Forstleute, BDF, geht davon aus,
dass allein beim Holzabsatzfonds nach Abzug aller offe-
nen Rechnungen und Gerichtskosten noch 2,8 Millionen
Euro übrig bleiben. Der Vorschlag des BDF, diese Gel-
der an die „Zukunft Holz GmbH“ zu übergeben, könnte
die Gelder im Interesse der in der Branche Beschäftig-
ten sichern. Im Bundeshaushalt ist das höchst unsicher,
erst recht nach den Erfahrungen der vergangenen Wo-
chen.

Die Linke thematisiert schon sehr lange, dass gerade
in der regionalen Absatzförderung große Potenziale für
Wertschöpfung und Arbeitsplätze ungenutzt sind. Des-
halb könnten wir uns gut vorstellen, dass die Restgelder
nach der Abwicklung der beiden Fonds gerade dafür
verwendet werden. Die Nutzung der Gelder zur Stärkung
von Agrarfördergesellschaften würde auch in meinem
Heimatbundesland Brandenburg den Verband „pro
agro“ unterstützen. Leider ist die Bundesregierung auf
solche Vorschläge bisher nicht eingegangen. Auch die



gegebene Reden

Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)

Kritik des Bundesrates wurde beiseite gewischt, weil das
Bundesverfassungsgericht nicht nur die Zwangsgelder,
sondern auch die gesetzliche Aufgabenstellung der
Fonds für verfassungswidrig erklärt hätte. Die Linke
fordert, ernsthaft nach einer verfassungskonformen Lö-
sung zu suchen, damit Land- und Forstwirtschaft zumin-
dest noch indirekt von den verfassungswidrig eingezoge-
nen Geldern profitieren können. Noch fairer wäre sicher
die direkte Rückzahlung an die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler, aber dies wird organisatorisch kaum zu
leisten sein.

Entsetzt bin ich nach wie vor darüber, dass sich die
Bundesregierung und die damalige schwarz-rote Koali-
tion vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts überra-
schen lassen haben. Seriöse, vorausschauende Politik
sieht anders aus. Dabei hatte sich in der Anhörung im
Agrarausschuss des Bundestages am 7. März 2007 der
Verdacht der Verfassungswidrigkeit sogar noch erhärtet.
Das habe ich der Bundesregierung auch klar gesagt.
Aber sie hat bedingungslos am Zwangswerbebeglü-
ckungsinstrument festgehalten, statt rechtzeitig einen
Plan B zu erarbeiten. Insbesondere gegenüber den Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtungen war
das grob fahrlässig. Die Fürsorgepflicht hätte verlangt,
sich rechtzeitig gemeinsam über Alternativen Gedanken
zu machen.

Heute stehen wir vor einem weiteren Scherbenhaufen
einer eitlen und ignoranten Regierungspolitik. Denn das
Werbekonzept des Absatzfonds wurde nicht nur ver-
fassungswidrig finanziert, sondern es war unnütz. Der
von der Linken benannte Sachverständige Professor
Dr. Tilman Becker vom Institut für Agrarpolitik und
Landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohen-
heim brachte es bei der Anhörung auf den Punkt. Die
Arbeit der CMA sei herausgeworfenes Geld, unnütz und
gehöre abgeschafft.

Die beiden Fonds sind nun – fast – Geschichte. Das
ist im Grunde auch gut so. Leidtragende sind die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter von CMA, ZMP und Holz-
absatzfonds. Ich hoffe sehr, dass sie ihr Fachwissen und
ihre Fähigkeiten nun sinnvoll an anderer Stelle zum
Wohle unserer Land- und Forstwirtschaft werden einset-
zen können.


Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709034500

Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsge-

richt die Zwangsabgabe der Land- und Forstbetriebe
zum Absatzfonds endlich für verfassungswidrig erklärt.
Jahrelang wurden Bäuerinnen und Bauern zu Unrecht
gezwungen, die unsinnigen und allzu oft geschmacklo-
sen und frauenfeindlichen Werbemaßnahmen der CMA
sowie deren üppig ausgestatteten Apparat samt Funktio-
nären zu finanzieren. Nach der Abwicklung werden aus
dem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 Millionen
Euro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro
verbleiben – Geld, das von den Bauern zu Unrecht ein-
gezogen wurde. Um das Unrecht komplett zu machen,
will die Bundesregierung dieses restliche Geld im Bun-
deshaushalt verschwinden lassen.
Zu Protokoll
Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert,
ihren Gesetzentwurf zu ändern und die Gelder gruppen-
nützig zu verwenden. Die Bundesregierung hat dies zu-
rückgewiesen. Sie zeigt keinerlei Bereitschaft, die Gel-
der im Sinne derer zu verwenden, die sie bezahlt haben.

Wir begrüßen die Forderung des Bundesrates nach
einem gruppennützigen Einsatz der verbleibenden Ab-
satzfonds- und Holzabsatzfondsgelder. Gruppennützig
kann für uns aber nur heißen: Verwendung im Sinne des
landwirtschaftlichen Gemeinwohls. Die Mittel müssen
der Landwirtschaft insgesamt zugutekommen und dem
dauerhaften Wohl der Landwirtschaft und des Waldes
dienen. Wir schlagen daher zur Verwendung der verblei-
benden Mittel aus dem Absatzfonds und dem Holzab-
satzfonds die Einrichtung einer Stiftung Bäuerliche
Landwirtschaft vor. Ziel der Stiftung sollte es sein, not-
wendige gemeinnützige Leistungen für die Land- und
Forstwirtschaft zu fördern, die heute weder von der Pri-
vatwirtschaft noch vom Staat in ausreichendem Maße
geleistet werden.

Die vom Bundesrat geforderte Gruppennützigkeit be-
steht im höchsten Maße da, wo es um die Erbringung
landwirtschaftlicher Gemeingüter geht und wo dem
langfristigen landwirtschaftlichen Gemeinwohl gedient
wird. Die Land- und Forstwirtschaft lebt wie kein ande-
rer Wirtschaftsbereich von den Vorleistungen vergange-
ner Generationen: Ohne die jahrhundertelange Züch-
tungsarbeit stünden die heutigen Kulturpflanzen und
Nutztierrassen nicht zur Verfügung. Ohne den Aufbau
der Bodenfruchtbarkeit über Generationen wären die
heutigen Erträge in der Landwirtschaft nicht möglich.
Nicht ohne Grund stammt der Begriff der Nachhaltigkeit
aus der Forstwirtschaft, denn wie nirgendwo sonst ar-
beitet im Forst eine Generation für die nächste, ernten
wir heute, was unsere Vorgänger uns hinterlassen ha-
ben.

Der enorme ökonomische Druck in der Land- und
Forstwirtschaft führt heute dazu, dass diese elementaren
Gemeinleistungen immer weniger erbracht werden und
dass die Nachhaltigkeit allzu oft dem kurzfristigen Profit
untergeordnet wird. Am Beispiel der Eiweißpflanzen er-
leben wir heute, was passiert, wenn landwirtschaftliche
Gemeingüter wie die langfristige Züchtungsarbeit nicht
mehr erbracht werden. Züchtung findet heute nur noch
da statt, wo ein großer Markt besteht. Kleinere, nur re-
gional angebaute Sorten sind für Züchtungsunterneh-
men wirtschaftlich uninteressant. Das führt dazu, dass
die Züchtungs- und Vermehrungsarbeit an vielen wichti-
gen Kulturpflanzen, etwa bei den Leguminosen, ver-
nachlässigt wird. Ein wesentlicher Grund für den dra-
matischen Rückgang des Eiweißpflanzenanbaus ist die
brachliegende Züchtung.

Die Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft soll Pionier-
arbeit von Bäuerinnen und Bauern, Waldbäuerinnen
und Waldbauern fördern, die dem langfristigen Wohl der
Land- und Waldwirtschaft dient. Nicht die Industrie,
sondern die Pioniere, die insbesondere in der nachhalti-
gen Züchtungs- und Erhaltungsforschung, beim Aufbau
der Bodenfruchtbarkeit und in der nachhaltigen Wald-
bewirtschaftung wertvolle gemeinnützige Entwicklungs-



gegebene Reden





Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)

arbeit leisten, sollten durch eine solche Stiftung unter-
stützt werden. Den Einsatz der Restgelder zur
Exportförderung lehnen wir ab. Die Exportförderung
dient allein kurzfristigen Einzelinteressen der Ernäh-
rungsindustrie und ist nicht im Interesse der Landwirt-
schaft insgesamt.

Wir fordern die Koalition auf, sich mit uns gemein-
sam für die Nutzung der Absatzfondsgelder im Sinne des
landwirtschaftlichen Gemeinwohls einzusetzen und zu
verhindern, dass die Gelder der Bäuerinnen und Bauern
im Bundeshaushalt verschwinden. Nachdem über die
Jahre Hunderte von Millionen Euro mit Unterstützung
der Politik zu Unrecht eingezogen und in unsinnigen
Kampagnen verschwendet wurden, müssen wenigstens
die Restmittel im Sinne der nachhaltigen Land- und
Forstwirtschaft verwendet werden. Das ist das Min-
deste, was wir den Bäuerinnen und Bauern schuldig
sind.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709034600

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/4558 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung

– Drucksache 17/4678 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1709034700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am 14. Februar wird der Bundesumweltminister eine
weitere Offensive in Gorleben starten; er ruft zu einem
sogenannten Dialog auf. Wahrscheinlich bereitet er sei-
nen Dialog gerade vor, sodass er der heutigen Debatte zu
diesem Tagesordnungspunkt leider nicht beiwohnen
kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der FDP, Sie haben heute die Chance, ein Zeichen
zu setzen, damit am 14. Februar keine Alibiveranstal-
tung stattfindet. Sie haben heute Abend die Gelegenheit,
hier zu beweisen, dass es nicht um eine Art Pseudodia-
log geht, auch nicht um ein Handeln nach dem Motto
„Diktat statt Dialog“ geht, wie Sie es in den letzten Mo-
naten vorgemacht haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben Sie hier
all die Monate gemacht? Sie haben Fakten geschaffen.
Sie haben dafür gestimmt, mehr Atommüll zu produzie-
ren. Sie haben still und heimlich die Weichen dafür ge-
stellt, dass Sachverständige aus alten Zeiten mittlerweile
wieder Sicherheitsanalysen in Gorleben durchführen.
Das geht so nicht. Wenn Sie es mit dem Dialog ernst
meinen, dann sollten Sie – dazu rufen wir Sie heute auf –
unserem Antrag zustimmen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Worum geht es? Wir machen Ihnen, um in der Sozial-
arbeitersprache zu reden, ein niedrigschwelliges Ange-
bot.


(Heiterkeit bei der SPD)


Wir könnten viel mehr fordern, aber wir verlangen ei-
gentlich nur zwei kleine Signale. Ich denke, wenn man
es ernst meinen würde, dann könnte man den beiden
Punkten zustimmen. Worum geht es?

Erstens. Nehmen Sie das sogenannte Enteignungsge-
setz zurück. Sie setzen das schärfste Schwert des Grund-
gesetzes ein und wollen dann einen Dialog führen. Das
passt nicht zusammen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hätten Sie auch gemacht! Fragen Sie mal Ihren ehemaligen Staatssekretär Machnig, was der in der Pipeline hatte!)


Zweitens. Sie sind Parlamentarier. Herr Grindel, neh-
men Sie Ihr Parlamentsrecht ernst und stimmen Sie
heute mit uns dafür, zumindest die Ergebnisse des Unter-
suchungsausschusses abzuwarten und bis dahin ein Mo-
ratorium für die Erkundung in Gorleben zu beschließen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Signale würden auch in Gorleben ankommen.

Der Bundesumweltminister hat gegenüber der Han-
noverschen Presse erklärt, die Gegner seien feige und er
mutig. Ich frage: Was ist das für ein Mut, wenn man
nach dem Motto „Mit dem Kopf durch die Wand“ han-
delt? Was ist das für ein Mut, wenn man sagt: „Wir ge-
hen da rein. Es gibt keine Alternativen. Es ist egal, was
wir im Untersuchungsausschuss festgestellt haben und
wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind“? Inwie-
fern beweist der Bundesumweltminister Mut, wenn er
nach Gorleben geht, um die Entscheidung zu vertreten?
Die Folgen dieser Entscheidung müssen letztlich andere
ausbaden. Wenn sich herausstellt, dass Gorleben alles
andere als geeignet ist, ist der Bundesumweltminister
garantiert nicht mehr in dieser Verantwortung, sondern
bestenfalls Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!)


Ich glaube, es ist an der Zeit, zu erkennen, dass man
mit diesem Thema sehr sorgfältig umgehen und Alterna-
tiven in Betracht ziehen muss. Der Umweltminister sagt,





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

Gorleben bzw. die Endlagersuche sei eine nationale He-
rausforderung. Ich frage Sie: Warum wird diese natio-
nale Herausforderung nur in Gorleben gesucht? Das
kann doch nicht die wahre Antwort sein. Uns liegen in-
zwischen Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchun-
gen vor – Stichwort: Gasvorkommen –, durch die – und
die Asse beweist das – massive Zweifel an der Eignung
von Salzformationen geweckt werden.

Ich glaube, die überparteiliche Initiative, deren ganz-
seitige Anzeige wir heute in der Elbe-Jeetzel-Zeitung le-
sen können, hat recht. Es geht darum, dass man Verant-
wortung ernst nimmt, dass man die Risiken ernst nimmt.
Wir müssen für nachfolgende Generationen eine gute
Lösung finden. Wir dürfen nicht in zehn Jahren plötzlich
vor dem Dilemma einer fehlenden Alternative stehen,
weil wir diese Frage nicht beantwortet haben. Die An-
zeige schließt mit den Worten:

Reden Sie nicht von Verantwortung – handeln Sie
verantwortlich!

Dass Sie verantwortlich handeln wollen, können Sie
heute beweisen. Das wäre ein erstes Zeichen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP. Wir
sind gespannt, wie Sie sich verhalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709034800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria

Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1709034900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute Abend geht es mal wieder um Gorleben. Nach-
dem man sich in den 60er- und 70er-Jahren des letzten
Jahrhunderts im Konsens aller damals agierenden Par-
teien für die friedliche Nutzung der Kernenergie ent-
schieden hat, lagert inzwischen der gesamte Müll in
oberirdischen Zwischenlagern, verteilt über die ganze
Republik. Das entspricht tatsächlich keinen guten Si-
cherheitsstandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Bun-
desminister Röttgen den Erkundungsstopp, der vor zehn
Jahren von Rot-Grün beschlossen wurde, aufgehoben
hat und der Salzstock in Gorleben seit Oktober 2010
wieder ergebnisoffen erkundet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Ihrem heute zu diskutierenden Antrag, liebe Kolle-
gen von der SPD, wiederholen Sie schon oft vorgetra-
gene Argumente, die durch Wiederholung nicht besser
werden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Müssen sie auch nicht! Sie waren schon vorher gut!)


Die Weitererkundung sei schon deshalb abzulehnen,
weil nach Bergrecht vorgegangen werde.


(Ulrich Kelber [SPD]: Veraltetes Bergrecht!)

Dass die Erkundung auf Grundlage des Bergrechts so-
wohl rechtens als auch angemessen ist, ist bereits zwei-
mal, 1990 und 1995, höchstrichterlich bestätigt worden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nicht mehr gültiges Bergrecht! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da muss man Jurist sein und nicht Sozialarbeiter, um das zu verstehen, Herr Miersch! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen bin ich das sogar!)


Ich zitiere aus dem Urteil. Dort steht ausdrücklich, dass
die untertägige Erkundung eines Standorts noch nicht
der Beginn der Errichtung einer entsprechenden Anlage
sei und deshalb auch die Planfeststellung nach Atom-
recht nicht notwendig und auch nicht sinnvoll sei, weil
noch offen gelassen werden müsse, ob denn an diesem
Standort eine solche Anlage tatsächlich errichtet werden
könne oder nicht.

Es gehört einfach zur politischen Kultur in einer De-
mokratie und einem Rechtsstaat,


(Ulrich Kelber [SPD]: Aktuelles Recht zu verwenden!)


dass man höchstrichterliche Urteile auch dann akzep-
tiert, wenn sie einem nicht passen. Der Minister hat
mehrfach zugesagt: Die Erkundungsarbeiten sollen er-
gebnisoffen sein. Sie sollen unter Beteiligung der Öf-
fentlichkeit, der kommunalen Mandatsträger und der
Bürgerinitiativen vorgenommen werden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Warum macht man das dann ohne Bürgerbeteiligung?)


Zusätzlich soll es im Rahmen eines Peer-Review-Ver-
fahrens eine Überprüfung durch internationale Experten
geben. Erst danach findet gegebenenfalls eine Planfest-
stellung nach Atomrecht statt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erklären Sie doch einmal, warum man das alte Bergrecht nimmt!)


Jetzt geht es zunächst um die Zusammenfassung und
Bewertung der bislang erhobenen Daten aus der Erkun-
dung im Rahmen einer vorläufigen Langzeitsicherheits-
analyse. Ich kann nachfühlen, dass die Seriosität der Si-
cherheitsanalyse von Gorleben-Kritikern in Zweifel
gezogen werden kann und dass sie sagen: Es sind mögli-
cherweise nicht die richtigen Experten, nicht die richti-
gen Fragen, die letztendlich auf den Tisch kommen.

Herr Röttgen bietet ganz konkret die Einbeziehung
der Kritiker an, um tatsächlich alle stritten Fragen zu be-
trachten und um kritische Experten mit einzubeziehen.
Das wird der Minister sicherlich bei seinem Besuch in
Lüchow-Dannenberg am 14. Februar konkretisieren.

Meine Damen und Herren, ich kann Menschen verste-
hen,


(Ulrich Kelber [SPD]: Die auf aktuellem Recht bestehen!)


die die friedliche Nutzung von Kernenergie zur Stromer-
zeugung für nicht verantwortbar halten. Ich akzeptiere
aber nicht, dass versucht wird, mit der Verzögerung der





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

Endlagersuche die Nutzung von Kernenergie zu diskre-
ditieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verzögern!)


Deshalb ist die Forderung der SPD, einen Erkundungs-
stopp zu veranlassen, um das Ergebnis des Untersu-
chungsausschusses abzuwarten, nichts anderes als ein
weiterer untauglicher Versuch, zu verzögern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn die rot-grüne Bundesregierung im Juni 2000 in
der sogenannten Ausstiegsvereinbarung schriftlich die
Eignungshöffigkeit des Standortes bescheinigt – ich zi-
tiere: „Somit stehen die bisher gewonnenen geologi-
schen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstocks
Gorleben … nicht entgegen.“ –, dann verstehe ich ein-
fach nicht,


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist keine Bescheinigung! Das wissen Sie auch!)


warum jetzt nicht weiter untersucht werden kann, ob
sich diese Eignungshöffigkeit tatsächlich verifizieren
lässt. Ich frage mich auch, warum gerade in dieser Wo-
che eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie
veröffentlicht wird, die angeblich die Untauglichkeit des
Salzstocks zur Endlagerung wegen des Vorkommens
von Kondensaten, Öl und Gas nachweist.

Ich stelle dazu fest: Erstens. Die Erkundungsbefunde,
die dieser Studie zugrunde liegen, sind mindestens zehn
Jahre alt. Zweitens. Die Weiteruntersuchung dieser Fra-
gestellung wurde durch das Moratorium verhindert.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709035000

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Voß?


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1709035100

Aber sehr gern, aber erst dann, wenn ich diese Pas-

sage beendet habe.

Drittens. Die Daten sind öffentlich zugänglich; denn
sonst hätte Greenpeace sie letztendlich nicht bewerten
lassen können. Viertens. Warum wurde denn dann diese
Studie nicht schon viel früher vorgelegt?


(Ulrich Kelber [SPD]: Das Öl wird nicht versickert sein!)


Sie hatten eigens dazu eine zehnjährige Denkpause ein-
geschoben. Ich denke, es war keine Pause vom Denken,
sondern eine Pause zum Denken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie aber Greenpeace fragen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709035200

Frau Kollegin Voß, bitte.

Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709035300

Frau Flachsbarth, wir waren heute im gleichen Unter-

suchungsausschuss. Es ist zum wiederholten Male er-
klärt worden, dass das Wort „eignungshöffig“ nicht ge-
eignet ist, um im Zusammenhang mit der Eignung von
Gorleben als Endlager für radioaktiven Müll benutzt zu
werden.

Die Eignungshöffigkeit ist ein Begriff aus dem Berg-
bau. Ich sage es Ihnen gerne noch einmal. Diesen Begriff
können wir verwenden, wenn ein Bergwerk aufgefahren
wird und erkundet werden soll, ob es dafür taugt, dass
Bodenschätze gefördert werden. Wenn erwartet werden
kann, dass genügend Bodenschätze zutage treten, spricht
man von Eignungshöffigkeit. Wenn Atommüll, der
nichts mehr wert ist und bei dem es sich nicht um einen
Wertstoff handelt, eingelagert werden soll – darüber sagt
das Bergrecht überhaupt nichts aus –, sagt das Wort „eig-
nungshöffig“ gar nichts, aber auch gar nichts aus.

Ebenso wenig kann nach dem veralteten Bergrecht
darüber geurteilt werden, ob Gorleben ein geeigneter
Standort für ein unterirdisches Atommülllager sein kann.

Ich möchte wissen, ob das bei Ihnen nicht angekom-
men ist, ob Sie das nicht wissen wollen und warum Sie
so hartnäckig dieses Wort, das nicht zutreffend ist, ver-
wenden.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1709035400

Liebe Frau Kollegin Voß, ich schlage vor, dass Sie zu-

nächst einmal die rot-grünen Kollegen fragen, wie das
Wort „eignungshöffig“ in diese Ausstiegsvereinbarung
geraten ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn es sich um eine völlig unzutreffende Vokabel
handeln sollte, dann verstehe ich nicht, warum Politiker-
generationen vor uns diese Vokabel benutzt haben. Wir
nutzen Sie vielleicht noch zum historischen Andenken.


(Ulrich Kelber [SPD]: In der Ausstiegsvereinbarung hat es keine Bedeutung!)


Außerdem kommt das Bergrecht lediglich hinsicht-
lich der Untersuchung dieses Salzstocks zur Anwen-
dung, um festzustellen, ob sich ein atomrechtliches Plan-
feststellungsverfahren lohnt. Genau das hat uns das
Bundesverwaltungsgericht in den Jahren 1990 und 1995
bestätigt. Es hat gesagt, dass es überhaupt nicht zulässig
ist, bei der Untersuchung eines Salzstocks das Atom-
recht zugrunde zu legen, weil die erforderlichen Daten
noch gar nicht vorhanden sind.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber wenigstens das aktuelle Bergrecht!)


Diese müssen erst im Rahmen eines bergrechtlichen Ver-
fahrens erarbeitet werden. Danach findet selbstverständ-
lich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren statt.

Man kann in einer Demokratie nicht mehr machen,
als politische Entscheidungen und Verwaltungsentschei-
dungen höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Wenn sie
überprüft sind, dann muss man diese Urteile akzeptieren.
Denn sonst lässt sich Rechtsfrieden, der für eine zu-





Dr. Maria Flachsbarth


(A)



(D)(B)

kunftsfähige Politik dringend notwendig ist, nicht erzie-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich frage mich: Warum versucht man mit allen Mit-
teln, die Weitererkundung in Gorleben zu verhindern,
die unter Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung, der
kommunalen Mandatsträger, der Kirchen, der Bürgerini-
tiativen, kritischer Wissenschaftler und unabhängiger
ausländischer Wissenschaftler in einem transparenten
Verfahren erfolgt?


(Patrick Döring [FDP]: Weil man weiß, dass es geeignet ist!)


Ich frage mich: Warum hat die Opposition eigentlich sol-
che Angst vor der Wahrheit in Gorleben?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind derartig dreist frech!)


Deutschland hat in einem demokratisch legitimierten
Entscheidungsprozess und im großen gesellschaftlichen
Konsens vor circa 50 Jahren mit der Nutzung der Kern-
energie zur Stromerzeugung begonnen. Wir sind jetzt
aufgefordert – dies ergibt sich aus der Verantwortung
von Demokraten für das Gemeinwesen, die auch für
Konsequenzen aus dem Handeln und Entscheiden in der
Vergangenheit einstehen müssen –, uns ernsthaft und
zielorientiert der Aufgabe der Entsorgung zu stellen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709035500

Frau Kollegin, auch Herr Kelber hat den Wunsch

nach einer Zwischenfrage.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1709035600

Das ist fantastisch. Dann habe ich noch mehr Rede-

zeit; das ist klasse.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1709035700

Wenn die längere Redezeit hilft, die Sachlage aufzu-

klären, ist das in Ordnung.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1709035800

Genau, Herr Kelber.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1709035900

Sie versuchen in jeder Rede, immer und immer wie-

der mit den gleichen Worten die Behauptung aufzustel-
len, die Opposition hätte Angst vor dem klaren transpa-
renten Verfahren, das Schwarz-Gelb gewählt hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Ja, gröhl, gröhl, gröhl, das geht wunderbar. – Warum
verwenden Sie zwar das Bergrecht – darauf bestehen
Sie; gerade haben Sie sich zum Atomrecht geäußert –,
nehmen aber das veraltete Bergrecht, das weder den Ex-
pertinnen und Experten noch den Bürgerinnen und Bür-
gern die Beteiligung rechtlich zusichert, und nicht etwa
das vor einigen Jahrzehnten novellierte Bergrecht, in
dem diese Rechte verbrieft sind und nicht vom Minister
je nach Gusto eingezogen und erteilt werden können?
Glauben Sie nicht, dass die Bürger Sie ernster nehmen
würden, wenn sie das Recht hätten, das seit zwei Jahr-
zehnten jeder andere Bürger in dieser Republik hat,
wenn etwas nach Bergrecht geplant wird? Warum trauen
Sie sich da nicht? Sie können nicht daran vorbeireden.


(Michael Kauch [FDP]: Lassen Sie sich auf die Rednerliste setzen! Dann müssen wir nicht länger machen!)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1709036000

Weil wir, ehrlich gesagt, Herr Kelber, mitten im Ver-

fahren sind, eigentlich auf den letzten Metern eines
100-Meter-Laufes, die wir jetzt hinter uns bringen wol-
len,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber abenteuerlich!)


um so zügig wie möglich endlich herauszufinden, ob
dieser Salzstock in Gorleben geeignet sein könnte oder
nicht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen sollen die Bürger nicht stören?)


Minister Röttgen hat ausdrücklich angeboten, dass es
Beteiligung geben wird, sowohl in Bezug auf die Benen-
nung der Expertinnen und Experten im Rahmen der
Langzeitsicherheitsanalyse als auch in Bezug auf das
Stellen eigener Fragen zu kritischen Punkten bezüglich
des Salzstocks Gorleben. Ich nenne die Gorlebener
Rinne und Kondensatvorkommen. Hier ist es ohne
Zweifel so, dass Experten von außen mithelfen sollen,
diese Punkte zu verifizieren oder zu falsifizieren. Auf je-
den Fall wollen wir jetzt zügig Klarheit darüber bekom-
men, ob dieser Salzstock als Endlager geeignet ist oder
nicht, ob dort ein atomrechtliches Planfeststellungsver-
fahren eröffnet werden sollte oder nicht. Herr Kelber, ich
kann die Behauptung, dass dieses Verfahren die Interes-
sen der Menschen vor Ort nicht vollumfänglich mit be-
rücksichtigt, nicht nachvollziehen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das war nicht meine Frage!)


Ich kann nicht erkennen, Herr Kelber, dass das Insis-
tieren auf den Wortlaut aktualisierter Gesetze die Situation
wirklich verbessert. Hier verweise ich auf Stuttgart 21, wo
tatsächlich alles an öffentlicher Beteiligung, so wie die
Gesetze es vorschreiben, und an parlamentarischen Ent-
scheidungsprozessen, so wie die Gesetze es vorschreiben,
erfolgt ist, aber dennoch keine öffentliche Akzeptanz er-
zielt worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass die
Menschen vor Ort, die Bürgerinitiativen, die Kirchen, die
Gewerkschaften, die kommunalen Vertreter, jeder, der ein
berechtigtes Interesse hat, in diesen Prozess einbezogen
werden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Danke, das war erhellend! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bitte schön! Dann ist ja gut!)


– Wenn das so ist, freue ich mich ganz besonders.

(C)






Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)


(Ulrich Kelber [SPD]: Das war erhellend in Bezug auf Ihre Motivation!)


