Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10221
(A) (C)
(D)(B)
gen über die Anträge: Belarus – Repressionen
beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktio-
Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Lockerung
des bisher geltenden umfassenden Versandhandelsverbo-
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Andrej Hunko und Ulla
Jelpke (beide DIE LINKE) zu den Abstimmun-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 10.02.2011
Bülow, Marco SPD 10.02.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 10.02.2011
Gerster, Martin SPD 10.02.2011
Gottschalck, Ulrike SPD 10.02.2011
Dr. Freiherr zu
Guttenberg,
Karl-Theodor
CDU/CSU 10.02.2011
Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.02.2011
Hintze, Peter CDU/CSU 10.02.2011
Dr. Knopek, Lutz FDP 10.02.2011
Lenkert, Ralph DIE LINKE 10.02.2011
Lindner, Christian FDP 10.02.2011
Lutze, Thomas DIE LINKE 10.02.2011
Maurer, Ulrich DIE LINKE 10.02.2011
Möhring, Cornelia DIE LINKE 10.02.2011
Möller, Kornelia DIE LINKE 10.02.2011
Nietan, Dietmar SPD 10.02.2011
Roth (Esslingen), Karin SPD 10.02.2011
Scholz, Olaf SPD 10.02.2011
Süßmair, Alexander DIE LINKE 10.02.2011
Veit, Rüdiger SPD 10.02.2011
Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.02.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
nieren, Zivilgesellschaft stärken (Tagesord-
nungspunkt 7 a und b, Zusatztagesordnungs-
punkt 5)
Wir verurteilen die Verletzung elementarer demokra-
tischer Rechte im Zusammenhang mit den Präsident-
schaftswahlen in Weißrussland.
Da kein eigener Antrag unserer Fraktion vorliegt, ge-
ben wir folgende Stimmerklärung ab:
Leider bringen die vorliegenden Anträge der Koali-
tion sowie von SPD und Grünen unsere Position nicht
zum Ausdruck. Wir können ihnen aus folgenden Grün-
den nicht zustimmen.
Alle Anträge benennen die Probleme bei der Wahl
nicht korrekt: Neben Problemen bei der Stimmauszäh-
lung müssen auch der ungleiche Zugang zu den Medien
und die unfaire Nutzung von Staatsressourcen zur Unter-
stützung des Amtsinhabers benannt werden.
Des Weiteren lehnen wir die – in allen Anträgen ge-
forderten – Sanktionen ab. Wir gehen nicht davon aus,
dass diese durch eine „faire und transparente“ Prozedur
auferlegt wurden, wie es die Resolution der Parlamenta-
rischen Versammlung des Europarates fordert.
Auch wird in den Anträgen die Kritik am brutalen
Vorgehen der Miliz und an der Verfolgung nach den
Wahlen auf Grundlage unscharfer „europäischer Werte
und Regeln“ geübt. Die allgemein gültigen politischen
Rechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und
Versammlung werden im Unterschied zur Resolution der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates nicht
als solche benannt.
Insgesamt scheint es bei den Anträgen mehr um die
Annäherung an die EU zu gehen als um die Verteidigung
demokratischer Rechte und Wahlen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten
Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset-
zes (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Dieter Stier (CDU/CSU): Mit der anstehenden Ge-
setzesnovelle zum Fünfzehnten Gesetz zur Änderung
des Arzneimittelgesetzes soll der vorliegende Gesetzent-
wurf der Bundesregierung eine logische Gleichstellung
von Tierarzneimitteln für nicht lebensmittelliefernde
Tiere und Humanarzneimitteln beim Internetversand si-
cherstellen. Das bisher geltende Versandhandelsverbot
für Tierarzneimittel für nicht lebensmittelliefernde Tiere
muss auf den Prüfstand; denn die Öffnung des Arznei-
versandhandels beim Menschen ist seit Jahren sehr viel
liberaler als der Internetversand mit Tierarzneimitteln.
10222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
tes für Tierarznei reagiert die Bundesregierung auf ein
Beschwerdeverfahren der EU-Kommission sowie auf
ein Urteil des Bundesgerichtshofes, welches das derzei-
tige Versandhandelsverbot als unverhältnismäßig erach-
tet. Es kann nicht angehen, dass im Hinblick auf den
Arzneimittelversand seit Jahren für unsere Haustiere
strengere Maßstäbe gelten als für die Medikation des
Menschen. Folglich ist es höchste Zeit, eine Lockerung
der gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Disposition zu
stellen – natürlich unter der Prämisse, dass den Erforder-
nissen des Tierschutzes Rechnung getragen wird.
Inhaltlich orientiert sich der vorliegende Gesetzent-
wurf eng an den seit 2004 etablierten Vorgaben für den
Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medika-
menten, die zur Anwendung beim Menschen bestimmt
sind. Bisher sind innerhalb dieser in Deutschland mögli-
chen Verteilerkette keinerlei Probleme bekannt gewor-
den. Versandapotheken liefern bereits jetzt eine Vielzahl
von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und
Zubehör für unsere Haustiere. Die Vorteile des Internet-
versands liegen auf der Hand: Dieser Vertriebsweg ist
sehr beliebt, weil die Produkte dort günstiger angeboten
werden können, als dies Apotheken mit Miet- und Perso-
nalkosten tun können. Zudem ist der Service einer Inter-
netbestellung hinsichtlich der Auswahl der Produkte und
der Lieferung bis zur Haustüre insbesondere für Men-
schen abseits der Ballungszentren sowie für ältere Men-
schen nicht zu unterschätzen. Eine schnelle und be-
queme Abwicklung trägt zudem einem modernen
Verbraucherleitbild, orientiert am gegenwärtigen Nut-
zerverhalten, Rechnung, welches letztlich auch den Tie-
ren zugutekommt. Als Unionspolitiker sollten wir der
wachsenden Nachfrage der Verbraucher nach dem Ver-
sandhandel von Tierarzneimitteln gerecht werden und
diesen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden
Gesetzentwurf weiter öffnen.
Letztlich zeigt die Praxis, dass Tierhalter aufgrund
hoher Preise mitunter abgeneigt sind, eine empfohlene
oder verordnete Medikation durchzuführen. Der Ver-
sandhandel schließt eine diesbezüglich vorhandene Lü-
cke, was wiederum der Tiergesundheit zugutekommt.
Bei der Medikation von Tieren spielt auch die Zugäng-
lichkeit von Medikamenten eine Rolle, zum Wohle der
Tiere.
Unabhängig von diesen Vorteilen des Internethandels
mit verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln möchte
ich auch auf „Risiken und Nebenwirkungen“ einer Libe-
ralisierung des Tierarzneiversandhandels aufmerksam
machen. Eine unkontrollierte Selbstmedikation von
Haustieren durch den Tierhalter birgt diverse Risiken für
das Haustier. Fehlbehandlungen und Nebenwirkungen
fügen dem Tier Schmerzen und Schaden zu. Ebenfalls
können Auswirkungen auf das Umfeld entstehen. Unkri-
tische Anwendung von verschreibungspflichtigen Medi-
kamenten, insbesondere von Antibiotika, kann uner-
wünschte Resistenzen hervorrufen.
Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom
5. November 2010 im Hinblick auf diese Gefahren eine
Öffnung des Internetversandhandels nur für rein apothe-
kenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimit-
tel gefordert. In seiner Begründung argumentiert der
Bundesrat mit der fehlenden Harmonisierung der tierarz-
neimittelrechtlichen Vorschriften auf EU-Ebene im Hin-
blick auf die Bedingungen, unter denen der Tierarzt ein
Rezept ausstellen kann. In einer Gegenäußerung dazu
hat die Bundesregierung am 8. Dezember 2010 deutlich
gemacht, dass die vom Bundesrat geäußerten Bedenken
einer Beibehaltung des Versandhandelsverbots für ver-
schreibungspflichtige Arzneimittel für nicht lebensmit-
telliefernde Tiere nicht zu rechtfertigen sind. Um den
Bedenken des Bundesrates hinreichend Rechnung zu tra-
gen, plädieren die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP in einem Änderungsantrag vom 8. Februar 2011 für
eine Ergänzung des Arzneimittelgesetzes mit der Vor-
gabe, dass Tierhalter verschreibungspflichtige Arznei-
mittel bei ihren Haustieren nur dann anwenden dürfen,
wenn diese von einem Tierarzt direkt abgegeben werden
oder aber vom behandelnden Tierarzt verschrieben wer-
den. Folglich kann die Behandlung eines Haustieres
durch den Tierhalter mit verschreibungspflichtigen Tier-
arzneimitteln nur nach vorheriger tierärztlicher Konsul-
tation erfolgen.
Hinsichtlich des Versandhandels mit anderen EU-
Staaten bedeutet diese Regelung, dass ein Versand nach
Deutschland nur in dem Fall möglich ist, wenn der Tier-
halter bei der Bestellung in anderen Mitgliedstaaten das
Rezept seines behandelnden Tierarztes beifügt. Dem-
nach werden diese verschreibungspflichtigen Tierarznei-
mittel nur nach Vorlage einer durch Stempel und Unter-
schrift des behandelnden Tierarztes klar als gültig zu
identifizierende Verschreibung ausgeliefert. Im Rahmen
der Selbstverpflichtung der Unternehmen wird jedes Re-
zept auf Vollständigkeit und Authentizität überprüft. In
Großbritannien und in Nordirland ist eine tierärztliche
Behandlung für die Verschreibung von Tierarzneimitteln
verpflichtend. Der Internethandel hat sich dort als eine
verantwortungsvolle Ergänzung zum stationären Bezug
von Tierarzneimitteln bewährt.
In einer Bekanntmachung der Übersicht zum Ver-
sandhandel mit Arzneimitteln nach § 73 Abs. 1 Satz 3
des Arzneimittelgesetzes des Bundesministeriums für
Gesundheit vom 31. Mai 2010 ist eine Übersicht über ei-
nige Mitgliedstaaten der EU und anderen Vertragsstaaten
aufgeführt. Diese Staaten haben einen dem deutschen
Recht vergleichbaren Sicherheitsstandard gemäß §11 a
Apothekengesetz. Apotheken aus anderen Staaten, in de-
nen diese Vergleichbarkeit derzeit nicht besteht, können
für Deutschland eine Versandhandelserlaubnis beantra-
gen. Die Forderung der Bundesvereinigung Deutscher
Apothekerverbände nach einem grundsätzlichen Ver-
sandhandelsverbot aufgrund eines hohen Gefahrenpo-
tenzials für die Haustiere ist übertrieben vorsichtig. Die
Menschen in Deutschland haben die Liberalisierung des
Humanmedizinversands auch schadlos überstanden.
Als Unionspolitiker sollten wir uns jedoch der wach-
senden Nachfrage der Verbraucher nach dem Versand-
handel von Tierarzneimitteln nicht verschließen und die-
sen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden
Gesetzentwurf weiter öffnen. Ich befürworte jeglichen
Abbau von ungerechtfertigten Handelshemmnissen, um
eine Optimierung der Wettbewerbsbedingungen in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10223
(A) (C)
(D)(B)
Deutschland zum Wohle des Verbrauchers zu erzielen.
Das derzeit geltende Verbot lässt sich gegenüber dem
Verbraucher kaum plausibel vermitteln, zumal der Ver-
sandhandel bei rezeptpflichtigen Humanarzneimitteln
seit Jahren erlaubt ist. Die von der Koalitionsfraktion ge-
forderte Änderung dieses Gesetzentwurfes der Bundes-
regierung, zusätzlich zur Internetbestellung des ver-
schreibungspflichtigen Medikamentes das Rezept des
behandelnden Tierarztes beizufügen, ist ein für alle Sei-
ten akzeptabler Kompromiss.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Was für die Human-
medizin gilt, gilt selbstverständlich auch für die Tierarz-
neimittel: Dosis facit venenum – die Dosis macht das
Gift. Das bedeutet nichts anderes, als dass von jedem
Arzneimittel – ob verschreibungspflichtig oder nicht –
eine potenzielle Gefahr ausgehen kann. Vor diesem Hin-
tergrund muss auch die Diskussion um die hier vorlie-
gende Novelle des Arzneimittelrechts geführt und be-
wertet werden. Die Toxikologie, die Resistenzbildung
sowie die missbräuchliche Anwendung, die auch bei
Arzneimitteln, die bei nicht lebensmittelliefernden Tie-
ren zur Anwendung kommen, müssen beachtet werden.
Denn sowohl Antibiotika als auch andere systemisch
wirkende Arzneimittel werden überwiegend auch in der
Humanmedizin angewandt. Vor allem bei Antiparasitika
und Anthelminthika gibt es tierartbezogene, teilweise
rassespezifische Unverträglichkeiten, die jedem Tierarzt
in der Praxis bekannt sind. Die missbräuchliche Anwen-
dung von Tierarzneimittel kann schwerwiegende Folgen
für unsere Heimtiere haben. Es sei nur an lebensbedro-
hende Allergien und tödliche Nebenwirkungen erinnert.
Wir dürfen auch hier den Tierschutzgedanken nicht au-
ßer Acht lassen.
Die Verschreibung und die Abgabe von Tierarznei-
mitteln dürfen nur nach gründlicher Anamnese und Dia-
gnose durch einen behandelnden Tierarzt erfolgen. Das
gebietet die gute fachliche Praxis. Dies ist eine strenge
Anforderung an das Handeln eines jeden Tierarztes. Den
Sachverhalt kann ich aus meiner eigenen beruflichen Er-
fahrung als Tierarzt und Assistent am Institut für Phar-
makologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover sehr
wohl beurteilen.
Ob diese Voraussetzung für eine Verschreibung in an-
deren EU-Mitgliedstaaten, auch gilt, möchte ich doch
ernsthaft bezweifeln. Insofern dürfen wettbewerbsrecht-
liche Bedenken nicht unsere hohen deutschen Standards
infrage stellen. Eine Kontrolle der Anwendung von Tier-
arzneimitteln durch den Tierarzt muss auch in Zukunft
bei nicht Lebensmittel liefernden Tieren gewährleistet
sein. Kostensparende und gefährliche Eigenbehandlun-
gen durch den Tierbesitzer dürfen durch den Versand
von Tierarzneimitteln nicht noch begünstigt werden. Die
Grundsätze der Verschreibungspflicht für Arzneimittel
dürfen nicht infrage gestellt werden. Angesichts ver-
mehrter Antibiotikaresistenzen hat der Einsatz dieser
Medikamente mit entsprechendem Verantwortungsbe-
wusstsein zu erfolgen. Denn Antibiotikaresistenzen ha-
ben eine unmittelbare Auswirkung auf die menschliche
Gesundheit. Sicherlich benötigen wir eine Harmonisie-
rung des europäischen Arzneimittelrechtes – aber nicht
auf unterstem Niveau.
Aus Sicht der Arzneimittelsicherheit und des Gesund-
heitsschutzes halte ich es für nicht vertretbar, dass wir
den Versandhandel auf Tierarzneimittel ausdehnen, ins-
besondere wenn sie verschreibungspflichtig und für
nicht Lebensmittel liefernde Tiere zugelassen sind. Wir
brauchen einen möglichst restriktiven Umgang mit ver-
schreibungspflichtigen Tierarzneimitteln aller Art. Wir
wissen doch alle, dass neue Vertriebswege über das In-
ternet kaum zu überwachen sind. Auch wenn in diesem
Gesetzentwurf der Versand nur nach der Verschreibung
durch einen Tierarzt erfolgen soll, muss doch zu Recht
bezweifelt werden, ob das Gebaren eines Internetver-
sandhändlers, zumal wenn er nicht nur in Deutschland
vertreten ist, überhaupt überwacht werden kann. Schon
heute gibt es im Tierarzneimittelbereich immer noch ei-
nen grauen Markt und mittlerweile auch gefälschte Arz-
neimittel mit fragwürdiger, gefährlicher oder gar keiner
Wirkung. Das sollten wir durch die Öffnung des Arznei-
mittelversandes nicht auch noch fördern.
Warum will die schwarz-gelbe Koalition ohne Not ne-
ben dem bestehenden und gut funktionierenden System
des Tierarzneimittelvertriebs in Deutschland ein völlig
neues etablieren? Ziel sollte es doch eher sein, die stren-
gen deutschen Regeln zur Arzneimittelverordnung auf
europäischer Ebene zu verankern.
Hinterfragt werden muss auch, ob die Ministerin
Leutheusser-Schnarrenberger den Versandhändlern und
ihren Lobbytruppen neue Einnahmemöglichkeiten eröff-
nen möchte. Damit würde man der Arzneimittelsicher-
heit und dem vorbeugenden Gesundheitsschutz einen
Bärendienst erweisen. Die Aufgabe des Gesetzgebers
muss es sein, die unberechtigte Verabreichung von Tier-
arzneimitteln bestmöglich einzudämmen. Dazu gehört
für mich auch ein Versandhandelsverbot für verschrei-
bungspflichtige Tierarzneimittel für nicht lebensmittel-
liefernde Tiere. Wir Sozialdemokraten wollen die No-
velle der EU-Tierarzneimittelrichtlinie abwarten und
keine Schnellschüsse fabrizieren – im Interesse der Arz-
neimittelsicherheit und des vorbeugenden Gesundheits-
schutzes und gegen Lobbyinteressen. Wir werden daher
diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Das Arzneimit-
telgesetz, insbesondere der für das Tierarzneimittelge-
setz relevante § 43, ist nur teilweise EU-harmonisiert.
Die EU-Kommission hat eine Beschwerde eingelegt,
weil hier eine Behinderung des Warenhandels vorlag.
Auch ein entsprechendes BGH-Urteil empfiehlt eine No-
vellierung. Damit besteht zwingender Handlungsbedarf.
Ich bedauere, dass wir in dieser Sache handeln müs-
sen, aber angesichts der Gleichstellung von Humanme-
dizin und Veterinärmedizin brauchen wir eine Gesetzes-
änderung. Im Ergebnis zeigt die Novelle, dass ein
rezeptpflichtiges Medikament Teil eines Diagnose- und
Behandlungsprozesses ist, den die praktischen Tierärzte
auch weiterhin ausgestalten. Damit ist die Fachlichkeit
der Tierärzte als Grundlage der 15. Fassung des Arznei-
mittelgesetzes gestärkt. Das möchte ich an dieser Stelle
10224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
noch mal betonen. Bei unserer Gesetzesfassung handelt
es sich um eine praktikable und vernünftige Lösung, die
sowohl dem Schutz der Tiere und der menschlichen Ge-
sundheit Rechnung trägt als auch unseren Pflichten als
EU-Mitglied nachkommt.
Der aktuelle Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der
Versandhandel aus Apotheken an den Tierhalter auch für
verschreibungspflichtige Arzneimittel, die für nicht le-
bensmittelliefernde Tiere bestimmt sind, künftig erlaubt
wird. Neben einer weiterhin bestehenden Rezeptpflicht
wird durch eine Behandlungs- und Anwenderegel die
fachärztliche Betreuung der Haus- und Kleintiere be-
wahrt. Zudem bleibt die Transparenz des Tierarzneimit-
telhandels bestehen, indem nachvollziehbar ist, wer re-
zeptiert.
Im Kern der Diskussion stehen sich also die Argu-
mente der Wettbewerbsfreiheit im EU-Binnenmarkt und
der aus Sicht der Veterinäre bedrohte Schutz der
menschlichen Gesundheit und der Tierschutz gegenüber.
Kritiker sehen die humane Gesundheit vor allem durch
ein mögliches unkontrolliertes Inverkehrbringen von
Arzneimittel gefährdet, die missbräuchlich auch bei le-
bensmittelliefernden Tieren angewendet werden könn-
ten. Ein Missbrauch ist nie auszuschließen, wenngleich
dieser lediglich theoretisch vorhanden ist, da die Arznei-
mittelabgabemenge für die Hauskatze oder den Hund
nicht ausreicht, um etwa einen Schweinebestand damit
zu versorgen. Diese theoretische Gefahr ist durch die
eingeführte Behandlungspflicht gebannt.
Ferner wird aus tiermedizinischer Sicht eine mögliche
Medikamentenverabreichung vom Tierhalter kritisch be-
wertet, da eine unprofessionelle Medikamentenabgabe
die Tiergesundheit gefährden könnte. Dieses Problem
lässt sich jedoch mit der in § 56 a eingeführten Anwen-
dungsregelung lösen. Kern dessen ist, dass die Rezept-
vergabe an eine Behandlung gebunden sein muss, die
auch dazu verpflichten kann, dass die Arzneimittelver-
abreichung über den Veterinär erfolgen muss.