Wir bieten Ihnen an, an diesem Dialogprozess mitzu-
wirken. Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Dialog-
prozess unterstützen würden, sodass wir unserer gesell-
schaftlichen Verantwortung für diesen Standort, aber
auch für die Entsorgung von hochradioaktiven Abfällen
gemeinsam nachkommen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709036100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709036200

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wenn es der Bundesregierung um einen Dialog mit den
Bürgerinnen und Bürgern des Wendlands gegangen
wäre, dann hätte sie nicht ein Dreivierteljahr verstrei-
chen lassen, nachdem die Bürgerinitiativen, die örtlichen
Initiativen und der Kreistag um ein Gespräch gebeten
haben. Darum wurde letztes Jahr im Frühjahr oder Früh-
sommer gebeten. Aber nein, erst jetzt hat der Minister
Zeit: erst jetzt, nachdem das Atomrecht verändert wurde,
erst jetzt, nachdem die Laufzeiten der Atomkraftwerke
verlängert wurden.


(Patrick Döring [FDP]: Sagen Sie doch mal, wie oft andere Umweltminister da waren! Gar nicht!)


Was bedeutet die Laufzeitverlängerung? Die Lauf-
zeitverlängerung bedeutet circa 500 weitere Castoren
mit hochradioaktivem Müll.


(Patrick Döring [FDP]: Das debattieren wir jetzt aber nicht!)


Die Änderung des Atomgesetzes – sie wurde angespro-
chen – bedeutet unter anderem, dass Enteignungsmög-
lichkeiten geschaffen wurden, um Gorleben – so nennt
man es – weiter zu erkunden.

Dass jetzt ein Gespräch stattfinden soll, das müssen
die Bürgerinnen und Bürger, das muss der Kreistag als
Alibiveranstaltung verstehen. Sehr deutlich formuliert er
dies in einem offenen Brief, der von allen möglichen ge-
sellschaftlichen Gruppen und fast allen Fraktionen im
Kreistag unterschrieben ist, übrigens auch von der FDP-
Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ute Vogt [SPD]: Hört! Hört! – Patrick Döring [FDP]: Wir sind hier aber im Bundestag und nicht im Kreistag! – Gegenruf des Abg. Frank Schwabe [SPD]: Aber Sie benehmen sich, als wären Sie in einem Kreistag!)


Wie ich höre, ist auch die CDU-Fraktion nicht besonders
glücklich über das Vorgehen.
Ich möchte zwei Stellen aus diesem offenen Brief zi-
tieren.

Sie aber

– so dieser offene Brief –

bieten uns lediglich einen „Dialog“ an, der „die Ar-
beiten im Salzstock Gorleben begleiten“ soll. Wäh-
rend dort die Baumaschinen bereits Fakten schaf-
fen.

Es wird deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger betrach-
ten das als eine Alibiveranstaltung und haben das Ge-
fühl, es werden Tatsachen geschaffen, wie seit 30 Jahren
Tatsachen geschaffen werden, ohne dass sie wirklich ge-
hört und ihre Ängste und Bedenken wahrgenommen
werden.

Weiter heißt es:

Herr Bundesumweltminister, wir wollen eine offene
und transparente Debatte über das Atommüllprob-
lem. In ganz Deutschland. Keinen regionalen
Scheindialog.

Recht haben die Bürgerinnen und Bürger; das wird Wo-
che für Woche auch im Untersuchungsausschuss deut-
lich. Es wird in diesem Land nicht über die Frage disku-
tiert: Wohin mit dem Müll, den wir seit 50 Jahren
produzieren? Es wird weiter in Gorleben erkundet, ob-
wohl seit 30 Jahren klar ist, dass es zumindest sehr große
Zweifel an der Eignung dieses Salzstockes gibt.

Es wird weiter erkundet, weil dieser Salzstock der
Entsorgungsnachweis für die in Betrieb befindlichen
Atomkraftwerke ist. In dem Moment, in dem klar wäre,
dass Gorleben ungeeignet ist, müssten die Betriebsge-
nehmigungen zurückgenommen werden. Dass das im
Moment politisch nicht passt, ist vollkommen klar. Aber
daran wird deutlich, dass im Moment, genau wie in den
letzten 30 Jahren, nicht die Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger, nicht der Stand von Wissenschaft und Tech-
nik und nicht die Sorge um zukünftige Generationen im
Fokus Ihrer Betrachtungen stehen, sondern nur der Wei-
terbetrieb und die Möglichkeit, den Konzernen weiterhin
Geld zuzuschustern. Das hören wir Woche für Woche
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus der heuti-
gen Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der ein
mit der Erkundung befasster Ingenieur sagte:


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!)


Selbst mit den besten technischen Bauwerken – die man
bei Brücken oder Tunneln vielleicht verantworten kann,
die man bei Zeiträumen von 1 Million Jahre aber nicht
verantworten kann, weil man die Havarie unter Umstän-
den nicht mehr feststellen wird – und unterirdischen
Maßnahmen wird man aus einem maroden Kübelwagen
keinen Mercedes machen. – Genau darum geht es. Es ist
längst widerlegt, dass die Grundvoraussetzungen, die Sie
am Anfang immer eingefordert haben, zum Beispiel ein
intaktes Deckgebirge, erfüllt sind. Sie versuchen weiter-
hin, Möglichkeiten zu finden, um diesen Salzstock zu





Dorothee Menzner


(A) (C)



(D)(B)

rechtfertigen, obwohl längst deutlich ist: Die Eignung ist
nicht gegeben.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD – Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709036300

Angelika Brunkhorst ist nun die nächste Rednerin für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1709036400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die SPD nimmt das Angebot des Bundesumweltminis-
ters zum offenen Dialog mit den Bürgern vor Ort heute
zum Anlass, um erneut die Unterbrechung der Erkun-
dungsarbeiten für die Dauer des Untersuchungsaus-
schusses zu fordern. Das haben Sie schon mehrfach ver-
sucht. Sie wissen ganz genau, dass das unsinnig ist;


(Ute Vogt [SPD]: Weil Sie sich nicht trauen!)


denn im Untersuchungsausschuss zu Gorleben wird das
Regierungshandeln der Vergangenheit untersucht, nicht
aber die Eignung bzw. Nichteignung


(Ute Vogt [SPD]: Das wirkt doch bis heute nach!)


des Salzstockes Gorleben festgestellt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das sollten wir hier doch noch einmal festhalten.

Ihre Forderung ist entlarvend; das hat meine Vorred-
nerin, Frau Flachsbarth, auch schon gesagt. Es geht Ih-
nen nicht um Aufklärung, um zu wissen, was mit dem
Salzstock ist, sondern es geht Ihnen darum, die Entschei-
dung über die Endlagerfrage weiter zu verzögen. Ich
kann Ihnen sagen: Das machen wir so nicht mit. Denn
dem Bund obliegt die Aufgabe, die Endlagersuche vo-
ranzutreiben. Die christlich-liberale Koalition stellt sich
dieser Verantwortung, und wir werden diesen Standort
auch weiterhin ergebnisoffen erkunden lassen. Das
heißt, wenn er nicht geeignet ist, dann wird dort auch
kein Endlager gebaut.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jahre verloren!)


Ich muss an dieser Stelle noch einmal sagen: In den
rund zehn Jahren, in denen die SPD mit an der Regierung
war – ich betone dies natürlich immer wieder gerne –,
sind wir keinen Schritt weitergekommen. Damals wurde
der Ausstiegskonsens mit dem Hinweis bestätigt, dass
die geologischen Befunde nicht gegen eine Eignungs-
höffigkeit des Standorts Gorleben sprechen. Darüber
kann man sich ja streiten, aber ich frage Sie: Warum ha-
ben Sie diese zehn Jahre verdammt noch mal nicht ge-
nutzt? – Sie hätten vieles auf den Weg bringen können.
Es ist aber nichts passiert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir finden in Ihrem An-
trag das große Wehgeschrei darüber, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Die
Arbeiten im Rahmen der Erkundung betreffen die Natur;
es sind bergmännische Tätigkeiten. Es geht um Fragen
der Geologie und Hydrologie. Diese Aspekte finden na-
türlich im Bergrecht ihren Niederschlag.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum dann altes Bergrecht?)


Das Atomrecht kümmert sich um Strahlenschutz. Im
Moment gibt es im oder um den Berg herum allerdings
noch keine strahlenden Abfälle. Deswegen ist das Atom-
recht im Moment nicht relevant.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich, am Berg! Zwischenlager!)


– Die Zwischenlager sind auf Initiative des damaligen
Umweltministers Trittin eingerichtet worden, Frau
Kotting-Uhl. Bitte erinnern Sie sich doch einmal.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber reden Sie nicht so einen Mist, da sei kein hochgradig strahlender Müll in der Nähe!)


Im Untersuchungsausschuss ist auch klar geworden,
dass es bereits in der Vergangenheit Öffentlichkeitsbetei-
ligung, Aufklärung und Informationen gab.


(Ute Vogt [SPD]: Ja, bei der sozial-liberalen Koalition, als Sie noch liberal waren!)


Es sind viele Fachvorträge gehalten worden. Es sind
Bohrergebnisse veröffentlicht worden, und es ist natür-
lich auch die Gorleben-Kommission zur Information der
Kommunalpolitiker und Verbände eingerichtet worden.
Letztendlich hat es auch das Informationszentrum gege-
ben. Insofern können wir uns überhaupt nicht darum he-
rumdrücken.

Die Erkundungen werden fortgeführt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden scheitern!)


– Warten Sie es doch ab.

Darüber hinaus wollen Sie, dass wir die Möglichkeit
der Enteignung zurücknehmen. Es gibt zwei Gründe,
weswegen wir das nicht machen werden.

Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf. Da
muss ich Ihnen sagen: Über Gesetzesänderungen ent-
scheiden immer noch wir im Parlament, also der Deut-
sche Bundestag. Insofern ist die Bundesregierung der
falsche Adressat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zweitens. Die Möglichkeit der Enteignung ist das al-
lerletzte Mittel zur Sicherstellung der Endlagerung. Das
Grundgesetz und auch viele Fachgesetze sehen die Ent-
eignung als Ultima Ratio für Großprojekte ausdrücklich





Angelika Brunkhorst


(A) (C)



(D)(B)

vor. Sie wird natürlich nur dann zur Anwendung kom-
men, wenn es absolut unumgänglich ist.

Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dass
die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags des Bundes,
eine Endlagereinrichtung zu erkunden und einzurichten,
durch die Weigerung eines einzigen Eigentümers ge-
stoppt werden kann. Die Rechte und Möglichkeiten des
Eigentümers, das Land zu nutzen, um weiterhin Land-
und Forstwirtschaft zu betreiben, werden noch nicht ein-
mal beeinträchtigt. Vielmehr geht es darum, im tiefen
Untergrund Schächte auffahren zu können, um Erkun-
dungen vorzunehmen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl nicht wahr, was Sie uns jetzt erzählen!)


– Doch, das ist wahr.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Bereits
von 1998 bis 2002 war die Enteignungsmöglichkeit Be-
standteil des Atomgesetzes. Wenn Sie von der SPD oder
vielleicht auch andere hier im Raum daran glauben,


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Ihre eigene Kreistagsfraktion doch auch!)


dass man solche Großprojekte konsensual durchsetzen
kann, dann bewundere ich Sie für Ihre Träume.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Vertrauen Sie den Bürgern nicht? – Ute Vogt [SPD]: Schauen Sie in die Schweiz!)


– Auch dort wird es Proteste geben, wenn es letztlich zur
Umsetzung kommt.

Ich möchte hier an dieser Stelle noch einmal zwei Zi-
tate bringen:

Es hat 2001 ja eine Anhörung zum Atomkonsens ge-
geben. Das BfS hat dort damals gesagt – ich zitiere –:

Die Enteignungsvorschriften werden zwar zurzeit
nicht benötigt, müssen aber zum gegebenen Zeit-
punkt im Atomgesetz vorhanden sein.

In das gleiche Horn hat damals die Industriegewerk-
schaft Bergbau, Chemie, Energie gestoßen:

Die jetzige Aufhebung dieser Bestimmungen wird
alles andere als hilfreich sein, wenn die zügige Er-
richtung von Anlagen zur Endlagerung notwendig
ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass die FDP die IG BCE zitiert, habe ich auch noch nicht erlebt!)


Derzeit gibt es weder im Bergrecht noch im Atom-
recht Möglichkeiten der Enteignung zum Zwecke der
Erkundung. Deswegen haben wir das in den § 9 d ff. des
Atomgesetzes wieder eingeführt.

Ein weiterer Sachverständiger, Herr Professor Georg
Hermes – er ist Professor für Öffentliches Recht –, hat in
dieser Anhörung damals gesagt – ich zitiere –:
Die Aufhebung von den Enteignungsvorschriften
… kann nur so verstanden werden, dass ein Endla-
ger nicht ernsthaft verwirklicht werden soll.

Wollen Sie sich anheften lassen, dass Sie gar kein Endla-
ger wollen? Sie waren ja auch dafür, das Moratorium bis
in alle Ewigkeiten fortzuführen. Man muss Ihnen wirk-
lich unterstellen, dass Sie am Endlager nicht wirklich in-
teressiert sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich sehe die 12. Atomgesetz-Novelle als richtige Vo-
raussetzung an. Sie wird uns handlungsfähig machen. Je-
der Eigentümer kann die Rechtmäßigkeit der Enteignung
natürlich auch gerichtlich überprüfen lassen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709036500

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1709036600

Ja. – Ich möchte gerne noch Frau Menzner ganz kurz

ansprechen. Sie haben gesagt. Wenn Gorleben als mögli-
cher Standort entfällt, dann ist die Laufzeitverlängerung
nicht mehr legitimiert. – Ich muss Ihnen sagen: Auch un-
ter Rot-Grün sind die Kernkraftwerke gelaufen. Auch
damals hatte man Zwischenlager. Wir haben diese Zwi-
schenlager weiterhin. Die Zwischenlager waren und sind
Legitimation dafür, dass die Laufzeiten auch verlängert
werden können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Matthias Miersch [SPD]: Dann können Sie das jetzt ja erst einmal stoppen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709036700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709036800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was hat die Koalition in Bezug auf Gorleben als Erstes
getan? Sie hat die Wiederaufnahme der Arbeiten an Gor-
leben beschlossen, anstatt das Instrumentarium, das nach
der Zeit von Rot-Grün endlich vorlag, zu nutzen, um
eine transparente, ergebnisoffene Endlagersuche vorzu-
nehmen.

Warum sie das getan hat, ergibt sich logischerweise
aus der geplanten und dann auch beschlossenen Lauf-
zeitverlängerung. Es ging wieder einmal um den Entsor-
gungsvorsorgenachweis, den man dringend brauchte,
und man konnte sich wieder einmal keine Verzögerung
leisten. Das kennen wir ja spätestens aus dem Untersu-
chungsausschuss zu Gorleben. Es geht immer darum,
dass die Zeit drängt und dass man vorankommen will,
weil man ein Atomprogramm im Kopf hat. So fügt sich
eines zum anderen.

Als Nächstes haben Sie dann den § 9 d ins Atomge-
setz eingefügt. Sie wollen nach Atomrecht enteignen,
um dann nach Bergrecht weiterzubauen, und zwar nach
einem uralten Rahmenbetriebsplan von 1983, der in kei-





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)

ner Weise etwas mit dem zu tun hat, was dort seitdem
gebaut wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Schächte stimmen nicht, die Erkundungsbereiche
stimmen nicht, und die Richtstrecken gehen nach Nor-
den statt nach Süden. Nichts stimmt mit diesem alten
Rahmenbetriebsplan überein.

Warum nehmen Sie den? Auch das liegt völlig auf der
Hand: Sie wollen keine Öffentlichkeitsbeteiligung, es
geht ausschließlich nach altem Bergrecht. Das ist der
einzige Grund dafür, dass Sie das machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Auf den letzten Metern des 100-Meter-Laufs dürfen die Bürger nicht mehr stören!)


Jetzt bieten Sie großzügig den Dialog an. Ich habe
diese schöne große Anzeige, mit der hier geworben wird,
einmal mitgenommen und möchte einfach einmal ein
paar Stellen daraus zitieren. Sie werben:

Sollte sich der Salzstock als ungeeignet erweisen,
müssen wir neue Wege finden.

Worauf warten Sie denn? Sie sind offensichtlich da-
von überzeugt – das stelle ich Ihnen anheim; Sie haben
ja manchmal eigenartige Vorstellungen –, dass dieser
Salzstock trotz allem, was gerade Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, im Untersuchungsausschuss hören, geolo-
gisch geeignet ist. In Ihren Augen ist das so. Er ist aber
gesellschaftspolitisch nicht geeignet. Wie wollen Sie
denn heilen, dass dort kein sozialer Prozess stattgefun-
den hat?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist etwas anderes! Dann sagen Sie mir einen gesellschaftlich akzeptierten Standort! Was ist denn das für eine Argumentation? Wo ist denn der gesellschaftlich akzeptierte Standort? In Baden-Württemberg?)


– Mit Ihnen rede ich im Moment gar nicht.

Ich zitiere eine Zeugin aus dem Untersuchungsaus-
schuss. Sie sagte: „Ich habe mein Vertrauen in Politiker
verloren.“ Marianne Fritzen, eine konservative alte
Dame, ist die Begründerin der BI Lüchow-Dannenberg.
Sie hat uns im Untersuchungsausschuss berichtet, dass
sie sich beobachtet, bedroht und mit ihren Fragen nicht
ernst genommen gefühlt hat und dass sie sich den Zu-
gang zur Gorleben-Kommission erschleichen musste,
wenn sie an dem damaligen Dialogangebot teilnehmen
wollte.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Die glatte Unwahrheit! Wenn sie teilnehmen wollte, konnte sie teilnehmen!)


– Das ist die Wahrheit, Herr Grindel. Sie dürfen gerne
eine Zwischenfrage stellen.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein! Dann dürfen meine Kollegen das noch länger anhören!)


Dann gehe ich gerne darauf ein. Aber auf Ihre dummen
Zwischenrufe, die ich schon aus dem PUA kenne, re-
agiere ich nicht.


(Michael Kauch [FDP]: Sie haben doch schon reagiert!)


Ich mache weiter und zitiere noch einmal aus der
schönen Anzeige:

Sicherheit steht für uns kompromisslos an allerers-
ter Stelle.

Warum ignorieren Sie dann das nicht intakte Deckge-
birge, die Nähe zum Anhydrit und die Gasvorkommen?
Warum werden warnende Wissenschaftler diskreditiert?
Warum das alles, wenn Sicherheit kompromisslos an ers-
ter Stelle steht? Das glauben Ihnen die Menschen vor Ort
nicht mehr, und zwar zu Recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Anschließend soll ein Peer Review das Ganze heilen.
Wer aber hat denn weltweit Erfahrungen mit Salz? Kein
Land außer Deutschland versucht Endlagerung im Salz.
Wir haben die Erfahrungen in Asse und Morsleben. Das
sind die Erfahrungen mit Salz, die es gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich zitiere weiter:

Zur Unterstützung des Dialogs werden finanzielle
Mittel zur Verfügung gestellt – zum Beispiel für
die Hinzuziehung von Experten, für Weiterbil-
dungsmaßnahmen oder auch für geeignete Räum-
lichkeiten für Veranstaltungen. Wir stellen uns vor,
in regelmäßigen Diskussionsveranstaltungen ge-
meinsam über die Ergebnisse zu beraten. Außerdem
muss es umfangreiche Möglichkeiten für Besuche-
rinnen und Besucher geben, sich selbst ein Bild
vom Erkundungsbergwerk Gorleben zu machen.

Das sagt ein Minister, der bis zum Beschluss der AtG-
Novelle den Salzstock Gorleben noch nie von innen ge-
sehen hatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie haben eine Menge Fehler gemacht. Sie haben
ohne Not die Laufzeitverlängerung und die Vermehrung
des Atommülls beschlossen. Sie halten trotz aller Zwei-
fel an Gorleben fest und machen da weiter, wo Merkel
und Kohl 1998 gestoppt wurden. Als letzte vertrauens-
bildende Maßnahme schreiben Sie die Enteignung im
Atomgesetz fest.

Jetzt kommen Sie mit einem vergifteten Dialogange-
bot. Wundern Sie sich nicht, dass die Menschen vor Ort
das nicht annehmen. Es ist höchste Zeit, mit Menschen,





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)

die ernst genommen werden müssen, anders umzugehen.
Lernen Sie das!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709036900

Nun hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1709037000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Ergebnisoffen und transparent soll der Salzstock
Gorleben zu Ende erkundet werden. Dies war nicht nur
ein Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf 2009,
sondern es wird von Minister Norbert Röttgen mit der
Vorstellung des Dialoges auch eingelöst.

Das Dialogkonzept wird, wie bereits gesagt wurde,
am kommenden Montag im Kreistag von Lüchow-Dan-
nenberg in Hitzacker präsentiert. Ich finde es sehr inte-
ressant, Herr Dr. Miersch, dass Sie das Konzept schon
im Vorfeld als Pseudodialog und Makulatur verurteilen.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Wenn Sie heute nicht mitmachen! Dann ja!)


– Sie kennen es doch gar nicht. Nun warten Sie erst ein-
mal ab, was kommt. Die christlich-liberale Koalition
wird die Menschen umfassend über jeden einzelnen
Schritt der Sicherheitsanalyse, der Erkundungsmaßnah-
men und auch des Peer Reviews umfassend informieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch schon Anzeigen! Da steht doch schon alles drin! – Ulrich Kelber [SPD]: Informieren ist keine Bürgerbeteiligung!)


– Hören Sie zu! – Zudem werden die Menschen in der
Region die Möglichkeit haben, sich bei der Gestaltung
des Dialoges einzubringen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie kommen Ihrer Aufgabe als Wahlkreisabgeordneter nicht nach! Geben Sie Ihr Mandat zurück!)


Wir haben doch selbst ein großes Interesse daran, dass
alle Argumente, egal ob für oder wider die Eignung Gor-
lebens, auf den Tisch kommen. Ich kann Sie daher nur
alle einladen, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, die ausgestreckte Hand des Ministers zu ergreifen
und sich an dem Dialog zu beteiligen.

Als direkt gewählter Abgeordneter dieses Wahlkrei-
ses habe ich auch laufend mit dem Thema Gorleben zu
tun. Die Menschen in der Region Gorleben und in der
Samtgemeinde Gartow sehnen sich nach einer Antwort,
ob der Salzstock Gorleben geeignet ist oder nicht.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Sie fragen nicht in Gorleben!)


Sie argumentieren, wir hätten die Entscheidung zur
Erkundung getroffen, ohne die Bürger zu beteiligen.
Rot-Grün hat das Moratorium auf maximal zehn Jahre
begrenzt. Dieses Moratorium ist jetzt ausgelaufen, und
die logische Konsequenz ist ja dann, dass die von Ihnen
festgelegten zehn Jahre vorbei sind, sodass ergebnis-
offen weiter erkundet wird.


(Zuruf von der SPD)


Es muss nun endlich Schluss sein! Zehn Jahre lang
haben Sie diese Region und ihre Menschen in Geiselhaft
genommen, zehn Jahre lang haben Sie die Suche nach
einem Endlager nicht vorangetrieben, auch anderswo
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch bis heute ist nicht klar, wie die SPD mit der Pro-
blematik hochradioaktiver Abfälle umgehen will. Brin-
gen Sie doch erst einmal vernünftige, konkrete Kon-
zepte!

Sie stellen sich überall auf die Marktplätze und tönen
herum, der Salzstock Gorleben sei ungeeignet und da-
rüber hinaus sowieso ein Schwarzbau. Aber während
Ihrer Regierungszeit haben Sie es auch nicht fertig-
gebracht, das Projekt Gorleben einfach zu beerdigen.


(Zuruf von der LINKEN: Dann mach es doch besser!)


Den sogenannten Schwarzbau haben Trittin und Gabriel
jahrelang munter geduldet. Warum hat Rot-Grün denn
nicht den Deckel auf das Erkundungsbergwerk gelegt?
Erstens, weil Sie dann die Frage nach einem anderen
möglichen Standort hätten beantworten müssen. – Frau
Vogt, in Baden-Württemberg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens, weil die Herren Trittin und Schröder am
14. Juni – wir haben es schon gehört – die Äußerung un-
terschrieben haben, dass die bisher gewonnenen geologi-
schen Befunde einer Eignungshöffigkeit, Frau Voß, des
Salzstocks Gorleben – dieser Ausdruck kommt ja auch
aus den Reihen von Rot-Grün – nicht entgegenstehen.
Das haben sie unterschrieben.

Ferner bemängeln Sie erneut, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Wir
haben das schon gehört. Bloß, die Erkundung kann ja
nur nach Bergrecht erfolgen, weil es sich um ein Erkun-
dungsbergwerk und nicht um eine nukleare Anlage han-
delt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709037100

Herr Kollege Pols, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Herrn Kollegen Kelber?


Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1709037200

Herr Kelber.


(Patrick Döring [FDP]: Der soll sich von seiner Fraktion auf die Rednerliste setzen lassen!)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1709037300

Je häufiger Sie Nein schreien, desto mehr Spaß macht

es mir ja. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir kein
Verfahren begonnen hätten, um auch mögliche andere





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

Standorte zu finden. Sie sind ja seit 2009 Mitglied des
Deutschen Bundestags. Haben Ihre Kolleginnen und
Kollegen, die schon länger Mitglied sind, Sie nicht da-
rüber informiert, dass die Fraktion der CDU/CSU im
Jahr 2006 einen Entwurf für ein Endlagersuchgesetz in
der Großen Koalition abgelehnt hat?


(Beifall bei der SPD)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1709037400

Ja, darüber haben sie mich informiert, aber die Kolle-

gen haben gleichzeitig gesagt, dass wir Gorleben zu
Ende erkunden wollen. Wir wollen die Erkundung von
Gorleben nicht abbrechen; denn wir wollen wissen, was
in Gorleben möglich ist. Ist Gorleben geeignet oder
nicht? Das ist die ganz einfache Frage, die wir beantwor-
ten wollen, und nichts anderes, Herr Kelber.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Dorothee Menzner [DIE LINKE])


Frau Menzner, auch die Behauptung, das Angebot des
Dialogs komme zu spät, ist ein sehr schwaches Argu-
ment. Denn bereits im Mai 2010, also ein gutes halbes
Jahr nach der Bundestagswahl, hat sich Minister Röttgen
gemeinsam mit gewählten Vertretern der Standortkom-
munen – und das auch unter Beteiligung der örtlichen
SPD – darüber unterhalten, wie ein Dialog aussehen
könnte.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja, sehen Sie mal!)


Also ist dieses Argument auch nur ein Scheinargument.

Wir haben auch gegenüber den nachfolgenden Gene-
rationen die Pflicht, dieses Entsorgungsproblem zu lö-
sen. Denn unsere Generation hat die Kernenergie ge-
nutzt, wir haben davon profitiert. Zudem brauchen wir ja
auch eine Lösung für die Zeit – das ist ja das, was Sie
auch wollen –, wenn die Kernkraftwerke zurückgebaut
werden. Dann müssen die kontaminierten Bauteile ja
auch irgendwo gelagert werden. Auch darüber muss man
sich dann mal Gedanken machen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht im Salzstock von Gorleben! Sie haben ja keine Ahnung! – Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben überhaupt keine Ahnung!)


Dann noch mal zur Forderung, die Möglichkeit zur
Enteignung zurückzunehmen. In der Diskussion wird
immer wieder der Eindruck erweckt, wir würden dem
Grafen Bernstorff seinen Wald wegnehmen. Das ist na-
türlich völliger Quatsch. Wir wollen auch keine Bürger
aus ihren Häusern vertreiben. Es geht hier tatsächlich um
Salzrechte in Tausenden von Metern Tiefe, die wir gege-
benenfalls mal erkunden wollen.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Die Möglichkeit zur Enteignung ist im Übrigen bei In-
frastrukturmaßnahmen natürlich eine ganz normale
rechtliche Regelung – Frau Brunkhorst hat das schon an-
gesprochen –,

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


die wir im Bundesbaugesetzbuch finden.

Die Allgemeinheit muss also die Möglichkeit haben,
sich bei national bedeutsamen Maßnahmen auch über
den Weg der Enteignung und der damit verbundenen
Entschädigung die entsprechenden Flächen – in diesem
Falle die Salzrechte in Gorleben – zu sichern.

Rot-Grün hat mit dem Moratorium die Region in eine
über zehnjährige Ungewissheit gestürzt. Ich finde es
schon sehr anmaßend, dass ausgerechnet Sie glauben, zu
wissen, wie die Bürgerinnen und Bürger das Dialogkon-
zept bewerten, zumal es ja noch gar nicht bekannt ist,
wie ich am Anfang auch schon ausführte.