Die neue Regelung in ihrer jetzigen Form ist ein soli-
der Kompromiss und untermauert die Sorgfaltsplicht der
Tierärzteschaft. Der Tierarzt, die Tierärztin – kurz: der
Fachmann – bleibt in der Poleposition. Der Tierschutz-
gedanke flankiert die Argumentation der Anwendungs-
regelung. Im Ergebnis bleiben die Tierärzte – ich will
das noch einmal betonen – in ihrer Verantwortung. Diese
Entwicklung kann ich nur begrüßen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Es gab in den
vergangenen Monaten eine sehr intensive Debatte zum
Thema Internethandel mit Tierarzneimitteln zur Behand-
lung von Tieren, die nicht der Lebensmittelgewinnung
dienen, also Haus- und Heimtieren. Die Grundposition,
dass der Versand von Tierarzneimitteln im Vergleich zur
beratenden Abgabe durch Tierärzte oder durch Apothe-
ken keine adäquate Abgabeform sei, war Konsens bei
der 8. AMG-Novelle, mit der 1998 der Versand apothe-
kenpflichtiger Arzneimittel verboten wurde. Unter dem
Druck der EU-Kommission und eines Urteils des Bun-
desgerichtshofes sah sich die Bundesregierung nun – aus
wettbewerbsrechtlichen Gründen – gezwungen, diesen
fachpolitischen Konsens mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf aufzukündigen. Der Änderungsantrag der Koali-
tionsfraktionen, der eine tierärztliche Behandlung zur
bußgeldbewehrten Vorbedingung für eine Internetbestel-
lung macht, kann aus unserer Sicht die Bedenken gegen
eine solche Öffnung nicht aus der Welt räumen.
Denn aus Sicht der Linken gibt es zwingende Gründe,
das Arzneimittelversandverbot für Haus- und Heimtiere
aufrechtzuerhalten. Das gilt erst recht wenn man be-
denkt, wie viele Tierhalterinnen und Tierhalter und ihre
Tiere von dieser Neuregelung betroffen sind, also auch
von ihren Risiken. Kennziffern aus dem Jahr 2009 skiz-
zieren dies: In der Bundesrepublik leben allein 5 Millio-
nen Hunde und 8 Millionen Katzen. Die Heimtiere ein-
gerechnet, sind 23 Millionen Tiere betroffen. Das ist
alles andere als eine Lappalie.
Die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der
FDP nehmen mit dem Änderungsantrag einen der Ein-
wände des Bundesrates gegen den Gesetzentwurf auf, in
dem eine rechtskonforme Beschaffung von verschrei-
bungspflichtigen Tierarzneimitteln einzig in Verbindung
mit einer entsprechenden tierärztlichen Behandlung er-
folgen soll. Damit werden formal die Rechte der Tierärz-
tinnen und Tierärzte gestärkt. Das sieht die Linke durch-
aus als Schritt in die richtige Richtung, und wir haben
uns im Ausschuss bei diesem Änderungsantrag deshalb
auch enthalten. Die Probleme des Gesetzentwurfes wer-
den damit aber nicht gelöst. Weil einerseits erhebliche
Zweifel bleiben, wie das funktionieren oder wer das wie
effizient kontrollieren soll, und weil wesentliche andere
Risiken des Gesetzentwurfs zum Versandhandel nach
wie vor unberücksichtigt bleiben.
Solange eine europaweite Harmonisierung des Tier-
arzneimittelrechts nicht erfolgt und nur vage für die
nächsten Jahre angekündigt wird, kann und wird der
Vertrieb solcher Mittel mit erheblichen tiergesundheitli-
chen, und damit tierschutzrechtlich relevanten, und
rechtlichen Risiken verbunden sein. Die Bundestierärz-
tekammer spricht von kaum vorstellbaren Konsequen-
zen, die trotz einer faktischen Verschreibung durch einen
Tierarzt drohen. Lediglich Zufallstreffer würden Ver-
stöße gegen das geltende Recht aufdecken, der Versand-
handel bleibt de facto unkontrollierbar. Der bereits ge-
genwärtig kaum zu überschauende, erst recht kaum zu
kontrollierende Internethandel wird die formal beste-
hende Verschreibungspflicht ins Lächerliche ziehen. Wie
sollten Apotheken in anderen EU-Mitgliedstaaten nach-
vollziehen können, ob ein nach nationalen Regelungen
gültiges Rezept vorliegt? Diese Frage stellt sich abgese-
hen vom gezielten Missbrauchspotenzial. Wahrschein-
lich brauchen wir dann neben Schwerpunktstaatsanwalt-
schaften für Lebens- oder Futtermittel zukünftig auch
eine für den Internethandel mit Tierarzneimitteln, um
wenigstens grobe Verstöße gegen die gesetzlichen Rege-
lungen überhaupt erkennen und beweisen zu können. An
dieser Stelle kann ich die Bundesregierung nur fragen,
wie sie unter diesen Bedingungen falsche und eigen-
mächtige Anwendungen von Tierarzneimitteln wenigs-
tens behindern will?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10225
(A) (C)
(D)(B)
Völlig unbeachtet bleibt im Gesetzentwurf die Frage,
wie Tierhalterinnen und Tierhalter sich der Echtheit der
im Internet angebotenen Arzneimittel sicher sein kön-
nen. Gefälschte Medikamente können gravierende ge-
sundheitliche Schäden bei Tieren nach sich ziehen. Die
Öffnung des Marktes durch den Versandhandel macht es
zudem nur allzu wahrscheinlich, dass bei preiswerteren
Produkten aus dem EU-Ausland eine Zunahme des regu-
lären Medikamenteneinsatzes folgt. Der Hinweis des
Bundesrates auf das Risiko dadurch verstärkt steigender
Antibiotikaresistenzraten wird im Gesetzentwurf nur un-
zureichend aufgegriffen. Dies ist wohl kaum mit der
deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie in Überein-
stimmung zu bringen.
Außerdem sollten wir daran denken, dass es eine stei-
gende Zahl von Heim- und Haustierhalterinnen und -hal-
tern gibt, die in Armut leben und möglicherweise in
Versuchung sein könnten, sich wenigstens billige Tier-
arzneimittel zu besorgen, wenn sie denn den Besuch
beim Tierarzt oder bei der Tierärztin schon nicht bezah-
len können. Wer will ihnen das verdenken? Es war die
schwarz-gelbe Koalition, die die Kosten für die Haltung
von Haustieren aus dem Regelsatz gestrichen hat, ob-
wohl der Hund oder die Katze für immer mehr Men-
schen der letzte Anker in der Gesellschaft geworden
sind.
Zunehmende Missbrauchsmöglichkeiten im Arznei-
mittelhandel, Unkontrollierbarkeit des Versandhandels
und die Gefahr eines weiteren deutlichen Anstiegs des
Medikamentenkonsums sehen wir als Folgen dieser Ge-
setzesnovelle. Deshalb kann die Linke diesen Gesetzent-
wurf nur ablehnen.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ziel des von der Bundesregierung vorgeleg-
ten Gesetzentwurfes ist es, den Versandhandel für Tier-
arzneimittel teilweise zu öffnen. Betroffen sind davon
apothekenpflichtige und verschreibungspflichtige Arz-
neimittel für Tiere, wenn diese Tiere nicht zur Lebens-
mittelgewinnung verwendet werden. Wir sind der Mei-
nung: Tiere müssen von einem Tierarzt begutachtet und
untersucht werden, bevor dem Tier Arzneimittel verab-
reicht werden. Die persönliche Beratung des Tierhalters
und gegebenenfalls seine Einweisung in die Arzneimit-
telverabreichung sind unseres Erachtens nach unver-
zichtbar. Bündnis 90/Die Grünen sehen die geplante Öff-
nung des Versandhandels für Tierarzneimittel kritisch,
da auch der Versand aus dem europäischen Ausland
möglich ist. Leider gibt es aber bislang keine EU-weite
Regelung der tierärztlichen Verschreibung, die die
Untersuchung der betroffenen Tiere durch den behan-
delnden Tierarzt und seine Behandlungskontrolle
vorschreibt. Aus Gründen des Tierschutzes, des Gesund-
heitsschutzes und der Arzneimittelsicherheit muss aber
gewährleistet werden, dass Tierhalter keine Arzneimittel
beziehen können, die nicht für die Behandlung ihres Tie-
res geeignet oder gar nicht vorgesehen sind. Dies ist vor
allem relevant für verschreibungspflichtige Tierarznei-
mittel, zu denen auch Antibiotika zählen. Wir haben die
begründete Befürchtung, dass bei der Abgabe von Arz-
neimitteln, die auch auf die menschliche Gesundheit
gravierende Auswirkungen haben können, via Versand-
handel aus anderen EU-Ländern Probleme entstehen
können. So kann das Ziel, antibiotikaverursachte Resis-
tenzbildungen aktiv zu vermeiden, eben nicht erreicht
werden. Auch wenn der überwiegende Teil der Tier-
halter sich korrekt verhält, muss verhindert werden, dass
der Missbrauch von Tierarzneimitteln möglich wird.
Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
wurden unsere Bedenken zum Teil aufgegriffen. So soll
festgelegt werden, dass „Tierhalter … verschreibungs-
pflichtige Arzneimittel bei Tieren nur anwenden dürfen,
wenn die Arzneimittel von dem Tierarzt verschrieben
oder abgegeben worden sind, bei dem sich die Tiere in
Behandlung befinden.“ Diese Bestimmung soll dem
Tierhalter den Einsatz von verschreibungspflichtigen
Tierarzneimitteln, die ohne vorherige Konsultation bzw.
ohne vorherige Verschreibung durch einen Tierarzt in
seinen Besitz gelangt sind, verhindern. Diese Änderung
begrüßen wir daher. Solange es jedoch keine Vereinheit-
lichung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene gibt,
halten wir eine Öffnung des Versandhandels – insbeson-
dere für verschreibungspflichtige Tierarzneimittel – für
problematisch. Wir sehen aber auch, dass ein Beschwer-
deverfahren der EU-Kommission gegenüber Deutsch-
land anhängig ist und einem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichtes Rechnung zu tragen ist, zumal die
Öffnung des Versandhandels im Bereich der Humanme-
dizin bereits erfolgt ist.
Eine Harmonisierung des Tierarzneimittelrechts auf
EU-Ebene ist unabdingbar. Daher fordern wir die Bun-
desregierung auf, sich für eine zügige Vereinheitlichung
des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene einzusetzen –
mit der Maßgabe, den Missbrauch oder gesundheitsschä-
digenden Einsatz von Tierarzneimitteln zu verhindern.
Außerdem fordern wir das Bundesministerium für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf, von
seiner Ermächtigung durch § 56 a Abs. 3 Gebrauch zu
machen und per Verordnung vorzuschreiben, dass be-
stimmte Arzneimittel nur durch den Tierarzt selbst ange-
wendet werden dürfen, wenn diese Arzneimittel für die
Gesundheit von Mensch und Tier gefährlich sein könn-
ten oder wenn Missbrauch möglich ist.
In der Gesamtschau bleiben weiterhin Bedenken, so-
dass wir uns bei dieser Änderung des Arzneimittelgeset-
zes enthalten.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Alle Waffenexporte
des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbie-
ten (Tagesordnungspunkt 13)
Erich G. Fritz (CDU/CSU): Der Export von Waffen
gehört zweifellos zu den sensibelsten Bereichen des Au-
ßenhandels. Deswegen sind die rechtlichen Bestimmun-
gen in diesem Gebiet eindeutig und in Deutschland
äußerst strikt. Die Bundesregierung übt eine verantwor-
10226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
tungsvolle Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexpor-
ten aus und ist keinesfalls „lasch“ in der Kontrolle der
Rüstungsexporte – auch wenn die Fraktion Die Linke
uns mit ihrem Antrag etwas anderes weismachen will.
Grundlage bilden die Politischen Grundsätze der Bun-
desregierung für den Export von Kriegswaffen und sons-
tigen Rüstungsgütern aus dem Jahr 2000, das Außen-
wirtschaftsgesetz, die Prüfungen durch das Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, bzw. den
Bundessicherheitsrat und der Verhaltenskodex der EU
vom 8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame
Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat
verabschiedet wurde. Ich zitiere Greenpeace: „Über jede
Patrone, die das Land verlässt, wird also gründlich Buch
geführt.“
Der Fall Heckler & Koch, ein Oberndörfer Kleinwaf-
fenhersteller, wird von der Fraktion Die Linke benutzt,
um die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung er-
neut in den Medien als „außerordentlich lasch“ zu kriti-
sieren und den Waffenexport als nicht mit dem Grundge-
setz vereinbar darzustellen. Wahr ist, dass die
Staatsanwaltschaft Stuttgart sowie das Zollkriminalamt
Köln derzeit den Verdacht prüfen, dass Heckler & Koch
im Jahr 2006 mit Exporten in mexikanische Unruhepro-
vinzen (Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco) ge-
gen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffen-
kontrollgesetz verstoßen haben sollen. Die Bearbeitung
von Anträgen von Heckler & Koch für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Me-
xiko wurde deshalb zeitweilig ausgesetzt. Der Links-
fraktion geht das nicht weit genug; sie fordert, auch die
Bearbeitung der Exportanträge des Unternehmens in an-
dere Länder auszusetzen. Die Frage, ob und in welchem
Umfang die Firma Heckler & Koch Waffen unter Ver-
stoß gegen das deutsche Exportkontrollrecht Sturmge-
wehre des Typs G36 nach Mexiko geliefert hat, ist bis-
lang nicht abschließend geklärt. Vielmehr ist sie
Gegenstand des laufenden staatsanwaltschaftlichen Er-
mittlungsverfahrens. Im Lichte des Ergebnisses dieses
Ermittlungsverfahrens wird die Bundesregierung prüfen,
ob wegen mangelnder Zuverlässigkeit des Unterneh-
mens weitere Genehmigungsverfahren auszusetzen oder
erteilte Genehmigungen zurückzunehmen sind. Heckler
& Koch beteuert, im Einvernehmen mit der Ausfuhrge-
nehmigung des Bundesamtes für Wirtschaft und Aus-
fuhrkontrolle ausschließlich an die dafür gesetzlich vor-
gesehene Waffeneinkaufsbehörde, D.C.A.M., welche
dem mexikanischen Verteidigungsministerium unter-
steht, geliefert zu haben. Das BAFA hatte den Antrag
von Heckler & Koch ausschließlich für 28 der 32 mexi-
kanischen Bundesstaaten genehmigt, da in den anderen
Bundestaaten anhaltende Menschenrechtsverletzungen
vorliegen. Vor diesem Hintergrund der Strafanzeige von
Jürgen Grässlin begrüßt Heckler & Koch die Maßnah-
men der Staatsanwaltschaft, da vom Anzeigeerstatter
bisher nur einseitige Informationen über mediale Kanäle
verbreitet wurden.
Die Fraktion Die Linke hat bereits vermehrt die Kon-
trolle des Endverbleibs deutscher Kriegswaffen und
Rüstungsgüter als „unzureichend“ kritisiert. Seien Sie
jedoch versichert, dass bei jedem Antrag auf Ausfuhrge-
nehmigung eine strikte Einzelfallprüfung stattfindet. Die
Bundesregierung prüft und bewertet vor Erteilung einer
Genehmigung für die Lieferung von Rüstungsgütern alle
vorhandenen Informationen über den Endverbleib der
betroffenen Rüstungsgüter. Dies sehen der „Gemein-
same Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. De-
zember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die
Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Mili-
tärgütern“ und die entsprechenden Regelungen der „Po-
litischen Grundsätze der Bundesregierung für den Ex-
port von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“
vom 19. Januar 2000 vor. Sofern es keine Zweifel am
Endverbleib der zu liefernden Kriegswaffen gibt und die
übrigen für eine Genehmigung eines Kriegswaffenex-
ports notwendigen rechtlichen und politischen Voraus-
setzungen gegeben sind, können Genehmigungen erteilt
werden. Durch die Ex-ante-Prüfung wird von vornherein
gesichert, dass Rüstungsgüter nicht an Empfänger gelie-
fert werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die Güter
umgeleitet werden. Wenn Zweifel am gesicherten End-
verbleib beim Empfänger bestehen, werden Ausfuhran-
träge abgelehnt.
Darüber hinaus sichern Empfänger in sogenannten
Endverbleibserklärungen der Bundesregierung zu, die
betreffenden Güter nicht ohne Zustimmung der Bundes-
regierung an andere Staaten weiterzuverkaufen. Dies
wird grundsätzlich bei allen Exporten von Rüstungs-
gütern verlangt. Lieferungen von Kriegswaffen sowie
sonstigen Rüstungsgütern, die nach Umfang oder Be-
deutung für eine Kriegswaffe wesentlich sind, dürfen
nur bei Vorliegen von amtlichen Endverbleibserklärun-
gen, die ein Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt ent-
halten, genehmigt werden. Die Bundesregierung lässt
sich zusätzlich zu den Endverbleibserklärungen weitere
geeignete Dokumente wie zum Beispiel Erläuterungen
des Empfängers zum beabsichtigten Verwendungs-
zweck, technische Unterlagen oder internationale Ein-
fuhrbescheinigungen (International Import Certificates)
vom Endempfanger deutscher Rüstungsgüter vorlegen.
Die Vereinbarkeit von Waffenexporten mit dem Frie-
densgebot des Grundgesetztes ist somit gewährleistet.
Die Bundesregierung erhält im Zusammenhang mit
außenwirtschafts- bzw. kriegswaffenrechtlichen Geneh-
migungsverfahren in Form der Genehmigungserteilung
laufend einen Überblick über den Endverbleib von der
Bundesrepublik Deutschland ausgeführten Rüstungs-
gütern. Eine Genehmigung für die Vergabe von Lizen-
zen ist nach dem Außenwirtschaftsgesetz, AWG, und/
oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz, KWKG, erforder-
lich, wenn im Zusammenhang mit der Lizenzerteilung
Technologie in Form von Know-how, Fertigungsunterla-
gen und -maschinen oder Komponenten ausgeführt wer-
den sollen, die selbst dem AWG und/oder KWKG unter-
fallen. Alle Entscheidungen über Rüstungsexporte
werden nach sorgfältiger Abwägung der außen-, sicher-
heits- und menschenrechtspolitischen Belange im Ein-
zelfall getroffen. Zusätzlich kann die Bundesregierung
nachträglich Überprüfungen der Einhaltung von Endver-
bleibserklärungen durchführen. Erkenntnisse, ob die der
Genehmigung zugrunde liegenden Informationen zutref-
fend waren, können sich aus nachrichtendienstlichem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10227
(A) (C)
(D)(B)
Aufkommen, aus dem Informationsaustausch mit ande-
ren Regierungen sowie aufgrund der bei exportierenden
Unternehmen durchgeführten Betriebsprüfungen erge-
ben.
Die Einhaltung eingegangener Endverbleibszusagen
ist für die Bundesregierung eine wichtige Voraussetzung
für die etwaige Erteilung weiterer Ausfuhrgenehmigun-
gen. In Fällen des begründeten Verdachts auf Verstöße
gegen Endverbleibszusagen, wie im Fall Heckler &
Koch, wird die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen
für den betreffenden Empfänger so lange ausgesetzt, bis
der Sachverhalt umfassend aufgeklärt ist. Die Entschei-
dung, ob die Erklärungen eines Landes oder eines Unter-
nehmens generell als nicht verlässlich einzustufen sind,
muss die Bundesregierung wegen der damit verbunde-
nen Folgen mit großer Sorgfalt treffen. Hierfür ist es er-
forderlich, dass der Sachverhalt weitestgehend aufge-
klärt ist. Dies ist wegen des noch andauernden
Ermittlungsverfahrens jedoch nicht der Fall. Deshalb ist
es sehr wohl sachlich zu begründen, dass der Export-
stopp nicht für alle Exporte des Unternehmens, sondern
nur für die nach Mexiko gilt. Für eine Aussetzung der
Bearbeitung von Exportanträgen anderer deutscher Fir-
men nach Mexiko besteht bislang kein Anlass.
Das deutsche System der Exportkontrolle für Rüs-
tungsgüter gewährleistet in zuverlässiger Weise die
Sicherung des Endverbleibs. Dies bestätigen die Erfah-
rungen der deutschen Exportkontrollpraxis. Die Bundes-
regierung hat seit Jahrzehnten gute Erfahrungen mit die-
sen Regelungen gemacht. Nur in wenigen Einzelfällen
ist eine Umleitung bekannt geworden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke bezeichnet zudem
den Export von Kleinwaffen als „unkalkulierbares Ri-
siko und ernsthaftes Problem für den Frieden, die Si-
cherheit und die soziale Stabilität“. Dass der unerlaubte
Handel mit Klein- und Leichtwaffen ein sicherheitspoli-
tisches Problem ist, wurde jedoch längst nicht nur auf
nationaler, sondern auch auf europäischer und internatio-
naler Ebene erkannt. Deutschland engagiert sich aktiv
im Rahmen des VN-Kleinwaffenprozesses, der den glo-
balen Referenzrahmen für Bemühungen um Kleinwaf-
fenkontrolle bildet. Darüber hinaus bemüht sich
Deutschland auch in spezifischen Thematiken wie Mar-
kieren und Nachverfolgen, Lagerverwaltung und Um-
gang mit Munitionsbeständen um Fortschritt mittels För-
derung von regionalen Seminaren und Konferenzen der
Vereinten Nationen, Organisation von Expertentreffen
sowie Einbringung spezifischer VN-Resolutionen. Zur
Förderung konkreter Maßnahmen der Projektarbeit ist
Deutschland im Rahmen der in New York tagenden
Gruppe interessierter Staaten (GIS – Group of Interested
States) engagiert.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten gehören mit ihrem
Engagement im Kleinwaffenbereich zu den wichtigsten
Akteuren weltweit. Bereits in der 2003 im Auftrag des
Hohen Vertreters der EU für die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, erstellten
und von ihm dem Europäischen Rat vorgelegten Euro-
päischen Sicherheitsstrategie wird die Gefahr der illega-
len Kriminalität am Beispiel des unerlaubten Handels
mit Klein- und Leichtwaffen thematisiert. Im Dezember
2005 verabschiedete der Europäische Rat die EU-Klein-
waffenstrategie, deren Umsetzung einen Schwerpunkt
der deutschen EU-Präsidentschaft in der ersten Hälfte
des Jahres 2007 bildete. Zuletzt hat der Rat sich über
eine Maßnahme der EU zur Bekämpfung des unerlaub-
ten Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen auf
dem Luftweg (Ratsdokument 8679/10 vom 29. Oktober
2010) geeinigt. Deutschland engagiert sich darüber hi-
naus auch im Rahmen der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa, OSZE. Die OSZE hat
bereits im November 2000 das Dokument über Klein-
waffen und leichte Waffen verabschiedet, das gemein-
same Ausfuhr- und Überschusskriterien aufstellt, regio-
nale Transparenz von Kleinwaffentransfers schafft und
die Grundlage für einen umfassenden Informationsaus-
tausch bildet. Im Rahmen einer von Deutschland finan-
ziell unterstützten zweitägigen Konferenz im September
2009 wurden noch bestehende Defizite und mögliche
Schritte zur Verbesserung der Umsetzung des OSZE-
Kleinwaffendokuments identifiziert. Deutschland enga-
giert sich auch bilateral vielfältig im Kleinwaffenbe-
reich. Einen Schwerpunkt bildet z. B. die Projektarbeit
in Subsahara-Afrika und Osteuropa sowie die enge Zu-
sammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Arabischen
Liga, AL, um das Thema Kleinwaffenkontrolle in der
Region stärker zu verankern.
Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements
in der Kleinwaffenkontrolle auf allen Ebenen sowie auf-
grund der positiven Erfahrungen der deutschen Export-
kontrollpraxis, die nicht nur dem in Europa üblichen
System entspricht, sondern darüber hinaus als wirksa-
mes Kontrollsystem anerkannt ist und weltweit hohes
Ansehen genießt, ist der Antrag der Fraktion Die Linke
„Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenher-
stellers verbieten“, abzulehnen.
Rolf Hempelmann (SPD): Die Kontrolle des Ex-
ports von Kriegswaffen ist ein Thema, mit dem sich die
SPD-Bundestagsfraktion schon sehr lange beschäftigt.
Bereits in den 70er-Jahren wurden Grundsätze der Rüs-
tungs- und Waffenexportkontrolle formuliert, die bis
heute gelten. Schon aus unserer eigenen Vergangenheit
fühlen wir uns einer restriktiven Rüstungs- und Waffen-
exportpolitik verpflichtet.
Geregelt ist der Export von Rüstung und Waffen im
Außenwirtschaftsgesetz, im Kriegswaffenkontrollgesetz
und in den „Politischen Grundsätzen der Bundesregie-
rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern“. Bei Rüstungsexporten in andere Län-
der als EU-Mitgliedstaaten, NATO-Länder und NATO-
Ländern gleichgestellte Staaten hat sich die Bundesrepu-
blik eben einer restriktiven Rüstungsexportpolitik ver-
pflichtet. Auch in Europa schweben wir nicht im leeren
Raum. Im Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP
des Rates haben wir uns mit unseren Partnern in der
Europäischen Union Regeln für die Kontrolle der Aus-
fuhr von Militärtechnologie und Militärgütern gesetzt.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten Kriterien wie
Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völ-
kerrechts, Beachtung der nachhaltigen Entwicklung in
10228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
den Empfängerländern, Friedenserhalt und Konfliktver-
meidung bei der Bewertung von Waffenexporten für ab-
solut entscheidend. Negative Bewertungen müssen dann
auch zum Entzug von Genehmigungen führen, bezie-
hungsweise es dürfen dann keine Genehmigungen erteilt
werden. Jedoch sehen wir bei der derzeitigen Bundesre-
gierung die Aufweichungstendenzen bei der konsequen-
ten Durchsetzung einer restriktiven Rüstungspolitik.
Dies scheint natürlich konsequent. So spricht die Koali-
tion in ihrem Koalitionsvertrag auch nicht mehr von „res-
triktiver“, sondern von „verantwortungsbewusster Geneh-
migungspolitik für die Ausfuhr von Rüstungsgütern“.
Nun liegt uns ein Antrag der Fraktion Die Linke vor,
wonach alle Waffenexporte eines Exporteurs verboten
werden sollen. Ja, die Überschrift lässt mehr erwarten,
als der Antrag dann hält. Es ist gut und richtig, dass wir
uns hier und heute mit möglichen Verstößen gegen das
Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz
befassen. So etwas muss auf unsere Tagesordnung und
in unser Bewusstsein. Gerade vor dem Hintergrund, dass
es nicht das erste Mal ist, dass die Heckler & Koch
GmbH – und um die geht es hier, auch bei der ein wenig
verklausulierten Formulierung des Antragstitels – in die
Schlagzeilen geraten ist. Schon mehrfach standen sie im
Verdacht, das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffen-
kontrollgesetz verletzt zu haben. Schon mehrfach tauch-
ten in Spannungsgebieten Waffen von ihnen auf. In diese
Gebiete dürfen keine Waffen geliefert werden. Hinter-
grund dieser Regelung ist, dass, wer Waffen in ein Span-
nungsgebiet an Konfliktparteien liefert, sich mindestens
faktisch zur Konfliktpartei macht, weil er den Konflikt
sehr konkret unterstützt. Bei den vorherigen Malen er-
härteten sich die Vorwürfe nicht zu einem konkreten
Strafdelikt. Hier handelt es sich derzeit um ein schwe-
bendes Verfahren. Die Durchsuchungen waren im De-
zember, deren Ergebnisse werden erst noch ausgewertet.
Diesbezüglich sollten wir die Ermittlungen der Staatsan-
waltschaft abwarten.
Jedoch muss schon jetzt beachtet werden, dass nach
den Grundsätzen der Bundesregierung zum Export von
Kriegswaffen Zuverlässigkeit des Exporteurs ein wichti-
ges Kriterium zur Erteilung der Exportgenehmigung ist.
Die Bundesregierung hat nach eigener Aussage die Be-
arbeitung von Anträgen, die das Unternehmen Heckler &
Koch für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern nach Mexiko gegenwärtig gestellt hat,
ausgesetzt. Die Frage, die sich hier stellt: Wie weit ist
die Fortsetzung von möglichen kriminellen Aktivitäten
eingeschränkt, wenn nur die Neuerteilung von Genehmi-
gungen an Heckler & Koch nach Mexiko nicht weiter er-
folgt, erteilte Genehmigungen aber fortbestehen und Ge-
nehmigungen zum Export in andere Länder erteilt
werden.
Rüstungs- und Waffenexport ist ein hochsensibles
Thema, bei der Kontrolle geht es auch um unser außen-
politisches Ansehen – um das außenpolitische Ansehen
Deutschlands. Laufende staatsanwaltschaftliche Ermitt-
lungen zu möglichen Verstößen gegen das Außenwirt-
schafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz führen trotz des
Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung zu Zwei-
feln an der Zuverlässigkeit des Exporteurs. Und, weil
dieses Thema so hochsensibel ist, ist es dann nicht kon-
sequent, auch bestehende Genehmigungen für die Dauer
des Verfahrens auszusetzen und keine neuen Genehmi-
gungen zu erteilen? Da gehen unsere Vorstellung deut-
lich über die im vorliegenden Antrag formulierte Auffor-
derung hinaus.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht aber noch ein an-
deres Problem. Wir finden, die Informationspolitik der
Bundesregierung ist unzureichend. Seit April 2010 er-
mittelt die Staatsanwaltschaft. Die Durchsuchungen fan-
den im Dezember 2010 statt. Aber erst auf die Anfrage
der Linken äußert sich die Bundesregierung im Januar
2011 zu der Problematik. Das ist zu spät und, wenn man
sich die Antworten der Bundesregierung ansieht, zu we-
nig. Wenn im Bereich des Waffen- und Rüstungsexpor-
tes solche Probleme mit einem Exporteur auftreten,
muss eine unverzügliche Mitteilung an das Parlament er-
folgen. In diesem hochsensiblen Bereich müssen wir
über bessere Beteiligungs- und Informationsformen des
Parlaments nachdenken. Wir können das nicht allein und
zu 100 Prozent der Exekutive überlassen. Diesen Antrag
zum Anlass nehmend sollten wir uns daher über eine ef-
fiziente Beteiligung des Parlaments Gedanken machen.
Zwar ist die Genehmigung von Rüstungsexporten Sache
der Exekutive, aber uns obliegt die Kontrolle, und ohne
umfangreiche Informationen kann keine wirkliche Kon-
trolle erfolgen. Dabei müssen wir natürlich beachten,
Geschäftsgeheimnisse, nicht zu publizieren und uns als
Parlament nicht zu überlasten.
Aber auch ein anderer Gesichtspunkt erscheint uns
wichtig: Es besteht immer noch ein Problem in der
Transparenz, wie viele Waffen nun exportiert werden.
Zwar wird im Rüstungskontrollbericht dargestellt, für
welche Anzahl von Waffen Genehmigungen erteilt wur-
den. Es wird aber nicht erhoben und kontrolliert, wie viel
letztendlich davon exportiert wird. Diese Lücke zwi-
schen genehmigten Waffenexporten und tatsächlich ex-
portierten Waffen muss geschlossen werden. Wir brau-
chen eine valide Erhebung der tatsächlichen Zahlen.
Es gibt also viel zu besprechen und zu tun. Das sollten
wir im zuständigen Ausschuss machen. Die Bundesre-
gierung steht in der Pflicht, uns ausführliche Auskünfte
zu erteilen und uns Vorschläge zu unterbreiten, wie eine
valide Zahlengrundlage erlangt und wie in Zukunft das
Verfahren zu einer effektiven Zusammenarbeit verbes-
sert werden kann.
Klaus Breil (FDP): Die Frage, ob die Oberndorfer
Firma unter Verstoß gegen das deutsche Exportkontroll-
recht Waffen nach Mexiko geliefert hat, ist keineswegs
geklärt – so wie es die Linke uns suggerieren will. Viel-
mehr ist sie Gegenstand eines laufenden staatsanwalt-
schaftlichen Ermittlungsverfahrens.
Bei jedem Antrag auf Ausfuhrgenehmigung findet
eine strikte Einzelfallprüfung statt. Nur dann, wenn es
keine Zweifel am Endverbleib der zu liefernden Kriegs-
waffen gibt und die notwendigen rechtlichen und politi-
schen Voraussetzungen gegeben sind, werden Genehmi-
gungen erteilt. Die von den Linken geforderte
Untersagung aller Ausfuhren käme einer Vorverurtei-
lung gleich und ist in der Forderung maßlos.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10229
(A) (C)
(D)(B)
In Deutschland entscheiden Gerichte über Schuld und
Unschuld. Bis dahin herrscht die Unschuldsvermutung.
Sie ist die Grundlage eines jeden Rechtsverfahrens. Of-
fensichtlich hat sich dies bei den Linken noch nicht he-
rumgesprochen. Oder schimmert hier vielmehr der
wahre Kern der Linken unter einer demokratischen
Lackschicht hervor? Frei nach dem Motto: Wer schuld
ist, bestimmt immer noch die Partei und nicht irgendwel-
che Gerichte. Würde man schließlich der verdrehten Lo-
gik eines Generalverbotes folgen, müßte konsequenter
Weise die Fraktion der Linken bei jedem vagen Stasi-
verdacht gegen eines ihrer Mitglieder sofort die Arbeit
einstellen und die Fraktion auflösen.
Im Übrigen hat es in der Vergangenheit bereits mehr-
fach Versuche gegeben, dem Unternehmen in Oberndorf
angeblich illegale Rüstungsexporte anzuhängen. Sie alle
waren haltlos und sind im Sande verlaufen. Zudem rich-
tet sich das Ermittlungsverfahren nicht gegen das Unter-
nehmen selbst, sondern gegen bestimmte Personen, die
für das Unternehmen tätig sind oder waren. Daher kön-
nen selbst im Falle eines erwiesenen Verstoßes gegen au-
ßenwirtschafts- oder kriegswaffenkontrollrechtliche Vor-
schriften nur diese Personen belangt werden und nicht
das Unternehmen selbst – sofern die betroffenen Perso-
nen nicht mehr an verantwortlicher Stelle im Unterneh-
men tätig sind.
Vielmehr scheint mir das Ziel der Linken ein ganz an-
deres zu sein: Es geht ihr um die Schwächung unlieb-
samer Unternehmen und um die Destabilisierung des
Sicherheitsgefüges im Ganzen: Schließlich beliefert das
Oberndorfer Unternehmen die Streit- und Sicherheits-
kräfte von NATO- und EU-Staaten. Diese sind auf eine
permanente Ersatzteilversorgung angewiesen. Die Ver-
sorgung aufrechtzuerhalten ist bei einem Exportverbot
undenkbar. Das Vertrauen in die Lieferzuverlässigkeit
der gesamten deutschen Rüstungsindustrie sowie in die
Berechenbarkeit der deutschen Rüstungsexportpolitik
würde erschüttert. Zudem ist das Unternehmen wichtiger
Lieferant für die Bundeswehr und die Polizeien in
Deutschland. Eine erzwungene Beschränkung auf den
Binnenmarkt durch ein völliges Exportverbot hätte zur
Folge, daß die Fertigungskapazitäten nicht mehr ausge-
lastet werden könnten. Das Unternehmen wäre wirt-
schaftlich nicht mehr zu führen. Arbeitsplatzverluste und
gegebenenfalls eine völlige Schließung des Unterneh-
mens wären die Folge. Allein hierum geht es den Lin-
ken.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Men-
schenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät-
zen für multinationale Unternehmen stärken
– Antrag: Verpflichtender Menschenrechts-
schutz bei den OECD-Leitsätzen für multi-
nationale Unternehmen
– Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze
für multinationale Unternehmen als Chance
für einen stärkeren Menschenrechtsschutz
nutzen
(Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatzta-
gesordnungspunkt 7)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Fast monatlich hören
wir in den Medien, dass Textilarbeiter zum Beispiel in
Bangladesch, dem Zentrum der Textilproduktion für
Deutschland, auf die Straße gehen und für bessere
Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Arbeiter der rund
4 500 Textilfabriken des Landes, in denen auch zahlrei-
che westliche Firmen wie zum Beispiel H&M und Levi
Strauss produzieren lassen, protestieren dagegen, dass
ihre Arbeitgeber ihnen keine Pausen gewähren, keinen
zum Leben angemessenen Mindestlohn zahlen oder ihre
Gewerkschafts- und Versammlungsrechte massiv ein-
schränken.
Ganz klar gesagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedin-
gungen, wie wir sie in vielen Partnerländern vorfinden,
sind unakzeptabel, gerade auch im Hinblick auf die
menschenrechtlichen Grundsätze unserer westlichen
Industriegesellschaft. Richtig verstandene Unterneh-
mensverantwortung deutscher und internationaler Un-
ternehmen muss sich an den tatsächlichen Produktions-
bedingungen in unseren Partnerländern messen lassen.
Dieses verantwortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht
in allen deutschen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie
Unternehmensverantwortung positiv auch für die Ar-
beitsbedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unterneh-
men muss erst einmal bewusst gemacht werden, wel-
chen wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz
für gute Arbeitsbedingungen hat.
Es gibt Leuchtturmunternehmen, die Vorreiter und
Beleg dafür sind, dass die neue Form des „Social Busi-
ness“ einen Mehrwert für jedes Unternehmen hat. Man-
che haben diesen Weg bereits kräftig eingeschlagen; ich
möchte an dieser Stelle unter anderem OTTO, Puma,
hessennatur oder adidas benennen. Diese Unternehmen
haben bei dem CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stif-
tung Warentest positiv abgeschnitten. Gerade die OTTO
AG, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis Hamburg-
Wandsbek, spielt eine besondere Vorreiterrolle. Neben
seinen Umweltstiftungen hat das Unternehmen eine neue
Kooperation im Rahmen von „Social Business“ mit dem
Friedensnobelpreisträger Yunus gestartet. Ziel ist es,
eine Textilfabrik in Bangladesch aufzubauen, die die
Vorgaben der ILO, nämlich akzeptable Arbeitsbedingun-
gen, erfüllt. Diesen Schritt unternimmt die OTTO AG
gerade unter dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social
Business“-Vorhaben in Afrika – Vorhaben, bei denen für
Baumwollfarmer Know-How-Transfer geleistet wurde,
damit sie zukünftig effektiver anbauen können, Vorha-
ben, bei denen 150 000 Farmern gerechte Preise für die
Rohstoffe gezahlt wurden.
Es ist die Pflicht eines jeden Menschenrechtlers und
Entwicklungspolitikers, der sich mit diesem Thema be-
schäftigt, gerade das Engagement solcher Unternehmen
bei jeder passenden Gelegenheit hervorzuheben. Dieser
10230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Weg des positiven Hervorhebens oder, im Gegenteil, des
öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger-Stellens, wie
bei den Beispielen Lidl oder KiK geschehen, ist der
sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema umzugehen
haben.
Ich bin der Auffassung, dass wir bei diesem Thema
parteiübergreifend keinen Dissens haben dürfen und
würde mir wünschen, dass gerade auch die Grünen posi-
tive Leuchtturmprojekte als Chance sehen, sozialen
Fortschritt in unseren Partnerländern zu organisieren. Es
ist falsch, die grundsätzlich ethisch verantwortungsvolle
deutsche Wirtschaft oder gar den deutschen Mittelstand
immer wieder grundsätzlich moralisch zu attackieren.
Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Dies sollte sich
die Opposition endlich einmal hinter die Ohren schrei-
ben.
Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unse-
ren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den interna-
tionalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch
eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zu-
sammenhang besonders auf die Bemühungen der Ar-
beitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht,
mit dem Aktionsplan CSR eine neue Benchmark für die
deutschen CSR-Bemühungen zu setzen.
Ziel der Initiative ist es, verstärkt kleine und mittel-
ständische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleich-
zeitig soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr
Anerkennung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bun-
desregierung gesellschaftliche Verantwortung besser in
Unternehmen und öffentlicher Verwaltung verankern
will. Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter
anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vor-
getragen. Damit ist klar, welchen Weg die Bundesrepu-
blik hier gehen möchte.