Ich frage Sie: Wo war die Bürgerbeteiligung unter
Trittin, und wo war sie unter Gabriel? Die gab es gar
nicht.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bürger beschweren sich jetzt! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, au-
ßer Ihrem Dagegensein präsentieren Sie leider wieder
einmal gar nichts. Nehmen Sie doch lieber die Chance
zum Dialog wahr, die wir Ihnen anbieten. Beteiligen Sie
sich mit naturwissenschaftlich fundierter Kritik an die-
sem Dialog zum Erkundungsprozess, und präsentieren
Sie uns Vorschläge, wie wir mit dem Problem dieser
hochradioaktiven Abfälle verfahren sollen.


(Zuruf von der SPD: Ich dachte, Sie wüssten, dass es ein Endlager ist!)


Dann nehmen wir Ihre Anträge wieder ernst. Ihr An-
trag ist viel zu dünn. Sie haben es gerade einmal auf eine
DIN-A4-Seite gebracht. Das ist angesichts dieses hoch-
brisanten Themas von nationalem Interesse sehr schwach.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709037500

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute

Vogt für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1709037600

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin,

mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Umweltminister zi-
tieren. Er sagt:

Da geht es nicht nur um Information und Transpa-
renz. Das ist das Angebot einer aktiven Teilhabe,
das es so noch nicht gegeben hat.


(Beifall bei der SPD)


Nachdem im Deutschen Bundestag im Herbst letzten
Jahres ein Gesetz verabschiedet worden ist, das die
Müllmenge beim atomar strahlenden Müll um mehrere
Tausend Tonnen zusätzlich erhöht, das für Gorleben





Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)

mehrere hundert Castoren zusätzlich bedeutet, nachdem
Sie im Herbst 2010 beschlossen haben, dass in Gorleben
Enteignungen stattfinden sollen und es zur Neuerkun-
dung des Bergwerks kommt, stellt sich der Minister hin
und erzählt etwas von einem Dialog. Das ist kein Dialog.
So, wie der Minister es vorbringt, ist es ein Pseudodia-
log, der die Menschen im Wendland verhöhnt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein Dialog hat dann einen Sinn, wenn mitgeredet wer-
den kann und noch die Möglichkeit zu einer Entschei-
dung besteht. Ein Dialog, der nur noch dazu dient, die ei-
genen Entscheidungen zu rechtfertigen, hat nichts mehr
mit einem Gespräch zu tun. Es ist vielmehr der Versuch,
zu beschönigen und Publizität zu erlangen. Das ge-
schieht in einer Atmosphäre, in der man die Menschen
vor vollendete Tatsachen stellt.


(Zuruf der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ CSU])


– Frau Flachsbarth, wenn Sie sagen, in dem Gorleben-
Untersuchungsausschuss gehe es nur um Regierungs-
handeln in der Vergangenheit,


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist so! Das ist der Auftrag!)


dann haben Sie insofern recht, als das der Untersu-
chungsgegenstand ist.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Absolut!)


Ich bitte aber die Kolleginnen und Kollegen aus dem
Untersuchungsausschuss, deutlich wahrzunehmen, dass
das Regierungshandeln aus der Vergangenheit für die
Menschen im Wendland heute handfeste und spürbare
Folgen nach sich zieht.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Natürlich!)


Ihr Verhalten können wir nicht akzeptieren. Wir kom-
men mehr und mehr zu dem Ergebnis, dass es damals
nicht mit rechten Dingen zuging, dass wissenschaftliche
Erkenntnisse nicht zum Tragen gekommen sind,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist die glatte Unwahrheit!)


dass man noch nicht einmal die Empfehlungen zu alter-
nativen Standortuntersuchungen wahrgenommen hat,
dass der Stand von Wissenschaft und Technik nicht be-
rücksichtigt worden ist. Das haben wir heute Morgen
erst gehört. In einer solchen Situation sagen Sie: Wir ma-
chen weiter wie bisher, das, was in der Vergangenheit
war, interessiert uns nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Das ist die Unwahrheit!)


Was in der Vergangenheit rechtswidrig war, kann doch
nicht heute plötzlich rechtmäßig sein, nur weil es 20
oder 30 Jahre her ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist ein falsches Rechtsverständnis, das Sie hier an
den Tag legen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es war interessant, dass Sie vorhin selbst gesagt ha-
ben – das fand ich bemerkenswert, liebe Frau
Flachsbarth –, es gehe bei Gorleben um die letzten Me-
ter.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Natürlich!)


Da habe ich in der Tat aufgemerkt. Nach der Maßgabe
des Ministers geht es doch eigentlich gar nicht um die
letzten Meter. Der Minister erzählt uns immer, er wolle
alles ergebnisoffen gestalten. Sie haben die Wahrheit ge-
sagt: Es sind die letzten Schritte, weil Sie Gorleben brau-
chen. Gorleben ist für Sie notwendig, um die Atomkraft
überhaupt noch rechtfertigen zu können. Ohne dieses
Lager könnten die Laufzeiten nicht verlängert werden,
und die Atomkraftwerke müssten schon längst geschlos-
sen sein.

Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir es
in unserem Moratorium geschafft, ein Verfahren für eine
alternative Standortsuche zu entwickeln, bei der die Bür-
gerinnen und Bürger einbezogen werden. Wenn Sie wis-
sen möchten, wie das funktioniert, dann empfehle ich Ih-
nen einen Blick in die Schweiz. Dort werden sogar
Bürgermeister Ihrer Partei, die in Südbaden leben, in die
Verfahren einbezogen. Man redet von Anfang an mit den
Menschen, und Alternativen werden geprüft, um die
beste Lösung zu finden.

Das ist das Verfahren, das Rot-Grün entwickelt hat.
Sie haben 2006 verhindert, dass dieses Verfahren in
Deutschland zur Anwendung kommt.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Machen Sie sich doch nicht lächerlich!)


Das hätte Akzeptanz geschaffen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


aber nicht Ihre Beschlüsse und die Politik der vollende-
ten Tatsachen, die Sie hinterher mit einem Pseudodialog
rechtfertigen wollen. Sie haben nur noch die folgende
Möglichkeit: Nehmen Sie unser niederschwelliges An-
gebot an. Stimmen Sie dem Antrag zu. Dann können Sie
wenigstens ein bisschen von der Dialogbereitschaft ret-
ten und zeigen, dass es Ihnen ernst damit ist, die Men-
schen mitzunehmen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Ihre Rede war auch kein Beitrag zur Dialogbereitschaft!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709037700

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4678 mit dem
Titel „Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür
haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die
Koalitionsfraktionen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehn-
ten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-
gesetzes

– Drucksache 17/4231 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/4720 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Undine Kurth (Quedlinburg)


Interfraktionell wurde vereinbart, dass die Reden zu
Protokoll gegeben werden, sodass wir gleich zur Ab-
stimmung kommen.1) Der Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4720, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/4231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Alle Waffenexporte des Oberndorfer Klein-
waffenherstellers verbieten

– Drucksache 17/4677 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)


1) Anlage 3
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709037800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute

Abend geht es um Maschinenpistolen und um Sturmge-
wehre, es geht um einen deutschen Waffenhersteller, der
möglicherweise solche Waffen illegal exportiert hat, und
es geht darum, dass die Bundesregierung darauf bis
heute überhaupt nicht angemessen reagiert hat. Wir von
den Linken finden es grundsätzlich falsch, dass Deutsch-
land überhaupt Geld damit verdient, Waffen in alle Welt
zu exportieren. Das ist schmutziges Geld,


(Beifall bei der LINKEN)


weil alle diese Waffen irgendwann irgendwo im Krieg
landen. Das gilt vor allem für Kleinwaffen. Kleinwaf-
fen – das hört sich immer so niedlich an, aber Kleinwaf-
fen sind Maschinenpistolen, Sturmgewehre und Kalasch-
nikows und wie sie alle heißen. In den Kriegen dieser
Welt sterben mehr Menschen durch Kleinwaffen als durch
alle anderen Waffensysteme zusammengenommen.

Es gibt eine Zahl von UNICEF, die wirklich beeindru-
ckend ist. Jeden Tag werden über 1 300 Menschen mit
Kleinwaffen erschossen, in jeder einzelnen Minute gibt
es einen Toten durch Kleinwaffen. Einer der größten Ex-
porteure für Kleinwaffen ist der deutsche Hersteller
Heckler & Koch aus Baden-Württemberg. Es gibt Schät-
zungen, dass Heckler & Koch mittlerweile 7 Millionen
bis 10 Millionen Waffen weltweit im Umlauf hat. Es gibt
keinen einzigen Konflikt auf der Welt, in dem nicht auch
eine Waffe von Heckler & Koch dabei ist. Ob das ein
Volksaufstand in Thailand ist, ob das in Ägypten ist oder
in Saudi Arabien – überall finden Sie diese Waffen. Das
zeigt vor allem eines: dass die deutsche Rüstungsexport-
kontrolle praktisch nicht existiert. Sie ist löcherig wie
ein Schweizer Käse; denn es gibt fast keine Waffe, die
nicht in fast alle Länder dieser Welt exportiert werden
darf. Es wird fast alles erlaubt.

Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Eine dieser Ausnah-
men betraf Heckler & Koch. Damit sind wir bei dem
Fall, um den es geht. Heckler & Koch hatte die Geneh-
migung, Sturmgewehre nach Mexiko zu liefern. Die
Bundesregierung hat aber die Auflage erteilt, dass
Heckler & Koch in vier Provinzen von Mexiko nicht lie-
fern darf, weil es dort blutige Unruhen gibt. Seit Jahren
kämpfen dort Drogenbarone gegen die Polizei. Das sind
Unruheprovinzen. Die Bundesregierung hat gesagt: dort-
hin nicht.

Es gab eine Strafanzeige, es gibt Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft, weil der dringende Tatverdacht be-





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

steht, dass Heckler & Koch trotzdem auch in diese vier
Provinzen Sturmgewehre geliefert hat. Das Verfahren
läuft noch. Aber was macht die Bundesregierung? Sie
hat eine Entscheidung getroffen, die absolut unlogisch
und unverständlich ist. Das muss man sich einmal vor-
stellen. Sie sagt: Okay, es gibt ein staatsanwaltschaftli-
ches Verfahren, deswegen werden die Genehmigungen
für Heckler-&-Koch-Exporte nach Mexiko ausgesetzt.

Das müssen Sie mir einmal erklären. Entweder ist
diese Firma zuverlässig. Dann darf sie überall hin expor-
tieren. Oder man sagt: Nein, es besteht ein dringender
Tatverdacht, es wird eine kriminelle Machenschaft ver-
mutet. Dann ist die Firma insgesamt unzuverlässig, und
dann darf sie nicht nur nicht nach Mexiko, sondern in die
ganze Welt nicht exportieren.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Gibt es jetzt ein staatsanwaltschaftliches Verfahren, oder nicht?)


Wir fordern heute als Einziges, dass Heckler & Koch
bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersu-
chung überhaupt nichts mehr exportieren darf. Ich finde
das nur logisch. Mir muss bitte irgendjemand von der
FDP, von der CDU oder von der CSU erklären, wieso
Sie dieser Firma, bei der im letzten Dezember eine
Hausdurchsuchung stattgefunden hat, immer noch erlau-
ben wollen, dass sie ihre Kleinwaffen in die ganze Welt
außer nach Mexiko liefern darf. Das ist einfach nur unlo-
gisch.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/ CSU)


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte, und ich
finde, es ist eine richtig gute Idee, bei den tödlichsten al-
ler Waffen, bei den Kleinwaffen, damit anzufangen.

Ich danke Ihnen.


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Da sagt man einmal: „Verdacht“, und dann wird man verhaftet! Das ist Kommunismus! – Gegenruf des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist alles Kommunismus?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709037900

Die Kollegen Fritz, Hempelmann und Breil haben

ihre Reden zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzte
Rednerin in dieser Debatte die Kollegin Katja Keul für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort hat.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709038000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das letzte Wort für heute wollte ich nun doch
nicht der Linksfraktion überlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die im Raum stehenden Vorwürfe gegen Heckler &
Koch wiegen schwer. Dem Rüstungsunternehmen wer-
den Verstöße gegen das Waffen-, das Außenwirtschafts-

1) Anlage 4
und das Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. Im
Raum steht die bewusste Missachtung von Auflagen und
die Täuschung der Bundesregierung.

Im Sommer 2006 wurde die Ausfuhr von G-36-Ge-
wehren nach Mexiko mit Einschränkungen genehmigt.
Vier Unruheprovinzen sollten wegen der dort herrschen-
den Menschenrechtslage explizit nicht beliefert werden.
Im Norden Mexikos herrscht seit fünf Jahren ein erbit-
terter Krieg zwischen Polizei, Militär und Drogenkartel-
len, dem bereits mehr als 30 000 Menschen zum Opfer
gefallen sind. Menschenrechtsverletzungen sind an der
Tagesordnung, und regelmäßig werden neue Massengrä-
ber entdeckt.

Die Bundesregierung ließ sich die Einhaltung der
Auflagen per Endverbleibserklärung versichern. Den-
noch tauchten kurze Zeit später die Gewehre genau in
den verbotenen Provinzen auf.

2007 beantragte Heckler & Koch sogar die Genehmi-
gung für die Ausfuhr von Ersatzteilen in ebenjene Re-
gionen, in denen die Gewehre eigentlich gar nicht hätten
in Umlauf sein dürfen. Dokumente und Aussagen ehe-
maliger Mitarbeiter legen den Verdacht nahe, dass das
Unternehmen eine weitaus aktivere Rolle eingenommen
hat, als stets behauptet wird. Reiseunterlagen und Dan-
kesschreiben mexikanischer Stellen deuten auf Ausbil-
dungsmaßnahmen hin, die Heckler & Koch in den Unru-
heprovinzen durchgeführt haben soll. Von Bestechung
und Täuschung ist die Rede.

Ich teile daher die Einschätzung der Bundesregierung,
dass die erforderliche Zuverlässigkeit für die Genehmi-
gung von Waffenexporten durch diese Firma nicht mehr
vorausgesetzt werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Daher war es konsequent, die laufenden Ausfuhran-
träge auszusetzen. Nicht konsequent war es aber, die
Ausfuhranträge nur in Bezug auf Mexiko auszusetzen.
Denn das Kriterium der Unzuverlässigkeit bezieht sich
auf den Absender und nicht auf das Empfängerland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sollten sich die Vorwürfe im Rahmen der Ermittlun-
gen bestätigen, wären aufgrund der erwiesenen Unzu-
verlässigkeit keine Waffenexporte mehr zu genehmigen,
nicht nach Mexiko und nicht sonst wohin in der Welt.

Der Fall macht deutlich, wie sehr das deutsche Rüs-
tungskontrollsystem derzeit allein auf die Verlässlichkeit
und das Vertrauen in die Rüstungsexportunternehmen
angewiesen ist. Genehmigt wird der Export nur bei Vor-
lage einer Endverbleibserklärung. Der tatsächliche End-
verbleib wird aber durch die staatlichen Behörden man-
gels Kontrollmechanismus nicht überprüft. Gerade wenn
es um die Ausfuhr todbringender Waffen geht, müssen
wir aber für die Verlässlichkeit der Lieferanten unbe-
dingt einstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

Jahr für Jahr werden weltweit 370 000 Menschen
durch Kleinwaffen getötet. Wir bräuchten daher drin-
gend bessere Mechanismen, um den Verbleib deutscher
Waffen und ganz besonders auch deutscher Kleinwaffen
tatsächlich überprüfen zu können.

Als drittgrößter Waffenexporteur der Welt tragen wir
eine große Verantwortung für den Verbleib dieser Waf-
fen. Unser Rüstungskontrollsystem hat zwar einen gro-
ßen Anspruch, funktioniert aber nur, wenn die Exportun-
ternehmen verlässlich handeln. Solange irgendwelche
Zweifel an der Verlässlichkeit der Unternehmen beste-
hen, dürfen keine weiteren Ausfuhren genehmigt wer-
den. Deshalb halten auch wir es für sachgerecht, bis zum
Ende der laufenden Ermittlungen die Genehmigung von
Waffenexporten durch Heckler & Koch auszusetzen,
egal für welches Land sie bestimmt sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nun zu Ihnen: Warum allerdings in diesem Zusam-
menhang die Forderung nach einer Änderung des
Grundgesetzes erhoben wird, erschließt sich mir nicht.
Neben Rüstungsexporten gibt es noch eine ganze Menge
anderer Dinge, die ich nicht ausstehen kann. Sollen wir
die alle ins Grundgesetz schreiben? Das Grundgesetz ist
kein Verbotsgesetz und kein Strafgesetzbuch. Ins Grund-
gesetz gehören die Grundrechte und das Staatsorganisa-
tionsrecht. Das soll auch so bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein eigener Grundgesetzartikel wäre deutlich zu viel
der Ehre für Heckler & Koch.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709038100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4677 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung und Bera-
tung einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, bei
denen die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie
damit einverstanden, dass ich auf die Verlesung der Red-
nernamen verzichte? – Das ist der Fall.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b so-
wie Zusatzpunkt 7 auf:

14 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-
Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät-
zen für multinationale Unternehmen stärken

– Drucksachen 17/4196, 17/4613 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ullrich Meßmer
Serkan Tören
Stefan Liebich
Volker Beck (Köln)


b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei
den OECD-Leitsätzen für multinationale Un-
ternehmen

– Drucksache 17/4669 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die Revision der OECD-Leitsätze für multina-
tionale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen

– Drucksache 17/4668 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)

Zunächst zu Tagesordnungspunkt 14 a. Der Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4613, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4196 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 14 b sowie
Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird hier die Überwei-
sung der Vorlagen auf Drucksachen 17/4669 und 17/
4668 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie, wie ich sehe,
einverstanden. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

1) Anlage 5





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Artikel-115-Gesetzes

– Drucksache 17/4666 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4666 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit
sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Fairen Rohstoffhandel sichern – Handel mit
Seltenen Erden offenhalten

– Drucksache 17/4553 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.2)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksache 17/4553 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

EU-Freihandelsabkommen mit Indien stop-
pen – Verhandlungsmandat in demokrati-
schem Prozess neu festlegen

– Drucksachen 17/2420, 17/4616 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.

1) Anlage 6
2) Anlage 7

Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1709038200

Wir haben die Debatte zum Freihandelsabkommen,

FTA, der EU mit Indien im Deutschen Bundestag bereits
am 30. September 2010 ausführlich geführt. An der Hal-
tung der Unionsfraktion und an den aufgezeigten Argu-
menten, die für die Ablehnung des Antrages der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/2420 sprechen, hat
sich seitdem nichts geändert. Den Kolleginnen und Kol-
legen der Linksfraktion rate ich deshalb an, noch einmal
im Plenarprotokoll, Drucksache 17/62, S. 6564, nachzu-
lesen. Entgegen der Behauptung der Linken ist der poli-
tische Dialog seit April 2007 – der Europäische Rat hat
der Kommission während der deutschen Ratspräsident-
schaft das Mandat zu Verhandlungen über ein Freihan-
delsabkommen, FTA, mit Indien erteilt – dicht und kon-
kret. Mehrere Verhandlungsrunden haben zu Beginn des
neuen Jahres stattgefunden, zuletzt ein Treffen der Chef-
unterhändler vom 24. bis 28. Januar 2011 und eine Un-
terrichtung im handelspolitischen Ausschuss am 4. Fe-
bruar, in dem die Mitglieder fortlaufend über den Stand
der Verhandlungen unterrichtet wurden.

Ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen
Union liegt ausdrücklich in Indiens Interesse, auch
wenn die Fraktion Die Linke es gerne so darstellt, als
würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU zustande
kommen. Der auf indischer Seite verantwortliche Han-
dels- und Industrieminister Anand Sharma hat in der na-
tionalen und internationalen Presse mehrfach klarge-
stellt, dass das Abkommen mit der EU, die der größte
Handelspartner des Schwellenlandes ist, für Indien von
großer Bedeutung ist. Ein Fünftel seiner Exporte gehen
nach Europa. Schätzungen zufolge könnte durch das ge-
plante FTA das Handelsvolumen zwischen Europa und
Indien bis 2015 um 100 Milliarden auf 170 Milliarden
Euro anwachsen. Davon würden beide Akteure profitie-
ren. Besonders der Handel mit Dienstleistungen ist mit
einem Volumen von 16 Milliarden Euro von wachsender
Bedeutung für Indien und Europa.

Treu dem Motto „Täglich grüßt das Murmeltier“ ver-
sucht die Fraktion Die Linke, der EU und unserer Bun-
desregierung stets einen Vorwurf daraus zu machen, den
eigenen wirtschaftlichen Vorteil im Blick zu haben. Das
ärgert mich. Selbstverständlich muss die EU auch da-
rauf achten, dass ihre Interessen ausreichend vertreten
sind. Es kommt allen 27 Staaten, die der Europäischen
Union angehören, zugute, dass die EU Zutritt zum gro-
ßen Marktpotenzial Indiens erhält und sich unter ande-
rem für den Abbau tarifärer und nichttarifärer Handels-
hemnisse und für eine ansehnliche Marktöffnung im
Industriesektor, bei Banken, Versicherungen, Post und
Telekommunikation einsetzt.

Die Bundesrepublik Deutschland plädiert seit langem
als Indiens wichtigster Handelspartner in der EU für
den Abbau von Handelshindernissen. Nur so konnte der
deutsch-indische Handel nach Angaben des Bundesver-
bandes der Deutschen Industrie, BDI, im Jahr 2009
13 Milliarden Euro erreichen. Ziel sowohl Deutschlands
als auch Indiens ist es, bis 2012 den gemeinsamen Han-
del auf 20 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit dieses
ehrgeizige Ziel auch erreicht werden kann, unterstützt
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung
in ihren Bemühungen um weitere Liberalisierung im

Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)

Zollbereich und einer Öffnung des indischen Marktes für
öffentliche Beschaffungen. Vor allem für unsere deut-
schen Unternehmen, die im Jahr 2009 Waren- und
Dienstleistungen im Wert von 8 Milliarden Euro expor-
tierten, wäre ein umfassender Zollabbau für Industrie-
güter von Vorteil. Dieser Wert könnte höher sein, wenn
Hemmnisse beim Marktzugang abgebaut würden. Un-
sere Exporte werden durch hohe Zölle, Zusatzabgaben
und Normen behindert. Einfuhrzölle bis zu 60 Prozent
im Automobilsektor und zusätzliche Einfuhrabgaben er-
höhen die Gesamtbelastung teilweise auf mehr als
100 Prozent. Möglichkeiten für Kooperationen zwischen
deutschen und indischen Unternehmen sind aber nicht
nur in der Automobilindustrie erkennbar. Auch in der
Lebensmittelindustrie, bei der Verbesserung der indi-
schen Infrastruktur, aber auch in Branchen wie der
Pharmaindustrie und der Bio- und Nanotechnologie bie-
ten sich Felder der Zusammenarbeit an.

Selbst Manmohan Singh erkennt das Potenzial
Deutschlands als Wirtschaftsmotor der Welt und äußerte
sich, anlässlich des 11. EU-Indien-Gipfels „neue Hori-
zonte der Ausweitung des Handels zu ermöglichen“.
Diese Position des indischen Premiers nährt die Hoff-
nung des baldigen Abschlusses der FTA-Verhandlungen
mit der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens. Bisher sind
eine Reihe von Kapiteln fast abgeschlossen, die Ver-
handlungen zu Wettbewerb, Zollverfahren und Han-
delserleichterungen sind auf gutem Wege. Allerdings er-
fordert das ehrgeizige Ziel, ein Abkommen im Verlauf
dieses Jahres zu paraphieren, einen Durchbruch in den
politischen Verhandlungen im sensiblen Bereich des
Zollabbaus. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet
die Bundesregierung ausdrücklich darum, sich nach al-
len Kräften dafür einzusetzen, dass hier Fortschritte ge-
lingen können.

Unsere Bundeskanzlerin sagte anlässlich des 41. Welt-
wirtschaftsforums im schweizerischen Davos, eine ent-
scheidende Antwort zur Bewältigung der Wirtschaftskrise
sei der freie Welthandel. Damit gehen wir in der Union
d’accord! Trotz Erholung der Weltkonjunktur – auch In-
dien wurde eine Rückkehr zu seiner Wirtschaftsaktivität
von verschiedenen Seiten bescheinigt – ist es weiterhin
wichtig, dass Industrie- und Schwellenländer im Zusam-
menschluss globalen Handelsungleichgewichten vor-
beugen. Deshalb sind wir froh, zu hören, dass nun neue
Dynamik in die zähen WTO-Verhandlungen zum Ab-
schluss der Doha-Runde gekommen sind. Das Volumen
des zusätzlichen Handels, den das Abkommen ermögli-
chen würde, ist in einer Studie, die anlässlich des G-20-
Gipfels in Seoul von Deutschland, Frankreich und Groß-
britannien in Auftrag gegeben wurde, auf 360 Milliar-
den Dollar pro Jahr beziffert. Dies ist Anreiz genug, um
die nur noch verbleibenden 20 Prozent des Abkommens
auszuhandeln. Einigkeit muss bei den Subventionen für
Baumwolle und bei den Dienstleistungen erzielt werden.
Noch nie war die Gelegenheit so groß, das Abkommen
noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss
zu bringen. Indien sollte dabei in den Verhandlungen mit
einbeziehen, wie schnell die Entwicklung im eigenen
Land voranschreitet und wie sehr Indien selbst bereits
auf offene Märkte angewiesen ist. Mit einem Freihan-
delsabkommen der Europäischen Union und Indien bie-
Zu Protokoll
tet sich zugleich für die Bundesrepublik Deutschland die
Perspektive einer Intensivierung der Strategischen Part-
nerschaft, nicht nur, wie aufgezeigt, bei der Verstetigung
unserer guten Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch in
den Bereichen Ausbildung und Forschung.

Vor diesen aussichtsreichen Federn der künftigen Zu-
sammenarbeit schließen wir in der Union nicht die Au-
gen. Wir unterstützen das nach dem jüngst beschlosse-
nen Abkommen mit Südkorea zweite große erfolgreiche
Handelsprojekt der Europäischen Union und entspre-
chen der Beschlussempfehlung des federführenden Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie, Drucksache
17/4616. Der Antrag ist abzulehnen.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1709038300

Der Auf- und Ausbau eines fairen multilateralen Frei-

handels ist Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Entwicklung aller Länder und trägt gleichzeitig
dazu bei, den Wohlstand in Europa und Deutschland zu
wahren und zu mehren. Zusätzlich zu den multilateralen
Bemühungen können Freihandelsabkommen sinnvolle
Ergänzungen sein, jedoch müssen multilaterale Verträge
Priorität vor bilateralen Freihandelsabkommen haben.
Ich denke, darin stimmen wir mehrheitlich überein.
Nach wie vor muss oberstes Ziel sein, ein funktionieren-
des multilaterales Wetthandelssystem unter dem Dach
der WTO auf- und auszubauen. Dabei ist das Gebot der
Stunde, die seit 10 Jahren laufende Doha-Runde zum
Abschluss zu bringen. Ich denke, wir sind uns einig, dass
der derzeit zu verfolgende Trend zu bilateralen Abkom-
men als Indikator für das Versagen wichtiger Akteure im
multilateralen Verhandlungsprozess zu bewerten ist.
Alle Bemühungen, den Doha-Prozess wieder anzukur-
beln und zum Laufen zu bringen, dürfen nicht durch bi-
laterale Freihandelsabkommen zunichte gemacht wer-
den. Bilaterale Abkommen dürfen keine Motivation aus
den multilateralen Verhandlungen des Doha-Prozesses
herausnehmen.

Nun zum aktuellen Freihandelsabkommen der Euro-
päischen Union mit lndien. Aus Sicht der SPD-Bundes-
tagsfraktion müssen bei allen Verhandlungen über
Freihandelsabkommen ökonomische und politische Fak-
toren, aber auch die sozialen und menschenrechtlichen
Aspekte berücksichtigt werden. Dies gilt natürlich auch
bei dem EU-Freihandelsabkommen mit Indien. Jedoch
halten wir dieses Thema für zu wichtig, um, wie im hier
diskutierten Antrag der Linksfraktion, die Frage der
Ausgestaltung von Freihandelsabkommen mit einer un-
differenzierten Systemkritik an der europäischen Markt-
wirtschaft zu verbinden. Diese Kritik gehört nicht hier-
her. Aus diesem und weiteren Gründen wird die SPD-
Bundestagsfraktion dem Antrag in dieser Form nicht zu-
stimmen.

Ziel des Freihandelsabkommens der Europäischen
Union mit Indien sollte sein, dass die EU ihren Handel
und ihre Investitionen mit Indien intensivieren kann,
ohne dass die in Indien vorhandenen ökonomischen und
sozialen Infrastrukturen beeinträchtigt werden. Die
künftigen Möglichkeiten einer Ausweitung des Handels
und der Investitionstätigkeit im Verhältnis EU-Indien
müssen insgesamt beiden Seiten dienen. Jedoch ist bei



gegebene Reden

Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

der Bewertung und Verhandlung der vorhandenen sek-
torspezifischen Schwierigkeiten darüber nachzudenken,
eine asymmetrische Marktöffnung vorzunehmen, um ein
wirtschaftliches Ungleichgewicht zu verhindern. Hier
gilt es, einer Überforderung Indiens vorzubeugen.
Denkbar sind eine konsequente Marktöffnung der EU im
Agrar- und Textilbereich und die Ermöglichung sektor-
spezifisch unterschiedlicher Marktöffnungsschritte In-
diens.

Wir müssen weiter auf den konkreten Verlauf der Ver-
handlungen schauen. Diesbezüglich haben die Mitglie-
der des Bundestages schon verschiedene Aktivitäten un-
ternommen. Im Frühjahr 2010 haben sich sowohl der
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung als auch der Unterausschuss „Gesundheit in
Entwicklungsländern“ des Deutschen Bundestages mit
den Folgen eines Freihandelsabkommens für die indi-
sche Generikaproduktion und den Zugang zu Medika-
menten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommens
befasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren fraktions-
übergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordneten
klare Forderungen zur Ausgestaltung des europäisch-
indischen Freihandelsabkommens formulierten. Diese
Forderungen ähneln denen des hier behandelten An-
trags. Nachdem diese Forderungen im Frühsommer
2010 an die Kanzlerin, die mit dem Thema befassten
Bundesminister, den Präsidenten der Europäischen
Kommission, José Manuel Barroso, sowie den europäi-
schen Generaldirektor für Handel, Ignacio Garcia Ber-
cero, versandt wurden, teilten erfreulicherweise der
Kommissionspräsident Barroso und Handelsdirektor
Bercero in einem Schreiben vom August 2010 mit, dass
sich die Europäische Union die genannten Forderungen
der Ausschüsse des Bundestages zu eigen macht. Beide
betonten, dass eine Verlängerung der Patentlaufzeit
durch ergänzende Schutzzertifikate in den Verhandlun-
gen mit Indien nicht mehr diskutiert werden. Dies ist ein
wichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für viele Patien-
ten in Entwicklungs- und Schwellenländern lebenswich-
tigen Generikaproduktion. Zudem wird von europäi-
scher Seite unmissverständlich betont, dass die für das
Abkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des geis-
tigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPS-Stan-
dard hinaus verstärkt werden.

Die SPD-Bundestagsfraktion sieht es, wie fraktions-
übergreifend schon beschlossen, als unverzichtbar an,
dass die Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhan-
delten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziel-
len Medikamenten nicht einschränken. Außerdem sollen
die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im Frei-
handelsabkommen dem Standard von TRIPS entspre-
chen. Es muss zudem natürlich darauf geachtet werden,
dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen nicht über
den TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden.
Das alles haben wir schon formuliert. Daran fühlen wir
uns gebunden. Die Europäische Kommission hat sich
dies, wie gesagt, zu eigen gemacht, und es ist nicht ab-
sehbar, dass sie davon abkehrt. Die deutsche Bundesre-
gierung ist gut beraten, sich ein Beispiel zu nehmen und
unseren Forderungen zu folgen.
Zu Protokoll
Ich habe aufgezeigt, dass sich die Fachpolitiker aller
Fraktionen bereits seit längerem mit den Forderungen
des heute diskutierten Antrags befassen und wichtige
Aktivitäten entwickelt haben. Wir werden weiter den
Verlauf der Verhandlungen von Freihandelsabkommen
beobachten, damit auch zukünftig diese Abkommen kei-
ner neoliberalen Ideologie nachlaufen, sondern den
Menschen auf beiden Seiten nutzen.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1709038400

Das Freihandelsabkommen der EU mit Indien hat das

Potenzial, neuen Schwung in den Welthandel zu bringen.
Beide Seiten sind sich einig, dass ein Handels- und In-
vestitionsabkommen mit einer breiten Basis im gemein-
samen Interesse liegt. Indien schickt sich an, eine Füh-
rungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischen
dem boomenden Fernen Osten und dem an Energiequel-
len reichen Nahen Osten und Zentralasien zu überneh-
men. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichen
und politischen Potenziale von Indien für uns zu nutzen.
Wir dürfen den Markt nicht dem schon starken wirt-
schaftlichen Einfluss Amerikas oder Chinas überlassen.

Gerade in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanz-
krise gilt es, protektionistische Tendenzen abzuwehren
und den fairen und freien Welthandel zu gewährleisten.
Nachdem sich der Wert des Warenverkehrs der EU 27
mit Indien zwischen 2000 und 2008 mehr als verdoppelt
hat, fiel er im Jahr 2009. In den ersten neun Monaten
des Jahres 2010 zeigte sich ein erneutes Wachstum des
EU-27-Warenhandels mit Indien. Dies muss unbedingt
durch eine vernünftige, nach vorne gerichtete Wirt-
schaftspolitik wie die unserer schwarz-gelben Regie-
rungskoalition fortgesetzt werden. Die Wirtschaftsbezie-
hungen zu Indien haben in den letzten Jahren deutlich
an Intensität und Dynamik gewonnen. Heute sind schon
etwa 1 500 deutsche Unternehmen in Indien vertreten.
Die Forderungen der Fraktion Die Linke zeigen nur ein-
mal mehr die protektionistischen, antiquierten Wirt-
schaftsvorstellungen wie zu Zeiten des Ostblocks. Wir
wollen keine ideologischen Mauern errichten. Gerade
durch unsere guten und intensiven Wirtschaftsbeziehun-
gen werden neue Märkte erschlossen und bringen im
Zuge der Marktöffnung auch eine Öffnung des Landes
mit sich. Wir stehen als bürgerlich-liberale Koalition für
diesen goldenen, demokratischen Weg nach vorne. Die
Stärkung der Kontakte zwischen den Menschen in Indien
und in der Europäischen Union ist nur einer der positi-
ven Effekte neben wirtschaftlichen Belangen.

Die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik unter der Fe-
derführung des Bundeswirtschaftsministers Rainer
Brüderle sichert Wachstum und Arbeitsplätze und trägt
so zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Mit neuen
Handelsstrategien werden Märkte geöffnet, und Europa
hält Anschluss an die wichtigsten Wachstumszentren der
Welt. Wir wollen dafür sorgen, dass faire Bedingungen
für die europäische Wirtschaft herrschen, sodass alle
Bürger, sowohl in Deutschland als auch in Indien, vom
Handel profitieren können.

Unsere Außenpolitik ist freiheitlich, orientiert an
Marktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur Selbsthilfe.



gegebene Reden

Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und auf den Mul-
tilateralismus – anstelle nationaler Alleingänge, wie von
den Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märkte
muss konsequent fortgeführt werden. Denn durch die
weiteren wirtschaftlichen Fortschritte in Indien, die das
Abkommen mit sich bringen wird, wird auch der politi-
sche Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nach
außen ist eine Öffnung der Märkte für eine höhere Wett-
bewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU muss andere
Staaten wie Indien von den Vorteilen freier Märkte über-
zeugen. Daran kann auch der Appell der Fraktion Die
Linke, Importzölle auf indische Landwirtschaftspro-
dukte zu erheben und weiterhin auf Exportzöllen in an-
deren Bereichen zu bestehen, nichts ändern. Die protek-
tionistischen Forderungen nach der Einführung von Ex-
portzöllen und Verhinderung von transparenten Struktu-
ren zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen in
Indien zeigten nur die Antiquiertheit der linken An-
schauungen. Dies zeigt sich auch bei der Forderung
nach einem Verzicht auf einen effektiven Patentschutz
nach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die euro-
päischen Grenzen hinaus wirksamer Patentschutz garan-
tiert, dass die mit einem Patent einhergehende Offenle-
gung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. Das
Zurückweisen der längeren Patentlaufzeiten der Frak-
tion Die Linke und der Verzicht auf Datenexklusivität
würde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzu-
weisen.

Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung der
Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und
ärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mit
Schwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grund-
lage gestellt werden muss. Statt klassischer Entwick-
lungszusammenarbeit mit den Schwellenländern müssen
wir eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaats-
und Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik,
Wissenschaft und Forschung eingehen und sie für die
Entwicklung noch immer bedürftiger Länder gewinnen.

In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernet-
zung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nach
Aufrechterhalten von Exportzöllen utopisch. Nationale
Alleingänge gegen gemeinsame europäische Interessen
wird es mit der FDP und der CDU/CSU-Fraktion nicht
geben. Die Kritik der Fraktion Die Linke an dem Frei-
handelsabkommen EU-Indien zeichnet sich durch das
Schüren von Ängsten und den Wunsch nach Abschottung
vom Weltmarkt aus. Sie lässt die, nicht nur wirtschaft-
lich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherung
der EU und Indiens außer Acht. Deshalb ist dieser An-
trag der Linken abzulehnen.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709038500

Das geplante EU-Freihandelsabkommen zwischen

der Europäischen Union und Indien ist Teil der neuen
Außenhandelsstrategie „Global Europe: Competing in a
Globalized World“. Ziel dieser ökonomischen Strategie
ist die Durchsetzung neuer und umfassender Freihan-
delsabkommen, mit denen die Staaten der Europäischen
Union einen vereinfachten Zugang zu Rohstoffen und die
Öffnung der Märkte in diesen Ländern für europäische
Waren verfolgen. Das geplante Freihandelsabkommen
Zu Protokoll
mit Indien ist Teil der verfehlten neoliberalen Außen-
handelsstrategie der EU. Die Fraktion Die Linke lehnt
dieses Abkommen ab und hat mit ihrem Antrag Alterna-
tiven für eine solidarische Außenhandelspolitik der EU
mit Indien vorgelegt.

Das EU-Freihandelsabkommen mit Indien nimmt in
der Prioritätenliste der EU-Kommission eine Schlüssel-
stellung ein. Die indische Wirtschaft ist in den letzten
Jahren zwischen 8 und 10 Prozent jährlich gewachsen.
Trotzdem lebt in Indien weltweit der größte Anteil armer
Menschen. Etwa 92 Prozent der 457 Millionen erwerbs-
tätigen Inder sind im informellen Sektor beschäftigt. Sie
leben meist von Subsistenzwirtschaft und einem minima-
len Einkommen. Häufig sind sie als Tagelöhner oder für
zeitlich befristete Tätigkeiten beschäftigt. Darüber hi-
naus müssen aufgrund der Altersstruktur in Indien bis
2020 etwa 200 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen,
damit das Land nicht in eine beschäftigungspolitische
Katastrophe rennt.

Gerade in der Weltwirtschaftskrise zeigte sich über-
deutlich, dass stärker regulierte Volkswirtschaften in
den Schwellenländern wesentlich weniger krisenanfällig
waren als die stärker liberalisierten und exportabhängi-
gen Volkswirtschaften. Länder wie zum Beispiel Indien
profitierten gerade in der Krise von den vorhandenen
Steuerungsmöglichkeiten des Staates und der Kommu-
nen. Deshalb sind die massiven Liberalisierungsforde-
rungen der Europäischen Kommission vor diesem Hin-
tergrund völlig unverantwortlich.

Durch das Freihandelsabkommen soll der indische
Markt noch mehr als bisher für die Produkte und Dienst-
leistungen aus der EU geöffnet werden. Die EU-Kom-
mission nimmt dabei bewusst in Kauf, dass Millionen
von Arbeitsplätzen in der indischen Landwirtschaft und
dem informellen Bereich massiv bedroht werden. Durch
die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission für ein
Freihandelsabkommen wird die Ernährungssicherheit
und damit auch die Existenzgrundlage für Hunderte von
Millionen Menschen in der indischen Landwirtschaft
und Industrie massiv gefährdet.

Die Linke tritt deshalb dafür ein, dass allen Forde-
rungen der EU-Kommission, den indischen Finanzmarkt
weiter zu liberalisieren, eine klare Absage erteilt wird.
Es war gerade der noch immer stark regulierte indische
Finanzmarkt, der sich in der Weltfinanzkrise relativ sta-
bil gezeigt hat. Deshalb warnen auch viele Vertreterin-
nen und Vertreter sowohl aus Indien als auch aus der
Europäischen Union vor einer Liberalisierung des Fi-
nanzmarktes. Die derzeitigen Verhandlungen zeigen,
dass die Europäische Kommission nichts aus der Wirt-
schaftskrise gelernt hat und mit ihrer unverantwortli-
chen Wirtschafts- und Finanzpolitik dabei ist, die Ge-
fahr, dass auch andere Regionen in den Strudel der
unkontrollierten Finanzmärkte gezogen werden, weiter
zu verschärfen. Wir treten in unserem Antrag dafür ein,
dass alle Forderungen an Indien, die Handelshemm-
nisse bei Finanzdienstleistungen abzubauen, sofort zu-
rückgenommen werden müssen. Vielmehr müssen Regu-
lierungsmaßnahmen zum Schutz der Stabilität des
Finanzsystems, wie sie Indien im Kontext der Weltfi-



gegebene Reden

Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)

nanzkrise ergriffen hat, ausdrücklich erhalten und aus-
gebaut werden.

Eine Liberalisierung des Marktes für landwirtschaft-
liche Produkte hätte katastrophale Folgen für die über-
wiegende Anzahl der Bäuerinnen und Bauern in Indien,
da etwa 90 Prozent von ihnen marginalisierte Kleinpro-
duzenten sind. Sie leben ausschließlich von der Land-
wirtschaft. Die Liberalisierung dieses Marktes durch ein
Freihandelsabkommen würde ihre Lebensgrundlage
massiv bedrohen. Die Folgen für die Betroffenen wurden
besonders sichtbar, als im Jahr 2002 Indien die Zölle für
Milchprodukte abschaffte. Dadurch drängten die zum
Teil exportsubventionierten Milchprodukte aus der EU
massiv auf den indischen Markt und drückten den
Milchpreis in Indien derart nach unten, dass Millionen
von landwirtschaftlichen Betrieben nicht mehr konkur-
renzfähig waren und viele in den Bankrott stürzten. Um
eine soziale und ernährungspolitische Katastrophe zu
verhindern, führte Indien wieder Zölle in Höhe von zur-
zeit 30 Prozent ein. Eine erneute Marktöffnung im
Milchbereich hätte für die soziale Situation der indi-
schen Subsistenzbauern fatale Auswirkungen.

Die EU versucht, das Freihandelsabkommen mit In-
dien gegen den Widerstand der indischen Bauernver-
bände und vieler NGOs durchzusetzen, da sie Indiens
größter Handelspartner ist und Indien an neunter Stelle
im EU-Außenhandel steht. 20 Prozent des indischen Gü-
terhandels werden mit der EU abgewickelt; das Han-
delsbilanzdefizit zur EU beträgt drei Milliarden Euro.
Die EU wickelt etwa 2,1 Prozent ihres Handels mit In-
dien ab.

Die treibenden Kräfte des geplanten Freihandelsab-
kommens sind mächtige deutsche und europäische Lob-
bygruppen wie der Bundesverband der Deutschen In-
dustrie, BDI, das European Services Forum, ESF, und
die European Federation of Pharmaceutical Industries
and Associations, EFPIA. Erst vor wenigen Tagen for-
derte der Europäische Automobilherstellerverband
ACEA die EU-Kommission auf, bei den Verhandlungen
mit Indien noch mehr Druck zu machen. Der Verband
beklagte, dass für die Autobranche die bisherigen Ver-
handlungsergebnisse noch nicht zufriedenstellend seien.
Die Industrielobbyisten nehmen mit ihren Forderungen
dabei bewusst in Kauf, dass sich die Ernährungssitua-
tion der Menschen in Indien massiv verschlechtern wird
und die Gefahren von Instabilitäten in Indien zunehmen.
Kurzfristige Profitinteressen der europäischen Groß-
konzerne werden hier über die mittelfristigen Entwick-
lungsmöglichkeiten der indischen Volkswirtschaft ge-
stellt.

Die Direktorin der indischen Nichtregierungsorgani-
sation ANTHRA, Dr. Sagari R. Ramdas, weist darauf
hin, dass bei einer Liberalisierung von Investitionen für
landwirtschaftliche Flächen, Land Grabbing noch
schneller vorangetrieben wird. Weiter führt sie aus, dass
alle Bäuerinnen und Bauern, wie auch große Teile der
indigenen Einwohner Indiens, Produzentinnen und Pro-
duzenten und gleichzeitig Konsumentinnen und Konsu-
menten zugleich sind. Fast alle sind für die eigene
Versorgung auf die öffentlichen Beschaffungs- und Ver-
Zu Protokoll
teilungssysteme für Getreide angewiesen, um die Ernäh-
rungssicherheit in den Haushalten zu gewährleisten.
Genau hier setzt das Freihandelsabkommen der EU mit
Indien an und will den Unternehmen in der EU den
freien Zugang zu den öffentlichen Beschaffungssystemen
in Indien eröffnen. Dies würde die bisherige Absiche-
rung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für die armen
Teile in der indischen Bevölkerung noch weiter erschwe-
ren.

Durch die geforderte Öffnung der Rohstoffmärkte und
durch einen freien Zugang zu Explorationsmöglichkei-
ten von indischen Rohstoffen durch europäische Kon-
zerne würden darüber hinaus die Lebensbedingungen
der indigenen Einwohner Indiens infrage gestellt. Viele
von ihnen leben in Wäldern, in denen teilweise Eisenerz,
Granit, Halbedelsteine und vieles mehr zu finden ist.
Durch einen massiven Abbau dieser Vorkommen besteht
die Gefahr, dass viele von ihnen vertrieben werden und
sich das Heer der Armen in den Megastädten weiter ver-
größert.

Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, die
Verhandlungen über ein EU-Freihandelsabkommen mit
Indien sofort zu stoppen. Wir wollen, dass Verhand-
lungsmandate der EU in Zukunft durch demokratisch le-
gitimierte Prozesse festgelegt werden und alle Abkom-
men, die Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung in
den betroffenen Ländern und Regionen fördern, nicht
mehr verfolgt werden dürfen.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709038600

In Indien leben über 40 Prozent der Bevölkerung un-

terhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag,
und knapp 80 Prozent leben mit weniger als 2 US-Dollar
pro Tag. Auch das Pro-Kopf-Einkommen in Indien liegt
weit unter dem europäischen Niveau. Die Europäische
Union und Indien sind keine Partner auf gleicher Au-
genhöhe.

Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäi-
schen Union und Indien steht kurz vor dem Abschluss; es
soll noch in diesem Frühjahr unterzeichnet werden. Seit
mehr als vier Jahren verhandeln die beiden ungleichen
Partner über ein solches Abkommen. Handel ist nur fair,
wenn wir die ökologischen und sozialen Erfordernisse
respektieren und wenn wir Entwicklungspotenziale för-
dern und nicht ersticken. Handelsliberalisierung unter
gleich starken Partnern kann Wohlstand und Entwick-
lung fördern, aber nur dann, wenn sie nachhaltig und
fair gestaltet ist. Gegenseitige Marktöffnung zwischen
ungleichen Partnern wie zwischen der EU und Indien
dagegen kann jedoch gravierende Folgen für den wirt-
schaftlich und sozial schwächeren Partner haben.

Ich kritisiere die von der Bundesregierung unter-
stützte fragwürdige Handelspolitik der EU. Diese Han-
delspolitik steht im Widerspruch zum Lissabon-Vertrag,
der die Entwicklung und die Beseitigung der Armut als
Ziel seiner Außenbeziehungen definiert. Meine beson-
dere Sorge gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrech-
ten. Indien ist weltweit einer der größten Generikaher-
steller, gilt als die Apotheke der Armen und produziert
unter anderem weltweit 80 Prozent der Medikamente zur



gegebene Reden





Uwe Kekeritz


(A) (C)



(D)(B)

Behandlung von HIV/Aids. Die europäischen Forderun-
gen zu den geistigen Eigentumsrechten bedrohen massiv
den Zugang zu kostengünstigen, lebensrettenden Medi-
kamenten für die Armen der Welt. Insbesondere die vor-
gesehene Datenexklusivität wäre ein Schlag gegen die
Generikaproduktion und damit auch gegen das Men-
schenrecht auf Gesundheit. Dies käme für unzählige
Kranke weltweit einem Todesurteil gleich. Diese Sorge
teilt mit mir auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung. Auf Initiative des Un-
terausschusses „Gesundheit in Entwicklungsländern“
hat der Ausschuss in einem interfraktionellen Beschluss
die Bundesregierung und die Europäische Kommission
aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass es im Freihan-
delsabkommen zwischen der EU und Indien keine Rege-
lungen gibt, die über den Standard von TRIPS hinausge-
hen.

Dem Antrag der Fraktion Die Linke stimmen wir
nicht zu. Teilweise sind die Forderungen veraltet. Teil-
weise liegen die Forderungen nicht im Kompetenzbe-
reich der nationalen Parlamente. Für die Ratifizierung
von Handelsabkommen in nationalen Parlamenten bei-
spielsweise gilt es zunächst juristisch zu klären, ob es
sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt;
denn nur dann gäbe es einen nationalen parlamentari-
schen Auftrag. Auch andere Forderungen können wir
nicht uneingeschränkt mittragen. Allerdings teile ich die
Ansicht, dass wir ein entwicklungsförderliches Verhand-
lungsmandat für ein Abkommen mit Indien brauchen.
Das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Ver-
sorgung oder das Menschenrecht auf Nahrung dürfen
nicht durch wirtschaftliche Interessen in Gefahr ge-
bracht werden. Menschenrechte sind nicht verhandelbar
und müssen zu jedem Zeitpunkt gewahrt werden. Ich for-
dere daher die Bundesregierung auf, sich für ein Frei-
handelsabkommen einzusetzen, das die Hunderte Millio-
nen von Menschen nicht aus den Augen verliert und die
Menschenrechte zur obersten Priorität macht.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709038700

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-

fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4616, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2420 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 18 a und b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von
Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantie-
ren

– Drucksache 17/4439 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerech-
tes europäisches Asylsystem

– Drucksache 17/4679 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1709038800

Die Grünen und die Linke tun etwas, das man nicht

tun sollte, sofern man den europäischen Gedanken nicht
beschädigen will. Sie wollen über den Umweg der euro-
päischen Ebene versuchen, asylpolitische Vorstellungen
zu verwirklichen, für die es weder im Deutschen Bundes-
tag noch in unserer Bevölkerung eine Mehrheit gibt. Sie
wollen über den Umweg Brüssel demokratische Mehr-
heitsentscheidungen ausspielen. Das ist nicht nur unde-
mokratisch, sondern sie verstärken das Gefühl, das lei-
der in unserer Bevölkerung verbreitet ist, dass die EU
weit weg ist von der Stimmung der Menschen vor Ort.
Insofern beschädigen sie mit ihren Anträgen den euro-
päischen Gedanken.

Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass sie
sogar die berechtigte Hoffnung haben könnten, dass sie
in der Sache in Brüssel auf ein offenes Ohr stoßen. Ich
will diese Debatte ausdrücklich dafür nutzen, zu bekla-
gen, dass Grünbücher und Richtlinienentwürfe der Ge-
neraldirektionen Innen und Justiz der EU-Kommission
oftmals davon geprägt sind, dass sie von der Rechtslage
in Deutschland und gerade auch von der Stimmungslage
der Menschen in unserem Land erheblich abweichen.
Die ursprüngliche Fassung des Richtlinienentwurfs zum
Asylrecht hätte zur Folge gehabt, dass der Asylkompro-
miss von 1993, der zu einer erheblichen Reduzierung
des Asylmissbrauchs geführt und die aufgeregte Stim-
mung der damaligen Zeit beträchtlich beruhigt hat, so
nicht mehr haltbar sein würde. Unsere Fraktion ist dem
Bundesinnenministerium deshalb sehr dankbar, dass es
sich auf EU-Ebene erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass
diese Richtlinienentwürfe so nicht kommen werden.

Ein schlichter Skandal ist der Antrag der Linken.
Man muss ganz klar deutlich machen, was dieser Antrag
zur Folge hätte. Sie lassen jede Art von Kontrolle von
Zuwanderern in unser Land fallen. Sie wollen FRON-
TEX abschaffen. Sie wollen, dass wir anderen EU-Län-
dern viele Asylbewerber abnehmen, damit diese EU-
Länder keinen Grund mehr haben, für eine ordnungsge-
mäße Sicherung ihrer Grenzen zu sorgen. Ihr Antrag
hätte zur Folge, dass im Grunde jeder Mensch aus aller
Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben.
Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hundert-
tausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde
jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen.

Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit
schüren. Sie würden damit die Kommunen vor erhebli-
che Unterbringungsprobleme stellen. Es würden wieder
Sporthallen umgewandelt werden müssen zu großen
Sammelunterkünften, von den vielen Milliarden, die das
kosten würde, einmal ganz abgesehen. Das ist alles eine
völlig unverantwortliche Politik, mit der sich die Linke
endgültig aus dem Kreis derjenigen verabschiedet, die
in der Integrations- und Asyldebatte den Anspruch erhe-
ben können, ernst genommen zu werden. Mit dem absur-
den Vorschlag, die EU-Rückführungsrichtlinie wieder
abzuschaffen, sorgt die Linke dafür, dass wir weder
Menschen, die jahrelang nur Sozialleistungen kassiert
haben, noch verurteilte Straftäter in ihre Heimat zurück-
führen können. Das ist ein Beitrag, der den sozialen
Frieden gefährdet und ein wichtiges präventives Ele-
ment im Kampf gegen Ausländerkriminalität zunichte
macht, weil für viele ausländische Kriminelle die Angst
vor der Abschiebung in ihr Heimatland größer ist als die
Angst vor einer Gefängnisstrafe.

Aber auch die Grünen zeichnen in ihrem Antrag ein
Zerrbild der Lage der subsidiär Schutzberechtigten im
Verhältnis zu denjenigen, die als politisch Verfolgte oder
Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention an-
erkannt sind. Die Grünen verschweigen einen ganz we-
sentlichen Grundsatz, nämlich dass von unseren Behör-
den die subsidiär Schutzberechtigten nicht einheitlich
behandelt werden, sondern es sich dabei um eine sehr
heterogene Personengruppe handelt, die sich durch
ganz unterschiedliche Schutzbedürfnisse auszeichnet.
Es ist gängige Praxis der Ausländerbehörden, dass bei
drohender Folter oder drohender Todesstrafe im Her-
kunftsland, ähnlich wie bei GFK-Flüchtlingen, ein län-
gerfristiges Schutzbedürfnis anerkannt wird. Dement-
sprechend erhalten sie nicht nur ein mehrere Jahre
geltendes Aufenthaltsrecht, sondern auch Zugang etwa
zu Integrationsangeboten. Es gilt der Grundsatz, den die
Grünen völlig verschweigen, dass bei denjenigen subsi-
diär Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie
für lange Zeit und möglicherweise sogar auf Dauer in
unserem Land leben werden, im Grunde genommen die
gleichen Bedingungen herrschen wie bei GFK-Flücht-
lingen. Andererseits macht es aber auch Sinn, solchen
Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie nur
über einen begrenzten Zeitraum Schutzes bedürfen und
auch relativ plötzlich wieder in ihr Heimatland zurück-
geführt werden können, in dieser Weise keine Integra-
tionsangebote zu machen. Das gilt etwa bei Kriegs- oder
Bürgerkriegsflüchtlingen, bei denen das Schutzbedürf-
nis typischerweise eher vorübergehender Natur ist. Die-
ser Heterogenität der Gruppe der subsidiär Schutzbe-
rechtigten können die Mitgliedstaaten nur Rechnung
tragen, wenn ihnen Regelungsspielräume verbleiben
und keine schematische Gleichstellung der subsidiär
Geschützten mit GFK-Flüchtlingen erfolgt.