Gleichzeitig steht für die Bundesregierung und die
internationale Gemeinschaft die Überarbeitung der
OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen auf
der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in meiner Fraktion,
sondern im gesamten Haus sehr unterschiedliche Auffas-
sungen von Sinn und Zweck der Leitlinien bis hin zur
Frage, wie wir eine wirkliche Verbesserung erreichen
können. Mir ist es wichtig, dass die Bundesregierung
sich der Überarbeitung der Leitsätze der OECD positiv
nähert. Es ist zu beachten, dass die OECD-Leitsätze das
weltweit einzige Instrument sind, das die Förderung glo-
baler Unternehmensverantwortung im Blick hat.
31 Staaten haben sich diesen Leitsätzen verpflichtet, und
Deutschland muss ein Vorreiter bei der nachhaltigen
Umsetzung dieser Leitlinien sein – gerade auch im Hin-
blick auf die Vorbildfunktion gegenüber anderen Part-
nern.
Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/
CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Dis-
kussionsprozess angesprochen werden müssen. Die
Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr
Gewicht erhalten. Sie sollen daher in einem eigenen Ka-
pitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die
Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei
den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise
auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausge-
weitet werden können. Wichtig zu diskutieren ist, wie
mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unter-
nehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze
halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen mit
nicht nachhaltigem Wirtschaften von staatlichen Förder-
instrumenten eine Zeit lang ausgeschlossen werden.
Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständig-
keiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Refe-
rat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung
von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entste-
henden Interessenkonflikte dürfen nicht sein und unter-
graben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesre-
gierung die Leitlinien umsetzen will.
Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an
dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschut-
zes für Geschädigte gegenüber den internationalen
Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusam-
menhang kommen die Instrumente der deutschen Ent-
wicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftun-
gen im Ausland ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland
verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der ge-
meinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerlän-
dern in Regierungsverhandlungen verankert. Der Grund
ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie
es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstandards in
den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da
die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen.
Daher wäre es auch nicht gerecht, dass deutsche und in-
ternationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor
internationalen Gerichten verklagt werden können. Es
muss in der Selbstverantwortung der Partnerländer lie-
gen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor
Ort ermöglicht, Recht erst einmal im eigenen Land zu
erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die
ILO, die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht
nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhalti-
ger und einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu
100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in
den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtli-
che Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass
wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus
zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müs-
sen.
Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die
Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung er-
kennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu
justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen
Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhalten. Daher
muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es
keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwi-
schen importierenden deutschen und internationalen Un-
ternehmen geben darf. Die Bundesregierung nimmt sich
dieser Maxime an; es ist der moralische Anspruch der
deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen.
Ullrich Meßmer (SPD): 2011 ist ein wichtiges Jahr
im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung von
Unternehmen. 2011 können in entscheidender Weise die
Weichen für die Stärkung der Menschenrechte und den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10231
(A) (C)
(D)(B)
weiteren Ausbau der gesellschaftlichen Unternehmens-
verantwortung gestellt werden. In Deutschland liegt seit
einigen Monaten der Aktionsplan zur gesellschaftlichen
Unternehmensverantwortung, kurz CSR, vor, dessen
Umsetzung in diesem Jahr erfolgen wird. CSR oder Cor-
porate Social Responsibility stellt die unternehmerische
Gesellschaftsverantwortung in den Punkten Menschen-
und Arbeitnehmerrechte, Gesellschaft und Umwelt auf
freiwilliger Basis dar. Im Juni wiederum wird der UN-
Menschenrechtsrat über die sogenannten Guiding Prin-
ciples von John Ruggie, dem UN-Sonderberichterstatter
für Wirtschaft und Menschenrechte, abstimmen. Zur sel-
ben Zeit wird auch die Revision der OECD-Leitsätze ab-
geschlossen sein.
Die OECD-Leitsätze beinhalten Vorgaben zur Einhal-
tung von Sozial- und Arbeitsstandards, zur Korruptions-
bekämpfung, zur Steuerehrlichkeit sowie zum Umwelt-
und Verbraucherschutz. Die Leitsätze stehen an der
Schnittstelle zwischen verbindlichen und freiwilligen
Ansätzen und gelten derzeit als das weitreichendste In-
strument zur Stärkung der globalen Unternehmensver-
antwortung. Für die 31 Mitgliedstaaten der OECD sowie
für 11 weitere Staaten, die sich den Leitsätzen ange-
schlossen haben, sind diese verbindlich; für Unterneh-
men sind sie freiwillig. Aufgrund der Leitsätze haben
bereits 42 Staaten sogenannte nationale Kontaktstellen
eingerichtet, die die Leitsätze implementieren, über ihre
Einhaltung wachen und Beschwerden entgegennehmen.
John Ruggie sowie viele Nichtregierungsorganisatio-
nen hatten seit längerem den Reformbedarf der Leitsätze
unterstrichen und auf verschiedene Schwachstellen hin-
gewiesen. Gleichzeitig betonten sie aber auch ihr Poten-
zial, die Regelungslücke zwischen den zunehmenden
Rechten von Unternehmen und den fehlenden korres-
pondierenden Pflichten zu schließen. Mit seinem Rah-
menwerk Guiding Principles will Ruggie zwischen den
bestehenden teils freiwilligen, teils verbindlichen Nor-
men vermitteln. Sein Rahmenwerk beruht auf drei Säu-
len: erstens Protect, also die staatliche Verpflichtung, die
Menschenrechte gegenüber Verletzungen Dritter zu
schützen; zweitens Respect, also die Verantwortung von
Unternehmen, die Menschenrechte zu respektieren; drit-
tens Remedy, also Zugang der Opfer zu effektiven Be-
schwerde- und Abhilfemaßnahmen.
In diesem Kontext treten die Schwachstellen der Leit-
sätze deutlich zutage und bewegen sich zugleich die Ver-
handlungen über ihre Revision. Um folgende Schwach-
stellen geht es im Wesentlichen: erstens der zu schwache
Bezug zu den Menschenrechten; zweitens die stark
divergierende Ausstattung, Anbindung und Arbeitsweise
der nationalen Kontaktstellen; drittens der zu große
Spielraum beim Investitionsbezug; viertens die fehlen-
den Sanktionsmöglichkeiten; fünftens die fehlende
Transparenz in der Steuerlegung der Unternehmen.
Kommen wir zu den Menschenrechten. Obwohl die
Einhaltung der Menschenrechte für verantwortliches
Unternehmerhandeln wesentlich ist, haben die Men-
schenrechte bislang nur Eingang in die Allgemeinen
Grundsätze der OECD-Leitsätze gefunden. Auch wer-
den die Menschenrechte durch den Zusatz „im Einklang
mit den internationalen Verpflichtungen und Engage-
ments der Regierung des Gastlandes“ eingeschränkt.
Das widerspricht ihrem universellen Gültigkeitsan-
spruch und bleibt hinter dem inzwischen international
erzielten Konsens über die menschenrechtliche Verant-
wortung von Unternehmen zurück. Umso mehr begrüßt
der Deutsche Bundestag, dass die überarbeiteten OECD-
Leitsätze ein eigenes Kapitel Menschenrechte haben
werden. Wir als SPD-Fraktion hoffen darüber hinaus,
dass das Menschenrechtskapitel nicht nur eine Hilfestel-
lung für Unternehmen darstellt, sondern als Verpflich-
tung für unternehmerisches Handeln betrachtet wird.
Kommen wir zu den Problemen mit den nationalen
Kontaktstellen, den sogenannten NKS. Hauptproblem
sind die Zulassung von Beschwerdefällen und ihre Bear-
beitung. Besonders in Deutschland werden Beschwerden
häufig mit dem Hinweis auf den fehlenden Investitions-
bezug, den sogenannten Investment Nexus abgewiesen.
Auch die Ansiedelung der deutschen NKS im Bundes-
wirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsin-
vestitionen ist nicht unproblematisch. Interessenkon-
flikte sind hier vorprogrammiert. Im Rahmen der
Überarbeitung wäre es daher sinnvoll, alle NKS auf
Mindeststandards zu verpflichten, was ihre Unabhängig-
keit und ihre Arbeit im Sinne der Betroffenen anbelangt.
Auch die deutsche NKS sollte eine unabhängige Struktur
bekommen, etwa nach dem Vorbild der niederländischen
NKS, in der Experten verschiedener Fachrichtungen zu-
sammenarbeiten.
Ein weiteres Problem stellt der bereits erwähnte In-
vestment Nexus dar. Der Investment Nexus verhindert
häufig, dass die Leitsätze auch bei den Zulieferketten
multinationaler Unternehmen angewendet werden, da
viele Kontaktstellen – so auch die deutsche – Beschwer-
den nur dann akzeptieren, wenn ein direkter Investitions-
bezug nachweisbar ist. Hier bedauert die SPD-Fraktion,
dass die von der Bundesregierung vertretene Position
nur in „sehr begrenzten Einzelfällen“ eine Ausdehnung
der OECD-Leitsätze auch auf die Lieferkette vorsieht.
Wir fordern, dass der Geltungsbereich und die Wirksam-
keit der OECD-Leitsätze über den Investment Nexus hi-
naus erweitert wird, damit die OECD-Leitsätze auch auf
die Lieferkette angewendet werden können. Darüber hi-
naus ist es unabdingbar, dass ein Verstoß gegen die Leit-
sätze für das jeweilige Unternehmen auch Konsequen-
zen haben muss.
Das einzige Druckmittel der OECD-Leitsätze sind so-
genannte Abschlusserklärungen, die die nationalen Kon-
taktstellen bei Verletzungen der Leitsätze erstellen. Hier
spricht die NKS Empfehlungen an das Unternehmen
aus. Hält sich Unternehmen nicht an die Empfehlungen,
gibt es – von einer möglichen Rufschädigung einmal ab-
gesehen – keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten. Das
ist unbefriedigend, darin sind sich Nichtregierungsorga-
nisationen und zum Teil sogar Vertreter des CSR-
Forums einig. Ein Verstoß gegen die Leitsätze sollte
zukünftig für Unternehmen Konsequenzen haben. Bei
der Überarbeitung könnten Sanktionsmechanismen
vereinbart werden wie der zeitweilige Ausschluss von
staatlichen Exportgarantien oder anderen staatlichen Un-
10232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
terstützungsmaßnahmen für ausländische Direktinvesti-
tionen und für den Außenhandel.
Als Letztes fordern wir die Bundesregierung auf, bei
der Überarbeitung auf länderbezogene Rechnungslegung
der Unternehmen zu bestehen, damit globales unterneh-
merisches Handeln transparent bleibt und problemati-
sche Transaktionen – etwa über Steueroasen – sichtbar
werden. Ziel muss es sein, die OECD-Leitsätze zu einem
schlagkräftigen Instrument zur Stärkung der globalen
Unternehmensverantwortung zu machen, damit die Ein-
haltung der Menschenrechte für das gesamte unterneh-
merische Handeln verpflichtend wird.
Serkan Tören (FDP): Wir lehnen die vorgelegten
Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke ab. Die Anträge sind weder substan-
tiiert, noch bieten sie inhaltlich etwas Neues und greifen
in ein laufendes Verfahren ein, dessen Abschluss für
Mitte 2011 geplant ist. Worum geht es genau? Die
OECD-Leitsätze sind der weltweit einzige multilaterale
und umfassend anerkannte Kodex zur Förderung globa-
ler Unternehmensverantwortung. Derzeit werden die
OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im
Rahmen eines Revisionsverfahrens überprüft. In dem
Revisionsprozess werden sowohl Menschenrechts-
aspekte, Zulieferbeziehungen als auch die Funktionalität
der nationalen Kontaktstellen und Verfahrensaspekte des
Beschwerdeverfahrens als besondere Themen der Über-
arbeitung aufgegriffen. Die Grünen und die Linken neh-
men die Überarbeitung der OECD-Leitsätze nun zum
Anlass für einen Antrag, der eine Reihe von überholten
Forderungen enthält. All diese Forderungen sind aus
Sicht der FDP vollkommen überflüssig. Denn die christ-
lich-liberale Koalition verfolgt unter anderem – wie in
den Anträgen gefordert – bereits das Ziel, dass die Men-
schenrechte ein eigenes Kapitel in den OECD-Leitsätzen
erhalten. Dies, sehr verehrte Kollegen der Opposition,
hat ein Vertreter der Bundesregierung am 11. November
2010 bei der Unterrichtung zu den OECD-Leitsätzen im
MR-Ausschuss auch hinreichend dargestellt. Daher ist
Ihr Antrag umso erstaunlicher.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP strebt an, dass
der sogenannte Investment Nexus beibehalten wird. Dies
ist aus Sicht der FDP insofern sachgerecht, als dass zu-
erst eine Verbreitung der OECD-Leitsätze anzustreben
ist statt eine Vertiefung. Bislang haben sich alle
31 OECD-Staaten und 11 weitere Industrienationen zu
den OECD-Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung auf
Staaten, die einen hohen Anteil an Unternehmen aufwei-
sen, welche etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer
wichtiger Schritt. Dazu zählen Länder wie die kommen-
den Wirtschaftsmächte Indien und China. Eine Vertie-
fung der Leitsätze würde von einem Beitritt abschre-
cken. Darüber hinaus würde es Unternehmen aus
Staaten, die den OECD-Leitsätzen beigetreten sind,
Wettbewerbsnachteile verschaffen. Sanktionsmechanis-
men, wie von der Opposition in den Anträgen vorge-
schlagen, stellen ebenso eine kontraproduktive Verschär-
fung der OECD-Leitsätze dar. Diese Sanktionsmecha-
nismen sind hinderlich für das Ziel, die Akzeptanz der
OECD-Leitsätze zu erhöhen und damit weitere Staaten
zu einem Beitritt zu ermutigen.
Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze für multi-
nationale Unternehmen sind die Kompetenzen, die Orga-
nisation und die Anbindung der nationalen Kontakt-
stellen ohnehin ein zentraler Verhandlungsgegenstand.
Daher ist diese Forderung der Opposition aus Sicht der
Liberalen ebenfalls hinfällig. Im Lichte dieser Ausfüh-
rungen sind die Anträge der Grünen und der Linken als
vollkommen überflüssig abzulehnen.
Annette Groth (DIE LINKE): Schon bei der Verab-
schiedung der OECD-Leitsätze für multinationale Unter-
nehmen im Jahr 1976 gab es deutliche Kritik der ent-
wicklungspolitischen Organisationen an der fehlenden
Verbindlichkeit der Leitsätze. Aus diesem Grund wird
von den entwicklungspolitischen Initiativen und Organi-
sationen seit vielen Jahren über die notwendige Weiter-
entwicklung der OECD-Leitsätze für multinationale
Unternehmen diskutiert. Germanwatch, Misereor und
Transparency Deutschland fordern, dass die OECD-Leit-
sätze endlich zu einem wirksamen Instrument gegen un-
ternehmerisches Fehlverhalten ausgestaltet werden müs-
sen. Im Zentrum ihrer Kritik steht der fehlende
verbindliche Charakter der OECD-Leitsätze. Auch wenn
transnationale Unternehmen Fehlverhalten an den Tag
legen, führt eine Ahndung durch die nationalen Kontakt-
stellen zu keinerlei direkten Konsequenzen für die be-
troffenen Unternehmen.
Warum brauchen wir verbindliche Regeln für welt-
weites unternehmerisches Handeln? Damit sich Schick-
sale wie das der 18-jährigen Näherin Fatema Akter aus
Bangladesch nicht wiederholen. Fatema brach im De-
zember 2009 während ihrer Schicht tot zusammen. Sie
musste an sieben Tagen in der Woche 13 bis 15 Stunden
in der Textilfabrik in der Hafenstadt Chittagong arbeiten
und pro Stunde bis zu hundert Jeanshosen reinigen.
Rund 80 Prozent der in der Fabrik hergestellten Textilien
wurden für Metro produziert, ein deutsches Unterneh-
men, für das die OECD-Leitsätze gelten.
Für die Fraktion Die Linke muss unternehmerisches
Handeln mit verbindlichen Arbeits- und Sozialstandards,
aber auch Umweltschutz- und Verbraucherschutz-
kriterien verbunden werden. Die Leitsätze haben hier
lediglich erste Ansätze geliefert. Zwar wird in vielen be-
triebswirtschaftlichen Lehrbüchern von „guter Unter-
nehmensführung“ und „Best-Practice-Beispielen“ ge-
schwärmt. Die Realität der Arbeit vieler transnationaler
Unternehmen wird jedoch in vielen Regionen der Welt
von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, fehlender Ge-
sundheitsversorgung für die Beschäftigten und katastro-
phalen Umweltauswirkungen begleitet. Freiwillige
Selbstverpflichtungen haben sich in der Praxis als völlig
unzureichend erwiesen, da für viele transnationale Un-
ternehmen vor allem der Gewinn und nicht die men-
schenrechtlichen Aspekte ihrer Arbeit im Vordergrund
stehen.
Nun besteht mit der Überarbeitung der OECD-Leit-
sätze die Möglichkeit, die Leitsätze zu einem wirksamen
Instrument zur Sicherung von Menschenrechten in mul-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10233
(A) (C)
(D)(B)
tinationalen Unternehmen weiterzuentwickeln. Sowohl
der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als auch der
SPD-Antrag haben positive Ansätze. Beide bleiben in
ihren konkreten Forderungen jedoch halbherzig. Positiv
ist, dass sich alle vorliegenden Anträge für eine Verände-
rung der bisherigen Organisation der nationalen Kon-
taktstellen einsetzen. Nationale Kontaktstellen müssen
unabhängig von staatlichen Stellen und Ministerien wer-
den. Die beiden anderen Anträge bleiben jedoch deutlich
hinter den Forderungen der Linken zurück. Sowohl bei
SPD als auch bei Grünen fehlt eine klare Forderung nach
einer besseren personellen Ausstattung der nationalen
Kontaktstellen. Wir sehen hierin eine wichtige Voraus-
setzung für eine effektivere Arbeit der nationalen
Kontaktstellen. Zurzeit stehen riesige Apparate der
transnationalen Konzerne einzelnen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern dieser Kontaktstellen gegenüber. Chan-
cengleichheit in der Arbeit ist so in keiner Weise gege-
ben. Wenn wir die nationalen Kontaktstellen als wirksa-
mes Instrument zur Bekämpfung von Fehlverhalten
weiterentwickeln wollen, kann dies nur mit angemesse-
ner Personalausstattung geschehen.
Deutlich unterscheiden sich die Anträge auch in der
Forderung nach Einbeziehung von Gewerkschaften,
Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen. Ein-
zig die Linke setzt sich dafür ein, dass in Zukunft die na-
tionalen Kontaktstellen paritätisch mit Vertreterinnen
und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften, Ent-
wicklungs- und Menschenrechtsorganisationen besetzt
werden. Wir sind davon überzeugt, dass nur durch die
direkte Einbeziehung von unabhängigen Vertreterinnen
und Vertretern in die nationalen Kontaktstellen eine un-
abhängige Kontrolle der transnationalen Unternehmen
erreicht wird.
Die Linke tritt dafür ein, dass sich multinationale Un-
ternehmen auch für die Verstöße ihrer Subunternehmen
und Zulieferer gegen die Leitsätze verantworten müssen.
Der Investment Nexus muss hierbei so weiterentwickelt
werden, dass auch alle selbstständigen Subunternehmen
und Zulieferbetriebe in den Geltungsbereich der Leit-
sätze fallen und die bisherige Beschränkung der Leit-
sätze auf grenzüberschreitende Investitionstätigkeiten
auf alle Investitionen und Lieferbeziehungen der multi-
nationalen Unternehmen erweitert wird. Die Linke ist
davon überzeugt, dass Betroffene die Möglichkeit haben
müssen, bei Fehlverhalten von Unternehmen ihre Forde-
rungen individuell einklagen zu können. Dies setzt je-
doch voraus, dass die von Unternehmen aus der EU ge-
schädigten Bürgerinnen und Bürgern auch einen
ungehinderten und kostenfreien Zugang zu Rechtsschutz
innerhalb der EU erhalten, auch wenn sie keine EU-Bür-
gerinnen und -Bürger sind. Mit der Revision der OECD-
Leitsätze haben wir die große Chance, einen qualitativen
Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegen-
über multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Ich
hoffe, dass sich die Bundesregierung aufgrund einer
übertriebenen Rücksichtnahme auf die Interessen der
Großkonzerne dem nicht verweigert.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Im Vorfeld des Fackellaufes zu den Olympischen Spie-
len in China wurden in der Stadt Kashgar in Xinjiang
zahlreiche Uiguren willkürlich festgenommen. Diese
Festnahmen gingen nicht etwa auf Straftaten zurück,
sondern dienten lediglich dazu, befürchtete Proteste an-
lässlich des Fackellaufs im Keim zu ersticken. Die
Volkswagen AG ließ sich von diesen Menschenrechts-
verletzungen im Umfeld des Fackellaufs nicht beirren
und unterstützte den umstrittenen sogenannten Lauf der
Harmonie großzügig. Zur Rechenschaft gezogen wurde
Volkswagen für diese Entscheidung nie.