Ich will aber auch darauf hinweisen, dass die Inte-
grationsbeauftragte der Bundesregierung, die ja eine
breite Kenntnis der Praxis in unseren Ausländerbehör-
den hat, in der Vergangenheit immer wieder darauf hin-
gewiesen hat, dass es bei Fragen der Ausbildungsför-
derung oder Sozialleistungen sowie beim Arbeitsmarkt-
Zu Protokoll
zugang es keine großen praktischen Unterschiede in der
Behandlung der Ausländerbehörden von GFK-Flücht-
lingen und subsidiär Schutzberechtigten gibt. Gerade
was die Frage des Arbeitsmarktzugangs anbelangt,
macht das ja auch großen Sinn, dass die Schutzbedürfti-
gen in unserem Land etwa Kompetenzen erwerben, die
sie später in ihrem Heimatland nutzen können. Und es
macht auch großen Sinn, dass sie, anstatt Sozialleistun-
gen zu erhalten, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.
Das gilt in gleicher Weise für jüngere Schutzbedürftige,
wenn man an die Förderung für einen Ausbildungsplatz
denkt. Außerdem will ich hervorheben, dass es auch bei
der medizinischen Versorgung selbstverständlich in der
Praxis keine unterschiedliche Behandlung gibt. Insofern
muss man den Grünen vorhalten, dass sie mit ihrem An-
trag einen Popanz aufbauen und sich daran abarbeiten,
obwohl die ausländerrechtliche Praxis völlig anders
aussieht.

Man kann die Anträge von Linken und Grünen also
insoweit zusammenfassen: Der Antrag der Linken ist in-
tegrationsfeindlich, kommunal unfreundlich und würde
unser Land in einen Zustand versetzen, wie wir ihn An-
fang der 90er-Jahre hatten. Das kann niemand politisch
ernsthaft wollen. Die Grünen zeichnen ein Zerrbild der
praktischen Lebenssituation von subsidiär Schutzbe-
dürftigen. Insofern sind beide Anträge abzulehnen.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1709038900

Im „Stockholmer Programm“, das direkt an das

„Haager Programm“ – 2005 bis 2009 – anschließt, wer-
den für den Zeitraum von 2010 bis 2014 die Prioritäten
der europäischen Innenpolitik definiert. Mit der Absicht,
„ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum
Schutz der Bürger“ zu schaffen, bekräftigt das neue
Fünf-Jahres-Programm im Bereich der Migrationspoli-
tik das Ziel einer vorausschauenden und umfassenden
europäischen Politik, die auf Solidarität und Verant-
wortlichkeit beruht. Im „Stockholmer Programm“ ist
ein einheitlicher Status für Personen, denen internatio-
naler Schutz gewährt wird, vorgesehen.

Die Begründung für die Einführung des subsidiären
Schutzstatus war gewesen, dass es diesen Schutz nur vo-
rübergehend geben würde und die Menschen, denen er
gewährt wurde, nicht längere Zeit bleiben würden. In
der Praxis hat sich diese Annahme jedoch als falsch er-
wiesen. Die Hürden, um einen subsidiären Schutzstatus
zuerkannt zu bekommen, sind gravierende Menschen-
rechtsverletzungen wie drohende Todesstrafe, Folter
und Krieg. In diesem Sinne ist es nicht „leichter“, einen
subsidiären Schutzstatus zu erhalten, als als Verfolgter
im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu
werden. Zudem sind die dargestellten Umstände keines-
falls solche, die sich schnell ändern. Wenn aber davon
ausgegangen werden muss und die Erfahrungen gezeigt
haben, dass Menschen mit einem subsidiären Schutzsta-
tus dieses Schutzes nicht nur vorübergehend bedürfen,
dann ist ihre Ungleichbehandlung gegenüber der Be-
handlung von anerkannten Flüchtlingen nicht gerecht-
fertigt und muss aufgehoben werden.



gegebene Reden

Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

Wie in der Neufassung der Flüchtlingsanerkennungs-
richtlinie vorgesehen, sollten subsidiär Geschützte so-
fortigen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt
haben, sie müssen Leistungen entsprechend denen von
anerkannten Flüchtlingen erhalten und vor allem müs-
sen sie Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Wenn
sie auf Dauer bei uns leben, dann macht es allein und
ausschließlich Sinn – nicht nur, aber auch aus finanziel-
len Erwägungen, weil wir ja alle mittlerweile längst wis-
sen, dass eine nachholende Integration schwerer und im
Ergebnis teurer ist –, sie so frühzeitig wie möglich zu in-
tegrieren. Schließlich müssen sie auch den gleichen Zu-
gang zu medizinischer Versorgung haben.

Auch wir möchten die Bundesregierung auffordern,
ihre Vorbehalte gegen Art. 24 der Anerkennungsrichtli-
nie aufzugeben, nach dem einer Person nach Zuerken-
nung des Schutzstatus ein verlängerbarer Aufenthaltsti-
tel mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens drei
Jahren ausgestellt werden muss. Wichtig für die Anglei-
chung der Rechte von Flüchtlingen mit einem subsidiä-
ren Schutzstatus und der Anerkennung als Flüchtling ist
auch Art. 26 der Richtlinie, der den unmittelbaren Zu-
gang zu einer Erwerbstätigkeit und die Teilnahme an be-
schäftigungsbezogenen Bildungsanboten für Erwach-
sene und berufsbildende Maßnahmen ermöglicht. Von
ebenso großer Bedeutung ist schließlich Art. 29 der
Richtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten Personen mit
Anspruch auf internationalen Schutz die notwendige So-
zialhilfe im selben Umfang gewähren wie Staatsangehö-
rigen des betreffenden Mitgliedstaates. Schließlich be-
grüßen auch wir Art. 34 des Neufassungsvorschlages,
nach dem der schutzgewährende Mitgliedstaat die Inte-
grationsmaßnahmen zu gewährleisten hat, die den be-
sonderen Bedürfnissen von Personen mit Anspruch auf
internationalen Schutz Rechnung tragen. In dem Punkt
der Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einem
subsidiären Schutzstatus an den von Flüchtlingen stim-
men wir mithin mit den Positionen in den Anträgen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
überein.

Diesem Ansinnen kann auch nicht entgegengehalten
werden, dass die Angleichung der Rechte der beiden
Schutzarten der sonstigen Systematik der Rechtsetzung
auf EU-Ebene widersprechen würde. Denn wie es im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen steht, haben sich
das Europäische Parlament und der Rat im Dezember
letzten Jahres auf eine Neufassung der „Daueraufent-
haltsrichtlinie“ (Richtlinie 2003/109/EG) dahin gehend
geeinigt, dass nunmehr auch Personen mit internationa-
lem Schutzstatus mit einem fünfjährigen rechtmäßigen
dauerhaften Aufenthalt in den Anwendungsbereich der
Richtlinie aufgenommen werden sollen.

Auch wenn es in keinem der beiden vorliegenden An-
träge erwähnt wird, möchte ich an dieser Stelle sagen,
dass wir das Abstimmungsergebnis im LIBE-Ausschuss
des Europäischen Parlamentes über die Anerkennungs-
richtlinie am 1. Februar 2011 begrüßen, nachdem nun-
mehr in der neuesten Fassung der Richtlinie die Defini-
tion der Familie nicht mehr beinhaltet, dass die
Verbindung zu dem einen internationalen Schutzstatus
erhalten habenden Flüchtling im Herkunftsland entstan-
Zu Protokoll
den sein muss. Ebenso begrüßen wir die nunmehr er-
folgte Klarstellung, dass nur staatliche Akteure solche
sein können, die Schutz gewähren, und dass nicht wie
noch in den Entwürfen zuvor – leider auch auf Drängen
der Bundesregierung hin – vorgesehen auch eine nicht-
staatliche Einheit schutzgewährende Organisation sein
kann, wie zum Beispiel eine Stammesgruppe. In der Ab-
stimmung im LIBE-Ausschuss wurden zudem auch meh-
rere Einwände gegen die Angleichung der beiden
Schutzstatute abgelehnt. In der neuesten Fassung ist die
Forderung nach deren Angleichung mithin weiterhin
enthalten. Das begrüßen und unterstützen wir.

Was den Antrag der Fraktion Die Linke anbelangt, so
enthält er neben Forderungen zu der Anerkennungs-
richtlinie auch noch Forderungen nach einer Neufas-
sung des Dublin-II-Systems und eines Systems zur ge-
rechten Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas.
Diese Forderungen sind im Kern richtig und berechtigt,
und auch wir suchen nach Möglichkeiten, die bestehen-
den Systeme vor allem im Interesse der Flüchtlinge zu
verbessern. Wie konkret allerdings solche Systeme aus-
gestaltet sein sollen, dazu sagt der Antrag der Linken
nichts. Wir sind jedoch bereits jetzt schon dabei, kon-
krete Vorstellungen zu diesen Themen zu entwickeln.
Darüber würden wir uns in Zukunft gerne noch einmal
unterhalten.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Der Antrag der Linken enthält die übliche Forderung

der Linken: Reisefreiheit für illegale Migranten. Es mag
ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungs-
bedarf auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem
geben. Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie
ist jedoch ebensowenig ein ernstzunehmender Vorschlag
wie die Auflösung von FRONTEX.

Die Abschiebehaft ist – bei aller Notwendigkeit, sich
die Bedingungen hierzu nochmals genau anzusehen – le-
gitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu ge-
währleisten und damit ein leider notwendiges Instru-
ment im Rahmen des Vollzugs des demokratisch
zustande gekommenen Aufenthaltsrechts.

Die Abschaffung der EU-Rückführungs-RL ist kon-
traproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststandards
für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden sind.
Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforderung
nicht mehr, sondern sogar weniger Rechte für die Be-
troffenen. Der Linke-Populismus schadet den Schwächs-
ten in der Migrationspolitik.

Nicht zuletzt der Verhältnisse in Griechenland, des
Urteils des EGMR und der Beschlüsse des BVerfG zu
Dublin wegen muss man über das System nachdenken.
Aber man muss betonen, dass die Bundesregierung sehr
verantwortungsvoll mit dem Mechanismus umgeht: Für
ein Jahr sind nun Rückführungen ausgesetzt; bereits im
letzten Jahr sind nur 50 Personen nach Griechenland
zurückgeschoben worden, beim Rest wurde vom Selbst-
eintrittsrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig können
auch Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden,
wenn sie die Standards nicht einhalten: Der Druck muss
aufrechterhalten bleiben. Konkrete Hilfe hat die



gegebene Reden

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

Bundesregierung für die griechischen Behörden auch
angeboten; hinsichtlich der menschenwürdigen und
schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rah-
menbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie zur stärke-
ren Grenzsicherheit vonnöten.

Die Grenzschutzagentur FRONTEX aufzulösen, ist
auch so eine typische Forderung von offenkundig unter-
beschäftigten Abgeordneten der Oppositionsfraktion auf
der Suche nach dem verlorenen Kommunismus. Die Ab-
schaffung von FRONTEX ist nicht sinnvoll, sondern ge-
radezu rückwärtsgewandt: Es ist richtig, dass ange-
sichts des gemeinsamen Binnenraums über FRONTEX
die Einsätze koordiniert werden. Vorfälle auf dem Mit-
telmeer etwa müssen rückhaltlos aufgeklärt werden;
rechtsstaatliche und völkerrechtliche Unsicherheiten
werden angegangen werden. Auch hat es in den letzten
Jahren viele Verbesserungen bei FRONTEX gegeben.
Jedenfalls hat aber Europa und der Welt eine „Europäi-
sche Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen und
rechtsstaatlichen Aufnahme von Flüchtlingen“ gerade
noch gefehlt.

Die FDP ist der Meinung: Illegale Migration darf
nicht verharmlost werden. Sie stellt ein Problem dar. Die
Linken wollen am liebsten Tür und Tor für alle öffnen.
Das ist sicherlich kein gangbarer Weg. Der Antrag der
Grünen kommt da schon seriöser daher. Deutschkurse
etwa auf subsidiär Schutzbedürftige auszuweiten, ist in
der Sache durchaus eine begründbare Idee, allerdings
müssen wir auch sehen, was finanzierbar ist – nicht nur
im Blick auf die Quantität, sondern auch die Legitimität
der eingesetzten Mittel. Die Integrationskurse müssen
vor allem den Menschen offenstehen, die tatsächlich
dauerhaft oder zumindest längerfristig in Deutschland
bleiben.

Die FDP wird die Asylpolitik weiterhin verantwor-
tungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Pla-
nungen konstruktiv begleiten.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709039000

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat

am 21. Januar ein Urteil gegen Belgien gefällt, das auch
Deutschland und die ganze EU betrifft. Dem Gericht zu-
folge hätte Belgien einen Asylsuchenden nicht nach
Griechenland zurückschicken dürfen, weil ihm dort un-
menschliche und erniedrigende Behandlung drohten.
Auch den fehlenden Rechtsschutz gegen die Abschie-
bung hat der Gerichtshof als Verstoß gegen die Europäi-
sche Menschenrechtskonvention verurteilt. Dieses Ur-
teil ist ein Urteil über die gesamte Asylpolitik der EU
und die Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland da-
bei spielt. Grundlage des Vorgehens der belgischen Be-
hörden ist das sogenannte Dublin-System. Demnach
müssen Asylsuchende ihr Asylverfahren in dem Staat be-
treiben, in dem sie ihren Fuß zuerst auf EU-Territorium
gesetzt haben. Kern dieses Systems ist die Drittstaaten-
regelung, wie sie 1993 im sogenannten Asylkompromiss
in Deutschland festgelegt wurde. Wer über einen siche-
ren Drittstaat nach Deutschland einreist, dessen Antrag
gilt als unbeachtlich. Der oder die Betroffene wird in je-
nen vermeintlich sicheren Drittstaat zurückgeschoben,
Zu Protokoll
aus dem er oder sie gekommen ist. Um diese Asylbewer-
ber auch wirklich schnell wieder loszuwerden, hat sich
eine Große Koalition aus Union, SPD und FDP damals
noch einen weiteren Kniff einfallen lassen. Die aufschie-
bende Wirkung einer Klage gegen die Abschiebung
wurde abgeschafft. Es ist der einzige Fall, in dem im
deutschen Verfahrensrecht kein wirksamer Rechtsschutz
gegen eine Behördenentscheidung möglich ist. Mit dem
Dublin-System wurde daraus EU-Recht. Dieses System
ermöglicht die organisierte Flucht aus der Verantwor-
tung für Schutzsuchende und Flüchtlinge. Ein Kommen-
tar in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. Januar 2011
unter der Überschrift „Enthüllendes Urteil“ hat dies auf
den Punkt gebracht. Ich zitiere: „Das gegenwärtige Sys-
tem dient vor allem einem Zweck: einigen großen Staa-
ten wie Deutschland möglichst alle Asylbewerber vom
Hals zu halten – auf Kosten der Flüchtlinge und der am
Rand der EU liegenden Staaten, die sich kaum noch zu
helfen wissen.“

Es sind diese Staaten wie Griechenland, die sich
überlastet sehen und schon allein deshalb die Standards
des Flüchtlingsrechts nicht einhalten. Eine weitere
Runde in der Harmonisierung des Asylrechts in der EU
muss daher zwingend mit einer grundlegenden Reform
einhergehen. Das Verhalten der Bundesregierung in die-
sem Zusammenhang ist jedoch beschämend. Sie blo-
ckiert jede Initiative, die das Aufweichen der starren
Dublin-Regelungen vorsieht. Sie torpediert Richtli-
nienentwürfe, die den Status und die Rechte von Schutz-
suchenden und Flüchtlingen verbessern könnten. Sie
wirkt stattdessen an der Abschottung der Festung
Europa mit, die jährlich ungezählte Todesopfer fordert.
Ein frappierendes Beispiel aus der jüngsten Vergangen-
heit ist die Teilnahme am Einsatz der Grenzschutzagen-
tur FRONTEX an der türkisch-griechischen Land-
grenze. Ihre Aufgabe dort ist unter anderem, die
Flüchtlinge an der Grenze abzufangen und in die grie-
chischen Aufnahmelager und Abschiebeknäste zu brin-
gen. Genau diese Einrichtungen sind es, auf die das Ur-
teil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zielt.
Die Unterbringung der Flüchtlinge dort ist unmensch-
lich und erniedrigend.

Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierung
auf, sich endlich für einen effektiven Flüchtlingsschutz
auf EU-Ebene einzusetzen, der den Bedürfnissen der
Flüchtlinge wie den Aufnahmekapazitäten der EU-Staa-
ten gerecht wird. Die Abschottungsagentur FRONTEX
muss endlich aufgelöst werden. Sie ist Sinnbild einer
Politik, die Flüchtlinge zu illegalen Migrantinnen und
Migranten erklärt und mit polizeilichen und militäri-
schen Mitteln bekämpft. Wir feiern in diesem Jahr das
60-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention.
Dies muss sich endlich auch in der deutschen und der
europäischen Flüchtlingspolitik niederschlagen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Dezember hat Bundesinnenminister de Maizière
nun endlich die Katze aus dem Sack gelassen: Gemein-
sam mit anderen konservativen Innenministern und der
EVP-Fraktion hat er das Positionspapier „Perspektiven



gegebene Reden





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)

des EU-Asylsystems“ vorgestellt. Anstatt Perspektiven
für ein längst überfälliges, qualitativ besseres Asylsys-
tem in der EU zu entwerfen, haben wir es hier mit einem
echten Rollback zu tun. Es geht nämlich in dem Papier
nahezu ausschließlich darum, wie eine weitere Harmo-
nisierung des Flüchtlingsschutzes verhindert werden
kann. Mittlerweile wird Flüchtlingsschutz nur noch von
der Haushaltslage der europäischen Nationalstaaten
abhängig gemacht; die Einhaltung universaler Men-
schenrechte ist zweitrangig. Nicht anders ist zu erklären,
dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundes-
innenministerium, Ole Schröder, das Positionspapier
auf einer parteilichen Pressekonferenz der EVP mit der
zentralen Aussage vorstellte, dass man sich Verbesse-
rungen im Flüchtlingsschutz derzeit einfach nicht leisten
könne.

Im Einzelnen begrüßt die Bundesregierung den Ab-
bruch der Neuverhandlungen der Asylverfahrensricht-
linie und der Richtlinie über Aufnahmebedingungen für
Asylbewerber. Beides hat sie durch ihre Blockade im Rat
mitzuverantworten. Damit macht sie deutlich, dass ihr
an Fortschritten beim EU-Flüchtlingsschutzes nicht ge-
legen ist. Im Gegenteil: Sie versucht, mit ihren konserva-
tiven europäischen Kollegen den politischen Kampfbe-
griff des Asylmissbrauchs wieder salonfähig zu machen.
Das ist angesichts der Menschenrechtslage in den
Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge mehr als zy-
nisch. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem li-
beralen Koalitionspartner, der – wenn er es mit libera-
len Grundsätzen im Bereich der Flüchtlingspolitik ernst
meint – unmittelbar einschreiten müsste. Es gibt an die-
ser Stelle zwei Vermutungen. Erstens. Die FDP ist über
die neue Marschroute von de Maizière gar nicht unter-
richtet worden. Zweitens. Die Koalitionsdisziplin hat ge-
griffen, und die FDP ist verstummt. Beides wäre fatal.
Denn interessanterweise gab es auf europäischer Ebene
durchaus liberale Stimmen, die das Vorgehen der Kon-
servativen kritisiert haben. Nadja Hirsch, die integra-
tionspolitische Sprecherin der Liberalen im Europäi-
schen Parlament, bezeichnete den „Versuch der
Konservativen, ein gemeinsames EU-Asylsystem auszu-
hebeln“ als „unverantwortlich und verlogen“. Bedauer-
lich, dass sie mit dieser Stimme nicht weiter in die Na-
tionalstaaten vorgedrungen ist.

Vollkommen unverständlich ist weiterhin, wie die
Bundesregierung ihre eigene Beschlusslage konterka-
riert: Bereits beschlossene Reformanliegen, denen sie
noch vor etwa einem Jahr zusammen mit allen anderen
EU-Mitgliedstaaten zugestimmt hat, werden damit wie-
der ausgehebelt. Im Stockholmer Programm erinnerte
der Europäische Rat an die Notwendigkeit, die Rechte
von subsidiär geschützten Personen an die von Flücht-
lingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anzu-
gleichen. Dies wurde nicht erst dort, sondern seit dem
Haager Programm 2004 in unterschiedlichen Beschlüs-
sen des Europäischen Rats immer wieder betont. Mitt-
lerweile erscheint das Ziel, die Reform bis 2012 umge-
setzt zu haben, allerdings in weite Ferne gerückt zu sein,
da neben Tschechien Deutschland als einziger Mitglied-
staat eine Schutzangleichung im Rat komplett blockiert.
Zu Ihrer Erinnerung: Derzeit leben knapp 26 000
subsidiär geschützten Personen in Deutschland. Bei die-
sen Menschen haben das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge oder Verwaltungsgerichte festgestellt, dass
ihnen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter,
Todesstrafe oder andere gravierende Menschenrechts-
verletzungen drohen. Dies wird sich so schnell nicht än-
dern. Daher ist davon auszugehen, dass diese Menschen
dauerhaft in Deutschland leben werden. Es ist integra-
tionspolitisch völlig unbegreiflich, dass sie bisher mit ei-
ner Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Aufenthalts-
gesetz in Deutschland – anders als anerkannte
Flüchtlinge – weder einen Anspruch auf einen Integra-
tionskurs noch einen Anspruch auf Erlaubnis einer Er-
werbstätigkeit haben. Subsidiär geschützte Personen
erhalten Kinder- und Erziehungsgeld erst nach drei Jah-
ren bzw. BAföG-Leistungen sogar erst nach mindestens
vier Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in Deutsch-
land.

Warum wehrt sich die deutsche Bundesregierung in
Brüssel mit Händen und Füßen dagegen, subsidiär ge-
schützte Personen künftig ebenso wie anerkannte
Flüchtlinge zu behandeln? Wir fordern Sie, Herr Bun-
desinnenminister, mit dem vorliegenden Antrag auf:
Kehren Sie zur gemeinsamen Beschlusslage der EU zu-
rück. Diese Menschen müssen endlich einen Anspruch
auf einen Integrationskurs, uneingeschränkte Sozial-
hilfe, medizinische Betreuung und gleichberechtigten
Zugang zu Wohnraum, beschäftigungsbezogenen Bil-
dungsangeboten sowie berufsbildenden Maßnahmen er-
halten. Mit Ihrer Politik verschließen Sie nicht nur vor
der Ungleichbehandlung von bleibeberechtigten Flücht-
lingen in Deutschland die Augen. Auch europapolitisch
ist Ihr Vorgehen fatal. Für einen europäischen Asyl- und
Flüchtlingsschutz, der diesen Namen auch verdient hat,
muss die Bundesregierung zwei Maßgaben beachten, die
sie beide im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi-
schen Union, AEUV, findet. Sie muss dem Grundsatz der
Solidarität gemäß Art. 80 AEUV endlich zustimmen und
so eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen unter
den EU-Mitgliedstaaten gewähren. Das wäre für die
EU-Randstaaten wie Griechenland oder Italien drin-
gend notwendig.

Zu einer verantwortungsvollen Politik gehören ein-
heitliche Schutzstandards und Verfahrensrechte auf ho-
hem Niveau in ganz Europa. Deshalb fordern wir die
Bundesregierung in unserem Antrag auf, ihre Vorbehalte
gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene
Schutzangleichung aufzugeben. Nur damit kann sie sich
an die Vorgaben des Stockholmer Programms halten, in
denen es heißt, bis spätestens 2012 gemäß Art. 78 AEUV
„ein gemeinsames Asylverfahren und einen einheit-
lichen Status für Personen, denen Asyl oder subsidiärer
Schutz gewährt wird, zu schaffen“. Wir fordern die Bun-
desregierung dazu auf, diesen Grundsatz bei anstehen-
den Gesetzgebungsverfahren auf nationaler Ebene zu
berücksichtigen und umzusetzen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709039100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/4439 und 17/4679 an die in der Ta-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 19:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im
Patentrecht starten

– Drucksachen 17/1052, 17/4725 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Marianne Schieder (Schwandorf)

Stephan Thomae
Jens Petermann

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1709039200

Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion der SPD

wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auf euro-
päischer Ebene für die Einführung einer Neuheitsschon-
frist im Patentrecht einzusetzen. Hierdurch soll dem Be-
dürfnis Rechnung getragen werden, dass die Wissen-
schaft ihre gewonnenen Erkenntnisse frühzeitig veröf-
fentlichen kann, um im internationalen Forschungswett-
bewerb bestehen zu können, ohne eine mögliche spätere
Patentierbarkeit zu gefährden. Diese Forderung ist
nicht neu. Die Diskussion darüber, ob auch in das deut-
sche und europäische Patentrecht die Neuheitsschon-
frist aufgenommen werden sollte, begegnet uns seit den
1980er-Jahren in regelmäßigen Abständen. Der Deut-
sche Bundestag hat sich bereits mehrfach auf Initiative
von fast allen im Bundestag vertretenen Fraktionen mit
dieser Frage auseinandergesetzt.

Bei der Einführung einer Neuheitsschonfrist handelt
es sich um eine facettenreiche Thematik, bei der die Vor-
und Nachteile einer besonders sorgfältigen Abwägung
bedürfen und deren Beurteilung entscheidend von ihrer
näheren Ausgestaltung abhängt. Der von der SPD vor-
gelegte Antrag geht jedoch auf zahlreiche Fragen, de-
nen im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung entschei-
dende Bedeutung zukommt, nicht ein. Dies gilt zum
Beispiel für die genaue Ausgestaltung einer Neuheits-
schonfrist. Der Antrag der SPD-Fraktion lässt auch den
Personenkreis offen, der in den Genuss der Neuheits-
schonfrist kommen soll. Dies betrifft namentlich etwa
die Frage von Vorveröffentlichungen, die nur mittelbar
auf den Erfinder zurückgehen. Darüber hinaus berück-
sichtigt der vorgelegte Antrag nicht hinreichend, dass
eine Neuheitsschonfrist – wenn man sie einführen wollte –
sinnvollerweise nicht nur auf europäischer, sondern
auch auf internationaler Ebene einheitlich ausgestaltet
werden sollte.

Der vorliegende Antrag ist daher schon aus diesen
Gründen nicht zustimmungsfähig.

René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1709039300

Die Geschichte des Einsatzes für die Einführung ei-

ner Neuheitsschonfrist liest sich ein wenig wie der be-
kannte Kampf gegen Windmühlen. Die Bundesregierung
vermittelt zwar den Eindruck, sie stehe einer solchen
Einführung positiv gegenüber; gleichzeitig sehen Parla-
ment und Öffentlichkeit jedoch keinerlei Bewegung in
dieser Sache. Uns allen ist klar: Wir brauchen ein inno-
vations- und forschungsfreundliches Patent- und Urhe-
berrecht. Patente sind ein zentraler Bestandteil des Wis-
sens- und Technologietransfers, auch wenn sich die
Reform von Teilen des Patentrechts möglicherweise
nicht so öffentlichkeitswirksam und attraktiv in der Öf-
fentlichkeit darstellen lässt wie andere Projekte.

Der Deutsche Bundestag hat sich dennoch wiederholt
mit dem Plan zur Einführung einer Neuheitsschonfrist
im Patentrecht auseinandergesetzt. Worum geht es hier-
bei? Wissenschaft und Forschung in Deutschland stehen
durch das Nichtvorhandensein einer Neuheitsschonfrist
vor einem grundlegenden Dilemma. Auf der einen Seite
müssen sie Erkenntnisse zügig publizieren, um im inter-
nationalen Forschungswettbewerb zu bestehen und um
ihre Exzellenz nachzuweisen. Auf der anderen Seite steht
häufig jedoch auch der Wunsch nach einer ökonomi-
schen Verwertung der eigenen Erfindung, der aber zur-
zeit mit der Notwendigkeit der Geheimhaltung einher-
geht. Im Zuge einer solchen Patentanmeldung sind
Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen, und nicht selten
ergibt sich das konkrete Verwertungspotenzial erst nach
Austausch im Kollegenkreis. Die Bearbeitungszeit für
einen Patentantrag verzögert den wissenschaftlichen
Austausch, und die Angst vor einem Verlust des Rechts
zur Patentanmeldung behindert den offenen Austausch
mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftler-
gemeinde sowie mit Unternehmen und Investoren.

Eine Neuheitsschonfrist würde sicherstellen, dass
dem Erfinder eine gewisse Zeit – wir als SPD fordern
eine Frist von einem Jahr unter Verweis auf internatio-
nale Erfahrungen – zur Verfügung steht, in der der Er-
finder seine Erfindung bereits publik machen kann, ohne
dass dies einer späteren Patentanmeldung entgegen ste-
hen würde. Was jeder Beobachterin und jedem Beobach-
ter auf den ersten Blick als schlüssiges Konzept er-
scheint, findet bis heute in unserem Patentrecht keine
Berücksichtigung. Während andere Länder bereits seit
Jahren erfolgreich auf das Instrument Neuheitsschon-
frist setzen, hat sich in Deutschland unter Federführung
von Bundesforschungsministerin Schavan im Bereich
Patentrecht für Wissenschaft und Forschung jedoch
nichts getan. Dabei hat sich der Deutsche Bundestag be-
reits im Mai 2006 klar für die Einführung einer Neu-
heitsschonfrist ausgesprochen. Auf Initiative der SPD
hatten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit der
Drucksache 16/1546 die Bundesregierung aufgefordert,
die Bemühungen zur Einführung einer Neuheitsschon-
frist zu intensivieren. Auch die FDP hatte in Opposi-
tionszeiten auf Drucksache 14/9567 vom Juni 2002 die
Einführung einer Neuheitsschonfrist gefordert. Zu Re-
gierungszeiten haben beide Fraktionen offenkundig ihre
Forderungen von damals vergessen. Wenn die Regie-
rungsfraktionen nun – absehbar – unseren Antrag

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

ablehnen werden, so ist dies kein guter Tag für ein inno-
vationsfreundliches und Forschung förderndes Patent-
recht.

Nun mag man den Regierungsfraktionen zugute hal-
ten, dass sie unseren Antrag ablehnen, da wir uns in der
Opposition befinden. Dabei ist unser Antrag bewusst so
angelegt, dass wir nicht die – unrealistische – Forde-
rung nach einer sofortigen Festschreibung der Neu-
heitsschonfrist aufstellen – so wünschenswert dies auch
wäre –, sondern ja eher zurückhaltend formulieren. Wir
fordern die Bundesregierung lediglich auf, in dieser Sa-
che endlich sichtbar aktiv zu werden. Außerdem soll die
die Bundesregierung dem Bundestag Vorschläge unter-
breiten, wie man das nationale und internationale
Patentwesen zur Stärkung von Wissenschaft und For-
schung verbessern – sprich: reformieren – könnte. Auch
die verbesserte Ausstattung des Deutschen Patent- und
Markenamtes sowie des Europäischen Patentamtes
sollte eigentlich unstrittig sein. Ohne unseren Antrag
wäre dieses Thema jedoch seit Beginn der schwarz-gel-
ben Koalition vollkommen unter den Tisch gefallen. Wir
fordern Sie auf: Beenden sie die Sonntagsreden von ab-
strakten Hightech-Strategie-Plänen und die Märchenge-
schichten über eine angeblich irgendwann einmal anste-
hende steuerliche Förderung von Forschung und
Entwicklung. Sehen sie sich stattdessen konkret an, wo-
ran es der deutschen Wissenschaft und Forschung fehlt.

Unsere Defizite liegen nicht in der geringen Zahl von
bunten Broschüren über Wettbewerbe, Strategien und
Rahmenprogramme; wir haben vielmehr sehr konkrete
Herausforderungen etwa im Patentrecht oder auch im
Urheberrecht, über das wir hier bald diskutieren wer-
den. Schauen Sie noch einmal in das Gutachten zu For-
schung, Innovation und technologischer Leistungsfähig-
keit 2009 der Expertenkommission „Forschung und
Innovation“. Hier finden Sie die Probleme, die die Re-
gierung zügig angehen sollte, und die Neuheitsschon-
frist ist hier eines, es jedoch ein besonders wichtiges
Beispiel.

Auch wenn Sie heute – absehbar – allein aus koali-
tionspolitischen Gründen unseren Antrag ablehnen wer-
den: Drängen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und FDP, ihre Ministerinnen und Minis-
ter zu einer Umsetzung unserer Forderungen. Wir geben
das Copyright für unsere Pläne gerne an Sie ab, wenn
Sie endlich aktiv werden, um die Wettbewerbsfähigkeit
unseres Landes in Wissenschaft und Forschung im Be-
reich Patentrecht zu verbessern.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1709039400

Heute diskutieren wir den Antrag der SPD, mit dem

sie eine „Initiative für eine Neuheitsschonfrist im Pa-
tentrecht“ starten will. Die Mitglieder dieses Hohen
Hauses haben über die Frage, ob im deutschen Patent-
recht wieder eine Neuheitsschonfrist eingeführt werden
soll, in der Vergangenheit mehrfach debattiert. Die Ini-
tiativen dazu kamen aus unterschiedlichen Fraktionen.
In der 14. Wahlperiode war es die FDP, die sich „für ein
effizientes, kostengünstiges und konkurrenzfähiges euro-
päisches Gemeinschaftsrecht mit Neuheitsschonfrist“
Zu Protokoll
einsetzte. Die Fraktionsparteien der großen Koalition
hatten im Jahr 2006 einen Antrag eingereicht, der die
Bundesregierung aufforderte, die Bemühungen um die
Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht auf
internationaler Ebene zu intensivieren. Diese Anträge
blieben bislang ohne erkennbaren Erfolg. Selbst der An-
trag der Regierungsfraktionen aus dem Jahr 2006
konnte die damalige Regierung nicht dazu bewegen, die
Neuheitsschonfrist im deutschen Patentrecht wieder ein-
zuführen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach
dem Für und Wider einer Neuheitsschonfrist. Die Befür-
worter der Neuheitsschonfrist, und so auch der Antrag
der SPD, erhoffen sich in erster Linie, dass die Neuheits-
schonfrist den Forscherinnen und Forschern mehr Zeit
einräumt. Diese soll es den Wissenschaftlern und Wis-
senschaftlerinnen ermöglichen, sich mit Kolleginnen
und Kollegen auszutauschen, um so zu noch besseren
Ergebnissen zu kommen.

Gleichzeitig könnten nach Vorstellung der SPD in der
gewonnenen Zeit auch Gespräche mit Unternehmen und
Investoren geführt werden, die eine möglichst erfolgrei-
che Verwertung der Erfindung zum Ziel haben.

So die Theorie hinter dem Antrag der SPD. Aber
brauchen wir das in der Praxis? Mögliche Geschäfts-
partner und Investoren kann man zur Verschwiegenheit
verpflichten. Dadurch wäre die für eine Patentanmel-
dung erforderliche Voraussetzung, dass die Erfindung
noch nicht veröffentlicht ist, gewährleistet. Darüber hi-
naus sind die meisten Wissenschaftler bereits heute gut
über das Patentrecht informiert. Oftmals verfügen Uni-
versitäten und Forschungseinrichtungen über eigene
oder mit Partnerinstitutionen betriebene Patentverwer-
tungsabteilungen. Die betroffenen Forscher wissen also,
wie wichtig es ist, ihr Patent anzumelden, bevor sie es
veröffentlichen.

Neben den unbestrittenen Vorteilen bringt eine Neu-
heitsschonfrist auch erhebliche Nachteile mit sich. Sie
erhöht die Rechtsunsicherheit, da für die Beteiligten
nicht von vornherein klar ist, ob eine Veröffentlichung
bereits als „Stand der Technik“ von allen genutzt wer-
den kann oder später rückwirkend für eine Patentanmel-
dung in Anspruch genommen wird. Die Rechtsunsicher-
heit hat weitere Folgen: Die Verfahren zur Anmeldung
von Patenten werden komplexer, da noch umfassender
geprüft werden muss, was noch als „nicht veröffent-
licht“ angesehen werden kann oder was gegebenenfalls
der Neuheitsschonfrist unterfällt. Besonders kompliziert
kann dies bei Folgepublikationen werden, die erst durch
vorherige Veröffentlichungen ausgelöst wurden. Diese
Rechtsunsicherheit macht das Patent nicht nur streitan-
fälliger, sie mindert auch die Bereitschaft, in patent-
trächtige Forschungsbereiche zu investieren und aktiv
zu werden. Dies schadet letztlich nicht nur der For-
schung, sondern auch der Allgemeinheit. Aus diesem
Grund wird eine Neuheitsschonfrist von großen Teilen
der deutschen Industrie mit guten Gründen abgelehnt.

Wir wollen die Tür hier aber nicht ganz zumachen.
Die Einführung einer Neuheitsschonfrist in das europäi-
sche Patentrecht wäre im Rahmen einer internationalen



gegebene Reden

Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)

Patentrechtsharmonisierung denkbar. Dies würde je-
doch voraussetzen, dass mit anderen großen Patentna-
tionen, insbesondere den USA, in zentralen Fragen Kon-
sens erzielt werden kann. Hierzu zählen vor allem die
Einführung des Erstanmelderprinzips und die Offenle-
gung aller Patente nach 18 Monaten. Gegenwärtig ist
eine Annäherung der USA an Europa in diesen Punkten
aber nicht zu erkennen; entsprechende Verhandlungen
liegen auf Eis. Solange aber eine internationale Lösung,
die auch von den USA mitgetragen wird, nicht absehbar
ist, überwiegen die Nachteile, die eine Neuheitsschon-
frist im Patentrecht auf europäischer Ebene mit sich
bringen würde. Der Antrag ist daher abzulehnen.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1709039500

Die SPD fordert die Bundesregierung auf, eine Initia-

tive für eine Neuheitsschonfrist von bis zu einem Jahr im
europäischen Patentrecht zu starten. Ziel ist es, Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Veröffentli-
chung neuer Forschungsergebnisse eine Frist einzuräu-
men, innerhalb derer diese Ergebnisse patentiert werden
können. Bisher stehen sie hierzulande vor der Entschei-
dung, entweder zu publizieren oder zu patentieren. Die
Erfahrungen aus den USA zeigen, dass eine solche
Schonfrist dazu beiträgt, einerseits die Zahl der Publi-
kationen zu erhöhen und andererseits die Qualität der
Patente durch entsprechende Transparenz zu verbes-
sern. Im Moment ist es so, dass jede Erfindungsidee, die
vor ihrer Anmeldung beim Patentamt schon öffentlich
gemacht wurde, nicht mehr patentiert werden kann. Öf-
fentlich gemacht ist eine Erfindung dann, wenn sie au-
ßerhalb des Betriebes in einem Probelauf auf ihre Ent-
wicklungsreife hin getestet wurde oder wenn über sie ein
wissenschaftlicher Austausch stattgefunden hat. Die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gezwun-
gen abzuwägen: Einerseits müssen sie ihre Forschungs-
ergebnisse zeitnah publizieren, um im internationalen
Forschungswettlauf mitzuhalten und Reputation zu er-
werben. Auf der anderen Seite wird dadurch eine ökono-
mische Verwertung der eigenen Erfindung ausgeschlos-
sen, da vor einer Patentanmeldung die Geheimhaltung
der Erfindung verlangt wird. Mit diesem Konflikt hatten
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im deut-
schen Patentrecht nicht immer zu kämpfen. Denn bis
zum Ende der 70er-Jahre gab es in Deutschland eine
sechsmonatige Neuheitsschonfrist. Diese wurde jedoch
im Zuge des Straßburger und des Europäischen Patent-
übereinkommens 1978/1979 abgeschafft. Eine Wieder-
einführung der Neuheitsschonfrist allein in Deutschland
würde aber eine deutsche Patentanmeldung im Ver-
gleich zu Anmeldungen aus konkurrierenden Staaten
schwächen. Deshalb ist es geboten, die Neuheitsschon-
frist im europäischen Patentrecht zu verankern.

Meine Fraktion kann dem Anliegen der Sozialdemo-
kraten zustimmen, jedoch nicht ohne einige kritische An-
merkungen zum Beschlusstext gemacht zu haben. Es ist
richtig, dass die derzeitige Regelung, welche eine Ge-
heimhaltung von Forschungsergebnissen bis zu einer
möglichen Patentierung verlangt, niemandem hilft. Eine
Öffnung ist hier geboten, um praktische Hindernisse zur
Vereinbarung von wirtschaftlichen und wissenschaftli-
Zu Protokoll
chen Interessen an Forschungsergebnissen aus dem Weg
zu räumen. Anders als die SPD hier proklamiert, kann es
aber nicht vor allem darum gehen, die Zahl der Patente
endlos auszuweiten. Dies widerspräche dem Ziel, hoch-
qualitative und sinnvolle Patente zu fördern. Aus unse-
rer Sicht muss Ziel der vorgeschlagenen Regelung viel-
mehr sein, Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit
nicht vorzuenthalten. Forscherinnen und Forscher müs-
sen publizieren können, ohne Rücksicht auf eventuelle
Patentierungsmöglichkeiten zu nehmen. Häufig ergeben
sich mögliche Verwertungskanäle auch erst nach einer
Veröffentlichung von Forschungsergebnissen.

Patente und ihre Durchsetzung haben jedoch inzwi-
schen auch Dimensionen erreicht, in denen sie innova-
tionsfeindlich wirken oder an ethische Grenzen stoßen –
etwa im Bereich der Computersoftware, der Biomedizin
oder der Medikamentenherstellung. Die Linke setzt sich
dafür ein, dass im Zuge der im Antrag geforderten Neu-
gestaltung des Patentsystems auch diese Grenzen der
Ansammlung von geistigem Eigentum mitbedacht wer-
den. Wir brauchen klare Regelungen, was alles nicht zu
patentieren ist. Wir wollen eine klare Durchsetzung des
Verbotes von Patenten auf Leben – etwa Pflanzenarten,
Gene oder Saatgut. Keine Firma darf sich unsere Le-
bensgrundlagen aneignen. Wir wollen eine faire und ge-
rechte Patentierung von medizinischer Forschung, da-
mit mit öffentlichen Geldern finanzierte Neuheiten auch
denjenigen in armen Ländern zugute kommen, die keine
Kaufkraft, dafür aber umso mehr Gesundheitsprobleme
haben. Wir brauchen keine weltweite Patentpolizei, wie
sie im Rahmen des ACTA-Abkommens installiert wird,
sondern eine Kultur der Open Innovation. Der Kampf
gegen den Klimawandel ist nutzlos, wenn Umwelttech-
nologien aus Deutschland außerhalb der G-8-Staaten
nirgendwo erschwinglich sind. Wissen sollte stärker ein
Gemeingut werden. Vorschläge dazu lässt die SPD ver-
missen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Behandlung des Themas Neuheitsschonfrist
fällt sofort auf: Die Forderung nach der Einführung ei-
ner Neuheitsschonfrist wird heute zum wiederholten
Male in diesem Hause behandelt. In der Wissenschaft
werden entsprechende Forderungen seit den 80er-Jah-
ren erhoben. Forderungen nach der Einführung sind von
einem auffälligen parteiübergreifenden Konsens ge-
prägt. Zuletzt hat etwa die schwarz-rote Koalition 2006
dieselbe Forderung erhoben. Das gibt zu denken. Nicht,
dass Konsens etwas Schlechtes wäre! Offenbar handelt
es sich um eine mit einfachen Argumenten kaum von der
Hand zu weisende Forderung. Zu denken aber gibt, dass
sich bis heute keine Bundesregierung offiziell den Schuh
hat anziehen wollen, die entsprechende Neuheitsschon-
frist durchzusetzen. Das müssen wir näher diskutieren.

Zunächst aber lassen Sie mich kurz zusammenfassen,
weshalb sich die Wiedereinführung der Neuheitsschon-
frist aufzudrängen scheint. In der Sache geht es um eine
Effektivierung der Ziele des Patentrechts. Es dient dem
Fortschritt der Technik durch Förderung technischer
Erfindungen. Es verleiht Monopole auf Zeit für den Auf-



gegebene Reden

Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

weis und geschickten Nachvollzug in der Natur anzutref-
fender technischer Regeln, die zur Konstruktion innova-
tiver Technologien beitragen können. Die staatliche
Gewährung dieser Rechte soll damit einen Ansporn für
oft kostenträchtige Investitionen in Forschung liefern
und ist damit ein Teil der Forschungs- und Technologie-
politik, die auf laufende verwertbare Innovationen als
Motor der Wirtschaft abzielt. Die Neuheitsschonfrist
kann mittelbar auch Anreize für den notwendigen Aus-
bau des Wissenstransfers zwischen öffentlichen For-
schungseinrichtungen und Industrie schaffen. Das
vorübergehende Ausschließlichkeitsrecht an der Ver-
wertung der Erfindung verspricht einen Return on In-
vestment insbesondere hinsichtlich der getätigten Inves-
titionen und zählt damit zu einem Kranz möglicher
Marktanreize. Übrigens unterscheidet es sich in seinem
Ausgangspunkt des Nachvollzuges der technischen Re-
gel deutlich vom Urheberrecht, bei dem – gut kontinen-
taleuropäisch – der „kreative schöpferische Geistes-
blitz“ zur Schutzanknüpfung konstruiert wird.

Forschung erfolgt auch und gerade im Hochschulbe-
reich, nicht nur in den Forschungsabteilungen von Un-
ternehmen. Will man auch hier die Patentanmeldungen
steigern, kommt es zu einem Zielkonflikt. Denn öffentli-
che Hochschuleinrichtungen ticken anders als die In-
dustrie. Die Finanzierung dort wird nicht unmittelbar
selbst erwirtschaftet, sondern stammt aus öffentlichen
Mitteln sowie etwa aus Drittmitteln. Der Erfolg von For-
schungseinrichtungen bemisst sich nach wie vor nicht
danach, ob man selbst die Ergebnisse der Forschung ei-
ner wirtschaftlichen Verwertbarkeit zuführt, sondern
nach anderen Faktoren wie etwa dem ausgewählten
Forschungsfeld, der Qualität und vielen mehr. Der Zeit-
faktor spielt sowohl in der Industrie als auch in der öf-
fentlich finanzierten Forschung eine ganz entscheidende
Rolle. Für öffentliche Forschungseinrichtungen verbin-
det sich mit dem Erfolg, als erster durch das Ziel zu ge-
hen, der Ertrag symbolischen Kapitals. Wer zuerst
kommt, oft in einem internationalen Wettbewerb, gilt als
exzellent, erhält die größten Zuwendungen und zieht die
besten Köpfe an. Als Nachweis des Zieldurchlaufes dient
in erster Linie die Veröffentlichung der Ergebnisse, die
Sicherung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ist nach
wie vor zumeist nachrangig.

Nach geltendem Patentrecht hat das erhebliche Kon-
sequenzen. Wer veröffentlicht, verliert damit zumeist die
Möglichkeit des Erwerbs von Patentrechten. Denn die
Erfindung gilt damit nicht mehr als „neu“ im Sinne des
Gesetzes. Sie übertrifft nicht mehr den Stand der Tech-
nik, denn sie ist bereits in der Welt und definiert diesen
Stand bereits selbst mit. Damit führt das gegenwärtige
Patentrecht insbesondere im Hochschulbereich zu einer
misslichen Weichenstellung des Entweder-Oder: Veröf-
fentlichung oder Geheimhaltung. Nur wer die Ergeb-
nisse bis zur Patentierungsreife und Patentanmeldung
geheimhält, erhält sich die Chance zur Erlangung des
vorübergehenden Monopols der wirtschaftlichen Ver-
wertung. Offenbar entscheidet sich die Praxis nach wie
vor und überwiegend für die Veröffentlichung.

Mit einer Neuheitsschonfrist, wie wir sie im deut-
schen Recht nur aus § 3 Abs. 1 des Gebrauchsmusterge-
Zu Protokoll
setzes kennen, wird der Erfinder von den patentrechtlich