Nun gelten in Deutschland wie auch in allen anderen
OECD-Mitgliedstaaten seit 1976 Leitsätze für Unterneh-
men. Es sollte uns sehr nachdenklich stimmen, dass
diese Leitsätze das bisher am weitreichendste Instrument
für die Stärkung der globalen Unternehmensverantwor-
tung sind. Denn im Bemühen um eine bessere men-
schenrechtliche Bindung von Unternehmen sind sie ein
stumpfes Schwert. Dies liegt nicht allein daran, dass die
Leitsätze für Unternehmen nicht verpflichtend sind, son-
dern auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen.
Die Menschenrechte haben in den Leitsätzen bisher
keinen festen Platz. Nur im Grundsatzkapitel werden sie
einmal kurz erwähnt. Dort heißt es, Unternehmen sollten
die „Menschenrechte der von ihrer Tätigkeit betroffenen
Menschen respektieren“, dies allerdings nur, wie es dort
heißt, „im Einklang mit den internationalen Verpflich-
tungen und Engagements der Regierung des Gastlands“.
In der Praxis hieße dies beispielweise, dass internatio-
nale Unternehmen weiterhin billigend in Kauf nehmen
dürfen, dass ihre Subunternehmen in Kolumbien in still-
schweigender Komplizenschaft mit Guerillas stehen, die
für den Mord an Tausenden von Gewerkschaftern ver-
antwortlich sind, und das nur, weil Kolumbien die
grundlegenden Konventionen zum Schutz von Gewerk-
schaftern nie unterzeichnet hat. Eine solch aufgeweich-
ter Grundsatz ist das Papier nicht wert, auf dem er steht,
und hat mit menschenrechtlicher Verpflichtung nichts zu
tun.
Obwohl in den Leitsätzen also ohnehin viel fehlt und
ihre Einhaltung vom guten Willen der Unternehmen ab-
hängt, wird in Deutschland noch nicht einmal das ge-
ringe Potenzial dieser schwachen Leitsätze voll ausge-
schöpft. Wir haben in Deutschland zwar eine sogenannte
Nationale Kontaktstelle, die Beschwerden bei Missach-
tung der Leitsätze bearbeiten soll. Doch das anfangs ge-
nannte Beispiel veranschaulicht, dass wir es bei der
deutschen Nationalen Kontaktstelle mit einem so gut wie
zahnlosen und zudem äußerst lethargischen Tiger zu tun
haben. Die meisten Beschwerden, die bei der Nationalen
Kontaktstelle in den letzten Jahren eingingen, wurden
abgelehnt. Häufig interpretierte die Kontaktstelle den
Geltungsbereich der Leitsätze so willkürlich, dass sie
sich in vielen Fällen als nicht zuständig bezeichnen
konnte, so auch im Falle der Beschwerde gegen die
Volkswagen AG. Gerade einmal drei Beschwerden hat
die Kontaktstelle in den zehn Jahren ihres Bestehens als
zulässige Beschwerdefälle angenommen, und das, ob-
wohl die Beschwerdeführer, darunter viele renommierte
NGOs, ihrerseits sehr glaubwürdig Verstöße gegen die
Leitsätze geltend gemacht haben. Diese Arbeitsbilanz
der Kontaktstelle ist ein Armutszeugnis für die deut-
10234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
schen Bemühungen um eine stärkere Unternehmensver-
antwortung und verdient die Bezeichnung Kontrolle
nicht.
Die Leitsätze werden nun nach langer Zeit wieder
überarbeitet. Dies bietet die Gelegenheit, die Leitsätze
endlich menschenrechtlich zu schärfen, sie auf alle Ge-
schäftstätigkeiten von Unternehmen auszuweiten und
die nationalen Kontaktstellen zu echten Kontrollorganen
zu machen. Die Bundesregierung ist nun gefordert, sich
genau dafür einzusetzen. Denn eine grundlegende Über-
arbeitung der Leitsätze ist unumgänglich, wenn wir wol-
len, dass massive Menschenrechtsverletzungen durch
Unternehmen der Vergangenheit angehören.
Doch selbst die besten Leitsätze nützen nicht viel,
wenn es keine Möglichkeiten gibt, die Einhaltung der
Regeln durchzusetzen, sie zu überwachen und Verstöße
zu sanktionieren. Es kann nicht angehen, dass Unterneh-
men, die direkt oder indirekt durch ihre Zulieferer Men-
schenrechte verletzen oder Menschenrechtsverletzun-
gen zumindest billigend in Kauf nehmen, weiterhin
Förderungen des deutschen Staates erhalten, beispiels-
weise in Form von Exportbürgschaften. Machen wir uns
keine Illusionen, freiwillige Selbstverpflichtungen von
Unternehmen, wie sie den Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition vorschweben, reichen nicht aus. Für
Unternehmen muss es teuer werden, gegen Menschen-
rechte zu verstoßen. Nur so werden wir langfristig einen
wirkungsvollen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen
durch Unternehmen erreichen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Tagesord-
nungspunkt 15)
Norbert Barthle (CDU/CSU): Die Einführung der
für Bund und Länder geltenden Schuldenbremse in das
Grundgesetz ist eine haushalts- und finanzpolitische
Leistung der großen Koalition der letzten Legislaturpe-
riode, die für die nachhaltige Stabilität der öffentlichen
Haushalte von zentraler und richtungsweisender Bedeu-
tung ist. Die gemeinsam mit der SPD gefundene Rege-
lung kann sich sehen lassen, wie nicht zuletzt die aktuel-
len Diskussionen auf EU-Ebene zeigen. Um dauerhaft
die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu stabili-
sieren und damit die gemeinsame Währung Euro zu si-
chern, werden vergleichbare Regelungen auch in den
Partnerstaaten angeregt, wenn nicht sogar gefordert. Die
deutsche Schuldenbremse könnte so ein Exportschlager
werden, ohne dass dies in unserer Intention lag.
Die rechtlichen Grundlagen der Schuldenbremse sind
unter dem damaligen SPD-Bundesfinanzminister Peer
Steinbrück verabschiedet worden. Es lohnt daher, sich
die Situation zum Zeitpunkt der Einführung der Schul-
denbremse nochmals vor Augen zu führen. Der Entwurf
des Bundeshalts 2010, den Peer Steinbrück noch im
Sommer 2009 – und damit vor der Bundestagswahl –
vorlegte, sah eine Nettokreditaufnahme von 86,1 Mil-
liarden Euro vor. Der zweite Entwurf des neuen Bundes-
finanzministers Wolfgang Schäuble blieb leicht unter-
halb dieser ursprünglichen Nettokreditaufnahme. In den
Beratungen wurde dann das Soll der Nettokreditauf-
nahme auf 80,2 Milliarden Euro gesenkt. Zum Zeitpunkt
des Kabinettbeschlusses zum Entwurfs des Haushalts
2011 und Finanzplan bis 2013 wurde für 2010 ein Ist-Er-
gebnis von 65,2 Milliarden Euro erwartet, das dann die
Grundlage für die Festlegung des Abbaupfads des struk-
turellen Defizits bis 2016 bildet.
Der SPD-Antrag kritisiert nun diese Festlegung des
Abbaupfads im Sommer 2010 anhand des damalig er-
warteten Ist-Ergebnisses für die Nettokreditaufnahme
und fordert ein Nachjustieren. Wir lehnen dieses Ansin-
nen aus fachlichen Gründen ab und nehmen mit Verwun-
derung zu Kenntnis, dass die SPD jetzt hinter den
damals noch unter ihrem Bundesfinanzminister einge-
führten und von ihr getragenen Regelungen zurückfällt.
Diesen Sinneswandel muss sie selbst erklären.
Der damals unter SPD-Riege eingeführte und heute
von der SPD kritisierte Ermessungsspielraum hätte uns
auch ermöglicht, das Steinbrück’sche Soll als Ausgangs-
punkt nehmen zu können. Das hätte uns einen sehr viel
größeren Spielraum für die Nettokreditaufnahme ermög-
licht. Ähnliches gilt für den Fall, wenn wir das Soll 2010
unterstellt hätten. Wir haben jedoch darauf verzichtet
und restriktiv das damals erwartete Ist-Ergebnis als Aus-
gangspunkt gewählt.
Die SPD wirft uns vor, wir würden uns einen Puffer
anlegen, um in Zukunft zum Beispiel eine Steuersen-
kung umzusetzen. Die christlich-liberale Koalition hat
sich an anderer Stelle oft genug zu ihren Vorstellungen
zu einer Steuersenkung geäußert, so dass ich das hier
nicht wiederholen muss. Diese geht in der Tat nur dann,
wenn entsprechende Handlungsspielräume erarbeitet
werden. Mit der Wahl des damals erwarteten Ist-Ergeb-
nisses haben wir bewusst auf „Buchungstricks“ verzich-
tet. Hätten wir das Steinbrück’sche Soll unterstellt, hät-
ten wir in der Tat vorgegaukelt, schon jetzt einen
entsprechenden Handlungsspielraum zu haben. Da wir
aber gerade darauf verzichtet haben, läuft der Vorwurf
der SPD offensichtlich ins Leere. Wir werden uns den
notwendigen Handlungsspielraum für eine Steuersen-
kung solide erarbeiten. Denn die Union steht für eine so-
lide Haushalts- und Finanzpolitik.
Der Umgang mit dem Ermessungsspielraum muss
auch praktisch umsetzbar sein. Ein mehr oder weniger
laufendes Nachjustieren des Abbaupfads aufgrund sich
laufend ändernder Parameter ist wenig hilfreich für eine
nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik. Das Vertrauen
in die Wirkung der Schuldenbremse wird damit nicht ge-
wonnen. Vielmehr wird ein hektischer Anpassungsmara-
thon eingeleitet, der am Ende niemandem hilft.
Das Ergebnis wäre Willkür und damit gerade das, was
mit der Schuldenbremse vermieden werden sollte. Das
lehnen wir ab. Wir wollen dies dem geordneten Haus-
haltsaufstellungsverfahren überlassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10235
(A) (C)
(D)(B)
Unabhängig davon, wie der Abbaupfad festgelegt
wird, am Ende steht das Ergebnis fest: In 2016 darf das
strukturelle Defizit maximal 0,35 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts betragen. Die Wahl des Ausgangspunkts
zur Festlegung des Abbaupfads ändert daran nichts.
Dass sich Erwartungen nicht erfüllen, ist im praktischen
Leben nicht ungewöhnlich. Dies gilt erfreulicherweise
auch für das Ist-Ergebnisses 2010 für die Nettokreditauf-
nahme, das wir seit wenigen Wochen kennen. Es liegt mit
44 Milliarden Euro deutlich unterhalb des damaligen
Soll-Ansatzes beziehungsweise unterhalb des im Som-
mer 2010 noch erwarteten Ist-Ergebnis. Dies zeigt nur
die Binsenwahrheit, dass Unsicherheiten bei Planungen
und Schätzungen bestehen. Welche Zahl für die Netto-
kreditaufnahme hätte man denn zwischen Sommer 2010
und dem Abschluss des Haushaltsjahres als Ausgangs-
punkt nehmen sollen? Letztlich ist jede Zahl mehr oder
weniger gegriffen und willkürlich. Diese Willkür gilt
letztlich auch für den Versuch der SPD, jetzt das Ergeb-
nis nachzujustieren. Zumal der Haushalt 2011 schon ver-
abschiedet ist, läuft hier ein Nachjustieren ohnehin ins
Leere.
Der Abbaupfad stellt eine Obergrenze für die Ent-
wicklung des strukturellen Defizits dar. Die Koalition
hat diese bewusst nicht ausgereizt. Wenn man aber aktu-
ell die Forderungen der Opposition aus dem Vermitt-
lungsausschuss um die Hartz-IV-Sätze sieht, so gewinnt
man den Eindruck, dass ein Füllhorn ausgegossen wer-
den soll. Wie dies dann mit dem SPD-Antrag zusam-
menpassen soll, ist schon ein wenig fragwürdig. Viel-
leicht sollten wir uns mal wirklich die Aufgabe machen,
die finanziellen Auswirkungen all der Forderungen der
Opposition zusammenzuzählen. Ich befürchte, dass man
zu folgendem Ergebnis kommt: Um sie zu erfüllen,
dürfte selbst ein Abbaupfad nicht ausreichen, der mit der
Wahl des Steinbrück’schen Soll-Ansatzes erreicht wer-
den würde. So viel zur Konsistenz von linker Politik.
Die gute Situation, die letztlich das Ergebnis der gu-
ten und richtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik der
christlich-liberalen Koalition ist, führt überhaupt erst zur
von der SPD angestoßenen Debatte. Wenn die SPD jetzt
so vehement für die Nachjustierung eintritt, so frage ich
mich, ob sie das auch getan hätte, wenn wir in einer ge-
nau gegenteiligen Situation gewesen wären. Ich möchte
die Frage in den Raum stellen: Wäre die SPD auch dann
für eine Nachjustierung eingetreten, die weitere Ver-
schuldungsfreiräume für die Koalition eröffnet hätte?
Dies alles sind sicherlich Gedankenspiele. Aber sie zei-
gen, wie richtig es ist, auf das von der SPD vorgeschla-
gene Verfahren nicht einzugehen, da es am Ende doch
nur zu einer willkürlichen Handhabung der Schulden-
bremse führt.
Die christlich-liberale Koalition blickt in der Haus-
halts- und Finanzpolitik nach vorne. Das Konsolidie-
rungspaket ist auf den Weg gebracht, die Konjunktur
läuft gut. Dies ist alles sehr erfreulich, darf aber nicht als
Anlass genommen werden, in den Konsolidierungsbe-
mühungen nachzulassen. Es ist noch ein weiter Weg bis
zur Einhaltung der Schuldenbremse in 2016. Die christ-
lich-liberale Koalition wird den eingeschlagenen Kurs
einhalten.
Peter Aumer (CDU/CSU): Der Beschluss über eine
Schuldenbremse war ein wichtiges Signal für die Konso-
lidierung der Haushalte in der Zeit der Finanz- und Wirt-
schaftskrise. Gerade die aktuelle Entwicklung auf den
Finanzmärkten und die Spekulation gegen einzelne Mit-
gliedsländer in der Europäischen Union zeigen, wie
wichtig eine nachhaltige Haushaltspolitik ist. Und sie
zeigen auch, wie zukunftsweisend die Entscheidung der
damaligen Großen Koalition war, die Schuldenbremse
im Grundgesetz zu verankern.
Nun, in Zeiten der Opposition, stellen Sie, meine sehr
geehrten Damen und Herren von der SPD, das infrage,
was damals Konsens war. Der von der SPD-Fraktion kri-
tisierte Ermessensspielraum zur Festlegung des Abbau-
pfades gemäß des geltenden § 9 Abs. 2 des Ausfüh-
rungsgesetzes zu Art. 115 GG widerspricht nicht Sinn
und Zweck der Schuldenregel. Einer Gesetzesänderung
bedarf es daher nicht. Was Sie hier betreiben, meine sehr
geehrten Damen und Herren von der SPD, ist reine Pole-
mik. Die Koalition arbeitet mit aller Kraft, den grundge-
setzlich vorgeschriebenen Vorgaben der Schuldenbremse
zu entsprechen. Und Ihr Beitrag zur Konsolidierung ist
null; von Ihrer Seite gab es keine konstruktiven Vor-
schläge, wie mit dem gemeinsamen Ziel der Haushalts-
konsolidierung verantwortungsvoll umgegangen wer-
den kann. Sie fordern sparen, jawohl, aber Sie sagen
nicht, wo, sie sagen nicht, wie, und das ist verantwor-
tungslos. Das wird der aktuellen Situation nicht gerecht.
Das wird vor allem nicht Ihrer Verpflichtung für die
kommenden Generationen gerecht.
Sie verlassen den Konsenspfad in der Politik der
Haushaltskonsolidierung und setzen auf Populismus.
Das nehmen Ihnen die Menschen in unserem Land nicht
ab. Der verantwortungsvolle Beitrag eines jeden einzel-
nen Bürgers in unserem Land ist substanzieller Bestand-
teil der Konsolidierungs- und Einsparanstrengung. Leis-
ten auch Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, Ihren Beitrag. Lassen Sie in der Konsolidie-
rungsfrage ausnahmsweise das politische Ränkespiel,
und stellen Sie sich der Verantwortung für unsere Zu-
kunft. Ziel und damit Geist und Sinn der Schuldenregel
sind, die strukturelle Verschuldung ab 2016 auf maximal
0,35 Prozent des BIP zu begrenzen. Die im Gesetzestext
offene Formulierung zum strukturellen Defizit des Haus-
haltsjahres 2010 für die Übergangsregelung der Schul-
denregel gibt sowohl der Bundesregierung als auch dem
Parlament einen Beurteilungsspielraum im Rahmen der
Feststellung des maßgeblichen strukturellen Defizits
2010. Die Erreichung dieses Ziels bleibt völlig unberührt
von der zu wählenden Vorgehensweise im Rahmen des
gemäß § 9 Abs. 2 bestehenden Beurteilungsspielraums
und damit der Festlegung des Abbaupfades.
Die Bundesregierung hat mit dem Zukunftspaket ein
nachhaltiges Konsolidierungskonzept vorgelegt, dessen
Verbindlichkeit für die Jahre bis 2014 in der Öffentlich-
keit kommuniziert wurde. Im Sinne einer kontinuierli-
chen und damit vertrauensbildenden Politik stellt sich
also die Herangehensweise der Bundesregierung als die
einzig richtige dar. Wir haben mit einer breiten Mehrheit
in diesem Haus die Schuldenbremse in das Grundgesetz
geschrieben und das Ausführungsgesetz zu Art. 115 GG
10236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
erlassen. Halten Sie sich doch an den Pakt von Vernunft
und Verantwortung. Fallen Sie nicht schon wieder um
wie bei vielen von Ihnen mitgetragenen, herausragend
wichtigen Entscheidungen für unsere Zukunft: Rente
mit 67, Hartz IV und vieles mehr. Überall stehlen Sie
sich aus der Verantwortung oder fordern nicht einhalt-
bare Positionen zum eigenen politischen Profit. Das wol-
len die Menschen in unserem Land nicht mehr! Das, was
die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land heute von
der Politik erwarten, sind die Übernahme von Verant-
wortung und eine vernünftige sowie sozial ausgewogene
Politik. Aber das, was Sie gerade im Bundesrat veran-
stalten, hat nichts mit dem zu tun. Dort zeigen Sie Ihr
wahres Gesicht. Mit dieser Gesetzesänderung versuchen
Sie, Ihre Scheinheiligkeit zu postulieren. So bringen wir
Deutschland nicht nach vorn. So schaffen wir keine Ba-
sis, damit Deutschland sich von der Finanz- und Wirt-
schaftskrise erholt. Unser Land braucht Stabilität und
Verlässlichkeit. Die christlich-liberale Koalition ist sich
ihrer Verantwortung bewusst, jener Verantwortung, die
die SPD aus den Augen verloren hat.