(Vornen gewissen Zeitraum, zumeist nicht länger als ein Jahr, verschont. Er kann deshalb sowohl Forschungsergebnisse rasch veröffentlichen und damit symbolisches Kapital einstreichen, als auch zugleich an der wirtschaftlichen Verwertung weiterarbeiten. Doch auch die Anzahl angemeldeter Patente vermag es, ein entsprechendes Ansehen zu erzeugen. Die häufig zitierte Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Neuheitsschonfrist aus dem Jahre 2002 setzt sich mit der Praxis dieses Instrumentes in den USA auseinander und befragt deutsche Einrichtungen nach ihren Patentierungsaktivitäten. Sie belegt eine erhebliche Notwendigkeit für eine angemessene Schutzfrist, die sich ergibt, weil sich die Patentierungsreife der Erfindung zeitlich oft erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem der möglichen Erstveröffentlichung ergibt. Auch – vermeidbare – Gründe wie zu hohe Kosten oder der Arbeitsaufwand werden angeführt, die eine Schonfrist rechtfertigen könnten. Zu denken gibt die Studie damit allerdings noch in ganz anderer Hinsicht. Wenn patentinaktive Wissenschaftler darüber klagen, dass ihnen Informationen zu ihren Patentierungsmöglichkeiten fehlen, und selbst die patentaktiven Forscher über Nichtanmeldungen aufgrund des Arbeitsaufwandes oder der Kosten klagen, so bewegt man sich im hochschulpolitischen Feld der Wirksamkeit der Transferstellen, die bei der Patentierung behilflich sein sollen. Wer also patentpolitisch steuert, muss sich über die Grenzen des Erreichbaren Rechenschaft ablegen. Man muss sehen, dass es mit einer wissenschaftsund forschungsfreundlichen Patentrechtsreform nicht getan ist, sondern dass auf unterschiedlichen Ebenen das Umfeld der Hochschule mitbetrachtet werden muss, wenn mehr Patentanmeldungen das Ziel sind. Bei alledem ist für uns Grüne selbstverständlich, dass sich der Erfolg wissenschaftlicher Arbeit nicht allein nach der wirtschaftlichen Verwertbarkeit bemessen kann. Diskussionswürdig und aus unserer Sicht noch weiterer Begründung bedürftig ist die Dauer der Schonfrist. Die Bemessung muss im Hinblick auf die Ungewissheit der Verwertbarkeit abgewogen werden. Denn wird sie ohne weitere Anpassung im Patentrecht eingeführt, führt sie unter dem Strich zu einer Verlängerung der Gesamtdauer, für die Unklarheit darüber besteht, ob Veröffentlichungen wirtschaftlich genutzt werden können. Vieles spricht deshalb dafür, gegebenenfalls kompensatorisch Anpassungen vorzunehmen, mit denen sichergestellt wird, dass durch die Neuheitsschonfrist die derzeitige 18-monatige Offenlegungsfrist für Patenanmeldungen in der Summe keine Verlängerung erfährt. Der vorliegende Antrag der SPD regt ferner eine Neuheitsschonfrist von einem Jahr im europäischen Patentübereinkommen an. Wir kennen eine Regelung der Neuheitsschonfrist im Gebrauchsmusterrecht, die zunächst mit einer Frist von sechs Monaten begann und nach ersten Erfahrungen auf insgesamt ein Jahr verlängert wurde. Entsprechend wäre zu überlegen, ob ein ähnlich vorsichtiges, schrittweises Vorgehen auch bei ei gegebene Reden Dr. Konstantin von Notz ner Einführung im Patentrecht ratsam wäre. Weitere kompensatorische Anpassungen im Patentrecht werden für den Fall einer Einführung diskutiert und sollten sorgfältig geprüft werden. Klar ist, dass angesichts internationaler Patentierungsstrategien eine rein nationale Lösung wenig zielführend erscheint. Deshalb geht der Antrag in die richtige Richtung. Nach meinen Informationen verfügt neben den USA auch Japan über eine patentrechtliche Neuheitsschonfrist. Das zentrale Argument der Gegner der Neuheitsschonfrist, wonach diese eine Steigerung der Rechtsunsicherheit bewirke und Verzerrungen im Standortwettbewerb nach sich ziehe, verliert angesichts fortschreitender Harmonisierung an Überzeugungskraft. Zudem zeigt sich Rechtssicherheit auch und insbesondere im Patentrecht als ein relatives Konzept angesichts der ohnehin bestehenden zahlreichen Kautelen bei der notwendigen Ermittlung des jeweiligen Standes der Technik. Lassen Sie mich noch zur Frage zurückkommen, wie wir damit umgehen, dass wir es mit einer nunmehr bereits seit 30 Jahren im Raume stehenden Forderung zu tun haben. Es hat zahlreiche Vorstöße zur Einführung gegeben, die bislang allesamt offenbar an der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Systeme, sowohl zwischen den Mitgliedstaaten des Europäischen Patentübereinkommens als auch zwischen den EPÜ-Staaten im Verhältnis zu den USA und Japan, gescheitert sind. Die Tatsache, dass sich entsprechende Vorstöße auf internationaler Ebene schwierig gestalten, sollte uns nicht davon abhalten, das Richtige zu tun, um ein innovationsfreundliches Patentrecht voranzubringen. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss empfehlung auf Drucksache 17/4725, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1052 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 20: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Paul Schäfer weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EUTM Somalia beenden – Für eine politische Lösung in Somalia – Drucksache 17/4248 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Die European Training Mission für Somalia – kurz EUTM SOM – hat ein ganz klares Mandat. Sie soll durch die Ausbildung von Sicherheitskräften für die somalische Übergangsregierung – kurz TFG – die Lage in Somalia langfristig stabilisieren und darüber hinaus die Sicherheit der Bevölkerung Mogadischus sicherstellen. Deutschland beteiligt sich an dieser europäischen Mission und nimmt die übertragene Verantwortung mit unseren europäischen Partnern wahr, damit endlich wieder Frieden in ein Land einkehrt, das viel zu lange schon unter der Last des Bürgerkrieges aufgerieben wird. Die Übergangsregierung ist der einzige verlässliche Akteur, der bestrebt ist, ein Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen in einem Staat, der de facto über keine funktionsfähigen Organe verfügt. Dabei ist das Vorgehen der Europäischen Union kein Alleingang. Multilateral, in Abstimmung mit den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, wird hier ein Versuch unternommen, den fortwährenden Kriegszustand endlich zu beenden. In Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, unterstellen Sie, dass unser Engagement im Rahmen der EUTM SOM die Konflikte in der Region schüren würde und sogar eine Ausweitung auf die Nachbarstaaten Äthiopien, Kenia und Uganda droht. Woher nehmen Sie diesen Irrglauben? Im Kampf gegen die islamistischen Milizen, denen überhaupt nicht an einem Friedensprozess gelegen ist, brauchen die Menschen in Somalia ausgebildete Sicherheitskräfte, die das oberste ihrer Grundrechte wahren: das Recht auf Leben. Eine Beendigung des Einsatzes in Somalia wäre unverantwortlich. Schon heute treibt die prekäre Situation vor Ort junge Menschen in die Hand der islamistischen Milizen, die die Einrichtung einer Gesetzgebung auf Grundlage der Scharia fordern, oder in die Hände von Piraten. Fast täglich erreichen uns Berichte von Piratenangriffen vor Somalias Küste. Dürfen wir dem nachgeben und uns aus der Verantwortung stehlen? Nein, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, hier kommt wieder einmal Ihre vollkommen desillusionierte, ideologische Verblendung ans Licht, zumal Sie in Ihrem Antrag ja noch nicht einmal im Geringsten ausführen, wie Ihre politische Lösung aussehen könnte. Und um das noch einmal anzuführen: Militärisch, wie Sie sagen, ist der Ansatz der EUTM SOM nicht. Es geht hier um die Ausbildung von Sicherheitskräften, mitnichten um die Entsendung bewaffneter deutscher Soldaten. Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Antrag kritisieren, ist die Zusammensetzung der Streitkräfte der somalischen Übergangsregierung. Ich bin überzeugt davon, dass die unterschiedlichen Volksgruppen, die gemeinsam ausgebildet werden, eine große Stärke des Ausbildungsprogrammes sind. Gerade die gemeinsame Ausbildung wird dabei helfen, die unterschiedlichen Gruppierungen zusammenzubringen und so den Friedensdialog zu forcieren. Die Besoldungszusagen der amerikanischen Regierung für die Rekruten in Höhe von 100 US-Dollar werden ein Desertieren der Soldaten verhindern und sie langfristig an die Regierung binden. Hartwig Fischer Auch Ihr Vorwurf, die Bundesregierung würde in Somalia parteiisch in Bürgerkriege eingreifen, entbehrt jeder Grundlage. Wie Sie bei einer Auseinandersetzung mit der Sachlage festgestellt hätten, ist die EUTM SOM weder ein direkter Eingriff in einen Bürgerkrieg, noch geschieht er parteiisch. Die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen mit ihren Institutionen und die Europäische Union stehen hinter der Entsendung von derzeit sechs – ich wiederhole mich: sechs – Ausbildern von maximal 20 möglichen Entsendungen. Eine einseitige militärische Intervention sieht anders aus. Ihre Unterstellung verhöhnt die Arbeit unserer deutschen Soldaten. Aber Sie schrecken ja auch nicht von der Instrumentalisierung von Kindersoldaten zurück. Ihre angeblichen Hinweise, die TFG würde sich bei ihrer Rekrutierung minderjähriger Soldaten bedienen, lässt sich nicht bestätigen. Auch die eingesetzten deutschen Ausbilder vor Ort sind über keine Einbeziehung von Kindersoldaten informiert. Im Gegenteil: Die TFG engagiert sich gegen Rekrutierung Minderjähriger, im Gegensatz zu den radikalislamischen Milizen, die offen die Schutzwürdigkeit von Kindern verletzten. In Ihren Forderungen genauso wie in der Begründung Ihres Antrags befinden Sie sich meilenweit entfernt von der Realität. Diese außenpolitisch andauernde Realitätsverweigerung ist bar jeder Vernunft. Stellen Sie sich in dieser wichtigen Frage endlich den Tatsachen, und helfen Sie mit konkreten politischen Vorschlägen, die Lage in Somalia zu verbessern. Das Leid der Menschen in Somalia darf nicht für Ihre politisch-ideologisch motivierten Machenschaften missbraucht werden. Die Situation in Somalia ist – man kann es nicht an ders beschreiben – verfahren. Seit fast zwanzig Jahren gibt es keinen funktionierenden Staat am Horn von Afrika. De facto ist das Land dreigeteilt: in Somaliland als gewissermaßen gefestigten Staat, Puntland als schwachen Staat und Süd-Somalia als gescheiterte, quasi staatenlose Region. Sie wird von den zunehmend radikalisierten Al-Schabaab-Milizen kontrolliert, die nicht nur Terror gegenüber der somalischen Bevölkerung ausüben, sondern durch Anschläge auch die Bevölkerung in den Nachbarstaaten bedrohen. Die von den Vereinten Nationen anerkannte somalische Übergangsregierung unter Scheich Scharif ist nicht in der Lage, mehr als wenige Straßenzüge in Mogadischu zu kontrollieren, und auch das gelingt ihr nur, weil die Mission der Afrikanischen Union, AMISOM, den Schutz der Übergangsregierung sicherstellt und den Zugang zum Hafen und zum Flughafen kontrolliert. Das Interesse der Mehrheit der Bevölkerung an einem Ende der Kämpfe, an einem Wiederaufbau und einem menschenwürdigen Leben wird von den bewaffneten Gruppen schlicht missachtet. Von den insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern Somalias ist knapp die Hälfte auf Nahrungsmittelhilfe von außen angewiesen, und jedes vierte Kind ist akut unterernährt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten des Konfliktes wurden fast 1,5 Millionen Menschen vertrieben. In den vergangenen Monaten haben mehr als 20 000 Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Wasser verZu Protokoll lassen. Hilfsorganisationen warnen aktuell davor, dass bis zu einer halben Million Menschenleben durch ausbleibende Regenfälle und eine der schlimmsten Dürreperioden der vergangenen Jahre bedroht sind. Derzeit ist wohl kein Akteur alleine in der Lage, die physische Sicherheit der somalischen Bevölkerung zu garantieren oder gar rechtsstaatliche Mechanismen zu gewährleisten. Gerade Sicherheit ist jedoch eine der Schlüsselvoraussetzung für Frieden und eine nachhaltige Entwicklung. Mit der EU-Trainingsmission in Somalia, EUTM, leistet die Europäische Union einen wichtigen Beitrag, um ein Mindestmaß an Sicherheit in und für Somalia zu erreichen. Die EU und ihre beteiligten Mitgliedstaaten greifen dabei gerade nicht parteiisch in einen Bürgerkrieg ein, wie es die Linke in ihrem Antrag in unverantwortlicher Weise behauptet. Sie agieren in Abstimmung mit der internationalen Staatengemeinschaft. In seiner Resolution 1872 hat der VN-Sicherheitsrat regionale und internationale Organisationen explizit aufgefordert, Unterstützung bei der Ausbildung der somalischen Sicherheitskräfte zu leisten. Diese Resolution ist die Grundlage für EUTM. Die Mission dient nicht nur dazu, Soldaten in militärisch-technischen Fragen auszubilden. Zum Programm zählt auch die Ausbildung in Fragen von Menschenrechten mit einem Schwerpunkt auf Frauenund Kinderschutz. Deshalb gehören sowohl weibliche Ausbilder wie auch ein Gender Advisor zum Team von EUTM. Bei aller Bedeutung, die wir der Mission beimessen, dürfen wir natürlich auch die Probleme nicht außer Acht lassen. Es ist richtig: Es lässt sich nicht ausschließen, dass einige der gut ausgebildeten Soldaten bei ihrer Rückkehr nach Somalia die Seiten wechseln. Sie werden dies vor allem dann tun, wenn sie sich schlecht behandelt oder benachteiligt fühlen. Eine gute und regelmäßige Bezahlung ist dabei nur ein, aber ein wichtiger Aspekt. Die Mission und damit die Hoffnung auf Sicherheit in Somalia gänzlich aufzugeben, ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Deshalb muss die internationale Staatengemeinschaft alles daran setzen, nicht nur die Ausbildung der Soldaten, sondern auch die Rahmenbedingungen für deren Einsatz zu verbessern. Die Linke spricht sich in ihrem Antrag dafür aus, die deutsche Beteiligung an EUTM sofort zu beenden. Gleichzeitig fordert sie aber auch eine politische Lösung in Somalia. Letzteres kann ich nur unterstützen; doch leider sagt der Antrag nichts dazu, wie eine politische Lösung erreicht werden kann. Hier zeigt die Linke schlichtweg Orientierungslosigkeit. Wirkliche Fortschritte werden wir in Somalia nur erreichen, wenn der Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen einschließlich der Sicherheitsstrukturen einhergeht mit der Bekämpfung der Armut und der Sicherung von Menschenrechten. Dabei kann militärisches Engagement kein Ersatz für Staatlichkeit und für eine friedliche Entwicklung Somalias sein. Das hat gerade meine Fraktion immer wieder betont, zuletzt bei der Verlängerung des Atalanta-Mandates. Deshalb müssen wir uns weiterhin am Programm der internationalen Gemeinschaft zum Wiederaufbau staatlicher Strukturen und an der Finanzierung von AMISOM beteiligen. gegebene Reden Edelgard Bulmahn Die Afrikanische Union selbst hat eine immer wichtigere Rolle bei der Friedenssicherung und Konfliktlösung übernommen. Die vorhandenen Kapazitäten gilt es auszubauen und zu stärken. Deutschland sollte daher die AU in ihrem Bestreben, positive Entwicklungen für den afrikanischen Kontinent herbeizuführen, nach allen Kräften unterstützen. Bei der Lösung der vielfältigen Konflikte in Afrika muss die AU einer der wichtigsten Partner der internationalen Staatengemeinschaft sein. Mit Blick auf die Situation in Somalia hat die AU bei ihrem Gipfel in der vergangenen Woche deutlich gemacht, dass sie bereit und in der Lage ist, hier Verantwortung zu übernehmen. Entsprechend den internationalen Vereinbarungen läuft das Mandat der somalischen Übergangsregierung am 20. August 2011 ab. Und man ist sich in der Staatengemeinschaft einig, dass es hier keinen Aufschub geben darf. Aufgabe ist es, bis dahin eine neue Verfassung zu entwickeln, freie und faire Wahlen zu organisieren und dabei in einem demokratischen Prozess die verschiedenen somalischen Akteure einzubinden. Wenn das nicht gelingt, dann wird die nächste somalische Administration nicht mehr sein als die 16. Übergangsregierung seit 1991. Somalia ist seit dem Ende der gescheiterten UN-Frie densmission im Jahr 1995 zum Synonym und Paradebeispiel für Staatsversagen geworden. Die internationale Gemeinschaft hat das am Golf von Aden gelegene Land seit Mitte der 90er-Jahre sträflich vernachlässigt. Somalia von der internationalen Agenda zu nehmen war damals eine fatale Fehlentscheidung, die sich heute rächt. Das äußert sich für alle am leichtesten nachvollziehbar in den Meldungen über die florierende Piraterie vor der somalischen Küste. Der weltweite volkswirtschaftliche Schaden dieses Phänomens wurde bereits 2007 von der Internationalen Handelskammer auf etwa 13 Milliarden Euro geschätzt. Der Konflikt hat darüber hinaus aber verheerende Folgen für die gesamte Region, die in den Medien weit weniger präsent sind. Der Konfliktherd Somalia strahlt nicht nur auf die afrikanischen Nachbarstaaten aus, sondern auch auf den Jemen auf der arabischen Halbinsel. Die Hoffnung, dass sich die somalische Übergangsregierung, Transitional Federal Government, TFG, nach der Wahl von Scheich Scharif Sheik Ahmed zum Übergangspräsidenten im Januar 2009 als effektive Staatsmacht durchsetzten würde, hat sich bislang leider nicht erfüllt. Die TFG kontrolliert mithilfe der Friedenstruppe AMISOM der Afrikanischen Union nach wie vor nur einen Teil der Hauptstadt Mogadischu; AMISOM hat seine Sollstärke von 8 000 Soldaten bis heute nicht erreicht. Erst spät, als sich das Problem aufgrund der ausufernden Piraterie in den somalischen Küstengewässern nicht mehr ausblenden ließ, hat die Europäische Union reagiert. Mit der Mission Atalanta leistet die EU seit 2008 einen wichtigen Beitrag, um das Piraterieproblem einzudämmen. Deutschland ist hieran mit einer Fregatte Zu Protokoll und bis zu 1 400 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Seit April letzten Jahres unterstützt die EU mit der Ausbildungsmission EUTM Somalia die provisorische somalische Übergangsregierung auch bei der Ausbildung von bis zu 2 000 Rekruten in Uganda. Deutschland ist an dieser Mission mit bis zu 13 Angehörigen der Bundeswehr beteiligt. Während Uganda die Grundausbildung der Rekruten übernimmt, kümmert sich die EU vor allem um die Spezialisierung der Soldaten. Hierzu gehört ausdrücklich auch die Ausbildung in Menschenrechtsfragen mit einem Schwerpunkt auf Frauenund Kinderschutz. Die Bemühungen allein im militärischen Bereich können den Konflikt natürlich nicht grundlegend lösen. AMISOM, Atalanta und EUTM Somalia können die aktuellen Symptome lindern und die Voraussetzungen für eine politische Lösung verbessern helfen, indem sie für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen. Dabei müssen diese Bemühungen eingebettet sein in ein politisches Gesamtkonzept. Dieses Konzept muss von allen relevanten politischen Gruppen in Somalia selbst getragen werden und auch – und gerade – die Anrainerstaaten umfassen, denn der Konflikt hat schon lange eine überregionale Dimension. Die Nachbarstaaten haben dabei unterschiedliche Interessen. Es ist kein Geheimnis, dass Äthiopien die somalische Übergangsregierung unterstützt, Eritrea hingegen die UIC. Damit stärken diese Länder somalische Kontrahenten und weiten ihre eigenen Konflikte auf Stellvertreter im Somalia aus. Doch die regionale Verflechtungen gehen weiter: Ägypten, Dschibuti, Kenia, Jemen und Sudan – auch diese Länder verfolgen verschiedene Ansätze und Eigeninteressen, auch das muss bei den politischen Ansätzen beachtet werden. Eines dürfen wir nicht vergessen: Alle internationalen Versuche, eine friedliche Entwicklung Somalias zu befördern, können nur eine unterstützende Rolle einnehmen. Ein tragfähiger Friedensprozess kann nur von Innen kommen. Daher ist es an den Somalis selbst, eine politische Einigung über eine friedliche Entwicklungsperspektive für ihr Land zu erzielen. Ich begrüße es, dass die internationale Gemeinschaft und mit ihr die Europäische Union ihre diplomatischen Bemühungen in dieser Richtung intensivieren. Hierzu wurde im Oktober 2010 der „Strategy and Action Plan for Inland Somalia“ vorgelegt, welcher sich an drei Leitlinien orientiert: dem innersomalischen Dialog, dem Wiederaufbau von somalischen Schlüsselinstitutionen sowie dem Dialog mit internationalen Gemeinschaften und Partnern. Der Plan betont dabei die Notwendigkeit der weiteren, intensivierten Unterstützung Somalias durch die internationale Gemeinschaft und empfiehlt die Unterstützung des „Kampala Framework for Dialogue among Somalis“, in dessen Rahmen Vertreter der einzelnen Regionen zu Gesprächen zusammengeführt werden. Des Weiteren wird eine weitere Stärkung von AMISOM und der provisorischen Übergangsregierung gefordert und eine verbesserte Koordination der internationalen Unterstützungsbemühungen postuliert. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat eine konkrete Ausarbeitung hierzu begrüßt. gegebene Reden Marina Schuster Im Rahmen dieses politischen Gesamtansatzes, den es weiter zu entwickeln und auszubauen gilt, bilden die genannten Missionen einen wichtigen Baustein. Sie alleine können den Frieden nicht bringen, aber ohne sie wird es keinen Frieden geben. Zur Unterstützung einer politischen Lösung, die alle relevanten somalischen und regionalen Akteure mit einbeziehen muss, sind AMISOM, EUTM Somalia und Atalanta kurzund mittelfristig ein unverzichtbarer Beitrag. In Somalia herrscht Bürgerkrieg. Die international anerkannte Übergangsregierung, Transitional Federal Government, TFG, wurde nach der US-gestützten Invasion durch Äthiopien im benachbarten Djibouti aus verschiedenen Warlords zusammengesetzt. In Wirklichkeit existiert diese Regierung gar nicht. Es handelt sich bei der TFG um einen Haufen zwielichtiger Persönlichkeiten, die internationale Hilfsgelder einstreichen, aber primär damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu bekämpfen – und zwar nicht so, wie das auch die deutsche Bundesregierung tut, sondern mit Maschinengewehren und Mörsergranaten. Selbst Kindersoldaten werden eingesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese korrupte Herrscherclique bedingungslos, weil diese es ihr erlaubt, in ihren Küstengewässern auf Piratenjagd zu gehen und deutsche Wirtschaftsinteressen abzusichern, ganz im Sinne des ehemaligen Bundespräsidenten Köhler und des Verteidigungsministers zu Guttenberg. In Somalia selbst hat diese Übergangsregierung keinerlei Legitimität. Sie übt nur formal Kontrolle über den Hafen und den unmittelbar daneben gelegenen Flughafen in Mogadischu aus, und das mithilfe von über 7 000 Soldaten der AMISOM-Mission der Afrikanischen Union, die diesen Hafen halten und um die Kontrolle des benachbarten Regierungsviertels kämpfen. Bezahlt wird dieser Einsatz überwiegend von den USA und der EU. Letztere entnimmt die Mittel hierfür aus dem Europäischen Entwicklungsfonds. Das heißt, dass deutsche Entwicklungshilfegelder so in einen Kampfeinsatz fließen, bei dem regelmäßig Kriegsverbrechen begangen werden. Bei den 5 000 bis 10 000 Soldaten, über die die TFG verfügen soll, handelt es sich um Milizen – darunter wie gesagt viele Kindersoldaten –, die sich sporadisch gegenseitig bekämpfen. Die Angehörigen erhalten keinen Sold, sie leben oft von Plünderungen und Erpressungen. Auch die Soldaten der AMISOM erhalten oft verspätet und manchmal gar keinen Sold. Sie sind unmotiviert, haben sich im Hafen verschanzt und reagieren auf Angriffe mit dem willkürlichen Beschuss von Wohngebieten mit Mörsergranaten. Nahezu wöchentlich wird so der wichtigste Markt der Hauptstadt beschossen, jeweils mit Dutzenden Toten. Das ist der Hintergrund, vor dem Bundesregierung und EU vor einem Jahr, am 15. Februar 2010, beschlossen haben, 2 000 Soldaten für die somalische Übergangsregierung auszubilden – mit einer eigens hierfür aufgestellten militärischen Mission der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik, GSVP, EU-Training-Mission for Somalia, EUTM. Die Ausbildung findet in Uganda statt. Und Uganda ist wohlweislich KonfliktZu Protokoll partei im somalischen Bürgerkrieg. So wurde der ugandische Truppenübungsplatz mit EU-Geldern massiv ausgebaut. Parallel hierzu bilden im selben Feldlager auch die ugandischen Streitkräfte somalische Rekruten aus, die anschließend ebenfalls im Rahmen von EUTM fortgebildet werden sollen. Die Bundeswehr ist mit bis zu 20 Soldaten vor Ort an der Ausbildung beteiligt, die unter anderem den Kampf in bebautem Gelände umfasst. Auf Videos ist zu sehen, wie somalische Rekruten unter Anleitung europäischer Soldaten Häuser stürmen und das Schießen erlernen. Bis heute konnte die Bundesregierung letztlich nicht ausschließen, dass dabei auch Minderjährige zu Soldaten gemacht werden. Erst vor zwei Wochen hat Staatsminister Hoyer hier eingeräumt, dass bezüglich des Alters „immer eine gewisse Restunsicherheit“ bliebe und „man Fragen dieser Art [bisweilen] nach Augenschein entscheiden“ müsse. Die Verantwortung für die Auswahl der Rekruten wird von der Bundesregierung auf die USA abgeschoben, welche die jungen Somalier nach Uganda fliegen, und auf die AMISOM und die Übergangsregierung, welche für die Auswahl zuständig ist. Das sind die Fakten der EUTM Somalia. Diese Vorgänge sind so bodenlos, so empörend, dass sie kaum in Worte zu fassen sind. Die Bundeswehr steckt mitten im schmutzigen Bürgerkrieg in Somalia. Man müsse die „Realitäten on the ground“ zur Kenntnis nehmen, wurde dem Bundestag hier vor zwei Wochen von Staatsminister Hoyer vorgehalten, und gemeint war damit, sich diesen anzupassen. Er hatte dies gesagt, nachdem er eingestehen musste, dass die Bundesregierung auch in Äthiopien die Ausbildung Minderjähriger zu Soldaten finanziert hat und dass diese nun irgendwo im somalisch-äthiopischen Grenzgebiet ohne Sold, aber mit Waffen unterwegs sind. Damit entpuppt sich wieder einmal all das Gerede von Werten, Demokratie und Menschenrechten in der Außenpolitik als leeres Geschwätz – wie auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo man hinsichtlich Ägyptens deutlich machte, dass Stabilität vor Demokratie geht. Doch die 2 000 Soldaten, die in Bihanga ausgebildet werden sollen, werden nicht einmal einen Beitrag zur Stabilität leisten. Sie werden einfach eine weitere marodierende Miliz werden oder zu den Aufständischen überlaufen – finanziert und ausgebildet mithilfe der deutschen Bundesregierung. Bis zu 60 000 Soldaten soll Äthiopien in Somalia stationiert gehabt haben, und alles, was sie erreicht haben, war eine weitere Destabilisierung des Landes. Das ganze Piraterieproblem, das jetzt ebenfalls militärisch bekämpft wird, ist erst mit dieser Invasion entstanden. Wir sehen hier auch die Konsequenzen einer Armee im Einsatz. Es gibt keine sauberen und demokratischen Kriege und keine Menschenrechtskrieger. Wir sehen in Afghanistan, wie der Krieg die Menschen verroht, wie Bundeswehrsoldaten mit Totenköpfen spielen, mit der Waffe posieren und sich gegenseitig bedrohen. Wir sehen in Somalia und Uganda, wie Kriegsverbrecher unterstützt, Rekruten gequält und Kindersoldaten rekrutiert werden. Prinzipien wie Innere Führung und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte verkommen bei einer Armee im Einsatz zur Makulatur. gegebene Reden Sevim Daðdelen Sevim Dağdelen Obwohl die Bundeswehrsoldaten bei diesem Ausbildungseinsatz bewaffnet sind, wurden sie ohne eine Befassung und Abstimmung des Bundestages nach Uganda geschickt. Wir sehen hier, wie die demokratische Kontrolle der Bundeswehr über den Umweg der EU aus dem Weg geräumt wurde. Ich halte es für keinen Zufall, dass gerade bei diesem Einsatz, der ohne Beteiligung des Bundestages zustande kam, alles schiefläuft. Dieser Antrag ermöglicht uns, die Notbremse zu ziehen, die Bundeswehr aus Uganda abzuziehen und jede weitere finanzielle Beteiligung an der Mission zu verweigern. Der Zeitpunkt ist günstig; denn die Ausbildung der ersten 1 000 Soldaten ist gerade abgeschlossen. Sie wurde nun verlängert, weil es sich als schwierig erweist, weitere 1 000 Soldaten zu rekrutieren, und weil völlig unklar ist, was mit den 1 000 bereits ausgebildeten passieren soll. Wir müssen endlich Schluss machen mit der Ausbildungsund Ausstattungshilfe für Kriegsverbrecher und diktatorische Regime wie in Afghanistan, Ägypten und Somalia. Und wir müssen uns Gedanken machen, was wir mit den 1 000 Somaliern machen, die mit Versprechen vom großen Geld aus ihren Familien gerissen, nach Uganda geflogen und dort in ein Militärcamp gesperrt wurden, um sie zu Soldaten zu machen. Das Mindeste, was die deutsche Bundesregierung tun muss, ist, sich bei diesen Somaliern zu entschuldigen. Die deutsche Außenpolitik muss sich an Rechtstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Völkerrecht orientieren. Deshalb muss die EUTM Somalia unverzüglich beendet werden. Seit Mai letzten Jahres beteiligen sich sechs deutsche Ausbilder an der European Training Mission in Uganda, um dort Soldaten für die somalische Übergangsregierung auszubilden. Diese EU-Mission im Rahmen der europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik wurde am 31. März 2010 im Rat beschlossen. Der Deutsche Bundestag war bei dieser Ausbildungsmission nicht beteiligt, da nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz reine Ausbildungsmissionen keine zustimmungspflichtigen Auslandseinsätze sind. Danach liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte nur vor, wenn Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist. Unabhängig von der Frage, ob die enge Definition eines mandatspflichtigen Einsatzes möglicherweise überprüft werden sollte, hätte die Bundesregierung gut daran getan, von sich aus das Parlament zu einzubeziehen. Die Ausbildung der Sicherheitskräfte findet zwar nicht direkt in einem bewaffneten Konflikt statt, aber unmittelbar im Zusammenhang mit einem solchen. Die Zustände in Somalia dürfen sicherlich als nicht internationaler bewaffneter Konflikt, also als Bürgerkrieg, bezeichnet werden. Die Sicherheitskräfte werden ihre neu erlernten kämpferischen Fähigkeiten daher auch nach ihrer Rückkehr nach Somalia einsetzen können. Es fragt sich nur für wen und zu welchem Zweck? Der erste von den beiden Lehrgängen mit 1 000 Soldaten sollte nach Abschluss der sechsmonatigen Ausbildung längst nach Mogadischu zurückgekehrt sein. StattZu Protokoll dessen wird diese Rückkehr Woche um Woche verzögert, weil in Mogadischu überhaupt keine Infrastruktur existiert, um die Soldaten aufzunehmen, unterzubringen oder gar zu bezahlen. Die US-Regierung hat den ausgebildeten Sicherheitskräften eine Bezahlung von 100 USDollar im Monat zugesagt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie nach Mogadischu zurückkehren und dort für die Übergangsregierung tätig werden. Die Auszahlung des Soldes erfolgt dabei durch Mitarbeiter des Unternehmens PricewaterhouseCoopers, das bereits 2009 von der somalischen Übergangsregierung gebeten worden war, sich um die Buchhaltung des Landes zu kümmern. Das ist übrigens das gleiche Unternehmen, das die Marktanalyse für die Exportmöglichkeiten des A400M erstellt hat. Wo allerdings keine staatliche Autorität existiert, ist es unverantwortlich Kämpfer auszubilden. Eine legitime Staatsmacht ist eine Voraussetzung für den Aufbau einer Armee und nicht umgekehrt. Dass es in zehn Monaten nicht gelungen ist, die notwendige Infrastruktur in Mogadischu zu schaffen, um die Ausbildungsabsolventen aufzunehmen, sollte der EU als Warnung ausreichen. Die Ausbildung militärischer Kämpfer in einem politischen Machtvakuum kann und wird nicht funktionieren. Zu Recht besteht im Falle Somalia ein Waffenembargo. Wir sollten aber nicht nur davon Abstand nehmen, Waffen in diesen blutigen Konflikt zu liefern, sondern auch davon, die Menschen dort in der Benutzung dieser Waffen zu unterrichten und zu schulen. Das macht die Position der Europäischen Union an dieser Stelle inkonsistent. Solange es in diesem Failed State kein staatliches Gewaltmonopol gibt, wird die Trainingsmission nichts zur Stabilisierung Somalias beitragen können. Das Gegenteil ist zu befürchten. Ich halte die Fortsetzung der Training-Mission in diesem Stadium für unverantwortbar. Der zweite Durchgang sollte gar nicht erst beginnen. Die zweite Forderung des Antrages zielt darauf, unverzüglich die Beiträge der Bundesregierung über den Athena-Mechanismus einzufrieren. Über diesen Mechanismus werden allerdings nicht nur die Trainingsmission in Uganda, sondern auch der Atalanta-Einsatz und die humanitäre Hilfe für Somalia finanziert. Möglich, dass Sie hier nur gemeint haben, die spezifischen Mittel für die Trainingsmission einzufrieren. Dann hätte es allerdings nahegelegen, das auch zu präzisieren. Deutschland hat für 2011 7,5 Millionen Euro zur Finanzierung über Athena in den Einzelplan 14 eingestellt. Da Deutschland mit 20 Prozent beteiligt ist, gehe ich davon aus, dass die Mittel sich insgesamt auf 35 bis 40 Millionen Euro belaufen. Für die EUTM ist ein Budget von gerade einmal 4,8 Millionen vorgesehen. Damit wird deutlich, dass die EU auf diesem Wege überwiegend andere, aus unserer Sicht sinnvolle Maßnahmen finanziert. Außerdem stellt sich die Frage, ob das Einfrieren von Mitteln der richtige Weg ist, die europäischen Partner davon zu überzeugen, eine selbst im Rat mit beschlossene Operation abzubrechen. Die Bundesregierung sollte sich im sicherheitspolitischen Komitee auf EU-Ebene dafür einsetzen, die Mission zu beenden. Das dürfte eher zum angestrebten Er gegebene Reden Katja Keul folg führen als der einseitige, unverzügliche Abzug der sechs Bundeswehroffiziere. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4248 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe 2010)








(A) (C)


(D)(B)

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709039600
Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1709039700

(A) (C)


(D)(B)

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1709039800




(A) (C)


(D)(B)

Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1709039900




(A) (C)


(D)(B)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709040000




(A) (C)


(D)(B)

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1709040100







(A) (C)


(D)(B)

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709040200

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union

– Drucksache 17/4672 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.


Beatrix Philipp (CDU):
Rede ID: ID1709040300

Auf dem Tisch liegt heute ein Antrag der Fraktion Die

Linke. Dieser basiert auf einer Mitteilung der Europäi-
schen Kommission an das Europäische Parlament und
den Europäischen Rat mit dem Arbeitstitel: „Auf dem
Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenab-
wehr: die Rolle von Katastrophenschutz und Humanitä-
rer Hilfe“. Bevor ich zum Antrag komme, erlauben Sie
mir, dass ich zunächst auf die Mitteilung selbst eingehe.
Die Europäische Union ist bemüht, seit der Tsunami-Ka-
tastrophe am 26. Dezember 2004, an der Seite anderer
Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen,
ihre Reaktionsfähigkeit in Krisenfällen zu verbessern. In
diesem Kontext ist auch die Mitteilung der EU-Kommis-
sion zu sehen. Die Kapazität der Europäischen Union in
diesem Bereich soll – sowohl im Hinblick auf den Kata-
strophenschutz als auch in Bezug auf die humanitäre
Hilfe – gestärkt werden. Damit wird – wie der Mitteilung
zu entnehmen ist – eine doppelte Zielsetzung verfolgt.
Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitä-
ten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausge-
baut werden, und zweitens sollen ein europäisches
Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Infor-
mationsaustausch und eine verstärkte Koordinierung
auf EU-Ebene im Katastrophenfall eingerichtet werden.
Vor diesem Hintergrund habe ich mit einiger Verwun-
derung Ihren Antrag zur Mitteilung der Kommission zur
Kenntnis genommen. Wer ihn genau verfasst hat, weiß
ich natürlich nicht. Es muss aber jemand sein, der nicht
im Innenausschuss war bzw. nicht weiß, dass wir auf
meine Anregung hin – uns sehr intensiv mit dieser Mit-
teilung auseinandergesetzt haben. Die Bundesregierung
hat zusätzliches Material bereitgestellt. Auch hier gilt,
dass Lesen bildet; und hilfsweise das Zuhören im Innen-
ausschuss. Das, was Sie fordern, ist sowohl realitätsfern
als auch zeitlich überholt.