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Die SPD-Frak-
tion legt heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Art.-115-Gesetzes vor. Damit wollen wir nicht Er-
gebnisse der Finanzreform infrage stellen oder verän-
dern. Im Gegenteil, wir wollen durch Konkretisierungen
im Gesetz erreichen, dass das, was der Gesetzgeber da-
mals gewollt hat, auch tatsächlich vom Bundesfinanz-
minister umgesetzt wird. Denn dieser Bundesfinanz-
minister – der ja auch mal Verfassungsminister war –
handelt Sinn und Geist der Regelungen der Schulden-
bremse zuwider. Er will durch sinnwidrige Interpretatio-
nen der gesetzlichen Regelungen die gewollt stramme
Schuldenbremse ausbremsen und sich einen doch noch
möglichst großen Verschuldungsspielraum sichern.
Zum einen will der Bundesfinanzminister dadurch
den Konsolidierungsdruck abschwächen. Weite Teile des
sogenannten Sparprogramms vom vorigen Jahr sind
nämlich nach wie vor nicht unterlegt. Wo ist denn das
Konzept zur Einsparung bei der Bundeswehr? Wo ist
denn das Konzept zur Einsparung bei der Bundesagentur
für Arbeit? Wo ist denn der Gesetzentwurf zur Finanz-
transaktionsteuer, die ab 2012 gemäß Sparpaket einge-
führt werden soll? Überall Fehlanzeige!
Zum anderen drängt sich ein Verdacht auf. Diese Ko-
alition will dadurch, dass sie die Schuldenobergrenze so
hoch wie nur möglich ansetzt, Spielräume für Steuersen-
kungen vor der nächsten Wahl schaffen. Solche Steuer-
senkungen wären nur auf Pump und nur durch Trickse-
reien bei der Schuldenbremse zu finanzieren. Und
dagegen wehren wir uns mit dem vorgelegten Gesetzent-
wurf. Die grundlegende Konsolidierung des Bundes-
haushalts ist notwendig und ohne Alternative. Deshalb
muss die Schuldenbremse nach Geist und Sinn strikt ein-
gehalten werden.
Worum geht es konkret? Der Bundesfinanzminister
trickst vor allem bei der Festlegung des sogenannten
strukturellen Defizits des Jahres 2010 als Ausgangswert
für den Abbaupfad der Neuverschuldung bis 2016. Er
trickst außerdem bei der Festlegung des konjunkturellen
Anteils am Haushaltsdefizit. Mit dem Gesetzentwurf
wollen wir ihn auf den Pfad der Tugend zurückholen und
dies kommt nicht aus heiterem Himmel. Wir haben in
vielen Sitzungen im Haushaltsausschuss und auch hier
bei der Lesung des Bundeshaushalts im Parlament im-
mer wieder gefordert, er möge sich an Geist und Sinn
des Gesetzes halten. Dies war ohne jeden Erfolg und
deshalb ist diese Gesetzesänderung notwendig.
Der Bundesfinanzminister soll verpflichtet werden,
den Ausgangswert 2010 für den Abbaupfad bis 2016 an
der tatsächlichen Entwicklung auszurichten und nicht
willkürlich an dem im vorigen Sommer für 2010 erwar-
teten Wert. Das damals für 2010 erwartete Defizit lag bei
65 Milliarden Euro, das tatsächliche Defizit liegt jetzt
bei 44 Milliarden Euro. Diese erfreuliche enorme Ab-
senkung um 21 Milliarden Euro muss sich auch in einer
entsprechenden Absenkung des Abbaupfades widerspie-
geln. Das ist völlig plausibel und eigentlich selbstver-
ständlich, denn der enorme Aufschwung in 2010 hat die
Bundesfinanzen durch höhere Steuereinnahmen und ge-
ringere Arbeitsmarktausgaben erheblich verbessert.
Diese Verbesserung wirkt als Sockeleffekt in die nächs-
ten Jahre fort. Hingegen bekräftigt die Bundesregierung
noch im Jahreswirtschaftsbericht, sie wolle bei ihrer
Festlegung der Verschuldungsobergrenze für die Auf-
stellung des Bundeshaushalts 2012 und der Finanzpla-
nung bis 2015 von dem völlig überhöhten Wert von
65 Milliarden Euro ausgehen.
Was bedeutet das für 2012 in Zahlen? Bei einem an-
genommenen Sockel von 65 Milliarden Euro in 2010
liegt die Schuldenobergrenze für 2012 um 11,5 Milliar-
den Euro höher als bei dem tatsächlichen Sockel von
44 Milliarden Euro. Eine solche Absenkung klingt zu-
nächst nach viel und nach einem riesigen Problem für
den Bundesfinanzminister. Der Eindruck ist aber falsch,
denn diese Absenkung ist Folge der deutlich besser als
erwarteten Wirtschaftsentwicklung, die auch den Bun-
deshaushalt 2012 wesentlich besser aussehen lassen wird
als in der bisherigen Finanzplanung angenommen. Ich
gehe von konjunkturellen Verbesserungen für den Bun-
deshaushalt 2012 von mindestens 15 Milliarden Euro ge-
genüber dem Finanzplan aus. Dies ist deutlich mehr als
die beschriebene Absenkung der Obergrenze um
11,5 Milliarden Euro, die unser Gesetzentwurf zur Folge
haben wird. Im Prinzip wird also nur der Spielraum ein-
gedampft, den die Konjunktur geschaffen hat. Und dage-
gen wehrt sich das BMF nun so vehement. Warum? Ich
wiederhole: Sie wollen dem Konsolidierungsdruck ent-
gehen und bauen vor für Steuersenkungen auf Pump und
das ist unverantwortlich.
Sie stehen dabei völlig alleine. Bislang habe ich nie-
mand aus Wissenschaft oder Wirtschaft gehört, der ihre
Auffassung zur Festlegung des Sockels 2010 teilt. Im
Gegenteil haben Bundesrechnungshof, der Sachverstän-
digenrat und die Bundesbank wie wir gefordert, von ak-
tuellen Daten auszugehen. Die Bundesbank hat dies in
ihrem letzten Monatsbericht nochmals ganz deutlich un-
terstrichen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10237
(A) (C)
(D)(B)
Auch bei der Berechnung der Konjunkturkomponente
des Defizits hat der Bundesfinanzminister während des
gesamten letzten Jahres getrickst, desinformiert bzw. nur
scheibchenweise informiert. Der Haushaltsausschuss
wurde regelrecht für dumm verkauft, wenn seitens des
Bundesfinanzministeriums behauptet wurde, es brauche
Monate, um auf ein neues Verfahren umzustellen. Insti-
tute und der Sachverständigenrat konnten dies binnen
Stunden. Wir mussten lernen, dass BMF auch hier bei
der Berechnung Ermessensspielräume hat, die im Ex-
trem die Schuldenobergrenze um 6 bis 8 Milliarden Euro
nach oben schieben können. Für mich als Parlamentarier
ist das mit Blick auf das Budgetrecht nicht hinnehmbar.
Der Bundesfinanzminister darf nicht solche Entschei-
dungsspielräume haben und damit dem Parlament die
Schuldenobergrenze nach Gusto diktieren. Wir hatten
ihn deshalb schon während der Haushaltsberatung auf-
gefordert, die Berechnung der Konjunkturkomponente
an eine unabhängige Institution, nämlich den Sachver-
ständigenrat zu übertragen. Der Bundesfinanzminister
hat dies persönlich im Haushaltsausschuss auch nicht ab-
gelehnt und soll jetzt durch unseren Gesetzentwurf dazu
verpflichtet werden.
Die SPD will, dass die Regelungen zur Schulden-
bremse auf Punkt und Komma und nach Sinn und Geist
eingehalten werden. Die Konkretisierung des Gesetzes
wird dies garantieren.
Florian Toncar (FDP): Der hier zur Abstimmung
stehende Antrag der SPD-Fraktion zeigt einmal mehr,
dass die SPD keinen klaren politischen Kurs verfolgt. In
ihrem Antrag fordert die SPD jetzt eine Verschärfung
des Abbaupfades der Neuverschuldung gegenüber den
Erfordernissen der Schuldenbremse. Und vor nur drei
Monaten, als es bei den Haushaltsverhandlungen darum
ging, die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen, for-
derte die SPD anstelle von Ausgabensenkungen mit ih-
ren Anträgen sogar noch eine Ausgabenerhöhung um
ganze 6,3 Milliarden Euro. Dieses Verhalten der SPD,
erst Mehrausgaben und kurze Zeit danach eine Verschär-
fung der Haushaltskonsolidierung zu fordern, zeigt deut-
lich, dass sie in Wahrheit kein ernsthaftes Interesse an
soliden Staatsfinanzen hat. Aber auch die Grünen forder-
ten in den Haushaltsverhandlungen Mehrausgaben von
insgesamt 12,9 Milliarden Euro. Und wenn ich erst an
das aktuelle Vermittlungsverfahren zu Hartz IV denke,
wo Ihre Leute finanzielle Maximalforderungen gestellt
haben, dann kann ich Ihnen Ihre zur Schau gestellte
Sparsamkeit nicht abnehmen. Es zeigt sich hier ganz
klar, dass mit Rot-Grün die Staatsausgaben und im glei-
chen Zug auch die Steuerbelastung der Bürgerinnen und
Bürger immer weiter ansteigen würden.
Ziel der Schuldenregel, als deren Verfechter sich die
SPD jetzt mit ihrem Antrag gibt, ist es die strukturelle
Verschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 Prozent des
Bruttoinlandprodukts zu begrenzen. Und das ist genau
das, was die SPD da, wo sie Verantwortung trägt, nicht
macht. Am schlimmsten ist es – unter Mithilfe der Grü-
nen und der Linken – in Nordrhein-Westfalen. Ihre erste
Maßnahme nach der Wahl war eine zusätzliche Neuver-
schuldung allein für 2010 von 1,8 Milliarden Euro. Da-
mit sind Sie vor Gericht voll gegen die Wand gefahren.
Und für 2011 hat Rot-Grün in NRW über alle Bedenken
und Warnungen hinweg einen verfassungswidrigen
Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung von
7,8 Milliarden Euro vorsieht. Obwohl Rot-Grün gegen-
über dem ursprünglichen Finanzplan der Vorgänger-
regierung für 2011 knapp 1 Milliarde Euro an Mehrein-
nahmen zur Verfügung steht, haben sie trotzdem die
Neuverschuldung gegenüber der Finanzplanung um
1,4 Milliarden Euro erhöht, weil sie die Ausgaben um
2,3 Milliarden Euro nach oben getrieben haben. Und
Ihre neue Hoffnungsträgerin, Frau Kraft, rechtfertigt ei-
nen solchen Haushalt mit ihrer sogenannten vorbeugen-
den Politik, mit zusätzlichen Ausgaben für die Bildung,
die sich laut Frau Kraft spätestens 2100 rechnen sollen.
Der Geist dieser Verschuldungspolitik zeigt sich, wenn
Frau Kraft offen zugibt, dass sie davon überzeugt ist,
dass die Schuldenbremse ohne zusätzliche Einnahmen,
also ohne Steuererhöhungen für die Bürgerinnen und
Bürger, nicht einzuhalten ist. Ich sage Ihnen: Das ist eine
verantwortungslose Politik, mit dem Verweis auf eine
sehr vage Zukunftsprognose die Situation in der Gegen-
wart bewusst zu verschlimmern. Und wenn man selbst
nicht daran glaubt, das Ziel solider Staatsfinanzen errei-
chen zu können, dann hat man in der Regierungsverant-
wortung auch nichts verloren. Der Kurs von Rot-Grün in
Bund und Ländern zeigt nur, dass die sparsamen Haus-
hälter der Grünen und der SPD in ihrer eigenen Partei
den Status einer Randgruppe erreicht haben, die völlig
abgemeldet ist.
Die christlich-liberale Koalition ist dagegen fest
davon überzeugt, dass wir die Vorgaben der Schulden-
bremse erfüllen werden. Wir werden es im Bund schaf-
fen, im Haushalt 2011 die Ausgaben gegenüber dem
Vorjahr ohne Steuererhöhung für die Bürgerinnen und
Bürger um 13,7 Milliarden Euro abzusenken, die Vorga-
ben der Schuldenbremse einzuhalten und trotzdem bis
2013 zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildung und For-
schung auszugeben. Denn eine verantwortungsvolle
Politik bedeutet, Zukunftschancen zu sichern und gleich-
zeitig auch die Handlungsfähigkeit zukünftiger Genera-
tionen zu bewahren.
Gerade bei der Schuldenbremse hat die SPD sich im-
mer wieder darum bemüht, diese Regelung aufzuwei-
chen. Diese Regelung in Art. 115 des Grundgesetzes, um
die uns die Finanzminister in Europa und den USA so
beneiden, ist vor allem der FDP und ihrem Drängen auf
die Föderalismuskonferenz II zu verdanken. Aus Ihrer
Fraktion haben dagegen 19 Abgeordnete mit Nein ge-
stimmt. Und jetzt fordern Sie mit ihrem Antrag die Ver-
schärfung Ihres eigenen Gesetzes, das viele von Ihnen
nie wirklich haben wollten.
Zu dem Antrag selbst ist zu sagen, dass vereinbart
wurde, die Neuverschuldung in gleichmäßigen Schritten
– das bedeutet, einem linearen Abbaupfad folgend – zu
reduzieren. So wird wie es auch in der mittelfristigen
Finanzplanung des Bundes dargestellt. Diese Gleichmä-
ßigkeit ist aber nicht erreichbar, wenn man zuerst mit der
vorläufigen Neuverschuldung 2010 rechnet und nach der
Aufstellung des Haushalts 2011 – denn erst dann liegt
das Ist-Ergebnis des Haushaltsvollzugs 2010 vor – den
10238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Abbaupfad und die mittelfristige Finanzplanung wieder
anpasst. Ein für die Bürgerinnen und Bürger nachvoll-
ziehbares und transparentes Verfahren mit gleichmäßi-
gen Konsolidierungsstufen ist so nicht möglich. Das von
der Bundesregierung praktizierte Verfahren entspricht
den Vorgaben des Gesetzes unter Berücksichtigung der
praktischen Umsetzbarkeit und der transparenten Dar-
stellung in der mittelfristigen Finanzplanung.
Ungeachtet dessen hat die christlich-liberale Koali-
tion bei der Neuverschuldung im Haushaltsentwurf 2011
nach dem Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns gerech-
net, und es spricht vieles dafür, dass wir die vorsichtig
geplante maximale Obergrenze der Neuverschuldung
von 48,4 Milliarden Euro im Haushaltsvollzug deutlich
unterschreiten werden. Die Bundesregierung strebt ge-
rade nicht an, die Obergrenzen der Schuldenbremse
komplett auszuschöpfen. Stattdessen wird sie, wie
bereits 2010, die tatsächliche Neuverschuldung deutlich
stärker absenken, als es die Schuldenbremse überhaupt
verlangt.
Zum zweiten Teil Ihres Antrags: Die Bestimmung der
Konjunkturkomponente erfolgt in Übereinstimmung mit
den Verfahren der Europäischen Union in einem erprob-
ten und transparenten Verfahren. Es gibt keinen Anlass
für die Behauptung, dass Ermessensspielräume genutzt
würden, um die maximal zulässige Obergrenze der Net-
tokreditaufnahme nach oben zu treiben. Eine derartige
Unterstellung entbehrt jeglicher Grundlage. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Opposition, entscheidend für
die Auslegung von Art. 115 des Grundgesetzes ist letzt-
endlich das Bundesverfassungsgericht. Wer der Meinung
ist, die Regierungskoalition hier im Bundestag habe mit
ihrer Auslegung von Art. 115 das Grundgesetz verletzt,
muss das Verfassungsgericht anrufen. Das kann auch die
SPD-Fraktion tun. Ich habe aber keinen Zweifel daran,
dass die Auslegung der Bundesregierung dem Grundge-
setz entspricht. Die Tatsache, dass die SPD nicht vor
dem Verfassungsgericht klagt, zeigt, dass sie das auch
selbst weiß.
Ich würde mir wünschen, dass die SPD sich nicht in
technischen Details verzettelt, sondern im Bundestag
eine Politik vertritt, die die Verschuldung des Bundes ab-
senkt und nicht dramatisch erhöht, und dass sie in den
Ländern, in denen sie Verantwortung trägt, ihre hem-
mungslose Verschuldungspolitik beendet.
Roland Claus (DIE LINKE): Der SPD geht es mit
diesem Antrag um die Wahrung von – ich zitiere –
„Geist und Sinn der Schuldenbremse“, und darum leh-
nen wir ihn ab, und zwar entschieden. Denn es ist ein
Unding, Geist und Sinn von etwas wahren zu wollen, das
dem Geist und Sinn der Demokratie widerspricht und
aus diesem Grunde im Parlament zwar nur von uns, den
Linken, im wirklichen Leben aber von sehr viel mehr
Menschen und Institutionen, als sie zur Anhängerschaft
der Linken gehören, abgelehnt wird.
Ich finde, das ist leider sehr typisch SPD. Im Antrag
heißt es richtig, dass „die grundlegende Konsolidierung
des Bundeshaushaltes notwendig“ sei. Aber dann folgt
noch das seltsame Wort, dass sie auch noch „alternativ-
los“ wäre. Da muss man dann doch feststellen: Wo Poli-
tik alternativlos sagt, verweigert sie sich dem Wähler-
auftrag. Die Konsequenz, die die SPD aus der Not-
wendigkeit der Konsolidierung zieht, heißt Schulden-
bremse und sonst gar nichts. Die Verfasserinnen und
Verfasser des Antrages kommen gar nicht auf die Idee,
im Zusammenhang mit dem Begriff der Konsolidierung
auch einmal die Einnahmeseite zu bedenken, wie denn
auch, wo sie doch die Miterfinder der Schuldenbremse
sind. Es geht aber selbstverständlich auch anders. Meine
Partei Die Linke rechnet es in ihrem Steuerkonzept de-
tailliert vor. 180 Milliarden Euro Mehreinnahmen sind
möglich, wenn die großen Vermögen angemessen an der
Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden.
80 Milliarden Euro kämen dann aus einer Millionär-
steuer von 5 Prozent jenseits eines Freibetrages von
1 Million Euro, weitere 40 Milliarden Euro aus einer
Wiederanhebung des Körperschaftsteuersatzes auf
25 Prozent und der Rücknahme einiger anderer Steuer-
geschenke an die Großunternehmen sowie 27 Milliarden
Euro aus der Einführung einer Finanztransaktionsteuer –
um hier nur die wichtigsten Bestandteile unseres Kon-
zepts zu nennen.
Die Schuldenbremsenparteien versuchen, uns glau-
ben zu machen, die Schuldenbremse sei eine finanz-
technische Angelegenheit. Sie ist aber eine politische
Angelegenheit von tiefgreifender Bedeutung, denn sie
beschränkt die Souveränität von Parlamenten und Re-
gierungen. Wo es eine Schuldenbremse gibt, können
Parlamente und Regierungen nicht mehr souverän da-
rüber entscheiden, welche politischen Vorhaben sie mit
welchen Finanzmitteln in den Mittelpunkt ihrer Politik
stellen. Die Landesparlamente und Landesregierungen
haben keinen Einfluss auf die Einnahmepolitik, und so
hängen sie am Tropf der bundespolitischen Vorgaben.
Wenn dort Steuergeschenke an die großen Unternehmen
und die Inhaberinnen und Inhaber großer Vermögen ver-
teilt werden, haben die Landesregierungen, weil sie in
der Schuldenbremse gefesselt sind, keine Möglichkeit
mehr, politisch gegenzusteuern.
Denkt man diese Situation konsequent zu Ende, kann
man auf Wahlen in den Ländern verzichten. Es genügt
dann eine von der Bundesregierung eingesetzte Verwal-
tung, die im zentral vorgegebenen Finanzrahmen agiert.
Wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine
Steuerpolitik, die die großen Unternehmen und die Inha-
berinnen und Inhaber großer Vermögen endlich wieder
angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens be-
teiligt. Die Herstellung von Steuergerechtigkeit, die
energische Verpflichtung der Vermögenden auf das Ge-
meinwohl – das sind die Schritte, die gegangen werden
müssen, um das zu realisieren, was auch die SPD in ih-
rem Antrag wieder beschwört: die nächste Generation
nicht „weit über Gebühr“ zu belasten. Umverteilung von
oben nach unten – das ist es, worum es geht. Und das –
ich wiederhole mich gern – ist nicht nur eine finanztech-
nische Frage, auch nicht nur eine Frage der Vermögens-
verteilung, sondern eine Frage der Demokratie, eine
Frage der Mitgestaltung der Gesellschaft. Das Geld ge-
hört dorthin, wo die Menschen sind. Es gehört von oben
nach unten umverteilt, um allen ein lebenswürdiges Da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10239
(A) (C)
(D)(B)
sein zu ermöglichen. Und es gehört auch in den Verwal-
tungsebenen von oben nach unten umverteilt – vom
Bund hin zu den Ländern und Kommunen.