Einige Punkte will ich noch einmal herausgreifen. Sie
schreiben: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-
desregierung auf, sich im Rat aktiv für eine zivile und
von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige
Katastrophenabwehr einzusetzen und für den Ausbau
entsprechender Kapazitäten, die vom Militär unabhän-
gig sind, einzutreten.“ Diese Forderungen ignorieren
die Praxis und die Erfahrungen aus der Vergangenheit;
denn eine Katastrophenabwehr bei Großschadenslagen
ohne militärische Hilfe ist heutzutage undenkbar bzw.
kaum leistbar. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest,
dass die Naturereignisse immer größer werden.

Ich nehme dabei Bezug auf Ihre Formulierung im An-
trag – ich zitiere –: „Der Bundestag wolle beschließen
… Der Deutsche Bundestag stellt fest … Der Bundestag
verweist auf den in der Mitteilung der Kommission dar-
gestellten Anstieg von schlimmen Naturkatastrophen mit
hohen Verlusten an Menschenleben …“ Meine Damen
und Herren von den Linken, welches Mitgliedsland kann
es sich heutzutage finanziell erlauben, eine leistungsfä-
hige Armee und – parallel dazu – eine Katastrophenein-
satztruppe für Großschadenslagen bereitzuhalten? Wir
können in Deutschland stolz sein auf unser bestehendes
Schutz- und Hilfesystem. Denn nur beim gemeinsamen
Einsatz von unterschiedlichen Hilfsorganisationen auf
kommunaler Ebene und den Behörden auf Bundesebene
sind wir gut aufgestellt.

An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den
zahlreichen Freiwilligen und Ehrenamtlichen von Her-
zen für ihre unverzichtbare Arbeit zu danken. Mit ihrem
Engagement, mit ihrem Verzicht auf viel Freizeit und ih-
rer ständigen Einsatzbereitschaft geben sie ein besonde-
res Beispiel für bürgerliches Engagement. Das ist mehr,
als der von Ihnen gewünschte hauptamtliche Einsatz; sie
prägen den Charakter unserer Gesellschaft und entspre-
chen dem Subsidiaritätsprinzip in besonderem Maße.
Nicht zuletzt machen sie es möglich, dass Deutschland
in Europa ein beispielgebendes Mitgliedsland ist.

Die Bundesregierung unterstützt die EU beim Ausbau
jeglicher Form der Zusammenarbeit zwischen Katastro-
phenschutz, der humanitären Hilfe, dem Militär, um
durch Nutzung auch militärischer Ressourcen die Ver-
besserung der entsprechenden Strukturen und Verfahren
der Zusammenarbeit zu erreichen, sowohl die der
EU-Institutionen untereinander als auch zwischen EU
und NATO. Allerdings drängt die Bundesregierung da-
rauf, dass der Konsens zur humanitären Hilfe und die
Oslo-Guidelines dabei beachtet werden.

Beatrix Philipp


(A) (C)



(D)(B)

In einem weiteren Punkt Ihres Antrages soll der Deut-
sche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die in
der Mitteilung der Kommission angekündigten Rechts-
akte zur Weiterentwicklung der europäischen Katastro-
phenabwehr abzulehnen. Ja, was ist das denn? Meinen
Sie das wirklich ernst? Eine Seite zuvor schreiben Sie
noch vom Anstieg schlimmer Naturkatastrophen, und
nun soll eine Weiterentwicklung der europäischen Kata-
strophenabwehr abgelehnt werden.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen, wie zum
Beispiel, Überschwemmungen in Australien, Zyklone
und Blizzards in den Vereinigten Staaten, zeigen, dass
die Naturgewalten ein immer größeres Ausmaß anneh-
men. Selbst die zu diesen Ereignissen im Verhältnis ste-
henden kleinen Katastrophenlagen in Deutschland – ich
sage nur am Rhein, an der Elbe und an der Oder – ma-
chen deutlich, dass eine in Gemeindegrenzen, eine in
Ländergrenzen oder eine in Staatengrenzen bestehende
Denkweise hier absolut verfehlt ist. Naturkatastrophen
kennen keine Begrenzungen und keine Grenzen; das
sollten auch Sie wissen.

Eine Stagnation in der Weiterentwicklung der Kata-
strophenabwehr können und wollen wir uns nicht leis-
ten. Es ist also notwendig, dass Notfallpläne für den
Einsatz erstellt werden. Dafür ist es wichtig, über die
Ressourcen der einzelnen Mitgliedstaaten Bescheid zu
wissen. Eine Weiterentwicklung der Katastrophenab-
wehr bedarf der nun geplanten Rechtsakte; das liegt in
der Natur der Sache bzw. in dem Charakter des Europa-
rechts. Eine Ablehnung ist völlig undenkbar. Aber auch
hier steckt der Teufel im Detail. Es ist halt wie im
schlichten Leben. Meine Damen und Herren von den
Linken, wenn Sie schon etwas aufgreifen wollen, dann
übersehen Sie einen viel wichtigeren Punkt, bei dem wir
gefordert sind. Gemäß der Mitteilung ist der Aufbau ei-
ner von den Mitgliedstaaten unabhängigen, eigenständi-
gen Katastrophenabwehr auf EU-Ebene geplant. Dies
lehnen wir ab, und wir waren uns im Innenausschuss da-
rin auch immer einig. Eine vorgesehene Aufstellung EU-
eigener Kapazitäten unter eigener operativer Befugnis
und Verfügungsgewalt läuft Art. 196 des Vertrages über
die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, entge-
gen, ist auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst und
würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widerspre-
chen, auf das ich eben schon hingewiesen habe. Bei all
der Hilfe innerhalb und außerhalb der EU muss den Mit-
gliedsländern ein sogenanntes Letztentscheidungsrecht
verbleiben. Das heißt, die Verantwortung für den Kata-
strophenschutz verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Dies
ergibt sich aus der Kompetenzzuweisung des Vertrages
von Lissabon und entspricht eben dem Subsidiaritäts-
prinzip.

Dem steht nicht entgegen, dass eine Kooperation und
eine Koordination durch die Kommission nicht nur mög-
lich, sondern sogar wünschenswert sind. Wir sind der
Ansicht, dass die Kommission zu Recht mehrfach die
grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten selbst
betont hat.
Zu Protokoll
Zusammengefasst und wie bereits oben dargestellt, ist
der Antrag der Linken überholt und realitätsfern. Wir
lehnen ihn daher ab.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1709040400

Dem vorliegenden Antrag der Linken gebührt zumin-

dest das Verdienst, die Frage der Weiterentwicklung des
Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe auf eu-
ropäischer Ebene zum Gegenstand der Debatte in die-
sem Hause gemacht zu haben. Dieses Verdienst wird lei-
der dadurch geschmälert, dass die Linke der Versuchung
nicht widerstehen konnte, die durchaus notwendige kri-
tische Auseinandersetzung mit dem Kommissionsvor-
schlag und der diesen begleitenden Diskussion auf euro-
päischer Ebene – dazu gehören auch der Beschluss des
Europäischen Parlamentes zur Stärkung des Katastro-
phenschutzes und der Beschluss des Europäischen Par-
lamentes zur Zusammenarbeit zwischen zivilen und mili-
tärischen Akteuren – allein aus ihrer ideologischen Sicht
einer überall drohenden Militarisierung der europäi-
schen Außenpolitik und der Katastrophenhilfe als Gan-
zes zu sehen.

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir Sozial-
demokraten treten angesichts der wachsenden Gefahren
und Herausforderungen durch den Klimawandel, ange-
sichts der steigenden Verwundbarkeit und Verletzlichkeit
komplexer moderner Gesellschaften und der zunehmen-
den globalen Vernetzung und Verkettung von Risiken
und Gefahren für eine Stärkung der Fähigkeiten und Ka-
pazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitären
Hilfe ein, und dies sowohl auf nationaler als auch auf in-
ternationaler Ebene.

Ich erinnere nur an einige aus einer Reihe von vielfäl-
tigen Initiativen, etwa die unter rot-grün vorgenommene
Einrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz
und Katastrophenhilfe oder auch die von der großen Ko-
alition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungs-
schutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durch
das Zivilschutzergänzungsgesetz. Es gab durchaus auch
fraktionsübergreifende Initiativen wie das aus dem Par-
lament initiierte und von Vertretern aller Parteien getra-
gene „Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit“.

Da wir wissen, dass Katastrophen und Krisen nicht
vor Ländergrenzen halt machen, und wir Sozialdemo-
kraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationa-
ler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der
internationalen Instrumente ein, auch auf europäischer
Ebene. Dabei haben wir immer betont – das wurde auch
in der Vergangenheit von allen Koalitionen dieses Hau-
ses im Innenausschuss so gesehen –, dass sich das Sub-
sidiaritätsprinzip im Bereich des Katastrophenschutzes
bewährt hat und auch für die europäische Ebene gelten
muss. Darum haben wir, übrigens bislang auch einmütig
in diesem Hause, alle Versuche auf europäischer Ebene,
eigene Katastrophenschutzkapazitäten aufzubauen und
zusätzlich aufzustellen, zurückgewiesen. Gerade vor
dem Hintergrund der zunehmenden Gefahren und
Herausforderungen muss es im Interesse aller europäi-
schen Länder sein, zuvörderst die örtlichen und natio-
nalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stär-



gegebene Reden

Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

ken und auszubauen. Nur so können die Grundlagen
einer tragfähigen gesamteuropäischen Stärkung der Ka-
tastrophenabwehr und der humanitären Hilfe gelegt
werden.

Subsidiarität bedeutet aber auch, dass dort, wo ei-
gene Mittel nicht mehr ausreichen, der überregionale
Ausgleich und die überregionale Unterstützung gesucht
und vorangetrieben werden. Dies gilt sowohl für Kata-
strophenlagen und humanitäre Krisensituationen inner-
halb der Europäischen Union als auch außerhalb der
europäischen Union. Darum unterstützen wir den Vor-
schlag, die Koordinierungsinstrumente auf Europäi-
scher Ebene zu stärken. Durch die Identifizierung von
Modulen, die innerhalb der nationalen Katastrophen-
abwehrkapazitäten bereitgestellt werden, und durch
zusätzliche Ausbildung können diese untereinander
kompatibel und bei der Hilfe gegenüber Dritten hand-
lungsfähig gemacht werden. Diese Strategie halten wir
grundsätzlich für richtig und sollten sie auch vom
Grundsatz her bei der Bildung des in den Lissabonner
Verträgen vorgesehenen europäischen Freiwilligen-
korps verfolgen.

Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokraten ent-
scheidend, angesichts der Herausforderung und der
Größe drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten
des Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt
Anstrengungen zur Katastrophenprävention zu unter-
nehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindäm-
mung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrate-
gien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen.
Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stär-
kere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastruktu-
ren, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Ge-
sellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen
und Steuerungssysteme. In diesem Zusammenhang be-
grüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung mit
der geplanten Einrichtung eines zivilen Cyberabwehr-
zentrums einen Schritt in die richtige Richtung setzt und
die Gefahren nicht allein unter Cyber War subsumiert.
Denn die Reduzierung auf den militärischen Verteidi-
gungsbegriff wäre deutlich zu kurz gegriffen. Neben
staatlichen Aktionen liegt das Gefährdungspotenzial
nicht nur im Terrorismus, sondern auch in organisierter
Kriminalität und im wachsenden Schadenspotenzial
durch Individualtäter. Die Zunahme internationaler Kri-
senherde fordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten
der Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zu
denen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastro-
phenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtige
Rolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivile
Hilfsorganisationen oder die Bundesanstalt Technisches
Hilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielt
haben und spielen. Wir Sozialdemokraten sind bereits in
der Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, die
zivile gegenüber der militärischen Komponente bei der
Bewältigung von Krisenlagen – die Vereinten Nationen
sprechen nach meinem Dafürhalten zu Recht von soge-
nannten Complex Emergencies – zu stärken, und dies
nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rah-
men der internationalen Mechanismen. Wir halten es
ausdrücklich für richtig, dass auch die Koordinierung
Zu Protokoll
der europäischen Katastrophenhilfe und humanitären
Hilfe sich im internationalen Kontext unter das Primat
der Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationen
stellt, so wie sich die Bundesrepublik Deutschland auch
auf bilateraler Ebene nicht nur in die Koordinierungsin-
strumente der Vereinten Nationen einfügt, sondern diese
auch aktiv und tatkräftig unterstützt.

Wir Sozialdemokraten stehen klar zur zivilen Aus-
richtung des Katastrophenschutzes und der humanitären
Hilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler
Ebene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne,
die es in der Union zu einer stärkeren Militarisierung
des Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei der
Föderalismusreform I als auch in der großen Koalition
am klaren Widerstand der sozialdemokratischen Partei
gescheitert sind.

Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich mi-
litärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amtshilfe
Katastrophenschutz unterstützen können, so wie dies un-
ser Grundgesetz vorsieht. Dies gilt nicht nur im Inland,
sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Da-
bei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeiten
kommen, und gerade in so genannten komplexen Krisen-
lagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militäri-
schen klar und eindeutig sein. Dies gilt nach meinem
Dafürhalten nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch
für internationale Unterstützungsmechanismen. Aber
Subsidiarität muss möglich sein.

Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, ist Ihr Antrag eindeutig über das Ziel hinausge-
schossen. Offensichtlich haben Sie einige Zusammen-
hänge entweder nicht verstanden aus ideologischen
Gründen oder bewusst mißgedeutet. Lassen Sie mich aus
eigener Erfahrung sagen: In bestimmten Lagen ist die
zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch mi-
litärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen.
Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und im
Speziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre üb-
rigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eine
Schmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressour-
cen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Ma-
terial noch einmal zivil vorhalten wollte.

Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäi-
schen und internationalen Rahmen auch, die Besonder-
heiten anderer europäischer Länder zu respektieren. In
den meisten anderen europäischen Ländern ist der Be-
völkerungs- und Katastrophenschutz in Form der Zivil-
verteidigung organisiert, was übrigens auf unser THW
auch zutrifft. So sind etwa die österreichischen Ret-
tungseinheiten bei Erdbeben, mit denen das THW auf in-
ternationaler Ebene zusammenarbeitet, unbewaffnete
Teile des österreichischen Bundesheeres. In Frankreich
wird diese Aufgabe von der Sécurité Civile wahrgenom-
men, einer kasernierten militärischen Formation, die
dem Innenministerium unterstellt ist. Aber nicht nur
das: Die von Ihnen kritisierte Nutzung von militärischen
Mitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenannten
Osloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10
ausdrücklich Bezug nimmt. Diese Osloer Leitlinien um-
fassen eben nicht nur militärisches Gerät und Einrich-



gegebene Reden

Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

tungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern
auch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu
denen nach der Definition dieser Leitlinien auch das
Technische Hilfswerk gehört. Ich kann mir nicht vorstel-
len, dass Sie mit Ihrem Antrag wirklich fordern wollen,
dass die Bundesrepublik Deutschland künftig auf den
Einsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitären
Hilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichtet, weil
dies eine Militarisierung derselben sei, oder gar aus den
gleichen Gründen die Auflösung des THW im Inland for-
dern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
schießen mit Ihrem Antrag weit über das Ziel hinaus und
darum ist er für uns Sozialdemokraten nicht zustim-
mungsfähig.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bishe-

rige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss
überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden.
Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am bes-
ten geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an
den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten aus-
gerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlich-
keiten.

Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zu-
sammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen
uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt
bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den
Zentralisierungsabsichten der EU. Der Schutz der Be-
völkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine
der grundlegenden Aufgaben des Staates. Es gibt jedoch
nur selten Großschadenslagen, die im Sinne des unmit-
telbaren Bevölkerungsschutzes mehrere EU-Staaten zu-
gleich treffen. EU-Rechtsakte auf diesem Gebiet sind
höchst überflüssig. Das gezierte antimilitärische Brim-
borium des Linken-Antrags entspricht nicht unserem
Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechts-
akten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wie
der Linken-Antrag völlig zu Recht sagt, ist davor zu war-
nen, „die Sichtbarkeit der und Koordination durch die
EU als Selbstzweck zu verfolgen.“


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1709040500

Für den Katastrophenschutz kann man nie zu viel tun;

man kann aber das Falsche tun.

Die Europäische Kommission hat sich des Themas
angenommen, und das ist an sich gut. Es ist gut, eine In-
ventarisierung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten
in den Mitgliedstaaten durchzuführen und auch Pla-
nungsszenarien zu entwickeln, wie länderübergreifen-
den Großschadenslagen begegnet werden kann. Auch
sind eine verstärkte Koordinierung von Katastrophen-
schutz und humanitärer Hilfe sowie eine Intensivierung
der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen äußerst
sinnvoll.

Doch die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung an
das Europäische Parlament und den Rat auch Ziele for-
muliert, die auf entschiedenen Widerstand der Linken
stoßen. Teils versteckt, teils offen wird dem Aufbau von
Zu Protokoll
EU-eigenen Kapazitäten das Wort geredet, die Katastro-
phenschutz, humanitäre Hilfe und Krisenreaktionsab-
wehr im Sinne von Sicherheits- und Verteidigungspolitik
bewältigen sollen. Anspielend auf die Haushaltszwänge
wird den Mitgliedstaaten eine Brücke gebaut, eigene
Kapazitäten einzusparen und auf einen europäischen
Katastrophenschutz umzusatteln.

Wenn Sie sich mit den Mitarbeitern des Zivil- und Ka-
tastrophenschutzes unterhalten, wird Ihnen jeder bestä-
tigen, dass Katastrophenschutz flächendeckend und de-
zentral organisiert sein muss.

Die schnelle Reaktion der Helfer in den ersten Stun-
den einer Katastrophe entscheidet über die Effektivität
bei der Rettung von Opfern oder der Eindämmung von
Schadensereignissen. Weit auseinanderliegende Struktu-
ren mit Leitungsstäben, die Hunderte Kilometer vom
Schadensort entfernt agieren, sind ineffektiv.

Es spricht alles für eine Stärkung des Katastrophen-
schutzes vor Ort. Es mag einige wenige Fälle geben, bei
denen es sinnvoll ist, teure Spezialtechnik europaweit
anzuschaffen und koordiniert einzusetzen, zum Beispiel
Feuerlöschflugzeuge zur Waldbrandbekämpfung.

EU-Einheiten zum Katastrophenschutz an sich ma-
chen aber fachlich keinen Sinn. Da dies bekannt ist, wer-
den von der Kommission die internationale humanitäre
Hilfe und die Krisenreaktionsabwehr in die Diskussion
gebracht. Nun obliegt die Koordination der internatio-
nalen humanitären Hilfe den Vereinten Nationen. Diese
bittet die Staaten bei Katastrophen um Hilfe. Welche
Rolle die EU dort spielen will, wird von der Kommission
aber nicht fachlich beantwortet.

Der Vorschlag der Kommission, verstärkt die Nut-
zung militärischer Kapazitäten zum Katastrophenschutz
einzubringen, wird auf eine immer stärkere Vermischung
von zivilen und militärischen Elementen hinauslaufen.
Wie immer wird unter dem Vorwand von Haushalts-
zwängen auf die brachliegende Nutzung militärischer
Kapazitäten und Spareffekte bei der Anschaffung im zi-
vilen Bereich verwiesen. Dieses Herangehen hat die
Bundesregierung der Kommission seit Jahren vorgelebt
und es wird von dieser offensichtlich kopiert. Die ver-
sprochenen Spareffekte sind aber eine Milchmädchen-
rechnung. Militärische Standorte mit potenziellen Kata-
strophenschutzfähigkeiten sind oft mehrere Hundert
Kilometer voneinander entfernt und in ihrer Verteilung
nach verteidigungspolitischen Systematiken und nicht
nach Erfordernissen des Katastrophenschutzes aufge-
stellt. Eine zeitnahe Verwendbarkeit des Militärs im
Schadensfall ist nicht gewährleistet.

Der Bericht der Kommission bezweckt nur eins: Ei-
nige wenige sinnvolle Ansätze zur Effektivierung des
Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe wer-
den zum Anlass genommen, der EU Zuständigkeiten zu-
zuschieben, die dem Subsidiaritätsprinzip widerspre-
chen und verstärkt militärische Elemente in den
Katastrophenschutz integrieren. Damit wird in Kauf ge-
nommen, dass angesichts der schwierigen Haushalts-
lage einzelne Mitgliedstaaten ihre Kapazitäten abbauen
und die Verantwortung zunehmend in die Hände der EU



gegebene Reden

Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)

geben, wo sie nicht hingehört. Dieser Weg ist falsch und
wird von uns entschieden abgelehnt!

Unser Weg ist ein anderer. Wir fordern die Bundes-
regierung daher auf: erstens sich im Rat aktiv für eine
zivile und von sicherheitspolitischen Erwägungen unab-
hängige Katastrophenabwehr einzusetzen und für den
Aufbau entsprechender logistischer Kapazitäten, die
vom Militär unabhängig sind, einzutreten; zweitens die
in der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu ei-
ner verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die
Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe“

(Ratsdokument 15614/10) angekündigten Rechtsakte zur

Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenab-
wehr abzulehnen; drittens sich im Rahmen der Vorberei-
tung des für Ende 2011 angekündigten Legislativvor-
schlags „Vorschlag zur Überarbeitung der Vorschriften
für Katastrophenvorsorge und -abwehr“ dafür einzuset-
zen, dass die Verzahnung ziviler und militärischer In-
strumente in der Katastrophenabwehr und die Verbin-
dung der Katastrophenabwehr mit sicherheits- und
außenpolitischen Strategien ausgeschlossen werden; die
primäre Verantwortung der zuständigen Behörden der
betroffenen Staaten für die Umsetzung im Katastrophen-
fall sichergestellt ist; die Mitgliedstaaten bei bilateralen
Hilfsersuchen weiterhin handlungsfähig bleiben.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zahl der Naturkatastrophen ist weltweit seit 1975
um das Fünffache gestiegen. Erinnert sei hier nur an die
beiden schlimmsten Naturkatastrophen im vergangenen
Jahr: das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmun-
gen in Pakistan. Diese Ereignisse haben sehr viele Men-
schen das Leben gekostet und große Zerstörung hinter-
lassen. Langfristig kann ein weiterer Anstieg von
Naturkatastrophen nur durch einen effektiven Klima-
und Umweltschutz verhindert werden.

Kurzfristig geht es aber vor allem darum, schnell zu
reagieren, und damit sind wir auch schon bei einer der
wichtigsten Fragen, der Frage des Zeitpunkts, an dem
die EU vor Ort koordinierte Hilfe leisten kann. Nach
Einschätzung von EU-Kommissarin Georgieva kann
diese Frage unter den gegebenen EU-Rahmenbedingun-
gen häufig nur bedingt beantwortet werden. Diese Un-
sicherheit und die verbundene Zeitverzögerung führen
in vielen Fällen dazu, dass den hilfesuchenden Ländern
nicht unmittelbar die angefragte Hilfe zugesagt werden
kann. Nicht selten geht mehr als ein halber Tag ins Land,
ehe die Zusagen für die gewünschte Unterstützung gege-
ben werden. Also stellt sich die Frage: Wie kann den Op-
fern von Katastrophen zügig geholfen werden? Diese
Perspektive ist entscheidend. Wir alle wissen, ein Kno-
chenbruch in zwei Tagen oder in zwei Wochen zu behan-
deln, macht einen entscheidenden Unterschied. In die-
sem Fall dürfte den Opfern zunächst nicht wichtig sein,
ob die medizinischen Instrumente in einem Militärhub-
schrauber oder einem zivilen Flugzeug transportiert
wurden. Die Debatte, die die Linke in dem vorliegenden
Antrag aufmacht, ist also insofern wieder einmal eine
innenpolitische und eine, die komplett an den Bedürfnis-
sen der betroffenen Menschen vorbeigeht. Lieber eine
Zu Protokoll
gute Kooperation als keine Hilfe. Dabei muss es selbst-
verständlich Spielregeln und Grenzen geben. Hier geht
der Vorschlag von Frau Georgieva in die richtige Rich-
tung.

Die Möglichkeit auf einen Hilfeaufruf rechtzeitig zu
reagieren, hängt im Rahmen des EU-Gemeinschaftsver-
fahrens bisher von den freiwilligen Zusagen der Mit-
gliedstaaten ab. Die Hilfe ist deshalb häufig nur impro-
visiert oder kommt zu langsam. Benötigt werden aber
verbindliche, permanent zur Verfügung stehende Kapa-
zitäten, auf die die Kommission zurückgreifen kann. Mit
dem Vorschlag eines europäischen Notfallabwehrzen-
trums würde eine neue Plattform geschaffen, in der das
Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, mit der Koordinie-
rungsstelle für Katastrophenschutz, dem Informations-
und Beobachtungszentrum, MIC, zusammengelegt wer-
den. Das gemeinsame Notfallabwehrzentrum soll rund
um die Uhr einsatzfähig sein und europaweit koordi-
nierte Notfallpläne garantieren, die auf sicher zugesagte
Einsatzkräfte und Hilfsmittel in allen Mitgliedstaaten
basieren müssen. Um Missverständnissen vorzubeugen:
Es kann nicht darum gehen, die vorhandenen Strukturen
in Mitgliedsländern mit guten Kapazitäten – wie etwa in
Deutschland – zu zerschlagen.

Es muss zunächst ein Mapping der vorhandenen Ka-
pazitäten in den Nationalstaaten geben. Anschließend
muss ein Konsens herbeigeführt werden, welche Grund-
ausstattung in allen Staaten vorhanden sein sollte und
welche Arbeitsteilung bei bestimmten Katastrophen-
schutzinstrumenten sinnvoll ist. Das heißt, die Kommis-
sionsvorlage soll einer gemeinsamen strategischen Aus-
richtung und Arbeitsteilung dienen, damit unter den
Mitgliedstaaten Synergien hergestellt werden können
und offensichtliche Verluste aufgrund von Doppelungen
minimiert werden. Das ist das Ziel. Nicht jeder Mitglied-
staat benötigt alle Instrumente des Katastrophenschut-
zes. Die EU-Katastrophenhilfe darf aber auch keine
substituierende Wirkung haben. Mitgliedstaaten mit
schwachen Strukturen müssen durch die angekündigten
Rechtsakte der EU-Kommission dazu verpflichtet wer-
den, ausreichend eigene Kapazitäten im Katastrophen-
schutz zu schaffen.

Für uns ist wichtig, dass das Einsatzspektrum für den
EU-Katastrophenschutz begrenzt sein muss. Es kann
nicht sein, dass die Instrumente des EU-Katastrophen-
schutzes mit der Terrorismusbekämpfung vermischt wer-
den. Deshalb müssen klare Bedingungen für Einsatzge-
biete und -zwecke definiert werden. Die Nutzung
militärischer Instrumente für den Katastrophenschutz
muss sich streng an den Oslo-Leitlinien der Vereinten
Nationen orientieren, die die Nutzung von militärischen
Instrumenten für die Katastrophenhilfe nur als letztes
Mittel vorsehen. Sicherlich stellt uns die Harmonisie-
rung des europäischen Katastrophenschutzes vor große
Herausforderungen. Das stark zentralistische Zivil-
schutzsystem in Frankreich ist leichter mit neuen EU-
Strukturen zu verzahnen als das dezentrale System in
Deutschland. Die starke Heterogenität unter den EU-
Mitgliedstaaten sollte deshalb stets mit bedacht werden.
Die Bundesländer und die relevanten Akteure und Insti-



gegebene Reden





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


tutionen wie das Technische Hilfswerk müssen kontinu-
ierlich in diesen Prozess eingebunden werden.

Die Stärkung des gemeinsamen Katastrophenschut-
zes ist europapolitisch zu begrüßen. Die EU ist weltweit
der größte Geber von humanitärer Hilfe. Eine bessere
Sichtbarkeit der EU im Krisen- und Katastrophenfall
würde den Menschen in den begünstigten Staaten inner-
halb oder außerhalb Europas den zivilen Charakter eu-
ropäischer Außenpolitik kenntlich machen. Deshalb ist
die Harmonisierung der EU-Katastrophenhilfe nicht nur
im Sinne einer kosteneffizienten Arbeitsteilung unter den
Mitgliedstaaten sinnvoll. Die Rechtsakte zur Weiterent-
wicklung des europäischen Katastrophenschutzes müs-
sen die Effizienz und Kohärenz von Einsätzen verbes-
sern. Sie von vornherein abzulehnen, wie die Linke
fordert, macht keinen Sinn.

Die Bundesregierung muss sich klar zur Harmonisie-
rung der Katastrophenhilfe in der EU bekennen und per-

spektivisch den Aufbau eines europäischen Notfallab-
wehrzentrums unterstützen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1709040600

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/4672 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Wir sind damit auch schon am Schluss unserer heuti-
gen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 11. Februar 2011,
9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend
und schließe die Sitzung.