Der technokratische Antrag der SPD zur Verschär-
fung der Schuldenbremse läuft all diesen Überlegungen
diametral entgegen. Er ist der Einstieg der SPD in einen
Wettlauf mit Schwarz-Gelb um die weitere Umvertei-
lung von unten nach oben und um Beschränkung der De-
mokratie. Vielleicht muss man der SPD für die Unmiss-
verständlichkeit dieser Botschaft dankbar sein. Sie lässt
vor den Landtagswahlen in diesem Jahr keinen Zweifel
daran, dass sie an grundlegenden politischen Verände-
rungen kein Interesse hat. So wie sie mit CDU/CSU,
FDP und Grünen gemeinsam Hartz-IV-Partei ist, so ist
sie auch mit diesen allen gemeinsam Schuldenbremsen-
partei.
Die Linke antwortet auf diesen Gesetzentwurf mit ei-
nem klaren Nein.
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ist ein
Gewinn für die notwendige Konsolidierung des Bundes-
haushalts und damit ein wichtiger Beitrag zur Generatio-
nengerechtigkeit. Wir Grüne hatten für die Schulden-
bremse andere Vorschläge, die nicht umgesetzt wurden.
Dennoch bekennen wir uns klar zur Umsetzung der
Schuldenbremse, so wie sie jetzt im Grundgesetz veran-
kert ist. Schon heute betragen die Zinszahlungen des
Bundes 38 Milliarden Euro, bis 2014 werden diese Zins-
lasten auf fast 50 Milliarden Euro anwachsen. Diese
Schuldenbremse muss keine Sozialstaatsbremse sein. So
wird sie nur von Schwarz-Gelb interpretiert. Wir haben
bei den Haushaltsverhandlungen klar dargelegt, wie die
Schuldenbremse eingehalten werden kann und gleichzei-
tig die soziale und ökologische Verschuldung im Haus-
halt reduziert werden kann.
Die grundgesetzlich geschützte Schuldenbremse darf
nicht durch Buchungstricks ausgehebelt werden. Das
aber scheint das Vorhaben der schwarz-gelben Bundes-
regierung zu sein: Aufgrund der guten Konjunkturent-
wicklung 2010 konnte das Defizit des Bundes im Haus-
haltsvollzug von geplanten 80 auf 44 Milliarden Euro
gedrückt werden. Damit wurde immer noch ein neuer
Schuldenrekord aufgestellt. Aber diese positive Haus-
haltsentwicklung bildet sich – trotz Schuldenbremse –
nicht im Haushaltsentwurf für 2011 ab. Die Bundesre-
gierung plant mit 48,4 Milliarden Euro neuen Schul-
den, obwohl die konjunkturelle Lage sich entschieden
aufgehellt hat. Damit verstößt die Bundesregierung be-
reits im ersten Jahr des Inkrafttretens der Schulden-
bremse gegen den Geist der Schuldenbremse. Denn ei-
gentlich soll die strukturelle Verschuldung bis 2016,
wenn die Schuldenbremse dann voll greift, Jahr für Jahr
in gleichmäßigen Schritten abgesenkt werden. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hätte be-
reits 2011 eine stärkere Konsolidierung des Haushaltes
stattfinden müssen. Die Idee der Schuldenbremse wäre
so gestärkt worden. Daher unterstützen wir als Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen diesen Gesetzentwurf.
Einen noch heftigeren Verstoß gegen den Geist der
Schuldenbremse würde der jetzt von der Bundesregierung
ins Gespräch gebrachte Buchungstrick im Zusammen-
hang mit den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss
bedeuten. Im Rahmen des Vermittlungsausschusses zur
Hartz-IV-Reform hat die Koalition angeboten, den Kom-
munen schrittweise ab 2012 die Kosten der Grundsiche-
rung im Alter abzunehmen. Ab 2015 sollen diese Kosten
nach dem Vorschlag der Koalition dann ausschließlich
vom Bund getragen werden. Der Bund beziffert die Ent-
lastung der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden
Euro netto. Grundsätzlich haben wir Sympathien für die
Umsetzung der Grundsicherung im Alter zum Bund.
Aber das muss in einem eigenen Gesetz geregelt werden.
Die Verknüpfung mit dem Haushalt der Bundesagentur
für Arbeit, BA, halten wir für grundsätzlich falsch. Die
Bundesbeteiligung an der Bundesagentur soll zusam-
mengestrichen werden, ein halber Mehrwertsteuerpunkt
soll der Agentur entzogen werden. Bis Ende 2012 würde
sich bei der BA ein Defizit in Höhe von über 10 Milliar-
den Euro auftürmen, bis 2015 ein Defizit von knapp
15 Milliarden Euro. Bei einer analog zur Bundesbeteili-
gung an den Kosten der Grundsicherung im Alter auf-
wachsend gestalteten Reduktion des Mehrwertsteueran-
teils für die BA würde das Defizit der BA bis 2015
knapp 10 Milliarden Euro betragen. Auch in diesem Fall
würde hoher Druck auf eine erneute erhebliche Erhö-
hung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entste-
hen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt, insbe-
sondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute stark
von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind.
Mit einer solchen Finanzoperation würde die
schwarz-gelbe Bundesregierung gleichzeitig die im
Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aushebeln. Die
Schulden der Sozialversicherungen bleiben bei Berech-
nung des für die Schuldenbremse maßgeblichen struktu-
rellen Defizits unberücksichtigt. Der geplante Verschie-
bebahnhof widerspricht nicht nur dem Prinzip der
Haushaltsklarheit und -wahrheit, sondern stellt auch ei-
nen eklatanten Verstoß gegen den Geist der Schulden-
bremse dar. Die Rückführung der in den BA-Haushalt
verschobenen Verschuldung wird allein den künftigen
Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern aufgebürdet. In
diesem Fall würde hoher Druck auf eine erneute erhebli-
che Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
entstehen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt,
insbesondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute
stark von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind.
Um einen ausgeglichenen BA-Haushalt bei konstant po-
sitiven Wachstumsannahmen zu erreichen, müsste der
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um etwa 0,3 bis
0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Bei einem Wie-
deraufflammen der Wirtschaftskrise würden sofort sehr
hohe Defizite in dieser für die Stabilität unserer Volks-
wirtschaft zentralen Sozialversicherung entstehen. Mit
diesem Missbrauch der Schuldenbremse würde die
schwarz-gelbe Koalition die Finanzsituation der Sozial-
versicherungen weiter schwächen. Um ein Wiederauf-
flammen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu verhin-
dern, müssen die Vorgaben der Schuldenbremse ohne
Einschränkungen umgesetzt werden. Gleichzeitig dürfen
die Haushalte der Sozialversicherungen nicht überfor-
10240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
(A) (C)
(D)(B)
dert werden. Diese sind ein zentraler Stabilitätsanker für
unsere Volkswirtschaft.
Bei der Haushaltspolitik dieser Koalition müssen wir
froh sein, dass es die Schuldenbremse überhaupt gibt.
Die Forderungen nach Steuersenkungen, die immer wie-
der aus der Koalition geäußert werden, machen sehr
deutlich, wie notwendig diese Regelung ist. Wenn die
Restriktionen der Schuldenbremse nicht gelten würden,
wäre die Haushaltspolitik der schwarz-gelben Koalition
noch katastrophaler für die zukünftigen Generationen in
unserem Land.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Fairen Rohstoffhan-
del sichern – Handel mit Seltenen Erden offen-
halten (Tagesordnungspunkt 16)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten
heute einerseits über ein hochaktuelles Thema, anderer-
seits aber über einen längst überholten Antrag. Die Ak-
tualität des Themas verdeutlicht am besten ein Blick in
die Wirtschaftsteile der Zeitungen: Da vergeht kaum ein
Tag ohne einen Artikel zu den Themen Rohstoffversor-
gung oder Rohstoffpreise. Dazu passend berichtete die
Welt am Montag, dass unter den zehn wertvollsten Un-
ternehmen der Welt fünf Unternehmen sind, die ihr Geld
mit der Förderung von Bodenschätzen verdienen. Im
Jahr 2006 war dort nur ein Unternehmen verzeichnet.
Auch nach Gesprächen mit Unternehmern aus dem ver-
arbeitenden Gewerbe, insbesondere im Hightechbereich,
wird man mit dem Problem konfrontiert.
Der Antrag ist inhaltlich deshalb veraltet, weil das
Thema Rohstoffversorgung, insbesondere mit Nicht-
Eisen-(NE-)Metallen für die Hightechindustrie längst
auf der politischen Ebene angekommen ist und darüber
intensiv diskutiert und an Lösungen gearbeitet wird. Wir,
also die Fraktion der CDU/CSU, hatten bereits im Juli
2010 einen Kongress mit vielen Gästen aus internationa-
len Organisationen, der Wirtschaft und der Wissenschaft
veranstaltet. Das begleitende Positionspapier der Frak-
tion hat die Kollegen von der SPD offensichtlich sehr in-
spiriert. Die Positionen und Initiativen unserer Fraktion
finden sich auch in der Arbeit der Bundesregierung wie-
der. Seit Herbst 2010 liegt die Rohstoffstrategie der Bun-
desregierung vor, die einen ganzheitlichen Ansatz zur
Rohstoffversorgung beinhaltet. Auch in der Industrie-
strategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie spielt die Rohstoffversorgung eine zentrale
Rolle. Dies gilt auch ganz aktuell für die Technologie-
offensive und die Mittelstandsinitiative des Ministe-
riums.
Das Ministerium hat auch bereits auf organisatori-
scher Ebene reagiert. Momentan wird eine Unterabtei-
lung Rohstoffpolitik eingerichtet, die speziell für die hei-
mische Rohstoffversorgung, insbesondere mit NE-
Metallen für das Recycling und den Zugang zu interna-
tionalen Rohstoffen zuständig sein wird. Die Unterabtei-
lung wird auch den Aufbau bilateraler Rohstoffpartner-
schaften angehen. Ich könnte jetzt hier auch noch auf
den Rohstoffdialog des Ministeriums für Wirtschaft und
Technologie mit der Wirtschaft und weiteren wichtigen
Akteuren eingehen, möchte das mit Blick auf die Uhr
aber lassen. Sie sehen, das Thema ist hochaktuell und
bereits in besten Händen. Sogar die SPD hat gemerkt,
dass da was los ist
Nun zur Rohstoffstrategie der Koalition. Ihr Antrag
freut mich insoweit, als er keinen Widerspruch zur Roh-
stoffstrategie der Bundesregierung darstellt. Ich stelle
fest, die Fraktion der SPD unterstützt die Rohstoffstrate-
gie der Koalition, zumindest nimmt die Fraktion keine
nennenswerten Ergänzungen bei den Forderungen an die
Bunderegierung vor.
Aber gestatten Sie mir dennoch vier Anmerkungen
inhaltlicher Art. Erstens. Sie fordern verstärkte Bemü-
hungen um Rohstoffpartnerschaften oder Rohstoffab-
kommen mit Entwicklungsländern. Das ist zunächst zu
begrüßen, aber haben Sie etwas in dieser Richtung ange-
stoßen, als das Ministerium für wirtschaftliche Entwick-
lung und Zusammenarbeit von einer Ministerin der SPD
geführt wurde? Hat Herr Steinmeier als Außenminister
sich um diese Themen bemüht? Oder kümmert sich die
SPD nur dann um Rohstofffragen, wenn es darum geht,
einem ehemaligen Bundeskanzler einen sicheren Posten
zu bescheren? Zu Ihrer Regierungszeit war es doch ver-
pönt, die Themen Außenpolitik oder Entwicklungshilfe
mit wirtschaftlichen Fragen zu verknüpfen. Wir machen
das anders, und es ist schön, dass Sie Ihre Meinung wohl
geändert haben.
Zweitens. Sie fordern ebenfalls die Nutzung heimi-
scher Lagerstätten. Auch das ist kein schlechter Vor-
schlag. Allerdings ist die Rohstoffförderung immer ein
Eingriff in die Natur, und da ist erfahrungsgemäß lokaler
Widerstand zu erwarten. Wir werden die Grünen auf der
Seite des Protestes sehen, und die SPD wird unent-
schlossen rumstehen. Oder aber meine Erwartung
täuscht mich, dann freue ich mich schon, wie Sie Ihre
grünen Freunde von der Notwendigkeit des Rohstoffab-
baus in Deutschland überzeugen wollen. Dann kann die
Öffentlichkeit sehen, wie ernst es Ihnen mit Ihren Ab-
sichten ist.
Drittens. Sie thematisieren das Recycling. Auch das
ist richtig und wichtig. Aber Recycling ist ein energie-
intensives Geschäft, welches von den Altlasten rot-grü-
ner Energiepolitik – ich denke zum Beispiel an den
Schuldenberg aus der Solarverstromung – erschwert
wird. Wer für Recycling ist, muss auch eine Energiepoli-
tik beherzigen, die nicht nur auf ein vermeintlich gutes
Gewissen abstellt, sondern auch die Preise im Blick be-
hält, so wie wir es von der Koalition tun.
Viertens. Schließlich bezweifele ich die Sinnhaftig-
keit eines Antrages, der auf einen Rohstoff oder eine
Rohstoffgruppe verengt ist. Gerade bei den Seltenen Er-
den gibt es Lagerstätten weltweit. Die wurden aus öko-
nomischen Gründen aber bisher nicht erschlossen oder
stillgelegt. Deswegen ist die Produktion der Seltenen Er-
den momentan auf China konzentriert. Bis 2012 werden
Lagerstätten in den USA, Kanada, Indien, Australien
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10241
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und Malawi ihre Produktion massiv erhöhen. Auch die
Bundesrepublik hat bereits ein Abkommen mit Kasachs-
tan über die Lieferung Seltener Erden abgeschlossen;
Kollege Mißfelder wird anschließend darauf eingehen.
Dann werden die Regeln der Marktwirtschaft eine Lin-
derung des Problems Seltene Erden bewirkt haben. Es ist
sinnvoller, eine Gesamtstrategie zur Rohstoffversorgung
aufzustellen, wie dies die Koalition schon getan hat.
Zum Fazit. Das Thema Rohstoffsicherung ist längst
ein bedeutender Teil der politischen Agenda dieser Ko-
alition; ich hatte es am Anfang ausgeführt. Sie haben le-
diglich aus unserer Rohstoffstrategie abgeschrieben und
dabei noch manche wichtige Punkte vergessen, zum Bei-
spiel die Ausbildungsunterstützung in Rohstoffpartner-
ländern oder den Aspekt des Technologietransfers. Der
Antrag ist auch deshalb nicht notwendig, weil er nur ein
Thema – nämlich Seltene Erden – aus einem komplexen
Bereich isoliert betrachtet, dessen Dramatik bald abneh-
men wird. Wir sollten hier aber immer die Zusammen-
hänge sehen. Schließlich freue ich mich darauf, dass die
Koalition bald von der SPD unterstützt wird, wenn es da-
rum gehen wird, heimische Rohstofflagerstätten zu er-
schließen, Energiepreise für Recycling niedrig zu halten,
Import- und Exportgarantien zu gewähren sowie Außen-,
Entwicklungs- und Rohstoffpolitik stärker zu verknüp-
fen.
Zum Schluss bleibt mir, festzustellen, dass die SPD
ihren Glauben an die Marktwirtschaft wiedergefunden
zu haben scheint. Sie schreiben im Antrag auf Seite 2:
„Richtig ist, das es zu allererst Aufgabe der Unterneh-
men ist, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken
und sich vorausschauend auf künftige Trends einzustel-
len.“ Das ist ein Grund zur Freude, vielleicht schlägt Ihr
Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit und Fähigkei-
ten der Unternehmen auch auf andere Themen durch.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ich freue mich, dass
auch die SPD-Bundestagsfraktion unsere Anregung aus
dem vergangenen Jahr aufgenommen hat und sich nun
mit dem Thema Rohstoffe intensiv befasst. Das ist wich-
tig, denn die deutsche Industrie, die erkennbar gestärkt
aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgegangen ist,
ist auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Gleich-
zeitig steigt durch die weltweite Wirtschaftsentwicklung
der Bedarf. Das können wir täglich auf den Kurstafeln
der Rohstoffbörsen sehen, die von Rekordstand zu Re-
kordstand eilen. Der Hunger der aufstrebenden Schwel-
lenländer nach energetischen und nichtenergetischen
Rohstoffen ist noch längst nicht gestillt. So wird die
Nachfrage nach Kupfer, dem wichtigsten Industrieme-
tall, das Angebot wohl auf Jahre hinaus übersteigen. Der
Kupferpreis eilt von einem Allzeithoch zum nächsten
und erreicht wohl bald die Marke von 10 000 Dollar je
Tonne.
Ich will, bevor ich zum Thema der Seltenen Erden
komme, hier eines sagen: Dieser Kupferpreis ist ein
Welthandelspreis. Ihn zahlen alle, egal aus welcher Re-
gion der Erde sie kommen. Ob wir in Deutschland eine
nennenswerte Kupferverarbeitung behalten, hängt dem-
nach nicht primär vom Rohstoffpreis für Kupfer, son-
dern von einem ganz anderen Faktor ab, nämlich vom
Energiepreis. Wir müssen jetzt angesichts der nicht zu-
letzt durch das Erneuerbare Energien Gesetz, EEG, ver-
ursachten Strompreissteigerungen der letzten Jahre in
Deutschland gegensteuern, um die energieintensive roh-
stoffverarbeitende Industrie auch weiterhin bei uns in
Deutschland zu behalten. Sonst wird es Kupfer- oder
Aluminiumhütten bald nur noch in Ländern geben, in
denen Energie billiger ist und die im Zweifel nicht unse-
ren Umweltstandards genügen. Hier appelliere ich an die
SPD, mit uns gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, um
Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze bei uns in Deutsch-
land zu sichern. Gerade die SPD mit ihrer Tradition im
Ruhrgebiet, wo auch mein Wahlkreis liegt, kann kein In-
teresse an einer Deindustrialisierung Deutschlands ha-
ben. Mit Blick auf den globalen Wettbewerb, in dem un-
sere Unternehmen stehen, gehört es zwingend zu den
Aufgaben der Politik, die Energiekosten für die rohstoff-
verarbeitende Industrie langfristig kalkulierbar zu ma-
chen und auf einem wettbewerbsfähigen Niveau zu hal-
ten.
Der vorliegende Antrag beschreibt richtig, dass sich
seit Anfang vergangenen Jahres der Trend einer weltwei-
ten Steigerung der Nachfrage nach Rohstoffen und ins-
besondere nach Seltenen Erden fortgesetzt hat. Ich
möchte hierbei aber noch einen Schritt weiter gehen,
denn nicht nur Preis und Verfügbarkeit spielen beim in-
ternationalen Rohstoffhandel eine entscheidende Rolle,
sondern auch zentrale außenpolitische Aspekte. So ist
das Versorgungsrisiko vor allem bei den Hochtechnolo-
giemetallen aufgrund der geografischen Lage der Vor-
kommen in politisch instabilen Regionen zumeist höher
als bei energetischen Rohstoffen wie Öl und Gas. Über
die Hälfte der Länder, in denen Vorkommen an metalli-
schen Rohstoffen nachgewiesen sind, werden in einer
Studie der Weltbank als politisch instabil oder gar ex-
trem instabil eingestuft. Fehlende Substitutionsmöglich-
keiten steigern das Risiko noch. Ohne Chrom lassen sich
keine rostfreien Stähle und ohne Kobalt keine ver-
schleißfesten Legierungen produzieren. Auch Platin,
Neodyn oder Indium kann die Hochtechnologieindustrie
nicht durch andere Rohstoffe ersetzen.
Dabei stellt sich die Frage: Wie können wir unsere
Rohstoffversorgung sichern? Dazu hat die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion im Juli 2010 ihre Position vorgelegt.
„Deutschlands und Europas Rohstoffversorgung si-
chern“ steht in der Reihe von außenpolitischen Grund-
satzdokumenten der Unionsfraktion wie der Lateiname-
rika-Strategie und der Sicherheitsstrategie. Damit hat das
zentrale Politikfeld der Sicherung der Versorgung mit
metallischen Rohstoffen auch im politischen Raum end-
lich die Aufmerksamkeit gefunden, die ihm gebührt. In
diesem Grundsatzpapier der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion sind zentrale Fragen, die der vorliegende Antrag der
SPD nun aufwirft, bereits behandelt. So sind die Vorga-
ben der Extractive Industries Transparency Initiative,
EITI, nach denen Zahlungsströme an öffentliche Stellen
im Bereich der Rohstoffgewinnung wie etwa Konzes-
sionsabgaben oder Genehmigungskosten von den
Unternehmen offengelegt werden, für uns selbstver-
ständlich. Die Herstellung von Transparenz über Zah-
10242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
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lungsflüsse ist ein wichtiges Mittel zur Korruptionsbe-
kämpfung.
Und auch Gespräche zu verlässlichen Rohstoff- und
Handelspartnerschaften finden bereits statt. So sagte der
Chef des Ostausschusses beim Bundesverband der Deut-
schen Industrie, BDI, Metro-Chef Eckhard Cordes am
31. Januar 2011 in Berlin, dass Kasachstan bereit sei,
Deutschland bei seiner Ressourcensicherung zu unter-
stützen. Dieser Weg bilateraler Zusammenarbeit
Deutschlands in Rohstofffragen ist ein neuer Weg. Er ist
vielversprechend und muss deshalb auch mit weiteren
Ländern und Regionen gegangen werden. Wir als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion unterstützen diese neue Form
deutscher Rohstoffsicherung.
Edelgard Bulmahn (SPD): Kein anderes Land in
Europa ist so gut aus der weltweiten Wirtschaftskrise ge-
kommen wie Deutschland. Und in kaum einem anderen
Land hat sich so deutlich gezeigt, welche Bedeutung die
Industrie als Grundlage für Wachstum und Wohlstand
hat. Wer diese Grundlage stützen will, der muss die
nachhaltige und langfristige Versorgung der deutschen
Industrie mit Rohstoffen sichern, und zwar aktiv. Es
reicht nicht aus, die Eigenverantwortung der Privatwirt-
schaft zu betonen, wie das der Wirtschaftsminister wie-
derholt getan hat. Sicher, es ist die Aufgabe der Unter-
nehmen, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu
decken und sich vorausschauend auf künftige Trends
einzustellen. Doch die Bundesregierung muss diese
Schritte unterstützen und mit politischen Mitteln beglei-
ten.
Das gilt ganz besonders für die Beschaffung von Sel-
tenen Erden. Seit Anfang letzten Jahres ist die Nachfrage
nach diesen Metallen drastisch gestiegen. Gleichzeitig
hat China, das mit 97 Prozent der Weltproduktion eine
Quasimonopolstellung hält, die Ausfuhr von Seltenen
Erden im zweiten Halbjahr 2010 um 72 Prozent gegen-
über dem Vorjahr gesenkt. Nun soll die Exportquote
weiter gesenkt werden. Es ist zu befürchten, dass es in-
folge von Versorgungsengpässen schon bald zu Produk-
tionsausfällen kommt. Die wachsende Nachfrage nach
einzelnen Seltenen Erden wäre in den kommenden Jah-
ren aber selbst ohne chinesische Förder- und Exportbe-
schränkungen mithin nicht gedeckt. Bis 2014 sind Ver-
sorgungsengpässe bei bis zu sieben Elementen der
Seltenen Erden zu erwarten. Schließlich verfügt China
über lediglich 38 Prozent der weltweiten Reserven an
Seltenen Erden.
Besonders Unternehmen aus der metallverarbeiten-
den Industrie sorgen sich um den Verlust ihrer internatio-
nalen Wettbewerbsfähigkeit. Von Seltenen Erden hängen
gerade jene Wertschöpfungsketten ab, an deren Ende
wichtige Hightechprodukte stehen. Windturbinen, Solar-
kollektoren, Katalysatoren und Motoren für Hybridfahr-
zeuge sind nur einige Beispiele. Gerade in der Boom-
branche Greentech und Erneuerbare Energien ist die
Abhängigkeit von Seltenen Erden enorm. Versorgungs-
engpässe bremsen Fortschritte bei Energieeffizienz und
Umweltschutz. Und nicht zuletzt gefährden sie Arbeits-
plätze in Zukunftsindustrien, in denen laut DIW schon
heute über 340 000 Menschen arbeiten.
Die Bundesregierung riskiert mit ihrer Untätigkeit die
deutsche Position auf den Märkten von morgen. Die
neue Deutsche Rohstoffagentur wird in ihrem jetzigen
Zuschnitt weder die Spekulation mit knappen Rohstof-
fen verhindern können noch eine sichere Versorgung der
deutschen Industrie mit diesen Rohstoffen gewährleis-
ten. Deutschland muss vielmehr alles daran setzen, um
national wie international zukunftsorientierte Strategien
zur Rohstoffsicherung zu entwickeln und umzusetzen,
zum Beispiel in Form einer Rohstoffpartnerschaft mit
Ländern wie der Mongolei. Im Rahmen der Welthan-
delsorganisation muss ein offener und fairer Zugang im
Rohstoffhandel verhandelt werden. Dabei muss gezielt
auf die Abschaffung von Exporthemmnissen gedrängt
werden. Die Europäische Kommission hat sich vergan-
gene Woche ausdrücklich dafür ausgesprochen. In ihrer
Rohstoffstrategie fordert die Kommission die gezielte
Vereinbarung bilateraler Rohstoffpartnerschaften mit
Förderländern und ein besseres Recyclingsystem für
knappe Rohstoffe.
Die Bundesregierung muss endlich Gespräche mit
Ländern und Ländergruppen aufnehmen, die für solche
Rohstoffpartnerschaftsabkommen infrage kommen. Im
Gegensatz zu anderen Staaten, die immer mehr zu sol-
chen bilateralen Vertragswerken übergehen, die WTO-
konform sind, ist die Bundesregierung bisher tatenlos
geblieben und hat bislang kein einziges Rohstoffabkom-
men abgeschlossen. Es geht uns dabei explizit nicht um
eine Abkehr vom Multilateralismus, sondern um eine
Flankierung der im Rahmen von EU und Welthandelsor-
ganisation erfolgten Aktivitäten. Die SPD-Fraktion setzt
sich für einen fairen Rohstoffhandel ein. Die Einhaltung
sozialer Mindeststandards und finanzieller Transparenz-
regelungen muss ebenso garantiert werden wie eine faire
Verteilung der Gewinne und die Vermeidung von Um-
weltbelastungen.
In ihrer Rohstoffstrategie vom Oktober 2010 hat die
Bundesregierung eine Verbesserung der Rahmenbedin-
gungen für das Recycling in Aussicht gestellt. Nur, ge-
schehen ist bisher nichts. Inzwischen haben einige Un-
ternehmen ein eigenes Rücknahmesystem für bestimmte
Metalle eingeführt oder bereiten dies zielstrebig vor. Wir
fordern deshalb die Schaffung eines Recyclingsystems
zur Rückgewinnung wichtiger Technologiemetalle. Es
gilt jetzt nicht Rahmenbedingungen zu evaluieren, son-
dern konkret der deutschen Wirtschaft die Rückgewin-
nung dieser Metalle zu erleichtern.
Wir brauchen ein weltweites Rohstoffregime, das An-
bietern und Abnehmern gleiche Bedingungen sichert
und langfristig gültige Regeln schafft. Damit dies gelin-
gen kann, bedarf es konkreter Maßnahmen, um den Han-
del mit Rohstoffen und insbesondere Seltenen Erden fair
zu gestalten und offenzuhalten. Die Rohstoffstrategie der
Bundesregierung droht zu einem leeren Versprechen zu
werden. Die deutsche Wirtschaft fühlt sich von einer Re-
gierung im Stich gelassen, die sich in einem Auf-
schwung sonnt, der nicht ihrer ist, und den sie nun
leichtfertig gefährdet. Ich bitte Sie, dem Antrag der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10243
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SPD-Fraktion zuzustimmen und so eine wichtige Grund-
lage für Wachstum und Wohlstand in diesem Land zu
stützen.
Klaus Breil (FDP): Wer in der Schule abschreibt und
erwischt wird, erhält die Note sechs. Und nur diese Note
hat der Antrag der SPD hier und heute verdient. Dieser
Antrag enthält nichts anderes als die Ideen aus den von
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle initiierten
Rohstoffdialogen und der Rohstoffstrategie. Wir wissen
alle, dass die Rohstoffversorgung eine Zukunftsaufgabe
ist. Die Gleichung ist ganz einfach: Eine wachsende
Weltbevölkerung bedeutet wachsender Energie- und
Rohstoffbedarf. Dabei sind noch unter keiner Bundesre-
gierung – und schon gar nicht unter Rot-Grün – so viele
Initiativen zur Rohstoffversorgung gestartet worden wie
im letzten Jahr unter Rainer Brüderle: Rohstoffdialoge,
Rohstoffstrategie, Rohstoffagentur und Rohstoffpartner-
schaften sind unsere Antworten auf die drängenden Fra-
gen der Rohstoffversorgung. Die Bundesregierung hat
ihre Hausaufgaben gemacht, und Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der SPD, laufen jetzt den Aktivitäten des
Bundeswirtschaftsministeriums hinterher.
Selbstverständlich ist die Bundesregierung schon in
Gesprächen über bilaterale Rohstoffpartnerschaften.
Und damit sollen die Aktivitäten der Wirtschaft flankiert
werden. Dies alles zeigt: Die Bundesregierung bedarf
nicht ihrer Nachhilfe, auch nicht, was die Erleichterung
des Handels mit den sogenannten Seltenen Erden an-
geht. Ja, in der Hochtechnologieindustrie hat man sich in
den vergangenen Monaten mit Engpässen für Seltene Er-
den beschäftigt. Bald müssten deutsche Firmen ihre Pro-
duktionslinien stoppen, verlautete es in den Medien. Und
das war schon gleich der erste deutliche und notwendige
Auftritt der Deutschen Rohstoffagentur: „Übertriebene
Panikmache.“ Zwar haben die Chinesen nun angekün-
digt, auch bald vom Exporteur zum Importeur Seltener
Erden zu werden, doch bringt dieser Engpass – auch
wenn er in eine unglückliche Situation mitten in unseren
Aufschwung fällt –, auch eine Chance mit sich, eine
Chance für andere Länder, ihre Vorkommen dieser Roh-
stoffe – hoffentlich auch umweltverträglicher als der
derzeitige Hauptexporteur – zu explorieren. Mehr Län-
der, die explorieren, bedeuten einen größeren Markt und
damit mehr Wettbewerb. Hin oder her, die Situation der
letzten Monate müssen wir – und ganz besonders auch
die deutsche Wirtschaft – als Weckruf verstehen. Es war
in der Vergangenheit ein Fehler, das erste Glied der
Wertschöpfungskette in der Rohstoffwirtschaft aufzuge-
ben. Für eine Rückwärtsintegration ist es heute aber fast
zu spät. In diesem Fall müsste die Industrie extrem hohe
Kosten tragen.
Einseitige Abhängigkeiten, Handelsbarrieren und un-
zureichende Sanktionen vonseiten der WTO sind die na-
türlichen Feinde einer Industrienation wie Deutschland.
Diese gilt es zu bekämpfen. Dafür steht der Liberalis-
mus. Dafür steht unser Bundeswirtschaftsminister. Dafür
steht die FDP.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Debatte um Seltene
Erden nimmt teilweise absurde Züge an. Da wird der
Feind wieder einmal schnell ausgemacht. Das böse
China dreht der westlichen Industrie den Rohstoffhahn
zu. Ganz so einfach ist die Situation allerdings nicht.
Richtig ist, dass China derzeit etwa 90 Prozent der Selte-
nen Erden fördert. Falsch ist, dass China 90 Prozent der
Rohstoffvorkommen besitzt. Höchstens ein Drittel sollen
es sein. Nur, die anderen potenziellen Förderländer wie
USA, Kanada oder Australien haben ihre Förderung ein-
gestellt bzw. nicht weiter ausgebaut, weil ihnen das Ge-
schäft nicht lukrativ genug war. Und die deutsche Indus-
trie hat gerne die billigen Rohstoffe aus China importiert
und sich keinen Deut darum geschert, unter welch kata-
strophalen menschlichen Bedingungen und Umweltbe-
dingungen diese gefördert wurden. Jetzt, da China die
Rohstoffe für die eigene Industrie behalten will, ist das
Wehklagen groß.
Drehen wir doch den Spieß um und fragen die deut-
sche Industrie, was sie denn gegen die drohende Ver-
knappung getan hat. Die Antwort ist einfach: nichts. Seit
Jahren gäbe es die Möglichkeit, dass die deutsche Indus-
trie ein Recyclingsystem für Seltene Erden und andere
wichtige Rohstoffe wie Coltan aufbaut. Aber die kurz-
fristige Rendite lockt und blockiert das Denken über den
Tag hinaus. Sicherlich ist es teurer, ein Recyclingsystem
aufzubauen, als billige Rohstoffe zu importieren. Und
dann ist das Geschrei da, wenn der Engpass kommt. Hier
kann der Wirtschaftsminister wieder einmal sehen, wie
unfähig die von ihm so hochgelobte freie Marktwirt-
schaft letztlich doch ist.
Angesichts dessen, dass einige wenige Industrielän-
der in wenigen Jahrzehnten die begrenzten Ressourcen
der Welt verbrauchen, muss ein grundsätzlich anderer
Ansatz gefunden werden, als Handelsliberalisierung und
Abbau von Exporthemmnissen für Rohstoffe zu fordern,
wie Bundesregierung und SPD dies tun. Den zügellosen
Ressourcenverbrauch einfach fortzusetzen, heißt nichts
anderes, als das Problem einfach ein paar Jahrzehnte in
die Zukunft zu verschieben. Verlierer sind auf jeden Fall
die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern.
Steigerung der Ressourceneffizienz und Materialrecy-
cling sind die beiden wichtigsten Aufgaben, die anste-
hen. Bei beidem gibt es ein eklatantes Marktversagen.
Da die Gesellschaft aber nicht warten kann, ob und
wann eine Verteuerung der Ressourcenimporte viel-
leicht doch noch mal den notwendigen Impuls für die
Industrie geben wird, muss der Staat steuernd eingrei-
fen. Anforderungen an Ressourceneffizienz bei der öf-
fentlichen Beschaffung, Aufbau eines Recyclingsys-
tems, Besteuerung des Rohstoffverbrauchs, wie die EU-
Kommission dies vorschlägt, sind wichtige Maßnahmen,
die jetzt ergriffen werden können.
Letztlich besteht die Aufgabe darin, Strategien für
eine Ressourcensuffizienz zu entwickeln, also der Redu-
zierung von Ressourcenverbrauch. Wir haben in der En-
quete-Kommission unsere Debatte über das Wirtschafts-
wachstum, über die Abkopplung vom Rohstoffverbrauch
und die Definition von Lebensqualität aufgenommen.
ich hoffe, dass wir zu guten Ergebnissen kommen, die
10244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
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dann auch in eine Rohstoffpolitik der Bundesregierung
einfließen werden.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Thema Rohstoffe, vor allem die Seltenen Er-
den, erlebt derzeit Hochkonjunktur. Es ist gut, dass die-
sem Thema mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Wie die
Menschheit mit ihren begrenzten Ressourcen haushält,
ist – gerade angesichts der riesigen Wachstumsprozesse
in den Schwellenländern – eine der großen Herausforde-
rungen des 21. Jahrhunderts. Wir müssen dieses Thema
aber sehr präzise diskutieren, um Fehlschlüsse zu ver-
meiden. Nehmen wir den aktuellen Knappheitsdiskurs
bei den Seltenen Erden. Dort haben wir zwar gegenwär-
tig in der Tat eine Abhängigkeit von China. China för-
dert gerade über 90 Prozent der Seltenen Erden. Zu-
gleich besitzt China aber „nur“ 31 Prozent der weltweit
bekannten Vorkommen. Diese Abhängigkeit ist entstan-
stoffreicher Länder sein. Die von der Bundesregierung
angekündigten Rohstoffpartnerschaften dürfen nicht zu
einem neuen Rohstoffkolonialismus ausarten. Völlig
falsch ist zudem die Debatte, die in manchen sicherheits-
politischen Zirkeln geführt wird und die den Schutz des
Zugangs zu Rohstoffen zum Beispiel zur Aufgabe der
NATO machen will. Eine solche Politik, die an die histo-
rische Kanonenbootpolitik erinnert, lehnen wir strikt ab.
Vor allem aber verrennen wir uns mit dieser Verengung
auf die Beschaffungsseite. Glaubt jemand ernsthaft, man
könnte China über die WTO zwingen, mehr zu exportie-
ren, als es will? Ich würde meine Hoffnungen nicht da-
rauf bauen, vor allem da es auch viele WTO-kompatible
Möglichkeiten der Exporteinschränkungen gibt. Nein,
wir brauchen einen Perspektivwechsel. Diesen löst lei-
der auch der vorliegende Antrag nicht ein.
Der Schwerpunkt einer modernen Rohstoffstrategie
muss auf Effizienz, Recycling und Substitution liegen.
den, weil andere Minenstandorte preislich nicht mehr
wettbewerbsfähig waren und weil der Abbau Seltener
Erden in hohem Maße umweltschädlich ist und es ja
auch ganz bequem war, dass dieser Abbau in den hin-
tersten Ecken Chinas stattfand. Hier wurde – weder von
der Industrie noch von der Politik – strategisch gegenge-
steuert. Stattdessen wird in den USA und in Europa jetzt
die verbale Keule gegenüber China ausgepackt und be-
klagt, dass China weniger Seltene Erden exportiert als in
der Vergangenheit. Zudem wird der aktuelle Engpass
viel zu oft gleichgesetzt mit langfristigen Knappheiten.
Knappheiten sind aber kein unausweichliches Schicksal;
sie sind wirtschaftlich und politisch gestaltbar. Deshalb
hat die Diskussion mit ihrem Fokus auf die Beschaf-
fungsperspektive eine gewaltige Schieflage.
Nehmen wir die Rohstoffstrategie der EU. Dort steht
als erster Punkt „Zugang zu Rohstoffen in Staaten außer-
halb der EU“. Das halte ich für eine falsche Akzentset-
zung. Es wäre falsch, Druck auf Entwicklungsländer
auszuüben, um möglichst billig an ihre Rohstoffe zu
kommen. Aber genau das ist zu befürchten. So will die
EU sich dafür engagieren, dass möglichst keine Export-
zölle auf Rohstoffe erhoben werden. Dabei können diese
ein wichtiges Finanzierungsinstrument armer, aber roh-
Diese Punkte werden zwar überall erwähnt, sie müssen
aber im Zentrum unserer Politik stehen. Hier werden die
Potenziale systematisch unterschätzt. So wird immer
wieder behauptet, dass Seltene Erden kaum substituiert
werden könnten – obwohl das für wichtige Produktkate-
gorien wie Windräder, Elektroautos oder auch Mobil-
funkgeräte nicht stimmt. Und auch beim Recycling kön-
nen noch gewaltige Potenziale erschlossen werden. Das
zeigt alleine schon die Tatsache, dass noch immer
40 Prozent des europäischen Elektroschrotts teilweise
illegal in Drittländer exportiert werden.
Hier müssen sich Industrie, Forschung und die Politik
anstrengen. Und da kommt es besonders auf die europäi-
sche Ebene an. Es macht hier keinen Sinn in national-
staatliches Klein-Klein zu verfallen. Hier springt leider
auch der Antrag der SPD zu kurz. Der Umgang mit end-
lichen Ressourcen ist eine zentrale Zukunftsfrage. Nor-
mativ müssen wir in den Industrieländern akzeptieren,
dass aus einem überproportionalen Verbrauch kein Recht
auf überproportionalen Zugang entsteht. Deshalb sollten
wir bei der Lösung der Ressourcenfrage zuerst bei uns
selber anfangen. Dazu wäre eine klare Schwerpunktset-
zung auf Recycling, Effizienz und Substitution ein wich-
tiger Schritt.
90. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7